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Archiv
für
Philosophie
herausgegeben
von
1^ IUI d w l g Stein.
E r ^ t •?. Abteil u n g: My/ für GeseMehte der Philosophie.
B E R L I !^.
Druck und Verlag von Leonhard Simioa JNf.
1918.
Archiv
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Geschichte der Philosophie
JaeraxiegegebeD
TOD
L u d w i s Stein.
.XXIX. Band. Neue Folge XXI¥
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BERLIN. Druck und Verlag von Leonhard Simion Nf,
1918.
6dl. s
Inhalt.
Seite
I. Zur Entstehungsgeschichte der Lehre Spinozas vom Amor Dei lütellectualis. Von Prof. Dr. Adolf Dyroff, Bonn 1 IL Über die Bedeutung der gegenwärtigen Zeit als Wende- punkt in der Geschichte der Menschheit. Von Rudolf
Tönnis, Berlin-Dortmund 29
in. Zum Problem der Gegenstandssetzung der Philosophie- geschichte. Von Dr. David Einhorn, Wien 44
IV. Babylonische Astrologen ausdrücke bei Demokrit. Von
Dr. Robert Eisler, Feldaiing . . . ., 52
V. Ein Beitrag zum heraklitisch-parmenideischen Erkenntnis- problem. Von Dr. Emanuel Loew, Wien 63
VI. Vedantismus und Unsterblichkeit. Von Prof. Dr. Paul
Schwartzkopff, Wernigerode , . 91
VII. Ein Beitrag zum heraklitisch-parmenideischen Erkenntnis- problem. Von Dr. Emanuel L.pew, Wien (Schluß) . . 125 Vm. Schopenhauer-Kritik. Von Dr. ErnstBarthel . . . . 155 IX. Zu Demokrits Wanderjahren. Von Dr. Robert Eisler,
Feldafmg ^. . 187
X. Zeit- und Streitfragen der modernen Xenophanesforschung.
Von Dr. David Einhorn 212
Rezensionen 55 106 161 231
Archiv für Philosophie.
I. Abteilung:
Archiv für Geschichte der Philosophie,
Neue Folge. XXIV. Band, 1. Heft.
I.
Zur Entstehungsgeschichte der Lehre Spinozas vom Amor Dei intellectualis.
Von
t
Prof. Dr. Adolf Dyroff (Bonn).
Wie bei dem holländischen Denker die Metaphysik der Welt- snhstanz die breite, weitausladende Grundmauer des Lehrgebäudes darstellt, so wird dieses von dem resigniert-anmutigen Theorem des Amor Dei intellectuahs als wunderbarer Bela-önung überdeckt. Dies Verhältnis und die überragende Wichtigkeit des ethischen Begriffs zu erkennen, genügt es, den Titel des abschließenden Werkes und die Entwicklung des Philosophen mit raschem Bhcke zu überschauen.
Von verschiedenen Seiten ist jedoch darauf hingewiesen worden, wie wenig sich der Begriff der „Liebe" innerlich in die scheinbar so straff gezogene Gedankenkette fügt. C. Lülmanni) erblickt zwei Gedankenströmungen in der Ethik, einen 'individualistisch-mystischen Ideenki-eis und eine rational- wissenschaftliche Richtung, die sich nicht zwanglos vereinigen lassen, und fordert deshalb eine Spezial- untersuchung über den Zusammenhang des Pseudokartesianers mit dem Christentum, der mittelalterlichen Mystik, der Kabbala, der jüdischen Philosophie, Giordano Bruno u. a. Ewald Matthes^) erklärt schlankweg die Lehi-e von der intellektuellen Liebe, mit der Gott sich selber hebt, für in sich unhaltbar, da Gottes Wesen Verstand
^) Über den Begriff des amor dei intellectualis bei Spinoza, Jena 1884, Diss. (s. besonders 8. 36 ff.).
") Die Unsterblichkeitslehre des Benediktus Spinoza. Heidelberg 1892,
Diss., S. 51, 2.
1*
2 Adolf Dyroff,
und AVille von sich ausschließe und somit weder ein intcllcktiielles Verhältnis zu sich selbst gewinnen noch einen Affekt wie die Liebe zu sich zustande bringen könne; außerdem sei der Gott Spinozas unpersönlich, also selbstlos und könne sich nicht zu sich in Beziehung setzen. Clemens Baeumker^) zählt die Gottesliebe unter den Teilen des Systems auf, die die sonst darin herrschende niederdrückende mechanische Weltansicht durchbrechen.
Aber vor das Unternehmen, die Kluft mit dem Geranke wuchern- der geschichtlicher Einflüsse und dadurch bedingter Strömungen zu schließen, stellt B. Erdmann*) in einer seiner lehrreichen, tiefgehenden Üljersichten über den Stand gewisser Probleme eine entschiedene Warnung; die religiöse Grundstimmung der Ethik Spinozas und selbst des kurzen Traktats reiche aus, alle die Wendungen verständ- lich zu machen, die an neuplatonische (und christliche) Ätystik er- innern. Da der Warner einer der besten Kenner Spinozas und der Geschichte des Spinozismus ist, könnte das Überhören s.einer Stimme beinahe wie Vermessenheit aussehen. Indes durch v. Dunin-Bor- kowskis Buch „Der junge Spinoza"^) sind inzwischen wohlgebahnte und gruudfeste Wege entstanden, auf denen man noch sicherer als auf den wohlausgebauten Pfaden J. Freudenthals zur Lösung emer Frage voranschreiten darf, die Erdmann offenbar selbst als zulässig voraussetzt, der Frage: Wie ist Spinoza zu seiner religiösen Stimmung gekommen?
So beachtenswert die sachlichen Übereinstinnnungen zwischen Spinozas Philosophie und der jüdischen Theologie auch sind, so un- zweifelhaft ist es nach dem, was die neueren Aufhellungen seiner imieren und äußeren Entwicklung ergaben, daß in dem jungen Spinoza etwas lebte, was dem Wesen der jüdischeji Gottsucher fremd, ja zu- wider war. Die billige Auskunft, das Verhalten der synagogischen Gegner des „Abtrünnigen" in romanhafter Weise auf quietistische Starrheit und Besclu-änktheit zurückzufülu-en, dürfte einem ernsten wissenschaftlichen Geschmacke wenig zusagen. Kaum auch ist wei- terer Zweifel daran erlaubt, daß Spinoza, indem er sich innerlich zu
2) „Staatslexikon" 3. u. 4. Aufl. IV s. v. Spinoza.
* ) Genethliakon. Carl Robert zum 8. März 1910 S. 244 f.
•) Auch durch das tüchtige von AI. Riehl angeregte Buch von Gust. Theod. Richter, Spinozas philos. Terminologie. Leipzig 1913 (Vorwort und Richter selbst S. 103 ff.).
Zur Entstehiingsgescli. d. Lehi-e Spinozas v, Amor Dei intellectualis. 3
chistlichi'ii Kreisen hingezogen fühlte, notwendig GemütsehifUit^se von dort her empfing. Der Spinoza, der die ,, Ethik" vorbereitete, war noch nicht der Spinoza, der mit Tschirnhaus, Oldenburg, Huyghens wie ein geistiger Souverän verkehrte und sich imierlich abschloß.
So bleibt nur die Feststellmig der Punkte und der Grenzen, bis zu denen die feinen von außen kommenden Fäden in sein System einlaufen. Die Aufgabe ist im Kerne freilich nicht reinhch lösbar. Doch gibt es Mittel, sie der Lösung näher zu führen.
Eben der Begriff des Amor intellectualis soll uns dazu dienen, einen der Zugänge zu zeigen.^)
Vergleicht man den platonischen Erosgedanken mit dem Spinozas, so läßt sich eine wahrhaft tiefliegende Gleichheit bei aller Verschieden- heit der Ableitung und Einkleidung nicht verkennen. Das einzelne Ding, die flüchtige Erscheinung soll für den Weisen der Ausgangs- punkt eines Aufblicks zum Unendlichen, Ewigen werden. Ehe man sich aber daran macht, nun die Verbindungslinie zwischen Piaton und Spinoza an der Hand der reichen Erosphilosophie auszuziehen, die zwischen beiden steht, gilt es für Spinoza, die durchaus nicht zutage liegenden Verbindungsadem aufzudecken. Auf eine der- selben') kann der immer sonderbar bleibende Ausdruck „sub specie aeternitatis" hinleiten. Die ältere Übersetzung „unter dem Gesichts- punkt der Ewigkeit" (z. B. Alfr. Wenzel, Die Weltanschauung Spi- nozas, 1907, S. 148; Anna Tumarkin, Spinoza, 1908, S. 85) ist von Otto Baensch^) mit Recht abgelehnt worden. Seiner Bemerkung, daß ,,specierf" bei Spinoza sonst nicht im Sinne von „Gesichtspiyikt" vorkomme und „unter dem Gesichtspunkte" sub ratione heiße, läßt sich beifügen, daß der Ausdruck „unter einem gewissen Gesichts- punkt der Ewigkeit" (sub quadam aeternitatis specie) siimlos wäre; der Gesichtspunkt der Ewigkeit ist denn doch ein ganz bestinmiter. Jedoch so wertvoll die Analogie ist, die Baensch für „species aeterni- tatis" beibringt, so undeutsch ist seine Wendung „unter einer ge-
•) Die AbhancUung (E.) Milarchs, „Über J. Boehme als Begründer der neueren Religionsphilosophie", I, Neustrelitz 1853, Gymn.-Progr., auf die ich erst ganz nach Abschluß dieses Aufsatzes stoße, hat mir einiges vorwegge- nommen, indes ohne genauere Nachweise.
') Die Dialoghi di amore des Leon Hebraeus, die Sp. in seiner Biblio- thek hatte (J. Freudenthal, Spinoza S. 209), bleiben hier beiseite.
8) Übersetzung der „Ethik". Leipzig 1905 S. 282.
4 Adolf Dyroff,
wissen Art der Ewigkeit". Was soll man sich eigentlich dabei denken? Wo sind die andern Ai-ten der Ewigkeit? Und ist „Form", das Baensch ebenfalls zurückweist, von „Art" denn so wesentlich verschieden? Die Schwierigkeit, aus der uns sonach auch Baensch nicht befreit, wird beseitigt, wemi es gelingt, Arten der Ewigkeit aufzuweisen. Bei Spinoza selbst kann davon im Ernste nicht die Eede sein. Wohl aber konnte er eine in Holland zu seiner Zeit weitverbreitete und mächtige Lehre von „verschiedenen Gestalten der Ewigkeit" kennen: Jak. Böhme,^) der deutsche Mystiker, hatte in seinen Antworten auf Dr. Balthasar Walters „Viertzig Fragen von der Seelen Verstand, Essentz, Wesen, Natur und Eigenschaft, was sie von Ewigkeit zu Ewigkeit sey" (1620)1^) zehn Gestalten am „Feuer" "unterschieden, die alle am Willen erbohren werden (S. 7). In seiner la^einiochen Übersetzung dieses Buchs unter dem Titel „Psychologia vera J. B. T. (d. h. Jac. Boehmii Teutonici) XL quaestioi'ibus explicata et rerum publicarum vero regimini ac eaium maiestatico iuri apphcata" vom Jahre 1631 (veröffenthcht zu Amsterdam im Geburtsjahre Spinozas 1632) gibt der damals zu Leyden lebende lutherische Mystiker Joh. Evangelius Werdenhagen (1581— 1652)ii) das deutsche „Gestalt"
®) Ein mir ganz allgemeiner Hinweis auf ihn ohne Beweisversuch bei Milarch a. a. 0. S. 8, wo aber andere Werke Boehmes verwendet sind.
^•^) Die deutsche Urfassung war wohl auch in Holland vielbegehrt. Sonst wäre sie nicht 1682 in Amsterdam neu herausgekommen (diese Ausgabe benutze ich hier). Boehmes Verständnis setzt schon wegen des wichtigen Sjanbols „Auge" (bei der dritten und sechsten Gestalt) einige Kenntnis des Deutschen voraus. Der lateinische Übersetzer schaltet nicht selten deutsche Ausdrücke hinter den lateinischen Termini ein, wie dies ja auch van Helmont öfter tut.
^^) Auch Werdenhagens Übersetzung scheint zum Inventar einer mysti- schen Bibliothek gehört zu haben. Ich habe ein Exemplar vor mir, das sich neben andern Mystika (Pordage usw.) offenbar seit alters in dem Bücher- schatze des Creschlechtes der Grafen von Görtz-Wrisberg befand. — Über Werdenhagen s. Henke-Mirbt in der Hauckschen Realenzyklopädie und Zimmermann in der „Allgemeinen deutschen Biographie". Beide Artikel lassen aber weder den Juristen und Staatspolitiker noch den Hvimanisten Werdenhagen zur nötigen Geltung kommen. Der Staatspolitiker verdiente eine eigene Abhandlung, auch im Hinblick auf die Geschichte der hollän- dischen Staatstheorien (W. fühlt sich im übrigen als Deutscher Dedic. ii. S. 1). Über den Humanisten hier nur einige Verweise. Gewiß ist für W. die Wahr- heit Gottes und eine innige Jesiis-Erömmigkeit das Höchste; gewiß defor- mierte nach ihm ihre Einkerkening in fleischlichen Intellekt imd logikalische
Zur Entsteliungsgesch. d. Lehre Spinozas v. Amor Dei intellectualis. 5
Boehmes mit „species" wieder.^^) Es folgen die Eiiizelbeschi'eibiingen der „zehn Gestalten", und da ist es auffallend, daß, während Boehme selbst in den Überschriften nur sagt: „Erste Gestalt" usw. oder „Die fünfte Gestalt des Fewers im Ewigeu Willen", niemals aber „Die ... Gestalt der Ewigkeit", Werdenhagen bei den ersten vier Gestalten ah Üljerschi-iften wählt: , Prima, secunda, tertia, quarta species aeternitatis". Die vier ersten Gestalten sind Gott und die drei göttlichen Personen. Von der fünften Gestalt ab setzt Werden- hagen: „species ignis" (so bei der fünften), „sp. ignis in aeternitate" (6. u. 8.), „sp. ignis aeternitatis" (7. vgl. auch S. 147 bei 6.), „sp. aeterni- tatis ignis" (9.U.10.) mit oder ohne weiteren Zusatz ir die Überschrift. Sonach ist kein Zweifel, daß in den Kreisen der holländischen „Boehmisten" viel von den „species aeternitatis" die Rede war. Würde man gar annehmen, daß Werdenhagens Büchelchen eines der Hilfsmittel war, durch die sich Spinoza ins Lateinische hiaeinlas,^^)
Gesetze der Vernunft (ratio) die Wahrheit; gewiß ist seine Psychologie religiös mystisch, seine Staatslehre die eines Christen. Aber sein Haß richtet sich vor allem gegen den „teuflischen Sophisten" Aristoteles (s. z. B. 10, 21, 25) und gegen Thomas (s. aber S. 414 ff.) mehr als gegen die Humanisten. Er zieht Piaton und die Stoiker dem Aristoteles vor (S. 9), schätzt Bodin (s. auch »S. 1), dem er ein bekanntes Werk widmete, Franz Pico von Mirandula, Simon Portius (44), Matth. Vegius, besonders Agrippa von Nettesheim (44 ff., 47 ff., 482 ff.) u. a. Cicero (27). Seneca (6 ff.), Plutarch (44) sind ihm nicht unbe- kannt. Doch schätzt er sogar Scholastiker (Gerson 414 ff.). Hugo v. St. Viktor (32), die Theologia Germanica (32), Thomas a Kempis (35) stehen seinem Herzen natürlich näher. Von den neueren Protestanten nennt er Gerhard, Arnd, Keckermaim, Scheibler (44 u. ä.). Seine Wut gegen einen pseudo- lutheranischen inversor der wahren Lehre (553) bricht auch hier durch. Be- achtenswert ist S. 542 ff. eine kurze Geschichte der Mystik, die die Wirksam- keit Boehmes (um 1619) bezeugt.
^*) So auch S. 243 quatuor (falsch statt quarta) species originis in natura. 240: 4 species naturae. Vgl. Aurora ed. Schieblei (II) S. 158 ff. Von der Genaden-Wahl. Amsterdam 1682 S. 24 ff.
^3) Über van Endens Beziehung zur Mystik s. Freudenthal, Spinoza S. 45 f. — v. Dunin-Borkowski, Der junge Spinoza S. 445 hält die Lek- türe des Büchleins durch Sp. wenigstens für möglich, wenn er auch die An- nahme solcher Lektüre für nicht zwingend ansieht. — Einzehie Züge des .schlechten Lateins bei Sp. finden sich auch bei Werdenhagen, so „quod" nach Verben der Aussage u. ä. (über Sp. s. Freudenthal S. 214). ,,Tamquam" = „als" (Freudenthal ebd.) verdient besondere Hervorhebung. Es scheint in der ersten Hälfte des 17. Jahrb. (wie in der silbernen Latinität) noch gang
6 Adolf Dyroff,
SO wäre der mi Frage stehende Ausdruck als ein Überbleibsel des Jargons seiner ersten Übergangs] ahre anzusehen. Bedenlrt man, daß der Holländer nicht das näher liegende, lateinisch bessere „aeterni" ge- braucht, so wird es noch wahi'scheinhcher, daß er auf die Spezies- lehre der Boehniisten^^) zum mindesten anspielen wollte. Sicher aber ist nun, daß die zutreffende deutsche Übersetzung seines ,,spe- cies" nur „Gestalt" sein kann.
■ Was beabsichtigte aber Spinoza mit der Anspielung ? Es wider- spricht dem geometrischen Verfahren eine derartige Aus drucks weise ohne Frage. ^^) Vielleicht würde er bei letzter Ausfeilung seines Lebens- werkes den bei ihm nur spärlich vorkommenden Ausdruck geändert haben. Aber auch weim wir das annehmen, so ist das Wort doch ein Zeuge des Zusammenhangs, in dem Spinoza einmal mit der Mystik
und gäbe gewesen zu sein. So verwendet es Becanus; so Weidenhagen, dieser z, B. S. 80 tanquam aeternam libertatem (Boehme „als"). S. 91 tanquam proprietati. 92 tanquam fratrem (nicht etwa — „wie"). 111, 112 (= tanquam alia aqua = weil es wirklich ein anderes Wasser ist); übrigens auch Spinoza offensichtlich selbst, z.B. III def. äff. 24 expl. prop. 30; V prop. 31, 32, 33 schol.). ,, Gleichsam als ob" heißt in der Zeit qiiasi (z. B. Werdenhagen S. 83, 93) oder veluti (81), instar (S. 80). Demnach bestätigt sich, Avas die apriorische Erwägung besagt (um von zwingenden Deduktionen aus andern Stellen wie II prop. 8, 48 zu schweigen), daß nämlich Spinoza in einer geometrisch ge- meinten Definition, die zugleich die (reale) Genesis der definierten Sache aus- drücken sollte, kein , .gleichsam" einfühi-en konnte. Man beachte bei Werden- hagen auch i^orma S. 91, plenitudo S. 135. exprimunt S. 85, expressio S. 85, unusquisque usw. bei W. oft genug. — Anderes im folgenden.
^*) Aeternitas begegnet überaus häufig bei Werdenhagen; Boehmes „Art" heißt bei W. „modus"; vgl. auch S. 240 ad modum aeternitatis.
^*) Ungeometrischei Schmuck begegnet in der ,, Ethik" öfter. Dahin gehört die ausdrückliche Gleichsetzung seiner „Liebe" mit dem Ruhm der Hl. Schrift (V prop. 36 Anmerkung), dahin das mens sana in corpore sano, das omnia praeclara rara (Ethik V Schluß), dahin das 'umbiegende Zitat aus Ovid Amor II 19 (III prop. 31 coroll.), dem Baensch, weil er sich auf das Zitat kniet, statt es, wie sich gebührt, leicht zu nehmen, nicht nachkommen kami (von solch umbiegender VerA^endung sprich- wortartig genommener Verse bietet die Literatm- der Jahrtausende genug Beispiele. Spinoza legt im ersten Vers auf „pariter" den Nachdruck: „Als Liebende laßt uns (alle) in gleicher Weise hoffen und alle in gleicher Weise (wie jeder andere Mensch) fürchten". Das ist, wie „unde" zeigt, wieder eine Folgerung aus dem vorgehenden Prosasatze); dahin das freie Zitat aus Tacitus Annales I 29 (s. Baensch S. 287).
Zxu- Entsteliungsgesch. d. Lehre Spinozas v. Amor Dei intellectiialis. 7
Jak. Boehmes stand, desocn Namen er nicht eijinial keiuien inutite, da Werdenhagen immer nur „J. B. Teut." drucken ließ. Müglici er- weise aber wollte Spinoza durch den Ausdruck den holländischen Mystikern zu verstehen geben, daß er eine ebenso erhebende und doch viel rationellere Gcheinüehre besitze als jene. Der Gegensatz zwischen ,,sub specie aeteriiitatis" und „sub duratione" spricht sicher nicht gegen unsere Deutung, eher dafür. Baensch fragt selbst: ,, "Warum sagt Spinoza nicht ,sub aeternitate"'? Seine AntAvort auf die Frage leuchtet mir keineswegs ein. Eben der A^achweis Baenschs, daß Spinoza auch sagte: „unter derselben Art der Notwendigkeit" zeigt, daß „sub specie quadam aeternitatis" ein nicht genauer Ausdruck ist, und II Lehrs. 44, 2. Folges. S. 86 (bei Baensch) schreibt Spinoza der Vernunft als die einzig natürliche Betrachtung'swe^se die zu, d'e Dinge „unter dieser Art der Ewigkeit" anzusehen, d.h. die Not- wendigkeit der Dinge einzusehen, und zwar als Notwendigkeit der ewigen Natur Gottes selbst. Negativ wird mit Rücksicht auf die begriffhche und somit der Wesenheit der Einzeldinge entgegengesetzte Natur der Vernunft der Charakter jener Betrachtungsweise durch die Abwesenheit jeder Beziehung auf die Zeit bestimmt.
Konnten denn aber die abstrusen Gedankengcänge Boehmes einen so nüchtern denkenden Geist wie den Spinozas fessehi und ihn etwas lehren? Die Frage wäi'e schief gestellt. Denn wir wissen iiicht genau, seit wann Spinoza dem mechanistischen Rationahsmus hui- digte, der doch wohl unter Descartes', Hobbes' und der neueren Naturwissenschaft Einfluß seine Ethik durchwaltct. Alle aUgemeine Analogie uiid die festen Tatsachen seiner Jugendentwicklung deuten darauf hin, daß die rationalistische Schale erst über die ältere reli- giöse Schicht seines Denkens herA\iichs. .Den Erfahrungsbeweis aber, daß Boehme junge hochbegabte, rehgiös glühende Gemüter packen konnte, muß man nicht erst erbringen.
Nur für die Boehmeschen spccies aeternitatis ist noch auszu- führen, daß ihnen ein tieferer Gehalt imiewohnte.
Aus der Vernunft weiß man, erklärt der Mystiker, ^^j daß alle Dinge aus der Ewigkeit entsprungen sind. Und wenn wü- auch nicht sagen können, die lautere Gottheit sei Natur, so müssen wir doch
^•) Viertzig Fragen S. 6. Boehme bezieht sich, fortwährend auf da* dritte (und vierte) Buch seiner früheren Schriften.
S Adolf Dyroff,
sagen, daß Gott in der Natur sei.^') Da aber dort kein Wille, auch kein Begehren ist, so folgt: Die Natur ist in Gottes Willen „erbohren" und eine „Sucht aus der Ewigkeit". Der ewige Wille in Gott ist er selber; der Wille zu gebären, erzeugt den Sohn oder sehi Herz, und ebenso den Geist, oder die „Rügung" (concitatio), und zwar letzteren aus dem Willen des Herzens. So stehet die Ewigkeit in drei ewigen Gestalten, „Personen" genannt.
Aber es besteht nicht allein Licht und Majestät, sondern wie die Erfalirung zeigt, analog wie beim Auge, Finsternis. Abgesehen von dem (ersten) Willen und der ,, Natur", ist keine Finsternis möglich, da nichts ist, „das die giel)et". Sobald wir aber den Willen' betrachten und damit das Begehren, ohne das der (erste) Wille nichts wäre als eine ewige Stille ohne We.>en, verstehen wü-, wovon die Finsternis „urstände". Denn das Begehren ist anziehend, und da es in der Ewigkeit nichts hat als sich selbst, so machet es den Willen voll und das ist seine Finsternis.
Licht und Finsternis smd ineinander. Denn das Licht, d. h. die ewige Freiheit, kann die Finsternis nicht Verseilungen, weil das Ewige sich nicht ändern kann. Auch die aus der (ursprünglichen) ,, stillen Freiheit" infolge des „Begehrens" und seines Anziehens hervor- getretene Beweghchkeit und „Essentz", d. h. „Rügung" in der harten Finsternis und die so entstandene Vermengung von Licht und Finsternis in der „Schärfe", führt nicht zur Trennung im „freien Licht", obwohl dieses durch die Rügung im Wesen mitgeschärft wird. Denn was ewig ist, ist von keinem Anfange und hat kein Weichen auseinander. Die an sich stille Freiheit erscheint so, obwohl sie an sich weder finster noch licht ist, wie ein leuchtender Blitz. Äußerlich ist das ewige Feuer fmster, in sich hinein im Willen der ewigen Freiheit ist's ein Licht, das da leuchtet in der stillen Ewigkeit.
An diesem ewigen Feuer aber verstehen wir zehn Gestalten, die alle im Willen erboren werden und alle des ewigen Willens Eigeatum siiul. Die Freiheit, die den Willen hat, ist Gott selber. Darum ist das Feuer Gottes und so ist es die Ewigkeit.
Die erste Gestalt ist die ewige Freiheit, die den Willen hat und selber Wille ist. Nuji hat ein jeder Wille eine Sucht, etwas zu tun
") Milarch setzt S. 12 die „ewige Natur" (vgl. Psychol. S. 94 aeterna Natura; der Ausdruck auch bei Spinoza) Boehmes mit Spinozas natura na- turans gleich, leider ohne Beweis.
Zur Entstchiingsgesch. d. Lehre Spinozas v. Amor Dei iiitellectiialij. 9
oder zu bc'geluo]i; und in d''cscni W-Ucn schauet sich Gott selbst in die Ewigkeit und begehret sieh selber.
Die zweite Gestalt ist das Begehrende, das nichts als sich selber hat. Deshalb entsteht eine Finsternis im Willen.
Die dritte Gestalt entsteht aus dem scharfen und ziehenden Begehren als ehie „Rügung" in sich selber; das ist der Urständ der Essenzien usw.
Dieser Auszug des Anfangs der „wahren Psychologie" kann uns vorläufig genügen. Er läßt erkennen, wie Boehme za seinem Begriff der „Gestalt^' kam. Er will erklären, wie das ursprünglich leere üreine,!«) die reine Ewigkeit, sich zu verschiedenen Sein.^offen- barungen vcrbesondert „Gestalten" sind ihm nichts anderes als ü-gendwie intuitiv faßbare Darstellungen des in sich nnfaßlichen Ewigen Gerade ein derartiges Erfassen der Ewigkeit durch Intuition meint auch Spinoza, wenn er von der geistigen Liebe des Menschen zu Gott spricht. Der Gleichheit des Wortes entspricht demnach doch auch bis zu einer gewissen Grenze eine Analogie der Sachen. Dadurch erhalten wir aber sofort das Recht, nach weiteren sachlichen Be- rührungen zwischen Spinoza und Boehme zu fragen.
So dürfen wir jedes ängstliche Verbot in den Wind schlagen, das uns etwa unter Hinweis auf Leo Hebraeus verwehren wollte, auch in Boehme wenigstens einen Förderer der Liebestheorie Spinozas zu erblicken. Li der Tat entbehrt der deutsche Mystiker den Aus- druck „amor" in einem metaphysisch-transzendenten Sinne nicht. Wemi er den „amor intellectuali.." nicht geradezu nennt, so wissen wir durch Spinoza selbst, daß dieser erst den Terminus einführte (V prop. 32 coroll., vgl. prop. 35 demonstr.)!^). Die Sache aber hat Boehme schon.
Er unterscheidet ^o) ein Licht (lux), das im Feuer wohnt, und das Licht, das gleichsam in der andern Welt wird. Daher kommt ein ajideres Feuer, das „Amor" genannt wnd, Ki-aft, Wunder, Süße, Milde (hberalitas), Reinheit. Es ist keine Substanz, auch keine Natur,
!•) In sich geeint (in sesc unitus), ist das ewige Feuer ein gewisses Licht (lux quaedam), d.h. innerlich (S. 81).
") Offenbar im Anschluß an den scholastischen amor intellectivus nd intellectuatis (Thomas). ^'') Psych. S. 114 ff.
10 Adolf Dyroff,
sondern außer der Natur 2^) in einem andern Prinzip. Es ist nichts anderes als eine Majestät der lichten flammenden Macht und hat seinen eigenen Geist, der bewirkt, daß „das sinkende Leben durch den Tod gewiimt". Dieser ist ein Fülu'er der Essenz der Liebe^^) in der begehrenden lü'aft und ein Eröffner der Essenzien der Liebe. Die Liebe verzehi't nichts, "sondern begehi't nur immer und erfüllt.
Kurz und bündig ist zur 47. Frage diese Liebestheorie zusammen- gefaßt^^): Das Feuer hat in sich des Feuers Qual. Aber derWiUe sinket in der Angst in Tod ein und grünet in der Freiheit wieder aus, und das ist das Licht mit Feuersqual. Aber es hält nun ein ander Prin- cipium iime, „dem die Angst ist Liebe worden" (anxietas" in amoreni transmutata).
Wer in seinem Willen, heißt es weiter,^*) noch etwas reines von der Liebe ergriffen hat, als mancher, der sich doch letztlich vor seinem Ende bekehret, der ersinkt doch also in sich selber durch die Angst; denn das demütige Fünklein (scintiUa) geht unter sich durch den Tod ins Leben, da ja der Seelen Qual ein Ende nimmt. Aber es ist ein kleines Zweiglein grünend in Gottes Eeich.
Der Seelen Verklärung aber unter dieser Zeit ist, wann sie an die künftige Freude gedenken; so gehet der Geist in die Majestät Gottes ein; davon haben sie Freude (laetitia) und Klarheit. Es ist gar eine süße magische Paradies-Freude in ihnen. Aber das Paradies ist in ihnen noch nicht rege mit gantzer VoUkonmienheit. Alsdann ist eine Hütte (tabernaculum) Gottes bei den Menschen (S. 122 deutsch, 288 lat.). —
Sachlich ist der amor inteUectuahs vielleicht am genauesten in dem „summum Mysterium" Boehmes euthalten^^): „Jehovah ist in sich ein Geist. Für ihn ist kein Ort erfunden. Nichts ist ihm ähnlich. Der Geist Gott ist in ihm alles, weil er ein Wille ist im ewigen Tsichts und er ist doch in allem nur der einige Geist selbst. Darum darf man das höchste Geheimnis nicht bei einem einzelnen Menschen (in me), nicht in seiner eigenen (äußeren) Vernunft suchen, die wie toc seiu
21) Aus dem deutschen Boehme ergänzt.
22) Psych. S. 166.
23) Psych. S. 229. 2*) Psych. S. 242.
-5) Psj'ch. S. 90 ff.; hier zusammengezogen nach der lateinischen Über- setzung.
Zur Entstehungsgesch. d. Ijehre Spinozas v. Amor Dei intellectualis. 11
muß. sondern in Gott selbst. AVenn unser Wille in Gott begehrend ist, dann ist unser Wille Gottes Wille, dann ist Gott in uns, 2^) Das Wollen und Handeln und der Geist Gottes sucht uns in uns selbst. Dann haben wir göttliche Macht. Alles, was wir dann suchen, haben wir in ihm, da er selbst darin ist. Wir sehen ihn in seinem Lichte (lumen) uiid sind ganz sein Eigentum.
In den Begxiff dieser Liebe zu Gott ist bei Boehme, wie wir sahen, eingeschlossen, daß sie keine ganz vollkommene Liehe sein kann. Ebeiiso kann das Begreifen Gottes kein volles sein, und Boehme be- müht sich in seinem ,,philoso])hischen Globus" durch Schema, Er- läuterung und Bilder doch eine annähernde Erfassung unter einer gewissen Gestalt der Ewigkeit zu entwerfen. Mit ihrer Hilfe lernt der Christ die Gottheit von der Natur unterscheiden; „diese Figur begreift alles, was Cxott und die Ewigkeit ist" (S. 29 deutsch, 121 lat.j.
Das, was dazu aus Spinozas Meinungen stimmt, ist so bekannt, daß es nicht besonders erwähnt werden muß. Man muß nur die ratio- nalistische Knochenschale seines Systems ablösen, so vor allem die Unterscheidung der verschiedenen Erkenntnisgattungen, den begriff- hchen Gegensatz des Allgemeinen und des Einzelnen, um das innere mystische Mark des lebendigen Gebildes mit Händen zu greifen.
Dann enthüllt sich auch, daß die weiteren Zusammenhänge bei beiden Denkern die gleichen oder doch verwandte sind.
Eine der psychologisch-ethisch auszeichnenden Bestimnnmgen der geistigen Liebe ist ihi'e Benennung als „Ausruhen des Geistes" (anirai, acquiescentia), wie sie Eth. V prop. 36 schol. ausgesprochen und durch eine Beweisverschränkimg begründet ist (vgl. HI äff. def. n. 6 S. 175). Baensch übersetzt den Ausdruck acquiescentia animi recht schief mit ,, Zufriedenheit des Gemütes", was offenbar zu wenig besagt, da der geistige Zustand als „Freude" (Laetitia) bezeichnet wird. 2") Das Grundwort acquiescere geben Lexika mit „geistige Ruhe, Hoff-
-*) Tunc Deus in be est illud velle et agere. Boehme selbst S. 12 ganz anders: ,,so ist doch in Euch das Wollen und Tun".
-') Der Zusatz „Wenn man das Wort noch gebrauchen darf" bezieht sich auf die frühere Beschreibung der „Laetitia", die ja auch schlecht und hindei'lich sowie durch jedes beliebige Ding verursacht sein kann (s. Register bei Baensch), was alles für die auf Gott bezogene geistige Liebe nicht zu- trifft, die ein Teil der Liebe Gottes zu sich selbst ist.
12 Adolf Dyioff,
nung, Trost, Vergnügen, Wohlgefallen finden" u. n., was alles mehr bedeutet als bloße , Zufriedenheit".
Wie sollte Spinoza ferner es fertig bringen, den gleichen Zustand auch mit „Gloria" wiederzugeben?^) Zwar meint er das „Gloria" der „heihgen Urkunden", aber er hat nun doch einmal aus den lateini- schen Ausdrücken gerade einen gewählt, der em stark erhöhtes Ge- fühl der Befriedigung bezeichnet, die an sich schon mehr bedeutet als „Zufriedenheit". Ebendahin führt der Umstand, daß der Gegen- satz zu „Kuhm" die „Scham" (pudor) sein soll (III prop. 30 schoL). ,, Hochgefühl" würde dem von Spinoza Gememten wesenthch näher kommen.
Wir würden nach allem kaum fehlgehen, wenn wir in „Acquiescentia animi" eine „stille Freude" bei der beglückten und beglückenden Betrachtung des „Ewigen" sähen. Der Hinweis auf die Vera animi acquiescentia, die nicht von äußeren Ursachen auf vielfache Weisen agitiert wii'd, die nicht zu sein aufhört, wejin das „Leiden" (pa+i) durch die einzig herrschende Wollust aufhört, die kaum eine Bewegung (moveri) des Geistes kennt, bildet den zwar nicht rauschenden, aber doch innerhch machtvollen Schlußakkord der gesamten wissenschafthchen Anstrengung Spinozas (Eth. V prop..52 schol.). Die Betrachtung seiner selbst und seiner eigenen Wirlmngs- macht (IIl def. äff. 25) erfährt in der geistigen Liebe die höchste mögliche Steigerung (V prop. 27; vgl. IV prop. 52); eben darum fäUt liier die geistige Ruhe mit dem Hochgefühl zusammen, das diu-ch die Idee irgend einer Handlung von uns entsteht, die wü* uns von
28) j)n V prop. 36 schol. ein Amor unter Verweis („nani") auf 25 und 30 der Definitionen der Affekte mit „Gloria" gleichgenommen wird, amor aber III prop. 13 schol. als laetitia concomitante idea causae externae definiert wird (vgl. V prop. 33 schol.), muß auch III prop. 30 schol. externae gelesen werden; die causa externa besteht darin, daß wir von andern gelobt oder getadelt zu werden glauben. Die explicatio zu 24 äff. def. verfängt nicht. Dort werden Affekte der Freude und Trauer unterschieden, die von der Idee einer äußeren Sache so begleitet werden, daß diese Idee ihre causa per se oder per accidens ist, und andere Affekte, die von der Idee einer inneren Sache als von ihrer Ursache begleitet werden. A" Prop. 36 schol. hingegen ist von der Idee die Rede, die wir von einer äußeren Ursache haben, so daß hier die äußere Ursache den Inhalt der Idee bildet, nicht aber die Idee selbst Ursache ist; der Gegensatz zu „ad obiecta externa" ist: „ad se ipsum" („obieotum internum").
Zur Entstehungsgesch. d. Lehre Spinozas v. Amor Dei intellectaalis. 13
andern gelobt vorstelleii. Selbstbewunderung Gottes ist diese be- ständige und ewige Liebe des Geistes (mens) zu Gott, die aus der „Intuition" hervorwächst. Sie ist zugleich volle Beherrschung unsereö Körpers und scliädhcher Affekte durch Vernunft (IV prop. 52; V 10 schol.). Schol. zu prop. 41 in V ist zugleich, mit schol. 2 zu IV prop. 6S verglichen, Zeuge dafür, daß der Philosoph mit seiner Theniie gerade auch Furcht vor dem Tode und Angst aufheben will.
Das ist fürwahr ein Ideal des Lebens, das dem Boehmes nicht ferne steht. Die (jenseitige) Ruhe der Seelen ist ohne Wesen (absque essentia) in der Stille (tranquiUitas), da sie in Gottes Hand leben, und keine Qual (angor) rülu-et sie an, sie haben keine Empfindlich- keit (perceptibihtas) einiger Qual (anxietas),^^) sondern ihnen ist als einem, der in einem süßen Schlaf läge und gar sanfte ruhete. Ilue Verklärung unter dieser Zeit (interea) ist, wann sie an die künftige Freude gedenken, so gehet der Geist in die Majestät Gottes ein, davon haben sie Freude (gaudium) und Klarheit. ... Es ist gar eine süße magische Paradis-Freude (laetitia) in ihnen" (S. 121 f. Lat. S. 288). Das Licht (lux) ist mit Sanftmut (mansuetudo) ge- schwängert (S. 24, 154 lat.).
Man muß nur einjnal den jubelnden Hinimel älterer Christen, die Verzückung der Neuplatoniker, die wunderbare stolze Seligkeit des aristotelischen Gottes neben Spinoza und Boehnie^) halten, um zwischen letzteren nur gewisse L^nterschiede, zwischen ihnen beiden und den ersteren aber starke Kontraste zu sehen. Was Spinoza neuerte, liegt auf einem andern Gebiete: Er macht die ülustratio und transfiguratio Werdenhagens zu einer rein innerweltlichen, natür- lichen Leistung, nicht zuletzt unter dem Einfluß des Hobbes, dessen äußerhcher Mechanismus in der Affektenlehre Spinozas deutliche Schatten wirft. ^^)
^®) Die Befreiung von Qual und Angst ist der Grundzug sowohl der Metaphysik ah der Ethik Boehmes (s. z.B. S. 91, 78 ff., 104 ff.).
^°) Das immensum gaudium erhebt sieh bei Boehme erst auf vierter Stufe der Ewigkeit, wemi sich die Freiheit aus rotem Blitze in femige Leuchte (lumen) und in den Glanz der Majestät verwandelt (8. 88).
^^) Besonders merklich in der Lehre von der ,, .Scham", die Sp. sich offenbar als notwendige Wirkung der Vorstellung denkt, daß eine von uns ausgeübte Handlung von andern getadelt wird. Als ob nicht aus einer solchen Vorstellung infolge innerer Konstellation auch „Ärger", Auflehnung ent- stehen könnte ?
14 Adolf Dyroff,
Auch die Einscliränkung des sumnnim mysterium auf wenige Auserwählte lehrt Boehme^^) ähnlich, wie Spinoza am Schluß der Ethik die kleine Gemeinde schöner Seelen in ihrer mystischen Gestalt.
Wie Spinoza, zieht dann auch Boehme die Konsequenz aus seinem Pantheisnms: Nicht in der eigenen Vernunft (ratio), sondern durch Herausgehen aus der ängstlichen Durchforschung der äußeren Venmnft in den Willen Jehovahs und den Geist Gottes, wird der Wille des Emzehien zu Gottes Willen und wird der Einzelne, von Gott erkannt und geliebt, durch Gottes Geist in sich selbst gesucht. „Findet Gott deinen Willen auf sich gerichtet, dann offenbart er sich in deinem Willen als in seinem Eigentum (proprietas). So er- hältst du göttliche Macht (potestas). Alles, was du dann forschst, hast du in ihm, da er in allem ist und ihm nichts verborgen ist. So wirst du die AVunder Jehovahs in seinem Geiste whken und mich als Bruder in ihm anerkennen" (92).
Wille und Trieb — vohmtas und appetitus — sind zwei Be- griffe Spinozas, die wie gloria und acquiescentia in se ipso nicht leicht zu klären sind. Wir schicken bei dem Versuch, ihr Verhältnis für unsere These zu verwerten, voraus, daß der Amsterdamer seine Gleich- setzung von AVille und Verstand, einzelnen Ideen und einzelnen Y/ollungen für eine zienüich originale Leistung hält (II prop. 49 schol., S. 118 multi33) . . . hanc de voluntate doctrinam . . . plane ignorarunt) und daß Descartes an diesem Punkte offenbar nicht nur durch seine Lehre vom unaasgedehnten Denken, sondern auch durch seine voluntaristisch geneigte Psychologie trotz des Widerspruchs, den Spinoza gegen die Trennung des endlichen Verstandes und des unendhchen Willens erhebt, einen gewissen Einfluß ausgeübt hat. Trotzdem kann gleichzeitig eine Nachwirkung der Jugend- philosophie vorhegen. Den Zusammenhang der Willenslehre mit der Theorie von Liebe und Gottesknechtschaft unterstreicht Spinoza selbst am Schluß des zweiten Buchs, ja er nennt geradezu das fünfte
32) Vgl. S. 287: (Nur) die hocherleuchteten heiligen Seelen in Gottes Leibe und Kraft haben überschwengliche Wissenschaft und Erkenntnis in Gott.
33) Die Übersetzung von Baensch („ist diese Lehre vom Willen gänzlich unbekannt geblieben") ist zwar ungenau (das Perfekt ignorarunt hat zum Subjekt „miilti" und ist präsentisch wie noverunt zu nehmen). Aber sicher schreibt sich Sp. mit dem ganzen Satze ein großes Verdienst zu.
Zur Entstehungsge.sch. d. Lehie Spinozas v. Amor Dei intellectualis. 15
Buch als dasjeiiisie, in dem das Wichtigste über den Nutze,i des Lehr- satzes 49 zu finden sei (S. 118), II Lehrsatz 48 und 49 müssen zusam- mengenommen werden: Es gibt keinen unbedingten (absohita) Willen (voluntas), sondern die Verursachung des Wolle..s geht ins Unend- liche zurück. AVille ist etwas anderes als Begierde (cupiditas), kraft deren die Seele Dinge erstrebt (appetit) oder verabscheut (aversatur); er ist das Vermögen zu bejahen oder zu verneinen (affirmare, negare). Neben dieser intellektualistischen Auffassung steht in III eine andere, die sich zwar auf II beziehe, aber nichts desto weniger die Bedeu- tung des WiUens verschiebt. Jedes Dmg strebe, soviel an ihm isi, so heißt es dort, in seinem Sein zu verharren (actuolis essentia) und dieses Streben sei mit der wirklichen Wesenheit des Dinges identisch (prop. 6 u. 7). Auch die Seele strebe so auf unbestimmte Dauer zu verharren, und werde dieses Streben auf die Seele allein bezogen, so heiße es Wille, werde es dagegen auf Seele and Körper zugleich bezogen, ^so heiße es Trieb (appetitus prop. 9 schol). Trieb sei so- nach nichts anderes als des (ganzen) Menschen Wesenheit (essentia) selbst, aus deren Natur das, was zu ihrer Erhaltung diene, notwendig folge. Und also sei der Mensch dazu determiniert, das zu tun. Trieb und Begierde sodann unterscheiden sich nur dadurch, daß Begierde insofern meist auf die Menschen angewendet wird, als sie sich ihres Triebes bewußt sind. 2^)
Da aber die Handlungen der Seele wie die des ganzen Menschen immer wieder auf Gott zurückgehen (III prop. 1 demonstr., 2 demon- str., 6 demonstr. u. ä.), muß Gott selbst Wille als Modus seines Den- kens zugeschrieben werden, wie denn auch Spinoza I prop. 32 tut. In Gott selbst aber ergibt sich folgendes Verhältnis. Gott ist nicht als die unbedingte unendhche Substanz Wille, sondern nur, insofern er unter dem Attribut des Denkens begriffen wird. Der unendliche Wille wird zum Wirken bestimmt durch Gott, insofern er das Attribut hat, das die unendliche und ewige Wesenheit des Denkens ausdrückt (I prop. 32 demonstr.). Der Wille gehört nicht mehr zu Gottes Natur (vgl. I prop. 17 schol.), d. h. nicht mehr zur naturenden (I prop. 31), sondern verhält sich zu jener als Art der genaturten Natur (I prop. 31)
3*) Diese Unterscheidung gilt auch für III prop. 27 coroll. 3 schol., insofern Wohlwollen offenbar ein Bewußtsein vom Triebe wohl zu tun einschließt (Baensch im Register also ungenau).
Axcbiv für Geschichte der Philosophie. XXXI, 1. 2
16 Adolf Dyroff,
genau so wie Bewegung und Ruhe und alles übrige, was aus der Notwendigkeit (necessitas) der göttlichen Natur folgt (coroU. 2). Gott ist somit als wollendes Wesen ebenso gut die Ursache der Essenzen und der Existenz aller Dinge wie als verständiges Wesen, insofern Willen und Verstand dasselbe sind (I prop. 17 schol, prop. 33, vgl. V prop. 36 schol.). Wir dürfen also das Verhältnis zwischen Wille und Trieb, wie es nach Spinoza in der menschUchen Seele vorhegt, unbedenkUch auf Spinozas Gott abbilden und dazu lädt noch die Analogie des Verhältnisses zwischen Gottes und der Menschen geistiger Liebe (V prop. 36, vor allem schol.) ein. Dies kann nicht dadurch widerlegt werden, daß Spinoza in aller Schärfe Gottes Verstand und Wille vom menschlichen Verstand und Willen unterscheidet (I prop. 17
schol.).
Die Welt der Dinge muß daher für Spinoza aus Gottes Wille entspringen; sie wird körperlich durch Gottes Trieb (appetitus). Das letztere wird bei Spinoza in den Hintergrund gedrängt dadurch, daß er sich mehr bemühen muß, zu erweisen, daß die Materie Gottes nicht unwürdig sei (1 prop. 15 schol.). Welch hohen Rang aber Wille und Begierde mit Liebe unter den Modifikationen der göttlichen Attribute einnehmen, verkimdet der Umstand, daß der Pantheist I prop. 31 gerade nur sie und nichts anderes neben dem Verstand für bedeutsam genug hält, um ihre Zugehörigkeit zur „genaturten Natur" eigens darzutun.
Macht man sich nun klar, daß zwischen der „Ethik" und zwischen Boehmes Einfluß der umgestaltende Eingriff des Descartes hegt, so werden die erhebhchen Gegensätze zwischen Boehmes und Spinozas theologischer Willenslelu-e nicht hindern können, die starke Ver- wandtschaft zwischen beiden zu erkennen. Gewiß müßte Spinoza, da er das Denken als Attribut zwischen die götthche Substanz und die götthchen Modi einschob, den ursprünghchen otillen Willen Boehmes ablehnen, der bei diesem offensichthch als ursprüngMche wesentliche Eigenschaft Gottes auftritt; gewiß konnte Spinoza auch durch Hobbes' mechanische Bewegungstheorie nicht dazu veranlaßt werden, den logisch-rationahstischen Charakter seiner Theorie von der Genesis der modi zugunsten der dynam.is tischen Theorie Boehmes von der Entstehung der Welt durch „Attraktion" zu verwischen oder gar aufzugeben. Aber bleibt nicht bei Spinoza Gott als die ursprüng- üch „freie Ursache" (Eth. I prop. 17 coroll. 2)? Hat bei Descartes,
Zur Entstehungsgesch. d. Lehre Spinozas v. Amor Dei intellectualis. 17
Hobbes oder Geulincx der göttliche Wille für die Entstehung der Welt die mächtige Bedeutung wie bei Spinoza? Wie komm* in den Lehr- satz 31 des ersten Teiles neben den „Verotana" Wille, Begierde Ui)d Liebe? Ist nicht auch bei ihm der Wille das Primäre, der Trieb mit der Begierde das Sekundäre? Sind nicht die Termini bei diesem Ver- hältnis dieselben? Auf letzteren Punkt dürfen wir einen größeren Nachdruck legen. „Appetitus est figura quaerentis voluntatis", sagt Boehme-Werdenhagen (S. 94, vgl. 79). Ohne Wille kein Trieb (ubi non est voluntas, ibi quoque nuUus appetitus), aber auch ohne Trieb kein Entstehen (procreatio): Namque appetitus est attrahens, . . . hinc voluntati insinuat et eam reddit plenam sui . . . Atque sie attractio facit motionem et Essentiam . . . Voluntatis appetitus efficit essen- tias et attractionem (79 f.). Quo maior est voluntas, eo maior quoque exurgit essentia et eo potentius quoque fit conceptum^^) illud (80f.). Quod ante (logisch-real und zeitUch) appetitum exiscit extra desi- derium, hberum est et nihil, quum tarnen sit (S. 82), d. h. der reine Wille, die pura Deitas (S. 79).
Der Ausdruck cupiditas verschwindet bei Boehme-Werdenhagen so ziemlich hinter „desiderium" (unaquaeque voluntas desiderium habet quid agendi aut appetendi S. 82. Desiderium efficit sc. appe- titus ebda). Doch steht in bemerkenswertem Zusammenhange cupere : quod neque voluntas pati cupit, sed appetitus (S. 82). Interim tamen (doch auch) voluntas non cupit id perpeti, ut trahatur, quia ipsius proprium ius est quietudinem amare (S. 86).
„De libertate humana" überschreibt Spinoza sein letztes Buch. Auch Boehmes „Psychologie" ist ganz von dem Freiheitsideal getragen. Die gesamte Schöpfung muß für den Mystiker ihrem Ursprung ent- sprechend aus der in sich drängenden Angst (anxietas) in die Freiheit (libertas) streben, die nichts anderes ist als Licht gegen die Finsternis geachtet (S. 102 ff. lat., 19 d.). Indem das Sinken (depressio) der Verdemütigung zu einem inneren Ersterben der Angst führt, geht die Angst in die stille Ewigkeit (tranquiUa aeternitas) über (transit), d.h. in die Freiheit (S. 113 lat.). Das Menschentum (humanitas)
^^) Boehme selbst: „je mächtiger wirt' es geschärffet". Werdenhagen verändert hier wesentlich. „Conceptum" kann ni:r etwa „Umfang" bedeuten. Mit „concipit" übersetzt W. gleich darauf Boehmes „fanget" (das Licht), mit conceptibile Boehmes „umfassend", S. 88 mit conceptum Boehmes „ge- fasset", S. 90 mit conceptio „Fassen".
2*
18 Adolf I)\rolf,
liegt in der Natur (S. 130 lat.); aber die göttliche Freiheit außerhalb der Natur (S. 181 lat.)- Nicht in dieser äußeren Welt sind wir zn Hause, sondern in den beiden inneren Welten, in welche 2^) wir aUhier werben (operamur), dahinein gehen wir, wann wir sterben (S. 144 lat. ; 41 deutsch).
Gott als „Freiheit" und doch sich notwendig auslebend — dieser, was die „Fi-eiheit" anlangt, offene, was die Notwendigkeit betrifft, unausgesprochene Gedanke, ist das verbindende Mittel für alle Folge- rungen, die Boehme entwickelt Da es für einen Pantheisten selbst- verständhch ist, daß er deterministisch verfährt, genügt es, einen Satz herauszuheben: Das Fleisch Gottes, Christi, der Jungfrau emp- fängt im Menschen seine Ki-aft (durch den inneren Geist) und ge- wissert (certum reddit) den äußeren Menschen, daß er eben das tut, was sein Macher (factor) haben will, als es dann auch also eine Gelegenheit (conditio) mit dieser Feder (calamus) hat und gar nichts anderes" (S. 48 d. = 156 lat.). 3^) Das ist der Determinis- mus bis aufs Beispiel (für Spinoza in unserem Zusammenhang III äff. def. r. 6; V prop. 10 schol.).
]-\irum darf auch umgekehrt bei Spinoza prop. 42 in V als mystisch begründet angesprochen werden: daß wir die Gelüste deshalb henmien können, weil wir im Genuß der Glücksehgkeit sind. Je mehr sich die Seele der göttliche a Liebe erfreut, um so größere Macht hat sie über die Affekte und um so weniger leidet sie von den Affekten, die schlecht sind, heißt es in der Begründung. Das ist nichts anderes als eine Übersetzung des theologischen Lehrstücks von den Wir- kungen der heiligmachenden Gnade, die von gewissen Theologen mit der Liebe identifiziert wird, ins Mundane. Sieht man bei Boehme scharf zu, so sucht er nicht anders das spezifisch Dogmatische dei^ christlichen Gnadenlehre zu überwinden.
Einen wesentlichen Bestandteil des holländischen Systems, der nicht ohne Zusammenhang mit der Liebestheorie ist, ^^j macht die Lehre von den „Essenzen" der Einzeldinge aus, die an einer Stelle des „Traktats über die Läuterung des Verstandes" als res fixae et
^•) Die lat. Übersetzung hat offenbar falsch: „in quem". — Ist etwa statt „werben" zu lesen: „werken"? ") Vgl. S. 84. ''*) Über den Führer und Eröffner der Liebe -Essenzien >S. 2ö deutsch.
Zur Kntstehuugsgc'scli. d. Lv]nv S|)in()z;is v. Air.or Dci intellectualis. 19
aeternae bozciehiiet werden. ^^) Die Dunkelheit des Ausdrucks, die Richter aus dem vorbereitenden Charalder des Traktats erklärt, könnte ebenso gut ilu-e Ursache darin haben, daß für Spinoza und seine Freunde die Auffassung- der Essenzen eine geläufige Sache war. Auch hier führt Boehmes „Psychologie" gut in einen damals in Holland bekannten Gedankenkreis ein*"):
Die aeternitas ohne (extra) Natur kann die empirisch nachweis- bare Finsternis nicht entstehen lassen federe). Wille und Begierde sind es, die das zustande bringen, insofern die Begierde anziehend wirkt; ohne Begierde würde der Wille nichts sein und eine ewige Ruhe ohne Essenz. So aber macht die Anziehung (attractio) Be- wegung und die Essenz. Die voluntäre (voluntarius) Begierde bewirkt also die Essenzen. Was ewig ist ohne allen Anfang (ex nullo initio), hat kein Aufhören durch ein anderes. Je größer (aber) der Wille ist, eine desto größere Essenz entspringt auch. So entsteht auch die ruliige Freiheit, die Licht hineinsendet und in der Licht (lux) und Glanz (splendor) leuchtet. Jetzt hat man auch im Feuer (ignis) eine hinreichende*^) Erkenntnis aller Essenzen. Wenn auch in der ewigen Essenz ein solches im Äußern aufleuchtendes Feuer nicht zu ersehen ist, so ist es doch im Innern „herben Willen", wähi'end der äußere herbe Wille finster bleibt.
Bei der ersten „Gestalt" der Ewigkeit, der ewigen „Freiheit", ist von Essenz noch nicht die Rede. Aach nicht bei der zweiten Ge- stalt, da bei iln noch nichts „Perzeptibles" vorhanden ist; sonst würde sie irgend eine Essenz „konstituieren" und hinwiederum selbst in einer „gewissen" Essenz sein, die sie hervorbrächte. Da sie aber ohne Essenz ist, zeigt sie die Ewigkeit an, d. h. das Gute selbst. Sie ist die tranquilhtas und der ewige Friede. Da sie eine ungeheure Fülle (amphtudo) und ohne Gnind (fundus) ist, wo weder Zahl noch Ende, noch Anfang enthalten ist, hat sie gleichsam sich selbst zum Spiegel (speculum). Sie ist alles und doch gleichsam nichts. Sie durch- schaut sich selbst und findet nichts als das A, was ihr- Auge darstellt (exhibet), das Auge des Abgrunds (Abyssus). Dennoch*^) fügt sie den Ursprung (origo) der Essenz hinzu.
^*) Wenzel und Richter; s. letzteren S. 117 ff.
*0) Psych. 8. 79 ff.
*^) Hier schon der Terminus sufficiens.
*^) Das Fehlen der Essenz wird hier oft betont.
20 Adolf Dyroff,
Erst die dritte „Gestalt" der Ewigkeit ist die causalis origo der Essenzen"). Indem die Begierde heftig und anziehend wird, bewirkt sie eine Bewegung gegen sich selbst, so daß von da an im „Auge" und Willen Essenzen sind.^^)
Nicht ohne Belang ist, daß bei Boehme wie bei Spinoza die „Essenzien" aus dem Willen hervorgehen. Die Essenzen sind auch für Boehme nichts anderes als die inneren Wesenheiten der unter- schiedlichen Dinge. In gewissem Sinne erfaßt der deutsche Mystiker gelegenthch sogar den Begriff des Attributs in dem Ausdruck: Tum quoque in igne sufficientem habetis cognitionem essentiae essentiarum omniuni (S. 81).^^) Sobald etwas Erkenntliches (perceptibile) ist, sobald konstituiert (constitueret) es irgend eine Essenz.^^) Obwohl Gott ursprünglich und in zweiter Gestalt der Ewigkeit in sich (in se) noch nicht Essenz ist, sondern nur ewige Frei- heit (S. 86), so fügt er doch der Essenz den Ursprung zu (addit), indem der ewige Ursprung dazu determiniert wird (determinare), daß er etwas (aliquid) sei (S. 82 f.). Indem der Trieb scharf und an- ziehend wird, bewirkt er endlich die dritte Gestalt der Ewigkeit, d. h. die Bewegung in sich selbst, die der kausale Ursprung der Essenzen ist, so daß von jetzt an im Willen Essenzen sind (86). In vierter Gestalt der Ewigkeit offenbart sich Gottes Heihgkeit in ziel- und zahllosen Wundern, die sein eigen Wesen ausmachen (S. 88^^), vgl. 90).
Diese Essenzen müssen bei Boehme von den drei Prinzipien der göttlichen Essenz unterschieden werden, die mit den drei gött- lichen Personen zusammenfallen (S. 77 f.). Letztere stellen den „Heiligen Ternar" in Einer Essenz dar (S. 89). 4«) Größte Bedeutung
«) s. 86 ff.
**) Für Spinoza s. Albert Rivaud, Les notions d'essence et d'existence dans la philosophie de Spinoza. Paris 1905.
*5) S. auch S. 88 mirabilia, quae propriam eius essentiam constituunt. S. 90 consistit ex tribus principiis.
*«) Daß es keine Anzahl der ewigen Dinge gibt wie auch nicht Zeit und Ort, betont B. oft. Interessant ist die Stelle: Aeternae essertiae in divino centro Majestaetis nullus prorsus est numerus (S. 107 lat.).
") Werdenhägen übersetzt wieder miserabel Boehmes: „Gottes Heilig- keit ist ein ewiger Anfang in nich-'s gefasset als nur in Wunder" mit: in nibilo conceptum velut ( !) in mirabilibus.
*8) Höchst sonderbar heißt es S. 88, die Essenz manifestiere sich im „Willen", wobei offenbar die göttliche Essenz gemeint ist. ,
Zur Entstehungsgesch. d. Lehre Spinozas v. Amor Dei intellectualis. 21
für die „Geburt" (progeneratio) des Lebens hat der (Hl.) Gei^t als dasjenige, was das Leben des Prinzips „repräsentiert". Die Geburt nämlich ergreift (apprehendere) die Freiheit nicht außer sich, son- dern in sich im „Centrum"; sie greift sich selber in sich und machet Majestät in sich selbe*; es ist dann, als ob aus einem Tode oder Nichts ein Leben w'ürde. Was so in sich alleine wohnet, heißt Principium und das, darimien es wohnt, „Natur". Der eine Geist (spiritus) des Prinzips steht im Gegensatz zu den sieben Geistern (der Natur). Dieses „Prinzip" ist die Kraft (vis virtusque), aus der Ewigkeit er- boren (progenita). Und der Eingang (introitus) oder ewige Anfang der Kraft (virtus) ist der Kraft Leben und Geist, der die Essenzen der Gebärerin (matrix) führt. So geht der Geist im Herzen Gottes (Gott Sohn) aus den feurigen lichtflammenden Essenzien hervor (S. 89). Während sich Gott also in Gott Sohn (im „Auge") sieht, daß er „alles" (omnia) ist, fühlt, schmeckt, riecht er sich im Geiste, daß er gut ist. So ist im Geist die Rügung (concitatio) in der Kraft und die Vielheit (nmltiphcitas) ohne Grund und Zahl, in der die ewige unwahrnehmbare (insensibihs) Vielheit (multitudo) entsteht (S. 90).
Was jedoch in sich ist, das ist außer sich nicht kenntlich (cognos- cibile), aber nach dem Geiste wohl erfaßbar (perceptibile). Also treibet das Innere aus sich und offenbart (manifestat) sich in Figuren, sonst würde Gott nicht erkannt (S. 90). So ist der Geist Gottes in den Dingen alles; denn es ist ein Wille im ewigen Nichts und ist doch in allem wie Gottes Geist selber (S. 91)."*^)
Nachdem wir Gründe haben, es für wahrscheinlich zu halten, daß Spinoza wirklich in die Gedanken- und Gefühlswelt seiner boehmi- stischen Jugendfreunde hineingewachsen war, dürfen wir endhch auf einige Ähnhchkeiten des Denkens hinweisen, die allgemeinerer Natur sind. Was wir in der „Ethik" als meisterlich geübte Methode an- treffen, setzt psychologisch eben als fertige Denkgewohnheit eine vorhergehende längere Einübung voraus.
Vor allem kannten schon die Boehmisten durch ihr Haupt eine Zweiseitentheorie. ^®) „Äußerhch ist das ewige Feuer finster, in sich
*^) Hier ist schon von einer Verneinung (abnegatio) des Willens zum Leben die Rede. Abnegatio auch S. 104.
^") Ich nenne so der Kürze halber das, was Alfr. Wenzel, Zeitschr. f. Philos. u. philos. Ivritik 1911, 143 S. 18 mit Friedrichs lieber Zweiformen- theorie nennt.
22 Adolf Dyroff,
hinein ist's Licht" (81), diese Lehre kelirt in der „wahren Psycho- logie" immer wieder. Boehme ringt ja förmlieli, den Gegensatz von Licht und Finsternis als im Ureinen zusammenfallend zu erweisen Dem Kenner der platonisch-neuplatonischen Metaphysik kann es nicht zweifelhaft sein, daß damit der Gegensatz von Geist (spiritus) und Materie symbolisiert ist, und dafür spricht jede weitere Seite des Büchleins. Man nehme dazu noch folgende Verzweigungen des Kerngedankens.
Das „große Geheimnis" (S. 46 deutsch, S. 153) birgt folgende Weisheit: Unaquaeque substantia in duabus essentiis consistit, veluti in interno et externo; unum quaerit et invenit alterum. -Ex- tern um est natura; ac internum est Spiritus super naturam: nee tarnen est separatio nisi in eo quod tempori certo est inclusum; ibi tempus diriniit metam, ut ita finis exordium inveniat (S. 153 lat ; S. 46 deutsch). An anderer Stelle: Solange ein Ding für sich gehet, so ist ins Lmere kein Finden, alleine der Geist, der im Innern wohnet, der findet sich selbst im äußeren. Aber das äußere Leben findet nicht das innere, es habe dann des Inneren Geist ... So redet das äußere Leben vom inneren und kennet doch das nicht Alleine der innere Geist erfüllet den äußeren, daß also der äußere ein Mund (os) ist und der Innere hat und fülu^et das Wort, daß ?lso das innere Reich im äußern im Schalle offenbar stehet und das ist nundas Wunder (S. 48 deutsch).^')
^^) Hier- darf auch an Goethes „Nichts ist innen, nich'^s ist außen", .,Name ist Schall und leerer Rauch" erinnert werden. Der biblische Ton, den Boehme gerade da anschlägt, wo er vom ,, Innen" und ,, Außen", vom „Suchen" und ,, Finden" spricht, konnte Goethe in seiner pietistischen Zeit wohl fesseln. Ebenso Boehmes Satz: ,,Also erkennen wir den Grund dieser Welt, daß sie eine Figur der Innern sei" (S. 48 deatsch). Auch , .Mütter" gehörte zum Ideenkreis der Boehmisten: Die Welt ist ,,nach beiden Müttern eine Figur der Innern"; die beic'en Mütter sind die beiden Feuer, d.h. das Feuer des Grimms und das Feuer dos Lichts. Der Spiegel des Grimms ist das äußere Feuer, der Spiegel des Lichts der Ewigkeit die Sonne: des Grimmes Wesenheit ist die Erde, dos Lichtes (der Liebe) Wesenheit das Wasser (ebd. S. 48; lat. S. 157). Min vergleiche damit, wie Faust zu den „Müttern" in die Erde vordringt und wie aus den Wellen des Wassers (Thaies) Feuer und Licht hervorgehen, damit „Eros" herrsche (v. 8432 — 8487). Selbst das drängende Sehnen hat bei Boehme sein bedeutsames Analogon. Wemi Goethe noch aus seiner magischen Zeit (nach Boehme geht eine Magie iu die andere) Erinne- rungen an Boehme hatte, wüi'de er eben die Stelle bei Plutarch später hinzu- gefunden und die Anzahl der Mütter vermehi't haben. — Boehmes ,, Stirb und Werde" bei Goethe ist ja weitbekamit.
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Zur Kntstehiingsgesch. d. Lehre Spinozas v. Aiwor Dei intelleotualis. 2'i
Ein flüchtig in den geometrischen Beweis hiiieingcworfejR'r Ver- gleich zerreißt den Vorhang, den der über seine Jugend hijiausge- koniniene Denker hier vor seine hinterbewiißten Vorstellungen ge- zogen hat. ,. Wahrlich, wie das Licht die Finsternis offenbart", heißt c? II prop. 43 schol., „so ist die Wahrheit die Norm ihrer selbst und des Falschen". Gewiß: Für uns ein trivialer Vergleich. Aber für Spinoza eben viel mehr. Seine Leser aus den Kreisen der Boehmisten sollten ihn verstehen. Sie verstanden ihn, da ihnen das erste Glied des Vergleichs durch Boehnie in Fleisch und Blut übergegangen war. Spinozas „Sicut lux seipsam et tenebras manifestat", ist hi jedem Teile dem Wort- und Gedankenschatz Werdenhagens entnommen. „Wahre und falsche Idee", so steht sofort darauf zu lesen, „verhalten sich wie Wesen und Nichts zueinander" (ens ad non ens); im Lehr- satz 35, auf den der Philosoph hierbei verweist, fehlt diese starke Aus drucks weise und sind moderne Wendungen gewählt. Aus Boehme wii'd der Vergleich sofort verständhch.
Selbst der erkenntnistheoretische Grundsatz des Rationalisnuis, den Spinoza als der erste so packend ausfülnt, daß nänüich die sinn- hche, äußere Erkenntnis chaotisch, sinnlos, ungeordnet bleibt, die geistige aber wesenhaften Sinn gibt, klingt schon bei Boehme durch: „Der Innere (Geist) ist ein Prophet, und der äußere begreifet das nicht. So er's aber begreift, so hat er Gottes Wesenheit in sich" (S. 48 deutsch). Das Begi-eifen aus Gottes Wesenheit ist bei Spinoza eben das mit amor intellectualis verbundene Erkennen der dritten Er- kenntnisart. ^2)
Für die Stimmung der Boehmisten ist kaum etwas so bezeich- nend wie das Stück „von der fünften Gestalt des Feuers im Ewigen Willen" (S. 13 ff. deutsch). Es handelt im Tiefsten von „der Fort- pflanzung (propagatio) der ewigen Natur". Man verstehet darin zwei Reiche, ein gutes und fröhliches sowie ein böses und grimmiges, ewig neidisches und trauriges. Die Zeit, das Verborgene (abditum)
»-) Vgl. Alfr. Wenzel, Zeitschr. f. Philos. u. philos. Kritik 143, 1911 S. 16 (mit Friedrichs), von Dunin - Bcrkowski weist mich während des Druckes darauf hin, daß sich aus H i e 1 , Von der verborgenen Ewig- keit Christi usw., 1687 (übersetzt nach dem Druck d. J. 1582) die drei Erkenntnisarten ergeben: c. 36 S. 106 ff. 1. die bildliche Einsprechung Gottes „aus den Wolcken, aus dem wilden heydnischen verwüsten Wesen"
24 Adolf Dyioff,
ZU finden, sei mm endlich da; aber es könne nur gefunden werden von vielen, die da treu sein und sich in Gott demütigen (in humilitate vere vivida) und in seinem Geist und Willen suchen werden, d. h. allein in ,, Gottes Auge".
Niemand wird die Ähnlichkeit mit Spinozas Philosophie ver- kennen, die eben durch die Entgegensetzung des Niedrigen und des Guten in der Menschheit sich wesentHch von denen des Descartes und des Hobbes unterscheidet und der Demut mehr Nutzen als Schaden zuschreibt (die Stellen bei Baensch im Register).
Die Entstehung der Materie verkündet beinahe mit Zudringlich- keit das Kapitel von der sechsten „Gestalt des Feuers": Niemand mit einiger Vernunft kann dem widersprechen, daß zwei Prinzipien in einem Wesen stehen. Dabei hat sowohl das Lichtleben, das ein Herz des Feuerlebens ist, als auch das Feuerleben, das eine „Ur- sache" des Lichtlebens ist, seine Qual und Treibung. Bei jedem Feuer ist daher eine Materie, daraus es brennet, d. h. ein finsterer Körper (corpus), der mit der äußeren „Qual" (originatio) dieser Welt ver- bunden ist (S. 102 lat.; S. 18 d.). Mit anderen Worten: Der Urwille macht, da er rein aus sich nichts erreichen oder finden kann, sich selbst eine „Figur" und eine Gleichnis (similitudo), im Begehren (appetitu) mit dem strengen Ziehen (attractio); und das strenge, herbe, bittere, finstere Wesen (essentia) ist die materiahsche Gleichnis selber. Es frißt sich selber und ist selber die Materie des Feuers, daß also der ewige Blitz immer währet. Das ist die Rügung und Ur- ständ (causa) des Lebens. Und das ist ein Prinzipium (S. 103 f. lat; 19 d.). Das ist gleichbedeutend mit einem ewigen Geiz, der im Suchen der Essenzien die unzählbare und unergründliche Vielheit gebiert,
.... anfänglich doch nicht weiter dann in der menschlichen „opinianischen" (vgl. die Stufe Spinozas „opinio") .... noch ganz im irrdischen Wesen be- griffen". S. 107. Vgl. S. 109. 2. Die Einsprechung des „vermummten khgen Vernunft-Geistes (vgl. Spinozas zweite Stufe, die Überzeugung aus Vernunftgründen) S. 109. 3. Das unmittelbare ungeteilte „Sehen des un- endlich vollkommen-ewigen Wesens Gottes" oder „Begreifen" des ewig- voUkommnen Wesens Gottes (vgl. die dritte Erkenntnisstufe des Tract. brevis II 2, 2 u. 3 S. 115). Der Gegensatz ist hier die geteilte Gesellschaft, die der bekehrte Autor „vorhin" bei sich zu haben pflegte, d. h. die ge- teilten Sinne und irdischen Lüste.
Zur Entstehungsgesch. d. Lehre Spinozas v. Amor Dei intellectualis.
25
seine eigene Wurzel, die Finsternis, verachtet. Davon kommt's, daß in jedem Willen jeder Essenz wieder ein Zentrum eines ganzen Wesens ist. Und das ist die Ursache der Schöpfung dieser Welt und daher urständet (originem traxit) die Materie der Erde, der Sterne und Elemente, auch alle Kunst, Witz, List, Trug, Falschheit, Geitz und Hochmut in den Kreaturen dieser Welt (S. 105 f. lat. = 19 f. d.). Die äußere Welt mit den vier Elementen ist aus der inneren erzeugt (procreatus) (S. 135 lat.). Alle Materie ist in der Potenz des wahren Feuers (Jehovahs) gelegen (S. 87 lat.).^^)
Es ist ferner nicht allzu schwer, einen mos geometricus in des Mystikers Weltableitung zu ersehen; man weiß aus Proklos, daß die Forderung und Gewohnheit eines geometrischen Verfahrens den Neu- platonikern nicht fremd war.^^)
Ein anderer Rückstand aus Spinozas Frühzeit scheint der ,,Sohn Gottes" zu sein, der im „Kurzen Traktat" zuweilen auftaucht.^^) Richter meint, die Scholastik, vielleicht auch die Kabbala habe da einen plotinischen Gedanken vermittelt. Das, was wir obea über die Entfaltung der drei göttlichen Personen, vor allem des „Sohnes" als des Herzens aus Gott durch Boehme vernahmen, erlaubt uns, ein neues „Vielleicht" hinzuzusetzen. Die Merkmale, die Richter^^) dem „Sohn Gottes" im Verhältnis zum Urwesen zuschreibt, passen im allgemeinen ausgezeichnet auf Boehmes „Sohn". Gott selbst ist der ewige Wille und dieser ist in ihm, er geht darauf aus, sein Herz (cor suum) oder „den Sohn" (filium ohne Zusatz wie bei Spinoza) zu er- zeugen.^') Die heilige TernarzahP^) in einer Essenz ist der „Vater", die ewige Freiheit ohne Grund, d. h. die zweite Gestalt der Ewigkeit.
'^) Dort Genaueres.
"*) Kaum mehr bedarf es nach all dem Gesagten einer ausdrücklichen Erwähnung, daß das von Alfr. Wenzel (S. 399) an Spinozas Substanz ver- mißte „Quellen" auch in der Psychologie Boehmes fehlte.
") Sigwart bei Richter S. 103 ff .
»•) S. 105 ff.
*') S. 79. Dort verweist Boehme für das Genauere auf das dritte Buch seiner früheren Schriften.
»«) S. 89 f.
26 Adolf Dyroff,
Daß sich die Boehmesche Theologie dem jungen Spinoza vor allem durch die tolerante Auffassung Jehovahs, durch die von Werden- hagen stark vermehrten biblischen Belege empfahl, wird wohl ohne weiteres einleuchten; Werdenhagens Behauptung, daß Juden, Türken, selbst Heideii in ihrem Aberglauben viel ernstlicher, emsiger, andäch- tiger und an guten Werken viel reicher seien als die Christen^^), kam den Ansichten des , .abtrünnigen" Juden nicht wenig entgegen. Um- gekehrt scheut er sich bekanntlich nicht, den Geist (spiritus) Christi mit dei" idea Gottes gleichzusetzen, von der es allein abhänge, daß der Mensch frei sei und daß er das Gute, das er für sich begehre, auch für die übrigen Menschen begehre (IV prop. 68 coroll.). Einen mo- dulus (Modell) oder Idea kennt auch Boehme (S. 105, 155 ff. lat. u. ö.); •aus ihr geht die creatio hervor zur „Existenz"', die ähnlich ist dem bewundernswerten Auge Jehovahs (Gott Sohn). Diese „Idea" wird von Boehme auch speculum genannt und im Zusanmienhang damit ist von „Liebe und Zuneigung (dilectio) Jehovahs" gegenüber den Sterblichen die Rede, sowie vom Geist (spiritus), der der Spiegel seines ,, Machers" ist:- Christi Fleisch hat im ,, Geist" seinen „Pro- pheten" (S. 156 f.). 60)
^^) Henke-Mirbt bei Hauck, Realenzyklopädie. Die Äußerung auch aus d. J. 1632. Leider kann ich in der Kriegszeit andern Werken Werden- hagens nicht nachgehen.
^^/ Facies to'ius universi (s. darüber u. a. Alb. Rivaud, Les notiona d'essence et d'existence dans la philos. de Spinoza S. 167 f. u. ö.) oder dergl. gelang mir bisher nicht in dem Gestrüppe der Boehme- Werdenhagenschen Psychologie zu erspähen, obwohl bei den Symbolen ,,Oculus", Imago, Spe- culum das Bild nicht fern lag. Einer meiner Schüler (Ostlender) fand gelegent- lich einer auf Humes Glaubensbegriff gerichteten Arbeit bei Calvin Instit. christianae rcligionis I c 9 n 3: Mutuo enim quodam nexu Dominus verbi spiritusque sui certitudinem inter ac copulavit: ut solida verbi religio animis nostris insidat, ubi affulget spiritus, qui nos illic Dei faciem contemplari faciat . . . ut vicissim nullo halluoinationis timore Spiritum amplexemur, ubi illum in sua imagine, hoc est in Verbo, recognoscimus. In der Bibel ist nach Ausweis der Konkordanz der Ausdruck facies Domini, Dei im alten Testa- ment nicht selten. Wahrscheinlicher aber ist mir, daß der entsprechende Ausdruck Avicemias nachwirkt, der VI De Naturalibus IV 2 von einer ,, facies" der Imaginatio spricht und dort darunter die Außenseite der letzteren oder ihr Gesicht versteht, das auf die Sinnendinge gerichtet ist (genau ad sensibilia habet); es setzt diese ,, facies* dem sensus com- munis gleich.
Zur Kntslchungi-'gesch. d. Lehre .Spinozas v. Amor Dei intellectualis. 27
Vergoblidi freilich scheint mir vorläufii^ der Versuch, feslzu- stelleii, wer den Scliiiler der Synagoge auf den von ihm ausdrücklich dem Paulus zugeschriebenen Satz brachte: Onuiia in Deo esse et in Deo moveri. Näher als der Wortlaut bei Geulinox (G. Th. Kichter, Spinozas philosophische Terminologie, Leipzig 1913 S. 168) käme inmierhin noch der bei Boehme : In Deo res omnes sunt, in eo vivimus et fovemur atque eius sumus progenies (S. 78).^^) Geulincx sagt dem griechischen Text entsprechend: in ipso vivinms, movenmr et sumus. Werdenhagen verfügt über ein großes biblisches Stelleir- niaterial und kurz vorher ist Paulus genannt (S. 76). Der Druck- fehler „fovenuir" statt ,, movenmr" könnte Spinoza nicht belästigt haben. Indes der berühmte Satz lag doch auf der Gasse. Den konnte Spinoza leicht seiner Lehre gleichartig finden. Man wird nicht ver- gessen dürfen, daß Boehme, wenn er Gott zugleich als „Nichts" schildert, bedenklich von Spinoza ab- und nahe an Hegel heranrückt. Einige seiner hierher gehörigen Aussprüche sind:
Gott rein in sich als bloßer leerer WiUe ist stille Ewigkeit (trans- quilla aeternitas, S. 81), Stille (tranquillitas) und ewiger Friede (aeterna pax) (S. 83), ist nichts (nihil), obwohl sie ist, ist alles (omnia) und doch gleichsam (quasi) nichts (83, 89 f.), ist ohne Essenz (S. 83), eine ungeheure Weite ohne Grund (ingens amplitudo absque fundo, S. 83). Daraus wird erst die ,, stille Freiheit" (quieta libertas, S. 81), die weder Finsternis (tenebras) noch Licht (lux) enthält, in scharfem Trieb und Anziehung geschärft (ebd).
Spinoza würde ferner nur zum Teil den Satz unterschrieben haben: Quod in aeternitate Spiritus est, id in hoc mundo essentia et substantia est (Werdenhagen S. 110). Auch ist Gott für Boehme nicht Natur, er wird nur dazu. ^2)
Doch die scharfen Gegensätze zwischen beiden Philosophen zu belegen, kami nicht Aufgabe dieser Abhandlung sein. Wir wissen, was den starken Umschwung im Denken des Holländers herbeiführte. Nur würden wir jetzt uns so ausdrücken: Durch die große Einheits- konzeption Boehmes war Spinozas Blick von vornherein für die In- konsequenz im Substanzdenken des Descartes geschärft. Gibt man
*-) Vgl, S. 287 lat.: Jehovah omnia in omnibus implet.
*^) S. 79 freilich auch dicendum est, quod Jehovah in Natm-a sit.
28 Adolf Dyroff.
eine solche Gene, is des neuen Systems zu, dann ist unwahrscheinlich, was Baensch meint, daß nämlich Spinoza überhaupt eine Begründung seiner Definitionen geplant habe. Die Annahme ist auch aus dem Grunde unmöghch, weil dann ja die geometrische Methode prinzipiell aufgegeben wäre.
Vielleicht könnte man das Verhältnis zwischen mystisierendem Hintergrund und rationalistischem Vordergrund im Systeme der p]thik auf eine Formel bringen, die durch eine zu Spinozas Zeit noch sehr übliche Begriff sbildung nahe gelegt wird: Der mystische Stoff ist durch die rationalistische Form umgeprägt worden. ^^)
*3) Ich bitte, den Satz nicht mit ganz andersartigen Auffassungen zu verwechseln, wie etwa mit der maßlosen Übertreibung Milarchs (a. a. O. S. 21): Spinoza fasse die Theosophie Boehmes in logische Kategorien.
IL
Über die Bedeutung der gegenwärtigen Zeit als Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit.
Von
Rudolf Tönnis, Berlin-Dortmund.
Die weltgeschichtlichen Ereignisse unserer Zeit zwingen alles Denken in ihren Bann, Ipnken den Blick in verstärktem Maße auf die Tatsächlichkeiten des Lebens und rufen eine große passive Ein- heit der verschiedensten Denkrichtungen hervor. Eine notwendige Wirkung, die uns auf die Lehren, die uns das Leben jetzt gibt, vor- bereitet und dafür empfänglich macht.
Wenn ein gewaltiges Unwetter über eine Gegend dahinbraust und allem, was lebt, mit Vernichtung droht, da vertragen sich Wolf und Schaf. Die Fragen der Selbsterhaltung, die jeden mit gleicher Wichtigkeit angehen, sind die nächstliegenden, und aller Wille rich- tet sich in gleichem Sinne gegen den gemeinsamen Feind. Unter der Wucht der gemeinsamen Interessen treten alle unterschied- lichen Meinungen in den Hintergrund.
Gegenüber dem früheren Parteihader auf allen Gebieten wirkt die gegenwärtige Volkseinigkeit in ihrer erhebenden Größe wie eine wunderbare Erlösung von allen „Engherzigkeiten und Kleinlich- keiten", die das wissenschaftliche und öffentliche Leben scheinbar ganz unnötig zu zersplittern schienen. Nun ist plötzlich ein gemein- sames, alle vereinendes Ziel da; ein beherrschender Gedanke be- wegt das ganze Volk.
Aber der gemeinsame Gedanke, so groß und qualitativ wertvoll er auch sein mag, ist mehr ein äußerlicher, d. h. ein durch äußere Mlässe hervorgerufener. Er trägt zwar wesentlich zur Klärung vieler Streitfragen bei und hat seine bleibende Rückwirkung auf alle
30 Rudolf Tön II is,
inneren Verhältnisse, wie wir schon jetzt sehen und wie das in der Oeschiclite nacli allen großen Kriegen der Fall war, aber die Lösung grundsätzlicher Gegensätze trägt er nicht in sich, trägt er wenigstens zunächst nicht in sich.
Von allen groljen Ereignissen werden große Wirkungen erwartet. Wer aber die Hoffnung hegt, daß mit der äußeren Einigkeit auch die Zv/iespältigkeit der innerpolitischen Gesinnungen, die ja die weitesten Kreise berühren, beigelegt sein könnte, wird sich schwer enttäuscht sehen. Den Wandel der Gesinnung erwartet jede Partei von der andern; sie selbst weiß nichts von ihrem eigenen bösen Geist der Unverträglichkeit.
Die alten Streitfragen sind nur eine Zeit lang von der Tages- ordnung abgesetzt und ad acta gelegt. Auch sorgt die Zensur für Orientierung der zu erörternden Fragen an der ZeiÜage. Sie können weder durch ein großes Zeitereignis erledigt, noch auf andere Weise beseitigt werden. Es sind eben innerpolitische Le- bensaufgaben, die gelöst werden müssen, es gibt keinen an- dern Weg.
Die innerpolitischen Fragen und solche anderer Lebensgebiete treten nur solange in den Hintergrund, wie die einende Ursache an- hält und stark genug anhält. Ist das Kriegsgewitter vorbei, so müssen auch notwendigerweise die alten Fragen wieder auftauchen und der alte Hader und Streit um grundsätzliche Meinungsver- schiedenheiten, (die letzten Endes in einer uneinheitlichen Lebens- auffassung ihre gemeinsame Wurzel haben), ist wieder da.
Unbemerkt wird vielfach unsere gegenwärtige Einigkeit von denjenigen, die hinter den Ereignissen eine tiefere Wandlung der gesamten Menschheit vermuten, in unklarem Verständnis des Drängens des deutschen Zeitgeistes in glattem Hinüberfluß auf diese übertragen und von der Zukunft erwartet. Die Ereignisse der ersten Kriegsmonate und die beispiellosen ferneren Erfolge unserer Heere, schienen ja die kühnsten Erwartungen zu rechtfertigen. Im Verlaufe fast zweier Kriegsjahre ist jedoch eine erheblich klarere Erkenntnis der Sachlage eingetreten, die zu nüchternster Betrach- tung derselben zwingt und die Hoffnungen der Zukunft auf ein durch die Tatsachen berechtigtes Maß herabsetzt. Die Meinungen über höhere Ziele sind daher recht verschieden.
über die Bedeutung der gejfenwärtigen Zeit usw. 31
Während der eine jede Erörterung nicht realistischer Ideen von der Hand weist und alle über die nächstliegenden praktischen For- derungen des Lebens hinausgehende Fragen für verfehlt wähnt, hält der andere in der Stille an unbestimmten fernen Zielen fest: hinter dem Dunkel des Qestehens verbirgt sich mehr, als nur poli- tische oder wirtschaftliche Meinungsverschiedenheiten. Um Meinungsverschiedenheiten handelt es sich allerdings, aber sie liegen tiefer, sie gehen aus von grundsätzlich verschiedenen Welt- und Lebensauffassungen. Es kämpft der sachlich-idealistische deutsche (leist gegen den naturhaft-egoistischen englischen!
Wenn auch vom deutschen Geist viel zu erhoffen ist, so ist er doch keineswegs heute soweit gereift, daß eine durchschlagende Wir- kung auf die Lebensauffassung fremder Nationen schon jetzt zu er- warten v/äre. Diese Gedanken sind es auch keineswegs, die uns einen; wenigstens walten sie nicht bei der großen Mehrheit vor. Die das Volk beherrschende Einigkeit müssen wir zunächst trennen von denjenigen, die wir eventuell für die Zukunft der Menschheit durch den deutschen Idealismus erwarten.
Der Krieg, d. h. das Bewußtsein, daß uns ein schweres Un- recht geschieht, sowie der Zorn gegen die gemeinsamen Feinde, sind die Ursache der Einigkeit im allgemeinen. Der uns gegenwärtig beseelende Einheitsgedanke ist nur spontan unter dem Zwang der Notw-endigkeit entstanden, erstreckt sich auch nur auf unsere po- irtische Lebenseinheit und ist wegen seines subjektiven Charakters nicht geeignet, in Beziehung zur Menschheit zu stehen. Diese wird gerade durch subjektive Affekte und nationale Meinun- gen zerrissen. So erbittert wie heute haben die Nationen iri ihren Gegensätzen einander noch nie ge'genübergestanden. Es ist, als ob die Harmonie der Menschheit in der Tat ein leerer Traum sei.
Aber trotzdem: hinter der Ursache der deutschen Einheit, hinter dem Bewußtsein des schweren Unrechts wird unbewußt mehr empfunden als bewußt erkannt wird, und wenn auch zwischen dem deutschen Einheitsbewußtsein und der Harmonie der Mensch- heit eine gewaltige Kluft liegt, eine nähere Beziehung ist doch vorhanden. Es fragt sich nämlich, ob nicht das Rechtsbewußtsein, das in uns lebt, sich auf Tatsächlichkeiten stützt, die dem Recht an sich, die dem Recht als solchem also von Haus aus zu Grunde liegen, d. h. aber ein solches wäre, das nicht nur u n s e r m nationalen
Aichiv für Geschichte der Philosophie. XXXI. 1. 3
32 Rudolf Tönnis,
Rechtsbewiißtsein entspräche, sondern dem aller Völker, wenn sie zur Anerkennung dieser ihrem Standpunkt übergeordneten Wahrheit gebracht werden könnten.
Das müßte eine Wahrheit sein, die nicht von unserem persön- lich nationalen Wiiien abhängig wäre, sondern an sich bestände. also dem Leben als solchem zu Grunde läge und dem sich jeder als letzte Wahrheit zu fügen hätte. Freilich gibt es, diese Wahrheit heute noch nicht, sie läßt sich aber gewinnen, sie läßt sich ableiten aus der klar gesehenen Entwicklung des Lebens.
Wer das Geschehen von einer höheren Warte aus betrachtet, dem muß sich die Tatsache aufdrängen, daß ja die gleichen sozial- politischen Fragen alle Völker beschäftigen, ebenso wie die gleichen Probleme der Wissenschaft und die höchsten geistig - seelischen Lebensfragen die gesamte Menschheit betreffen. Beide Problem- gruppen sind Teile eines großen geistigen Reifungs- prozesses der Menschen und speziell der höheren national- sozialen Entwicklimgseinheiten derselben.
Wie aber aus dem Ausgange der kriegerischen Konflikte — in welchem Sinne es auch sei — die Lösung der höchsten Probleme hervorgehen soll, ist zunächst ganz unklar; es ist ohne weiteres nicht zu ersehen, wie sich etwa die Streitfrage zwischen Indivi- dualismus und Sozialismus, zwischen Egoismus und Altruismus, zwischen Realismus und Idealismus, zwischen Nationalismus und Universalismus, zwischen Monismus und Dualismus, zwischen Wissenschaft und Religion lösen sollen; denn diese Fragen berühren sich alle und alle hängen in der Tiefe miteinander zusammen.
Die geistige Entwicklung der Menschen ist seit der Renaissance und Reformationszeit in wachsendem Maße eine expansive gewesen und dehnte sich schließlich so weit aus, daß die Menschen nun jede geistig-seelische Einheit und Konzentration auf allgemeine Ideen entbehren. Eine höhere geistige Führung durch von allen anerkannte und sie in gleicher Weise beherrschende Gedanken fehlt heute völlig. Die geistige Zerrisseniheit der Menschheit von heute ist eine wesentliche Ursache des Krieges, die bei unserer hohen Kultur als Hohn auf die Gesittung empfunden werden muß. Die alten Ideale sind verblaßt und neue sind noch nicht da.
über die Bedeutunii' der KegeriwärtiRen Zeit usw. o3
Eüicndc Menschheitsgedankeii barg seinerzeit das Chirsten- tum, aber jene Epoche war noch nicht reif, die ganze Wahrheit zu erkennen und so verband sich mit jenem Qedankengebäude sowohl ein unwahres Weltbild» als auch eine ebenso unhaltbare Lebens- anschauung, d. h. soweit sie auf dogmatischer Grundlage ruht. Die christlichen Gedanken haben Kriege zu keiner Zeit verhindern können, sie mußten aber im selben Maße ihre einende und ver- pflichtende Kraft umsomehr einbüßen, je mehr die Erfahrung allen Einsichtsvolleren sagte, daß die Wirklichkeit des Lebens mit jenen Lehren nicht übereinstimmte. So mußte das Interesse der Völker auch in erhöhtem Maße auf nächstliegende, die eigene Zukunft be- treffende Fragen zurücksinken, als daß sie sich für aligemeine Menschheitsgedanken hätten erwärmen können.
\'on humanitären Menschheitsgedanken kann erst dann diese verpflichtende Kraft, ausgehen, wenn ihnen diejenigen Gedanken klar bewußt zu Grunde gelegt werden können, die ihrem Wesen in der Tiefe des Unbewußten, d. h. an sich zu Grunde lifegen.
Es ist nicht in Frage zu stellen, daß die christliche Lehre hohe Wahrheitswerte in sich birgt, die alle Zeiten überdauern werden, aber ebenso richtig ist es, mit den Tatsachen zu sprechen und zu behaupten: Hätte sich die Kraft der christlichen Ideen als genügend stark erwiesen, so hätte der Krieg gar nicht entstehen können, daß er doch entstand und Jahrzehnte hindurch unter den Augen der offiziellen Vertreter der christlichen Lehre sich vorbereiten konnte, beweist, daß die Lehre nicht aus sich heraus die Kraft be^ saß. das gegenwärtige Schicksal von der Menschheit abzuhalten. Sie hat das schwerste aller Dramen der Menschen nicht nur nicht von den Menschen im allgemeinen abwenden können, son- dem nicht eiinnal von den christlichen Völkern unter- einander. Es sind in der christlichen Lehre noch nicht die Wahrheiten ausgesprochen, die sich als Führer im Leben be- währen.
Es gilt also die christliöhen Ideen auf ihren wahren Wert zu- rückzuführen, so daß sie sich sinnvoll und ohne Zwang in das an sich bestehende Lebensgetriebe einfügen. Bevor dies aber möglich ist, müssen wir das Leben selbst in seinen Qrundzügen kennen und die Wahrheiten der neuen Zeit, dienen jene christlichen Ideen allein nicht gewachsen waren, zu gewinnen suchen.
3 ■
34 RudolfTönnis,
Einende Menschheitsgedanken können n,ur gewonnen werden, indem wir die Wahrheiten, die dem Leben an sich zu Grunde liegen, zu Richtlinien fürs Leben machen und aus ihnen die fehlen- den Ideale ableiten.
Die bleibenden Werte, welche unsere verfließende Epoche gegenüber allen früheren Zeitperloden neu herausgebracht und zum alten Bestände des Wissens als neu hinzugefügt hat, und die ihr den besonderen Stempel aufdrücken, konzentrieren sich im Ent- wicklungsgedanken: Das Leben unterliegt in all seinen Erscheinungs- formen der Entwicklung und diese Wahrheit steht jetzt ebenso im Mittelpunkt einer Weltanschauung, ist ebenso unvergänglich wie diejenige, die den ethischen Gehalt, d. h. den Kernpunkt der christ- lichen Lehre ausmacht. Da beide wahre, fundamental wahre Be- standteile des Lebens bilden, so können neue, allgemein anzu- erkennende, einende Gedanken nur aus der Verschmelzung beider Gedanken hervorgehen.
*
Wir müssen zwischen zwei christilichen Gedankenkreisen unter- scheiden, die an sich nichts miteinander zu tun haben.
Der eine entspringt den in der menschlichen Natur begründeten höheren: altruistischen Trieben und erstreckt sich auf allgemeine MenschenHebe und Betonung des E i n z e 1 rn e n s c h e n w e r t e s. Der höheren Natur entstammt auch die Sehnsucht der Menschen nach Erlösung von dem Elend des Daseins, nach einem höheren, lauteren, vollkommeneren Leben als dem allgemeinen Ziel der Menschen. Diese Sehnsucht ist auch im Menschen selbst vorhanden, ist eine Eigenschaft seiner Seele, ist in seiner höheren Natur be- gründet und besitzt somit gleichfalls eine N a t u r g r u n d 1 a g e , die in allen gesitteten Völkern lebt, ob sie nun buddhistisch, mohamme- danisch oder christUch sind. Aber die Erklärung, was unter diesem höheren Leben, das uns über die Not des täglichen Lebens emporheben soll, zu verstehen und der Weg, wie ein solches Leben zu erreichen ist, sowie überhaupt die Erklärung des allgemeinen Weltgeschehens und des widerspruchsvollen Lebens, die sich um diese zentralen Empfindungen und Gedanken bewegt, sich also not- wendigerweise mit dem inneren Sehnen verbinden muß und ge- radezu den Inhalt der Naturgrundlage zu bilden
über die Bedeutung der «egenwärtigen Zeit usw. hö
hat, ist bei der christlichen Lehre in wesentlichen Gesichtspunkten ebenso verfehlt, wie bei den übrigen universal-religiösen Systemen. Es sind die willkürlich angenommenen Dogmen, sie bilden den zwei- ten Ideenkreis.
Der unaufgeklärten Zeit ihrer Entstehung gemäß ist eine richtige Erklärung der Welt und des Lebens aber auch gar nicht zu erwarten und darum trifft jene Stifter und Verkümder keinerlei Vorwurf. Im Gegenteil, für ihre Zeit waren ihre oder ähnliche Lehren notwendig, die Menschheit verlangte nach Ideen, die sie befreiten, von der damals vorherrschenden Not des Daseins.
Für eine Lehre, die u n s h e u t e n o c h befriedigen würde, waren jene Zeiten bei weitem nicht reif, sie würde, ganz abgesehen von der Unmöglichkeit ihres Entstehens, auch jenen Menschen nicht das haben nützen können, wie die ihrem Verständnis angepaßten ein- fachen Deutungen, die eben dem Geiste ihrer Zeit entsprungen waren.
Da die Grundlagen zu dem richtigen Weltbild noch nicht er- forscht waren, so mußte das alte Weltbild, sowie die Anschauung vom Leben: was seine Bedeutung und sein Sinn ist, in wesentlichen Zügen unrichtig ausfallen.
*
Aus dem Studium der Natur hat sich im Laufe der Jahrhunderte eine solche Fülle sich gegenseitig stützenden und ergänzenden wissenschaftlichen Tatsachenmaterials zusammentragen lassen, daß es sich zu dem festen Fundament einer neuen Weltanschauung aus- bauen ließ.
Besonders war es der um die Mitte des vorigen Jahrhunderts festere Gestalt gewinnende Entwicklungsgedanke, welcher Licht auf die Entstehung der Pflanzen- und Tierwelt warf, deren Existenz bis dahin allen unbegreiflich erschien, denen die naive Erklärung des mo- saischen Schöpfungsberichtes nicht genügte.
Die Auslese und Anpassung im Daseinskampf bildeten Begriffe von großer Tragweite auch für das Lebeu des Menschengeschlechts. ' Nach der Entwicklungslehre steht der Mensch in enger Beziehung zum Tierreich, ist aus ihm hervorgegangen, im Gegensatz zu der Anschauung der Kirche, die zwischen Mensch und Tier bezw. zwi-
36 Rudolf Tonn is,
sehen dem Menschen und der übrigen Natu» eme große Kluft annimmt.
Der Daseinskampf, dem die christliche Lehre aus dem Wege zu gehen suchte und der, wie jedem imbefangenen Blick offenbar wurde, nicht allein im Pflanzen- und Tierreich, sondern auch unter den Menschen bestand, wurde plötzlich in seiner ungeheuren Be- deutung für alle Lebewesen klar. Unklar blieb jedoch seine Be- rechtigung oder Nichtberechtigung unter den Menschen, denn der Mensch war doch schließilich nicht mit den Tieren auf eine Stufe zu stellen, er besitzt höhere edlere Eigenschaften. Andererseits bildete der Daseinskampf, der die tüchtigen Geschöpfe über die weniger tüchtigen zum Sieger machte und alle Unfähigen zurückhielt, einen wichtigen Faktor auch im Leben der Menschen; im Kulturleben der Menschen, für welches in der christlichen Lebensanschauung gar kein rechter Platz zu finden war, denn nach den christlichen An- schauungen war das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens böse von Jugend auf. Diesem irdischen Dichten und Trachten ent- springt aber gerade das Kulturleben mit seinen Kämpfen und seiner Not. Wer nun die Not zn bekämpfen trachtet, der darf nicht das irdische Sehnen und Wünschen, das Dichten. Trachten und Streben, das ja den ganzen Inhalt unserer Seele ausmacht, verurteilen und den Daseinskampf verneinen und alle Zwiespältigkeit mit ihren Leiden und ihrer Not auf eine Schul d der Menschen zurückführen wollen. Eine solch primitive Erklärung kann heute nur noch einer seichten Auffassung genügen, die von dem wirklichen Ineinander- greifen der Lebenslaktoren keine Vorstellung besitzt. Nur in der vollen Bejahung des Lebens, in seinem Verständnis und in der sinnvollen Anpassung an die Tatsächlichkeiten desselben können wir eine Erklärung und langsame Lösung der Widersprüche finden.
Friedrich Nietzsche erfaßte zunächst die biologische Be- deutung des Entwicklungsgedankens und seine Tragweite für das Menschengeschlecht und mit heiligem Zorne wandte er sich gegen die christliche Lehre als eine Lehre erbärmlicher Sklavenmoral, die gerade die kraftvollsten und tüchtigsten Menschen unterdrücke, da- gegen alles Niedrige und' Schwächliche geradezu künstlich groß- züchte. Er predigte die alleinige Existenzberechtigung eines Herren-
über die BedeiituiiK der ffej,'en\värtigen Zeit usw. oY
meiischentumes und die rücksichtslose Bekämpfung aller Elenden und Schwachen.
In der Befürwortung dieses krassen Egoismus kehrt Nietzsche in gewissem Sinne wieder zu Verhältnissen zurück, wie sie zur r()mi- schen Kaiserzeit bestanden, aus jenen heraus war aber die christ- liche Moral entstanden; sie war eine Überwindung und Besiegung dieser egoistischen Zustände: eine Besinnung auf die edleren Eigen- schaften im Menschen, denen sie zum Siege verhalf. Damals galt der Starke alles, der Schwache nichts. Eine Rückkehr zu diesen Zuständen wäre aber kein Fortschritt.
Nietzsche überträgt mit seinen Forderungen den Daseinskampf der Tierwelt ohne weiteres auf die Menschen und läßt ihre höheren, sittlichen Eigenschaften außer acht. Diese scheinen ihm gefährlich, insofern sie die Entwicklung eines kraftvollen Menschengeschlechts unterdrücken, d. h. nach der dogmatisch christlichen Lehre unter- drücken. Der Hinweis, daß der Wille zur Macht nicht an sich selbst orientiert sein darf, sondern Mittel zu höheren Zwecken ist, fehlt zwar nicht bei Nietzsche. Doch wird die sittliche Disziplinierung des Machtwillens nicht genügend betont, denn es fehlt noch der Maßstab, woran der Wille zu orientieren ist.
Da die Entwicklung des Menschengeschlechts aus dem Tier- reich und die Vererbbarkeit lebenstüchtiger Eigenschaften auf die Nachkommen wissenschaftlich unumstößlich feststeht, so sind mit den Lehren Nietzsches wichtige Fragen für die Zukunft des Men- schengeschlechts angeschnitten, Fragen mit starkem Wahr- heit s h i n t e r g r u n d e , die nicht mehr von der Tagesordnung verschwinden können, es sei denn, daß sie gelöst werden. Die Be- deutung Nietzsches besteht demnach vorwiegend in der Stellung der neuen Probleme, nicht in den Antworten, die er darauf gibt. Er selbst erachtet diese Fragen, die im übrigen eine ganze Reihe weiterer Probleme nach sich ziehen, auch noch nicht für gelöst.
So wie Nietzsche den Gedanken des Willens zur Macht in dem Mittelpunkt einer neuen Lehre stellt, von dem aus er alle Lebens- verhältnisse betrachtet, so haben auch frühere Erzieher der Mensch- heit, die die Probleme des Lebens zu lösen sich bemühten, von einem bestimmten ethischen Gedanken aus diese Antworten geben zu können geglaubt, die dann ebenso einfach wie einleuchtend er- schienen.
38 Rudolf Tön nis ,
Plato zeigt den Menschen in hohen Zielen und Bildern das Ideal Christus lehrt die Nächstenliebe. Kant verweist uns auf die Pflicht, nach Schopenhauer kann nur das Mitleid der Ausgang aller Aloral sein. Bentham stellt die Wohlfahrtsmoral als letztes Ziel auf.
So werden von diesen und anderen Denkern bestimmte Leit- gedanken zu Richtlinien fürs Leben gemacht, denen sich alle Hand- lungen unterordnen sollen. Ein jeder hat ein anderes Hauptziel im Auge.
Die Einseitigkeit dieser Forderungen ist uns heute Lebenden, die \\'ir allmählich einen Begriff von der Viielseitigkejt des wirklichen Lebens erhalten haben, mehr und mehr zum Verständnis gekommen.
Die Breite des Gesichtsfeldes war früheren Zeiten durch die noch fehlende Tatsachenkenntnis verengt. Solange wie die Menschen dem chaotischen Dunkel gegenüberstehen, das sich von keiner Seite recht in Angriff nehmen und erklären lassen will, ist natürlich jeder Lichtstrahl, der konsequent das Leben durchdringt, zu seiner Auf- hellung wichtig. Die Philosophen konnten an Hand der Tatsachen- kenntnis und gemäß ihrer individuellen Anlage ■ zunächst nur ein- seitige Richtlinien entdecken, die an sich nicht falsch, sondern in ihrer Einseitigkeit schief gesehen sind und darum Falsches enthalten.
Wir Menschen von heute erkennen mehr und mehr, daß wir die Denker der Vergangenheit weder ablehnen noch eines ihrer Systeme, so wie es ist, annehmen können; sie alle enthalten bleibende Werte, und die Kämpfe jener um die Wahrheit waren nicht um- sonst. Wir dürfen indessen die Wirklichkeit nicht bestimmten Gedanken unterordnen.
Die Wirklichkeit besteht an sich, wir müssen daher das Leben, wie es ist, erklären, d. h. aber aus ihm die Richtlinien zu ge- winnen suchen, die wir brauchen. Es kann ja kein Zweifel sein, daß wir zu einer harmonischen Lebensführung weder das Ideal der Menschenliebe, noch aber die Eigenliebe, noch die Pflichterfüllung, noch das Mitleid oder die soziale Wohlfahrt usw. entbehren können. Wir bedürfen all dieser und anderer Wahrheiten, jede an ihrem Teil und jede zu ihrer Zeit. Wir bedürfen eines höchsten Gutes, das alle diese Ziele als seine Teilziele unter sich faßt.
Die Dinge liegen weit komplizierter, wie ursprünglich vermutet werden konnte. Viele Forderungen des Lebens laufen nebeneinander
über die Bedeiituiik'' der ge«^eii\\ärtijieii Zeit usw. .'>9
her, greifen vielseitig ineinander und ergänzen einander zu einem L e b e n s g a n z e n.
Es }\ann nur eine Philosophie geben, welche das Leben, wie es ist. erklärt. Sind die Grundlagen einer Welt- und Lebensanschau- ung wahr, 'so müssen sich auch die Philosophien aller Zeiten, soweit sie lebenswahre Bestandteile in sich bergen, glatt in sie einfügen lassen.
Es müssen somit zunächst die Grundlagen der Welt- und Lebens- anschauung festliegen, ehe jene Binzelwahrheiten als solche recht erkannt und an ihren Platz gerückt werden können; bis dahin können sie nur annähernd begrenzt und in ihrem Wert beurteilt werden.
Eine genügend fundierte Weltanschauung besitzen wir heute, aber es fehlt uns die Lebensanschauung, die dazu gehört, und die organisch aus ihr herauswachsen muß.
Da jede Lebensanschauung letzten Endes in eine Ethik ausmündet, die ihre Krönung bildet, so muß unser Streben darauf gerichtet sein, die ethische Lebenswahrheit zu finden, die eben auch nur aus dem Leben seihst abgeleitet werden kann, nur in ihm selbst seine Herkunft haben kann.
Im Leben selbst muß sie also ihre nährenden Wurzeln schlagen. aus ihm ihre gesunde Kraft saugen, um sie dem sich entfaltenden höheren Leben zuzuführen. Nur dann kann das kulturelle Leben der Völker dauernden Bestand haben, nur dann ist es davor ge- sichert, falschen Idealen nachzujagen und in falscher Richtimg fiber das Ziel hinauszustreben, oder auch zu erschlaffen, zu entarten, in sich selbst zurückzusinken und zugrunde zu gehen.
Das Geschehen unserer Zeit drängt uns aber auf Erkenntnis dieses höchsten Gutes hin, es ver- körpert sich in der Entwicklung Deutschlands.
Die Ethik der allgemeinen Menschenliebe war. wie Wiir sagten, ein fundamentaler Bestandteil des Lebens und dieser dem Alt- ruismus entspringende Teil versagte in der sich langsam vorbereiten- den kritischen Situation der europäischen Menschheit. Den andern lebenswahren Bestandteil glaubten wir in der Entwicklungslehre fin- den zu müssen. Aus der Lebensentwicklung muß sich der neue noch fehlende ethische Bestandteil ableiten lassen. Solange wir
40 Rudolf Tönnis,
diesen noch nicht besitzen, greift die Lebensentwicklung auch bei uns Menschen immer wieder auf den krassesten Egoismus, der dem biologischen (des höheren Menschen unwürdigen) Daseinskampf zu Grunde hegt, zurück.
So sehen wir es zur Zeit des römischen Imperialismus, so auch in Nietzsches Gedankengängen und so sehen wir es im gegenwärtigen Weltkrieg. Er steht im engsten Zusammenhang mit dem unserm modernen Leben fehlenden Hauptbestandteil der Ethik. Er steht in engster Beziehung zu den größten Problemen der Mensch- heit. Sie kämpft den Daseinskampf in der gigantischten Form, die er jemals, solange die Erde steht, angenommen hat.
Die Welt erhält ein Beispiel von unerhörter Wucht; ein prak- tisches Beispiel von eimdringlichster Kraft und Tiefe, von oben her- ab, von höchster offizieller Seite gegeben, rückwirkend auf die ge- samte Menschheit, sie vorbereitend auf das, was folgen muß:
Es spitzt sich das Weltgeschehen auf ein Prinzip zu! In Deutschland verkörpert sich das Entwicklungsprinzip und mit Deutschland ringt sich der Entwicklungsgedanke zur offiziellen An- erkennung seines Rechts durch. Sichentwickelndürfen ist ein Recht, das an sich besteht, ist also ein Naturrecht, weil das Wesen alles Lebens auf Entwicklung begründet ist.
Mit dem Entwicklungskampf Deutschlands wird die gesamte Menschheit auf das Entwicklungsproblem: auiEntwicklungals eine wirkende Macht in uns aufmerksam, die ganz allgemein jedes Volk und jeden e inzel nen Men - sehen betrifft. Di e Ent w ickl u n gs 1 eh r e als solche setzt sich zur offiziellen Anerkennung durch. Sich- entwickeln-dürfen ist das erste Recht jedes Einzelmenschen und jedes Volkes. (Vergl. Grundgedanken nur neuen Ethik.)
Im Zentrum der christlichen Lebensanschauung steht die Nächstenliebe. Im Zentrum der Entwicklungslehre, die der monistischen Welt- und Lebensanschauung zu Grunde liegt, steht der Daseinskampf, der im Egoismus wurzelt Altruis- mus und Egoismus stehen sich in zwei Weltanschauungen gegenüber. Der Monismus lehnt den Altruismus aber keines- wegs ab; im Gegenteil, er bemüht sich, ihn organisch einzugliedern.
über die Bedeutung der gegrenwärtigen Zeit usw. 41
denn heute ist er nur erst lose angegliedert. Aber auch die christ- liche Anschauung lehnt den Egoismus nicht grundsätzlich ab. Es gilt also eine Synthese zwischen Egoismus und Altruismus zu ge- winnen und ihre gegenseitige organische Durchdringung her- beizuführen, um eine einheitliche Lebensanschauung zu gewinnen. Es gilt, die in jedem qualifizierten harmonischen Menschen liegenden Na tur gru n dlag e n der Seele, zu denen außer dem egoistischem und altruistischen Streben vor allem auchdieSehnsuchtnach einem vollkommeneren Leben gehört, die Sehnsucht aus den Unvollkommenheiten des Jetztzustandes herauszukommen. stark in den Vordergrund zu stellen, sinnvoll zu verstehen und den sehnsüchtigen Menschen den gangbaren Weg zur Befreiung von der Not des Daseins zu weisen,
Egoismus, Altruismus und Sehnsucht nach größerer Vollkommen- heit sind die drei Punkte, die wir lebenswahr zu verschmelzen haben.
Der Weg, wie wir die Unvollkommenheiten überwinden können, ist uns allein durch den deutschen Idealismus angezeigt und zwar durch den praktischen Idealismus. Durch den praktischen, Idealismus der W i r k 1 i c h k e i t s i d e a l i s t e n , der sachlich denkenden, real blickenden und aktiv schöpferischen Idealisten. können wir zu größerer Vollkommenheit gelangen. (Der praktische Idealismus steht keineswegs im Gegensatz zum philosophischen Idealismus, er geht vielmehr glatt aus ihm hervor.)
Der Idealismus ist an Individuen gebunden. Das idealistisch und realistisch zugleich veranlagte Individuum ist nicht etwa ein z\\'ie- spältiges Wesen, sondern gerade ein harmonisches. Idealismus und Realismus ergänzen sich zu einem harmonischen Ganzen. (Vergl. Über das Wesen des Idealismus).
Da das reahdealistische Einzelindividuum für seine Person und allein auf sich selbst gestellt nichts Großes verwirklichen kann, son- dern dazu stets der Mitarbeit zahlreicher Hilfskräfte in Arbeitsteilung und durch Organisation einer größeren sozialen Gesamtheit bedarf, so ergibt sich daraus im Keime eine Synthese zwischen Individualis- mus und Sozialismus.
Den Wirklichkeitsidealisten kommt kraft ihrer Fähigkeiten die höchste Leitung in allem, was Organisation heißt, zu, alle übrigen nicht real-idealistisch Veranlagten ordnen sich ein in seine Orq:am-
42 RudolfTönnis,
sation; ein jeder hat an dem Platze zu stehen, der ihm nach seinen Fähi.ü;keiten und Anlagen zusagt und zusteht.
Die krassen Zustände im heutigen sozialen Qesellschaftsorganis- mus. wie sie zwischen Besitzenden und besitzlosen Arbeitern, zwi- schen Arbeitgebern und Arbeitnehmern bestehen, sind zurückzuführen auf den uns noch fehlenden ethischen Bestandteil, welcher aber aus dem Entwicklungsgedanken zu gewinnen ist und auf eine sitt- liche D i s z i p li n i e r u n g des egoistischen S i c h a u s- wirken s hinausläuft, das, je weniger es sittlich gehemmt ist, einen umso krasseren Daseinskampf nach sich zieht. Alle Willensrichtun- gen bedürfen der gemeinsamen Orientierang an einem übergeord- neten höheren Ganzen. Dieses Ganze ist die aufsteigende Lebens- eiitialtung.
Das zukünftige Ganze liegt aber den inneren Willens- richtungen (den Triebrichtungen in uns) bereits in der An-' läge zu Grunde, es wird bis jetzt nur noch, nicht bewußt erkannt. Es ist das gleiche Prinzip, das die Ursache der gesellschaftlichen Harmonie bildet; denn trotz aller Streitig- keiten fällt der Gesellschaftsorganismus doch nie auseinander. Selbst aus den chaotischen Zuständen großer Revolutionen haben sich, wenn auch nie ideale Zustände, so doch immer wieder relativ har- monische Verhältnisse und meistens auch bessere wie zuvor heraus- gestaitet.
Die Summe der zentrifugalen und zentripetalen Willens- richtungen trägt die Harmonie bereits in sich. Wir können aber die uns von Natur gesteckten Ziele erst bewußt anstreben, wenn wir sie erkannt haben, und damit würden wir zugleich große, alle Menschen vereinende Gedanken gewinnen.
Gelingt es uns, die ethische Lebenswahrheit zu finden, so wird es uns klar werden, w i e die Streitfragen zwischen Individualismus und Sozialismus, zwischen Egoismus und Altniis- mus, zwischen Realismus und IdeaHsmus, Nationalismus und Universalismus, Monismus und Dualismus, Wissenschaft und Religion in der Tiefe alle miteinander zusammen hängen.
Auf der ethischen Lebenswahrheit baut sich das Rechtsgebäude der sozialen Gesellschaft auf, die Wahrheit dient den Reohtsanschau- imigen als Grundlage. Gesellschaft und Menschheit erhalten also ein gemeinsarnes Fundament.
über die Bedeutung' der gegenwärtigen Zeit usw. 4.^
Entsprechend der ungeheuren Größe der Katastrophe der Menschen ist auch die Bedeutung der aus ihr hervorgehenden Wahr- heiten für sie. Noch nie, solange unser Planet besteht, hat sich Ähnliches auf ihm zugetragen, und demgemäß ist auch der geistige Aufschwung, der d'ie Menschheit in der Tiefe aufrütteln wird.
Die Bedeutung der gegenwärtigen Zeit ist also darin zu erblicken, daß das Weltgeschehen auf eine Verschmelzung der Grundgedanken des dogmenfreien Christentums mit den Grundgedanken der natur- wissenschaftlichen Forschung: der Entwicklungslehre hinausdrängt, oder mit anderen Worten: Aus den gewaltigen Zeitereignissen, wird eine Verbrüderung zwischen Wissenschaft und Religion hervorgehen, die Hand in Hand dem gemeinsamen, natürlich-göttlichen Ziele zu- streben, ein vollkommeneres Leben herbeizuführen.
Wir stehen vor dieser entscheidenden Wende und werden sie erleben.
y
ni.
Zum Problem der Gegenstandssetzung der Philosophiegeschichte.
Von Dr. David Einhorn, Wien.
Wie die Philosophie ihr Suchen mit dem Suchen nach dem Gegenstände der Philosophie beginnen muß, so muß auch die Philo-' sophiegeschichte im Gegensatz zu fast allen anderen erkenntnis- geschichtlichen Untersuchungen die Bestimmung ihres Gegenstandes überhaupt als ihr erstes und vielleicht emes der ernstesten Probleme behandeln. In bezug auf die Philosophie sind wir uns allgemein einer äußerst merkwürdigen Freiheit bewußt, ihren Gegenstand in dieser oder jener Weise bestimmen zu können: sei es im An- schluß an irgendwelche Überlieferung oder eme zeitgenössische Auf- fassung die erste Entscheidung über Sinn und Sein der Philosophie zu treffen, sei es auf einem selbsteigenen Wege neue Wirklichkeiten als die wahren Erkenntnisgebiete der Philosophie hinzustellen. Diese Freiheit bezw. die ihr entsprechende wunderbare Wandlungsfähig- keit des Gegenstandes der Philosophie im Laufe der Zeiten unter- scheidet die letztere schlechterdings von aller empirischen, d. h. an einen bestimmten Gegenstand unabänderlich gebundenen Wissenschaft — wie dies bereits und wohl zu allererst Hegel genau gesehen und hervorgehoben hatte. Denn es wäre doch ganz ungereimt, wenn jemand allen Ernstes behaupten wollte, daß eine Erfahrungswissenschaft, wie etwa die Botanik oder die Mineralogie ihre althergebrachten Forschungsobjekte aufgeben und ganz andere Bezirke der Gesamtwirklichkeit. etwa die Bewegungen der Himmelskörper oder die Grund- formen des religiösen Erlebnisses für sich eines Tages in .Anspruch nehmen könnten. Die Wissenschaft zeichnet uns ihren
Zum Problem der (Icircnstaivdssetzunk^ usw. 45
Gegenstand vor. In der Philosophie sind wir es, die dem Erkennen seinen Gegenstand aus freien Stücken setzen. Indem nun differente Forscher auf differenten mehr oder weniger selbständigen Wegen von dieser ihrer wunderbaren Freiheit Gebrauch machen, entsteht jenes gewaltige Chaos der bisherigen Gegenstands-Setzungen der Philosophie, jenes so häufig geschilderte und als leider ganz un- heilbares Übel beklagte bellum omnium contra omnes, das seines- gleichen im Bereiche des menschlichen Erkennens vergebMch suchen
würde.
So ist es mit der Philosophie. Weshalb soll es aber mit der Gegenstands - Setzung der Philosophiegeschichte irgendwelche Schwierigkeiten geben? Wie die Geschichte im allgemeinen, so kann doch auch die Philosophiegeschichte im besonderen ganz mn- möglich ein Freies sein! Mag die Philosophie in der ersten Stunde ihres Schaffens wohl noch ein proteusartiges Ding, ein rätselhaftes Spiel von verborgenen Möghchkeiten, ein Freies sein, allein als geschaffene Philosophie, als Teil der Geschichte der Philosophie ist sie ja eine ebenso gebundene, unfreie, empirische Tatsache wie etwa die fossilen Überreste eines Achäopterix eine unabänderlich ge- gebene Tatsache der Paläontologie bilden. Die Geschichte, mag sie nun auch Philosophiegeschichte sein, ist und bleibt unter allen Um- ständen eine Vergangenheits-Setzung, und die Vergangenheit ist ja wahrlich kein Gebiet, das unserer Freiheit unterworfen wäre, kein Reich, an dem wir etwas zu ändern vermögen. Die Gegenstands- Setzung der Philosophiegeschichte soll folglich genau so wenig Be- denken unterliegen wie etwa die Qegenstands-Setzimg der Ge- schichte der Zoologie oder der Physik. Wie kein Geschichtsschreiber der Zoologie eine andere Wirkhchkeit zum Gegenstand der Zoologie- geschichte erheben kann als diejenige, in der bereits seine Vorgänger das Objekt der Zoologiegeschichte erkannten, genau so wenig dürfte ein Philosophiehistoriker in betreff der Gegenstands-Setzung der Philosophiegeschichte von einem Vorgänger oder Mitarbeiter wesent- lich abweichen können.
Wenn dies aber auch noch so einfach scheint und wenn der vor- hergehenden Betrachtung des geschichtlichen Phänomens zufolge keine Möglichkeit des Auseinandergehens der Meinungen in bezug auf die allgemeingültige Bestimmung des Gegenstandes der Philo- sophiegeschichte zu bestehen scheint, so fehlt es doch nicht an ge-
4ü D a V i d E i n h 0 r n ,
wichtigen Indizien, die ernste Zweifel an der Möglichkeit einer so glatten Lösung, wie sie uns im Vorstehenden zuwinkt, wachzurufen geeignet sind.
Ein derartiges hidizium bedeutet der im Nachsteheniden ange- führte überaus charakteristische Gedankengang, der die Stellung- nahme Wundts zum Problem der Qegenstands-Setzung der Philo- sophiegeschichte zum Ausdruck bringt.
Im ersten Aufsatz seiner Essays (1906) äußerst sich Wundt folgendermassen (S. '26 — 7) :
„Daß neben der kritischen und systematischen die histo-' rische Behandlung der philosophischen Probleme fortan ihre Be- deutung behält, bedarf kaum noch der besonderen Betonung. Doch werden die Folgen der veränderten SteUung, in welche die Philo- sophie selbst gelangt ist, sicherlich auch auf deren Geschichte ihre Wirkung äußern müssen. Je mehr sie aufhört, eine bloße Geschichte der philosophischen Systeme zu sein, um sich in eine allgemeine Ge- schichte der Wissenschaft umzuwandeln, desto mehr wird sie eine fühlbare Lücke ausfüllen in dem Zusammenhang unseres Wissens. Der wahre Beruf des Historikers der Philosophie ist es, nicht eine Chronik der Meinungen und Verirrungen der Philosophen zu schrei- ben, sondern ein Bild der die Gesamtentwicklung der Wissenschaft beherrschenden Ideen zu entwerfen."
„Die zahlreichen Quellen der Erkenntnis, die in den verschiede- nen Wissensgebieten fließen, hat so die Geschichte der Philosophie zu einem Strome zu sammeln, an welchem man zwar nicht den Ver- lauf jeder besonderen Quelle, wohl aber die Richtung wieder- erkennt, die sie alle zusammen genommen haben. Dem Bewußtsein der jüngst vergangenen Zeit war diese Wechselwirkung zuweilen abhanden gekommen. Den einzelnen Wissenschaften entspringt daraus der geringere Vorwurf. Denn die Sache der Philosophie ist es, die gute Beziehung zu denselben lebendig zu erhalten, indem sie ihnen entlehnt, was sie bedarf, die Grundlage der Erfahrung, und ihnen mitteilt, was sie entbehren, den allgemeinen Zusammenhang der Erkenntnisse."
Diese Wundtsche Auffassung widerstreitet nun schnurstracks allen hergebrachten Bemühungen um eine Gegenstands-Bestimmung der Philosopiegeschichte. Daß es „der wahre Beruf" der Philo- sophiegeschichte sei, nicht über die Erkenntnisse der Philosophie,
Zum Problem der Qegenstandssetzung usw. 47
oder wie Wundt etwas verächtlich meint die „Meinungen und Ver- irrungen der Philosophen zu schreiben", „sondern ein Bild der die Qcsamtentwicklung der Wissenschaft beherrschende Ideen zu ent- werfen", will uns fast genau so paradox klingen, wie wenn jemand behaupten wollte, die Philosophiegeschichte solle eigentlich nicht die „Lehrmeinungen" der Philosophen, sondern etwa der — Zoologen oder Theologen oder Astronomen darstellen. Alein wir müßten dann im letzteren Falle die unabweisbare Frage beantworten: warum soll denn die Geschichte der Meinungen de,r Zoologen oder Astronomen gerade Philosophiegeschichte und nicht etwa Zoologiegeschichte oder Astronomiegeschichte heißen? Mit welchem Rechte darf die Ge- schichte der die Gesamtentwicklung der Wissenschaft beherrschenden Ideen Philosophiegeschichte und nicht einfach und natürlich prinzi- pielle Wissenschaftsgeschichte heißen? Und wie sollten wir danh obendrein jenes Gebiet der allgemeinen Erkenntnisgeschichte be- nennen, welches ein Bild der Erkenntnisse der Philosophen zu ent- werfen sich angelegen sein läßt?! Soll dieses Gebiet etwa den Namen der Zoologiegeschichte oder der prinzipiellen Wissenschafts- geschichte für sich in Anspruch nehmen? Eine Philosophiegeschichte, die sich a priori über die „Chronik der Meinungen und Verirrungen der Philosophen" verächtlich hinwegsetzt, die von ihr keinen Aus- gangspunkt nehmen zu können vermeint, eine Philosophiegeschichte, die kurzum mit der Geschichte der philosophischen Erkenntnisse nichts gemeinsames hat, ist eben gar keine Philosophiegeschichte. So muß zunächst bereits aus allgemeinen logischen Gründen der Wundtsche Begriff der Philosophiegeschichte, der den wahren Be- griff augenscheinlich geradezu auf den Kopf stellt, schlechthin zurück- gewiesen werden.
Die völlige Unhaltbarkeit dieser Wundtschen Auffassung ist nun viel zu auffallend, als daß bei einem so hervorragenden und über- aus umsichtigen Forscher wie Wilhelm Wundt eine rein persön- liche Fehlerquelle anzunehmen wäre. Es darf vielmehr von vorn- herein als durchaus wahrscheinlich gelten, daß ernste sachliche Mo- tive den geleierten Leipziger Denker mit dazu verleitet haben müssen,' eine so sonderbare Ansicht in Sachen der Philosophiegeschichte aus- zusprechen. Indem wir nun in die anderweitigen Gedankengänge unseres Forschers des Näheren eindringen, insbesondere diejenigen, die die Beziehungen zwischen Philosophie und Wissenschaft be-
Arohiv fnr Geschichte der Philosophie. XXXI. 1. 4
48 D a V i d E i n h ö r n ,
handeln, stellt sich alsbald heraus, daß ^die so paradoxe und halt- lose Auffassung auf eine dem ersten Anschein nach durchaus un- jjngreifbare und landläufige Begründung zurückgeht.
Denn Wundt folgte derjenigen logischen Notwendigkeit, die die Gegenstands-Setzung der Philosophiegeschichte auf die Qegenstands- Bestimmiung der Philosophie selbst gründet. Und da ihm die Aufgabe der Philosophie im Gegensatz zu den zahllosen Auffassungen vieler anderer Forscher in der Herstellung eines Zusammenhanges unserer allgemeinen wissenschaftlichen Erkenntnisse zu liegen scheint, so konnte ihm doch nichts anderes zur Aufgabe der Philosophiegeschichte werden als eben die Verfolgung und Darstellung aller bisherigen ge- schichtlichen Versuche, die jeweils die Gesamtwissenschaft beherr- schenden Ideen in ihrem Zusammenhange zu erfassen. Ist es die Auf- gabe der Philosophie eine Vereinlieitlichung und Abrundung des wissenschaftlichen Weltbildes zu liefern, so kann auch nichts anderes Aufgabe der Philosophiegeschichte sein als die Geschichte aller der- artigen Vereinheitlichungs- und Abrundungs-Versuche darzustellen. Und so scheint uns Wundts Ansicht, die in ihrer Behauptung so paradox, so haltlos klang, in ihrer Begründung doch nichts weniger als paradox und grundlos zu sein, — ein eigenartiger Sachverhalt, den es durchaus irgendwie aufzuhellen gilt.
Dem nächsten Anblick zufolge stehen wir vor einer regelrechten Antinomie: 1. Die Geschichte der Philosophie ist eine geschicht- liche Wissenschaft, eine Lehre von der Vergangenheit, mithin als solche für alle ihrem Gegenstände nach identisch und unabänderlich gegeben. 2. Die Geschichte der Philosophie ist aber zugleich eine Lehre von der bisherigen Entwicklung der P h i 1 o s o p h i e. Da jedoch eine eigene Bestimmung des Gegenstandes der Philosophie jedem prinzipiell freisteht, so liegt damit notwendig auch die Gegenstands- Setzung der Philosophiegeschichte im Bereiche der Frei- heit jedes einzelnen Forschers.
So scheint die Antinomie von Notwendigkeit und Freiheit, von Einheit und Vielheit augenscheinlich und ihre Schwierigkeit unauf- heblich zu sein. Indes wenn wir tiefer in die letztere Bestimmung des Objekt der Philosophiegeschichte eindringen, erwachen doch Bedenken gegen ihre Geltung, die die Spannung unserer Antinomie rationeller zu gestalten vermögen. Zunächst muß man sich doch gegenwärtig halten, daß wer die Gegenstands-Setzung der Philo-
Zum Problem der Qegenstaiidssetzuiig usw. 49
Sophiegeschichte nicht auch nach sämtlichen fremden Qegenstands- Setzungen der Philosophie, sondern lediglich nach seiner eigenen be- stimmt, der damit eigentlich keine Geschichte der Philosophie schlecht- hin, sondern lediglich und allein eine Geschichte der Erkenntiiisver- suche in bezug auf seinen eigenen philosophischen Gegenstand im Auge behält — eine Privatgeschichte der Philosophie, die die ge- waltige Weite und Freiheit fremder Philosophien und damit der Philosophie im allgemeinen keineswegs zu umspannen vermag. Die Erkenntnisgeschichte des eigenen philosophischen Gegenstandes läßt sich keineswegs mit der Erkenntnisgeschichte sämtlicher bis nun gesetzter philosophischer Gegenstände vergleichen und messen, sie ist sozusagen bodenständig, während in der Geschichte der Philo- sophie überhaupt der philosophische Gegenstand sich beständig wech- selt und wandelt. Wie die Philosophie überhaupt reicher und vielgestaltiger ist als eine Philosophie, so ist die Geschichte der Philosophie unvergleichlich reicher als die Geschichte einer Philosophie, d. h. die Erkenntnisgeschichte eines philosophischen Gegenstandes. Die Geschichte der Philosophie überhaupt ist die Geschichte der Freiheit der Philosophie, d. h. der Wandlungsfähigkeit des philosophischen Gegenstandes. Eine Privatgeschichte der Philo- sophie im oben dargelegten Wundtschen Sinne ist eine Geschichte der Versuche ein und denselben in starrer Gegebenheit umwandel- baren Gegenstand zu erkennen.
Daraus erhellt bereits zur Genüge, daß nicht sowohl mit glei- chem Recht beide Wege zur Gegenstands-Setzung der Philosophie- geschichte eingeschlagen werden können, daß das völlig subjektive «inseitige Verfahren Wundts tiefer eindringender Kritik schwerlich standzuhalten vermag.
Allerdings ist nicht bloß die auf eine rein subjektive Definition des Gegenstandes der Philosophie gegründete Gegenstands-Setzung der Philosophiegeschichte — wie wir sie bei Wundt sehen — nicht unbedenklich. Auch das rein objektive Verfahren zur exakten Be- stimmung des Gegenstandes der philosophiegeschichtlichcii Wissen- schaft, das die Geschichte, die Vergangenheit zur universellen und unverrückbaren Basis selber erhebt, mag es dem nächsten Anblick noch so selbstverständlich und unangreifbar scheinen, erweist sich beim Versuch einer näheren Durchführung als voller Schwierigkeiten und Verwicklungen, ja eine sichere Unmöglichkeit. Das sah scharf
50 DavidEinhorn,
und betonte mit besonderem Nachdruck der Gegner Wundts, der Philosophiehistoriker W. Windelband in folgender vortrefflicher For- mulierung (Präludien, Bd. L, S, 7 — 9):
„Aus dieser Verschiedenheit der Gegenstände der Philosophie er- gibt sich nun eine nicht unerhebliche, prinzipiell bisher noch kaum behandelte Schwierigkeit für den Historiker, die Frage nämlich, in welcher Ausdehnung und in welchen Grenzen er die von einem Piiilosophen herrührenden Ansichten und Lehren, abgesehen von der biographischen Bedeutung, die sie zur Charakteristik seiner Persön- lichkeit haben können, in die Geschichte der Philosophie aufnehmen soll. Nur zwei völlig konsequente Wege scheinen hier offen zu stehen: entweder man folgt der Geschichte selbst in alle Wunderlichkeiten ihrer Namengebung und läßt die historische Darstellung ganz ebenso wie das „philosophische" Interesse von dem einen Gegenstand zu dem anderen wandern, oder man legt eine bestimmte Definition der Philosophie zugrunde und vollzieht nach dieser die Auswahl und die Ausscheidung der einzelnen Lehren. Im ersteren Falle erkauft man die „historische Objektivität" durch eine verwirrende Verschieden- artigkeit und Zusammenhanglosigkeit der Gegenstände; im anderen Fall beruht die Einheitlichkeit und Durchsichtlichkeit, welche er- reicht wird, auf der Einseitigkeit, mit der man eine persönlich be- stimmte Voraussetzung als Schema in die geschichtliche Bewegung hinein verlegt. Die meisten Historiker der Philosophie haben, ohne darüber Rechenschaft zu geben oder auch wohl geben zu können, einen Mittelweg eingeschlagen, indem sie solche Theorien der Philo- sophen, welche in das Detail der besonderen Wissenschaften ein- greifen, nur in ihrem prinzipiellen Zusammenhang mit der Gesamt- ■ lehre entwickelt und auf die Reproduktion der speziellen Durch- führung, je nach der Ausdehnung ihrer Arbeit, mehr oder minder verzichtet haben. Da jedoch dafür ein bestimmtes Kriterium nicht angegeben ist und auch nicht in selbstverständlich allgemein gültiger Weise angegeben werden kann, so hat an Stelle dessen meist die Willkürlichkeit des persönlichen Interesses oder die Zufälligkeit eines gewissen Taktgefühls treten müssen."
„Diese Schwierigkeit ist, wie die geschichtlichen Verhältnisse einmal liegen, prinzipiell in der Tat nicht zu heben."
Die Gegenstands-Setzung der Philosophiegeschichte kann des- halb unmöglich auf eine Gegenstands-Setzung der" Philosophie ge-
Zum Prahlern der Gegenstandssetzung usw. 51
gründet werden, weil es keine Definition des Gegenstandes der Philo- sophie gibt, die nicht von bloß subjektiver Gültigkeit wäre und nicht bloß einen, sondern sämtliche wahrhaft philosophischen Gegenstände umfassen würde. Welche aber die wahrhaft philosophischen Gegen- stände sind, das wissen wir nun ebensowenig, da es eben noch keinen allgemeingültigen Maßstab gibt, der uns zur Unterscheidung der philosophischen Gegenstände in der Geschichte von den nichtphilo- sophischen Gegenständen in derselben verhelfen könnte. Wohl ist also die Wirklichkeit der Philosophiegeschichte in der Vergangen- heit luiabänderlich festgelegt, allein für uns ist sie keineswegs unabänderlich gegeben. Denn die Vergangenheit enthält sowohl Philosophisches als auch Nichtphilosophisches in einem Neben- und . Durcheinander und zur unabänderlichen, d.h. allgemeingültigen Unter- scheidung des Philosophischen vom Nichtphilosophischen fehlt uns eben eine allgemeingültige Einsicht in bezug auf den allgemeinen Gegenstand der Philosophie selbst. So -lange es uns an dieser letzteren gebricht, ist Philosophiegeschichte als Wissenschaft ein pium desiderium. Soll das erste Problem der Philosophiegeschichte, das Problem ihrer Gegenstands-Setzung gelöst werden, so ist eine allgemeingütige Definition des Gegenstandes der Philosophie not- wendig. Zwar geht die hergebrachte Auffassung dahin, daß eine allgemeingültige Abgrenzung einer Eigenwirklichkeit der Philosophie eine Unmöglichkeit bedeute. Doch daß 'die letztere tatsächlich er- rungen werden können, daß die Gefahren des Subjektivismus und die Verwicklungen dieses Historismus durch Anwendung der Methode, die Rudolf Eucken die noologische nennt, restlos überwunden werden können, das ist unsere Überzeugung, die wir in unserer Arbeit n. d. T. „Der Kampf um einen Gegenstand der Philosophie, Eine noologische Untersuchung" zu entwickeln suchen.
Auf diese Arbeit als Fortsetzung der vorliegenden Abhandlung sei hiSr verwiesen. Dort liegt ein Versuch einer endgültigen Lösung für die Spannung der Aufgabe, die hier aufgerollt wurde.
IV.
Babylonische Astrologenausdrücke bei Demokrit.
Von
Roberi Eisler, Feldafmg.
Wenn der Vollmond bei Sonnenuntergang der Sonne gerade gegenüber aufging, so daß die beiden „großen Götter" zugleich am Himmel standen, sprachen die babylonischen Beobachter von einem „Gleichgewicht" von Senne und Mond: Sin u Samsu sitkulü" = „Sonne und Mond hahen sich die Wage" (s. Kugler, Sternkunde und Sterndienst in Babel, IL Bd. 1. T., Münster 1909, S. 56 c. 54; Jastrow, Bei. Babyl. u. Ass. IL 1, Gießen 1912, S. 472). Genau diesen Ausdruck gebraucht Demokrit (ca. 460 V. Chr. bis etwa zur Zeit des Sokrates) nach Plutarch, de facie in orbe lunae 16 p.929c; Diels FVS^ Bd. I S. 367 Z. 9 ff.); aXXa TcaTCt öxäd-^i )} v , (prjöi ArmoxQLToq, Iöt aiitvr] zov (pmr i- ^ovTog vjiola^ßävu xal öixercu (sc. der Mond) rov ijXior: SöT£ avrriv re ffcdvsöd-ca xal diacpaiveiv Uetrov elxoq rjV.''
Bei der Wichtigkeit jeder nachweisbaren Berührung der Griechen mit babylonischer Astrologie in jener frühen Zeit und da die Übernahme von Kunstausdrücken i) und von willkürlichen Zahlen- und Maßangaben^) am besten geeignet ist, eine Abhängig-
1) Die Babylonier maßen die Zeit nach dem Gewicht des aus- gelaufenen Wassers an der Klepsydra. 'Nur dadurch erklärt sich der Terminus technicus „Gleichgewicht" für eine gleiche Zeitdauer (III Rawl. 51, 2 „ümu u musi sitkulu", „Tag und Nacht halten sich die Wage") oder ein genaues' zeit lic hes Zusammentreffen des Voll- mondaufgangs, mit dem Sonnenuntergang. Auch die Opposition des Mondes und gewisser Sterne wird als deren „Gleichgewicht" bezeichntt: sitkulta sa kababi "»^ Sin" III Rawl. 52, Z. 10 u. 17, s. Proc. Soc.
Bibl. Arch. 1910 p. 62.
2) So habe ich „Weltenmantel und Himmelszelt" (München 1910) S. 642 nachgewiesen, daß die Angabe des Sonnendurchmessers als V720 des
Babylonisihe A&trologenausdrücke bei Demokrit.
53
keit dieser Art zu erweisen, liegt die Bedeutung des Ausdrucks xaxa 6Tad^nr,v ioTcqitvtj (sc- otXtjv)/) bei Pemokrit auf der Hand^), vor allem, für die Beurteilung der Quellenfrage bei den Überresten seines astronomischen Parapegmas und seiner OiQavoyQccfpif/, und für die Echtheitsfrage bei dem bestrittenen . Ä'cddß^xot,- ^.o'/oc, oder bei der verlorenen, dem Demokrit zugeschriebenen, bzw. unter- schoberen Abhraidhnig über die Keilschrift {jtirQi tojv tv Baßiüavt isQmr YQaiifmTcov Diels a. a. 0. S. 439 No. 299 d und 298 b.).
Zum Verständnis des Zusamm.enhangs bei Demokrit ist zu beachten, daß nicht bei jeder Mondphase unmittelbar ersichtlich ist, daß der beleuchtete Teil der Scheibe sein Licht von der Sonne empfängt: ,,der zunehmende Halbmond zielt mit seiner be- leuchteten Seite im Augenblick des Sonnenuntergangs ohne jede Spur von abwärts gerichteter Neigung gerade aus nach rechts hin. also über die Sonne hinweg, und der zunehmende Mond sogar nach rechts oben hin, als ob seine Beleuchtung gar nicht von der Sonne herrührte. Die Erklärung ergibt sich aus der Tatsache, daß unendlich lange gfrade Linien — also auch Sonnenstrahlen — sich auf das scheinbare Himmelsgewölbe als Kreisbogen projizieren".*) Nur wemi die schmale Sichel des
Himmelskreises (in \Yahrheit '^Uys', bei „Petosiris-Nechepso" Y2i6 = l'*40''; bei Hipparch 33' 3 3" 51'") bei Thaies mit der babylonischen Maß- angabe übereinstimmt.
*) Für ein^ anderes Demokritfragment Diels, FVS^ p. 366 No. 86, betr. Sonne, Mond und Venus über den anderen Planeten und über den Fixsternen (cf. „Weltenmantel" S. 90, 3) bat schon Cumont, Astrology and Religion, New York und London 1912 p. 47, 1 babylonische Beeinflussung erkannt, wozu ich noch auf Jo. Lyd. II 5 p. 16 ed. Eonn u. Plutarch, de E ap. Delph. p. 386 B verweisen kann.
*) Vgl. die lehrreiche diesbezügliche Notiz von Otto Scheffers im Kosmoshandweiser f. Naturfreunde Heft 1, 1917, S. 31 mit der zu-
54 Robert Eisler,
zunehmenden Mondes ganz nahe bei der untergehenden Sonne steht 5), oder wenn der Vollmond gerade vor Sonnenuntergang oder nach Sonnenaufgang der Sonne genau gegenübersteht, ist die Somie als Quelle des Mondlichts dem Augenschein unmittelbar deutlich. Auf diese Stellung der. beiden Gestirne beruft sich daher Demokrit zum Beweis für das in Babylon nie, auch nicht zur Zeit des Berossos (Diels, Dox. S.200, 1; Elenientum S.IO, 4) erkannte Fremd- licht des Mondes.^) vjroXaiißdrsi heißt „folgt auf dem Fuße" (cf. Herod. 6, 27) xai ötysraL top tjhov ,,und erwartet die Sonne" (vgl. die sub öexoimi 5 bei Pape-Benseler angeführten Stellen). Dem vjto^Miißavei entspricht genau babyl. ,,Sin Samsu iksu- damma", der Mond erreicht, holt ein die Sonne" (und zwar bei der Opposition, Kugler a. a. 0., am Abend des 14., d. h. die Sonne wartet auf den Mond), und dieser ,, wartet" (ö^xeTcu = babyl. ü-k-a-a-a)— am Morgen des 15. — seinerseits auf die Sonne. (.Das Gegenteil verzeichnen die Babylonior mit Schrecken; cf. Thompson, Reports of Astrologers No. 153, Jastrow a. a. 0. II 494: ,, Wartet der Mond nicht auf die Sonne, Furcht vor Löwen . . ., am 14. Tag wurde Gott mit Gott nicht gesehen".) Alle drei Ausdrücke Demokrits sind also genau der Kunstsprache der babylonischen Astrologen entsprechend, und ein Zufall darf als ausgeschlossen gelten.
gehörigen Figur, die hier durch die Güte der Franc kh'schen Vorlags- handlung im Text wiedergegebsn werden kann.
^) Auf diese Stellung der bsiden Gestirne bezieht sich Geminus (77 n. Chr.), wenn er im 7. Kapitel seiner sigaycüyij die Beleuchtung des Mondes durch die Sonne damit beweisen will, daß eine Lotrechte, gefällt auf die Sehne, die die Spitzen der Mondsichel verbindet, durch den Mittelpunkt der Sonnenscheibe geht.
6) Le Page Renouf, Proc. See. Bibl. Avcheol. 1884 p. 131, versucht den Nachweis, daß diese Tatsache den Ägyptern bekannt war, muß aber Selbst zugeben, daß seine Belegstellen auch eine andere Auffassung zulassen.
Rezensionen.
Als Dr. Siegfried M a r c k seine Betrachtungen über Deutsche Staatsgesinnung (Müiachen, Oskar Beck, 1916, 1,20 Mk.) veröffent- lichte, wollte er selbstverständlich keine jener vielen, fast darf man sagen allzu vielen deutschvölkischen Kriegskinder, welche sich zum bequemen Lesen für den Durchschnittsmenschen eignen, ins Leben rufen; sondern er bot in der Abhandlung eine tiefgründige Betrachtung, welche nicht immer beim flüchtigen Durchfliegen zu erfassen ist. Ein üppiges Rankenwerk, welches eine Art Staatsphilosophie darstellt, umschlingt die Leitgedanken und stützt sie auch, weil sie dieselben begründet. Erst wenn wir uns in diese Tat- sache hineingelebt habsn, geht uns das volle Verständnis, fast hätte ich gesagt der ungetrübte Genuß an den Ausführungen auf. Sie sind m. E. um so an- regender, je mehr sie gelegentlich auch, bssonders in manchen vielleicht zu allgemein gefaßten Sätzen zum Widerspruch reizen, vor allem wenn zu großer Idealismus — das Wort nach dem gewöhnlichen Sprach- gebrauch angewendet — durchbricht, z. B. S. 4 über den preußischen Geist in der Lidustrie, S. 38 über allgemeine Brüderschaft. Doch jene Bedenken sollen an dieser Stelle nicht zu sehr zu Worte kommen, da die Darlegungen Dr. Ms., der von hoher Warte aus die Zsitereignisse und ihre geschichtliche Bedingtheit zu entwickeln versucht, trotz oder richtiger wegen der möglichen" Einwände packend bleiben. Vielmehr möchte ich einige der führenden An- sichten wiedergeben, um zu zeigen, wie sehr der belesene, geistreiche Ver- fasser zum Nachdenken in eigentlichem Sinn des Wortes a n r e g t. Als Leitgedanken müssen wir festhalten, daß Dr. M. durchdrungen ist von jener Idealisierung des althellenischen Staates (z. B. S. (i, 11 ff.), wie sie auch m. Besprechung von Dr. Eleutheropulos, Die Philo- sophie und die sozialen Zustände . . . des Griechentums 1915 oder von Dr. Hugo Horwitz, Das Ich-Problem in der Romantik 1916, beleuchtete. Diesem griechi- schen Idealstaat — um mich eines vielgebrauchten Schlagwortes zu bedienen — setzt der Verfasser den deutschen zur Seite und weist auch bei ihm die Quellen seiner Kraft nach. Sie äußerte sich tatsäch- lich wunderbar ergreifend in den Anfangswochen des Weltkrieges (vgl. S. 43) und wurde auch später immer wieder von einzelnen Persönlichkeiten, auch unter unseren Wissenschaftlern lebhaft betont, zum zweiten Jahrestag der Kriegserklärung auch dm-ch die beredte Feder Naumanns und seiner Getreuen in der Hilfe (1916, Nr. 31 u. 33). Doch so warm auch jeder, der es mit seinem Volke wirklich gut meint, diese Forderung vertreten muß und wird — ich bin
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gewiß der letzte, es zu bestreiten, wie auch meine Kriegsvorträge beweisen ■ — , es wäre doch andererseits falsches „Vogelstraußverfahren", wenn man die entgegenstehenden Hemmungen, welche jenen Geist unterdi'ücken wollen, mit Gewalt übersähe. Auch der erfahrene Verfasser tut es selbst- verständlich nicht, da auch er über die zwei Arten von Staats- au f f a s s^u n g e n spricht: Für die eine ist das Individuum notwendig dem Staate angehörig, für die andere, ihr völlig entgegengesetzte, steht die Zu- gehörigkeit irgend einmal im freien Ermessen des Einzelnen (S. 10). Infolge richtiger Weiterführung dieses Gedankens nennt Dr. M. „die Einschränkung des Egoismuses den Friedenspreis, das Opfer, welches jeder Einzelne gerne bringt, um vor den anderen Ruhe zu haben" (S. 16 ff.), und bewegt sich mit dieser Ansicht in derselben Richtung wie Wilhelm Wundt, als ihm Dr. Oskar Kraus in seiner auch von mir an dieser Stelle gewürdigten Schrift über Bentham (1915) leider sehr scharf angi'iff. Auch Dr. M. vertritt den vielberufenen Kant- schen Imperativ (S. 23, 48) und vergißt auch nicht Hegels Wert zu gedenken (S. 50), allerdings mit gelegentlicher entschiedener Ablehnung (S. 59). Alis seinen Einzeldarlegungen zieht der Verfasser, wie Dr. Arthur Menzel, Psychologie des Staates (1915, s. m. Bericht im Archiv!), den praktischen Schluß, möglichst alle Bürger an der Staatsleitung teil- nehmen zu lassen (S. 26), da ein derartiges Verfahren die ,, Kontrolle über die gleichmäßige Heranziehung aller zu den Staatspflichten erleichtere "^ (S. 26). Diese Nützlichkeitsgründe scheinen mit den idealistischen an anderen Buchstellen in Gegensatz zu treten (vgl. S. 30 ff. über den enteignenden Staat). Doch sucht ihn Dr. M. auch durch den Nachweis auszugleichen, daß ,, Sozialismus auf seinen eigenen Wegen oft den Staatsidealismus finde" (S. 33): Im Staate soll nämlich gegenseitige Hilfe die Bürger als Brüder ver- knüpfen (S. 38). Andererseits tragen die höchsten Schöpfungen der Kunst, Religion und Philosophie de» nationalen Stempel, welcher auch das einigende Band ist (S. 40). Das, was über die deutsche Nation und ihre Eigenart gesagt wird, erläutern und ergänzen Darlegungen über fremden Volksgeist. Wenn auch allgemeine Wertm-teile dieses Abschnittes (S. 42 ff., 52) besonders schwer beweisbar sein dürften, wie auch mein Bericht über das scharfsinnige Buch von Dr. Friedrich Hertz, Rassentheorien (1915) erwähnte, so bleibt doch der Vergleich geistreich und deshalb anregend. Das- selbe gilt, wenn über allgemeinen Volkswillen und die Beziehungen der Staats- männer zu denselben gesprochen wird (S. 56 ff.). Dagegen verstummt wenig- stens bei Königstreuen jeder Widerspruch, daß der Herrscher, der zwischen Ki'ieg und Frieden sich entscheiden müsse, ein schmerzvolles Mysterium er- lebe (S. 60). Wer dächte beim Lesen dieser Zeilen nicht des Kaiserwortes „Ich habe es nicht gewollt", und eines ergreifenden Bildes und Gedichtes von Oberreg. Hambrock ,,Die Tränen des Kaisers" (Über das eigenartige Schicksal dieser Schöpfungen, die vorübergehned vom Generalkommando be- schlagnahmt worden, soll nicht weiter gesprochen werden). Derselbe Ernst und dieselbe würdevolle Auffassung läßt den Verfasser unseren Krieg einen heiligen Krieg, einen naturnotwendigen nennen (S. 62 ff.), indem der geistreiche Ausspruch Adam Müllers gebilligt wird, daß das „em-opäische Gleich-
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gewicht die Null sei, hinter der die Kabinette ihren Anspruch auf unendliche Ausdehnung zu verdecken pflegen" (8. 64). Das im Einzelleben bereits von griechischen Philosophen beobachtete und verworfene Streben nach Mehr (vgl. Dr. Robert Pöhlmann, Geschichte des antikert Sozialismus und Kom- munismus 1893, 167 ff., und weitere Belegstellen bei Dr. Karl Jakobitz und Dr. Ernst Eduard Seiler, Griechisch-deutsches Wörterbuch 1897, Sp. 1442) beherrscht auch das Verhalten der Staaten und führt unabwendbar zum W'affengange, weil „die Forderung des ewigen Friedens... als reak- tionär — und wie man hinzufügen könnte als verständnislos gegenüber der geschichtlichen Entwicklung und deshalb unmöglich — erscheint" (S. 70). Doch macht Dr. M. diesen niederdrückenden Gedanken erträglich, indem er auch, Ro h r ba c hi s che Worte verwertend (S. 29), unbedingt glaubt, daß hinter den in diesem Kampfe Siegenden ... auch die stärkste sittlich-nationale Idee steht" (S. 67). Am Ende wird nicht ohne die im Buche leider sehr oft geübte schlagwortartige Zuspitzung unser Ringen gegen die europäischen Feinde als Kampf gegen „asiatische Mystik und amerikanischen Rationalismus" erklärt. Fassen wir zum Schlüsse noch- mals den Gesamt eindruck der 72 Seiten zusammen ! Wer einem Geschichtsidealismus nicht grundsätzlich widerspricht, wird die Betrachtungen Dr. Ms. mit aufrichtiger Freude und Dank für die mannigfachen Anregungen auf sich wirken lassen, um zum Weiterschüifen veranlaßt zu werden, damit er sich frei macht von dem Albdruck, der viele Gegenwartsmenschen ängstigt., als ob der Krieg widersinnig sei (S. 63 Anm.). Dr. Je gel.
E. A. Thiele, Seele. Träume eines Zeitgemäßen über des Menschen Ver- gangenheit und Zukunft. O. Hillmann, Leipzig 1914. 108 S.
Mit banger Sorge sah der Denkende, wie vor der gewaltigen Kriegs- erschütterung eine Veräußerlichung und Verflachung alle Volksschichten ergriff. Führende Männer wie Eucken (zuletzt in dem Werke „Zur Samm- lung der Geister") wiesen auf die Gefahren dieser Richtung für Volkskraft und Kultur hin und suchten einen Lebensinhalt zu finden, der in die Hast des Alltagslebens Ruhe bringen sollte. Auch die vorliegende Schrift verfolgt den Zweck einer Aufrüttelung und Mahnung zur Selbstbesinnung. So ist sie, werm auch vor dem Kriege erschienen, doch nicht antiquiert: denn heute werden selbst die Optimisten, welche in den ersten Monaten der Begeisterung die Seele unseres Volkes dem Strudel des Absturzes entrissen glaubten, er- kannt haben, daß auch die Kriegserschütterung nur bei wenigen in die Tiefe und verinnerlichend gewirkt hat.
Wie alles auf unserer Erde, ist auch das geistige Ich, die Seele des Men- schen Entwicklung. Von der Entfaltung der Kindesseele des Menschen, die dem gewaltigen Treiben des Xaturgeschehens noch hilflos gegenüber stand, bis zu dem komplizierten Seelenleben des Menschen unserer Tage ist ein weiter Weg mit vielen Haltepunkten.
Die Schwierigkeit der Aufgabe, die der Verfasser sich gestellt hat, liegt nicht in der Darstellung der komplizierten Seele der neuesten Zeit, sondern in der Herausarbeitung des seelischen Moments der Vergangenheit. Denn
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hier waren n«r Schlüsse möglich ans Schriften und Kulturwerken. Der Ver- such darf durchaus als gelungen bezeichnet werden. Verf. hat es verstanden, sich in das Leben der Vergangenheit hineinzudenken und von der Entwicklung und Vervollkomiunung der Volks- und Einzelseele eine deutliche, wemi auch in manchem (z. B. bei der griechischen Seele durch zu starke Betonung des künstlerischen Moments) etwas einseitige — doch idealistische — • Vorstellung zu vermitteln. Die hohe Sprache ist dem Thema angemessen. Im Einzelnen die Gedanken wiederzugeben, kann nicht unsere Absicht sein, wir wollen nui versuchen einen Einblick in die interessante Arbeit zu geben.
Auf der ersten Stufe erscheint der Mensch noch zu sehr mit der Natur verwachsen und den äußeren Gewalten Untertan, als daß er schon bewußt das Leben gestalten könnte. Doch aus seinem mit der Natur eng verknüpften Leben, aus dem Kampf mit den Machten des Alls entsteht ihm ein Bewußt- sein des Menschlichen, das Ahnen einer Beziehung zu den gestaltenden Prin- zipien des Alls. Diese dem Anfang nahestehende Seele ist „das vergeistigte Widerspiel der Gewalten des Alls" (19). Hier finden wir die Grundlage der Religion imd damit der Kunst: ,,Die zur Kunst gesteigerte Religion wird das Bindemittel zwischen Mensch und Natur" (22). Zur Allseitigkeit aber entfaltet sich die Seele erst im Gemeinwesen, im Zusammenwirken. Die Ver- mittlung zwischen Staat und Kunst steht bei der Philosophie. Mit dem Ein- tritt cHeser drei Mächte in das Leben des Meiischen ist die erste Stufe der Ent- wicklung längst überschritten; wir haben das Griechentum zur Zeit der Blüte vor uns. Hier hat besonders die Kunst, das Suchen nach der Schönheit, die Seele geweitet und vertieft. Durch ihren Höhenflug riß sie den Menschen los von der düsteren Seite des Werdens, im Künstlerauge sammeln sich die Strahlen der Geistigkeit des Alls wie in einem Brennpunkte. Apollo, aus der Kräfte Überschuß geboren, ist der Gestalter der griechischen Volksseele. Doch Maß und Ordnung ist mir die eine Seite, ihr steht gegenüber eine innere dämonische Kernkraft, welche die Fesseln des Maßes zu sprengen strebt: Dionysos. So sind Apollo und Dion3'sos, Maß und Rausch, die formgebenden Elemente, welche die Seele für sich gewinnen wollen. Hier liegt die Wurzel der Attischen Tragödie (37).
Ein neuer belebender Inlialt kommt in der Zeit des Verfalls hellenischer Herrlichkeit von dem Ciiristentum, der Lehre vom Recht des Individuums, der NächstenUebe. Nun wird der Blick vom natürhchen zum sittlichen Sein gerichtet. Doch nicht unvorbereitet erscheint Jesu Lehre dem gebildeten Westen. Piaton hatte ihr den Weg gebahnt: der Geist war ihm das einzige Wahre des Seins. Vor seiner Universalität beugt sich die Menschheit als ihrem Gotte. Jesus, der fleischgewordene Logos, ist die Inkarnation der neuen Rich- tung der Seele, die sich über das Nationale zu dem weltbürgerlichen Menschen- tum weitet (51). Djr neue Inhalt liegt nicht zum wenigsten in der Erkemitnis, daß das Ideale — frei von völkischen Schranken — nur in der Mitwirkung an dem Ganzen der Menschheit Bedeutung erhält.
Das Wohl des Einzelnen steht im Vordergrunde ; wemi auch nicht mehr dem Allgemeinen untergeordnet, so ist doch nicht Ichsucht das Ziel. Jesus zeigt es in seiner Person: allgemeine menschliche Liebe.
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Aber noch war die Menschheit zu dem ihr aufgegebenen Höheivfluge nicht reif: man nah in Jesu ein Ende statt eines Anfanges (66).
Srst in der Renaissance kommt es zu einer neuen Vertiefung: höchst« allseitige Ausbildung der Persönlichkeit.. Der Mensch ersteht als Kunstwerk, als Produkt ewiger Strömungen. Die Freude am Leben und Schönheit ge- staltet auch das Verhältnis zum Staate um; die Menschenseele prägt ihm ihren Willen auf. Doch auch hier bald wieder Verfall des in Taumel und Rausch ausgearteten Lebens. Eine Stimme aus dem Norden gebi{4et Einlialt: Luther Er ist Vernichter, aber auch Erneuerer durch sein Drängen auf Lmerlichkeit (zur Ergänzung sei hingewiesen auf Bruno Bauchs Würdigung Luthers in der Geschichte der neueren Philosophie, Göschen). Hier werden die Grundlagen einer neuen Zeit gelegt, die gekennzeichnet ist diurch die Verschmelzung des Individualismus der Renaissance \ind der Verinnerlichung der Reformation (88). Dies aber weist in die Zukunft. Die nächste Zeit bis zm- Gegenwart wird noch nicht dmchdiungen von diesem Hohen. Der moderne Mensch hat sich noch nicht zum Herrscher über die Reizungen der Zivilisation erhoben. Er lebt ohne Seele in dem Wirbel kultureller Reizmittel. Zeit zur Selbstbesinnung und Einkehr gibt es nicht. Der Beruf nimmt den ganzen Menschen für sich in Anspruch. Der ins Große gehende Zug des Ewigkeitsbewußtseins wird überflutet von dem Strudel des Alltags: geistige Leere.
In der Kennzeichnung dieses Standes der Seele liegt gleichzeitig die ein- dringliche Mahnung: Persönlichkeit und Geisteswesen muß der Mensch werden. Seinen Ausgang soll er nehmen von dem Kulturboden seines Volkes, um dann über die Nationen hinweg der ^lenschheit Fortschritt auszubauen. Diese Vervollkommnung hat ihre Wm-zel in der Familie, der Ehe: Hinauf- pflanzen. Alle Arbeit soll getragen sein von der Sehnsucht nach dem Glück, das im Innern allein zu suchen ist; die Schaffensfreude führt den Mensclien über sich selbst hinaus. Dem in ehrlichem Wollen und Begeisterung für das im Menschen wiu'zelnde Gute geschiüebenen Buche möge bei vielen Einlaß gewähi't w^erden. Dr. Willi S c h i n k , z. Zt. im Felde.
■Sechstes Jahrbuch der S c h o p e u h a u e r - G e s e 11 s c h a f t . Auegegeben am 22. Mai 1917. Verlag der Schopenhauer-Gesellschaft (Kui-atorium : Kiel, Beselerallee 39). 3L4 Seiten.
Das vorliegende Jahrbuch ist fast ganz der Lebensgeschichte des Philo- sophen gewidmet und daher besonders wertvoll. Enthält es doch auf diese Weise keine Gedankengänge, mit denen sich Schopenhauer selbst niemals befreunden könnte — eine Sache, die bei einer freien Sammlung sj'stematischer Aufsätze natuigemäß beinahe unvermeidlich ist. Abgesehen von einem Aus- zug aus den Verhandlungen der fünften Jahresversammlung in D.e^den 1916, dem Verzeichnis der Mitglieder und geschäftlichen Mitteilungen bietet der Band drei Beiträge: ,, Schopenhauers Leben" von Paul Deiißen, „Die zeit- genössischen Rezensionen der Werke Arthur Schopenhauers", herausgegeben von Reinliard Pieper (München) und „Schopenhauer und seine Schwester. Ein Beitrag z.\ir Lebemgeschichtc des Philosophen" von Di-. Hans Ziut (Danzig).
60 Rezensionen.
Schopenhauers Leben von Paul Deußen ist ein Sonderabdruck aus dem neuesten Bande der Allgemeinen Geschichte der Philosophie dieses Verfassers. Es faßt in der bekannten g^^^ditgeneu Art in kurzer Form zusammen, was die philosophic geschichtliche Forschung über das Thema zutage gefördert hat. Mit vollkommenster Beherrschung des Stoffes ist das Wesentliche aus Schopenhauers Leben in lebensvoller Weise und, man hat den Eindruck, auch im Sinne des Philosophen dargestellt. Eine Übersicht über die Bildnisse Schopenhauers und -eine objektive Beurteilung des Menschlichen schließen d©n Abschnitt ab. Bei welcher Gelegenheit zu bemerken ist, daß dem Bande eine treffliche Reproduktion nach dem Porträt von Hamel vorangestellt ist und daß derselbe durch das Faksimile eines Konzeptes, in welchem Schopen- hauer die Mitgliedschaft der Akademie der Wissenschaften in Berlin kuiz und bündig ablehnt, beendet wird.
Die von Reinhard Piper herausgegebenen Rezensionen umfassen diesmal sieben Besprechungerr der ,,Welt als Wille und Vorstellung". Eiirige der erstaurrlich ausführlichen Arbeiten enthalten auch beachtenswerte Er- örtei ungorr.
Schopenhauer und seine Schwester von Dr. Hans Zint beleuchtet auf Grund neuveröffentlichter Quellerr eirr für Schopenhauers Leben wesentliches Verhältnis in eingehender Weise. Die Abharrdlung bietet reichlich Belegstellen, so daß sie von Schopenhauerforschern mit Gewinn studiert weiden wird, ganz abgesehen davon, daß die psychologisch-mensch- liche Seite der Beziehungen zwischen so eigenart'gen Geistern auch in weiteren Kreisen der Freunde des Philosophen teilnehmendes Interesse finden dürfte.
Was das Äußere betrifft, so ist mit Genugtuung festzustellen, daß das bisher zu aufdringliche glatte Rot des Einbaneles cluich die Wahl eines matten Unteigrundes gemildert ist.
Straßbrn g. Dr. E r n s t B a r t h e 1
AloisGeigel, Andwaranaut. Über Wissen und Glauben. Würzbirrg 1914. Den gedanklichen Kern aus der über die Maßen seltsam krausen Hülle zu schälen, ist ein gar schweres Stück Arbeit. Wem sie gelingt, was hat der erreicht ? Wi d er zu des Verfassers Überzeugung bekehr-t sich finden, daß fromm-andächtiges Naturgefühl, auf naturalistisch pantheistischer Grund- lage eingesenkt, walrres Wissen und wahres Glauben von den höchsten Dingen ist und vor allem, daß einem diese beseeligende Weisheit aus der Hingabe an Wodan und Balder und Freya erblüht? Die alten Germanengötter sollen zu neuem Leben erwachen. Das Schwert stößt zu für Wodan, Doirar und Saxnot. Viel Glück zu fröhlicher Kriegsfahrt! Daß solche in Sehnsucht nach Walhall schauenele Gläubigkeit den stärkeren Teil ihrer Kraft aus völ- kischen Idealen bestimmter Färbung derrn aus selbstgenugsamem religiösen Gefülil schöpft, bedarf wohl keiner besonderen Hervorhebung. Der nationale Glaube soll fremden Tand verscheuchen; und wie wirnderbar klingt er mit der frei und mutig gefundenen Walirheit zusammen !
Dr. Max Wiener- Stettin.
Rezensionen, 61
Hermann 0 1 d c n b e r g , Die Lehre der Upanishaden und die Anfänge des Buddhismus. Göttingen 1915.
Wenn philosophische Si^kulationcn von fremdher in einen Kulturkreis hineingetragen werden, der seinen eigenen Bildungsgesetzen gefolgt ist, so erliegen Entdecker und erste Beurteiler der fremden Gedanken zu leicht der Gefahr, über Anklänge und Ähnlichkeiten mit dem eigenen Gut die Trennungs- raomente und grundsätzlichen Ver,schiedenheiten zu übersehen. Zumal wird oft die keimhafte Andeutung von Problemen überschätzt und ihre erst an- hebende Entfaltung durch Einspannung in die Kategorien eines reich ent- wickelten Denkens verkannt. Die Beschäftigung europäischer Philosophen und Kulturhistoriker mit den Fragen und Lösungen der indischen Spekulation ist zwa» längst darauf aus, diese in ihrer Eigenart zu begreifen und von der abendländischen abzugrenzen. Und doch muß größtmögliche historische Treue, eine wirkliche Einfühlung in jene fremdartige Lebenswelt immer noch als die wichtigste Aufgabe unserer Forscher gelten.
In diesem Lichte erscheint Oldenbergs Werk als eine vorzügliche Leistung. Die indische Philosophie enthält keimhaft in sich sehr viele von den sachlichen Problemen der em-opäischen. Aber der formalen Schärfe logischer Formu- lierung entbehrend, gefährdet sie echtes Verständnis durch die ihr eigene Unbestimmtheit in der Ordnung und Darlegung der Gedanken. Kommt ■ — zumal in den älteren Upanishaden — die recht verwirrende literarische Einkleidung hinzu, die Verquickung der Theoreme mit Mjiihologie, absonder- lichem Zauber- und Ritenwesen, so wird man O.s Vorsicht nur loben können, der nicht schnell dabei ist, etw^a eine klare Erkenntnis von der Subjektivität der Raumanschauung (S. 73) oder die platonische Ideenlehre (S. 80 f.) in jenen früliesten Denkversucheu zu entdecken. Das Schwebende, vage Gleitende und Schimmernde in den Lehren dieser uralten Metaphysik, ihr Schwanken zwischen Pantheismus und Personalismus in der Auffassung des Brahman (S. 98 f.), zwischen Monismus und Pluralismus (S. 89 f.) kommt zum klaren Ausdruck, — um nur einige Beispiele herauszugreifen.
Es wird gezeigt, wie ganz allmählich erst aus grotesker Mythologie und abstrusem Ritualismus der ethische Vergeltungsgedanke sich emporwindet, wie die ursprüngliche Weltwertung, dem natürlichen Gefühl noch nicht ent- wurzelt, nichts von dem absoluten Pessimismus weiß, der, später aus der Seele eines erschlaffenden Volkes aufflammend, zum Vorläufer des Buddhismus . wird. Auch darin bildet die alte Zeit das Vorbild der jüngeren, daß das Welt- leiden schon mit der Zerspaltung des einen Atman in die Vielheit der Einzel-Ichs motiviert und die Erlösung im mystischen Wissen von der Ureinheit und in der Einswerdung mit dem allgemeinen Atman erblickt wird, die ihrerseits durch die Ertötung alles auf besondere Ziele gerichteten WoUens sich voll- zieht. Man ist geneigt, O. zu folgen, wenn er die mystisch schauende Ver- ehrung des Allwesens lieber in die Sphäre von Spinozas amor Dei intellectualis rückt (S. 140), überhaupt mehr den gedanklichen Zusammenhang der Upani- shadenlehre mit der Alleinheitsanschauung der über die ganze Welt ausge- breiteten Mystik betont, als daß er eine nahe Verwandtschaft mit Kants und Schopenhauers Phänomenalismus anerkennen will.
62 Rezensionen.
Die jüngeren Upanishaden, zumal ihre reifste Frucht, das Samldiya- system, enthalten auch der Form nach echte Philosophie. Die Mythologie ist der reinen psychologischen und physikalischen Anlayse gewichen. Tie deut- liche Offenbarung anthropomorphischen Denkens in der Konzipierung meta- physischer Prinzipien ist selten geworden. Doch tritt sie selbst in der wich- tigen Lehre von den CTunas, den drei Momenten in der Prakrti, der — mate- riellen ■ — Giundwesenlieit, die dem geistigen Seinsfaktor, dem Pxu-usha, wie jetzt Atman heißt, gegenübertritt, noch klar zu Tage (S. 212 ff.). Immerhin ist diese Spekulation begrifflich entwickelt genug, um sich auf ihre innere Logik prüfen zu lassen. Der praktische Teil zeigt die wesentlichen Züge der älteren Upanishaden. Ein weiterer Schritt zur Vorbereitung des Buddhismus liegt in der Zerfällung des einen Pm'usha in eine Viellieit von Individuen.
Der Buddhismus selbst bewährt seine Eigenheit in der Kraft des zu Ende Denkens. Dazu gehört auch die grundsätzliche Skepsis gegenüber der theore- tischen Spekulation und seine Konzentration auf den Erlösungsgedanken, in dem die indische Philosophie seit jeher gegipfelt hat. Eine feine Würdigung der Gestalt des Buddha beschließt das \A^erk. Wir empfangen aus ihm den Eindruck einer Darstellung, die wirklich historisch ist und den Tatsachen ohne Idealisierung und Schematisierung Rechnung trägt.
Dr. Max Wiener- Stettin.
Fritz Kern, Gottesgnadentum und Widerstandsrecht im früheren Mittel- alter. Mittelalterliche Studien I. Band, 2. Heft. Leipzig 191.5.
Es wird die geschichtliche Entstehung und Entwicklung der später mit dem Worte „Gottesgnadentum" bezeichneten Rechte sowie des diesem ent- gegentretenden Widerstandsrechts dargestellt. Der Verfasser will zeigen, wie die Vorgeschichte der modernen Theorien von der absoluten und der konstitutionellen Monarchie ihren Elementarbestandteilen nach ebenso in den Rechtsanschauungen des germanischen Staates, wie sie sich etwa bis in das 13. .Jahrhundert herausgebildet, wie in den politischen Lehren der Kirche aufzusuchen sind. Es handelt sich also um eine Auseinandersetzung zwischen kirchlichem und germanischem Geiste in einem hochwichtigen Bereich gemein- samer Betätigung.
Besonders wertvoll machen das Werk die umfangreichen aufhellenden Quellenbelege. Die Bedeutung, die der Verfasser diesem Teile seiner Arbeit beigelegt hat, rückt das Buch vor allem dem Historiker nahe. Doch da mit Recht gesagt wird, daß überall die Erkenntnis dessen, was in Staat und Kirche gewesen ist, tief hinein in die Erforschung dessen führt, was das Zeilalter über Staat und Recht gedacht hat", so wird auch der überwiegend am philosophischen Gehalt Interessierte hohen Gewinn aus der Leistung Kerns ziehen. Dr. Max Wiener- Stettin.
Archiv
tür
Geschichte der Philosophie
herausgegeben
von
Ludwig: Stein.
XXXI. Band.
Nene Folge XXIV. Band.
BERLIN. Druck und Verlag von Leonhard Simion Nf,
1918.
Archiv für Philosophie.
I. Abteilung:
Archiv für Geschichte der Philosophie,
Neiu" Koloe. XXIV. Band, 2. Heft.
V.
Ein Beitrag zum heraklitisch-parmenideischen Erkenntnisproblem.
Von
Dr. Emanuel Loew, Wien.
In der neuesten Literatur auf dem Gebiete dieses vielerörterten Troblems gehen die Meinungen der Forscher gerade in den wesent- lichsten Punlcten noch viel weiter auseinander als in der schier unüber- sehbaren Literartur triiherer Zeiten. Nicht nur, daß Heraklit dem einen als strenger Rationalist vergleichbar dem Descartes in der Neu- zeit^), dem andern als Sensualist vom Schlage des Erfahrungsphilo- sophen Berkeley'^), dem dritten als Vermittler zwischen den beiden Kichtungen^j erscheint, auch in der Frage nach der Priorität und Ab- hängigkeit dieser beiden vorsokratischen Denker sind wn von einer einheitüchen Auffassung weiter entfernt denn je. Viele Forscher sehen es heute als feststehende Tatsache an, daß „Parmenides im Kampfe gegen Heraküt' stehe^j, J^eussen^)- dagegen erscheint es
^) H. Ölonimsky, Heiaklit und Parmenides. Gießen 1912.
-) R. Herliertz, Das Wahrheitsploblem in der gi-iech. Philosophie, Berlin 1913, nennt „die rationalistischen Wendungen" bei H., die in der Betonung des Logos ihren Ausdruck finden, „eine (sc. bei einem Empiriker) sonst ganz ungewöhnliche Erscheinung" (S. 72). Auffallend sei, daß Plato den Ver- fechter des ndvxu oh, ohne auf seine Logoslehre Rücksicht zu nehmen, neben Protagoras und Aristippos stelle (S. 160).
^) K. Reinhardt, Parmenides und die Geschichte der gi-iech. Philo- sophie. Bonn 1910.
*) A. Patin, Jahrb. f. klass. Plül., 25. Suppl. 1899.
') Die Philosophie der Griechen. Leipzig 1911.
5*
64 Enianuel Loew,
,,selii- zweifelhaft, ob die beiden Mäiinef voneinander näliere Kunde hatten, oh insbesondeie Parnienides in seinem Gedichte auf die Lehren des HerakUt ans])ielt", Reinhardt' endhch glaubt, auf Grund ,,der inneren Chronologie, der Chronologie der Gedanken und Systeme'" nachweisen zu können, es sei unmöglich, die beiden .Denker als von- einander unabhängig zu betrachten, aber H. stehe unter dem Ein- flüsse des P., habe mithin später gewirkt als dieser. Kine tief ergehende Verschiedenheit in den Auffassungen ist überhaupt nicht denkl)ar und diese an sich befremdliche Tatsache wird noch dadurch auf- fälliger, daß alle diese namhaften Forscher doch in dem einen Punkte einig sind, daß der herakhtische Logos ^vrog sei und sich mit (hoc, (fvotc. i'ov<g, (fi>6v)/otc u. ä. inhaltlich decke. ^) So sieht es klar und deutlich bei Sextus (adv. m. VII 126 ff.) zu lesen und die .Deu- tung dieses sieben Jahrhunderte nach H. lebenden Skeptikers oder seines Gewährsmannes gilt den meisten Erklärern unserer Zeit nicht etwa als eine antike Auffassung, die geradeso, ja noch mit größerer V^orsicht auf ihre Richtigkeit geprüft werden müsse, als die Auf- fassung eines objektiven Forschers von heute, nein, die antike Auf- fassung hat für sie den AVert eines antiken Zeugnisses, auf das sie sich unbedingt verlassen und immer wieder berufen, und wenn sich ein einfacher Gehilfe auf diesem Gebiete von der Autorität des Sextus ganz unabhängig nuicht, so sagen sie, er beharre auf seinem Stand- punkte nur ,,in dem Gefühl, einen Irrtum von Jahrtausenden zu be- richtigen".'^) Und doch, wenn die namhaftesten Forscher unserer Tage, von derselben Voraussetzung ausgehend, zu so ganz verschie- denen Ergebnissen gelangen, so drängt sich von selbst die Frage auf, ob nicht eben diese gemeinsame Voraussetzung falsch ist, ob nicht sie es ist, welche die ganze Forschung in eine falsche Bahn ge- lenkt hat.
.Der gewichtigste Vorwurf, den mir die Beurteiler von der Gegen-
8) Reinhardt faßt zwar den heraklitischen Logos in demselben erkenntnis- theoretischen .Sinne wie den parnienideischen (S. 219), aber Heraklits Xöyoz sei 'S,vvÖQ (S. 213) und gleich Gott und Weltfeuer (203 u. ö.).
^) Nestle, Wochenschr. f. klass. Phil. 1916 htn der Besprechung meiner Abhandlung „Das heraklitische Wirklichkeitsproblem und seine Umdeutung bei Sextus". Wien 1914. N. nennt ,,die bisherige Auffassung der heraklitischen Philosophie wohlbegründet" (Arch. 1912, S. 304). Ich frage: Welche? Vgl. weiter unten Anm. 33.
Ein Beitrag zum lienvklitisi-li-panueiiid. Erkenntuisprobleni. 6o
Seite luacheii.. ist der des Ziikolbeweises. Icli setze, sagt Lortzing^), von vornherein das, was ich beweisen wolle, als gegeben voraus, daß nämlich Sextus' Auffassung des Logos bei H. durchaus falsch und meine eigene die allein berechtigte sei. l)as ist allerdings richtig, insofern als Sextus glaubt H. habe einen /o/oc xoiro^ y.(ü fHtoc gelehrt und habe demgemäß den ]\'amen /o'/ol; |den ein kosmisches Prinzip bezeichnenden Xamen (fi'oic, 'lioc, rorc und (fQoriiotc gleichgesetzt, während ich gerade das Gegenteil annehme, der Xame '/.o'/oa habe bei H. durchaus erkenntnistheoretische Bedeutung, H. habe keinen h'r/oa xoiroc y.ai d^tioQ gelehrt, 2o/ou stehe zu r/»\;<.^ und (fQOTf/oiu in demselben Gegensatze wie reine GecUinkenerkenntnis zu Entwicklungsgesetz und Erfahrungserkenntnis. Bewiesen habe ich zunächst meine Voraussetzung ebensowenig wie mein antiker Gegner die seine und insofern trifft der Vorwurf des ZirkelbeAveises uns beide mit gleichem Recht. Wenn nun die neueren Bearbeiter mit der Voraussetzung meines Gegners in den wichtigsten Punkten zu einer einheitlichen Auffassung gelangt wären, so wäre ihr Fest- halten an derselben trotz schwerer Bedenken, die noch bestehen büeben, schon um des übereinstimmenden Ergebnisses Nyillen begreif- lich. So aber, da die Rechnung trotz wiederholter Überprüfung dm-ch die namhaftesten Meister durchaus nicht stimmen will, ist dadurch allein bereits der Verdacht, daß die Fehlerquelle eine gemeinsame sei, daß sie aus der gemeinsamen Voraussetzung entspringe, begründet und eine sachüche Prilfung des Berichtes bei Sextus gibt diesem Verdachte neue kräftige Nahrung. Der Bericht lautet: Heraklit hat, da der Mensch zur Erkenntnis der AVahrheit (§ 1:^6) mit zwei Organen versehen zu sein scheint, mit der aioih/ou: und mit dem /o/oc, angenommen, daß von diesen beiden die aioffffug ähnlich wie es die filiher genannten Physiker angenommen haben, unzuverlässig sei, den koyog dagegen legt er als xqiti'jqiov zugrunde. Aber was nun die (äofh/oig betrifft, so verschmäht er sie, indem er wörtlich sagt: xaxo) {/i'cQTv<)tc (a'h()c')JTOioiv offfitiÄiKu x(u ojto. (iciQßuQovQ ^pv/äa lyoi'xov (107 D), was soviel bedeutet wie: es ist Eigenschaft barbarischer Seelen, unvernünftigen AVahrnehmungen {uAÖyoiQ (uo&//G80f) zu trauen, l^en /o/o? (§ 127) bezeichnet er als
^) Lortziiig, Bphw. 1916, bei der Besprechung meiner Abhdig.
ßf) Emanuel Loew,
Beurteiler der Wahrheit, nicht jeden beliebigen, sondern nur den gemeinsamen und göttlichen. Welcher das ist, soll kurz gezeigt werden. Es ist nämUch die Ansicht des (pvör/MQ, daß das, was uns umgibt, '/.oyixör ist und 7:(>ii77(>fcc. Derartiges zeigt schon viel (§ 128) fniher Hoinoi- (<; 163) mit den AVorten:
Toloc. /«(> yooj tor/r Lir/ßoriov arf^^QcojTor, o'ior £</■■' tjftdQ '«/7/Ö' .T«r/}(> dvÖQOJV re dta)' re. Auch Archilochos sagt, cUß die Menschen derartiges denke u {(fnoni)') (fr. 70 Bergk):
orroif/r Ztvc. If/' ////t'(>//r «/^'^ Es ist aber auch von Euripides dasselbe gesagt worden (Troad. 885) : oöTic .1-oT ti ör drCiTOJiaijTOC. tiöidtir Zbvq dr drriyx// (f va^oc dn- i'ovg ß{n>T(~jr.
.Diesen fMoc /.öyoc also ziehen wir nach Herakht durch Ein- atmung (§ 129) an uns und werden dadurch roeQoi und im Schlafe werden wh- vergeßlich, im Erwachen aber wiederum tfiffQortc. .Da sich näjuüch im Schlafe die Mündungen der Sinne {idofh>iTixol rrooof) schheßen, so wird der in uns wohnende rorc vom Zusammen- hang mit dem .-rtQu/oy gesondert, während nur die Verbindung zufolge der Einatmung erhalten ])leibt wie eine Art AVurzel; gesondert aber verhert er die Gedächtniskraft, die er früher hatte. Im wachen Zustande (§ 130) dagegen bückt er sich durch die Öffnungen der Sinne wieder hinaus ^^^e durch eine Art Fenster, trifft mit dem .T£(ut'/or zusammen und zieht so die Äoyix)] Övvaiaq in sich hinein. Sowie also die Kohlen, wenn sie sich dem Feuer nähern, zufolge der Wand- lung {(\).).oi('Hjid) vom Feuer durchghiht werden, wenn sie aber ab- gesondert sind, verlöschen, so wird auch der in unseren Körper als Gast aufgenommene, aus dem jrsQityov stammende Anteil zufolge der Absonderung geradezu cdoyoc, zufolge des durch die größte Menge von Öffnungen hergestellten Zusammenhanges aber wird er ein dem Universum (o/or) Gleichartiges, Diesen gemeinsamen und göttUchen Logos also, demzufolge (§ 131) wir, wenn wir an ihm Anteil haben. Xoyixoi werden, nennt Heraklit ein Urteilsmittel der Wahr- heit: woher denn auch das allen gemeinsam Erscheinende zuverlässig sei (denn man empfängt es durch den gemeinsamen und götthchen Logos), das aber nur einem allein Beifallende unzuverlässig sei wegen der gegenteiligen Ursache. Ln Anfange seines Buches (§ 132) ül)er die
Ein Beitrag /.um heraklitisch-parmenid. Eikenntnisproblcm. 07
Natiu" also, huU'm er ^gewissermaßen das ' :rtQihyov zei^t, sagt der vorerwähnte Mann: Äo/or tovöt sovto^ (c^rveroi yivovtuL ("ivH^QOjjrot. y.i:] yoöoihr /} uxoroai xa) dxocoamc to jtQfotor' yiroittvon' yao xuTi'. Titr Ao'/or ror()t (crTfiQoiöir ioixaot, rrfLQo'ji/svoi Itthov x<u tnyi'iv ToiorTor. nxoiov lyo> (hiiytviuu, xmtu (pcoir diaiQtov ixaoTov xc.l ([{täZor öx<')c tyti. rovi^ öl cüJjtvq dn'f-QfojTOv^ Mcvth'u'fi oxooa tyiftihü'Tt- jTOioron', öxfoojrfci oxnoa fcrVjorTfC
Xachdeiu er nänüich dadiircli ausdrücklich {(»/tc'j^} dargestellt hat (§ 133), daß wir zufolge der Teilnahme an dem göttlichen Logos alle? tun und denken {.^(kcttouh' re xal rooci/tr), fügt er, nach- dem er noch wenige Worte dazu berichtet hat, hinzu: Öio dei Lttofffci TO) i.>'r<~) Qirog ist nämlich o xoiroc)' roc h'tyov ()' lürrog ^vror Cc'jorijo- Ol .To/J.fH f'jg iöiav t/ovrec (fQÖDjOLr.
J >ipse ((fftöv/joig) ist aber nichts anderes als eine Exegese der Art undAVeise der Lenkung des Alls (-rtyc tov .-rarrog Öioixfjoecog). Deshalb sj)rechen wir, sofern wir an der Erinnermig daran gemeinsamen An- teil haben, die Wahrheit, sofern wir aber gesondert sind, sprechen wir die Unwahrheit. Jetzt erklärt er nämlich ganz ausdiiicklich (§ 134) (o;/roT«r«) auch hierin den xoirog löyog als Urteilsmittel und sagt, daß das, was gemeinsam erscheint, zuverlässig ist, weil es ja durch den xoivog Xöyog beurteilt "wird, daß aber das, was nur jedem einzeln für sich allein erscheint, unwahr ist."
Gleich beim ersten Lesen dieses Berichtes gewann ich den Ein- druck, daß hier Heraklitisches und AntiherakUtisches bunt durch- einander geworfen ist. Aber nach diesem Gesichtspunkte die Ge- danken zu sondern, solange wir nicht aus den erhaltenen Bruch- stücken Heraklits eigene Gedanken entwickelt und so in seine Denkart Einbhck gewonnen haben, ist sehi* mißÜch. Lninerhin läßt sich schon einiges feststellen: erstens, daß Sextus das, was er beweisen will, als gegeben annimmt, indem er in § 127 sagt: ,,Es ist die Ansicht des (fviuxog. daß das, was uns umgibt, Äoyixör und qQ^v)~iQtg ist.'' Schon die Stellung von koyixöv zwischen (fcoixög und ffiJtvi'iQbg ist nicht übel berechnet, um so das erstere den beiden letzteren gleichzu- setzen. Von derselben Berechnung zeugt zweitens der Versuch, durch die unmittelbar an diese Voraussetzung angeschlossenen Zitate zu ., beweisen", daß schon Homer und Archilochos und der allerdings von Hei'aklit beeinflußte Euripides die der Sprache der Kosmologie
(38 Enuinuel Loew,
.ingehöreiulen Bezek-linuiigen /Ito't:, (fivon:, rorc, gxjörjioij: im Sinne des d^tlog /.6yo^ gebraucht haben. Ebenso tief bezeichnend für des Sextus Verfahren ist es, wenn er, da ihm durch die drei Zitate die kosniologische Bedeutung des Logos auch schon für H. sichei'- gestellt erscheint, fortfälu-t: „.Diesen götthchen Logos also (!) ziehen wir nach Herakht durch Einatmung an uns und werden dadurch roeQoi und .... liuf {tortq. Sextus glaubt also wirklich, durch dii^ obigen Zitate nachgewiesen zu haben, daß die .Dichter vor und un- mittelbar nach H. ebenso die kosniologische Bedeutung des Logos gekannt haben wie H. selbst; denn bei ihnen allen sei /o/oj = ihföc, )(}0c. (fi>öv>/öic! Aber sonderbar, H. selber ist bei ihm noch nicht zum Worte gekommen. Wir müssen noch eine weitläufige Belehrung über die Wechselbeziehungen der (cinttt/Tixoi jtoqoi und des roo-- zum ).<r/oc im Schlafe, im Erwachen {xar r/tQOtv). im wachen Zustande {Iv lyQtiyÖQOH), über die Gleichsetzung der iir^iuorcxf) (Svvaiiic und Xoyr/Ji dcraia^ u. a. hinnehmen, !)is wir endUch genug vorbereitet sind, Heraklits eigene Worte zu vernehmen. Und jetzt, da wir uns natürlich überzeugt haben, daß des Sextus Erklärung- zu dem Ausspruche genau stimmt, ist kein Zweifel mehr, daß ,.H. also dadurch ausdrücklich dargestellt hat, daß wir zufolge der Teil- nahme an dem göttlichen Logos alles tun und denken". Und nun fährt H. — ein kleines Sätzchen läßt S. dabei weg — folgendermaßen fort: ,,()fo dhf . . . (fQoi't/oir (fr. 2) § 133."
In der darauffolgenden Deutung zeigt sich sogleich wieder das BemiUien des Skeptikers, die ff (_><'> vr/Oig dem Xöyog gleichzusetzen. X -Die ffQortjoic nennt er nändich eine öioix/j<uc ror :iic'.rTÖg: das ist dasselbe x\ttribut, welches die Stoiker allgemein dem /.oyog bei-, gelegt haben. So hat z. B. M. x\urel den Worten des fr. 72 Heraklits r'> (u'i/uöra . . . /o/ry hinzugefügt r^7 to. o'au dioixorrri, Clemens (Strom. V 104, 1) deutet die .Tr(><U' r(>o.Tfa (fr. 31) in der Weise, daß das Jiv{> r.7ro ror d lo i xo r >- t o g Xoyov // ^hoc ra ärrcrTc. . . . TQtJiixiu dg . . . n^äXaTTar. .Der Zweck, der damit verfolgt wurde, daß der (pQÖvtjoLc Heraklits dasselbe Attribut gegeben wurde wie dem stoischen AÖyoq, ist durchsichtig genug. .Denn es ei-gab sich daraus von selbst der Schluß:
Heraklits (f>(j6r//0tg = dioix/joic toi rrfcrroj
der stoische /o/oc = ÖioixciJr t(c oXa, \
folglich die heraklitische (fQor/jotg = dem stoischen Xoyoc.
Ein Beitrag zum lieriikliti.sc.li-jiarmenid. Kikei)ntni.-])i<»l)lrm. 69
Aiif diese Weise haben wir einen köstlichen Beleg gewonnen für die „ernsthaften Folgen, welche die Interpietationsinethode der alten Ausleger für unsere Tradition gehabt hat, besonders was Herakleitos anlangt."») Daß sie dabei mitunter in die" auffallendsten Wider- spiliche gerieten, ist nicht auf ihre eigene Gedankenlosigkeit zuriickzu- l'iihi-en, sondern war die unausweichliche Fol<;e ihres ganzen Verfahrens. Auch hierfür bietet der vorliegende Bericht ein Musterbeispiel, indem einerseits der /rr/og der (/"(>or//oVu. andererseits dQnxom] ffafvoi/trc gleichgesetzt wird, in § 133 dagegen als Ihä^g /.öyo^ ej-klärt wird.^») Diesem Widerspruche konnte der antike Erldärcr nicht ent- rinnen und ich sehe darm einen wichtigen Beweisgrund mehr dafür, daß ich auf deni richtigen Wege bin.
Aber Weit wirksamer als durch die negative Kritik, die ich bisher an dem Belichte geübt habe, soll derselbe durch die positive Deutung der beiden Bruchstücke widerlegt werden,' w^obei wir von fr. 2 aus- gehen wollen.
Zunächst müssen wir „die wenigen Worte, die Heraklit noch dazu berichtet hat", ausfindig machen. Sextus will zwar glauben nuu-hen, als ob die ganz kleine Lücke für den Zusammenhang belanglos wäre, und weil er die vorgenommene Streichung, die er nicht leugnen kann, selbst zugibt, sind auch die neueren Bearbeiter vielfach geneigt, der Sache keine Bedeutung beizulegen.^i) .Das ist um so mehr zu verwundern, als wir ja gerade heutzutage wissen, wie ein Bericht- erstatter durch bloße Stieichung weniger Worte einen Gedanken in sein Gegenteil umzukehren vermag. Wir müssen also zunächst wissen, welches Sätzchen Sextus mit dem Zensurstift ausgemerzt, welche Ab- sicht er mit diesem w^eißen Fleck vc^rfolgt hat, ob nicht die Absicht, die er dabei hatte, uns auf die richtige Spur nach dem Sätzchen führeu kann. Solange die Lücke nicht ausgefüllt ist, können wir weder Wort- sinn noch Satzbau feststehen, können insbesondere nicht wissen, ob der gen. abs. ror /.oyov f)' lorrog s'rror konzessive Bedeutung
ä) J .Biu-net (E. Schenkl), Die Anfänge der griech. Philosophie. Leipzig IS»13.
1") Zeller, Die Philosophie der Griechen, S. 608 IV: „^\'enn Sextus den xoivuc Ivyoc diuch rd xoirtj (patyofisva erläutert, so wird dies von Ijassalle mit Recht abgelehnt, . , . Sextus .selbst hat vorher VII 133 den Xöyog. für den Ühoc Löyoc erklärt."
11) Lortzing a. a. O.
70 Emajiui'l LoL'W,
hat. wie es })isher alle Erldärer nach dem Beispiele des Sextus an- geiioiniiien haben. Reinhardt, meines Wissens der erste, der die Not- wendigkeit einsah, den konzessiven Sinn dieses Partizips ans dem Satzhan zn erklären, nahm in seiner Verlegenheit seine Zuflncht zum absoluten Partizip im 1. Ausspruche yiroiurror yicQ JiävTOJv y.ara T()v Ai'r/or Tordt, und daß diese beiden Partizip ia nach Form und Inhalt ]niteinander vergleichbar sind, ist von vornherein zuzugeben. Aber wenn R. den konzessiven Sinn in fr. 1 als gegelien ansieht, so beruht diese Annahme insofern auf einem Zirkel, als der konzessive Sinn hier ebensowenig erwiesen ist als dort. AVenden wir unsere Auf- nierksanikeit dem fr. 2 selber zu, so ist das eine sofort klar, daß Sextus allen Ton auf das AVörtchen y.oivoc gelegt wissen will. Wenn bei den Stoikern und Skeptikern damals von xoivöc die Rede war, so verstand man darunter von selbst den /o'/oc.^^) Die Worte (ho dsT i'.TirOth'.i T(~) y.<}iV(~) wurden daher ..selbstverständlich' im Sinne von <\io (Sf-i t.-Thofhcf T(~> /.('r/c) verstanden, eine Auffassung, in welche)- der philosophisch gebildete Leser jener Zeit durch den schein- bar liarmlosen Zusatz ^vvoc yui» o y.otrö^ (man beachte dabei das Maskuliniun, während, wie sich zeigen wird, to) y.oivfö im Urtext ein Neutrum war) sowie durch die sich unmittelbar daran schließenden W^rte Toc l(>yov (") lorroa ^vrox noch bestärkt wurde, so daß sich durch all diese geschickten Machinationen (einmal eine harm- lose Lücke, dann Avieder ein harmloser Zusatz) jedem Leser als Vorder- satz von selbst ergab: ivr(}(2: ton jiüoir o /o/o^. Hätte aber H. den Ausspruch mit diesen Worten eingeleitet, ja hätte sich überhaupt in dem ganzen Werke Heraklits, das drei Bücher umfaßt haben soll, ein derartiger Ausspruch gefunden, so hätte er sicher die Zensur passiert, Sextus hätte zur Unterckückung dieses Sätzchens keinen Anlaß gehabt und sich gleichzeitig den erklärenden Zusatz, ^vvoq yao o y.oiröc, erspart. Der Satz Ivröc ton .tuOiv 6 Xoyoc ging also diesem x\usspruche nicht nur nicht voraus, er fand sich in dem ganzen Werke Heraklits überhaupt nicht. Hätte er sich gefunden, wahrlich, Sextus wäre nicht der erste und nicht der einzige gewesen, der ihn uns überliefert hätte! Zu diesem argumentum ex silentio werden wir in diesem Falle von selbst hingedrängt. Xun lautet aber tatsächlich ein Ausspruch Heraklits 3,vror ton yiäoi. to ffQorttir
1-^) An. Aall, Geschichte der Logosidee 1896, S. 143.
Ein Beitrag zum heriiklitisch-parmcnid. .Erkenntnisproblem. 71
(113), den uns freilich nicht Sextus, sondern Stobäus überhefert, und wenn wir diese AVorte dem fr. 2 voranstellen, so wird mit einem Male alles klar. .Das krampfhafte Bemühen, '/Myixör mit (fQtviJQti:, y.oyoj: mit ff^örtjOic gleichzusetzen, diente demselben Zwecke wie das ängstliche Siclilierumdrücken um das ^vvor xo (fi)Ovttir\ in der Streichung dieser Worte erkenne ich das unfreiwillige Bekenntnis des Sextus, daß diese "Worte seine Deutungsabsichten zu vereiteln drohten, leite aber daraus zugleich für meine Annahme, daß bei H. die Termini l/r/oc und (((jortTv zueinander im schroffsten Gegensatz stehen, mittelbar einen neuen Beweisgrund von größter Bedeu- <lung ab.
Aber nicht mir mittelbar, sondern auch unmittelbar ergibt sich jetzt, da dei- Ausspruch vervollständigt ist, die Richtigkeit meiner Annahme durch folgende Übersetzung:
., Gemeinsam ist allen das ff^orür, darum muß man- dem Gemein- samen folgen. Ist aber der löyog gemeinsam, so ist die ififoviiöic, welche die große Menge im Alltagsleben besitzt, eine quasi ])rivate."
Es gibt demnach zwei Wege der Erkenntnis, auf dem einen hat die (fnort/öig die Führung, auf dem andern der Xoyog. Bei der Frage, welcher Fühi'ung sich die Menschen anvertrauen sollen, hat das -yioivdv, das Kriterium der Gemeinschaft, zu entscheiden, und da dieses nicht dem Xöyoc, sondern der rpQonioig zukommt, so muß man dieser folgen. Die (p^Kirrjaig ist also bei H. intelligentia = Natur- verstand oder Erfahrungserkenntnis, der /o/oc ratio = berech- nende Vernunft oder die reine Gedankenerkenntnis. In der lateini- schen Übersetzung lautet der Spruch:
rommune est omnibus intellegere, quapropter necesse est sequi coinmune. Ratio autem si est communis, pleriqiie dum vivunt quasi ])rivatam habent intelligentia m.
.Das fr., wie Sextus es bietet und deutet, lautet in der lateinischen tlbersetziuig:
. . . quapropter necesse est sequi commune; sed quamquam ratio est communis, tamen plerique dum vivunt quasi privatam habent intelligentiam.
Sextus sagt einmal im Gefühl der Selbstsicherheit, die der Wissen- schaft oft genug zu großem Schaden gereicht hat, daß ein Gram- matiker wegen seiner Pedanterie einen Heraklit nicht verstehen
72 Emanucl Loew,
könne. ^'0 Für mich geht daraus nur soviel hervor, daß dkyQaifi/aTrxoi cufQXHofii'roi damals den H. ganz anders gedeutet ha])en als die zeit- genössischen Philosophen. Nehmen wir also an, ein gKieklicher Zufall \\1irde uns eines Tages die Interpretation eines solchen Gram- matikers aus jener Zeit in die Hände spielen und diese Avürde sich mit meiner Deutung vollkommen decken: Ist es zu kühn, wenn ich l)ehau))te, daß den Erklärern unserer Tage betreffs einer I^ogoslehre l)ei Heraklit dann Bedenken aufstiegen? Wären sie nicht von vorn- herein geneigt anzunehmen, daß der pedantische Gramnuitiker dem vor sieben Jahrhunderten wirkenden Philosophen objektiver gegen- überstand als der Philosoph, dessen einziges Bemühen allen älteren Philosophen gegenüber der Gleichmacherei in der Auffassung vom Verhältnisse zwischen Xoyoc und cäofh/iaig galt? Und wenn sie dann an die Prüfung selbst ohne Vorurteil heranträten, würden sie finden, daß der Philologe den HerakMt selbst sprechen läßt, der Philo- soph aber, um seiner konstruierenden Betrachtung den Erfolg zu sichern, hier ein Sätzchen streichen, dort eines hinzufügen niiisse, daß ferner der Philologe jedes Wort Heraklits zu seinem Rechte kommen läßt, kein Wort darf fehlen, keines hinzukommen, daß da- gegen die l)eutung des Philosophen zur Frage herausfordert, wozu H. so viele Worte brauchte, wenn er nichts anderes sagen woUte als: Man nmß dem gemeinsamen Logos folgen; trotzdem leben die Menschen, als ob sie eine private Einsicht hätten. "Wozu der Wechsel im Aus- druck, zumal ein einfaches ofiojc dl vollkommen ausgereicht, ja den vermeintlichen Gedanken noch klarer ausgedrückt hätte? öio (kr tJiEOÜai T(~) y.oLVO) {X6y(;))' dfiojg Öl C,ojov(jtr ot JiolXol cog idiar kxovrec (pgöryoir, das hätte genügt.^*) Dieser Gedanke aber ist
^'') 7C0V yuq ric öivaTUi nur MjQvwfjiviov y(JUfjif.iuitXLÜ)' 'Hi^ux'/.eoroi- ovyfirui; (ttqöc yqafjy. A 3U1). Ganz anders Windelband - Bonhöffer, Geschichte der antiken Philosoj)hie. München 1912, S. o: „Auf keinem Gebiete hat die philologische Methode so ausgedehnte und allseitige Erfolge zu verzeichnen als auf demjenigen der antiken Philosophie."
^*) Nestle, der meine Verbindung 113+2 akzeptiert, aber mit .Sextus die Termini cpgorelv, loyog, ipgöyijaig einander gleichsetzt, übersetzt (Arch. 1. G«sch. d. Philos. 1912, S; 283): „Das Denken ist allen gemeinsam. Darum muß man dem Gemeinsamen folgen. Aber obwohl die Vernunft gemeinsam ist, leben die meisten Menschen, wie wenn sie eine besondere Denkkraft hätten." Aber gerade diese Übersetzung beweist aufs schlagendste die Be- rechtigung meiner oljen vorgebrachten Bedenken. Wozu so viele Worte,
Ein lit'itTiig zum heraklitisch-parmcnid. Erkennt iiisprcblem. 73
i^toiscli, er ist ans der Umdeiitimg eines heraklitischen (redankens hen-orgegangen, lieraklitisch ist er nicht.
Aber die hier dargekgten Gründe mögen noch su id)erzengend seiH, sie nützen doch nicht viel, wenn nicht gezeigt wird, daß fr. 1 /:iim Anss])rnch 113 + 2 stimmt, zumal diese beiden Ausspmche. sdueit man Sextus glauben darf, unmittelbar aufeinander folgten.
Titr dl löyuv tovcV lovroc du d^vi^erof yh'OPtai uvi^QfajToi, y.iCi rroooiher /j dxovöai y.cu dxovOca'rsc; to jiqoJtov. ,
Xur der unheilvolle Emfluß stoischer J^eutungskunst konnte die jiiodernen Krklärer auf den Gedanken bringen, daß H. mit diesen Worten die Menschen tadle, weil sie seinen Logos nicht verstehen. AVenn /o'/oc dasselbe bedeutet wie q,Qoveiv, das letztere wieder allen gemeinsam und der Menschen größte Fähigkeit ist (113, 112), wie können Menschen dann einen Xoyoq nicht begreifen? Wie kann ferner der selbstbewußte Verkünder der Lehre vom Werden gleich- zeitig und noch dazu „beim Beginne der eigentlichen Schriff einen ewig seienden Logos vertreten, einen Logos also, der alles AVerden, alle Bewegung und Veränderung ausschließt, ohne auch nur anzu- deuten, was er mit diesem Logos offenbart? Wenn H. mit diesem Logos „eine ewige Wahrheit"' offenbaren woUte, hätte er die Lehre von der ,.ilhjOtia^'' auf negativer Kritik aufgebaut? AVie wäre es möglich, daß sich der IN^anie alyd-tta in den Aussprüchen Heraklits überhaupt nicht findet, wohl aber aofföv und ooffh/, während uKi- gekehrt bei Pannenides im ersten Teil des Lehrgedichtes der Xame dXt'jthia und (UijI>8q die Hauptrolle spielt, der Name oorfor und ooffii/ überhaupt nicht erscheint, wohl aber der Inhalt des herakliti- schen oofpor Gegenstand der parmenideischen öö^cc ist? J)as ist unmöglich reiner Zufall. J3och halt! Ein einziges Mal findet sich das AVort d),rjd-ta bei H. : xo fpQovnr agsTtj f/syiOTf/ xal aorpifi icXr/t^ta Xiyeiv xal jinuiv xara rpvoir kjratovrai (112). Aber gerade hier zeigt schon die Nebeneinanderstellung öoffbj dh]d-kt die unverkemibare Absicht, zwei emander entgegengesetzte Termini in Beziehung zu setzen. Doch darauf kommen wir noch zurück.^-^i
wozu der Weclisel der Termini, wenn Heraklit nichts anderes sagen wollte als: ..Das Denken ist allen gemeinsam; aber gleichwohl leben die meisten \ Menschen, wie wenn sie eine besondere Denkkiaft hätten" ? ! \'gl. dazu {v Anm. 33. '
^^) Vgl. weiter unten.
74 Emanuel Loew,
lieiiiliaiclt koiumt hier (sowie in einigen anderen Figm.) ineineiu Stand- ])unkt insofern nahe, als auch ei' in fr. 1 und 2 den heraklitischen Logos nicht im kosjnologisehen, sondern im erkenntnistheoretisehen Siiine faßt und ihn als etwas vom heraklitischen oor/o'r Verschiedenes erklärt. Wenn der genannte Forscher weiterhin sagt, daß die sinn- liche Erkenntnis erst durch die Entdeckung einer übersinnlichen Er- kenntnis zum. Problem ^^ erden konnte, so ist dies zweifellos richtig. Unrichtig al)er ist es m. E., wenn er in Parmenides den ,, Entdecker' der Logoserkenntnis sieht. Ich glaube vielmehr, daß ein Vorgänger Heraklits den Tenninus /o/oc geprägt hat. H. hat ihn bekämpft, P. gegen H. in Schutz genommen.^«) So erklärt sich jedenfalls jetzt schon am. ungezwungensten die Tatsache, daß bei diesen Iteiden l)enkern der Name Xöyo^ als ein beieits allgemein gekannter, ge- läufiger, inhaltlich genau bestimmter Terminus vorkommt, daß H. gleich beim Beginne seines Werkes sagen konnte, daß Menschen für den /o/oc kein Verständnis gewinnen, ,, weder ehe sie ihn gehört, noch nachdem sie ihn einmal gehört haben''. Alle Forscher vor mir haben, meint H., die sich im Kosmos entwickelnden Ereignisse -/.axa käyor beurteilt, und zwar sowohl ehe man den Terminus geprägt, als auch nachdem, man Um einmal geprägt hatte. Ich aber, der ich mich selbst durchfoi-scht habe, bin zur Einsicht gekonmien, daß die Menschen die sich vollziehenden Ereignisse der Kosmosentwicklung nur dm'ch die allen gememsame Erfahrungserkenntnis zu erkennen vermögen, und deshalb trenne ich jedes einzelne nach seiner natür- lichen Entwicklung.^^)
yirofjh'fov ya^t jrävTfov y.aTu tov Xoyov rövöt ujttiQoioir
^S) Slommsky a. a. 0. S. 39: „Alles früliere Philosophieren hatte sick um die Ergründung vou Gesetzlichkeit, um die* Erlangung einer Erkenntnis bemüht; und nun entstand plötzlich die Drohung des Nichtwissenkömiens. Der Widerspruch dagegen führte zur Stabilisierung des Wissens. Es war also die Frage nach der Möglichkeit einer Erkenntnis, welche die eigentlich treibende Kraft in der Polemik (sc. des Paniie- nides) gegen B'eraklit war." Vgl. weiter un'.eii.
1') Burnet a. a. 0. S. 126: „Heraklit blickte nicht mu- auf die Menge der Menschen, sondern auch auf alle früheren Forscher der Natur herab. Das kami nur bedeuten, daß er glaubte, Einsicht in irgend eine Wahrheit erlangt zu haben, die bis dahin noch nicht erkannt worden war, obwohl sif^ sozusagen den Menschen ins Antlitz starrte."
Kiu B(,-itrAg ziiiu hcraklili.-^c-li-jKUiiuniil. KrkciintuisjtroliK-in. 7;)
toly.aöf miito'jiitvoi tJrtvrv xtu l'ijyor toiovtodv oxolojr bfvt iSufftvina diaiQtfor txaoror X(ct(c (fcoir x(d (({jäCov öxoc -'Z^'-
„J)eiin vollzieht sich die Entwickliiiig des Alls nach dieser reinen (".edankenerkenntnis, so gleichen sie Unerfahrenen, wenn sie sich \ersuchen an solchen (wirklichen) AVorten und Werken, wie ich (byo'j!) sie getrennt darstelle, trennend jedes einzelne nach seiner natürlichen JMitwickhing und kündend, wie sich's in AVirklichkeit verhält."
Jetzt stimmt Satzbau und AVortsinn in den beiden Aussprüchen 1 und 113 + 2. Sowie der gen. abs. in 2 : ror /jr/oc r)' tövroj: ^ri-or ist auch der in 1: yiroutvojr /«(> srai'Tojf nicht, wie l)isher ausnahms- los angenonmien wurde, konzessiv, sondern hypothetisch, und das eine deckt sich nach Sinn und Satzbau mit dem anderen:
Vollzieht sich die Entwicke- Ist aber die Gedankener-
lung des Alls nach dieser Ge- kenntnis gejneinsani, dankenerkenntnis, I
so gleichen die Menschen so ist die Erfahrungser-
Unerfahrenen (wenn es sich kenntnis eine quasi
um die Erklärung der Vorgänge i)rivate. xfcra ffroir handelt).
Also die ]\Ienschen gleichen Unerfahrenen, sind aljer in AVirkli( hkeit (wenn auch oft unbewußt) erfahren: ihre Erfahrungs- erkenntnis ist eine q u a s i private, in Wirklichkeit ist sie allen ge- meinsam.
Und was den Wortsimi anlangt, so steht in 1: Äoyog zu (fvoi- in demselben Gegensatz wie in 2: /o'/ow zu ffQÖDjOic, ja jetzt konmit erst der Gegensatz xara ror Xöyor xoröi, — xara cfvoir zur richtigen Geltung, o /070c 06t ist dieser ewig seiende Äöyoc = der starre abstrakte G-edanke, der schroffe Gegensatz dazu: r/ nn^ = natürliche Entwickelung, und ebenso ist hn 2. Ausspruch /o'/oc dei' Name für das starre abstrakte Jvenken, ({(torslr und (fQortjOig der Name für das in rastloser Entwicklung begriffene Erkemicn.^^j
^8) Herbertz a. a. 0. S. 70: ,, Diese Anschauung, in deren Sinn sicli (lie zitierten seltsamen Worte (sc. von der FIußM'alirneJnniing) zwanglos deuten lassen, wüide ganz dem modernen Idealismus entsprechen, etwa der Lehre Berkeleys, für den das Sein des Flusses im heraklitischen Beispiele ,,in einer beständigen Folge von Ideen" be.steht . . . Die festen Regeln und be-
7(3 Eiiiaiiucl IjOow,
Ijh eiullich Wortsinn nnd Satzbau im Schlußsatze des 1. fr. zu verstehen, \vollen wir fr. 21 heranziehen:
Ttnc d'aX/j)r^ r.r^iK'JJrovu UäraToc- töTir, oxöoa ly-cQ-
;Mr:N\r6i.oy.ooa tyio^trTtqjToi- Hrrtq oQtoiitr, oxöoa 6' ei- ü>rr,i. oxojöJitQ o-AÖoa trönvttc. \ Öorrec, i'.-t)-o^. IjTt'AdviyürovTca. !
.Die liisherigen Erklärungsversuche sind alle gescheitert unii mußten scheitern, weil alle Erklärer, und zwar wie sich zeigen wird, von Sextus förmlich ,. hypnotisiert", denselben rein grammatikahschen Fehler liegangen haben: Das Part. Aor. ty^td-trrsg heißt nämlich niclit. wie man allgemein auch heute noch übersetzt, „im Wachen". .,mit wachem Geist" — das müßte ty(^tf/yoQfk6c = vigiles heißen — , sondern „aus dem Schlafe geweckt'' =^ e sonmo excitati. Die llnei- fahrenen, d. h. die Logosdenlver, verbringen ihr Dasein im Schlafe verharrend oder aus dem Schlafe geweckt. Wenn der Mensch aus tiefem Schlafe plötzüch geweckt wird, so kann er sich buchstäblich nicht ..be-sinnen": er \\e\S> nicht, wo er ist, er erkennt nicht sehie Um.f^el)ung, oder wenn ich es wagen darf, diesen Zustand mit Worten Heraklits zu schildern: arff^Qojjrog ayertH-üc tlisiQfo hoixi, rtaotv)]- uüiiOTir. Und diesei- Zustand ist bei den Logosdenkern ein dauernder. sie sind entweder trVjo^Tfu und dann ist das, was sie sehen uiul ma<hen, r.Tro-: oder sie sind lytQB^tvrtQ, und dann ist alles, was sie sehen und machen, i^^äruroQ. Die Phronesisnaturen dagegen sind tyotjyoitorec. in wachem Zustande, und deshalb ist das, was sie sehen und wirken, Leben, Entwickelung.i«) Es ist demnach kein
Ätimraten Weisen, wonach Oott (bei Heraklit = g)vOig\) solche Folgen von Ideen in uns erzeugt, heißen ,,NaUu-gese.tze".
") Nestle a. a. 0. sagt, meine Übersetzung sei falsch, das müßte iyiwöfxivoi heißen. Aber Heraklits Gebrauch der Tempora steht mit den Regeln der Elementarsyntax im schönsten Einklang: Da Präsens drückt, einen kontinuierlichen Vorgang, das Perfekt eine in der Gegenwart abge- schlossene, der Aorist eine plötzlich eintretende Handlung aus. So in 88 : In äem Augenblick, wo das syot]yOQ()C umschlägt ({.tsTajteGÖvTU !), ist es ytud^ivöov und in dem Augenblick, wo das xa&ev6or umschlägt, ist es iyQrjyonög und ebenso steht es mit dem ^tÖr und dem ji9^V)]x6c, mit dem viov und dem y)]oui6v. Ebenso in 26: In dem Augenblick, wo das Augenlicht erlischt \u7roaßeGd-eig rik ö(/^«e). gleicht der Mensch als Lebender (^ÖJy) einem Toten {u7Ttstu(, Tsd-rswTog), als Wacher einem Schlafenden {iyorjOQwc uTiTfiai. fl^dorroc). — I"i Gegensatze zu diroaßeGd^eig steht uTTOGßsvvvftsrov
Kill Bcitiüg zum lienkklitiseh-panueuid. Erkenntnifiprobkni. V'i
Zul'all. (laß sic'li aus den beiden obigen Fragmenten das Verhältnis ergibt :
XiH'ihiU'tif : i)i''.raT<>^ = ijtiXarihärtoDtn : rjtvo^, Xichtvvissen: Tod = Vergessen: Schlaf, woraus erhellt, daß Ut'ci'UTo^ und r:rrog hier in demselben erkenntnistheoretisehen Sinne gebraucht sind wie bytQf^tvTfc und frdovTt^, also wie unsere Bezeichnungen „Tod" und ,,Sclilaf' im Gegensatz zu „Leben". J)ie Übersetzung der beiden Fragmente lautet daher;
Alle anderen Menschen aber Tod ist, was wir sehen, wenn
wissen nicht, was sie machen, wir aus dejn Schlafe gtnveckt
wenn sie aus dem Schlafe ge- werden, was wir aber sehen,
weckt werden, sowie sie ver- wenn wir im Schlafe verharren,
gessen, was sie niachen, wenn ist Schlaf."^")
sie im Schlafe verharren. :
"Was wir also sehen und machen, wenn wir, d. h. unsere Sinne, plötzlich aus dem Schlafe auf ge\\ eckt werden oder wenn wir weiter im Schlafe verharren, ist Tod = Mcht wissen. Schlaf = Vergessen. AVie dem Tode und Schlafe das Leben, so steht dem Nichtwissen und Vergessen das AVissen gegenüber. Alles, was die Logosdenker, gleich-
in 80: 7TVQ deC'Ci-oi' (xTTTÖfJsyoi' (liioa, dTToaßsvvifuvor {iiiQa. O.noaßnvöi^nvov drückt hier, wie schon usi^ouov zeigt, den kontinuierlichen Vorgang aus. Nachdem aber im Lehrgedichte des Parmenides die C4öttin Wahrheit die.ses TTvo dnooßivvv^ivov mit den Mittehi der Logik für immer ausgelöscht zu haben glaubt, ruft sie triumphierend aus: uTTfG^fOiui! Das Werden ist jetzt für immer ausgelöscht ! Vgl. das zu Parm. 8, 21 Gesagte. — • Andere Beispiele für das Part. Präs. 56: (fi)^£iQuc xaTuxTefroi'Teg „die der Läusejagd oblagen" (Diels.); 125: Der Gerstensaft zer- setzt sich fj.)] xivoo^uroc, wenn er nicht in einemfort umgerührt wird; 84: fisiußd'/J.ov dvanüvirut, während des Wandels ruht es, im Gegensatz zu 88: finaTTsGÖvra im Augenblick, wo es umschlägt. — • Beispiele für- das Part. Aor. 27: Die Menschen erwartet Ts7^ivT)]GarTag iui Augenblick, wo der Tod an sie herantritt (also weder wäluend sie im iSterben liegen =^ xeUvJwi'Tug noch nach dem Tode = Terelevrrixöiuc), was sie nicht er- warten noch wähnen; 20: ytroiJtiroi 'Qioiiv i&ikovctv . . . Von dem Augen- blick, da sie geboren werden, wollen sie weiterleben . . . Vgl. übrigens zum ganzen das zu fr. 107 tiesagte.
■^") Nestle übersetzt (Philologus 1908, S. 533): „Tod ist, was wir im Wachen sehen, was aber im Schlafe, Leben" (so!). Und er hat wirklich den Humor, meine obige Übersetzung als Beispiel füi- die „Gewaltsamkeit der Exegese" anzuführen, deren icli mich scliuldig mache.
Archiv für Geschichte der PhUosophie. XXXI. -. 6
78 Eiuanuel Loew,
viel ob die durch ihre Theorien angesehenen Denker oder ihr Gefolge, byf-iifhtrrec bzw. tvöopreg — denn aygyyoQfktg sind sie nie — sehen oder machen, ist nur Mchtwirkliches: Tod, Schlaf, Nichtwissen, Vergessen. Pie Phronesisnaturen aber, die immer wach sind, ty^uf/oQÖTtg, haben einen einzigen und gemeinsanien Zustand der Kosmosentwicklung (S9), nämlich den Zustand, den wir gegenwärtig- vor uns haben, den kein Baumeister, weder einer der Götter noch der Menschen, ,, gemacht" hat, der mit einem Worte kein Machwerk ist, sondern immer bestand, Ijesteht und bestehen wird als ewig leben- des Feuer, d. h. in rastloser, regelmäßiger Entwickelung(30). Wer also Leben = Entwickelung erkennen. Wissen erwerben will, muß wach sem; denn den Wachen ist der jrölqioq (Entwickelungsprozeß) xo/roc, der xöofiog (das Ergebnis des Entwickelungsprozesses) xoirog, die ffQ6v?/aic (die m e^^iger Entwickelung begriffene Er- fahrungserkenntnis) ^vvtj, mit einem Worte: Was w mit wachen Sinnen sehen, ist ^wör. Schon Schusterei) hat in Fr. 89 einen Beweis dafür erbhckt, daß wirklich in der Nähe (sc. des Fi'. 2) von einem xoircjr, d. i. ^vvöi' die Rede war, dem diejenigen, welche Anspruch auf einen wachen Zustand machten, folgen müßten. So nahe war Schuster daran, das Wesen der Sache zu erkennen. Daß ihm dies nicht vollständig gelang, lag nur an dem Umstände, daß er sich trotz redlichen Bemühens von der Autorität des Sextus nicht völlig frei- machen konnte und an eine Logoslehre Heraküts, wenn auch in einem ganz anderen Sinne {?.6yog --- Sprache der Natur) glaubte.
Aus den Fr. 1 und 2 ergibt sich also, daß des Sextus Auffassung,^ der Äoyog habe kosmologische Bedeutung und sei mit rfiaig, (pQovrjOig sowie mit vöog, i^eög gleichbedeutend, unlialtbar ist. H. sagt klipp und klar gerade das Gegenteil: Der löyog, die reine Gedanl^ener- kenntnis, sei für die ]\Ienschen wertlos, weil sie von Natur aus für ihn kehl Verständnis hätten. Was für das menschliche Wissen Wert und Bedeutung habe, sei nur, die sich entwickelnden Vorgänge in der cpvoig zu erkennen, und zu dieser Erkenntnis gelange der Mensch, wenn er seine Sinne wach erhalte und dem allen gemeinsamen (pQovar folge. Menschen, welche von der allen gemeinsamen rfQovriOLg keinen Gebrauch zu machen ^^1ißten, seien capQoveg und verbringen
21) Paul Schuster, Heraklit von Ephesus, 1873.
Ein Btitrag zum horaklitisoli-pannenid. Erkenntnispioblfm. 79
ihr naseiii in dem yMO/iog, der allen gemeinsam sei, die ihren rorc wacli erhielten, als Fremde: i^i((jß(''.i>or^ fl't'yac tyovreg. Das ist der Sinn des 107. Fr., durch welches Sextus beweisen will, daß H. die Sinneserkenntnis völlig verachte: Tt)r aloiffjotv l/Jyyei !
Das Fragment lautet bei Sextus, der versichert, daß er wörtlich zitiere: xay.ol fuxQTCQtg drd-Qo'jjtouiir offü^cdito) xmI mra ßaQßaQorg il^ryac ty/nTor, was soviel bedeute wie: es ist Eigenschaft barbarischer Seelen, dXoyotg aiüihjotoi jikjtsvsiv. Text und .Deutung, beides ist in gleicher AVeise verdächtig. Gibt doch selbst ]Xestle zu, daß der Text „nicht ganz'' in Ordnung sei und daß in diesen AVctrten keine völlige Verachtung der Sinneserkenntnis liege. Des Sextus Versicherung, daß er -xaTA Usir zitiere, dürfen wii- niciit allzu sorglos hinnehmen. Er sucht eben über die schweren Bedenken, welche alle von ihm zitierten Aussprüche Heraklits in textkritischer und exegetischer Beziehung erregen, mit Redewendungen wie xarä /.t^ir (ZU Fr. 107), (>a/tcüc (zu Fr. 1), (»irotaxa (zu Fr. 2), xcä {u]r (itjTO)^ (zu den (jt/^ala) hinwegzukjnmien. .Das entspricht so der Art der alten Erklärer, dort wo sie ihre eigenen Gedanken in Hera- klits Worte hineinlegen, zu versichern, daß die Sache in Ordnung sei. AVir aber fragen, wo in diesem Fragment von dXoyoL cdod/jOtig die Rede sei. Die aiod^tjotig werden allerdings durch die dcpd-aliKn y.(d fhxa vermittelt; aber dloyoi-. Sollte das mit äffQoi^sg gleich- bedeutend sein, sowde' lo/^xo'r mit fpQovtftov? Und in der Tat, wiederum ist es, wie bei Fr. 2, Stobäus, der uns aus cler Ver- legenheit hilft, indem er denselben Ausspruch folgendermaßen überliefert:
yMxoi yirovTiu (H/ihcdiioi y.ai ojra dffQÖro)v drß^QfoJtmv ßaQ- ßd{toi'g ipvyug lyomor.
Hier erhebt sich vor allem die Frage: AVas sind bei H. dtfQovtg (}.ri^{KOJioi'^ Das sind Menschen, die ihr Dasein verbringen, als ob der /rr/ocgm'oc, die (pq/nn^aLg aber I6ia wäre (113+ 2); Menschen, die wie unerfahren sind, wenn sie sich versuchen an solchen A^A'orten und AVerken wie ich, Heraklit, sie trennend erörtere, trennend das einzelne yucxä rpvoiv, nach seiner natürlichen Entwickelung (1): Menschen, die, weil sie die rastlos sich vollziehende Entwickelung des Alls yMTcc Xöyov beurteilen, so bar aller Erfahrung sind, daß
6
80 Eiuiinuel Loew,
sie die xaTu (/coir sich vollziehenden Vorgänge nicht verstehend) und sich daher in dem xooifoc, der allen genieinsani ist, die ihren rovg wach erhalten, fremd fühlen: ,:/«(> /9«(>orL; ipcyjcc: l'/oi-rtg. „Schlecht (oder: schlechte Zeugen)^'^) sind Augen und Ohren von Menschen, die der Phronesis bar sind: sie haben ßarbarenseelen." Als ßagßitQoi bringen sie ihr J)asein hn xoöfiog xoirog dahin, zu dem sie sich gar nicht verwandt fühlen. Jeder Mensch mit wachem (ieist bekundet, wie wir von H. bald hören werden, seine Verwandtschaft mit dem Kosmos durch Wahrnehmen, Verarbeiten des Wahigenom- juenen und die Fähigkeit, sich zu äußern. .Den Logosdenkern al)er sind alle Erschemungen des täglichen Lebens gtr« (72), nt c/ooriovoi. Toiavta (IT), dxoroc.i orx L-rioräfftvoi ovo' Eiatlv (19). Kann die völlige Hilflosigkeit der iuf[tort4^^) avdQVJjioi ßaQßccQovc irryac: t/oPTsg packender geschildert werden? ß/cQßaQog, sagt Zeller (a. a. 0. 653), heißt in seiner urspriingüchen Bedeutung einer, der meine Sprache nicht versteht und- dessen?^jw%che ich nicht verstehe. Und in diesem Verhältnis stehen eben die Logosdeiiker zu den Phronesis- naturen, sie verstehen einander nicht.
--) uuoivotg kommt bei H. in fr. 28 u. 34: vor. Ob es auch in die,scm Ausspruche stand, läßt sich nicht ohne weiteres feststellen, weil auf ^extus kein Verlaß ist; für den Zusammenliang ist es entbehrlich. Was aber da.s ^\'ort d(pQ6rwp betrifft, so ^^•äre es, abgesehen davon, daß Htobäus auch das für Heraklit so charakteristische Verbum yivorrai treu bewahi-t hat, wäh- rend es bei Scxtus fehlt, schlechterdings unerklärlich, woher Ötobäus es ge- nommen haben sollte, wemi er es nicht im Texte fand, zumal gerade auf diesem Worte aller Ton liegt und es auch in der Paraphrase des iSextus als u'/.oyot, wieder erscheint. ^Venn schließlich jemand an der häufigen 'Wiederkehr der Silben -ov -wr Anstoß nehmen sollte, so möge er beachten, daß schon Par- menides 8, ö3 darüber zu spotten scheint; jedenfalls ist es sonderbar, daß sich bei beiden diese Silben genau in derselben Reihenfolge wiederfinden. Man vergleiche: acf.QÖvtor dvdqvJTton' . . . l^ovTtor
xÖGfjLOv ifxiZv iiriwr djruTrjXdv uxovwv. In beiden .Sätzen ergibt sich die Reihenfolge:
Ol' — tor — wv — oj' — toj'.
■^3) Daher erklärt es sich, daß Aristoteles und Theophrast wiederholt sagen, bei den Vorsokratikern sei (pqovfir mit utcdunGdui gleichbedeu- tend. Z. B. Aiist. de an. /'4. 427 a ol ys dqxutoi tö cpQoreh' xai tö ulaS^d- y6G&(U Tavxov fhuC (fuGtv; ebenso Met. IV 5, 1009 b 14. Theopln-. de sensu (Diels S. 101, 112, 168).
Ein Heitrrtg zum hcrakütisch-inuinciud. Kikcniitnisprobloni.
81
.l>aß alsd (liMU f>aiizoii Berichte des Sextus ein wohldurchdachter Plan ziigriinde liesjt, ist wohl schon iiber jeden Zweifel erhahen. Um aber zu erkennen, wie die heraklitischen Gedanken über die Sinnes- tätiükeit des Menschen im Znstande des Schlafes, des Gewecktwerdens und des AVachseins umgedeutet wurden, wollen wir die AVorte Heraklits mit den Worten des Berichtes vergleiihen:
1 Sextus'
Her. TOI ^ () (c/./.<)i\: r.v if^nfi'jrrorj: XavHärn, ir/.öoi ; t'/t Q ff ^ vre C
Erläuterung:
//;-
1-1 11
o 1 7 1 (<-
jronoi'öi.
OXOJiXTfO
daloi, y.ara (yiröjifDa).
oy.öoi: hvdovTsq, lm).i'.y)h''.vovTai. rnlg l y n tj 7 o o o o / £7'« iinu y.ct yjuvov yöo- 'lor.
I
Begründung:
61" yuQ Tolg vjirof - o iv fjifü' ro*~w djTO- l^aÄÄei t]r jrQOTSftoi' ei/t in't/ifovixt/r Ör- raini', Iv f)' ty^tj- yoQöti jTi'.h V hryi- yJlv u'di'tTOJ (h'r rcciar.
Wir sehen, so wie H. die Menschen in ft-fjorr^.-, byt^ilhmg und lynijyoitiWtC: scheidet, so spricht auch der Bericht von rjxvo-, eytooic und tyi)//yoQöig, und so wie H. sagt daß die Menschen alles, was sie im Schlafe verharrend tun, vergessen, so erklärt auch der Bericht, daß die Menschen im Schlafe vergeßlich werden, weil der in uns wohnende rovc die livijfiorix/) &rra{ug, die Erinnerungskraft, die er früher (sc. im wachen Zustande) hatte, im Schlafe verliert. Soweit deckt sich der Bericht mit den "Worten Heraklits genau. A!)er während H. sagt, daß die Menschen, plötzlich aus dem Schlaf geweckt, nicht wissen, was sie tun (weil sie eben noch nicht bei Be- sinnung^sind), und erst wenn sie wach d. h. bei Besinnung sind, einen einzigen und gemeinsamen Kosmos haben, verquickt der Bericht diese beiden Gedanken, was natiirlich einen Wirrwarr zur Folge hat: I m E r w a c h e n kommen die Menschen wieder zur Besinnung, werden ijtcfQoreQ, und zwar warum? weil sie im Wachsein eine (SvrunLQ in sich hineinziehen. Welche dvrcquc denn? Man möchte glauben, dieselbe i/rf/iwrix// ()vra(UQ, die der j'oösimScldafe verloren hat. Aber nein, die (Wrafiic (n'//voriy//, w^elche der rovg vor dem Schlafe gehabt hatte, die er iin Schlafe verlor, die zieht er nach dem
82 Emanuel Loew,
Schlafe, wenn er wieder f//(/(H'>;' ist, als jjr/ixi'i in sich hinein,-^! und so wii'd vovc, (fQÖvr/Oic und /o/oc zur Einheit.
Dieser Dentungskunst getreu, versichert Sextiis VIII, 28»i. wo er von der Bedeutung der a/jftEta spricht, quasi ehrenwürtlich: y.ui (tf/r QfjTcöc 6 7/(>«x/f77rog cpt]Oi To (it) sivcu Xoyixov TOP arUQOjjtor, [lovor d' vjraQxiziv (pQerr/Qsg to xsQuyor. ,,Und in der Tat, sagt H. ausdi-ilcklich, daß der Mensch nicht loyixog ist, daß viebnehr nur d&s jteQityov (fQSvtJQfQ ist." Jetzt da wir die Interpretationsniethode des Sextus kennen, werden wir seine ehrenwörtliche Versicheiung gebührend würdigen, besonders wenn er nicht einmal ein entsprechend hergerichtetes Zitat vorzubringen vermag. Hätte H. derartiges ■Aoi ///}^' (>r/Twc gesagt, dann hätte S. gewiß nicht versäumt, die o/'/itaxic „xara Xh^ii^'' zu zitieren. Aber die Sache steht eben ganz anders, als man bisher geglaubt hat. Es ist allerdings richtig, daß der IMensch y.ara (pvoir kein C^omr loyixov ist, von der Natur nicht geschaffen ist, alles rational zu machen, das sagt ja H. beim Beginne seiner Schrift: rov Xoyor . . . d^vveroi yirovTcu avi^Qfojrot, was Apollonius von'l'yana ep. 18 widergibt mit den Worten: 7/(>«x/£/roc ahtyor elrai xtaa (fvoir tcft/ötr (tri)x>fojro)\ Es ist weiters ebenso richtig, daß H. dem Sinne nach gesagt hat: r.Ti'iQytir to jrtQityor ([.(jbvTjQtg. J)azu stimmt, was Flut, de Iside 76 sagt: /) dl ^ojöa (pvoic dfivöTi torraxtv d.TOQQor/v y.al iioiQav Ix rov (fjQoroivTOQ ötco xvßeQväTc.i to orfjjcar, xaü' Hitccx/.tiTov. ,, Unsere Xatur (C,d5oa cfvou ist pleonastisch) schlürft in vollen Zügen einen Ausfluß und Anteil aus dem ffQovovr, durch welches das Weltganze regiert wird, wie Heraklit sagt." H. hat also dem Sinne nach zweifellos gesagt: ///} Uvea loyixor tot ('(.vh{)V).-Tov. ebenso: to TtüQiiyov r.TaQytir (fi,tfv/JQeg, was Avohl nur eine Umschreibung ist für: to rrro dvai (f{fövLi(or\ aber der Zusammenhang, in dem diese beiden Sätze standen, kann nur der gewesen sein, daß der Mensch kein Z(<)ov /j)yix6)\ sondern ein yoloi' «fQoriiiov sei, weil er, wie jede (fcoic uöoa, seinen Anteil aus dem (fQorocv einsclüürft, durch welches das AVeltganze regiert wird.
^*) Schon aus diesem gewaltsamen Versuche, hier das fivijfjovixov dem Xoyoicöv gleichzusetzen, wäre man zu dem Schlüsse geneigt, daß diese beiden Termini bei H. einen Gegensatz bildeten, und fr. 126 scheint dies zu bestätigen. Vgl. das zu diesem fr. Gesagte weiter unten.
Kill Beitiag zum heraklitiscli-parmuiid. Erkenntnisprcblem. 83
Alier mag das (ledankcngostrüpp, durch (ks wii- uns durch- arbeiten mußten, noch so wiiT sein, der Bericht behält doch für uns einen unschätzbaren Wert, weil er mutatis mutandis einen (Uwchaus heraklitischen Gedankengang enthält, und zwm: „Es ist die Ansicht des Physikers, daß das, was uns umgibt, nicht /.oyixör ist, sondern if^)orii/or. .Diese göttliche (fQorijOig also ziehen wü- nach HerakUt durch Kinatinung an uns und werden dadurch rotQoi, und im Schlafe werden wir vergeßlich, wenn wir aber wach sind, wieder biKfifonc. j)a sich nämlich im Schlafe die aloOfiTixo} .to(>o/ schließen, so wird der in uns wohnende vor^ vom Zusammenhange mit dem .7r^>ity/>)- gesondert, während nur die Verbindung zufolge der Einatjuung er- halten bleibt wie eine Art Wurzel; gesondert aber verliert er seine Erinnerungskraft, die er früher hatte. Im wachen Zustande dagegen bückt 6r sich durch die Öffnungen der Sinne wieder hinaus wie durch eine Art Fenster, trifft mit dem rrtQLtyov zusammen und zieht so tlie Erkenntniskraft in sich hinein. Sowie also die Kohlen, wenn sie sich dem Feuer nähern, zufolge der Wandlung vom Feuer durch- glüht werden, wenn sie aber abgesondert sind, verlöschen, so \vird auch der in unseren Körper als Gast aufgenommene, aus dem jieQu'yor stainmende Anteil (sc. an der (fifortjOiQ) zufolge der Absonderung geradezu a(pQcor, zufolge des durch die gi'ößte Menge von Öffnungen hergestellten Zusammenhanges aber wii'd er ein dem Unive'rsum (TleichaTtiges (sc. (fQ<)Yi{ior). .Diese (f^ortioiQ also, derzufolge wir, wenn wir an ihr Anteil haben, (fQoi'ii/oi werden, nennt Heraklit gemeinsam und göttlich; Avoher denn auch das allen gemeinsam Er- scheinende zuverlässig sei (denn man empfängt es durch die gemein- same und göttliche (fgortjöigj, das al)er nur einem allein Beifällige (sc. das Xoyiy.ör) unzuverlässig sei wegen der gegenteiligen Ur- sache." (Vgl. idioc: hr/oc Fr. 2.)
Die aloihiTixo) jiÖqol (ob H. schon von .TO(>f>/ gesprochen hat, ist hier Nebensache) stehen demnach mit (fQi'ir und röog m engster Verbindung. Sowie nach diesem Berichte der rooc von den (uofhjTixof .tÖqoi abhängig ist, so hängt auch nach Parmeitides (Fr, 6 u. 16) die Beschaffenheit des roog der Plironesisnaturen von der Beschaffenheit der vielumhern-renden Sinnesorgane ab (16j und die (fQovrjocg ist es, welche den vöog jrÄaxrog hin und her treibt. H. hat also wahrscheinlich angenommen, daß die Sinnesorgane ihre Einclilicke den f/{ttreg vermitteln, diese die ihnen übermittelten
84 Emanuel Loew,
iMndriUkc verarbeiten, der rot'c sie sammelt und aufbewahrt. o(ffh(Ä/fol, ona, Qtnc usw. sind Wahrnelimungsorgane, (fQ/'/r das Er- kenutnisorgan, rooc das Erinnerungsorgan. Der rorg ist daher un- juittelbar von der (foör/joic, mittelbar von den Wahrnehmungs- . Organen, die (f^örrjOig aber nur unmittelbar von den Wahrnehmungs- organen al)hängig. f/)(>//r und röoc bilden das rastlos selbsttätige Zentralorgan aller Wahrnehmungen: daher Fr. 104: xiq yaQ avrotv röog // <r (»/'»•; • • • Alles Wissen hängt somit in letzter Linie vom röog ab. Je mehr dieser erlebt, desto mehr Erinnerungen bewahrt er, je öfter er sie erlebt, desto fester bewalirt er sie. Erleben aber kann der rovg nur iin wachen Zustande; überall muß er selbst anwesend sein (Fr. 34), wie dies im vorliegenden Bericht immer wieder betont wird: .Der rovc darf nicht vom Zusammenhange mit dem xt^äyor gesondert sein, die Verbindung mit ihm muß erhalten bleiben, ab- gesondert verliert er die Erinnerungskraft; im wachen Zustand trifft er mit dem .Tt^it/jn' zusammen.^^ Treffend ist in dieser Hinsicht der Vergleich mit der Kolüe: Sowie die Kohle, nur wenn sie mit dem Feuer zusammenkommt, von diesem durchglüht wird, w^enn sie aber vom Feuer gesondert wird, verlischt, so wird auch der vovc, wenn er mit dem .ti~(> (fQonfior zusammenkommt, (fQ(')ri(.ioc, w^enn er aber von demselben gesondert wird, geradezu acpQon.'^'')
.Oieser Vergleich des rovc uiit der Kohle ist aber auch von einem anderen (resichtspunkte aus überaus wichtig und lehi-reich. AVir haben gesehen, mit welchen Mitteln philosophischer Spitzfindigkeit Sextus Heraklits erkenntnistheoretischen Logos in einen kosmo- logischtfu umzudeuten versucht. Er hat den /o'/oc nicht nur mit rorc und (ft^ör/ioig, sondern auch mit (fvoig und O^eöc gleich- gesetzt, aber eine direkte Gleichsetzung des /o'/oc mit jtvq, cler heraklitischen Ursubstanz, aus der alles wird und zu der alles wird, suchen wir in diesem Berichte vergebens. Aber doch nicht ganz ver- gebens, denn der Vergleich des rovc mit der Kohle führt, wenn er folgerichtig zu Ende gedacht wird, schon zm- Lehre voni feurigen Xaturlogos. Diesen haben nun andere Erklärer aus allen möglichen Fragmenten Heraklits herauszulesen oder besser hineinzudeuten ver- seucht. So hat Clemens, wie wir noch hören w^erden, in Fr. 14 das dort vorkommende -r?Q in ).öyog, in Fr. 31 das dort vorkommende Wort
2') Vgl. Anm. 22 und das dazu im Texte Gesagte.
Ein Beitrug zum hcrakliti.sch-pariiK'ni(l. Erkeinitnisj>iol)l<'in. 8;)
;.o;'oj in jti'x) iiiul uiiigokehrt, endlicli in l''r. 28 so<^ar die <)lxij im Sinne von AVeltt'eiier umgedeutet. Unsere neuesten Bearbeiter lehnen diese .Deutungsversuche ah: da sie aber den feurigen JiOgcts nicht auf- gehen können, versuchen sie es mit anderen Fragni.
Slonimsky nenut den feurigen Xaturlogos eine .Jiekannte^' lierakhtische These, die aus mehreren der Fragmente „erhelle"' und in dem Berichte des Sextus „bestätigt" werde. Be- trachten wir die drei Argumente in ■ umgekehrter Reihenfolge. Über den AVert, welcher der „f^estätigung': durch Sextus zu- komme, darf ich wohl schon hinweggehen. Aus welchen Fragm. ..erhellf der Feuerlogos? Slonhnsky meint aus Fr. 64, 30 und 90 und der Erläuterung Hippolyts zu Fr. 64. Heraklit sagt näni- licli: .,i)as Weltall steuert der Blitz (64)", der y.öo/wg ist ein .Tr(> t-f-i:cmr (30), „Umsatz findet wechselweise statt des Alls gegen Feuer und des Feuers gegen das All (90)." Zu Fr. 64 sagt Hippolyt: ,. Unter Blitz verstehe Heraklit das ewige Feuer, er sagt auch: dieses Feuer sei (foth-iiior:' .Daraus schließt Slonimsky, Heraklit habe gelehrt, ,,daß der Logos in feuriger Gestalt durch die ganze Xatur verbreitet isf. Wir sehen also, für Slonhnsky gilt die Gleichsetzung ff {fön tun- = hr/i/Mv als etwas so Selbstverständliches, daß er es nicht ein]nal zu betonen für nötig findet. Wenn er schließlich diese These eine ,, bekannte'' nennt, so verweise ich .auf Aall, welcher den .Tro/.o/o^ eine ,,aus heterogenen Elementen zusammengeschweißte Gedaukenchhnäre" nennt. Gibt es al)er keinen jTV(f-X<r/(iq, dann gibt es auch keinen (fvöiQ-)jr/oa, keinen iH6c,-)Myoc, dann ist es überhaupt mit der kosmologischen Bedeutung des /o/oc vorbei.
Anders verfährt Beinhardt. Er glaubt, daß Paxm. als nächster ^'achfahr Anaximanders in einem Jugendwerke die Entdeckung der Logoserkenntnis verkündet habe, und einige Jahrzehnte später habe H. zu dem Problem des P. Stellung genommen, und da bei diesem die erkenntnistheoretische Bedeutung des Logos feststehe, so sei dieselbe Bedeutung für den heraklitischen Logos gesichert. .Oiese Erkenntnis ist, man nuig über Reinhardts These sonst denken, wie man wolle, um so freudiger zu begrüßen, als, sonderbar genug, dieselben Gelehrten, welche im Gegensatz zu R. die Abhängigkeit des P. von H, als fest- stehend bezeichnen, ol)wohI sie zugeben, daß zwischen den beiden ])enkern in der Sprachtheorie ein Gegensatz bestehe, und obwohl sie annehmen, daß beide gleichzeitig gelebt und gewirkt haben, den ;.fr/OL,-
s
86 • Emainicl Loow, *
bei H. anders deuten wollen als den /.6yoc bei P. J)iese Annahme muß doch unter diesen Umständen endlich als völlig unhaltbar auf- gegeben werden. Leider ist K. auf halbem Wege stehen geblieben. Er hat zwar sogar schon erkannt, daß das heraklitische oo^or etwas vom /.ö'/og Verschiedenes sei, aber er hält anderseits doch noth an der Auffassung, daß Heraklits Xöyoc ^"rrou sei und sich mit (frocg, (fQODjOiQ und ro'oc decke, fest, und so hat er, von einer unrichtigen .Deutung des Fr. 50 ausgehend, den rrrQ-Änyo^-Dtöc wiederentdeckt, diesmal in Fr. 67.
Fr. 50 lautet in der hs. Überlieferung:
ory. litoc, älXa vor iSäyf/arog äxoi Oaj'Tcg oi/oÄoyfh' <'><>(( ar
döyincTog hat Bergk richtig in /o'/or verbessert, obwohl die Ent- stehung dieser Lesart nicht, wie J)iels meint, paläographisch zu er- klären ist aus einer Verwechslung von doy mit Äoy, sondern wohl auf jene Zeit zurückzuführen ist, in der löyog schon die Bedeutung von ddyfia hatte, wie es bei ''lemens Strom. V 104, 1 heißt: Ol D.Xoy i {uÖtutol TOJv ^tcoTxojv doyf/aTiCovrx. Viel ernster ist die Frage, wie es mit dem überlieferten «Mtr«/ steht. J)ieses einfach durch fc/r«/ zu ersetzen, ist schon wegen des OfHföv äußerst bedenlvlich. In den Fragm., wo ootfor vorkommt, ist regelmäßig vom Wissen die Rede, so 32, 41, 56, 108, ebenso 35, wo die g:iÄöo(>(foi er iiuau -ro)Jj~jv UroQtg genannt werden. Vgl. die vita d. Diog. IX 5^6); daher geht es nicht an, ohne weiteres tldtrai durch tlrai zu ersetzen. Ander- seits ruht ein starker Ton auf tr mcrra. Der Satz scheint nach alle- dem den Sinn gehabt zu haben: Man muß zugeben, daß das Weise darin besteht, zu wissen, daß alles eins ist. ITnd zwar muß man das zugeben: ovx Iftor, dlXu tov loyor ir/coioarrac. Das ..Ich" bildet hier den schroffen Gegensatz zinn /o'/oc.
Um diesen Gegensatz zu verstehen, müssen wir die Aus- sprüche heranziehen, in denen das heraklitist^he „Ich'' lu'ivor- gehoben wird. Es sind dies die Fr. 55 und 1: oooj)- owig (\xotj iHiBijoic, rarra lyoj jiQOTipko nach der Übersetzung Slonijnskys: „iVlles, was man durch Sehen und Hören lernen kann, ist dem Philosophen höchst willkommen." Ferner: „Voll-
yfvof^ifi'oc TTurra iyrioxivai' r^^xovüi re O(i'()'fi'oc , ((XX' avrör ff/r} diQiJGuG&ut. xut fiad^iTv Tiäi'ra Ttatt kavxov.
Eil) Britnig zum iK-nkkiitisfh-pariiK'nid. Erkc-iintuispiohk'iu. > (
zieht sich die Entwickhing des Alls y,ara tov h'tyuv xüviS; . so sind die Menschen wie unerfaluen, wenn sie sich versuchen in solchen AVorten und Werken, wie ich (e/fi) sie trennend erörtere, trennend jedes einzelne y.ara (p/o/r.' J)as eine Mal ist also das Ich der öf/v-- y.ic'i r.xo// gleichgesetzt, in Fr. 1 finden wir zwischen doju Ich und dem /.('r/oc denselben Gegensatz wie hier in Fi-. 50. Heraklit jvanii also unniüglich den Xöyoz hier höher werten als sein ,,Icli". Wohl aber werden wir noch hören, daß sogar H., der ärgste Verächter ab- strakten Wissens, den es je gab^'), zugibt, daß mitunter auch die Logoserkenntnis zum Ziele führt, und auch hier wollte H. nichts anderes sagen als: ,,Auch wenn man nicht auf luich, sondern auf den J..ogos hört, soll man zugeben, daß das Weise darin besteht, zu wiesen, daß alles eines ist." .Daß alles Wissen, meint H., nur darin besteht, die Einheit aller Gegensätze zu erkennen, ist so evident, daß man es zugeben sollte, auch -wenn man das Werden des Alls nicht y-ara (fröLV, sondern ycra /o/or erklärt, d. h. ovx Litov, ä).h\ ror /.nyor (cy.ovrxcvrag ! Gegen Reinhardts Übersetzung: „Xicht mir, sondern dem Logos in euch selber müßt ihr recht geben und eingestehen, daß alles eines ist", muß ich 1. einwenden, daß das überlieferte ihSina verloren geht, 2. daß ror /o/o»- nicht heißt „der Logos in euch selber"; denn das müßte ror tr v.i'toi-: i-iiu- h'r/av oder minde- stens rav ^vvov Xoyoc lauten. Vor allem aber spricht gegen diese Erklärung die Tatsache, daß sie den 'eimnal abgetanen .t»~o-/.o-'o-- />£oc wieder einführt und noch dazu durch Fr. 67:
'/.iiioQ, al/Miovrca de öyjoo.'rtQ xvq, orroTccr orififiyfj Ihcuncon'. ovnitäZfraL y.af)^' /)dov/jV lyaOTor.
,,J)aß Heraklits kosmologisches Interesse mit der Erklärung der Wechselerscheinungen erschöpft war, daß alles kosmische Detail ihm mir dazu diente, Sommer und Winter, Tag find Nacht, Gewitter und Kegen als verschiedene Formen eines und desselben Wesens zu be- greifen"', darin hat Reinhardt zweifellos recht, und wir werden hören, daß auch Parmenides seinem Gegner zum Vorwurf macht, Entwick- lungsrummel und Xamenfestsetzung fffrrai und oroiia y.axaTiHeoihuA sei die Summe des durch die Phronesiserkenntnis erworbenen
^') Reinhardt (a. a. 0. S. 213) übersetzt fr. .5.5: „Was man sehen, hören, lernen kann, Symbol und Gleichnis, ziehe ich abstrakter Logik vor."
SS E ni ii und L o e w ,
Wissens. "^^j Aber gerade das ist ja eben für H. der Grund, seinen .'Itoe,- jiiit seinem .Tr(> zu vergleichen. Wenn Feuer mit Räucherwerk ver- mengt wird, so sagt der Mensch nicht, er rieche Feuer, sondern auf Grund seiner Erfahrung durch die Sinneserkenntnis sagt er, er rieche dieses oder jenes Räucherwerk, d- h. das Feuer erhält sein emph-i- sches nroua nach dem Wohlgeruch, Avelches das einzelne Räuchei- werk verbreitet; Parnienides sagt, sie setzten fest ein oroua LTio/ji(or lyMOTfo (Fr. 19). Und ebenso sagt der Mensch, wenn er die einzelnen Xaturerscheinungen wahrnimnit, nicht, er nehme den fhdg wahr, sondern der (heög erliält sein bezeichnendes empirisches oroi/xc nach der Form, in die er sich wandelt: Tag, Nacht, Winter, Sommer, lü'ieg, Frieden. Überfluß, Hunger. Wo ist hier auch nur eine Spur voju /.(r/oj? Ganz im Gegenteil, gerade das bei H. dem /jr/og strikt ent- gegengesetzte empirische ö'ro//« ist es, mit dem die verschiedenen Formen benannt werden, in denen ein und dasselbe Wesen, f^tog oder (frr,/^ benannt, wahrgenommen wird: (ly.oümtj xvq, ojtorar <'>i'uuiyij Ur<')ttaC)(}\'^^)
Um nun Heraklits Sprachtheorie zu verstehen, müssen wir uns seine Auffassung vom Verhältnis des Menschen zum Kosmos klar- juaclreii, wobei sich zeigen wird, daß mit dieser seiner Auffassung auch seine einseitige Stellungsnahme zum Erkenntnisproblem in ur- sächlichem Zusammenhange steht.
Wie alles in der (fi-oig, entwickeln sich auch Götter und Menschen aus dem .tTv* cf^örii/or und haben daher auch Anteil an der allen gemeinsamen (f^oviinig (HÖj. .Den xöotiog hat weder einer der (rötter noch einer der Menschen „gemacht'-, sondern er bestand 'mmer und besteht und wird bestehen als ewig lebendes Feuer (30) und aus diesem stammen Götter wie Menschen. Unsterbliche sind sterblich. Sterbliche unsterblich (62j und der Krieg ist es, der die einen als
-^) Vgl. das zu fr. 19 des Pann. Gesagte.
-«) fr. 7 Her.: „Würden alle Dinge zu Rauch, so würde man sie mit der Xase auseinander kennen." Herbertz (S. 72) findet in diesen Worten eine olfaktorische Natur auf fassung. Reinhardt bemerkt zu diesem fr. (8. 180 Anm. 2): ,,In aller stofflichen V^ersehiedenheit der Dinge steckt eine ver- borgene Einheit; gesetzt, es würden alle Dinge zu Rauch, so sähen wir mit anseren Augen eine Einheit, und doch würde die Xase noch zwischen den (Gerüchen unterscheiden; nun ist aber zwischen dem Geruchsinne und di'n übiigen Simien kein Unterschied."
Kill ßt'itnig /Min lu r.kklitis(li-])u-nuuiid. KiUrnntiiisiiol^Iciji. S9
(rötter, die anderen als Menschen erscheinen läßt (ö3). In der Ver- ehrunj^ der im Kriege Gefallenen betätigen sich Götter ebenso wie ^[enschen (24). ])er Mensch, ein sterblicher Gott, besitzt göttliche Weisheit und ist mit dem Kosmos aufs innigste verbunden, fn seinem Innern erlebt der Mensch die Natur {SS, 119), und wenn er sich selbst durchforscht (101). so wird ihn die Struktur^) seines eigenen Or- ganismus zum Verständnis der Harmonie im Kosmos führen.
Entsprechend der J)reizahl der Elenu^ntarstufen (Feuer, Wasser, Erde), vielleicht auch der dreifachen Tätigkeit beim Atmungspiozesse (Einatmen, Verarbeiten des Eingeatmeten, Ausatmen vgl. den Be- richt bei Sextus) bekundet der ^lensch seine Verwandtschaft mit dem Kosmos in einer cheifachen geistigen Fähigkeit: ]. der Fähigkeit, das x\ußere wahi-zunehmen, 2. das Wahrgenommene zu verarbeiten. 3. sich über das hmerUch Verarbeitete zu äußern. Die erste der Fähig- keiten bekundet der Mensch durch seine Siimesorgaiu', die innere Verarbeitung und Sammlung der dm-ch die Sinnesorgane vermittelten Sinneseindrücke erfolgt durch (fQ//)' und roo.-. das autojuatisch funktionierende Zentralorgan aller A\'ahrnehmungen, die Äidjerung über das innerlich Verarbeitete erfolgt durch die Sprache, die, hervor- gegangen aus dem Erfahrbarwirklichen im Alltagsleben, den Menschen ebenso gememsam ist wie die (fQÖvijOu. Das sind die hQycc des instinktiv tätigen mensclüichen Geistes^i), der Betätigung dieser drei innerlich miteinander aufs engste zusammenhängenden Fähigkeiten kann sich daher keui Mensch völlig entziehen. Sowie alles, was da kreucht, mit Gottes Geißel zur Weide getrieben wird (11), sowie die Sibylle, von Gott getrieben, Ungelachtes, Ungeschminktes. Ungc- salbtcs (also durchaus Natürliches) verkündet (92), so muß auch der ^ilensch, wenn er wach ist, wodurch allein er schon seine Gemein- schaft mit dem Kosmos betätigt, walu-nehmen. Wahrgenommenes verarbeiten {(ff^torelv) und sich darüber äußern {el-tüv, or<>(ii'Zttr). .Darin besteht eben die göttliche Weisheit, die der Mensch besitzt und die er durch die Walu-nehniung der Xatur, der Gottheit bekundet.
Jetzt begreifen wir erst, wie H. dazu kam, durch die ovÖiicth die allem innewohnende (fvoiz zum Ausdruck zu bringen.. ]\iit dejii.
•^0) Daß „struktur" die ursprüiigliclie B cltutung von do^iovii] ist. haben Bernays und Burnet gezeigt.
■'^) Gegen dieüe Auffassmig wendet sich Parmenides. \'gl. weiter unten.
*>0 Emaniiel Loew.
omni'., '^l''^ die Menschen einem Dinge beilegen, bringen sie nämlich eine Erfahi-ung zum Ausdruck, die sie gemeinsam an dem J)inge er- lebt haben, daher oroiia ßiog (48), oroffa Zrjrog [g/yr/] (32). Dasselbe Verhältnis liegt den rö/foi zugrunde, wenn H. sagt: T^ttcfoPtcu ya() <n th'i)xK')Jitioi rojioi vjto kvog rof ihsiov, d. h. die menschhchen röfjot erhalten ihre Nahrung und damit ihre Kraft, ihre Geltung von der tfvöig = (pQorrjOig (Fr. 114), sie stammen aus der allen gemeinsamen Erfahrung. Und ebenso stolz wie auf die ov6(uaa ist H. auf seine L7T£(c y.ai t(r/a xard (fvoLv (1) und spricht mit Gering- schätzung von denen, die des dxovaai. des (fgorür, des tijnir nicht mächtig sind.^^) (Schluß folgt.)
32
"^) Vgl. das zu fr. 107 Oiesagte, S. 79 dieser Abhdlg.
VI.
Vedantismus und Unsterblichkeit.
Von Prof. Dr. Paul Schwarzkopff, Weniigerode.
Wir leben in einer Zeit, die, wie keine zweite in der Welt- geschichte, rings vom Tode umgeben ist. Diese Tatsache zwingt uns mit unvergleichlicher Wucht die Frage nach der Unsterblichkeit auf. Deshalb schaut der weiter Blickende nach einer Antwort aus. wo immer sie zu finden ist. Und zwar nicht bloß in solchen Ge- danken und Vorstellungen, wie sie uns unsere Umgebung unmittel- bar entgegenbringt.
Wir fragen vielmehr auch die Denker und Weisen der Vorzeit nach den Aussichten, die sich ihnen in ein Jenseits eröffnen. Da ist es besonders lehrreich, was die Inder jenseits des Grabes erwarten. Vor allem, weil uns hier so manche Lichter aufgehen, die uns West- ländern zwar an sich fern liegen, dennoch aber zugleich den Ein- druck erwecken, daß auch dort echt menschlichen Gefühlen echt göttliche Ahnungen zuteil werden.
Doch wollen wir das Ergebnis nicht durch Vorurteile vorweg- nehmen. Wir werden vielmehr ihre heiligen Bücher selbst befragen. Sollten sie auch des Rätsels letzte Lösung nicht geben, so sind sie doch wert, daß suchende Menschen auch aus ihren Quellen schöpfen. Ja auch gerade die Fehler ihrer Gmndanschauung werden uns, wie sich zeigen wird, verwandtschaftlich berühren, so daß sich hier für die gemeinsamen Schäden Asiens und Europas auch nur das gleiche Heilmittel wird finden lassen.
Es handelt sich um jene eigentümliche Weltansicht, welche die alten Inder, etwa vom 15. Jahrhundert vor Chr. an^ durch fort- schreitende Ausdeutung ihrer „Veden" entwickelten. Eine Prägung. wie sie ursprünglich nicht dem Geiste ihrer Priester, der Brahmanen,
92 P a u 1 S c h w a r t z k 0 p f f ,
entsprant^, vielmehr ihnen zum Trotz, aus dem freieren Gesichtskreise der Kriegerkaste hervor wuchs. Man nennt sie „V e d a n t i s m u s". Denn sie stellt das Veda-Ende (vedänta), sozusagen, die letzte, reifste Frucht des Vedateumes dar. Sie ist in philosophischen Er- örterungen, in den s. g. „upanishad's", d. h. „Qeheimsitzungen", „Qe- heirnlehren", niedergelegt. Um ihre Erforschung haben sich in neu- ster Zeit vor allem Deussen und Oldenburg Verdienste erworben. (Anm. Wir richten uns durchweg nach den ..60 Upanishads des Veda" vom P. Deussen. Leipzig, Brockhaus. 1897.)
Der Vedantismus begründet zum ersten Male in der Geschichte der Philosophie die „Unsterblichkeit" mit religiösen Mitteln. Er führt seine Grundgedanken schlicht, anschaulich, geistvoll und geschlossen durch. Freilich mit rücksichtsloser Einseitigkeit.
Ein energisches Streben nach Einheitlichkeit, das teilweise in lo- gischen, vor allem aber in religiösen Beweggründen seine Trieb- kraft hatte, ließ, im Vedantismus, aus dem früheren Polytheismus nach und nach einen Pantheismus entstehen, dessen Wege nicht fern vom Theismus, d. h. von der Annahme einer persönlichen Gottheit, verlaufen. Ja sie rücken ihr, z. B. in der Erscheinung des „ishvara", als des Weltherrn und Schöpfers, zeitweise recht nahe. Gerade, weil diese Auffassung der Gottheit von der Wahrheit des Pantheismus durchdrungen ist. zeigt sie sich teilweise innerlicher, und insofern lebensvoller, als jener Theismus, der Gott zwar als Urheber der Welt kennt, ihn aber als Weltlenker nicht viel besser als der s. g. „Deismus" würdigt. Dieser läßt Gott auf den Weltlauf, seit der Schöpfung, nur mittelbar, durch die der Natin- eingeschaffenen Ge- setze, einwirken. Aber auch gegenüber jener Art von Theismus drohen die Naturgesetze eigenmächtig zu werden, da er ebenfalls ein festes Verhältnis zwischen ihnen und der Gottheit nicht zu gewinnen weiß.
Hingegen ist der Vedantismus bereits auf den „P a n e n t h e i s - mus" gerichtet, der allein folgerichtig die Innerlichkeit Gottes mit seiner Überweltlichkeit vereinigt, daher berufen ist, die Qottesan- schauung der Zukunft zu bilden. (Anm. Freilich pflegt sein Name neuerdings mißbraucht zu werden. Eine Auffassung, die Welt und Gott gleichsetzt, verdient nicht so zu heißen. Das ist Pantheism-us. Vielmehr nur diejenige, die alle Dinge in Gott und Gott in allen Dingen weiß.)
Vedantismius iitvd Unsterblichkeit. O;)
Der Vedantismus erkennt den Urgrund des Alls, nicht bloß, wie etwa die Stoiker, in der Welt s e c 1 e, vielmehr im Welt g e i s t lind sieht ihn als das einzig wahrhaft Seiende an. Damit hält er sich fern von der Oberflächlichkeit derer, die die Selbständigkeit des Inneren der Welt und des Menschen auch heute noch verkennen. Er stellt vielmehr das einheitliche schöpferische Prinzip alles Leibens in das ihm zukommende Licht.
„Wie der Ozean Einigungspunkt aller Gewässer ist, so ist der Einigungspunkt aller Empfindungen, überhaupt aller Organe", der ..ganz aus Erkenntnis bestehende Geist" (vijnänamaya purusha; Brihadäranyaka Upanischad 2, 1, 4. 17. 4, 3, 7. Kathaka Up. 4, 3).
Zugleich nimmt er dem Schöpfungsbegrifi seine einseitige Über- weltlichkeit, die den Zusammenhang zwischen dem Wesen Gottes und der Welt, wenn nicht aufhebt, so doch nicht zu vermitteln weiß. So fragt die Chandcgya Up. 6, 2, 2. mit Recht: „Wie könnte denn aus NichtSeiendem das Seiende geboren werden?"
Nicht bloß durch den göttlichen Willen, vielmehr aus dem gött- lichen Wesen muß daher die Welt entstanden sein. Denn ,.Zu Anfang war nur eines, das ßrahman. ohne ein Zweites (Brih. 1. 4. Chandog. 6, 2, 2. Nrisinha Up. tap. 9). Aber es beabsichtigte vieles zu sein und ließ daher Lebenselemente aus sich hervorgehen (Chan- dog. 6, 2, 3 ff.).
In der Tat: Nur aus dem Wesen des AU-einen kann, das vjiel- heitliche Weltall seinen Ursprung haben. Die wahre Schöpfung kann nur in einer Selbstindividualisierung des göttlichen Wesens bestehen.
So regiert denn die Gottheit, als „innerer Lenker" (antaryämin) alle Naturerscheinungen, Wesen und Organe, als seinen Leib, indem er dennoch zugleich von ihnen allen unterschieden bleibt (Brih. 3. 7, 4 — 23. Man beachte hier den panentheistischen Zug!). Gleichwie die Spinne durch den Faden aus sich herausgeht; wie aus dem Fener die winzigen Fünklein entspringen; aus dem Samen die Pflanzen: also auch entspringen aus diesem „ätman" (d. h. „Selbst", in dem Sinne des Weltselbstes oder „Welt-Ichs") alle Lebensgeister, alle Welten, alle Götter, alle Wesen (Vergl. Maltrey. Up. 6. 30. 31 ff.). Sein Qeheimname ist: „Die Wahrheit der Wahr- heit" (als „Wirklichkeit"; satyasya satyam. Brih. 2, 3, 6). „Näm- lich die Lebensgeister sind die Wirklichkeit und er ist ihre Wahr- heit" (Brih. 2, 1, 20. Deussen übersetzt „Realität der Realität").
Arzhiv für Gaschichte der Philosophie. XXXI, 2. 7
94 . F a II 1 S c h \v a r t z k 0 p f f ,
So entspringt aus der Gottheit die Mannigfaltigkeit der Geschöpfe. Wie ein SalzkUunpen sich im Wasser derart auflöst, daß er selbst zu verschwinden scheint und dennoch jedes Teilchen des Wassers durchdringt und salzig macht, dadurch also seine Gegenwart wirk- sam bezeugt, so durchdringt das all-eine Brahman das gesamte Welt- all (Chand. 6. 12). In diesem Sinne ist das Weltall im Grunde: brahman, (als die personifizierte Macht des Gebetes ursprünglich gedacht). „Das ist wahrlich das" (tad vai tad. Brih. 5, 4. Kä- thak. 4, 6).
Aber freilich ist das Unsterbliche (amritani) auf diese Weise auch in der Wirklichkeit verhüllt (satyena channam) und unsichtbar (Brih. i, 6, 3). Dennoch bleibt das brahman Urheber des Alls und als solcher von ihm verschieden, wie wir schon sahen (Brih. 3, 7, 4 ff.). „Mit ihm, dem brahman, ist es, wie wenn eine Trommel gerührt wird, man die Töne draußen nicht greifen kann. Hat man aber die Trommel gegriffen, oder auch den Trommelschläger, so hat man auch den Ton gegriffen" (Brih, 4, 5, 8. 2, 4, 7). Hierin liegt deutlich die Bedingtheit der Welt durch den Weltgeist ausgedrückt.
Zugleich aber auch der Lebensorgane durch die Seele. Auf diesen innigen Zusammenhang des Weltgeistes mit der Seele deutet die weitere Ausführung der vedantistischen Anschauung in bewun- dernswerter Weise hin. Das kleine Selbst wird dem ätman, dem großen Selbste der Welt, als eine Art Ebenbild und Abbild, gegen- übergestellt. Die indischen Denker fühlten mit sicherem philosophi- schen Instinkte, daß die Seele des Menschen nicht bloß alle Vor- stellungen, sondern auch alle Wahrnehmungen trägt und gestaltet; daß daher auch die Beschaffenheit des anschauenden Subjekts die Art bedingt, wie es die Welt ansieht. Es ist erstaunlich, wie jene Weisen, bei ihrer mangelhaften Kenntnis der Seele im einzelnen, dennoch, aus ihrer großen Gesamtanschauung heraus, deren Stellung zum Ganzen der Welt so richtig emschätzten, wie es kaum dem so viel späteren deutschen Idealismus gelungen ist. Erkennen sie doch nicht bloß in den mittelbaren „Vorstellungen", wie die Erinnerung sie etwa hervorbringt, sondern selbst schon in den u n mittelbaren, den „Empfindungen" oder den „Wahrnehmungen", mittelst deren wir der Außenwelt inne werden, eigene Erzeugnisse der Seele. Das zeugt von einer außerordentlichen Tiefe des Denkens.
Sie konnten auf diesen Fund, bei der damaligen Rückständigkeit
Vedantismiis und Unsterblichkeit. 9o.
der Seelenlehre, kaum anders kommen, als durch eine Beobachtung (i^v Träume, mit denen sie sich augenscheinlich beschäftigten (Brih. 2, 1. 18. Hauptstelle 4, 3, 9—14. Vgl. noch bei Deussen a. a. O. S. 18, 55, 198, 410, 467 f. 568, 573, 578, 583, 623). So bemerkt man, daß die Seele im Traum selbstmächtig über die Erzeugung und Ver- knüpfung von Vorstellungen verfügt. Und zwar in einer Qestaltungs- art, die dem Wahrnehmen der wachen Seele bis zur Täuschung gleicht. Wenigstens für den Träumenden. Faßt dieser doch die Gegenstände seiner Traumerlebnisse, mindestens solange er träumt, als äußere Wirklichkeit auf. Im Verfolge dieses Weges fand man, daß der Seele überhaupt, daher auch im Wachen, die Fähigkeit eignet, Gestalten und Bilder von Erlebnisgepräge hervorzubringen.
Dem entsprechend faßte man dann den Weltgrund als die große Weliseele auf, welche Inhalt und Form der Welt aus sich selbst schöpft und schafft, allem das Leben gibt und alles durchdringt und erhält (Brih. 4, 3, 10). So erkannte man als innersten Kern, wie der Außenwelt, so der Menschenseele, die Gottheit selbst. Man begrün- dete, auf psychologischem Wege, ursprünglicher und tiefer, reicher und anschaulicher als der Westen, die Wahrheit, die der spekulative Heidenapostel in jenem Ausspruch des griechischen Dichters Aratus (in dessen Phaenomena) fand: „Wir sind seines Geschlechts".
In Übereinstimmung hiermit gibt es demnach für die indische Philosophie nur eines, was sieht, hört, empfindet, denkt, erkennt. Nämlich das „Selbst" der Welt, das in dem „brahman" verehrt wird. „Aus Denken bestehend und lunwandelbar, ist er der Wahrneh- mer lllerwärts" (Nrisinha-Uttara-Tapäniya Up. 9. Vgl. auch die an- geführte Stelle Käth. Up. 4, 3).
„Außer ihm gibt es kein Erkennendes" (Brih. 3, 8, 11). Dieser Welt-atman tritt so, in den Anfängen der Veda-philosophie auch wohl, aber schon mehr symbolisch (als ein „pratikam"), uns in polytheistischer Form entgegen. Z.B. als agnivaishavänara oder als prajäpati (Brih. 5, 9, 3).
Von dieser richtigen Bahn werden die Vedadenker dann freilich auf Pfade abgelenkt, die wir wohl verstehen und würdigen, aber nicht mit ihnen betreten. Indem der Apostel Paulus seine innigste Verbin- dung mit Christus ausdrücken will, sagt er einmal: „Nun aber lebe nicht ich, sondern Christus lebet in mir". Dürften wir ihn genau beim Worte nehmen, so würde das eine gänzliche Aufhebung seiner
7*
96 P a u 1 S c h w a r t z k 0 p f f ,
Individualität und eine Auflösung derselben im Leben Christi bedeu- ten; also eine metaphysische VereinerleiunK statt einer ethischen Vereinigung. Die christliche Kirchenlehre bezeichnet das als „unio mystica". Eine solche schwebt z. B. Angelus Silesius \'or. wenn er sagt:
„Ich weiß, daß ohne mich Gott nicht ein Nu kann leben. Werd ich zuniüht, er muß vor Not den Geist aufgeben."
Diese völlig gleiche Bedingtheit des einen durch das andere: der Menschenseele durch Gott und Gottes durch die Menschenseele, ist hier fast nur noch ein bildlicher Ausdruck für die volle Wesenseinheit beider Seiten. Zu einem derartigen Aufgehen des Einzelnen im brahman findet nun bahnbrechend zuerst der indische Philosoph Phantasie und Mut.
Wie das Weltich mittelst seiner Einsenkung in die Lebensei c- mente, in die Materie (mäträ), zu vereinzelten individuellen Seelen wird (Chand. 6. 13. Nrisinh. 9. Vgl. Deussen, a.a.O. S. 485. Anm.). so kehrt es mit dem Tode, aus dieser Verkörperung, in seinen früheren, freien Zustand, als das All-Eine zurück (Brih. 1, 2, 7. 4. 3. 21 — 37. Nrisin. 9). Damit löst sich also das Einzelwesen wieder in das Gesamtleben des Weltalls oder der Gottheit auf. „Der ä-tman allein ist das Höchste, und er ist auch alles Vorhandene". Nur durch die maya (Täuschung, Schein) ist gleichsam ein anderes. „Die ganze Weh aber ist Nicht-wissen, ist jene maya" (Nris. 9). So auch die individuelle Welt, der „jiva ätman" oder jiva (Chand. 6, 3, 2. 6, 11, 1. Nris. 9). Das Selbst des Weltalls ist auch das wahre Seihst der Menschenseele. Eine ähnliche Auffassung, wenn auch auf einge- schränkterem Gebiet, findet sich immerhin auch bei einem christ- lichen Theologen des 4. Jahrhunderts. Apollinaris setzt den gött- lichen „Logos" an die Stelle des, fehlenden, menschlichen Geistes Christi. Er wollte damit begründen, daß der Heiland zwar Mensch. aber dennoch zugleich Gott sei. Unter demselben Gesichtspunkt sahen die Inder das Verhältnis der Gottheit zur Menschheit überhaupt, wenn sie die menschliche, individuelle Seele durch den göttlichen „ätman" ersetzten.
Doch gehen sie insofern noch weiter, als sie, wie wir sahen, die Individualität überhaupt für bloßen Schein nahmen; an dessen Stelle mit dem Tode wieder die Wahrheit tritt. Gleichartig dachten in- dessen die Gnostiker des 2. Jahrhunderts n. Chr.. Denn sie lehrten.
Vedantismus und Unsterblichkeit. 97
daß Christus, der vollkommenste von allen Geistern („Aeonen"), welche der Gottheit entströmten, einen Schein leib angenommen habe, um die Menschen zu erlösen, und sich von ihm erst mit dem Tode wiederum trenne. So erhielt diese Richtung ihren Namen „Doketen" von dem griechischen Verbum „dokein" (scheinen).
Freilich ist nicht zu erwarten, daß die Inder ihrerseits fähig ge- wesen wären, den Gedanken der bloß scheinbaren Indmduali- tät der Menschcnseele ganz folgerichtig festzuhalten. Selbstwider- sprüche waren hier nahezu unvermeidlich. So, wenn ihnen der atnian in seiner Körperhülle als wirklich eingeschränkt und gebunden erscheint (Brih. 3, 2, 2—9. Vgl. Maitreya Up. 6, 30 ff.). Fesseln, von denen erst der Tod den erlöst, der sich als eins mit dem brahman erkannt hat. Aber ein Körper, der tatsächlich den irdischen Menschen durch UnVollkommenheit, Leid und Sünde fesselt, kann nicht ein bloßer Scheinleib sein. Anderseits kann der also Verkörperte nicht mit dem brahman zusammenfallen, das, seinem Wesen nach, völlig frei, ungebunden, furchtlos und leidlos ist (Brih. 4, 3. 21 — 33. Vgl. 2, 1. 19. Nris. 8).
Was aus einer solchen Grundansicht für die Unsterblich- keit des Menschen folgt, ergibt sich nun von selbst. Die Gottheit, als solche, ist unsterblich (amritam), wie sie allmächtig und selig ist. Daher auch die individuelle Seele. Sie geht mit dem Tode in ihre Wahrheit, zu dem Weltätman, zurück, oder „heim"; wie auch die hider so schön sagen. Und zwar: „ohne Wiederkehr" (ins irdische Leben). Allerdings trifft das gefürchtete Los, auf die Erde zurückzukehren, die „unerlöste" Seele. (Brih. 4, 15, 5. Chand. 8, 15). Schärfer: Sobald sich der Mensch, im Sterben, ja noch bei Lebzeiten, als brahman erkennt, so i s t er eben brahman (Brih. 4, 4, 14 — 18. Chand. 3, 14, 4.). Im Grunde ist er dies eben überhaupt.
Auf keinen Gedanken legt der Vendantismus mehr Gewicht, als auf diese innere Einheit und Gleichheit der Einzelseele mit der Weltseele. „Ich bin brahman" (aham brahma asmi); „Ich bin das Weltall"; „Ihr seid brahman"; „Möchte ich zum All werden!"; ..Wir, deren Seele diese Welt ist"; „Ich bin er (der Weltätman) und er ist Ich"; „Das bist du" (tat tvam asi);
„Ihn weiß als meine Seele ich. Unsterblich, den Unsterblichen" — alles dies sind Aussprüche der Upanishads, die von verschiedenen Seiten dieselbe
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Wahrheit uiiipräiien: Die Wesensgleichheit, ja-Einheit der Einzelseele mit der Weltseele.
Jene kann deshalb kein anderes höchstes Ziel haben, als eins zu sein mit dem Weltall, mit brahman (Brih. 4, 4, 13. 15. 17. 4. 5. 7. Chand. 2, 21. 4. 7, 25 1 ff. 6, 11, 3. Brih. 4, 4, 22. Chand. 6, 19, 3. 11, 3. 12. 3. U, 3. 14, 3. 15, 3. 16. 3. Brih. 6, 4, 25. Chand. 5, 2, 6. Brih. 4. 4, 17).
So gewiß also, wie das Unsterbliche nicht sterben kann, so ge- wiß ist dem Vedantisten die Unsterblichkeit seiner Seele. Stirbt doch auch nicht das Leben selber, sondern der Leib, der vom Leben ver- lassen wird (Chand. 6, 11, 3). Die Seele jedoch als solche, d. h. als atman, ist ewiges Leben.
Hier liegt ein Vorzug des Vedantismus vor dem Buddhismus, dem die eigentliche Gottheit verloren ging. Damit aber büßte er auch die Unsterblichkeit der Seele ein und hatte schwerlich das Recht, das er sich nahm, sie ins Nirväna zu retten. Denn die Un- sterblichkeit kann eben zuletzt, wie es auch der Vedantismus tut. mir religiös begründet werden. Es fragt sich bloß, ob diese seine Be- gründung wirklich zureicht.
Aber auch die heutige Anschauung so vieler, die weder von Gott noch Seele wissen, erscheint dem Vedantismus gegenüber arm. Es ist hier lehrreich zu beachten, wie diejenigen Weltanschauungen, die das Dasein Gottes leugnen oder anzweifeln, auch das Dasein einer (selbständigen) Seele nicht zugeben. Mit einer substantiellen Ein- heit der Welt fällt erst recht die substantielle Einheit der Lebe- wesen dahin; mit der Qeistigkeit des Weltinneren folgerichtig auch die Qeistigkeit des menschlichen Innern. So sinkt der Buddhismus, der sich gegenüber dem Dasein der Gottheit skeptisch verhält, in be- zug auf Entstehung, Beschaffenheit und Ende der Einzelseelen fast in den Materialismus zurück; so sehr er in sittlicher Hinsicht einen ausgeprägten Idealismus bekundet.
Der Fehler des Vedantismus freilich besteht eben in der Qleich- setzung des Einzelich mit dem Weltich, also, sozusagen, in einem: „Ego the i sm us". Und wenn man nun bedenkt, daß auf dieser Voraussetzung die ganze Unsterblichkeitslehre des Veda ruht, so wird die Triftigkeit derselben zugleich mit der Stichhaltigkeit jener hinfällig. Das Gleichsetzen des Einzelichs mit dem Weltich hat
Vedantismus und Unsterblichkeit. 99
aber zuletzt darin seinen Grund, daß überhaupt zwischen Eiiizel- lebcn und Qesamtleben nicht hinreichend unterschieden wird.
Und doch springt der tatsäcliliche Unterschied beider jedem nüchtern Denkenden in die Auffen. Der Inder scheut sich nicht zu sagen: „Ich bin das Weltall". Aber ich bin doch in Wirklichkeit bloß ein kleiner Bestandteil oder Faktor desselben! Und zugleich bin ich. als dessen Erzeugnis, durch es bedingt und beschränkt.
Zu der Verkennung dieses Tatbestandes haben vor allem zwei Dinge beigetragen. Einerseits eine im Lauf der Geschichte einge- tretene Erschlaffung des indischem Volkscharakters; wofür es ver- schiedene Ursachen gibt die uns hier nicht näher angehen. Die ak- tiveren Menschen und Völker stellen sich mit beiden Füßen auf den Boden der Wirklichkeit und werden gerade durch harte Berührung mit ihr gestählt und durch die Ueberwindung praktischer Schwierig- keiten tatkräftiger und tatfreudiger. Dagegen geraten die weniger aktiven, zumal wenn sie mehr für innerliches Sinnen veranlagt sind und kampfunlustig werden, in die Gefahr, vielleicht geniale, aber un- praktische Träumer zu werden. Dann „verkennen sie die Welt und sich" selbst, unterschätzen die äußere Wirklichkeit gegenüber dem inneren Leben und sehen erstere unter einem schiefen Gesichts- winkel.
Der Nachdruck, den die Inder auf die innere Einheitlichkeit leg- ten, verführte sie anderseits dazu, diese Einheit gleichsam in eine ..E i n s heit" zu verkehren. Sie setzten den inneren Kern von Welt und Mensch, die Weltseele und die Menschenseele, nicht bloß als gleichartig, sondern, auch der Zahl nach, als eins. Infolgedessen schlössen sie von dieser Art mathematischer Eins auch alle Vielheit aus. während doch jede lebendige Einheit vielmehr eine Mannig- faltigkeit einschließt. So verschlang die Gottheit jede, mehr als scheinbare Vielheit auch der Individuen.
Die Vielheit der einzelnen Seelen war nur ein Schein, dem das eine brahman eine Zeitlang unterlag. Im Grunde fielen sie alle mit dem Weltatman zusammen. So behielten sie nicht einmal als beson- dere Momente im Gehalt der Gottheit eine Wahrheit. (Übrigens im Widerspruch zu Chand. 6, 2, 3 ff.). Diese entschiedene Feindschaft der Inder gegen alle Vielheit, wie sie sich ähnlich bei den Griechen, in der Philosophie des Parmenides, zeigt, atmen auch jene berühmten Verse des Veda:
100 Paul Schwartzkopff,
„Im Qeiste sollen merken sie: Nicht ist hier Vielheit irgendwie. Von Tod zu Tode wird verstrickt, Wer eine Vielheit hier erblickt."
(Brih, 4, 4, 19. vergl. auch Kh. 20.).
Zu solcher strengen Absperrung der Vielheit von der Gottheit trug augenscheinlich bei, daß die vielen Einzelheiten von Welt und Leben wechseln, sich ändern, vergehen. So suchte man das Unver- gängliche im Allgemeinen. Um so mehr, als auch die einheitliche (jeisteskraft des Menschen die vielgestaltige Erscheinung der Welt hervorrief.
Und wie soll man auch von den alten Indern erwarten, was unsere Überidealisten auch heute noch nicht leisten, nämlich: in den Wahrnehmungen eine wirkliche Vielheit von Dingen zu finden; selbst dann, wenn man sie nicht vorstellt! So stimmt hier das indische Weltbild mit Konsequenzen der Kantischen Anschauung zusammen. Besonders mit solchen, die Kant abgelehnt hat, weil sein unverfälsch- tes Gefühl für das Wirkliche seinem Scharfsinn noch überlegen war. Seine Epigonen haben dann ohne Scheu auch die äußersten Konse- qnenzen gezogen. Denn die Schüler pflegen nicht danach zu fragen, was der Meister will ; ist doch sein innerster Beweggrund ihnen fremd. Sie folgen vielmehr seinem Wege dorthin, wohin er tat- sächlich führt; auch wo er selbst sich scheute, weiter zu gehen.
Immerhin schien gerade dadurch, daß die individuelle Seele mit dorn Weltich zusammenfiel, deren Unsterblichkeit aufs sicherste ver- bürgt. Nur schade, daß diese damit zugleich jeden Wert für den Menschen einbüßte! Denn, was bei der Grundanschauung vom Weltich im höchsten Maße auffallen muß: es galt trotz alledem für unbewußt! Damit fiel also natürlich auch das Bewußtsein der unsterblichen Seele hinweg. Diese Tatsache erklärt sich wiederum allein aus der starren „Einsheit" des Alleinen. Das Bewußtsein des Menschen enthält nämlich eine Z w e i h e i t in sich. Denn es gehört dazu nicht allein der Erkennende, sondern auch das zu er- kennende Ding, das jenem als vorgestellter Gegenstand entgegen- tritt. Insofern sich nun dieses Bewußtsein durchweg in den Formen des Gegensatzes von Subjekt und Objekt bewegt, schien es eine Schranke zu enthalten. Eine solche aber konnte man dem brah-
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man nicht zusprechen. Deshalb erkannte man ihm, und damit auch der vollendeten Seele, das Bewußtsein ab.
Weil ihm gegenüber keine Zweiheit bestehen kann, sondern „alles zu seinem Selbst geworden ist, wie sollte er da irgendwen sehen, hören . . . erkennen? .... Wie sollte einer doch den Erkenner crkenen"? (Brih. 4. 5. 15)? Dcussen legt das so aus: Der Erkenner ist unvergänglich .... erkennt aber dennoch nach dem Tode nicht mehr, „weil keine Berührung desselben mit der Materie mehr statt- findet". (Seine feinsinnige Konjektur löst nämlich den Zusatz der Madhyan-dinas: Maträsamsargas tu asyabavati" indem er den Erklärer Dvideganga verbessert, auf in: mäträ-asamsargas a. a. O. S. 485. Schluß der Anm. Brih. 2, 4. Chaud. 6, 15, 2.) Die Folge: Unbewußtheit des Menschen nach dem Tode, ist dann unausweich- lichlich. Und doch nimmt daran sogar Maitreyi, die Gattin des weisen Yäjnavalkya, Anstoß.
Doch enthielt für diesen das Unbe wußtsein offenbar keine unbe- dingte Bewußtlosigkeit. Sollte brahman doch anderseits der einzige Empfindende, Denkende, Erkennende, Wollende sein; ja er allein in allen Menschen denken und erkennen. Also der Denker bleibt, ob auch das Gedachte verschwindet. „Denn für den Erkennenden ist keine Unterbrechung des Erkennens, weil er unvergänglich ist. Aber es ist kein Zweites außer ihm, kein andres, von ihm Verschiedenes, das er erkennen könnte." (Brih. 4, 3. 30. Vergl. Kh. 23-M.
Indessen liegt hierin dennoch ein schreiender Widerspruch. Dieser wird auch dadurch nicht beseitigt, daß er an demselben Orte einfach hingestellt wird, mit den Worten: „Wenn er dann nicht er- kennt, so ist er doch erkennend, obschon er nicht erkennt."
Und doch muß einem System, wonach brahman grundsätzlich alles in allem, die Seele der Seelen, und vor allem: der Denker alles Denkens ist, weit mehr dessen Allesdenken, als seine angeb- liche Unbewußtheit, am Herzen liegen. So findet sich denn auch ein Ausweg: der freilich, wenn man wirklich an der Unbewußtheit der Seele nach dem Tode festhält, dem Selbstwiderspruch verfällt. Hiernach ist „sein Erkennen . . . cbjektlos, ist hinewerdung" („a n u - b h a V a", Nris. Ut. 9), ist vielmehr die „h ö c h s t e Erkenntnis". „Kein Nichtwissen ist möglich in dem durch hinewerdung erkannten ätman". Auch Deußen beschreibt diesen Zustand als „das Bewußtsein, alles zu sein". Hierzu geht der Mensch im Tiefschlaf über. Der verdiente
102 Fan 1 Seh wa r tz k opf f ,
Gelehrte ist vorsichtig genug, dem brahman ausdrücklich nur „empirische s" Bewußtsein „abzuerkennen". (S. 416).
So ließ wohl auch jener berühmte Grübler, als echter Philosoph, sein unmittelbares Gefühl nicht von seinem einseitigen Vernünfteln überwinden. Er schrieb dem brahman im Stillen vielmehr ein wirk- liches Bewußtsein, aber ein höheres, übermenschliches, zu. Schon die vollkommene Seligkeit des vollkommenen brahman setzt dies voraus (Brih. 4, 3, 21 f. 22 f. 32. 33. Brih. 2, 1, 19. Nris. 9). Denn wie sollte es ohne Bewußtsein die unbeschreiblich hohe Wonne ge- nießen, die ihm zugesprochen wird!
Suchen wir nun noch kurz den Grund dafür zu verstehen, warum man den einzig Denkenden und Erkennenden (Käth. Up. 4. 3. Brih. 3, 8, 11). dennoch für bewußtlos erklären konnte! Gibt man einmal zu, daß alles Bewußtsein ein anderes außer sich zum Gegen- stände haben müsse, dann kann Gott, der alles in sich hat. in der Tat kein Bewußtsein besitzen. Und, dem entsprechend, wird zu- gleich die Unsterblichkeit der Seele ein fragliches Gut. Ebenso der vedantistische Gottesglaubc — auch abgesehen davon, daß die indivi- duelle Seele mit dem Weltgeiste zusammengeworfen wird. So ist es angezeigt, auf den Fehler hinzudeuten, der in jener Über- legung der hider steckt; besonders, weil er im Grunde von vielen jetztzeitigen Denkern geteilt wird.
Wir haben es wieder einmal mit der so häufigen Verwechslung von Ursache und Bedingung zu tun. Wenn einem etwas bewußt wird, ja schon, wenn man etwas empfindet, so bringt nicht der empfundene Gegenstand das Bewußtsein von sich hervor. Er ist nicht die un- mittelbare Ursache des Bewußtseins. Vielmehr das Subjekt selbst. Denn an diesem haftet das Bewußtsein. Dessen Betätigung stellt es, wie wir dies entwickelten, dar.
Es kann jedoch, wie wir uns ebenfalls überzeugten, eines andern nur mittelbar inne werden. Nämlich unter der Voraussetzung, daß es seiner selbst inne wird. Mit andern Worten: jedes Bewußt- sein von etwas außer mir ruht auf der Grundlage davon, daß ich, als Lebender, mich selbst erlebe. Dies unmittelbare Bewußtsein ist die notwendige Stütze des mittelbaren, im welchem man eines andern inne wird. Sonst würde ja dem Bewußtsein von Dingen außer mir, also jeder Erkenntnis, das erkennende Selbst, dem Ob- jekte das Sulijekt fehlen, welches allein zu erkennen vermag.
Vedantismuis und Unsterblichkeit. 103
Hieraus erhellt also: Die Ursache alles Bewußtseins und I:r- kennens liegt im Träger desselben; im Subjekt. Hingegen können äußere Dinge das Bewußtsein des Subjekts nicht hervorbringen, son- dern nur anregen und veranlassen. Diese Veranlassung ist insofern nötig, als dadurch die innere Beziehung zwischen der Seele und dem Dinge verwirklicht wird. Sie ruft erstmalig eine Gegen- wirkung des seelischen Lebens gegenüber der Außenwelt, ein ver- mitteltes Bewußtsein hervor; worauf eben die Erkenntnis äußerer Gegenstände beruht.
Die Seele kann also unmittelbar nur ihrer selbst, aber nicht ihr äußerer Dinge inne werden. Eben, weil sie ihr an sich äußerlich sind. Daher dringt auch die Erkenntnis der Dinge nur durch man- cherlei Vermittlungen des Bewußtseins zunehmend tiefer in das hmere derselben ein.
Ihre völlige Erkenntnis würde nur von innen her möglich sein. Einzig des eigenen Gehaltes vermag die Seele unmittelbar inne zu werden. So kann allein die Weltseele, die alle Dinge in sich hat. eine völlige, weil innerliche, Erkenntnis derselben besitzen. Da- gegen vermag eine Erkenntnis der Einzelseele von der Weit niemals vollkommen, weil nie ganz innerlich, zu werden. Nur wer selbst das Leben_^der Welt ist, kann ihrer völlig bewußt werden. Denn er allein erlebt in ihr unmittelbar sich selbst, sein eigenes Leben. Diese vollkommenste, höchste, Erkenntnis ahnen die Inder offenbar, wenn sie von „anubhava" reden.
So zeigt sich, daß das Bewußtsein an sich keines- wegs äußerer Objekte bedarf. In der Tat : das m e n s c h- liche Bewußtsein hat sie nötig. Das liegt aber nicht am Wesen des Bewußtseins; vielmehr an der notwendigen Beschränkt- heit des menschlichen Bewußtseins. Diese Schranke entsteht da- durch, daß der Mensch nur einen Teilstandpunkt in dem Ganzen ein- nimmt. Deswegen kann er immer bloß von außen an die Dinge her- ankommen, um ihrer habhaft zu werden. Auch innerlich. Hingegen muß gerade die „objektlose" Erkenntnis Gottes die vollkommenste sein. Dieser Standpunkt erscheint dem indischen gerade entgegen- gesetzt. Indessen erkennt dieser selbst ja zugleich der objektlosen Erkenntnis in Gestalt der göttlichen „anubhava" den Vorrang der höchsten Erkenntnis zu.
1 04 P a u 1 S c'h w a r t z k 0 p f f ,
In diesem Falle war also die Maitreyi noch weiser als ihr weiser Gatte. Sie war mit Recht unbefriedigt, wenn sie hören mußte: das Leben nach dem Tode sei unbewußt. Denn da brahman keine Objekte haben könne, so müsse er selbst des Bewußtseins ermangeln.
Mochte nun der Vedatheologe auch ganz leise ein gewisses, höhe- res Bewußtsein zugestehen, so blieb dies immerhin anfechtbar und unfruchtbar. Denn es ließ sich mit der herausgeklügelten Unbewußt- heit Brahmas nicht vermitteln. Es nahm daher der Hoffnung auf Un- sterblichkeit mindestens die frohe Zuversicht. Ja es mußte erkältend auf den Glauben überhaupt wirken, der eine solche Unsicherheit in wesentlichen Anliegen des Menschen zeigte.
Das Gefühl der Öde, das auf solche Weise entsteht, wird not- wendig durch den andern, berührten, Mangel gesteigert, daß Gottheit und Menschheit in eins zusammenfallen. Vielleicht erscheint manchem solche Vereinerleiung als höchster Grad der Vereinigung mit Gott, die im jenseitigen Leben zu erhoffen steht. Indessen kann eine Vereini- gung nur zwischen solchen stattfinden, die nicht im Grunde schon einer sind. So verliert hier der Glaube, wenn man noch im eigentlichen Sinne von ihm reden darf, seine Innigkeit. Denn die wird durch seinen sittlichen Gehalt an Liebe verbürgt und bewirkt.
Gott selbst mag, nach dem Vedantismus, in sich, auch in aller Einsamkeit, ein lückenloses Genügen finden. Dennoch trifft dies nach seiner eigenen Grundauffassung nicht zu. Denn warum beschloß dann der AHeine. vieles zu werden? Und liegt nicht eine Wahrheit in dem, was Schiller ausruft:
Freundlos war der große Weltenmeister. Fühlte Mangel; darum schuf er Geister, Selge Spiegel seiner Seligkeit?
Auch kann allein in dem Schöpf ergott Ou<ell und Ideal alier menschlichen „Lieb e" liegen. So vermochte niemand sein Wesen treffender zu charakterisieren, als der Evangelist Johannes mit den Worten: „Gott ist Liebe." Wir Menschen können jedenfalls einen Kühlen Gott nicht brauchen. Wir bedürfen zu unserm vollen Frieden eines mächtigen, über uns erhabenen Wesens, das wir trotz- dem als unseren Helfer lieben und verehren können. Wir tragen
V©dantismus und Unsterblichkeit. 10")
in unserm Herzen das Verlangen, wie Qoethc. in seiner Marienbader Ele.gie, dies ausdrückt:
„uns einem Höhern, Reinem, Unbekannten Aus Dankbarkeit freiwilli,? hinzugeben".
Ist doch der Menscli, unter einem gewissen Gesichtspunkt, das bedürftigste aller Geschöpfe. Daher wird ihm auch der Versuch' nie völlig gelingen, sich im Grunde für die bedürfnislose Gottheit selbst zu halten.
Aber gerade das, worin Goethe den Kern der Frömmigkeit fin- det, läßt der Vedantaglaube vermissen. Zum Lieben gehören zwei. Und Glaube ohne Liebe ist 'tot. Wahre persönliche Frömmigkeit mag auch solche verkehrten Anschauungen einigermaßen ausgleichen. Nichtsdestoweniger bleiben sie verkehrt.
Auch sonst tritt im Vedantaglauben der Intellektualismus zu em- seitig hervor. Dies wird auf dem Gebiete der Psychologie dadurch bestätigt, daß man mit denselben Worten „manas": Geist und Willen; mit „samkalpa" ebensogut: Vorstellung, wie Entschluß, be- zeichnet.
Ziehen wir das Ergebnis unserer Erwägungen, so müssen wir gestehen, daß die vedantistische Unsterblichkeit des Menschen wegen der Bewußtlosigkeit nach dem Tode wertlos und wegen der V e r - einerlei ung mit Gott hinfällig ist. (Anm. Dieser Aufsatz ist zu- gleich eine Probe aus meinem demnächst zu veröffentlichenden Buche: „Die Unsterblichkeit des Menschen").
Rezensionen.
Zur Geschichte der Psychologie und ihrer Forschungsreisen.
Als ich zwischen Ostem und Pfingsten 1916 eine größere Anzahl von Arbeiten zur Geschichte der Psychologie und ihrer Ai-beitsweisen, über Siiuies- rtußerungen und besonders über Denken zvu- Besprechiing empfing, versuchte ifli an der Hind der einzelnen Untersuchungen ein Gesamtbild der verschie- denen Ansichten über diese Fragen zu entwerfen, um auch eine Vorstudie zur Geschichte des Begriffes Denken zu bieten. Doch wie der Entwurf fertig dalag, «zeigte sich, daß er nicht nur den bei Besprechungen üblichen Umfang ^\•eit iiberschritt, sondern auch die D^irstellung über die einzelnen Arbeiten .so zerriß, daß ihr Inhalt nicht immer kenntlich winde. Da die gewürdigten Arbeiten auch bei aller Vielseitigkeit kein abgerundetes Bild gaben, so be- gnüge ich mich — dem Brauche getreu • — ■ über die vorgelegenen Abhand- lungen besonders zu sehreiben, indem ich nur das entwicklungsgeschicht- lich Bedeutsame nach Möglichkeit heraushebe und Beziehungen xmtcr manchen Arbeiten andeute; denn der Gedanke ist nicht abzuweisen, manches \'eröffentlichte wäre ungesagt geblieben, wenn die nötigen Zusammenhänge zwischen den einzelnen Wissenschaftszweigen tatsächlich bestünden, wie ihn die Philosophie als allgemeine Wissenschaft will und sich deshalb mindestens lebhafte Angriffe, wenn nicht Verhöhnungen gefallen lassen muß. Ob wohl — wie auch die gewürdigten fSchiiften der Herren Dr. Dr. Eisenmeyer, Fröbes, Krüger, Marbe, Stadtler darlegen — jemals ein überragender Geist die aus- einauderstrebenden selbständig gewordenen Glieder der Urmutter Philosophie wieder vereinigt, ohne daß auch er in den Fehler engbegrenzter Fachwissen- schaft verfällt ? Die Darstellungen nämlich über das Denken, wie sie im folgenden besprochen werden, sind von ganz bestimmten fachwissenschaft- lichen Gesichtspunkten aus entworfen. Entweder lassen sich die Verfasser als Vertreter der Vorstellungs- oder Aktionspsychologic, als Historiker und Naturwissenschaftler, welche den Gedanken der Entwicklung, des Bedingt - Seins besonders betonen, als Logiker oder Materialisten ansprechen, soweit sie nicht auf mittlerer Linie stehen. Ich bediene mich der üblich gewordenen Bezeichnungen, weil sie den Eigennamen nahestehende Gattungsbegriffe wurden, und glaubte diese Sätze wieder einmal schreiben zu dürfen, ja zu sollen, um zu versuchen weiteren Mißverständnissen zu entgehen, daß meine Berichte, welche mit Absich*^ ein sog. Urteilen möglichst vermeiden, etwas anderes sein wollen als Versuche der Wahrheit zu dienen.
Rezensionen. 107
Als 1914 I. Platter die Einleitung in die Psj'ehologie von l>r. August Stadler, verstorbenen Züricher Professor (Leipzig, Voigt- länder. 3 bzw. 4 Mk.) herausgab, legte er ein Werk, das vor unge- fähr 20 Jahre entstand (S. 55, 141), dem deutschen Leserki-eis voi. Es spricht einerb-eits für den Meitschauenden Verfasser, daß seine Darstellung auch heute noch zum größeren Teil, soweit nämlich rein-psychologi.sche Fragen Ix-handelt werden, sehr anregend ist. Andererseits köimte man wünschen , daß der Herausgeber in manchem seine ergänzende Hand hätte walten las-en : z. B. konnte er die Literaturangaben, — bei denen natürlich besonders häufig des keineswegs kritiklos (S. 114) bewunderten Wundt gedacht wird, da er einen der Lieblingsgedankeu Dr. St?. ,, psychische Kausalität'' genau zu beschreiben bemüht ist (S. 8) — , bestimmter gestalten und irgend- wo übersichtlich zusammenstellen, insbesondere auf neuere wichtige Erscheinun- gen verweisen. Vor allem wären die mehr medizinisch gefärbten Ausführungen (S. 65 ff., 150 ff.) durch berichtigende Anmerkungen dem Stand der Gegen- A\artswissenschaft anzupassen, besonders da Dr. St. den gewiß sein- begrüßens- werten Versuch macht, für eine Art medizinische Pädagogik, welche besonders die Mehrzahl unserer Psychiatriker verfolgt, wie zum Beispiel auch die Be- richte über ihre Tagungen beweisen, einige Leitgedanken zu bieten (S. 186 ff.). Auch in den medizinisch-naturwissenschaftlichen Abschnitten klingt manches an Gegenwartsstreitfragen, die für die wissenschaftliche Welt zum Teil entschieden, zum Teil im Grunde unlösbar sind, sehr treffend an: Zum Beispiel die Darlegungen über freien Willen oder Willensgebundenheit (S. 101), über das Verhältnis von Leib und Seele (S. 44 und 62), über weibliche Psyche (S. 142, vgl. die Besprechungen über Dr. Baerwald vor einigen Jahren den Münchener Arzt Dr. Aigner — ohne Schaden für ihn — imd Dr. Haase), über Lourdes (S. 191) : Diese Angelegenheit brachte auch vor den Richter und beschäftigte monatelang Zeitungen und Zeitschriften. ■ — Ich habe diese Einzelheiten nm- herausgegriffen, um zu zeigen, daß derjenige, welcher etwas über die Geschichte mancher Gedanken und Begriffe im Bereiche der Psychologie hören will (vgl. S. 14 ff.), aus diesem bejahi-ten, mit vollem Recht der Öffentlichkeit vorgelegten Buch viel erfahren kami. Manches, was nicht wenigen Gegenwartsmenschen ans Herz gewachsen ist, verwirft Dr. St., z. B. das sog. Popularisieren von Forschungsergebnissen in Volks- hochschulkm-sen (vgl. auch Verhandlungen des Rhein-Main- Verbandes f. Volksbildung-Frankfm-t a. M., 1916: Vortrag A'on Professor Dr. Ziehen) oder in Zeitungen, da ein derartiges Verfahren der wahren Wissenschaft schade (S. 190). Da tatsächlich manche Entdeckungen, z. B. des Frankfiurter Ehrlich, des Berliner Rob. Koch, bedauerliche Rückschläge, welche die auch von Dr. St. richtig betonte Überschätzung dmch Xichtfachleute veranlaßte, leider erfahren haben, wird man die Einwendungen Dr. St.s nicht mit gering- schätziger Handbewegung beiseite schieben; aber auch nicht sich irre machen lassen, im unbedingt nötigen Streben die Feststellungen bahnbrechender Forscher in der richtigen Weise bekannt zu machen; demi auch jene üblen Folgen sind nur unvermeidliche Kinderkrankheiten allen Fortschrittes. Doch ch will nicht diese Gedankenreihe weiter ausspinnen, sondern kinz einiges
108 Rezensionen.
andere aus dem Buch erwähnen! C41eich der erste Abschnitt, welcher in fortschreitenden Darlegungen den Begriff Seele immer genauer bestimmt, ist für die Ansicht und Arbeitsweise Dr. Sts. bezeichnend. Das vorsichtig abwägende Urteil ist gleich weit entfernt von abstoßender Recht- haberei bei Fragen, welche vielleicht nie endgültig entschieden werden kömien (vgl. m. Bericht über Dr. Baerwald, Cohn, MüUer-Freienfels, Ruckhaber, Sommer), und von ebenso peinlich wirkendem Mangel an Überzeugung; denn das Bucli erwTichs aus Vorlesungen, welche die Hörer befähigen sollten, die modernen Werke der Seelenkunde zu studieren und die psychologischen Streitfragen zu verstehen, welche die wissenschaftliche A\'elt zurzeit inter- essieren (S. 186, vgl. S. 90 u. m. Berieht über Dr. Sommer.) Bei seinem Ziel will Dr. Stadler nicht oberflächlicher „philosopliischen Bildvmg" Vor- schub leisten; er betont nämlich sehr nachdrücklich, daß „Ergebnisse des philo- sophischen Denkens sich nicht aufbewahren lassen"; denn „philosophische Überzeugung muß man selbst erwerben, um sie zu besitzen" (S. 16). Um diese Worte nicht als Ablehnung aller Fachschriftstellerei aufzufassen, muß man einen anderen Satz ins Auge fassen „Es ist durchaus nicht nötig, daß sicli jeder mit Philosophie beschäftigt, aber wer es tut, darf sich keine Frage durcl) einen anderen beantworten lassen; infolgedessen müssen sich die Probleme immer von neuem erzeugen, müssen ihre Lösungen immer wieder versucht werden" (S. 17). Doch ist Dr. St.s Philosophie keineswegs Metaphysik — um das vielmißhandelte aristotelische Schlagwort zu gebrauchen — -, sondern er sucht stets die Beziehung zur Umwelt herzustellen (vgl. insbesondere S. 40 ff.). Wie ein großer Kreis der Gegenwartspsychologen (vgl. m. Bericht über Dr. Fröbes!) betont er die Notwendigkeit der verschiedenartigsten Beob- achtung, entweder Schlüsse aus Tageljüchern Verstorbener (S. 26/30, 43), wie es besonders Dr. Müller-Freienfels (s. m. Bericht !) anstrebt, oder ausFrage- l)ogen, die besonders Dr. Baerwald (s. m. Bericht !) sehr gesdlnckt ausgebaut hat (S. 29). Selbstverständlich gedenkt Dr. St. auch derjenigen Richtung, welche das Bedingtsein geistiger Erscheinungen durch die Umwelt besonders betont, wie wir es zum Beispiel bei Arbeiten der Bäumkerschüler, Dr. Matth. Meier und Dr. Edmund Spehner, sowie bei Dr. v. Roretz (s. ni. Berichte!), kennen lernen (S. 38). Auch die auf Versuchen aufgebaute Psychologie, deren Ent\Vicklungsgang z. B. Dr. Marbe sehr klar dargelegt hat (s. m. Bericht!), streift Dr. St. (S. 54 ff.). Aber nicht nur verschiedene Arbeitsweisen im Bereiche der Psychologie werden in ihrem geschicht- lichen Entstehen besprochen, sondern auch einzelne Gebiete, z. B. Kinderpsychologie (vgl. z. B. Dr. William Stern; s. m. Berieht; S. 31). Ebenso wird die Volkssprache als Psychologin, wie es auch Dr. Kiein- paul (s. m. Bericht !) tat, geistreich gewürdigt (S. 42, 96, 108, 120, 138). Am wenigsten Neigung besitzt Dr. St. zu der in unserer unmittelbaren Gegen- wart besonders heißumstrittenen Tierpsychologie (S. 20, vgl. m. Bespre- chung von Dr. Felix Krüger). Natürlich werden auch Erziehungsfragen angeschnitten, z. B. hilft der Verfasser ims Kämpfern gegen -Reiterei in der Schule (S. 40), uns Befürwortern der mögliehst vielseitigen Erkennung der körperlichen und seelischen Eigenschaften jedes einzelnen Kindes, den söge-
Rizensiciu ii. 109
nannten Inciividualpsycholügcn (S. 3(if, vgl. auili ni. Ik-riclit über Wendel!), die manchmal besonders in Anfängerjaliren über das Ziel hinausschießen mögen. Doch g< img mit diesen Einzelheiten: Sie sollen nur den einen Satz belegen, daß Dr. St. vielfache Anregungen zu bieten weiß, wemi er auch kein bahnbrechender (ieist für unsere (legenwart mehr sein kann und nur die wichtigsten Ijeitgedanken auf tlem (.'ebiete der Psvchok)gic niedeilcgt, da ei' zu ihr ,,nur" eine Einleitung schreiben wollte.
Auch Joseph Fröbes, S. J., Lehr.buch der experimentellen Psychologie (I, 1, Freiburg i. Br., Herder. 1915. 4 Mk.) gibt in einer N'orrcde an, was er mit seinem Buch will und welche Arbeitsweise er verfolgt. Richtig und geschickt betont er, daß die verschiedensten Berufe, die Ver- treter des Rechtes (vgl. m. Bericht über Dr. Friedricli !) und der Heilkunde (vgl. m. Bericht über Dr. Stadler !), Lehrer und natürlich auch die Philosophen vom Fach (vgl. auch m. Bericht über Dr. Eisenmeyer und Ki-üger !),, die exp. Ps. als wichtige Hilfswissenschaft ( !) (vgl. dagegen Dr. Ei.senmeyer !) benötigen. Für die genamiten Kreise will das Lehrbuch Wegweiser sein, indem es Universitätsvorlesungen, bes. des Verfassers, ergänzt. Zu seiner Aufgabe bringt es zweifellos sehr schätzenswerte Eigenschaften mit: klare (Uiederung, welche der üblich gewordenen entspricht (Vorrede S. VII), geschickte Auswahl von Beispielen, besonders aus den Erfahrungen des All- tags, häufige Verweise auf Bücher, welche ein größeres Vertiefen in die Sache — je nach den Sondeibedüi'fnissen des Benutzers — ermöglichen. Auch äußere Umstände erleichtern den Gebrauch: wichtige Punkte sind gesperrt, Eigen- namen schräg gedruckt. In allen diesen Einzelheiten spürt man den er- fahrenen Lehrer. Aber alle Einwände körmen doch nicht verstummen. Daß über die Frage des Hervorhebens durch den Druck verschiedene Mei- nimgen obwalten kömien, ist selbstverständlich und zunächst auch weniger erheblich, wiewohl die weitgehende Hilfe, welche der Erkenntnis dm'ch das Augenfällige geboten werden kann, nicht zu verachten ist, weil sie von einer psychologisch richtigen Erkemitnis ausgeht. \^'ichtiger sind vielleicht einige andere Bedenken: derjenige, der das „Handwerkszeug" der exp. Ps. über- blicken will, vermißt z. B. eine Zusammenfassung der benützten Bücher und insbesondere ihrer Abkürzungen, wie sie hinsichtlich der Zeitschriften gegeben ist, und eine Zusammenstellung der Abbildungen, deren W^ert — neben- bei gesagt — bisweilen etwas fraglich sein dürfte. Vor allem aber fehlt ein Verzeichnis der Sachbegriffe inid Namen. Es soll am Ende des 3. Bandes geboten werden; aber nachdem die einzelnen Lieferungen gesondert erscheinen und zwar in längeren Zeiträumen, hätte die zweifellos nicht unbedeutende Mühe auch beim ersten Band nicht gescheut werden sollen. Den größten Widerspruch aber erregt m. E. der Umstand, wie der Verfasser — nach bekannten Mustern, die er selbst nennt, — fremde Schriftsteller er- wähnt. Wir glauben ihm, daß er richtig anführt mid keine Fälschung' be- geht; denn er versichert in der Vorrede (S. 8), daß er die angegebenen Schriffen wirklich gelesen h; t, aber wir erinnern uns auch an einen Satz der Vorrede Archiv tür Geschichte der Philosophie. XXXI. 2. g
HO Rezensionen.
(S. VII), (laB Fr. die Meinungen anderer nie wörtlich wiedergibt. Inf olgec; essen ist die Möglichkeit nicht von der Hand zu weisen, daß die Ansichten diitter natürlich im guten Glauben — so aufgefaßt wiu-den, wie Fr. in dem beson- deren Fall dachte. Nachdem ich — um meiner Berichterstatterpflicht zu genügen -^ die auffälligsten Licht- und Schattenseiten des Buches, das in dieser doppelten Hinsicht ein echtes Zeitkind sein dürfte, kurz her- vorgehoben habe, möchte ich noch über die Hauptgliederung, die eine sorgfältige und ausführliche Übersicht sofort erkennen läßt, einiges sf gen. Die Einleitung führt in Ziele und Wege der empirischen Ps. ein, ohne daß aller- dings die Ha\iptvertreter an der Entwicklung für den Nichteingeweihten ganz faßbar heraustreten. Nach dieser etwas geschichtlich angehauchten EinLitung behandelt folgerichtig der erste Abschnitt die Empfindungen im allgemeinen und der zweite die besonderen. Diese werden ihrerseits klar und selbstverständlich zerlegt, in solche des Gesichts, Gehörs, Geruches uncr (reschmackes, der Haut, der Organe und sinnliche Gefühle, die keine Empfindungen sind. Vor allem erscheint in diesem Zusammenhang das Kapitel 5, welches die kinästhetischen und statischen Empfindungen be- spricht, des \inzweideutigen Unterscheidungsgrundes von den übrigen Ab- schnitten etwas zu entbehren. Da es — wie das ganze Buch — an w.rmeid baren Fremdwörtern — dem Brauche folgend — (vgl. m. Bericht über Dr. Eisen- meyer !) überreich ist, liest es der Anfänger, für den Fr. vor allem schreiben will, mit einigen Schwierigkeiten. Wegen der verschiedenen Punkte werden manche, die sich von dem Verf. in die empirische Ps., d. h. Seelen- und Sinnen- forschung, aiif dem Wege des Versuches und der zufälligen Erfahrung (vgl. auch m. Bericht über Dr. Dr. Baerwald, Eisenmcior, Krüger, Marbe, Müller-Frei- enfels, Ruckhaber), einführen lassen wollen, das Buch etwas enttäuscht bei- seite legen, soA^el Anregendes und Wertvolles sie auch aus ihm entnehmen können. Da aber eine Neubearbeitung das Fehlende leicht zu ergänzen ver- mag, so dürfte das Lehrbuch mit der Zeit ein grundlegendes Hand- buch werden; denn es führt iiifolge des Bienenfleißes, mit dem der Ver- fasser die Aveitverstreuten fremden Darstellungen durchackerte, in die mannig- fachen Fragen zweifellos geschickt herein. Weil Fr. sich gegenüber den ver- schiedenen Lehrmeinungen mehr als zusammenfassender Bearbeiter und maßvoller Berichterstatter fühlt, als das er selbst kritischer Bahnbrecher sein will, so können wir uns eines ruhigen, sachlichen Tones aufrichtig freuen.
Als 1914 Dr. Otto Willmann den dritten Band zu seiner philoso- phischen Propädeutik (Freiburg i. Br. Herder. 2 Mk.) herausgab, hatte er 2 Jahre vorher den 1. Bd. (2 Mk.) und ein Jalu- vorher auch den 2. Teil (.2,50 Mk.) in dritter und vierter Auflage veröffentlicht. Wenn ein Gelehrter von der Eigenart und Bedeutung des ehemaligen Prager LTniversi- tätsprofessors gegen Ende eines arbeitsreichen Lebens gewissermaßen die Summe aus seinen Forschungen zieht, um ein schwieriges Sondergebiet dem Werdenden und nach philosophischem Erkennen Strebenden mundgerecht zu machen, so geziemt es sich m. E. die Schöpfung als solche ohne Kleinlich-
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keit mit warmem Dank anzuerkemien. Allerdings ist trotz dieser Gesinnung die Frage, o b die philosophische Propädeutik wirklich mit Mittelschülern behandelt werden kann, ohne Voreingenoiunieuheit zu prüfen, wie auch mein Bericht über die weitschauende Abhandlung von Dr. .Siegel, Methodik des Unterrichtes in der philosophischen Pr. (Wien 1913) versucht hat (Arcb. Bfl. 20, 122/3). Für die EiTcichung des Zieles gab Dr. S. sehr wertvolle, aus dem Schulbetrieb erwachsene Ratschläge. Wie steht es bei Dr. W., der seit über 4 Jahrzehnten nach kiuzer \\'irksamkeit an die Hochschule ülicrgiug und auch ilu- seit 1903 Lebewohl sagte? Zweifellos beweist auch.der Verfasser von "Didaktik als Biidungs lehre' (1903), daß er die besonderen Eigenschaften iui.->erer Oberklässer kemit und ihrem Verständnis möglichst entgegen- kommen will. Deshalb sucht er vor allem zu verhüten, daß das viele Neue und die Sprache, welche Ijei allem Bemühen nach Verständlichkeit nicht allzu leicht faßlich ist und sein kami, Aon vornherein abschrecke. Um dieses Hindernis zu beseitigen, werden nacli dem Vorbild des Altmeisters Soki-ates (1, 113) zahlreiche Ruhe- \ind Anknüpfungspunkte an etwas geläufigere Vor- stellungen und Tatsachen (2, 88; vgl. auch 1, 47, 56/7, 69, 110, 113, 125, ferner 1, 41, 58 f., 66, 70ff., 76, 90, 101, 103, 116, 131 ff.: Mathematik; 67, 80f., 86, 90, 105, 115, 117, 125: Xaturwissensch. ; 90: Geogr.; 51, 60, 89, 119, 137: Rechts- pflege) geboten, indem anschauliche Vergleiche (z. B. 1, 39 und 47; 2, 75) und M\^hen (1, 23 und 87; 2, 74 und 105), besonders aus >Schultragikern, Volks- liedern (1, 79; 2, 67), imd auch Sprichwörter und Redewendungen der Unigangssprache eingefügt (1, 63 ff., 96, 100, 104; 2, 7, 81, 92, 128, 138, 163); denn sie wird — wie bei Dr. Kleinpaul, Volkspsychologie (1914) — als unbe- wußte Psychologie erkannt und dargestellt (z. B. 1, 63 und 74; 2, 7, 10, 14, 18, 21, 28, 42, 55, 73, 82, 90 f., 100, 114, 120, 122 ff., 130, 148, 150 ff., 169, 174ff.;3, 12,24f.,29ff.,46, 80). Daß ein Dr. W. den Stoff mit packender Selbstverständlichkeit meistert und übersichtlich klar gliedert, be- darf wohl ebenso wenig langer Erörterungen, wie der andere Umstand, diß der Verfasser das, was er zu den angeschnittenen Fragen bei alten und neueren iSchiiftstellern, voran Aristoteles, fand oder richtiger, wie ihm das Gelesene schien, überzeugungstreu und eiideuchtend entwickelte (vgl. zwei Sonder- arbeiten desselben Verfassers, Aristoteles als Philosoph mid Didaktiker, 1909, imd unsere Werkstätte der Philosophia perennis. 1912). Nie verschweigt der Verfasser seine Grundanschauung und verweist deshalb immer wieder auf frühere Untersuchungen von sich, ohne Stolz über das Geleistete und ohne sclu-offe Angriffe auf Andersdenkende. Überall finden sich peinlich ge- naue Verweise, nur einmal wurden im Text Anmerkungzahlen übersehen (3, 36^ — Anmerk. 4/5). Indem der Verfasser rasch auf das Ziel zueilt, arbeitet er stets das ^Vesentliche heraus und zeigt allenthalben die liebenswürdige Abgeklärtheit desjenigen, der zwar an Jahren alt, aber geistig frisch geblieben ist. Auch wenn man die Grundansicht des Verfassers, wie sie aus seiner Geschichte des Idealismus (1907) jedem Kundigen geläufig ist (vgl. 1, 52 und 77; 2, 172 ff.,; 3, 35 ff., 71 ff., 97) nicht teilen sollte, die Per.sönlichkeit schlägt doch unwillkürlich in ihren Bami. Es gehört
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bokaiintlicli auch zu ihrer Eigenart, c'ie ich als Luthcraiur uiii.so weniger angrqife, als ich sie nicht teile, daß der strenggläubige Clirist (1, 30, 137 f., 3, 103, "vgl. aiich 1, 110 — Kathol. Lehrmeiug. !) die Bi))el und die Kirchenväter (1, 16, 21, 25, 30, 36, 77, 87, 107 1., 118, 126; 2, 59, 76ff.; 3, 10, 36ff., 54, 91ff., 119ff.), voran Augustin immer wieder heranzieht, um auch in uieser Hinsicht die großen Zusammenhänge wenigvstens anzudeuten. Auch sonst werden immer wieder geschichtliche Überblicke, bcüonders wie ein- zelne Begriffe entstanden, eingestreut (1, llff., 44 f., 62, 84, 94f., 97; 2, 5f., 13ff., 34ff., 56, 102, 111 ff., 1161., 1401, 157 f., 172 f.; 3, 21, 23 f., 40 f., 51, 57 f., 71 ff., 76 ff., '90 f., 94 ff., 101 f., 111 ff., 122 ff.). Sie dienen zweifellos dazu, Einzelkemitnisse zu verknüpfen (vgl. 2, 79) und durch das Aneinanderfügen gegenseitig zu stützen. Doch erheben gerade solche großzügige Zusammen- stellungen und Auffinden von Beziehungen mindestens sehr große Anforde- rungen an das Fassungsvermögen des Durchschnittes der Werdenden, wie ich als Geschichtslehrer seit über 10 Jahre auskoste. Zu den Schwierig- keiten, w\?lche mit dem Stoff wohl untreimbar verbunden sind, gesellen sich sprachliche. Sie sind ziu'zeit nicht ganz beseitigt, hoffentlich aber in der Zukunft überwindbar! Ist die Häufung von fremdsprachlichen Fach- ausdrücken schon in Büchern, die sich an allgemein Gebildete imter den Erwachsenen wenden, für ein rasches Verständnis vielfach hinderlich, wieviel mehr in einer Darstellung, die auch für Oberklässer bestimmt ist. An dieser Tatsache i.st Dr. ^y. natürlich nicht achtlos vorübergegangen, zumal er die „wichtigsten philosophischen Fachausdrucke" zusammengestellt hat (1912) und auch die Entstehungsgeschichte einzelner Wendungen in seiner Propädeutik verfolgt (1, 16, 42, 120; 2, 25 Anmerk. 4, dazu S. 147 und 3, 82; S. 22, 87, 154). In seinem Streben nach Ausscheiden fremdsprachlicher Aus- drücke (vgl. 2, 103 Anmerk. 3) hätte aber Dr. W^ wohl noch weiter gehen körmen. Das Erfassen luid Merken der vielen Einzeltatsachen und Gedanken würde auch erleichtert, Avemi jedem Bande ein ausführliches Verzeichnis der Eigennamen und Sachbegriffe beigegeben wäre. Über schultech- nische Schwierigkeiten will ich nicht nochmals reden (vgl. Archiv 20, 122/23), sondern nur betonen: Die zweifellos vorhandenen Bedenken gegen Propädeutik als Unterrichtsgegenstand besonders in der vorliegenden Form, w-elche sehr ausführlich ist und die Aufnahmefähigkeit der Oberklässer viel- leicht zu hoch einschätzt, können — so widerspruchsvoll es auch klingen mag — nur nach mehrjährigen Versuchen an verschiedenartigen Schu'en einigermaßen einwandfrei bejaht oder bestritten Averden. Doch ich will nicht mit Sätzen, die vielleicht ablehnender klingen, als sie gemeint sind, schließen, sondern kurz über den Inhalt der einzelnen Bände sprechen, indem ich das knapp-klare Inhaltsverzeichnis benütze. Die Einleitung des 1. Bandes spricht über das Denken und sjine Lehre. Kurze Darlegungen über Ur- sprung der Logik und ihre Materien, „von der Aufsatzlehre aus angesehen'", (vgl. auch 1, 7, 41, 58, 66, 129, 135) .dnd zweifellos in jedem, besonders dem deutschen Unterricht am nützlichsten und brauchbar, auch wenn keine Pro- pädeutik im eigentlichen Sinn des Wortes den Schülern vorgesetzt wird. Die 4 Abschnitte aber untersuchen die „Tätigkeiten, Formen, Gesetze und Opera-
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tioncui" des Denkens. Der zweite limd ijeieiuhtct nacli einer Einleitung, wekhe vor jillein die Seelenfunktionen ins Auge faßt, in vier Abschnitten Sinn und Trieb, Vorstellungs- und Interessenkreise, Wrstand und Wille, Vernunft und (n^müt. Im dritten Band dagegen legt ein Vorblick dar, was meta- pliysiselie Prinzipien und ihre ontologische Fassung ist, und wie sich onlo- logisehe Dialektik und (his natürliche Denken unterscheiden. Die 5 Abschnitte behandeln das Seiende nach seinen verschiedenen Beziehungen und Wesen, nämlich das Seiende und das Wahre, bz\\. (lute, subsistentes und inhärentes, latentes und entwickeltes, bedingtes und unbedingtes Sein.
„Der sachlicii(>n inid geschichtlichen Notwendigkeit eine allgemeine Oschiehte der Seelenforschung zu bieten und vor allem die Gegenwartsiage dieser Wissenschaft zu zeigen", strebt das Buch von Prof. Dr. Felix Krueger, über Entwieklungs-Psychologie (Leipzig. Engelmann 191.1 9 Mk.) zu. Es geht von dem Gedanken aus: „die Philosophen haben freilieh für ciese jüngste der selbständig gewordenen Erfahrungswissenschaften, wenig ( ?)
tieferes Verständnis beAviesen Aber eben darum ist es an der Zeit,
daß die Psychologen, zuweilen wenigstens, methodologische Umschau
lialten ; denn s^it Her))art und wiederum seit Weber-Fechner hat die
Fragestellung der Psychologie sich wesentlich gewandelt." (S. 62, vgl. S. 121/2, 159. 192, 229). Die Hauptlinien dieser Veränderung zeigt der Ver- fasser sehr geschickt und anschaulich. Da er nicht die Aufeinanderfolge der einzelnen Forscher als stets festgehaltenen Einteilungsgrund benutzt, so gibt er nicht eine Entwicklungsgeschichte im engeren Sinne des Wortes, „sondern eine notwendige Entwicklungslinie der Probleme, also auch der Methoden, da ihre Behandlung der Hauptzweck des Buches ist" (aus Briefen des Verf. iui mich, vgl. S. 88). Doch deuten zahlreiche Vor- und Rückverweise auf einzelne Abschnitte dei Arbeit, wiederholt ge- lungene Zusamn^enfassungen der Teilergebnisse und der sich aus ihnen .stets logisch ergebenden neuen Fragen, die Zusammenhänge unter den behandelten Forschern so klar an, daß der denkende Leser, welcher nicht fertige und -unwiderlegliche Geschichte verlangt, auf seine Rechnung kommt. ^^'enn die \'erweise stets so bestimmt wie an ein- zelnen Stellen (z. B. S. 156, 164, 207, 214, 217, 222/3, 227) wären, so würde sich ihr Wert noch wesentlich steigern. Zweifellos ist Dr. Kr. zu dem Wagnis, eine Geschichte der Methodenlehre in der Entwicklungspsychologie zu ent- werfen, sehr berufen, da er zwei arbeitsreiche, dem behandelten Gebiete ge- widmete Jahrzehnte, die er vor allein in Leipzig und Halle verbrachte, hinter .sieh hat. Mit edlem Freimut übt er auch an eigenen Arbeiten Kritik (S. 21, 26, 64) und wird den besprochenen Forschern stets mit scharf - 'sinnigem Urteil, das persönlich angreifende Form möglichst vermeidet (Ausnalune S. 25), sehr wohl gerecht. Um seine Aufgabe zu lösen, faßt Dr. Kr. gewi.sse Gruppen von Ansichten, die nach seiner Meinung das all- mähliche Werden des Gegenwartszustandes und der nach seiner Meinung notwendigen Aufgaben bewirkten, geschickt zusammen, indem er die An- schauungen und Entwicklung der bedeutendsten oder augenfälligsten Vei-
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treter kurz und klar cUuk'gt (z. T,. S. 32, 44, 52, 206, 219). In feinsinnigtMi Ausführixngen zeigt der Verfasser, daß viele Lehren mn- aus ihrer Zeit luu-aus zu verstehen sind (vgl. m. Bericht üter Brühl, Dr. v. Roretz undDr. Speliner!) undfür künftige Fortschritte und andere Arbeiten mannigfache Möglichkeiten mit sachlicher Notwendigkeit vorliegen (z. B. S. 59, 68, 72, 80, 82, 100, 120, 136f, 149, 168, 211, 220). Obwohl einPersonen- und Sachverzeichnis leider fehlt, so gestattet doch eine umfangreiche Inhaltsübersicht dem geschichtskundigen Leser einen raschen Überblick über das Gebotene. Aus den verschiedenen Einzelheiten des sehr anregen- den Buches gedenke ich einiger Punkte, weil sie andere ni. Besprechungen an dieser Stelle zu erläutern vermögen. Das Lebenswerk Dr. Wundts z.B. wiü-digte Dr. Krueger als vorurteilsloser Forscher wesentlich ruhiger und ge- rechter, als Dr. Hall und Dr. Kraus (z. B. S. 3, 13, 81, 96, 148 ff.. 101 ff., 169, 182, 204 ff., 208 ff.), wemi auch er natürlich nicht blind gegen d?.s An- greifbare in Wundts Lehren ist (S. 210/211 und 220; vgl. auch m. Bericht über Brühl !). Aber auch für Dr. Krueger ist der Leipziger Psychologe einer der „umfassendsten Geister" unserer Zeit, so daß Dr. Krueger dem Urteile des verstorbenen Würzburger Prof. Dr. Külp (Die Philosophie in Deutschland, 1913, S. 118), daß W. „den Ehrentitel eines modernen Leibnitz" verdiene, zuzustimmen scheint. Als das Neue mid Wesentliche an Wundts Lebens- werk betrachtet der Verf. „die vollständige histoiische Einordnung und methodologische Kritik der Wundtschen Völkerpsychologie nacli ihrem bahn- brechenden Werte, ihren Fragen und Unklarheiten"; demi Dr. Kr. ist über- zeugt: „Das seelische Geschehen ist in Wahrheit jederzeit geschichtlich und sozial bedingt." Dieses Bedingtsein zu untersuchen und herauszuarlieiten, ist für Dr. Kr. die Aufgabe der Psychologie. „Da sie eine Gesetzeswissenschaft ist, so müssen ihre Ziele von der geschichtlichen Kultui-forschung reinlich geschieden werden." W.s zusammenfassende Tätigkeit wiid also vor allem hervorgehoben, weil auch das Buch Dr. Kr.s geschrieben wiu'de, um nach- zuweisen, daß „geordnete Arbeitsgemeinschaft zwischen der wissen- schaftlichen Psychologie und Nachbarwissenschaften hergestellt werden müsse" (8. 16, vgl. S. 37). Zu diesen Nachbarwissenschaften gehört auch die Tierpsychologie. Mit ihr beschäftigt sich auch ein warm geschriebenes Buch der leider früh heimgegangenen Frau Dr. Paula Moekel über ihren Rolf (vgl. auch „die Seele des Tieres" von Professor Dr. H. E. Ziegler-Stuttgart. 1916, und Zeitschrift: Die Tierseele, 1913, S. 193 ff., 243 ff., 323 ff.). Doch dürfen diese Verbindungsfäden zwischen den einzelnen Wissenschaftszweigen und ihren Gedanken nicht gewaltsam geschlungen werden, wie Dr. Kr. an verschiedenen Beispielen zeigt (z. B. S. 153 bei Vicrkandt, S. 157 bei Steinhausen, S. 165 ff. bei W. Schmidt, S. 176, 188, 195 bei L. Frobenius, dessen kühne Behauptungen auch in der deutschen Kolonialzeitung 1913 (S. 626f., 641 ff., 658 ff., 6731, 690, 740 f.) lebhafte Auseinandersetzungen veranlaßten). Dr. Krueger hat sein gedankeiireiches imd am-egendes Buch bezeichnenderweise dem Dichter Dr. Wilhelm V. Scholz ,, in alter Freimdschaft" geAvidmet.
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Die Schrift des Hallenser Professors Dr. Joseph Eisenmeier, die Psychologie und ihre zentrale Stellung in der Philosophie (Halle, Xiemeyer, 1914. 3,20 Mk.) gehört zu jenen Abhandlungen, welche weit- schauende Fragen külm anschneiden und durch die Art des Durcliführens beweisen, daß sie sich bis zu einem gewissen (aade lösen liisscn, wenn man ihnen entschieden zu Leibe gelit. Freilich werden nicht wenige die Arbeit grundsätzlich ablehnen, weil sie eine bestimmte Ansicht mit Ausschluß aller anderen zielsicher vertritt und zu beweisen sicli bemülit. Ziel und ^^'cg be- rührt sich mit manchen anderen Schriften; unter denen, welche ich zugleich mit Dr. Kiscnmeyer zu würdigen habe, befinden sich zwei verwandte: Dr. August Stadler, Einleitung ziu" Psychologie, Leipzig 1914, unci noch mehr Dr. Felix Ki-üger, Entwicklungspsychologie, Leipzig 1915; demi letzterer hat in seinem Bucii aiich eigene frühere Ausfüluimgen, auf die Dr. E. wieder- holt bezug nimmt (S. 2 ff.), weiter ausgeführt. Aiißer Dr. Krüger erwähnt der Verfasser selbstverständlich eine lange Reihe von Schriften, welche seine Darlegungen begründen, ergänzen oder von ihnen stark abweichen. Sehr oft allerdings begnügt sich Dr. E. — seinem Vorsatze getreu (Vorwort) — nur all- gemein „Richtungen" zu kennzeichnen, ohne die einzelnen Forscher, welche die- selben vertreten, im einzelnen namhaft zu machen. In diesem Vorgehen liegt, wie auch m. Besprechung von Dr. Dr. Kramai-, Müller -Ehrenfels und Stadler her- vorhebt (s. auch Dr. Marbe!), eine Stärke und Schwäche, da man, losgelöst A'on allem Persönlichen, verhältnismäßig unbefangener mteilt; andererseits aber werden manche Leser die Angabe von Personemiamen für mierläßlich er- achten, um erwähnte Leitgedanken anderer in ihrem ursächlich-persönlichen Begründetsein erkennbar-heraustreten zu lassen, und wegen dieser Meinung das Verfahren auch bei Dr. E. als Mangel empfinden. Da er es aber nm- im be- schränkten Grade anwendet, so kann man sich des mit großer Geschick- lichkeit verfochtenen Grundsatzes, ,,das strengstes Spezialisten- tum, gepaart mit gründlicher Bekanntschaft der wichtigsten philosophischen Anschauungen, allein die philosophische Erkennt- nis wirklich fördern kami", aufrichtig freuen, sofern man diese Überzeugung teilt und das Trennende der einzelnen selbständig gewordenen TochterA\'issen- schaften der Urmutter Philosophie nicht übertrieben betont (Kap. 1, be- sonders § 3). Sehr glücklich zeigt auch der Verfasser, daß man sehr wohl die einzelnen Begriffe scharf bestimmen kann und muß, ohne falsche Scheide- wände aufzm-ichten (§ 8). Als Wege zu seinem Ziele nennt Dr. E. „die Beobachtung und das Experiment, das heißt die Arbeitsweise der empirischen Forschung" (S. 9, vgl. auch m. Bericht über Dr. Marbe urid Dr. Müller-Freien- fels!). Um die allgemeinen Darlegungen zu begründen und deutlich zu machen, werden die einzelnen Arbeitsgebiete und ihre Beziehungen zur Pschologie eingehend betrachtet: Kap. 2 Ethik, Kap. 3 Ästhetik, Kap. 4 Logik, Ivap. 5 Erkemitnistheorie, Kap. 6 wissenschaftliche Physik und Kap. 7 die philo- sophischen Nebendisziplinen, d. h. Rechtsphilosophie, Soziologie, Philosoiihie der Geschichte, philosophische Politik und Nationalökonomie im Anschluß an die Ethik, Kunstphilosophie in Verbindung mit Ästhetik; die Pädagogik wird als Ästhetik, Logik und Ethik der umeifen Psyche bezeichnet, und auch
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die Aufgabe der Psychiatrie gegenüber der kranken Psyelie und iler Zusanuaen- hang der Sprach- und Religionsj)hilosophie mit der Psychologie dargelegt. Um in die Menge der einzelnen Ciedanken Ordnung zu bringen, werden die de.skri2)tiven (beschreibenden), die genetischen (entwickelnden) und die normativen (Vorschriften gebenden) Teile einzelner Sondergebiet<? für sich betrachtet (S. 51 ff., Gl ff., 69 ff., 8'Jff.). Es wäre sehr verlockend, di<' vielen feinsinnigen Bemerkungen, welche innerhalb dieses weitge- steckten Rahmens gemacht werden, im einzelnen zii würdigen, i. B. im Be- reiche der Ethik das über aic Freiheitsfrage (§ 12) oder über Priestermacht (8. 45) (lesagte. Doch ich will mich nicht zu sehr in Einzelheiten verlieren und den leider auch diesmal (vgl. m. Bericht über Dr. Dr. Bärwald, Brühl, Cohn, Fröbes, Feldkeller, Crabrilowitsch, Krüger, Menzel, Müller-Freienfels, v. Roretz. Ruckhaber, Willmann!) nötigen Hinweis auf das fremdwortreiche Gewand nur im Vorbeigehen tun, sondern zum Schlüsse mir noch km-z das Gesamt- ergebnis mit den eigenen Worten des Verfassers wiedergeben: ,,Alle Philo- sophie ist eiUweder geradezu Psychologie oder mit der p.sycho-
logischen Forschung innig verwachsen. Die ijhilo.sophische Erkenntnis ist durchweg auf psychologischem Wissen aufgebaut, wo sie nicht geiadezu mit ihm identisch ist. Die Psychologie ist die zentrale Wissenschaft für die gesamte Philosophie." (S. 111, vgl. S. 61).
In einer kurzen aber inhaltsreichen Abhandlung bringt Dr. Karl Marbe Beiträge zur Psychologie des Denkens. (Sonderdriick aus Fort- schritte der Psychologie und ihrer Anwendungen III, 1. Leipzig, Teubner, 1914. 3 Mk,). Rasch eilt der Würzburger Psychologe seinem Ziele zu, ohne daß er uns fortwährend auf spätere Arbeiten vertröstet, wie Professor Di-. Udalrich Kramar jun., Neiie Grundlagen zur Psychologie des Denkens (Brümi 1914), oder unangenehm erkennbare Sprünge macht. Es wäre m. E. ungerecht, wenn man darüber spöttelte, daß der erste Paragraph, Welcher Beiträge zur «»eschichte und Kritik der Denkspychologie enthält, in der Hauptsache des persönlichen Anteiles an der Entwicklung ge- denkt und infolgedessen vor allem mannigfache Einwürfe gegen andere Forscher erhebt. Dieser Widerspruch entbehrt nämlich aller beleidigenden Ausfälle und wird immer wieder sachlich begründet, so daß er nicht von der Hand zu weisen ist. Entgegen dem fast allgemeinen Brauche (vgl. m. Berichte über Dr. Di. Cohn, Eisenmeyer, Feldkeller, Fröbes, Gabrilovitsch," Kramar, Müller-Freienfels, Ruckhaber) bietet der Verfasser bei dieser Gelegenheit ganz genaue Verweise auf fremde Darstellung, so daß der erste Paragraph trotz aller persönlichen Färbung einen kurzen Überblick gibt, Avas über Denk- psychologie seit dem Begimi unseres Jahrhunderts geschrieben wurde. Aller- dings werden im allgemeinen nur Arbeiten, welche vom Verfasser abweichende Ansichten vertreten, eingehender in der Weise gewürdigt, daß das vom anderen Geschaffene gelegentlich auch anerkannt (S. 41), meist aber bestritten wird. Gerade dieses Vorgehen einer selbstbewußten klardenkenden Persönlichkeit verleiht der Ai'beit ihren besonderen Reiz. Doch ich habe bis jetzt im allgemeinen über Arbeitsweise und Zweck der Abhandlung gesprochen,
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<ilme ihren Inhalt gonaner ;Mizudenten. Der Verfasser gelangt nänilieh zu dem Sehlusse, daß die Ergebnisse einer früheren Sehrfft (Experinientell- j)syehologischc Untersuchungen, Leipzig 1901) aueli heute noch aufrecht erhalten werden können. „Im Sinne der Logik ist das Urteil, psycholo- gisch befrachtet, ein äußerst vielgest<iltiges Cebilde, welches nicht psycho- loaiseli. sondern nm- vom Standpunkt der Logik aus genau bestimmt werden kann. ]']bensowenig läßt sich das Verstehen gehörter oder gelesener Urteile rein psychologisch begreifen. Dieses Verstehen liegt vor, weiui wir gewisse richtige Urteile fällen köimen. Auch diese Fähigkeit kann, muß sich aber nicht als Bewußtseinslage im Bewußtsein ausdrücken" (S. 2 ff.). Der Verfasser zeigt auch statistisch, daß sein Begriff der Bewußtseinslage (vgl. auch Dr. J. Friedrich, Die Bedeutung der Psych., 1915, S. 35, 65, 131). die von anderen Forschern spater aufgestellten Begriffe der „Bewußtheiten" und „(iedanken" umfaßt. In einem Schlußabschnitt werden einige ein- fache Vorlesungsversuche, welche die Bewußtseinslage darstellen köimen, km-z mitgeteilt. Trotz aller wichtigen Ergebnisse ist Dr. M. von jeder Über- schätzung weit entfernt, als ob sein Versuch methodologisch einen Ab- schluß bedeute (S. 18), da nur neue Bahnen gewiesen werden sollten: denn der \'erfasser ist übei'zeugt, daß von der Verbesserung des Verfahrens, die auf do'ppeltem "Wege erfolgen kaim, die Zukunft der Psychologie des Den- kens abhängt, wenn sie überhaupt eine hat (S. 24). Glücklicherweise bleibt Dr. M. — wie wii- in der Abhandlung seihst i-.ehen — nicht bei diesem auflösenden Urteil stehen, sondern beschreitet auch selbständig und zielbewußt die von ihm gewiesenen neuen Bahnen. Als Versuchs- ].ersoncn hat er Hierren, welche mit den in Betracht kommenden Tatsachen vertraut waren, gewählt und gesteht offen, daß bei diesem Verfahi-en Fehler vorkommen können; denn wer in den zu prüfen- den (redankengängen zu Hause ist, äußert sich nicht immer ohne Vor- eintfcnommenheit (S. 19). Alis diesem Grunde ist es sehr wichtig, die ge- wonnenen Ergebnisse immer wieder auf ihre Zuverlässigkeit abzuklopfen, indem auch Fernerstehende, und zwar möglichst viele, denselben Versuchen Tmterworfen werden, so schwer es auch sein mag, diese andere Gruppe von Versuchsper,sonen zum Reden zu bringen; denn bei ihnen dürften auch mannig- fache äußerliche Hemmungen mitunter fast ein Versagen bewirken, wie manche Versuche mit Kindern bewiesen haben (A'gl. auch Experimentelle P>eiträge zum Problem der Intelligenzprüfung, von Dr. Karl Köhn (Quelle & Meyer, Leipzig, 1913;); und Das Denken und die Phantasie von Dr. Richarrl Müller-Freienfels (Leipzig, Johami Ambrosius Barth. 1916. S. 29ff. !). Doch sei dem, wie ihm wolle; dem Verfasser gebührt aiifrichtiger Dank, daß er die Frage: was ist Denken? kühn und selbstsicher abermals beleuchtet imd einen Weg zur Lösung zeigt. Es wird die Sache Vorurteilsloser sein, nicht durch allgemeine Ausführungen, sondern durch eigene Versuche 7.U den Schlüssen von Dr. M. Stellung zu nehmen.
Die erfreuliche Frische eines volkstümlichen Vortrages und die nicht minder rühmenswerte Gründlichkeit einer wissenschaftlichen Ai-beit drücken
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der Abliaiidlung des Kustos an der Wiener Hufbibliotliek Dr. Karl v. Roretü über Diderots Weltanschauung, ihre Voraussetzungen und Leitmotive (Wien, (lerold & Co., 1914) ihren Stempel auf. Meisterhaft stellt der Ver- fasser auch bei dieser Untersuchung den allgemeinen geschichtlichen Zusammenhang in wenigen bezeichnenden Sätzen her und schildert, in- dem er über D.s Weltanschaimng spricht (S. 8 ff., 15 ff., 18, 23, 31). mit einem einzigen Satz anschaulich die französische Auf klärungszeit : „iSo läuft die Entwicklung von der Kritik an einem antiken Geiste zur Kritik des antiken Denkens überhaupt imd von hier zm- Ki-itik der Tradi- tion im weitesten Simie" (S. 8). Ebenso klar wie das Negative an D.s Arbeits- weise W'ird auch das Tatsächliche seiner Meinungen in einem anderen Satze ausgedrückt: „Diese Stelle mit ihrer kühl-selbstverständlichen Hervorhebung des blanken Opportunitätsprinzips bedeutet tatsächlich un- gefähr das Zentralproblem der Spekulationen seiner Staatsweisheit.'' Um die eigene Auffassung von D.s Leitsternen zu erläutern, sucht Dr. v. R. diejenige anderer Forseher, welche D. ,, vom Deismus diu-ch ein skeptisches Stadium zum Naturalismus" (S. 13) kommen lassen, mit großem Scharfsinn zu -widerlegen. Diese unzweideutig herausgehobene (Grundrichtung stempelt D. in ma)icher HÜnsicht zu einem W'issensehaftler unserer Tage, weil er vor keinem überkommenen Begriffe halt macht, ohne ihn auf seine Richtigkeit abzuklopfen. Infolgedessen klingen einzelne Äußerungen an Gegenwarts- gedanken an, z. B. wenn D. „die Schöpfungsformen keine starren Typen nennt" (S. 24), und damit den „Entwicklungsgedanken Darwins und seiner Nachfolger" zutreffend aufgreift (S. 25); denn D. hat zu den Naturwissen- schaftlern und anderen Forschern seiner Zeit enge Beziehungen (S. 27 ff.). Bei aller Liebe für D. ist der Verfasser nicht blind gegen die Schwächen des großen Franzosen. Sie aus den allgemeinen Umständen und besonders aus der Wesensart des Philosophen zu erklären, wäre ein dankenswertes Unternehmen. Für dasselbe finden sich am Ende des Aufsatzes deutliche Fingerzeige. „Es ist nun das Gemeinsame aller philosophischen Talente des 18. Jahrhunderts (namentlich derer in Frankreich), daß sie in dieser struk- tiu-ellen Hinsicht mangelhaft veranlagt sind. Die Fülle ihrer Einfälle, die, der festen Einstellung entbehrend, nm- zu bald auf toten Cieleisen dahinrolleii, sollen uns nicht darüber hinwegtäuschen. Keiner von ihnen findet die ^^ ucht entscheidender Gedankenwendung, die Kraft, den eimual eingeschlagenen Kurs unerbittlich festzuhalten und weiter zu verfolgen; auch ein Diderot nicht ! Gleich den meisten anderen ist er nur ein Anreger, ein genialer W ort- führer einer im Umbau begriffenen Epoche. Der Denker aber, der diese Tendenzen kraftvoll an sich geri.ssen, der die „Epoche" erst gemacht hat, .sitzt in Königsberg." Durch die Fülle von Anregungen ist einer- seits eine bedeutende wissenschatfliche Leistung, welche in sorgfältigen Anmerkungen die Belege für die einzelnen Behauptungen bringt, anderer- seits eine Vorbereitung für eine ausführlichere Darstellung geboten. Möge sie — hoffentlich in einem fremdwortärmeren Gewände — auch aus der berufenen Feder des Dr. v. R. uns beschieden sein!
Kezensioueii. lli>
In seiner gehaltvollen Münchener Doktorarbeit stellt Kcliuiiiid Spehner Malebranches Lehre von der Erkenntnis in psycholo- giseher Hinsieht (1915) klar und übersichtlich dar. Das erste Ka])itel beleuchtet Leben luid ^^'erke des philosopJiischen Üratianers, des Zeitgenossen von Deseartes, da ,, Leben «nd Lehre sich wechselseitig erklären inid eigänzen"". Der Verfasser besitzt also walu-en geschichtlichen Sinn und hat auch diese Eikenntnis, die man allgemeiner verbreitet wünscht, durch die Tftt veiwirklicht. Infolgedessen vermag er trotz umfangreicher älterer Literatur, die er selbst nicht nur am Ende der Arbeit, sondern auch vor jedem Abschnitt gut zusammengestellt und im Verlaufe der Abhandhnig immer wieder im ein- z«Jnen angibt, noch manches Xeue zu sagen. Zum mindesten bringt der Verf. Altbekanntes in besonderen Zusammenliang, voi- allem indem Dr. Sp. die Sonderentwieklung M.s und auch mancher zeitgenössischer philosophischer ('cdanken in Beziehung setzt zur allgemeinen 2ksitgeschichte (8. 5, 16, 18, ö6ff., 60), da M. beeinflußt ist von den führenden Geistern seiner Zeit, ^or allem Deseartes, Leibnitz, Newton, und zugleich besonders zu seinon ,, Führer" Descaitcs in einen gewissen < 'egensatz tritt (8. 58). Nicht nur die Arbeitsweihe, sondern auch die Wahl des Stoffes erimiert an einen anderen Bäumkerschiiler, Dr. Matthias Meier, dessen genußieiche Arbeit über Deseartes an dieser Stelle früher ge'würdigt wurde. Dieses Zusammentreffen c'ürfte dm'ch die beeinflussende Hand des gemeinsamen Lehrers herbeigeführt sein. Nachdem sich Dr. S. diu-ch den vorbereitenden Abschnitt sozusagen einen festen Boden und allgemeinen Hintergrimd, aiif den sieh M.s ( 'cdanken in der richtigen \Yeise abheben, verständnisvoll geschaffen liat, be- spricht er die besondere Seite der Philosoishie M.s, wie es die ge- wählte Aufgabe erfordert. In dem zweiten Kapitel über die Erkemitni.-lehre ]M.s läßt der ^"erfasser uns tiefer hineinblicken in c ie Denk^^ erkstatt des Philo- sophen, wie .sein prüfender Sinn vor nichts haltmachen will und sich doch nicht loslösen kann von den Anschauxmgen seiner Zeit und ins- besondere den Lehren seines (llaubens, vor allem soweit Übersimiliches, ('ott, Seele und Wille, in Frage kommen (S. 6 ff., 56). Ein kurzer Vergleich zwischen Kant und M. (S. 34) berührt im Vorübergehen' eine Frage, die mit anderen erwähnten Punkten (S. 58) einer eingehenden Sonder betrach- tung wert wäre. Wie in dieser Hinsieht M. Meinungen, die ungefähr 100 Jalue später von neuem aiiftauchen, auch für seine Person hegt, so Idingt sehr viele.s seiner Sinnespsychologie (Kap. III), als ob wir ein Gegen- wartsbuch über diesen Stoff lesen (vgl. S. 55 ff.), indem auch M. Ursache der Gehirnvorgänge und der einzelnen Sinnesäußerungen zu erforschen sucht. (Vgl. m. Bericht über Brühl!) Wir müssen Dr. Sp. danken, daß er diese Hauptpunkte richtig erkannt und einleuchtend dargestellt hat.
Auf ungefähr fünfzig Seiten Text sucht Dr. (rrigore Tabacaru die Ansichten des französischen Psychologen Binet über die Psychologie des Denkens (Bukarest, Albert Baer, 1915) in knapper Form zu entwickeln. Wemi auch der Verfasser trotz seiner Kürze nicht ganz von Fehlern Ije-nahrt blieb (z. B. S. 37 und 41 über das reine Denken ohne Vorstellung luid \\'ortej.
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80 ist doch (lio Abhandlung als ( Ganzes ein erfreuliches Zeichen, daß deutsche Forseherart auch auf dem Balkan blüht; denn mit großer Belesenheit, die leider nicht in Einzelnachweisen ihren Niederschlag gefunden hat, und mit bestimmtem Urteil, dessen Begründung mitunter etwas eingehender sein dürfte (S. 37, 40/1), werden die (Grundgedanken B.s luul seine Stellung innerhalb der Fachgenossen dargelegt. B. ist nach eigenem (leständnis kein, schöpferischer Geist, sondern will nur Beobachtungen, die er an seinen zwei auf der oberen Kindheitsgrenze stehenden Töchtern und anderen Ver- suchs}xn'sonen machte (S. 31/32) der Mitwelt vorlegen, ohne seine Arbeil mit großem literarischen Rüstzeiig, das aus der Fremde herübergenommen ist. zu belasten (S. 13). Doch sind B.s Äußerungen nur zu verstehen, wenn mau weiß, zu tmd gegen welche fremde Äußerungen er Stelhmg nimmt. Auch in dieser Richtamg hätte T)i. T. seine Arbfit ergäjr/en können. Obwohl Dr. 'I. nachweist, daß B.s Hau])tverdienst darin besteht, „daß er in dem indiffe- renten Pariser Milieu die Fortschritte der Psychologie vertrat" (S. 13), so lehi-t er doch auch angeblich (vgl. aber Dr. Stadler, Einleitung in d. Psych., 1914, S. 128) Neues, nämlich den Begriff des Unbewußten, bei dem zwei Arten unterschiede)! werden (S. 46 ff.). A\'egen dieser Sachlage wird vielleicht die P>age mit Recht aufgeworfen werden können, ob dem Franzosen mit vollem (4runde eine Sonderarbeit gewidmet wurde. Wenn man auch im ersten Augenblick versucht ist. mit Nein zu antworten, so wird man doch nicht umhin können, festzustellen, daß es wertvoll ist, in einer zusammen- fassenden Abhandlung zu lesen, wie heimische Gedanken auf Professoren fremder Völker wirken und französische Gelehrte in Bukarest besonders be- kannt sind. Diese Tatsache besitzt auch im Hinblick auf die Stellung Ruminiens im Weltkrieg l)esonderen Reiz und Zusammenh.-Mig.
Da P. Norbert Brühl (0. SS R.) sich wiederholt mit den Gedanken des Berlinei- Physiologen J o h a n n P e t e r M ü 1 1 e r beschäftigt hat (Vorbemerkung Anni. 1). so glaubte er die Zeit für Zusammenfassen einer der Hauptlehren des fast 5(1 Jahre Toten gekommen, besonders weil auch neuere Forschungen Feststelhmgen Müllers bestätigt haben (z. B. Vorbemerkung und S. 88). Deshalb veröffentlichte Br. eine Abhandlung über die spezifischen Sinnes- energien nach Johannes Müller im Lichte der latsachen (Fulda 1915). Nachdem Br. selbst mamiigfache Einwände gegen Müllersche An- sichten (S. 23 ff.) und die Beweise für dieselben (S. 42 ff.) angegeben hat. kama der Berichterstatter sich mehr mitBrühl als mit Müller beschäftigen. Zunächst muß uneingeschränkt betont werden, daß der A'erfasser die ein- schlägige Literatur sorgfältig dui'chgearbeitet haben dürfte, und auf sie fast stets (Ausnahme S. 8: Lipps, vgl. S. 24 und 29, Verweise aufstellen der eigenen Arbeit) erfreulich bestimmt und klar verweist. Auch hat der Ver- fasser mannigfache Berührungspunkte Müllers mit anderen For- schern, besonders der vergangener Tage, aufgezeigt, vor allem Augustin (S. 41, 5f), 52/'3) und den Scholastikern (S. 59, 104), mit dem gi'oßen Königs- berger, der manche Zeitgenossen und Nachgeborenen auch durch den Anreiz 7.u)n AMderspruch beeinflußt (S. 88, 90 ff.), sowie dem an jenen anknüpfenden
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Idealismus (S. 90, 100, 104) und schließlich mit drei führenden Psj'chologeu des neuiuelmten Jiiliiluindeit.s;, die vor fillcm St. Hall, Die Begriuider der modcrueii Psychologie j^Leipzig lül4), eingehend gewürdigt hat, J'Vehiur (S. 55), Helmiioltz (S. 6/7, 54 ff., 88, 102) und Wundt (S. 4, 9, 20 ff., :«, 40, 44, 66 ff., 78 ff., 88). Besonders eingehend verweilt Br. natürlidi Ixi den Kinwänden, die Wundt gegen Müller machte (H. 66 ff.), und rt-kennt ndt scharfem Blicke eine der SchA^äehen W'undts. .,Ä\'iuidt bezeichnet man- ches als VoraiLssetzung, als wahrscheinliche Aiuiahiuf, was er anderswo ein- fach behaiiptet" (S. 67, vgl. S. 71). Das (inrch diesen Satz gekennzeichnete Verhalten \\'iuidts dürfte • — wie auch ich bei meiner Besprechung von Hall erwähnte — vor allem daraus zu erklären sein, daß ^^'unt{t in seinem arbeits- 1 eichen Leben selbstverständlich vielseitig sich entwickelte luid änderte. JJoch hat dieser berechtigte Ansiehtswcchsel die für Wundt peinliche Folge gehabt, daß „andere sich auf solche Behauptungen W'undts wie auf erwiesene Tatsachen stützen" (S. 67, 71/2, 103 Anmerk. .3). Aus dieser Tatsache scheint mir ei?i großer Teil der oft ungerechten Angriffe auf W'undt, wie wir sie z. B. in den Arbeiten von Hall — s. o. ! — und Kraus, Bentham U8\\ . ( 1914) kennen lernten, zurückzufüluen. Doch wemi auch Br. cie Beziehungen Müllers zu einzelnen Forschern angibt, die Umwelt und der Entwicklung.-- gang der behandelten Persönlichkeit wird nicht in derselben geschickteti \V''eise, die wir bei den Bäiimkerschülern, z. B. Dr. Matth. Meier, Descartes — 1914 — und Dr. Edmund Spehner, Malebranches, Münchener Diss. 191.3, oder bei Dr. v. Roretz, Diderots Weltanschauung -^ 1914 — beobachteten, herausgearbeitet (vgl. Post, .J. Müllers jihilos. Anschauungen, Halle 1905). Die angedeutete Kenntnis jedoch und die Schilderuiig der Geistesanlage Müller.s, welche auch nicht im Zusammenhang gewürdigt wird, aber aus der gesamten Lebensarbeit Müllers zu erschließen wäre, winden viel zxim bes- seren Verständnis und zu einer richtigeren Beui'teilung Müllerscher Au.s- fühi-ungen beitragen (vgl S. 41). Mehr als den nur gelegentlich gestreiften Werdegang Müllers (S. 7, 88 ff.) bespricht der Verfasser den eigenen und Selbsterfahrungen (S. 4, 13/4, 18, 20, 31, 83/4), um Müllersche Darle- gungen erklärend und begründend zu stützen. Aus ihnen greife ich einen Punkt heraus, damit auch die Arbeitsweise Brs. an einem Sonder beispiel klar wird. Um den W^ärme- und Kältesinn in seiner örtlichen Verteilung zu zeigen, wird im Anschluß an (loldscheider — leider ohne genaues Buch- zitat — • eine Zeichnung wiedergegeben (S. 75, vgl. S. 78). An wieviel Men- schen Avurden die Versuche vorgenommen, um die Bilder zu gewimien ? In- wiefern sind diese Schlüsse aus den Feststellungen bei .einzelnen für die All- geraeinheit richtig? Welche ]}ersönliche Verschiedenheiten walten ob, und wie sind sie begründet? Nur die Kenntnis dieser Umstände, welche alh-in der auf die Quellenberichte Zm-ücligehende erfahren kann, gestattet ein wirk- liches Xachijrüfen der Behauptungen. Ihre Wahrscheinlichkeit bestreite ich gewiß nicht; nui' daß im feudi der unwiderlegliche Beweis fehlt, muß ich betonen. Aber wenn man all diesen Sonderfragen hätte nach- gehen wollen, so würde die Abhandlung wohl nicht 100 Seiten umfassen, sondern ein dickleibiges Buch sein. Es würde aber von der sehr segensreichen
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Beschäftigung mit Müller v,oh\ manche, die nicht zum engen Kjeis der Ftieli- genossen gehören, iibsehrecken. Die gleiche Rücksicht auf den Um- fang mag auch ^Trhind(■rt haben, daß der Verfasser die erwähnten Äuße- rungen über Subjektivisanis (.S. 41, 78, 89, 103), besonders auf dem Gebiete der Künste, vor allem der Malerei (S. 43, 52, 54, 89, 95, ,99) oder bei Beob- achtungen, wie wir sie bei Erich Ruckhaber, das Gedächtnis (Berlin 1915), besjirechen (S. 72 und 84) oder bei Richard Müller-Freienfels, das Denken imd die Phantasie (Leipzig 1916) keimen lernen (S. 86), ferner die Dar- legungen über Entwickeln des Erkennens (8. 97) nicht weiter ausgespoimen hat. Ich habe also auf diese Punkte hingewiesen, rieht um gegen jemand Stellimg zu nehmen, sondern um auf die Schwierigkeiten, um nicht zu sagen Unmöglichkeit aus einzelnen Beobachtungen allgemein gültige Schlüsse zu ziehen (vgl. S. 31, 50, 73), wieder einmal hinzuweisen. Um Müllers An- sichten zuni Schlüsse kiu'z wiederzugeben, benütze ich eine Zusammen- stellung Br.s (S. 98, vgl. S. 103). ,,Die Sinnesempfindungen an sich sind
nm' Eigenschaften und Betätigungen des Sinnes selbst. Sie sind keine
EigeiLschaften der äußeren Dinge, mid diese Dinge haben auch keinen Ein- fluß auf die Eigenart der EmpfiiKhmg, die nm- im Simie selbst begründet und mit iJnn gegeben ist" iisw.
Das Vorwort der psychologischen Untersuchung von Professor Di. Riehard Müller -Freienfels, welche den Titel d?.s Denken und die Phantasie, psychologiselie Untersuchungen nebst Exkursen zur Psycho- patliologie, Ästhetik und Erkenntnistheoxie (Leipzig 1916, Johann Ambicsius Barth — ■ 8 Mk. — ) tragen, beginnt mit dem Satze: ,, Dieses Werk imter- nimmt eine Analj'se jener komplizierten seelischen Erscheimmgen, die auch die Umgangssprache, obgleich nicht völlig in unserem Sinne als Denken und Phantasie bezeichnet." Mit diesen Worten drückt der Verfasser klai und scharf umrissen seine Absicht aus (vgl. S. 11 und 18) und, indem er der Umgangssprache, die er mit Recht eine vorzügliche Psychologin nennt (S. 23), vgl. aTich m. Bespr. v. Dr. Rieh. Baerwald, Zur Psychologie der Vor- .stellungstypen (Leipzig 1916), und Dr. Kleinpaul, Volkspsychologie (Leipzig 1914), seine eigene Ausdrucksweise gegenüberstellt (vgl. S. 147 luid 193), läßt er ahnen, daß manche eigenartig geprägte Darlegung zu erwarten steh' . In dieselbe Richtung weisen die nächsten Gedanken und vor allem die aus- führliche Einleitung, da auf vorhandene Unterlassungssünden, be- sonders in psychologischen Lehrbüchern (vgl. auch m. Bespr. des Lehr- buches von Professor Fröbes, Freiburg 1915) nachdrücklich hingewiesen, allerdings leider ohne Belege (vgl. z. B. S. 4, 18, 21, 29), und die eigene Arbeit in die allgemeine Literaturlage hereingestellt wird, indem fremde mid eigene Begriffsbestimmungen und Entstehungsgesclüchte des vorliegenden Werkes geboten werden. Ebenso deutlich bekennt sich der Verfasser zun; Entwicklungsgedanken (S. 6, 11), doch gibt er auch die Grenze des der- zeitigen natiu'wissenschaftlichen Wissens zu (z. B. S. 10 ff. und 238 ff.). Mit der Bezeichnung ,, naturwissenschaftlich-medizinischer Psychologe" (vgl. S. 270) trifft man aber niu- die eine Seite von Dr. M., da er gegen die
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iiaturwissenschaftliclic Motliocle in der Psychologie auch berfchtigten Ein- Avaiicl «.'i-hebt (S. 35), rtll»M-diugs nicht so giunclsätzlichon wie gegen die Ar- beitsweise der traditionellen Logik (S. 284ff., vgl. S. 41). Die andere wichtigere Seite läßt sich vielleicht am besten mit dem AVort „psychologischer Jjiteraturhistoriker" andeuten. Die Versuchspersonen sind nämlich nicht, wie bei vielen andeien Psychologen, voran aus dem Kreis um Wundt. in erster Linie lebende (regenwartmenschen, welclie entweder selbständig oder unter Jxütung schriftlieh oder mündlich vorgelegte Fragen beantworten (vgl. lu. Bes])r. von Dr. Bärwald und Dr. Marbe !), bzw. sich selbst über ihr Denken Rechenschaft geben (vgl. S. 39 ff., s. auch m. Berieht über Ruckhaber!), sondern Tote. Ihre Ansichten werden den eigenen Äußerungen in Tagebüchern, Briefen usw. entnommen. Eine Wahl hat juieh besonders überrascht, Kaspai Hauser (S. 121 und 134); denn seine Glaubwürdigkeit ist lebhaft umstiitten (vgl. auch Katalog der kgl. Regiermrgsbibl., Ansbach 1913, S. 367/8, Nr. 30 ff. !). Indem Dr. M. Äußerungen geschichtlicher Mämier mit .Selbstbetrachtungen vereinigt, will er zu greifbareren Ergebnissen gelangen, als andere Psychologen. Der Reihe nach A\ertlen die einzelnen Vorstellungen, welche dm-ch die Sinnes- und Wahrnehmmigsorgane vermittelt werden, beschrieben imd bestimmt. Selbstverständlich niuß sich der Verfasser innner wieder mit anderen Foi- »chern auseinandersetzen. Da dieses sehr gründlich geschieht, ist es doppelt bedauerlich, daß er besonders in der Einleituiig statt Sonderangaben zu machen, welche Forscher er im einzelnen im Auge hat, nm- allgemeine Wendungen gebraucht (Vorw. III, S. 14, 18, 21, 28 ff., 45, 55, 67, 73, 80, 82, 155, 200, ,243, 271, 326). Wenn auch dieses Verfahren den Darlegiuigen viele persönlichen Spitzen nimmt (vgl. Vorwort S. 7 u. m. Berieht über Dr. Eienmeier), so vermag doch derjenige, welcher etwas über die (^scliichte der einzelnen Begriffe erfahren will, kein ganz scharf um- rissenes Bild zu ge^^imien, sofern er nicht die ganzeLiteratur ebenso über- blickt, wie der erfahrene, belesene Verfasser. Ebenso wird nicht immer gesagt (z. B. S. 11, 31, 33, 38, 40, 69, 78, 85, 103 Ajim., 105, 123, 133 ff., 182, 204, 210, 243, 249 f., 264, 271, 281, 283 ff., 292, 320, 325), in welchem Zusammenhang die gebilligte oder bekämpfte Ansicht bei einem genaimten Forscher steht, wie wohl diese Kemitnis für die Bem-teilung der Sachlage bekanntlich nicht bedeutungslos ist. Doch wenn auch der künftige C^fechichtsschreiber, welcher die Wandlmigen von einzelnen Begriffen be- leuchten will, bei dieser Erwähnungsweise, die der Verfasser mit vielen anderen .\rtgenossen gemeinsam hat (vgl. z. B. m. Besprechungen von Dr. Cohn. Fröbes, (^abrilovitsch, Ki-amar), die von Dr. M. beigezogenen Darstellungen nochmals wird dm'chackern müssen, so findet er doch sehr viele Auseinander- setzungen, welche die Aiisichten des Verfassers selbst erkennen lassen, ob- gleich er an die Aufmerksamkeit seiner Leser auch dadurch sehr große An- forderungen stellt, daß er auf die einzelnen Stellen seines Buches fast immer auch nur in allgemeinen Ausdrücken verweist (Ausnahme S. 247 !). Doch genug mit die-sen C4edankcn über die Arbeitsweise und zum Schluß einige bezeich- nende Angaben über SonderansichtenDr. Ms. ! Über die Vorstellungen zum Beispiel urteilt Dr. M. (S. 87): „Völlig abzulehnen ist die Lelrre, welche
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RezeDsioneo.
die in der Senk' von Eiudrüekon bleibenden ^'aelnvii kinigen ;i.ls „uabe^\nütc \'orstellungen" oder „latenten Eiinneiungsbilder" definiert." Zu Beginn des zweiten Kapitels über „analytische Funktion im Wahrnehmen oder die Aufmerksamkeit" nennt der Verf., indem er zit den Ergebnissen des A-oran- gehenden Abschnittes ergänzende (Jrundlagen bietet, das ^^'ahrnehmen „ein Denken, das sich niu' direkt an den äußeren Gegebenheiten betätigt" (S. 90). Aus seinen verschiedenen Feststellungen zieht der Verfasser auch selbstverständlich Schlüsse, welche f ü r das Lehren und E r z i e h e n A\ichtig sind, indem er „der sogenannten alten Assoziationspsychologie" die neuere „Pädagogik, welche Cefiihl \nid Tätigkeit der Kinder am-cgen will", gegen- überstellt (,S. 100). Doch wird ( Jefühl und Tätigkeit, die kein weitschauender Lehi-er gering schätzt (vgl. auch m. Bespr. von Dr. Kerschensteiner, Char. kter usw, — Leipzig 19L5' — ), ini allgemeinen nur ausgelöst, wemi das Beobachtete irgendAvie verwandte Seiten, d. h. im Kinde Schlummerndes wachruft (S. 104 ff., 2r)0. 288). Deshalb wirken unter gewissen Umständen dieselben Tatsachen auf einzelne Schüler ganz verschieden; z. B. wird sehr oft der Kern eines Vor- ganges oder einer Sache nicht wahrgenommen, während Äußerlichkeiten auffallen, besonders wenn Ernstes mitzuerleben ist. Auch daß Mitsprechen der Lehrerwoite besonders gespamitt> Aufmerksamkeit beweise, werden kaum alle Lehrer bejahen; denn gerade ciie eifrigsten Mitflüsterer zeigen sich mit- unter ganz geistesabAA'esend, wenn sie nach dem Mitgesprochenen gefragt werden. Doch ich will nicht Einzelheiten, über deien Auffassung sich streiten läßt, herausheben, sondern nur andeuten, daß die alte Binsenwahrheit von den zwei Seiten jedes Dinges nie beiseite geschoben werden darf. Weniger Bedenken dürfte das über die Äußerungen kleiner Kinder Ciesagte erregen (S. 115 und 153), und ebenso die Darlegungen, welche Vorstellung die Kleinen von einzelnen Dingen sich bilden (S. 142), wie besonders ausfühi'lich W. Stern, Psychologie der frühen Kindheit (Leipzig 1914) hervorhebt. Doch wie auch jeder Leser zum Buch als Ganzes oder zu einzelnen seiner Stellen, zum Bei- spiel zu den Wahrnehmungsmteilen und Begriffen (Kapitel 4), zum ziel- strebigen Denken (Kap. 7), über den sogenamiten Zufall (S. '86ff., vgl. m. Bericht über Dr. Timmerding, Zufall. Braunschweig 1915) stehen mag, das eine dürfte niemand leugnen, daß das Werk sehr fruchtbare Anre- gungen gibt und den Kampf gegen die hergebrachte „Vorstellungs- psychologie" zugunsten einer „Äktionspsychologie" sehr entschieden führt und auch ein „System" seiner Ansichten bietet. Daß nicht alle an- geschnittenen Fragen endgültig beantwortet werden, voran diejenige, was ist Denken?, wie geschieht es?, werden nur Übelwollende ankreiden. Möge der ziel- und selbstbewußte Verfasser, nachdem er recht bald AÖUig genesen, seinem friedlichen Beruf zurückgegeben ist, uns neue Ergeb- nisse seines durchdringenden Verstandes, welche auch jene Grund- fragen beleuchten, schenken können! (Schluß folgt.) Bergzabern. ^^'' Jegel.
A r 0 li i V
lÜT
Oeschichte der Philosophie
herausgegeben von
L u d w i £■ Stein.
XXIV. Band.
Neue Folge XXIV. Band.
B K R L 1 N.
Druck und \'erlag von Leon hart! Siuiion N't.
1918.
Archiv für Philosophie.
I. Abteilang:
Archiv für Geschichte der Philosophie,
Neue Folge. XXIV. Band, 3. Heft.
VII.
Ein Beitrag zum heraklitisch-parmenideischen Erkenntnisproblem.
Von
Dr. Emanuel Loew, Wien. (Schluß.)
.Dieser Tadel gilt allen Logosdenkern, den öoxificoTatoi (28) gerade so wie ihrem Gefolge. Schein ist es, was die durch ihr Schein- wissen angesehensten Männer erkennen (28). Wirkliches Wissen ge- winnen nur diejenigen, welche die ewige gleichmäßige Entwicklung der Erscheinungen xccth (fvoiv erkennen, und indem sie .den vov^ wach erhalten, eine Erinnerung an das bewahren, was sie (pQor//Oei. erkannt haben. Was alle anderen Menschen gleichsam im Schlafe verharrend denken (reden) ^Sj "und tun, ist Nichtwirkliches (1, 21, 73)
^3) livHV ist ebenso wie KöyoQ bei H. und P. der Ausdruck für logisch / ^ Nichtwirkliches) denken und reden. In meinen früheren Arbeiten, als ich für die ganze Sache wohl schon das richtige Empfinden hatte, ohne es genauer begründen zu können, habe ich den Gegensatz Xiyeiv, löyog — (foorsh-^ (pooi'rjGig durch , künstlich berechnen' • — , natürlich verstehen', wiedergegeben; schärfer ist , (logisch) denken' — »(wirklich) erkennen'. Nestle nennt das eine kecke Behauptung (Ai-ch. 1912, S. 288). „Gibt es aber, ruft er aus, übsrhaupt in der griechischen Literatur eine Stelle, wo Xsysiv , künst- lich berechnen' heißt? Ich weiß keine." Demgegenüber verweise ich 1. auf Schleiermacher (Ges. W. Abt. 3, Bd. 2, S. 107): „Und hier gleich mag es er- laubt sein, die Vermutung aufzustellen, daß der Sprachgebrauch durch das Wort Xöyog auch die Vernunft zu bezeichnen. . . abgeleitet von leysii' sammeln, zusammenstellen . . ."; 2. auf Patin, der freilich nur von Parmenides sagt : „Xoyoc scheint soM'ohl die mit dem Sinn zusammenfallende
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126 Eiuaniiel Loew,
ditaft^bj, die man besser bergen sollte als zur Schau tragen (109, 95) oder m>h\uadifj, die den röoc nicht belehrt (40). Will der voog be- Iclu-t werden, so darf er nicht .iragtcov äjTtivcu (34), d. h. er darf nicht abstrahieren, statt zu erleben; denn dadurch werden die Men- schen wie unerfahren (1), als ob sie keine Sinne hätten (34). Statt die Dinge des Alltags zu beobachten, stoßen sie verständnislos auf dieselben und erkennen sie nicht, bilden sich's aber ein (17), die Dinge erscheinen ihnen fremd (72), offenbar weil der vovq mit ihnen nicht zusammenkommt, an ihnen nichts erlebt und deshalb keine Erinne- rung an sie bewahrt. Woher kommt dieser Stumpfsinn? Von dem beständigen Verkehr mit dem Logos (72). Das oofföv ist nämlich etwas von allen Logoi Gesondertes (108)^4) : Gegenstand der Logos-
Wahrheit des Denkens als auch die Sprache und ihre bezeichnende Kraft zu bedeuten" (a. a. 0. 8. 534); 3. auf die Tatsache, daß sich auch bei Xenophon und Piato nicht selten Sätzchen finden, wie dni, it kiyeig „sage, wie du dir die Sache in Gedanken vorstellst", „berechnest". Mit diesem Einwand hat also der so selbstsichere Rezensent nicht mehr Glück als mit seinem in Anm. 19 widerlegten. Keineswegs darf eine Auffassung der hera- klitischen Philosophie, die voraussetzt, Hieraklits loyog sei ein Proteus (Diels), sei'ne (pQorijaig sei mehrdeutig und ermögliche daher leicht eine Umbiegung des Gedankens (Th. Gomperz), sein köyog sei mit cpQovsJi und (pooi'ijatg synonym, es könne daher das eine die Rolle des anderen übernehmen (Xestle), sein löyog habe kosmologische Bedeutung, der luyug seines Gegners Parmenides dagegen erkenntnistheoretische, als so „wohl- begründet" bezeichnet werden, daß ihr gegenüber die Auffassung, derselbe Name habe sowohl bei demselben Denker als auch bei dessen zeitgenössischem Gegner immer dieselbe Bedeutung, als „eine gewalttätige und irreführende Ent- stellung des alten Denkers" verschrien werden dürfte. (Nestle, Arch. a. a. 0. S. 304.) Ich gebe ohne weiteres zu, daß die Begründung meiner These vielfache Fehler und Lücken aufwies, aber durch die Berichtigung der- .selben, die ich der sorgfältigen Erwägung der rein sachlichen Bemerkungen seitens der Kritik — ihr oft maßloses Geschimpfe ließ ich unbeachtet — «owie weiterem eigenen Studium verdanke, gewinnt meine These eine m. E. erst recht feste Stütze.
34) ^xÖGiov luyovg tjxovßa, ovdeig dcßixvHTai ig tovto, cuOtb yirojGxny, on Gocpöi' lari xexiOQiG^irov 'tvuvtlov. Bislier hat man nürnov als neutrum gefaßt und ^ übersetzt, das Weise sei von allem gesondert, liege jenseits aller Erfahrung. „Das heraklitische xsxtoQia^iroy ist somit ein unmittelbarer Vorblick auf die platonische Idee".(Slonimsky). Genau dr.s Gegenteil ist richtig. TrwVrwi' ist masc, bezogen auf W/owc, und heißt: Das Weise ist etwas von allen löyoi Gesondertes, hat mit dem Rationalismus nichts zu tun. Gegenstand der Erfahrungserkenntnis sind ja die nuoeövTU,
Ein Beitrag zum lioraklitisch-parmenid. Eikenntnispicblem. J27
erkenntnis sind, wie uns Parmenides bald bestätigen wird, die djTtövTa (Farm. Fr. 2), das oo(p6r aber hat es nur mit den :xa(jt6vra zu tun, es will erfahrbarwirkliches Leben genannt werden (.32). .Has Er- kennen des Erfahrbarwirklichen ist die größte Fähigkeit und Weis- heit ist logisch Wahres denken (reden) und tun nur dann, wenn man der natiirliehen Entwicklung gemäß auf diese hinhorcht (112) und niemand kann sich der Wirklichkeit völlig entziehen, auch die schlafeiulen Logosdenker nicht, „auch die Schlafenden sind AVerk- leute und Mitwirker der im Kosmos sich entwickelnden Ereignisse'' (75), auch sie haben an der allen gemeinsamen ffQovt/oi^ teil. Woraus freilich nicht folgt, daß alle den gleichen Anteil haben. .Oer dumme Kerl, der sich von jedem Logos imponieren läßt (87), kann nicht, wenn er nur strebend sich bemüht, an Weisheit mit Homer wett- eifern, „dej- doch weiser war als die Hellenen allesamt" (56). Man darf es also nicht so machen wie die Ephesier, ,,die Hermodoros, ihren wackersten Mann, aus der Stadt gejagt haben mit den Worten: \'on uns soll keiner der wackerste sein oder wenn schon, dann anders- wo und bei anderen" (121). Xein, es ist v6{/og, auch der ^iovP.t'j des i-lg zu folgen (33), der dg gilt zehntausend, wenn er der ägiorog ist (49). .Uie aQioroi nämlich ziehen den ewigen Ruhm den ver- gänglichen Dingen vor, die ol jcoUoi aber liegen da, voUgefresseii wie das Vieh (29), dessen Glück in körperlichen Lustgefühlen l)e- steht (4). Ochsen sind glücklich, wenn sie Erbsen zu fressen finden (4), Esel würden Häckerling dem Golde vorziehen (9). So sind auch die 01 .-loUol xcr/Mi, 6/Jyot d' (r/c.f^oi (104). Sie sind deshalb, ob-
Gegenstand der reinen Gedankenerkenntnis sind tlie «TTfOJ'iM. >So\vie also nach H. das G0(f6i' xs/cüoiGfAtvor ndvnov lüiv uTreoi'TCuv ist, so ist nach Parm. das dh]d^iQ xe^iOQio^iivov ttuvtiov tcov rruoeoiiioi' (vgl. das zu fr. 2 Gesagte). Im .Schlafe, heißt es im Berichte des Sextus, wenn sich die uiG&rjixoi TTÖqoi schließen, wird der rovc vom Zusammenhang mit dem neoiixor ;ftu^('UT«<, XWQiatf^eig aber verliert er die pp)]/jiovixt] övvufitc, die er früher hatte. Im Wachsein aber gewinnt er sie wieder r« Ttsqiiyovii gv/j (iu/.iov. \on der Wirklichkeit getrennt, verliert der vovg seine Gedächtniskraft; folglich kann das Gocpör nicht jenseits aller Wirklichkeit liegen, im Gegenteil, es ist mit der Wirklichkeit identisch. Bei Herbertz (a. a. O. 8. 34) findet sich fol- gender Satz aus F. C. S. Schiller: Humanismus. Beiträge zu einer iJragma- tischen Philosophie S. 55: ,,So ist es das ttowtov iliev(^og des Apriorismus daß er unseren Intellekt (bei H. = (f,Q6v)]Gig!) getrennt von dessen biologischer . . . Grundlage . . . betrachtet." Das deckt sich fast wörtlich mit Heraklits fr. 108.
128 • Emanuel Loew,
wohl sie. die allen gemeinsame (fQÖrr/Oig besitzen (113 + 2), doch ungeeignete Lehrer (104), weil sie wie Kinder handeln, die alles ihren Eltern nachmachen \ind immer nur sagen: Wie wir's übernommen haben (74). Und diese stumpfsinnige, denkfaule Menge, deren Typus der dumme Kerl ist, dem jeder Logos imponiert (87), bildet das Ge- folge der Logosdenker, welche die Entwicklung des Alls xara Xoyov , beurteilen wollen (1), als ob dor Xoyo^ xoiv(k, die (fgovr/oig löia wäre (2). Sie leben daheft nicht wie die Wachen im ycöcfiog xoivöz (89), der, wie er jetzt ist, immer war und immer sein wird (30), sie wenden sich von diesem xöoiiog ab und leben, nein, sie schlafen in einem xoofioc; idtog, wie sich ihn jeder einzelne von den Schlafenden konstruiert (89), als ob einer der Götter oder Menschen irgendwo und irgendwann eine ungeordnete Stoffmasse gefunden hätte, aus der er wie ein Baumeister mit Xöyog und iutqov eine Welt „ge- macht" hätte (30). Aber der schönste Kosmos, den sie in ihren Ge- danken konstruieren, ist ein aufs Geratewohl hingeworfener Kehricht- haufe (124), Kinderspiele sind menschliche Berechnungen (70), wie wenn Knaben beim Spiele Brettsteine hin und her setzen (52).
Nur Schein ist's, was die durch ihr Scheinwissen angesehensten Männer zu erkennen glauben; aber freilich diese Lügenschmiede und ihi-e Zeugen wird auch die Alxrj zu fassen wissen (28). Zu diesen doxific^razoi tpevöcöv rixTorsc, den xoxiöcor dayr/yoi, den Erz- scharlatanen (81), gehören namentlich Hesiod, Pythagoras, Xeno- phanes und Hekataios (40), desgleichen Homer und Archilochos (42), wohl auch Thaies (38)^5), ihre fmQTVQsc sind ihre Nachbeter. Sie alle zeihe nicht ich, Heraklit, allein, der Lüge, sondern auch die z//x/y36j wird sie fassen, d. h. auch das Naturgesetz wird sie Lügen
^^) daTOoloyriao.i, ist offenbar im tadelnden Sinne zu fassen (fr. 38); denn auch Homer heißt düTqolöyog (104). Besser kam Blas weg, ov TtXkor Xöyog I] T(Zv äiXtov {39). Auch hier bin ich nicht in der Lage, dem Rate Nestles folgend, aus dem nächsten besten Wörterbuch Belehrung zu schöpfen und mit Nestle zu übersetzen: „von dem mehr die Rede ist" oder „der mehr bedeutet". Es heißt vielmehr: „dessen Logos mehr wiegt als der aller anderen". Heraklit hat gar vieler Männer Theorien gehört, also auch die des Blas, die mehr wiegt als die aller anderen (108, 39). Was H. zu dieser Anerkennung bewog, wissen wir leider nicht.
36) Burnet a. a. 0. 8. 25: „Für den regelmäßigen Verlauf der Natur, als er zuerst entdeckt wurde, fand sich kein besseres Wort als JTxjj. Es ist dieselbe- Metapher, die noch im Ausdruck „Naturgesetz" weiter lebt." Vgl.
Ein Beitrag zum heraklitisch-parmenid. Erkenntnisproblem. 120
strafen. Hätten diese TixTovt^, die Baumeister, ihre ipevdsa, ihre Pseiido Wahrheiten, nicht ersonnen, so hätten die Menschen niemals erfahren, daß das Naturgesetz mit den ij^tcöia im Widerspruch stehe, oder wie H. sagt, „die Menschen kennten nicht das orofia /lixfj^, wenn diese sc. i^^tvöea nicht wären" (23).
Eines der ipivdta, welches die das Werden des Alls xara Xöyov beurteilenden Weltbaumeister konstruiert haben, be- trifft die Sonne. „Die Sonne ist neu an jedem Tage" (6) «nd „hat die Breite eines menschlichen Fußes" (3). Man hat sich oft über die „über alle Maßen naive Zuversicht zur «'/öi9-/;a<c" gewundert, von der diese beiden Aussprüche zeugen. Denn daß ein Schiff aus der Ferne wie ein Punkt aussieht, dann wie eine Linie, die immer grüßer wird, bis man das eigentliche Schiff erkennt, war wie jedem Griechen auch H. bekannt, und Aristoteles verhehlt seinen Ärger gegen das ganze heraklitische System nur schlecht, wenn er mit derselben Geringschätzung, mit der er über Heraklits Ausdrucks- weise urteilt^"), hier scheinbar objektiv polemisierend sagt, die Sonne scheine nur einen Fuß breit zu sein, es sei aber erwiesen, daß sie größer sei als die Erde; man beachte das Gehässige, das schon im Ausdruck liegt: (fairtrai . . . iptv6f~j . . . xexiorsvrca de . . .^^) Die beiden an sich gewiß sehr sonderbaren Äußerungen sind nur als Zuspitzung -aus einem polemischen Motiv heraus zu verstehen, wenn man sie als einen Protest gegen das Messen und Berechnen nach absolut gültigem Maßstabe auffaßt. Was gehen uns Menschen, will H. sagen, die Größenverhältnisse der Sonne an? Wir können sie nicht fest- stellen, schon deswegen nicht, weil die Sonne an jedem Tage neu ist. Übrigens ist für die Menschen nur das wirklich, w^as allen gemeinsam erscheint. Da nun für das menschliche Auge die Sonne die Breite eines menschlichen Fußes hat, so ist das allen gemeinsam Erscheinende auch wirklich. Das entspricht gewiß nicht der „Wahrheit"; aber die
•dazu Anm. 18: „ . . . die festen Regeln und bestimmten Weisen, wonach Gott solche Folgen von Ideen in uns erzeugt, heißen „Naturgesetze".
3') Arist. Rhet. III o, 1407 b, 16. Aristoteles sagt, H. habe auf seine Meinungen ebenso großes Vertrauen als andere auf ihr Wissen. Vgl. Zeller a. a. 0. tS. 571.
28) de an. III 3, 428 b: (puirsTUi, 6e xut ipsvdrj . . . olov (puiveiut fih « fjXtog noöimoc, niniGiivTUV (J' ihuv /jsi^o) Tr,g oixovjjirrjg. Nestle <Archiv a. a. 0. 8. 300).
130 Emanuel Loew,
,,AVahrheit" finden ja die, welche die Sonne berechnen und messen, auch nicht. Und wenn sie behaupten, daß die Sonne „Maße" über- schreiten werde {^tTQa heißt es und nicht, wie man allgemein über- setzt, TU ittTQa ihre Maße!)^^), so ruft ihnen H. entgegen: „Die Sonne wird „Maße" nicht überschreiten; ansonst werden die Erinyen. der Dike Schergen, sie ausfindig machen", d. h. das Naturgesetz wird sich an der Sonne bitter rächen, wenn ihre Bahn durch vorher absolut festgelegte, durch menschliche Berechnung zu ermittelnder ,wfcT(>ß bedingt' sein sollte. Nein, der Helios kann nach /JtTQa ebenso- wenig gemessen werden, wie der xoOftoi^ überhaupt.
Den gegenwärtigen Zustand der Kosmosentwickhmg, den wir da vor uns haben, hat nämlich kein Baumeister, weder einer der Götter noch einer der Menschen „gemacht". Der Hauptton liegt nicht so sehr auf ovrs d^tcör tiq oIt ävd-Qcjjtcor (= überhaupt niemand), sondern auf tjtohiotr. Der Kosmos ist nicht das Machwerk irgend- eines Baumeisters, sei es der Götter, sei es der Menschen, der irgendwo und irgendwann ungeordneten Stoff gefunden hätte, der ihm zum Bau eines Kosmos geeignet erschien und ihn deshalb veranlaßte, unter Zu- grundelegung vorher genau berechneter, absolut bestimmter ittriKc einen Bauplan zu entwerfen, nein, sowie der xooftog jetzt ist, war er immer und wird immer sein: ein ewiglebendes Feuer . . . Das Feuer lebt ewig, d. h. es ist in rastlose^- Entwicklung, es nimmt fortwähi-end Brennstoff in sich auf und gibt glefchzeitig fortwähi-end Brennstoff von sich ab, es gibt also nicht etwa wechselnde Perioden im Kosmos. sondern die drcr/xy, die fytaQfiiV)/ bewirkt einen rastlosen Über- gang zwischen den Gegensätzen, c§ findet ewiger Austausch, .Troow- ärTafwili// (90), «bwiger Wandel, rrvQoc tqojtcü (31) statt. Eine ewig brennende, ewig rauchende Stoffmasse aber wie der Kosmos kann, weil sie durch ununterbrochenes Erglimmen und Verlöschen fortwährendem Austausch und Wandel unterworfen ist, nicht nach einem sich ewig gleichbleibenden Logos gemessen werden. Sowi-e die Annahme, daß der in rastloser Entwicklung begriffenen Sonnenl)ahn absolute ^ittQu zugrunde liegen, mit dem Naturgesetze in AVider- spruch steht, so gibt es auch keine Möglichkeit, den werdenden Kos-
39) Burnet beruft sich für seine Auffassung: „Die ^'onne wird ihre Maße nicht überschreiten" auf Diogenes von Aiwllonia. Aber da er seinen Gewährsmann in das Kapitel „Eklektizismus und Reaktion" einreiht, hat er den Zeugniswert selbst richtig beurteilt.
Ein Beitrag zum heraklitisch-pormenid. Efk..nntnispioblciu. 131
mos nach absoluten Maßen zu berechnen; das macht schon das ewig- lebende Feuer selbst unmögjch, indem es, wie H. mit bitterem Hohne sagt, „(teTQic immer wieder mit sich zum Entfachen, inr^a immer wieder mit sich zum Verlöschen bringt". Wie tief dieser Hohn von den Gegnern empfunden wurde, werden wir bei Parmenides bald hören. Im Zusammenhange möchte ich also den 30. Ausspruch folgender- maßen übersetzen:
„ Der gegenwärtige Zustand der Ivosmosentwicklung, den wir vor uns haben, ist nicht jemandes Machwerk, weder eines der Götter noch der Menschen, sondern er bestand immer, besteht und wird be- stehen : ein ewig lebendes Feuer, immer* wieder Maße mit sich ent- fachend, hnmer wieder Maße mit sich verlöschend."^")
Im Anschlüsse an diesen Ausspruch überliefert uns Clemens zwei weitere Fragm., die bei Diels unter Fr. 31 vereinigt sind:
jrvQog TQOJCcu :jtq<~}Tov d-c'ÜMOOa, ihtkaoörjc dt to iilv t/iiior y/j, To dl t'jfiiGv -rQtjGT//Q und
tyaXaOOa ÖiayttTcu xcci fitTQtercu ac ror c.vToy /o/or, ozoToc .T (>('}(} Ihtv ijV // ytvtOfhcL 7'//.
Den ersten der beiden Sätze deutet ('lemens dahin, daß das Feuer von dem das All waltenden Worte oder Gotte (vjio ror dioLxovvTo^ /o'/oc // d-8ov) in d-äZaoaa verwandelt wird, im zweiten lege H. ., deutlich" auseinander, wie dann die AVeit wieder ins Ursein zurück- kelu-e und der AVeltbrand entstehe {ixjrvQocTcu). Also die an- geblich heraklitische Logostheorie und Weltbrandtheorie sollen diese beiden Sätze dartun. AVas nun die letztere betrifft, so steht sie schon nach dem 30. Ausspruche mit dem ganzen System Heraklits ebenso im Widerspruch wie die erstere, und ich verstehe nicht, daß Forscher, welche die ix.7r^()c?ö^c-Lehl•e bezweifeln, ja sogar entschieden be- streiten^^), doch gleichzeitig eine Logoslehre Heraklits anerkenne]!.
^") Vgl. die Stellungnahme des Parm. S. 140, Z. 6 dieser Ablidlg. Herbertz (a. a. ü. .S. 25) : „Ich kann bei normalem ^\ achbewußtsein nicht eine Welt von Wahrnehmungsinhalten für mich erzeugen, die sich ganz nach meinem Wollen und Wünschen richtet, sondern ich bin hier von irgend etwas ab- hängig, das außerhalb meines Willens und überhaupt außerhalb meines Be- wußtseins liegt — von eben den Außenweltdingen." Das ist der Inhalt von Heraklits fr. .30 und insbesondere 89.
") Von den älteren 8chleiermacher und Lassalle, von den jüngeren Burnet und Reinhardt.
132 Emanuel Loew,
Clemens freilich macht sich den Beweis, daß H. in diesen zwei Sätzen beide Theorien lehre, sehr leicht: im 1. Satz wird jivq dem /lo/oc, im 2. Teil X/r/OL; dem jivq gleichgesetzt und damit ist bewiesen, daß H. oacfoji; lehre, daß das jcvq vom Xoyog in O^dlaaoa verwandelt werde und umgekehrt fyäXaaaa in dasselbe jtvq zurückkehre. Aber so ganz (ja(f(o^ will mir die Sache nicht scheinen, ich glaube schon eher dem Theophrast, der von H. sagt: oafpcög d' ovdlv IxTid-trai^^) Aus den Worten jivqo^ TQOjrcd geht das eine hervor, daß H. des Feuers Wandlungen angil)t, der Weg nach unten und der nach oben ist ein und derselbe (60). .Der erste Satz enthält nun die böoq xdzo) : Feuer wird fhdXaaaa, von der ihäXcujöa wird die eine Hälfte /;/, die andere tiq/jot/jq, wobei t6 yfnov offenbar nicht im mathematischen Sinne zu fassen ist, sondern so, wie man im Alltagsleben zwei Teile eines Ganzen „Hälften" nennt. Nun fehlt noch die oöog arco. Diese hat Clemens unterdrückt und dafür den zweiten Satz, der ursprüng- lich einen ganz anderen Sinn hatte, so gedeutet, als ob darin die odou ctvco ausgedrückt wäre, wobei es ihm zugleich gelungen ist, den An- schein zu erwecken, als ob das jtvq im ersten Satze mit dem Xöyog im zweiten Satze gleichbedeutend wäre.
Nach meiner Meinung steht die Sache folgendermaßen: Auf den ersten Satz, der die oöog xdroj enthält, folgte unmittelbar ein zweiter Satz, enthaltend die ödog ävfo. Im Anschlüsse an diese beiden oöoi erklärte H., daß diese natürliche Entwicklung in regelmäßigem Wandel, in ununterbrochenem Austausch, in ewigem Übergang von Feuer, Wasser, Erde und zurück begriffen sei, daß es daher ein Widersinn sei, eine so rastlose Entwicklung „auf denselben Logos hin zu messen'\ Um den Satz zu verstehen, muß nian freilich zunächsj; beachten, daß x«/ bei H. nicht immer streng koordinierte Begriffe verbindet, xmi heißt öfter „und dabei", „und doch".^^) So auch hier: {hdXaööa
*2) Dieses GucpuTg des Clemens ist ebenso zu werten wie das Qr]TUJg des Sextus.
*3) Bei der Verwendung von xal „setzt der Grieche oft ungleich mehr als wir Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Kombinationsgabe voraus, um auch den entfernter liegenden Begriff, der neben dem mit xat eingeführten zu denken ist, herauszufinden" (Krüger, Gr. Sprachl. 1875 § 69). Vgl. Her. fr, 22: ^qvGÖv yuQ ol ä o'Qrifiivov yrjv TtoXXrjv ÖQvGGovGi xal ivQiGxovGiv ölCyor „die Goldgräber schaufeln viel Erde und doch (fast gleich ,-,aber") finden sie nur wenig."
Ein Beitrag zum heraklitisch-parmenid. Erkenutnisproblcm. 133
diayJeTui xal fitTokrai ! Kann es denn, meint H., einen größeren Widersinn geben, als Wasser, welches anseinandergegossen wird, zu- gleich zu messen? Und noch dazu tk ror ccvtov /o/o;-/ Das Wasser, das sich eben aus //y entwickelt hat und nach allen Richtungen aus- einander gegossen wird, um sich in Feuer zu entwickeln, wird aul' densell^en Logos hin gemessen, wie er früher war, bevor (das Wasser) Erde ward! Den in ewiger Entwicklung begriffenen Urstoff messen die Logosdenker beim Weg hinauf auf denselben Logos hin, wie er beim Weg herab galt ! Das heißt, sich mit dem schöpferischen Ent- wicklungsgange der Ursubstanz in Widerspruch setzen, das ist vßQn;, die man eher löschen sollte als Feuersbrunst (43), das ist .TtoXi\ua»itj, die den i'Öoj: nicht belehrt (40). Es ist ein ftvdo^, wenn das, was jeden Augenblick anders wird (dUoiovTai 67), immer auf den- selben Logos hin gemessen whd. Der Mensch kann nur (pQov//Oei die verschiedenen Formen eines und desselben Wesens wahrnehmen und erkennen und jede einzelne Form mit einem bezeichnenden oro.a« benennen: jivq, d-cdaooa, y^j usw. In Whklichkeit wird alles aus dem jrvQ und wird alles zu jtig (10), sowie Gold gegen Waren und Waren gegen Gold eingetauscht werden (90). Ja, wenn alles, was da ist, Rauch würde, mit der Nase könnte man es noch auseinanderkennen (7). Wie durch den Vergleich von Gott mit Feuer (67), Feuer mit Gold (80) wird diese Theorie, die unter dem zum geflügelten Worte gewordenen jTclrTCi (>£? zusammengefaßt wird, durch das vielzitierte Bild vom Flusse veranschaulicht. „Man kann nicht zwemial in denselben Fluß steigen"-, ebenso me man, fügt Plutarch hinzu, nicht zweimal eine vergängliche Substanz berühren kann, sondern durch das Ungestüm und die Schnelligkeit ihrer Umwandlung „zerstreut und sammelt sie wiederum und naht sich und entfernt sii-h'^ (91). „Wer in dieselben Fluten hinabsteigt, dem strömt stets anderes Wasser zu" (12)! „In dieselben Fluten steigen wir und steigen wir nicht, wü* sind und sind nicht" (49 aj. Und in derselben rastlosen Bewegung wie die göttliche Ursubstanz ist auch des Menschen (fQrjv >j voog, jener göttliche Stoff, dm-ch den wh alles erkennen, und uns an alles erinnern, was wir erlebt haben, weshalb denn auch die (p(^>6rt]0Lg eine yiroiuni fiel xal Qtovaa ist.*^) Gegenstand der fpQonjOic kann demnach nur der xar drdyxtjv n-ebjr vor sich gehende Wechsel der Erschei-
**) Vgl. die Anm. 18 dieser Abhdlg.
184 Emanuel Loew,
Illingen sein, nicht aber das Kombinieren auf firiind logischer Be- reclinung (126). „Über die wichtigsten .')inge laßt uns nicht aufs Geratewohl konibiniei'en" (47), das ist l'ßQig und „i7:^(>/c soll man eher löschen als Feuerslirunst'' (43), „folgen muß man dem allen gemeinsamen ifijovHr'^ (113). „Ks war eben," so charakterisiert Burnet die wissenschaftliche Kosmologie der alten Griechen, ^diese große Gabe der Neugierde und der AVunsch, all die wunderbaren .Hinge, die zu sehen wareii — Pyramiden, Überschwemmungen usw. — , zu sehen, welche die Griechen befähigten, allerlei Wissenstatsachen, wie sie dieselben bei den Barbaren stückweise antrafen, aufzulesen und für ihre eigenen Zwecke auszunützen. Kaum hatte ein griechi- scher Philosoph ein halljes Dutzend geometrischer Sätze kennen ge- lernt und gehört, daß die Hinimelserscheinungen zyklisch wieder- kehren, so machte er sich au die Arbeit, überall in der Natur nach Gesetzen zu suchen und m i t großartiger, beinahe a n cßQic reichender Kühnheit ein W e 1 1 s y s t e m z u k o n - s t r u i e r e u. Wir mögen . . über das seltsame Gemisch von kind- licher Einbildungskraft und echt wissenschaftlicher Einsicht lächeln, das in diesen titanischen Anstrengungen sich zeigt, und inanchnuil fühlen wir uns beinahe geneigt, jenen Weisen von damals beizupflichten, welche ihre kühneren Zeitgenossen dazu ermahnten;! zu denken, wie es dem menschlichen Wesen ziemt {uvB^QO):riva (fnor&iv) . ■ ."'
Wenngleich wir nun bei dem ganz unsicheren Zustande des Quellenmaterials der griechischen Philosophie in der Frage, von welchen Vorgängern H. abhängig sei, nur auf Vermutungen und Schlüsse angewiesen bleiben, also insbesondere nicht entscheiden können, ob ir, wie Slonimsky meint, sogar die Begriffsausdrücke löyoc und fttT^ioi' direkt von Pythag*)ras entlehnt habe — Fr. 40 und 129 sprechen dafür — , sicher bezeugen zahlreiche seiner Aussprüche, daß er vielfach Anschauungen früherer Denker rücksichtslos bekämpft, vor allem die Anschauung, die so ganz zu dem paßt, was wir sonst von Pythagoras hören, daß man das Weltbild xata Xoyor entwerfen, durch abstrakte Gedankenerkenntnis erfassen könne. Bedenkt man nun, daß diese einseitige pythagoreische und eleatische Hinwendung zum Rationalisnms natürlich keine widerspruchslose Auffassung des Weltsystems zu bieten vermochte, daß im Gegenteil diese von der reinen Abstraktion ausgehenden Erwägungen infolge der oft diametral einander gegenüberstehenden Vermutungen und auf Kombination
Ein Beitrag zum heraklitisch-parmenid. Eikcnntnisprobleir. 135
beruhenden Schlüsse mitunter zu (k'W seltsamsten Wid.ersprüchen luhrten^^j, dann ist es nur allzu begreiflich, daß sich eine Opposition erhob, die, ins andere Extrem verfallend, den \Vert der Logoserkennt- nis, und weil diese zugleich als Wahrheitserkenntnis gelten wollte, auch die Möglichkeit der letzteren grundsätzlich bestritt. Führer dieser Opposition war H., und zwar der radikalsten Opposition. ,,Ks gibt kein Sein, es gibt kein Beharren, alles ist nur in ewigem AVerden, in rastloser Entwicklung. Für den ewig seienden Logos gewinnen Menschen von Natur aus kein Verständnis, gemeinsam ist allen das <f(K)vfn', der Menschen größte Fähigkeit." J)amit hat H. die Grund- lage, auf der der Logos aufgebaut ist, vernichtet, die Lebensfähigkeit der (fQortjaiQ dargetan. Nicht auf dem Wege der Logik „AVahr- heit'" zu finden, ist nach H. das Ziel menschlicher Forschung, das ist für das menschliche Erkenntnisvermögen unerreichbar, das höchste Ziel ist einzig das ooffor und der Erkenntnis dieses oorför kommt der Mensch um so näher, je mehr er sich der Wirklichkeit hingibt oder wie Sextus sagt, wenn der rovg im wachen Zustande mit dem snQttyor zusammenkommt. ,,.Das Erkennen des Wirklichen ist die größte Fähigkeit und Weisheit ist logisch ^^'ahres denken (reden) und tun dann, wenn es der AVirklichkeit gemäß geschieht, indem man auf sie hinhorcht" (112) und ,,wenn man ^'rr röfo logisch denkt (redet), so muß man sich mit dem ^r/vy jncvTojr (dem Verständnis für Wirklichkeit) wappnen, wie der Staat voino, ja noch stärker. Nähren sich doch alle menschlichen roifoi aus dem einen göttlichen: denn es gebietet, soweit es nur will, und genügt allem und obsiegt über alles" (114), hat also dieselbe Machtfülle wie der „jro^.eifoc, der Vater und König aller Dinge" (53). Sowie der ganze xooiioc. in der Gewalt des jro^.si/og, so ist die .rroZiJ^ in der Gew^alt des röitoc, und zwar da alle rof/oi (crO-QojjrkioL ihre Nahrung, d. h. ihre Kraft aus dem röfiog &8log = (pvoig schöpfen, in der Gewalt des vöitog fi^Hog, der (pvoig. Um seinen rofiog muß daher das Volk kämpfen
*'^) B!erberba (a. a. ü. !S. 121): ,,D^r gesamtt'n griechischen n^tionftlisti- .sehen Philosophie, der pythagoreischen sowie der eleatischen, liegt die Über- zeugung zugrunde, die Welt müsse so beschaffen sein, daß sie p-uf eine unserem Geist angemessene Weise in ihrer Gresetzmäßigkeit erkannt werden ki^nn. Die mathematische Erkenntnis aiber w?.r diejenige, welche die durchsichtigsten Gesetze lieferte, also mußte das Weltbild au<^h mit Hilfe der M'themalik ent- worfen werden, durch b?gi-ifflich-matheinatische Erkenntnis erf:^ßt werden."
136 Emanuel Loew,
wie um seine Mauer (41). A\'ie sich also die Macht des Staates auf den röfioQ wie auf eine Mauer stützt, so, ja noch stärker müssen sich die Logosdenker auf das ^wov Travror, clas Verständnis lür Wirklich- keit stützen. Die Erfahrung ist eine feste Mauer, die den Menschen den stärksten Schutz bietet.
Allerdings gibt es Fälle, wo Berechnung ebenso zum Ziele führt wie Sinneserkenntnis. Ein Beispiel dafür bietet die Erkenntnis der Bedeutung der Siebenzahl. ,,]!*sach der Berechnung der Zeiten beruht die Siebenzahl auf einer Kombination nach den Mondphasen (28:4 = 7 !), nach dem Sternbild des Bären aber erscheint sie als Zeichen unsterblichen Gedenkens getrennt" (126), für das mensch- liche Auge sichtbar. Die Siebenzahl ist also ebenso wohl logisch be- rechenbar als sinnlich wahrnehmbar; aber auch hier ist der Weg durch die Sinneserkenntnis vorzuziehen, weil sie mit einem täglich wieder- kehrenden Erlebnis verbunden ist, weshalb die Erinnerung daran un- sterblich ist (ad-arärur iiv/jiniq örn/etor), die Erinnerung an logisch Erdachtes aber ist vergänglich.^^) Ebenso erkennt der Mensch die Grenzen für Morgen und Abend durch anschauliche Sternbilder: // (CQXToc und ihr gegenüber ovqoc aid-^iov zitoc (120j. Die Götter sind es nämhch, welche die Menschen durch sinnlich wahrnehmbare Zeichen die Bedeutung von Himmelserscheinungen erkennen lassen. „Der Herr, der das Orakel in. Delphi besitzt, ist kein Logosbetätiger und kein Geheimtuer, sondern Verkünder wahrnehmbarer Zeichen" (93). Was immer der rovg sieht und hört, ist kosriiisches Leben, das sich in Gegensätzen offenbart, und diese Gegensätze sind eine Ein- heit. Das tv üiävra ist so evident, daß es zugegeben werden muß, auch wenn man nicht auf den Positivisten, sondern auf den Kationa- listen hört (50). Am klarsten erkennt es der M^ensch aus der in ihm lebenden Natur. „Es ist immer ein und dasselbe, was in uns wohnt: Lebendes und Totes und das Wache und das Schlafende und Jung und Alt. Wenn es umschlägt, ist dieses jenes, und jenes wiederum, wenn es umschlägt, dieses" (88). „Krankheit macht die Gesundheit angenehm, Übel das Gute, Hunger den Überfluß, Mühe die Ruhe" (111). Dieselbe Erfahrung macht der Mensch auf dem Gebiete der Kunst, die er ja imr in der Nachahmung der Natur ausübt: die Malerei be- wirkt durch Mischung entgegengesetzter Farben die Ähnlichkeit mit
*«) Vgl. Anm. 24.
Ein Beitrag zum heraklitisch-parmenid. Erkenntnisproblem. 13 <
(lern Originale, die Musik bewirkt durch Mischung entgegengesetzter Töne eine einheitliche Harmonie. Verbindungen sind: Ganzes und ^'ichtganzes, Eintracht und Zwietracht, Einklang und Mißklang und aus allem eines und aus einem alles (10). Das auseinander Strebende geht ineinander: .-raXlvTQOJtog dQ{<orh/ wie beim Bogen und der Leier (51). Der Bogen, dessen tQyov der {hcvarog ist, hat das ovo^kc ^:?/oc (48). Und so offenbart sich das ganze Werden im Kosmos, es ist ein ewiges Auseinandertreten der Gegensätze fjioh^uoc) und Wiedervereinigung des Getrennten fdittjrri), Zwietracht Eintracht, Widerspruch Harmonie (8, 80). „Gar vieler Dinge müssen also die urdQ8g (fiXoooffOL kundig sein" 4') (35), aber mögen sie noch so viel wissen, es geht ihnen doch wie den „Goldgräbern, die viel Erde schau- fehi und doch nur wenig finden" ^22). Denn die menschliche Weis- heit ist nichts wert 'm\ Vergleiche zur Weisheit der Götter. In dieser Hinsicht verhält sich Gott: reifer Mann = reifer Mann: unmündiger Knabe (79) oder Gott: Mensch = Mensch: Affe (82, 83). „Des Menschen Sinn hat keine Einsichten, wohl aber der göttliche" (78). .Die letzte Einheit aller Dinge vermag daher nicht der Mensch zu er- kennen, wohl aber die Gottheit, welcher die (fvoiQ, die innere Har- monie, der innere Kosmos, nicht verborgen bleibt wde dem Menschen (123).48) „Die unsichtbare Harmonie aber ist noch besser als die sichtbare" (54). Die Menschen finden daher die Natur keineswegs in allen ihren Äußerungen schön, „sie halten das eine für ungerecht, das andere für gerecht, für Gott aber ist alles schön und gut und gerecht" (102).
Der Ephesier hat also, wie wir gesehen haben, das Erkenntnis- problem als reines Xaturproblem betrachtet und es auf der Grundlage der Erfahrung zu lösen gesucht, und zwar in einer Weise, vor der
4') Dir scheinbare Widerspruch zwischen fr. 35 und fr. 40 ist jetzt be- seitigt. Nicht die 7ro/.v/.iu&ii] belehrt den rqoc, das E-innerungsvermögen, sondern durch die Erkenntnis der ttuquvju, die der vöog erlebt, werden die uvdqic (fücGocfOt ev /ju)m Ttollwr 'iCTOqec. Auch heutzutage wollen die uv'Sqsq, (filöoocpot nicht „Gelehrte", sondern „Forscher" sein.
*«) Fr. 123: (fvGig xqvTiTeG&at cpilfu Aber nicht nur dadurch, dr,ß die Natur sich zu verbergen liebt, also ohne der Menschen eigenes Verschulden, sondern auch durch ihre eigene uTiiGiti], d. h. weil sie selber an ihre (pgovrjaig nicht glauben, entziehen sich die meisten Erscheinungen in der Natur [TiZv d^ekov TU TToXXd) ihrer Erkenntnis: jwr fiei' defioy tu ttoIXu utti- arf); Siufpvyyuvd /Jt} yiyroiaxead^ut (8G).
138 Emanuel Loew,
sich die Positivisten \'()n heute verbeugen müssen. Was ihn zu dieser extremen einseitigen SteUungnahme geführt hat, war die Opposition gegen p^^thagoreische und eleatische Spekulation. Aber seine radikale Opposition gegen die Wahrheitserkenntnis, entfachte erst recht den Kampf der Geister. Die Logosdenker und die Phronesisnaturen standen in erbittertem Kampfe einander gegenüber. An eine Aus- gleichung, an eine Versöhnung der Gegensätze war vorerst nicht zu denken. Es war ein jro^.vd/jQig tXtyyoc, eine heißumstrittene Frage, ein Weltkrieg auf dem Gebiet des Erkenntnisproblems, den Heraklits Feuer entfacht hatte. X u r durch Entwurzeln n g d e r J) a s e i n s b e d i n g u n g e n der einen Erkenntnis glaubte man die der anderen retten zu können. J)as muß festgehalten werden, wenn wir die Art der Verteidigung der durch die Gefahr des Xichtwissenkönnens in ihrer Existenz bedrohten Logoserkenntnis verstehen wollen, welche Parmenides, von ihrem AVerte tief innerlich durchd.rungen, übernahm. AVar er doch über- zeugt, daß er ihr und nur ihr allein sein ganzes Wissen verdanke.*^)
Es gibt kein Werden, es gibt nur Sein und Beharren; nur Schein ists, was die Sterblichen mit ihrer werdenden und fließenden Phro- nesis zu erkennen glauben und als Weisheit ausgeben, der ewig seiende Logos allein führt zur Wahrheit ^ das Erkenntnisproblem ist kein Xaturproblem, sondern ein reines Gedankenproblem. Das will P. be- weisen, und um durch den Schein der Wirklichkeit nicht beirrt zu werden, flieht er aus dem werdenden Kosmos in das Reich der seienden ult'iii^eia. Dort vernimmt d,er denkende Jünger, aufmerksam horchend und niemals durch eine Frage unterbrechend, den Vortrag der Göttin Wahrheit, die daran geht, mit den Mitteln der abstrakten Logik dem xöoiiocjrrQ das Lebenslicht auszulöschen und so gleichzeitig die Logoserkenntnis zu retten.
Mit den Worten a' (V l'r/ lyojv k>iro (4, if^) beginnt der Be- weis, dessen Gang der folgende ist:
*^) Vgl. Aiim. 16. .
■''■^) Ms,:i beachte, wie .sich die beiden Denker das Verhältnis zu ihren Anhängern vorstsUen: Heraklits Anhänger müssen neiod.O&ui, d. i. Er- i?,hrung gewinnen an den tnu*. xul toya, wie sie ihr Meister x«t« (fvaiv entwickelt: dDjyev/J^ui dicaoiwv; die logisch denkende und redende Wahr- heit aber sagt: Ich werde reden, du aber höre zu und nimm es mit auf den Weg: iyiup ioko, xöfJiGui di Gv fivdor dxovGug.
Ein Biitrag zum herrtklitisch-parimiiid. Erkonntnisproblem. 139
Logisch denkbar sind nur die beiden kontradiktorischen Urteile: ,.Es ist" — ,;Ks ist nicht", tertiuni non datur! Von diesen beiden logiscli allein denkbaren Wegen besteht nur der eine ,,Es ist" zu Recht; denn er entspricht der Überzeugung und folgt der Wahrheit. Es gibt also kein „Es ist nicht'' (Fr. 4).
Ein >ichtseiendes gibt es also nicht; das halte fest! Das ist der erste AVeg, vor dem ich dich warne. Und daraus ergibt sich logisch auch der zweite Weg, von dem du dich fernhalten mußt, nämlich der AVeg des Seins und Nichtseins zugleich (Fr. 6).
Gibt es also kein Nichtsein, so bleibt (da eben dann auch ein Sein und Nichtsein unmöglich ist) nur noch Kunde von eine m AVege: ,,Es ist". Da aus Nichtseiendem nichts anderes werden kann als NichtSeiendes, so kann es kein Sein u n d Nichtsein, sondern nur ein Sein oder Nichtsein geben. Mein logisches Urteil aber zwingt mich, den AVeg des Nichtseienden beiseite zu lassen, weil er weder walu- noch denknotwendig ist; also bleibt nm- der Weg des Seienden, das Seiende existiert, es ist wahr und denknotwendig. Auf die knappste Form gebracht, lautet der Beweis:
Vorauss : Es gibt ein Sein.
Beh.: Es gibt kein AA^erden und Vergehen.
Bew.: „Es ist" oder „Es ist nicht".
„Es ist" ist wahr und denknotwendig. „Es ist nicht", ist weder wahr noch denknotwendig. Es gibt also nur ein Seiendes, aber kein Niehtseiendes, folglich auch kein Sein u n d Nichtsein.
Scliluß: Es gibt kein AVerden und Abgehen Aber P. beschi-änkt sich nicht auf den in den Fr. 4 und 6 geführten Nachweis, .daß es kein AVerden und A^ergehen gibt, er geht in Fr. 8 daran, an den Grundbestimniungen des A\'erdens negative Ej-itik zu üben, und leitet aus ihnen durch bloße Umkehr gleiclizeitig die posi- tiven Grundlagen ab, die er im Seienden enthalten findet. Hat Heraküts AVeit des AVerdens A^ielheit, Verschiedenheit, Bewegung, relative Zeit offenbart, so ist in des P. AVeit des Seins Einheit, Identität, Beharrung, absolute Gegenwart. Bezüglich der ersten ch-ei Bestim- mungen sagt Slonimsky: ,,Nur Einheit, Identität und Beharrung gelten zu lassen, Vielheit, A^erschiedenheit und Bewegung dagegen zu verbannen — das ist eine Zuspitzung. . . . Vielleicht gehen wir nicht fehl, wenn wir annehmen, daß diese scharfe Zuspitzung aus
Archiv für Geschichte der Philosophie. XXXI. 3. 10
140
Emanuel Loew,
der Gegnerschaft zu Heraklit entsprang/' Slonimsky hat hier zweifel- los recht und er hätte seine Vermutung noch viel tiefer begründen können, wenn er Patins freilich noch einigermaßen zaghaft und im- sicher gemachte Beol)achtung betreffend den Gegensatz in der Auf- fassung beider .Denker von den Bestmimungen der Zeit berücksichtigt hätte. Vergleichen wir doch, was H. vom y.öoi/o^, P. vom lor sagt:
(o XOO//0-:)
//}' (}ti '/Ml hjT( xta iOTat
rtv{t i'.hiu>)or (iJiToiaror ittTQa, djcoOih vvrf^e vor
UtTOC.
(to löv)
)'Vl' HJTD' OUOV TTl'.r
Tc)^ yti'töig inr csrhOi-itOTdi xa) ("i.TröTO^ alt i*/-oo^.
Hier wird H. AVort für AVort widerlegt: /jv aü wird durch ovöt .-TOT ijV abgelehnt («6/ — ovjtort!), torai durch ovd' törat. Aber ebenso entschieden wird auch das ioriv im Kosmos abgelehnt. .Das £or, sagt P., kennt keine Kelativität, also auch keine relative Zeit, kein tortv bezogen auf tjv xal hnca, sondern nur eine abso- lute Gegenwart; daher ist, wie das f'/v und tottu auch das totir im Kosmos falsch, im Reiche des tov muß es heißen: rvr eorir. Ein Nacheinander in der Zeit gibt es nicht im Reiche des tor, hier gibt es nur eine absolute Gegenwart. ,,AVie könnte auch das Seiende in Zukunft sein, wie könnte es früher einmal geworden sein? Denn wäre es (in der Vergangenheit) gewesen, so ist es (jetzt) nicht, und ebenso wenn es (in Zukunft) einmal sein sollte. So ist also die ytreötc ausgelöscht und unerforschbar der oXißQoc.'''
Ausgelöscht! Am Schlüsse einer so ermüdenden, abstrakten Beweisführung mit ihrer so charakteristisch nüchternen ü^prache ein Bild aus dem w%klichen Leben ! Jetzt, wo die Göttin AVahrheit den inathematischen Beweis erbracht hat, daß es keine Polarität und keine Relativität gibt, sagt sie nicht einfach: Also gibt es keine yirtoi- und keinen ö/£^()o^, sondern: die jirtöig ist ausgelöscht, und zwar ein für allemal ausgelöscht, djitoßtorca ! AVo gab es denn Fe'u.er? AA>r hat einen Brand gelöscht? Ja, gibt es überhaupt im Reiche des lör Feuer? N^ur der x6o(/og ist einjrt^(> ddCroav. nur im xooiiog kann daher Feuer gelöscht werden. Kein Zweifel, das ((jrtoßeotai ist aus dem heraklitischen ("croaßsvrviaj'oi' herübergenommen! AVas hat aber die Göttin AVahrheit so sehr aus ihrem Gleichgewicht, aus
Ein B-itiag zum lu-iaklitiscli-iiiWiaoiiid. Erkennt iiisprobk-ia. I4i
ihrer Ruhe gebracht, daß sie es für nötig fand, dieses Feuer ehi für allemal auszulöschen? Sie hat offenbar den Hohn gegen die //tV(>«, welche das Feuer des Kosmos immer wieder entzündet und immer wieder auslöscht, zu tief empfunden, als daß sie nicht Vergeltung geübt hätte. Und in der Tat, sie hat grüiuUich aligerechnet: das Feuer, das idxQa immer wieder auslöscht, ist jetzt durch den Ao/o- selbst für immer ausgelöscht. Es war also wirklich, wie ich oben gesagt habe, Heraklits Feuer, das den Streit der Geister so lebhaft entfacht hat, und vergeblich war das heiße Bemühen, dieses Feuer für immer auszulöschen; es besaß wirklich die unerschöpfliche Kraft, sieb immer wieder zu entzünden.
Aber wenn wir den Gedankengang des P. nicht mißverstehen wollen, so müssen wir uns den schroffen Gegensatz in den Welt- anschauungen der beiden J)enker vor Augen halten. In der Welt des Werdens herrscht der jtoZsijo? mit seiner Machtfülle, er ist Vater und König jrarTov, aller Dinge (53). Ohne jröXe^ioq gibt es keine rrccQiorra, ohne Kampf kein Dasein. Der Kampf ums Dasein, das sozial-politische Stichwort unserer Tage, liegt dem heraklitischen .-To/.f-f(oä. freilich nur im rein philosophischen Sinne, zugrunde. Wer die .To.Qsorra beobachten, erkennen und so zu seinem geistigen Be- sitze machen will, muß vor allem selbst da sein, und zwar mit wachem Geist, er darf nicht .ra^ecov ccjcttria. Xur der genießt das Leben, der täglich es erkämpfen muß, das ist, rein philosophiscli verstanden, der heraklitische ^vro? jtoIe^uoc (80). Das Erleben der bunten Mannigfaltigkeit des Werdens nimmt den Menschen völlig in An- spruch: er muß sehen und hören, erkennen und sich erinnern, zum Ausdruck bringen und benennen; er kann demnach unmöglich über das dv>)QOjjiiva (fQoVBiv hinaus.
P. ist nun durchaus entfernt, dies zu leugnen; er sieht selbst ein, daß die geistige Betätigung der Wirklichkeitsmenschen auf die rraotörTa, auf das unmittelbare Leben beschränkt sei. Aber das ist es gerade, was ihn bestimmt hat, aus diesem xöguoq-jivq dti^coor, der ewig fließenden Quelle empirischen Erkennens, in das Reich des starren Seins, des abstrakten Denkens, der djisorza zu fliehen. Denn im Reiche des Seins gibt es keine bunte Mannigfaltigkeit, sondern nur eindeutige Bestimmtheit; diese aber kann nicht.erlebt werden, sie ist nur formal logisch denkbar; starr wie das Sein ist auch das Denken. .Oenken und Sein ist ein und dasselbe. Folgerichtig läßt daher P.
10*
]42 Emanuel Loew,
auch die dreifache geistige Fähigkeit, in welcher die HerakUtmenschen ilue Verwandtschaft mit dem xoOfiog betätigen, gelten, aber nur für den xoöfwc; im Reiche des Seins hat nur die einfache Beurteilung mit dem einen Äoyoc bzw. nhjfia Wert und Bedeutung. In diesem Sinne stellt P. den /o/oc als das einzig Wertvolle gegenüber 1. dci- (uod-i/öii;, 2. der (fQÖrriOLC, 3. den Ijtsa und ovoiiara.
h'rfoq, und yo;///«, Gegensatz; cdoi^rjöiQ (I 33—37). „Du aber halte von dieser oöoa diCyOiog dein roy///« fern und nicht soll dich das t.'loc jtolvjTUQor auf diesen Weg zwingen, nur dein zielloses ("}f({(a, die brausende axov//, die yhöoija walten zu lassen: nein, mit dem Äoyog beurteile die heißumstrittene Frage, wie sie von mir its eiitD-er) dargelegt wurde." Hier wird also in ganz unzweideutiger Art vor „dem Wege der Forschung" gewarnt, auf dem die Wirklich- keitsmenschen mit „ihrer vielerfahrenen Cxewohnheit" und ihren Sinnesorganen (Auge, Ohr, Zunge) wandeln; ^jjyoc und rot/fm allein haben zu urteilen.
rö/jfia Gegensatz: cpQor/jOic (Fi\ 16).
„Wie der vouc auf der Mischung der //e'/fcf jTo^AjrXayxra be- ruht, so stellt er in den Menschen sich dar; denn ein und dasselbe ist es, was (pQortti in den Menschen jnuu yuu jrccrTi, die (/roig ^leXkov ; denn was vorwiegt, ist das rörj/ia.''
Der rooc, das Erinnerungsörgan, hat seine Mischung von den „vielschweifenden Sinnesorganen"; das (fQovitiv, das Erkennen, ist also wertlos, weil die Quelle allen Menschen aus der „Natur der viel- schweifenden Sinnesorgane" fließt. .Oas Wertvollere nämlich ist das Yoriiia. Man vergleiche dazu den Bericht des Sextus. Mit <f,Qovtti rrccoi wird Heraklits ^vror Ion rtäöi ro cfxjortHv wörtlich zitiert.'
Äöyog /}dh rorifia. Gegensatz: l-ruc (Fr. 8, 50—52): tr T(ö 001 Jtcwco xiOTor Äoyov /y(3t i'ö/jf/a d{jxfic dXfjO-shjQ' dosac ö' dm) rovöe ßQortiac (lärd^art znO/^toi' ItKÖr L-rnor djimyXor dxoiojv.
Diese Verse, die den Übergang der dXtjd-eia zu den öö^ai bilden, sind besonders charakteristisch. Hier bewährt sich die Meisterschaft des P. in der Polemik auf das glänzendste. Auf den Gegensatz zwischen den zahh-eichen Spondeen in der ersten Hälfte, die den erhabenen Ernst des Xoyog /yrfg vöri^ia malen, zu den reinen Daktylen in der zweiten Hälfte, welche das Hastige, Geschäftige der Irtta karikieren,
Ein Bt'itrig zuui herciklitisch-parmenid. Erkeruifcnispiobicm. 143
habe ich schon bei einer früheren Gelegenheit liingewiesen. Treffend ist die AVcihl der Attribute, .norog ?jr/og-x6o{toc ujrartjXog, die Nebeneinanderstelhmg der Gegensätze al/ji^Ha — 6öc,ui, der (An- merkung 22 bereits erwähnte) Gleicliklang der Suffixe iin Schhiß- verse: <n — on — orr — oj — on\ endlieh die wohl berechnete Zu- saninienstellung der AVorte xööf/og. txta, axovsir, die an den Vor- wurf erinnern, den H. den Logosdeiikern macht, daß sie als cUfQoviQ avihQVKToi i-i(CQßd(K}rg (pryag tyovrf,g (107) ihr Dasein hn yMO/tog verschlafen (89), (czovchci ovx Ijtunäntvoi ovd' sl.-rtir (19).
AVas endlich den Gegensatz Xöyog — ovoi/a betrifft, so sagt P. (8, 37): „Die Moira hat es (das Seiende) an das Ganze und Unbeweg- liche gebunden; d a r u m wird alles ei n ovofia sein, was Sterl)liche in ihrer Sprache festgesetzt haben, überzeugt, daß es walu* sei: AVerden sowohl als A'ergehen, Sein sowohl als Nichtsein, Ver- änderung des Ortes und AVeehsel der leuchtenden Farbe", d. h. die Wirklichkeitsmenschen (ßgorol) bezeichnen alles, was sie erleben, mit einem ovotia. AYeü aber das Seiende starr ist, also nicht erlebt werden kann, sondern nur logisch denkbar ist, ,,darum wird alles ein ovoiia sein", was die Menschen als entwicklungs- fähig erkannt haben. Also auch hier bildet das heraklitische ovoiw. ßiog, orof/a Zijvog den Gegensatz zum parmenideischen löyog (ll(ff)g ähjd-shjg. AVenn ich hier von Gegensatz spreche, so ist das im Sinne meiner obigen Ausfühi'ungen zu verstehen. P. bestreitet nicht, tlaß die (lv6(iaTa aus dem Leben des AUtags, aus der Erfahi'ung hervorgegangen sind, aber eben deshalb stehen sie im Gegensatz zur AVahrheit, zum reinen Gedanken, /070c, zum Seienden, das „an das Ganze und Unbewegliche gebunden", also starr ist.
Bei diesem Stande der Dinge war es nicht zu umgehen, daß der ganze Streit schließlich in eine AVortklauberei ausartete, und das ist es, was die Lösung des ganzen Problems so schwierig gestaltet hat. Ist doch die Sprachkünstelei soweit getrieben worden, daß derselbe r)enker neben dem Namen Xayog auch die Namen )mji.ia und rosir für abstraktes Denken, dagegen den Namen rooc im Sinne des heraklitischen Erinnerungsorganes gebraucht hat. Das hat sich schon aus dem Fr. 16 ergeben, wo ebenso wie fitha, fpvoig, rpQorsip auch roog dem rö/jita gegenübersteht, voog ist minderwertig, vor/fta höherwertig. AVie die fiiP.ta dort hin und her geworfen werden (.To/r.T/fr/xr«). so wird auch der voog hin und her geworfen, ist
144 Enianuel Locw,
daher gleichfalls rr/MXToc: denn seine Beschalienheit ist von der der Sinnesorgane abhängig. Das in .7ro2r.T/6r/xr« vorschwebende Bild aus dem wirkhchen Leben kann hier nicht auffallen, weil der .Dichter in den (io^^«^ die sich entwickelnde wirkliche Welt schildert. Aber dem- selben Bilde begegnen wir auch im ersten Teile, in der aXiidtia. und zwar begnügt sich die Göttin dort nicht mit einer bloßen Skizzierung, sie hat ein anschauhches, naturgetreues Bild bis in alle Einzelheiten sorgfältig gezeichnet, so daß die Göttin mit dem Worte .To/i'.T/rr/xTtc in Fr. 16 nur an das genau ausgeführte Bild wieder erinnert, das sie in Fr. 6 gezeichnet hat und an dem sie wohl init Recht selber be- sonderes Gefallen findet.
Ich warne dich, sagt die Göttin, vor dem AVege des Seins und Xichtseins
'/'' ^>l ii{*0T(n &iÖf'>Ttc (jidtr .-TÄ('(TTorrai, dixQavoi' diuy/ariij ya{> Ir avT<~)r ini/ihtötr Wvrff .tjmxtov roor' ol <yt (fjoQovvTai •/jO(fo\ (\u(ög TV(fh)i Tt, TtihjjroTtg. ay.Qixa (frXa, olc To :rtXtir re xici oiy, tirai tv.vtov rti'OfiiOTici y.or TiccTov, jTavT<ov (Sl müdvr{)(möc Ion y.iXtvd-oc.
Frau Ratlosigkeit steuert in der Brust der nichtswissenden Sterb- lichen das schwanke rooc-Schiff ; die Lisassen aber werden hin und her geworfen . . . ! Wer ist die aiu/yarh/'' Sie ist identisch mit der (fvaLc i(t)Joyr ji<üvji)MYHT(»r (Fr. 16), von der der mog abhängig ist. Was tut dort die (fViUg, was hier die dinixavif]? -Oort heißt es: drS^QOJ.TToiot ffQortH y.ai m'cot y.iu Jiarri, hier: lUvrei jrÄay.Tov rdor, beide tun also das Gleiche; din/yarlrj Wvvfi jiXay.Tor röor = dfff/yjci'bi dvihQc'jjTOiGi (fQortu, also di/z/yarif/ = ff{>6vijOic. Die ffiQÖnjöic also, die von den Sinnesorganen bedient wird, lenkt ihrerseits den röog und das stmmit genau zu dem, was ich beim Be- richte des Sextus bemerkt habe, daß die rfQtjr unmittelbar von den Sinnesorganen, der roog unmittelbar von den f/(>tr£c, mittelbar von den Sinnesorganen abhängig sei. Und was ist die Folge davon, daß die ffiQorijOLQ das j'ooc-Schiff lenkt? Die Insassen werden so hin und her geworfen, daß ihnen Hören und Sehen vergeht, taub zugleich und blind, verdutzt, urteilslose Entwicklungswesen. Also die Sterb- lichen, die sich auf ihr Hören und Sehen soviel zugute tun, sind yjoff^oi ofwjg TVffÄol Tf : sie, die immer ,,wach'-' sein wollen, sind ThH^rjJtiWtc ;
Ein Beitrag zum lieraklitisch-parmenid. Erkenntuisproblein. 145
sie, die denjenigen einen dumnieii Kerl nennen, der sieli von jedem J^ogos imponieren läßt, sind (fvXa „Ejitwieklungswesen", und zwar r.y.QiTd. = eines logischen Urteils unfähig. Sie sind dix(^>ur(n = .Oop- })elköpfe: mit dem einen Kopf sehen sie das Seiende, mit dem anderen das ^sichtseiende, denn Sein und Xichtsein ist nach ihrem aus Er- fahrung fließenden, weil von der ffvoig genährten ro//o-: dasselbe und wieder nicht dasselbe, für alles gibt es bei ihnen eine jnc/.h'TQorro^ y.tUvd^o^ = .-xalh'Ti/ojTo^ uQuoria (Her. 52). Sie sind daher (iitOTo) H(U'}Ttg ovdtr, die keine Berührung mit der '\\'ahrheit haben; denn die Wahrheit empfängt nur einen eidöra f/ojTc. (I, 3.)
Ebenso verspottet Epicharm (12) den rooc Heraklits: rovc OQli y.cä vovQ dxovti, tuX/m y.ojffa xa) rrcf/M und Empodokles ruft voll Bitterkeit 17, 21:
T/)i' (sc. ffüoT/jTa) ov röfo dt^xtv fit/d' oftiiaOLv t)oo Tt^h/.-Tojc.
AVenn freilich Reinhardt glaubt, daß hier vovg den oiiiiara gegenüberstehe, so ist er im Irrtum von vornherein befangen; wenn er sich aber auf Fr. 2 des Parmenides beruft, um viUo (U{txtv mit /.i-coof v(>(]> zu vergleichen, so ergeht es ihm ebenso wie mit den l'artizipialkonstruktionen bei H. Fr. 1 und Fr. 2; er hat nämlich das eine ebenso mißverstanden wie das andere. Fr. 2 des P. lautet.
ÄivOOt rj' (jijojg ä:rmvru röfp jtaQsopTic ßtßaUog or yaQ icrroTin/^ti ro tor ror torroq lytoH^tci ocTt oxidväiitvor -r/crrf/ rrurroq xcra xoüitov
OVTt OrviOTiCIfaVO}'. ^
Clemens will an diesem Fr. 2 nach bewährter Methode beweisen, daß der roog nur mit dem /070c zu begreifen sei. Aber das d" oiiojg im 1. Verse zeigt, daß hier wieder ein Satz aus dem Zusammenhang gerissen werden mußte, um eine paradoxe Auffassung daran nachzu- weisen, ganz so wie bei Fr. 31 Heraklits. Aber auch hier können wir die Lücke dem Sinne nach ergänzen, wenn wir die Fragm. heran- ziehen, gegen die P. hier polemisiert, näinlich 34:
('.3,rrtT0i (cxovoai'Tsg xojffoToir loixaoi' ffüng avToioir in'.iJTVQH JiaQSO)'Trcg antlvai. '
und 91:
<jxidr//Oi xic'i rra/.iv övi'i'r/tt . . . attu ovrlöTaTict xiCi (IrroltittL xai .TQOOiiöi x(u ärrfioiy.
146 Emauael Loew,
Man vergleiche: Her. .■7raQ£(jvxag cljreu'ai
Parm. äxtörT((. . . . jTUQtovra otT« 6y.iövajihi'or .... orrt övriijräiieror.
Schon in d.er Form erkennt man die polemische Absicht: oben cUe beiden Verba in umgekehrter Reihenfolge, unten das -/.al auf der einen Seite, ovzt auf der anderen. Reinhardt verbindet in Fr. 2 nach der herkömmlichen Auffassung ).tv60i vöcr, aber das verbietet schon die Stellung des ihko zwischen ajitovra und Ttageovra, welche zeigt, daß röo) TTUQWvTa nicht getrennt werden darf. Es ist aber auch unmöglich, wie Reinhardt will, zu lesen:
ÄfiOtje d' ö/H'jg djTtövTa vöo) \ TruQsövta ßsßaiojQ'
denn daraus würden sich zwei grainmatikahsche Ungeheuerlichkeiten mit einem Schlage ergeben, cla einerseits das grammatisch unzer- trennliche röfo mcQtövTCi auseinandergerissen, anderseits die unniög- üche Verbindung d.-Ttövra röfo, statt roov, vorgenommen werden müßte. Es ist eben zu lesen:
Xtvoöt <y oi/cjQ djtiovTa vöo) jxaQtövTa fteßa'icoc.
und der Ton liegt nicht, wie Reinhardt glaubt, auf röo), sondern auf den einen Gegensatz bildenden Partizipien, und daß es nur auf diesen Gegensatz ankommt, lehrt auch der Sinn des Ganzen. H. wirft, wie wir gehört haben, den Logosdenkern vor, daß sie, statt die Erschei- mmgen des Alltags zu erkennen, verständnislos auf dieselben stoßen und sie nicht erkennen, sich's aber einbilden (17), daß ihnen infolge des beständigen Verkehrs mit dem Logos die Erscheinungen des Alltags fremd sind (72), wenn sie hören, sind sie wie taub, anwesend sind sie abwesend (34). P. leugnet das alles nicht, im Gegenteil, er erblickt eben darin den größten Vorzug seines mit dem starren Sein identischen ])enkens. Der Logos will nicht Anwesendes erkennen, er will Ab- wesendes denken, d. h. nach unserer philosophischen Terminologie, er will abstrahieren. Um aber rein logisch zu denken, zu abstrahieren, darf man sich durch Sehen und Hören des Anwesenden nicht beirren lassen, und weil eben der voiq nur das sieht und hört, wobei er an- wesend ist oder, wie wir oben gesagt haben, was er erlebt, darum wird alles (Anwesende, Entwicklungsfähige) ein oroiia sein, kurz: der Noos hat es nur mit cler Beobachtung der Einzelerscheinungen zu tun.
Ein Boitiag zum heraHitisch-parmenid. Erkenntni.sproblem. 14 <
der Logus will das allen Geineinsame zur begrifflichen Einheit be- rechnen, der Xoos erkennt nur das Anwesende, d(5r Logos vertieft sich in das Abwesende, aber so, daß es zuverlässig anwesend ist. .Danach ist der Gedanke etwa folgender: .,.r)em /o/o^, sagen die riQoToi, erscheint das Anwesende abwesend. Aber siehe gleichwohl, wie durch ihn das Abwesende dem rooc zuverlässig an- wesend ist'', d. h. das Abstrakte in greifbare Nähe gerückt ist. Und warum? Im Kosmos löst nämlich der rovc. das einzelne x«r« xo'ü- iioy = xara rfvötr, seiner Entwicklung gemäß, aus seinelu Zusammen- hange und fügt es dann wieder zusammen, hn Reiche des Seienden aber ..wird er (sc. der rocg) nicht das, w^as ist, lostrennen vom Zu- sammenhang mit dem, was ist, so daß es sieh weder xicra yj'töiior überallhin verstreut noch sammelt." Eine logische Gedankenreihe läßt sich nicht auseinanderreißen und wieder zusammenfügen, „ein Seiendes stößt da eng an das andere", da gibt es kein ÖiaiQUiv xard (fvoir (Her. Fr. Ij, sondern es ist adiaiQeror. tjrü mir Iötiv ouolor (P. Fr. 8, 22). Im Zusammenhange also lautet die Über- setzung:
..Aber siehe gleichwohl, wie das Abwesende dem rooc zuverlässig anwesend ist; denn nicht wird er das, was ist, lostrennen von dem Zusammenhange mit dem, was ist, so daß es sich weder gänzUch überallhin kosmosmäßig verstreut noch sammelt."
AVir sehen, ebenso schroff wie die Welt des Werdens dem Reiche des Seins gegenübersteht, ist auch das Erkennen im x6(j((og vom j)enken des tor geschieden: in der Welt der mannigfach wechselnden Erscheinungen ist der rovc von den viel schweifenden Sinnen ab- hängig, mit der Beschaffenheit der Sinnesorgane ändert sich die Er- kenntnis selbst; im Reiche des Seins ist das .Denken ebenso starr wie das Sein, .Denken und Sein ist identisch. Xach H. hat das Erkennen im Kosmos seine ewig fließende Quelle in der Erfahrung des täglichen Lebens und wie das Leben ist das Erkennen in stetem Wechsel. Ohne AVechsel kein Lel)en, ohne Leben kein Erkennen. Ein starres Erkennen ist ebenso eine contradictio in adiecto wie ein starres Leben, um- gekehrt findet P. im Leben und im logischen Denken unversöhnliche Gegensätze: das Leben zeige steten Wechsel, im logischen .Denken aber müsse es etwas Feststehendes, Bleibendes geben; das fließende Leben könne also niemals Gegenstand des seienden Denkens sein. AVenn ich etwas denke, so muß das Etwas, das ich denke, sein und
148 EmauUv'l Locw,
Itehairon. Bei solcher Vei^schiedeiiheit der Auffassung war eine Aus- gleichung der Gegensätze für lange Zeit hinaus unmöglich, der Streit mußte sich erst ausleben, ehe man an eine Vermittellung denken konnte. .' )as Feuer Heraklits, das sich an dem von den Pythagoreern und j<;;ie.aten logisierten und rationalisierten Weltbilde entzündet hatte, fand in der dürren, trockenen Materie des parmenideischen Seins erst recht neue, reiche Nahrung.
Aber da begibt sich etwas Sonderbares. }Jie Göttin Wahrheit, welche mit Logik und Dialektik das .7r(> atiCcoor, diese Ursache filier Erscheinungen und alles irrigen .Denkens, ausgelöscht zu haben glaubt, führt uns selbst in diesen xo//oc-.Tr(> ein und bewährt sich dabei als eine so kundige Führerin, als ob sie nie eine andere als diese empirische Welt gekannt hätte. AVer ohne Vorurteil die beiden Teile des Gedichtes prüft, wird zugeben, daß unmöglich ein und derselbe .Denker beide AVeltanschauungen zugleich vertreten kann, am aller- wenigsten ein .Denker, der soeben Denken und Leben unversöhnliche Gegensätze genannt hat. Von den vielen Versuchen, diesen ,,AVider- sj)rüch" zu erklären, hat heute wohl derjenige die meisten Anhänger, nach welchem P. im ersten Teile seines Gedichtes sein wahres philo- sophisches Glaubensbekenntnis abgelegt und später einmal das Be- dürfnis empfunden habe, auch das wirkliche Leben gelten zu lassen. ] )anach hätte also P. den Bileam, der auszog, dem Leben zu fluchen, ujn es dann zu segnen, noch weit überboten, da er doch das Leben erst mit dem Logos erschlagen hat und sich dann erst mit demselben aussöhnen wollte! Ihid dazu hatte er die prachtvolle Auffahrt zum Hause der Göttin AVahrheit unternommen und sich von ihr in be- sonders auszeichnender Weise empfangen lassen und dazu hatte sich die Göttin Wahrheit selbst die Mühe gegeben, das heraklitische l^Ynier mit den Mitteln der Logik ein für allemal auszulöschen? Aber diesei' Erklärungsversuch scheitert eben schon an der Erwägung, daß T. dann doch den do|«/ einige Berechtigung zuerkannt haben müßte, eine Auffassung, der P. selbst auf das entschiedenste widerspricht. ])enn die Göttin W^ahrheit sagt, unmittelbar bevor sie an die eigent- liche Beweisführung geht (I 28): ,,So sollst du denn alles erfahren: der wohlgerundeten Wahrheit unerschütterliches Herz und die Mei- nungen der AVirklichkeitsmenschen (ßQozojv dösc-?), denen verläß- liche AVahrheit nicht innewohnt; al)er gleichwohl sollst du auch das
Ein Beitrag zum iK-j-aklitisch-parmenid. Erkeiintnispioblem. 149
(.Tfaliii'n, wie der Schein seheinbar geheii^\) müßte, das All durcli das All dmvhdringend" und in genauer Übereinstimmung damit im unjuittelharen Anschlüsse an die Beweisführung, also unmittelbar vor dem Weltbilde die oben besprochenen Worte: ...Damit beschließe i' h den xlotov ),6yor f/dl rdijita ili/if)^ il/.t/ihit/S <W)^i:j: (V rr.To Tordt ,:/(>oTf/«c sollst du jetzt vernehmen . . ." Ivlar und unzwei- deutig sagt also die Göttin ihrem denkenden Jünger: J)ie Welt, die ich jetzt schildern werde, ist die Welt der Erscheinungen, in welcher sich die ]\Ieinungen der Wirklichkeitsmenschen breitmachen, die Welt der (iTar/j- Warum ist dieser y.ocjiio^ äjTaTfjÄÖc ?
jedes AVort ein wuchtiger Hieb des logischen Denkers gegen die un- logischen Entwicklungswesen, die ax^iTa (frÄa. Gehen wir vom Verbum finitum aus: y.artd^trTo. AVie Nomotheten oder genauer Onomatotheten {röiioi stammen ja wie oröitfcza aus der Erfahrung) kamen sie zu einer Versammlung und „setzten fest"'. Was war der (Gegenstand ihrer Festsetzung ? „Zwei Formen mit dem örofm yvc'njii ■/A\ benennen", während es in Wahrheit nur eine gibt {ii'ncv!). die aber nicht benennbar, sondern nur logisch denkbar ist, und das ist ihr Grundirrtum {Iv <•) .Te.T/Mrf/jnvoi drAv). Ihr Grundirrtum be- steht also darin, daß sie unfähig das Seiende zu denken, festsetzten. zwei einander entgegengesetzte Formen zu erkennen und, was sie er- kannt haben, zu benennen. „Sie schieden die Gestalten in Gegensätze und setzten ihre Merkmale fest: hier das ätherische Flammenfeuer, das milde, gar leichte, sich selber überall gleich, dem anderen aber ungleich. Dagegen gerade entx;egengesetzt die liclitlose Finsternis, ein dichtes, schweres Gebilde." Gegenstand ihrer Festsetzun war also: Gegensätze erkennen und benennen. Die Göttin sagt also hrem Jünger nicht nur, welche AVeit sie ihm schildern wird, wie beschaffen dieselbe ist, sondern auch zu welchem Zwecke sie dieses trügerische AVeltbild entwirft: ,, Diesen 6u'cy.oo((og teile ich dir, s c h e i n h a r , wie er ist, ganz mit: so ist es unmöglich, daß dir eine yrojuti der Wirklichkeitsmenschen den Rang ablaufe."
Die Lehrerin hat also ihrem Schüler alles gesagt, um ihn vor Irrtiunern zu bewalu-en, und was im folgenden dargelegt wird, enthält zum weitaus überwiegenden Teile schon durch die Sprache vernehm-
•^') livci vielleicht besser als ffrai- Zweifellos gegen Her. Fr. 28.
150 Emanucl Loew,
bare Anklänge an Heraklit: dem Seienden wird das Xichtseiende zu- gefügt, da« Eine erscheint als Vieles, das Unwandelbare als AVerdendes und Veränderliches, :rr(». qvöic:, tQya, ro'oc, (fQoriiv kehren wieder, AÖyoc, rofj{ia. voelr, alfffh/jg sind verschwunden, als ob sie ein Ra\d) des Feuers geworden wären, ^^j Und was am bezeichnendsten ist, die o)'ö{/((Ta Heraklits, die P. schon im 1. Teil den dX/jOij ent- gegengesetzt hat, werden auch hier einer Kritik unterzogen, und zwar an den drei bedeutsamsten Stellen der do^ai : in dem schon bespro- chenen Anfangsverse, im Schlußverse und im 1. Verse des Fr. 9:
arTa() Ln^nh] m'ivra ffäoc xa) rv^ oröiiaöTm x(u T(c xara öfffrtiti'.c (Svrdiitic Lti toToI ts xa] toic, rrüv rrXhor lOT)r oi/ov (fäeoc xid i'rxroc. affdi'Tov )'oor difffoTi'uov, IrrA ovdtTtQ(o /ü'-tic lirjÖir.
„Aber da alles die empirischen Xamen Licht und Finsternis er- halten hat und diese Xamen nach ihren Kräften diesen und jenen .Dingen beigelegt, sind, so ist alles zugleich mit Licht und unsicht- barer Finsternis erfüllt, die sich beide die Wage halten; denn keines hat an dem anderen teil." ' Nachdem also die Onomatotheten die beiden Gegensätze rpäoc und rrs erkannt und mit Xamen belegt hatten, gingen sie daran, auf Grund dieser yrojinci und dieser orö- ^lara das Weltbild zu entwerfen.
Und nun versetzt uns der Philosoph, für den, Avie er uns über- zeugend dargelegt hat, logische Abstraktion und Begriffsdialektik höheren AVei-t hat als das Leben, mitten in eine Kosmogonie und schildert nicht et^va, wie der Kosmos ist, nein, wie er ward {ojrjtöH^tr Ur/trorro. hfr tcuSs), mit einer Gründlichkeit, wie wir sie nur von einem Xaturphilosophen erwarten dürfen, der sein ganzes Leben der Erforschung der Xatur geweiht hat, für den das ganze Weltproblem nur ein Xaturproblem ist. Es ist daher nur allzu begreifhch, wenn einige Erklärer geglaubt haben, die Göttin Wahrheit trage hier allen Ernstes lauter eigene, hochpositive Lehren vor. Aber durch die drei Schlußverse werden wir von allen Zweifeln befreit; hier faßt die Göttin ihr Gesamturteil über den Werf der ganzen Entwicklungslehre in die Worte zusammen (Fr. 19):
•5-) Xiir in Fr. 16 ist vo)Jnm, aber gerade hier im scharfen Gegensatz 7,\\ röoc 11. a.
Ein Beitnig zum lierakliti.stli-juiniunid. Erkijvntiiif:^])iobk jn. 151
oi'tc/ toi xKTic dö^ar l(fv tÜiSi /aü vvr h'.üiv X(d ii'cTl.-rtiT' (Itii Tordt Ti/.trr/jOovöt T(jt(.(f irre.' ToiJ <y oroi/' ai'Hooj.Toi y.i'.rtihtvT trriöf/f/or IxäoTO).
„Siehe, so entwickelten sich der Meinung zufolge diese >]rscliei- nungen, sind jetzt und, wenn sie (von der ^pvcxS) genährt sind, werden sie ihr Ende haben. J)iesen Erscheinungen haben die Mensclien ein für jede einzelne bezeichnendes oro{Ui festgesetzt."'
Siehst du, sagt also die Göttin Wahrheit, die S u m m e der S (• h e i n 1 e h r e ist: E n t w i c k 1 u n g s r um ni ei u n d X a m e n f e s t s e tz u n g. J.)ie r/ coic läßt alles entstehen, uml wenn es entstand, ist es und macht seine Entwicldung durch (tqu- (ftrra), um dann sein Ende zu nehnaen. Und diesen Entwicklungs- erscheinungen setzten die Menschen ein für jede einzelne bezeichnendes orona fest: die Ursubstanz nannten sie ttiq. ihre Wandlungen ihuaooic. ///; die Ursache der Entwicklung nannten sie ffvoi^ oder iHöq, den Entwicklungsprozeß jtoÄSdog, den Zustand der Entwickhing, den wir vor uns sehen, xoOfioc, der Entwicklungsdauer gaben sie das oro/ta iUoc oder Zyröc, den einzelnen Entwicklungserscheinungen gaben sie Namen, die einen Gegensatz ausdrücken, wie Tag und Nacht, Winter und Sommer, Krieg und Frieden usw., wie es gerade für die eine Einheit bildenden Gegensätze bezeichnend ist (oroi/a L^lOf/i/or f-xdoTOj}. Die Summe ihrer Weisheit ist mit einem Worte : Gegensätze erkennen, Gegensätze benennen. Derselbe Gedanke, der dem Verse 9. 1 des 2. Teiles zugrunde liegt
.TTccvTcc qäoc x(ci ri\; oroffaorai. liegt auch dem Anfangsverse
ii<){>(fac yaQ xared-erro <h'o yro\uac (IrofutCtir und dem Schlußverse
TOlc (i' oron' ('ivi)\>o).-roi xicreSevT L'riotjiwr txäöTC) zugrunde, der Gedanke, dem die Göttin schon im ersten Teil des Ge- dichtes
TO) jTccvT ovoj/ torai
ebenso entschiedenen Ausdi'uck gegeben hat, daß nämhch durch das (Irofta der Irrtum in die Welt gekommen sei. Sprache und Inhalt be- zeugen also, daß in den do^ai ebenso Herakhts Weltanschauung beurteilt wüd wde in der (uJid^na. In der cX/^ß^tuc wird durch den Vergleich von Wesen und Grundbestimmungen der Erfaluungs- erkenntnis mit Wesen und Grundbestimmungen der reinen Gedanken-
152 Em;', nuc) Jjouvv,
erkeiintnis logisch nachgewiesen, daß das Seiende nur jj\y«) beurteilt werden kann; in den rfo^;«/ wird das Weltbild Heraklits von dessen eigenen Voraussetzungen aus einer Kritik unterzogen, und diese Kritik führt zu dem für den streng dogmatischen Rationalisten kläg- lielien Ergebnisse, daß das Wissen der Heraklitmenschen nur aus dem Leben fließt und darum ist die Göttin ali]i)^kia überzeugt, „daß die yviöiiii ■■iQOTiöv''" ihrem Jünger „den Rang nicht ablaufen werde". .Denn für die Erfahrungsmenschen hat das Leben allein Sinn und ^Vert, logisches J.k^nken ist für sie wertlos, der Logiker dagegen muß das Leben überwinden, um zum rein logischen Denken zu gelangen. ^'ur ein logisch denkender Mann, sagt P., ist ein wissender Mann (I, 3). denn nur als solchen empfängt ihn die Wahrheit; die Wirküchkeits- menschen aber sind nichtswissende Sterbhche (VI, 4), die nie zur Wahrheit gelangen können, weil ihr vovc den Ttagtövra im yMHiioj. stets zugewendet bleiben muß, nie den Zusammenhang mit der Wirk- liclilveit verlieren darf. })er Logosdenker dagegen muß geflissentlich die mcQtovTfi im xoofioc fliehen, um sich ausschließlich in die djrtorTc so zu vertiefen, daß sie ihm erst durch das Denken zuverlässig jxaQtövTti sind. Jetzt verstehen wir, was das heißt, wenn der eine den anderen blind und taub schilt. Wer nicht sehen und hören kann, sagt H., ist blind und taub. P. aber erwidert: Blind und taub ist, wer von dem, was er sieht und hört, keinen Begriff hat. „Diese Unterscheidung (sc. des wissenschaftlichen Erkennens und .wissenschaftlichen Vor- stellens) kommt seit Heraklit und Parmenides häufig genug zur Sprache, allein sie erscheint hier nicht als die Grundlage, sondern nur als eine Folge der Untersuchung über die Natur der Dinge." Soweit vermag ich mit Zeller^^) zu gehen. Das Erkennen der .Dingo geschieht ganz unbewußt, es ist, wie Heraklit sagt, ^vrov. Wenn aber Zeller weiterhin sagt: „Parmenides leugnet die Zuverlässigkeit der sinnlichen Wahi-nehmung, weil sie uns ein Geteiltes, Veränder- liches,' Heraklit, weil sie ein beharrliches Sein zeigt", so muß es unseren Darlegungen gemäß mutatis mutandis heißen: Heraklit leugnet die Zuverlässigkeit, der reinen Gedankenerkenntnis, weil sie auf der Grundlage des beharrlichen Seins beruht, Parmenides leugnet die Zu- verlässigkeit der sinnlichen Wahrnehmung, weil sie uns ein Geteiltes. Veränderliches zeigt.
53) a. a. 0. S. 159.
Vlll.
Schopenhauer-Kritik.
1818-1918. Von
Dr. Ernst Barthel.
Wenn man einem Philosophen so sehr zugetan ist, daß man sicli geradezu als seinen Schüler betrachten möchte, empfindet man es als eine Pflicht dem eigenen Erkennen gegenüber, die Unterschiede des selbsterworbenen und des fremden Gedanken- baues zu betonen. Und wenn die Tücke äußerer Umstände uns bislang verhinderte, über das Selbstgedachte ein systematisches Werk vorzulegen, wird eine vorläufige Darlegung einzelner Punkte in Form der Kritik des Systems, von dem man ausge- gangen ist, der Öffentlichkeit verhältnismäßig interessant sein können. In diesem Sinne sei folgende kurze Schopenhauer-Kritik gestattet.
1. Die Welt soll einerseits bloße Vorstellung, andererseits blinder Wille sein, sonst nichts? Nun frage ich mich: Wie kommt in die Natur die große Zweckmäßigkeit, die harmonische Vernunft im Sinne Goethes, das erfrischende Künstlertum im Ganzen wie in allen Teilen? Diese schöne, vernünftige, zweck- mäßige Harmonie ist nicht eine bloße Vorstellung, sondern eine höchst reale Sache unabhängig von allem Vorgestelltwerden. Sie ist auch kein blinder Wille, denn sie ist ganz im Gegenteil so hell und intelligent, daß sie nur mit der Harmonie eines großen Kunstwerkes vergleichbar ist. Also kann ich nicht zu- geben, daß Schopenhauers logische Zweiteilung der Welt in eine Komponente der bloßen Vorstellung und eine Komponente des blinden Willens zutreffend sei. Ich erkenne lebhaft die be-
1 04 E r 11 » t B a r t h e 1 ,
deutende Intuition, die den Denker zu dieser Zweiteilung führte, doch scheint mir, daß er selbst durch seine platonische Ideen- lehre schon darüber hinausgegangen ist,
2. Dali Seh. die Welt als ein zweigeteiltes Polarphänomen auffaßt, ist seine große, bleibend wertvolle Neuerung. Indessen müßten die beiden Pole anders bezeichnet, anders gegeneinander abgegrenzt werden. Mir scheint, „Die Welt als Kraft und In- telligenz" wäre ein brauchbareres System. „Kraft" ist bünd und mächtig. „Intelligenz" ist zweckstrebend und jedem Menschen als unmittelbare Tatsache seiner selbst gegeben. .Kraft und In- telligenz zusammen bilden die Natur. Kraft und Intelhgenz zu- sammen bilden den menschlichen Geist. Das Wort „Urteilskraft" sagt in echt Schopenhauerscher Weise aus, daß die Grundlage unseres Urteilens eine „Kraft" ist — welche Wahrheit übrigens auch bei Malebranche, dem Vorläufer Sch.'s in vieler Hinsicht, ferner bei Pascal und Schelling vertreten ist.
3. Der von Kant übernommene Standpunkt des „Ideahsmus", nach welchem die objektiv erfahrene Welt wesenthch als Vor- stellung eines Bewußtseins betrachtet werden müsse, dürfte vor besonnener Kritik nicht standhalten. Schopenhauer selbst hat sich einmal sehr treffend ausgedrückt: „Kein Objekt ohne Sub- jekt, kein Subjekt ohne Objekt." Hierdurch wird die richtige und neue Erkenntnis vertreten, daß Subjekt und Objekt gleich- berechtigte Pole einer unaufhebbaren Dualität sind. Schopen- hauer, der Polarphilosoph, gibt hiermit ganz unbewußt seinem eigenen Kantianismus den Todesstoß. Geht doch jeder, auch der Kantische, Ideahsmus darauf aus, die Gleichberechtigtheit von Subjekt und Objekt zugunsten des Subjekts zu leugnen. Dies ist aber ebenso wenig möghch wie der gegenteilige, objekti- vistische Standpunkt. Nur die Anerkennung der gleichberech- tigten Polarität von Subjekt und Objekt stellt die Erkenntnis- theorie auf eine gesunde Basis. Schopenhauer machte den An- fang zu diesem Schritte, aber sein romantischer Drang, der ob- jektiven V/elt ein bißchen die Existenz abzusprechen, verhinderte ihn daran, dem Idealismus in jeder Form die deutliche Absage zu erteilen.
4. Raum und Zeit gehören für alle Lebendigen zu den realsten Dingen, die es überhaupt gibt. Auch die Kraft ist durchaus
Schopcaliauer-Kiitik. iöö
niclit realer als Raum und Zeit, was zum Beispiel eine philo- sophische Analyse des Falles erkennen lassen könnte. Meine auf streng geometrischer Grundlage vorgenommene Raum- theorie') zeigt, daß der Raum ein Ding mit den allerspeziellsten Gesetzen ist, das so gut existiert wie alle dynamischen Natur- inhalte. Mit der Zeit verhält es sich ganz ähnlich, worüber meine besondere Arbeit herangezogen werden kann'). Die Lehre von der Irrealität von Raum und Zeit ist meines Erachtens über- haupt nicht mehr wissenschaftlich bewertbar. Und doch hat Schopenhauer Recht, wenn er sagt, für gestorbene Leute seien Raum und Zeit wie ein Traum verschwunden. Allerdings. Aber wir sprachen soeben von lebendigen Leuten. Für diese ist ihr Raum und ihre Zeit das ReaHssimum, wie für gestorbene Leute deren Raum und deren Zeit deren Realissimum ist. Für die einen existiert gerade das, was für die anderen nicht existiert. Ich hoffe, sie werden sich deshalb nicht in die Haare geraten. Und \'on den Philosophen hoffe ich das gleiche. Denn der ganze Spuk \ou der Idealität ist keinen Schuß Pulver wert.
5. Auch die Kausahtät ist nach Schopenhauer nur eine Form imserer Vorstellung. Die berechtigte Geringschätzung der kau- salen Beziehung durch Malebranche war auf Schopenhauer von erfreulichem Einfluß. Auch Goethe spricht sich einmal anschau- lich über die inhaltliche Wesenlosigkeit kausaler Betrachtung aus. Dieser Punkt ist von der Lehre der Idealität von Raum und Zeit ganz zu trennen. Er enthält eine treffende Erkenntnis, die sich kurz in den Satz kleiden läßt: Die kausale Betrachtungs- weise der Vorgänge hat die bloß praktische Tragweite, uns ihr Eintreten zu bestimmter Zeit an bestimmtem Orte vorhersagen zu lassen, ist jedoch zum Verständnis der quahtativen Eigenart eines Vorganges grundsätzlich unbrauchbar. Die Wesensgesetze der Natur sind qualitativ künstlerischer Art. Unsere Betrach- tung der Dinge am Faden des Kausalgesetzes hat nur den Wert eines Unverständhchmachens der Natur. Wir betrachten da- durch die Natur von innen statt von außen. Wie eine Made in einem Körper durch das Kausalgesetz keine Kenntnis von den
1) Archiv für systematische Philosophie 1916 — 17.
Arahiv fiir Cie.<c.liichte der Philosophie. XXXI. '6. 1]
156 Ernst Barth el,
organischen, großen Gesetzen dieses Körpers erlangen kann, so Ivönnen auch wir Menschen durch das Kausalgesetz keine Kennt- nis von den organischen Zusammenhängen der Welt erlangen. Dies kann nur geschehen durch die Intuition, das heißt durch die schauende Intelhgenz des Menschen, der die Intelhgenz in der Natur verstehend und mitfühlend erfaßt.
6. Damit kommen wir zu der Schopenhauerschen Lehre vom Nichtwissen und von den Ideen. Seit Adams Zeiten hat sich der Mensch gern durch die Lehre schmeicheln lassen, „man" könne eigentlich nur bis zu gewissen Grenzen erkennen, dann höre unsere Weisheit auf. Eine solche Lehre gibt jedermann das Recht, nichts wissen zu wollen. Denn wenn die Autorität sagt, man könne nichts wissen, so ist das Weltproblem bestens gelöst, und man kann sich des unangenehmen Denkens enthalten. Die Lehre, man könne nichts Rechtes wissen, da man die Wahrheit durch den Schleier der Maja verdeckt finde, ist sowohl praktisch als menschenfreundlich, und sie wird immer viele Anhänger haben — außer bei einigen Denkern. Kant und Schopenhauer •gehen zwar in dieser Lehre zusammen. Aber beide haben sie selbst durchbrochen. Kant indem er die „Kritik der reinen Ver- nunft" schrieb — denn wie sollte man die menschliche Erkennt- nisfähigkeit kritisieren und begrenzen können, wenn man nicht selbst eine unbegrenzte Erkenntnisfähigkeit benutzt! — , und Schopenhauer, indem er die willensfreie Erkenntnis der Ideen lehrte. Es ist sehr tief, was Seh. in diesem Zusammenhange sagt. Nur paßt es nicht recht zu dem Korsett von Raum, Zeit imd Kausahtät, das er dem menschlichen Geiste sonst umlegt, Schopenhauer war viel genialer, tiefer, reicher als sein System. Seine Gedanken werden bleiben, aber sein System muß in kon- sequenzfähigere Begriffe gekleidet werden. Die intuitive Er- kenntnis darf nicht als Wunder in die Welt eingeschmuggelt wer- den, sondern muß aus ihren Grundlagen hervorgehen. Dies ge- schieht, wenn die Welt begriffen wird als „Kraft" und „In- telligenz". Die Intelligenz ist etwas klar Erkennendes. Bei Schopenhauer muß man sich fragen, woher eigentlich die „Er- kenntnis" bei der „willensfreien Erkenntnis" kommt. Fehlt der Wille, so bleibt nur die Vorstellung, Die bloße Vorstellung ist
Schopenhauer-Kritik. 157
aber mit dem besagten Korsett behaftet, kann also nicht die Ideen erkennen.
7. Audi der Begriff der Erlösung leidet unter seiner myste- riösen Fassung. Wenn die Welt außer einer wesenlosen Vor- stellung nichts ist als blinder Wille, so ist es mehr als wunderbar, daß dieser Wille schauend wird und sich verneint. Der Wille hat also das Vermögen, schauend zu werden? Das hätte man früher wissen sollen. Ein schauender Wille besteht nämlich nicht bloß aus blinder Kraft, sondern auch aus Intelligenz — das wäre etwas ganz Neues gewesen. Auch ist es wunderbar, daß schon mancher Büßer freiwillig verhungert ist, ohne daß die Welt erlöst wäre. Wie steht es mit dem metaphysischen Sein der Individuen? Ist der Wille wirklich der eine, große, unge- teilte Teufel oder gibt es eine große Anzahl von Willensmonaden, deren jede ihr eigenes Schicksal hat? Es ist bekannt, daß Seh. im Alter immer mehr individualistische Metaphysik pflegte. Der all-eine Wille reichte offenbar auch hier nicht aus, wie er bei den ästhetischen Ideen nicht ausreichte. . Daraus muß man von vorn- herein die Konsequenz ziehen. Es ist nötig, im Sinne Leibnizens und Herbarts von Einzelwesen qualitativer Eigenart auszugehen, von Monaden, die Kraft und Intelligenz besitzen, von den un- sterblichen Seelen der christlichen Philosophie. Dann wird so- wohl das ästhetische als das Erkenntnisproblem als auch die Frage der Erlösung in vernunftgemäßer Weise lösbar. Die Zu- kunft gehört nicht dem all-einen Willen, sondern dem metaphy- sischen Individuahsmus.
8. Damit würde die Erlösungsmystik überwunden und der Weg zu den graduellen Erlösungsversuchen der geschichtHchen Entwicklung geebnet. Es entspräche dem Geiste der Schopen- hauerschen Philosophie sehr gut, wenn sie in den verbesserten Malthusianismus ausliefe und überhaupt in eine Empfehlung prak- tischer Mitarbeit an den Aufgaben der gegebenen historischen Wirklichkeit. Sch.'s Behauptung, die geschichtliche Entwicklung sei überhaupt nicht wesenthch, hat nur vom Standpunkt des In- dividualethikers Sinn. Betrachtet man die Menschheitsgeschichte als großes Naturphänomen, dessen Sinn die Erlösung ist, so läßt sich ein Voranschreiten gar nicht leugnen. Vor 500 Jahren war
11*
158 E r u ö t B a 1- 1 li e 1 ,
noch nicht einmal die ganze Erdoberfläclie bewußtheitlich ver- bunden. Heute ist sie es, da die ganze Fläche „entdeckt" ist. Das ist doch ein Unterschied, der für die Erlösung bedeutungs- voll ist. Obgleich ich jede Gemeinschaft mit hegelianischen Op- timisten ablehne, da das Voranschreiten der Menscheit nichts weniger als erfreuliche Phänomene zeitigt, muß ich doch die Tatsache eines historischen Voranschreitens von einem Anfang zu einem Ende gegen Schopenhauer betonen. Sch.'s idealistische Auffassung der Zeit hat seine Abweisung jeder historischen Ent- wicklung zweifellos mitbedingt.
9. Schopenhauers Kritik der Goetheschen Farbenlehre ist unzutreffend. Goethe ist glücklicherweise nicht vom „Idea- lismus" angesteckt und sieht die Dinge richtiger als Schopen- hauer, der alle Farbe aus der Retina allein ohne objektives Licht verstehen möchte. Auch seine Anerkennung Newtons in einem Punkt ist bedauerÜch. Goethe hat unbedingt recht. Vgl. Literar. Echo, 1. 6. 17.
10. Sch.'s Vererbungslehre ist faszinierend, aber falsch. Vom Vater erbt man Tendenzen der Lebensführung, von der Mutter gesundheitliche Organisation. Und die wichtigsten Dinge erbt man überhaupt nicht, weil man sie selbst ist.
n. Daß Seh. die UnendHchkeit des Raumes so überzeugt lehrt, zeigt nur seinen geringen Überblick über die Möglichkeiten. Seine mathematische Bildung war äußerst mangelhaft, wenn- gleich sein Gedanke, die Geometrie müsse sich auf die An- schauung gründen, nichtsdestoweniger gut ist. Auch daß Seh. so brav die kopernikanische Verkehrtheit nachsprach, wollen wir ihm freundlich verzeihen. Für ihn mußte es ja eine Freude sein, die Welt in möglichst wahnsinniger Gestalt zu erblicken.
12. Die beiden Grundprobleme der Ethik müssen unter Be- rücksichtigung des Intelligenzbegriffes gelöst werden. Das Mit- leid ist nicht das Fundament der Moral, sondern kann allen- falls für die moralische Gesinnung einen Ersatz bilden. Moralisch handeln heißt gemäß der besonnenen, leidenschaftslosen Intelli- genz handeln. Der Weise lindert die Not anderer, aber er emp- findet kein Mitleid. Roheit und Verbrechen, Gleichgültigkeif und Ungerechtigkeit gegen sich selbst oder andere ist ein Zeichen
:5choi>«'iiliau('i-Kritik. 159
manRclnder Intelligenz. Altruistische Gefühle sind nicht not- wendig als moralisch einzuschätzen. Sie erzeugen ebenso viel Leid unter den Menschen wie Nutzen. Wir halten daher die auf Intelligenz gegründete Kthik des Descartes für besser als die Schopenhauersche. Ein künftiges System der Philosophie wird die Moral nicht auf ein Gefühl gründen.
13. Die Freiheit des Willens kann nicht mit Ja oder Nein entschieden werden. Freiheit und Unfreiheit müssen beide real sein wie zwei Komplementärfarben. Sonst könnte man sich weder die Freiheit noch die Unfreiheit überhaupt denken. Der Standpunkt der Polarität darf gerade hier nicht vernachlässigt werden. Fs ist zu fragen: Inwiefern nennt man eine Handlung frei, inwiefern nennt man sie unfrei? Worauf die Antwort un- seres Erachtens zu lauten hat: Frei ist eine Handlung insofern, als sie durch Intelligenz geleitet ist. Unfrei, sofern sie blinden Triebkräften entspringt. Die meisten Naturwesen, alle Menschen sind frei und unfrei zugleich. Am unfreiesten ist der Stein, dem jede Intelligenz abgeht. Am freiesten ist das weltumspannende (jenie, dem fast jede dunkle Region m der Psyche fehlt. Mit dem Kausalgesetz hat das Freiheitsproblem überhaupt nichts zu tun, da das Kausalgesetz keine Wirklichkeit, sondern eine Denkart des Menschen ist. Mit der Prädestination hat das VVillensproblem auch nichts zu tun, da die in der Weltgeschichte wirkende Intelligenz unter Voraussetzung des tatsächlichen Maßes von Freiheit und Unfreiheit bei den handelnden Wesen zustandekommt. Dagegen hat die Frage der Willensfreiheit einen engen Zusammenhang mit dem Begriff der Verantwortung und Zurechnung. Jedes Wesen ist sittlich verantworthch und zurechnungsfähig, so weit es Intelligenz besitzt. Insoweit ist es dem teleologischen Prinzip der Strafe und Belohnung unter- worfen. Jedes Wesen ist dagegen sittlich nicht verantwortlich und unzurechnungsfähig, sofern es einer blinden Kraft unter- worfen ist. Insoweit ist es dem kausalen Prinzip der Hinderung und Beförderung unterworfen. Freiheit und Unfreiheit kommen immer zusammen vor. Daher ist Schopenhauers Determinismus ebenso wie -viele ähnliche Behandlungen des Problems bis James' Indeterminismus der Ausfluß einer falschen Problemstellung, die
15U Ernst Bart hei,
durch die müderne Auslegung des Kausalgesetzes bedingt ist. Ein anderer sinnvoller Begriff der Freiheit und Unfreiheit kommt zustande, wenn man unter Freiheit die Möglichkeit der unge- hemmten Ausübung der natürlichen Kräfte und Wünsche ver- steht. Dieser Freiheitsbegriff, von dem Rousseau und Schiller reden, kommt nur politisch und sozial, nicht philosophisch in Betracht. —
Ob das eingangs erwähnte System der Philosophie erschei- nen wird, hängt von gewissen Umständen ab. Wenn die zu- ständige Fakultät vorzieht, einen entwicklungsfähigen Gelehrten mit eigener Grundlage entgegen seinem Lebenslauf zum schlech- ten Schulmeister zu machen und seine wissenschaftliche Ent- faltung gewaltsam zu verkümmern, so wird das Ergebnis einer solchen Heldentat der Kultur für niemand vorteilhaft sein.
Rezensionen.
Zur Geschichte der Psychologie und ihrer Forschungsweisen.
(Schluß.
Die vierte Sammlung der Schi-iften der Gesellschaft für ps5^chologische Forschung (Leipzig, Barth, 1916. 14 Mk.) enthält eine Abhandlung von Dr. Richard Baerwald zur Psychologie der Vorstellungstypen mit besonderer Berücksichtigung der motorischen und musikalischen Anlagen. Die sehr umfangreiche Untersuchung von 441 Seiten entstand auf Grmid mehrfacher Umfragen. Ihre Beantwortung förderten verschiedene psychologische Gesellschaften (S. 2 ff.), sodaß ein verhältnismäßig großer Stoff zusammenkam. Ihn hat der Verfasser mit Umsicht und Zurück- haltung benützt, da er einsah, daß selbst 150 Gruppen von Antworten, deren Urheber n itunter namentlich genannt werden, kein stets einwand- freies Bild geben können, weil die Zahl der Befragten im Verhältnis zur Ge- samtheit verschwindend klein ist. Seine eigenen Feststellungen stützt der Berliner Psychologe, indem er die Arbeiten anderer und auch die sogenannten allgemeinen Aaschaxiungen heranzieht (vgl. S. 321 und 341). Die Verweise auf die fremden Abhandlungen sind klar und bestimmt, sodaß ein Nach- prüfen leicht möglich ist. Allerdings ergeben sich gegenüber den Helfern einige Bedenken: es scheinen auf den ersten Blick im allgemeinen nur zustimmende Forscher berücksichtigt; doch hält der Anfangseindruck vor allem wegen der sonstigen Arbeiten von Dr. B. nicht an. Trotzdem aber ist die Gefahr, daß herrschende Ansichten gewisse Schlüsse unwillkürlich beeinflussen, nicht gering (vgl. S. 5, 7, 11, 18, 24, 26, 41, 178, 185, 212, 233 und andererseits S. 2, 45, 5l, 104, 142, 157, 326, 328, 354!). Doch wir dürfen zu der immer wieder geübten Selbstkritik (z. B. S. 254, 291, 310, 334, 344, 355, 416, 426) den festen Glauben hegen, daß die Fehler- quellen nach Möglichkeit verstopft wurden (vgl. S. 370). Inwieweit dieses Streben wirklich geglückt ist, wird sich bei späteren Untersuchun- gen, welche die Fragestellung von Dr. B. benützen und sie auch durch Veränderungen auf Zuverlässigkeit prüfen, deutlich ergeben. Mit dem Künf- tigen habe ich mich aber nur soweit zu beschäftigen, als das Buch diese Ge- danken am-egt; dagegen vor allem zu sagen, was das Werk Neues bietet. Dieses liegt in Doppeltem: Die Anlage der Fragen mit ihrem Richtigen und Falschen, auf das der Verfasser mit anerkennenswerter Offenheit selbst besonders in der Einleitung hinweist, gibt zusammen mit den Antworten wich-
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tige Fingerzeige für ähnliche Rundschreiben. Außer diesen Fest- steUungcn, welche die Arbeitsweise betreffen, lassen sich auch sachliche ableiten. Wenn auch eine ausdrückliche Zusammenfassung leider fehlt und nur einzelne Teilergebnisse sich scharf umreißen lassen, so gestattet doch ein ausführliches Inhaltsverzeichnis ziemlich rasch zu sehen, was behandelt wird. Dieses Eindringen würde noch erleichtert, wenn auch ein iSach Verzeichnis vorläge. Den Hauptinhalt gibt schon der Titel km-z an. Der Verfasser, der sich gegen die ,,Nur-Experimentellen" und „Konscientialisten" wendet, will zeigen, wie sich der Motoriker gegenüber körperlichen und see- lischen Eindrücken und Anstößen verhält: Es wird also sozusagen ein Steck- brief des Motorikers entworfen. Er ist mit dem alten Sanguiniker und Choleriker verwandt, auch in der Biinsicht, daß die Namen gleich anderen gewählten Ausdrücken, sprachlich nicht sehr schön klingen. Warum ist es nicht möglich, die mit der Zeit gewordenen fremdsprachlichen Bildungen dm-ch schönere, unserem Spiachgeist angeglichenere auch nach und nach zu ersetzen? Die Fragen, auf Chund derer Beantwortung Dr. B. schreibt, wurden den Versuchspersonen, die nur zum kleineren Teil bekamite Fachgelehrte sind, im allgemeinen schriftlich vorgelegt, so daß zur Beant- wortung genügend Sammlung und Ruhe gegeben war. Da sich Angehörige der beiden Geschlechter (S. 405 ff., vgl. auch 357 ff., 41? — das weib- liche Geschlecht besitzt mehr Aktivität, aber weniger Spontaneität als das mämüiche — ) luid sehr verschiedener Berufe (z. B. S. 284, 338, 383, 406, 414, 417, 423: musikalische Schulung und Anlage steigert Reflex- erregbarkeit und Assoziationsbereitschaft, III, Kap. 3 S. 377 ff.) unter den sich Äußernden befanden, so berühren manche Schlüsse aiich alte Streitfragen: Z. B. die Abweichungen ruid Ähnlichkeiten zwischen den mämüichen und weiblichen Fähigkeiten (vgl. auch Dr. K. Haase, Der weib- liche Typus, Leipzig 1915!). Welche Folgerungen ergeben sich schließlich aus den Beobachtungen für den Unterricht ?, für die Erkenntnis der völkischen Eigenarten ? —Die Romanen und Südländer sind wahi-schein- lich visueller veranlagt als die Germanen ( IV, Kap. 5, S. 423 ff.). — (vgl. Dr. Hertz, Rasse und Kultur, Leipzig 1915). Die Antworten auf diese Fragen decken sich nach der Ansicht von Dr. B. meist mit der allgemeinen Meinung. Ob sie gleich der Sprache, wie auch Dr. Kleinpaul, Volkspsychologie (Leipzig 1914) betont, die unbewußte treffliche Beobachterin ist, verdient bei aller Wahrscheinlichkeit, die manche wissenschaftlich heiß umstrittene Punkte ungewollt kritisiert, noch besonders geprüft zu werden. Die Frage der völkischen Verschiedenheiten vermögen m. E. die Weltlanegsjahre leichter als die 1. Hälfte von 1914 zu lösen; demi in unseren Gefangenen- lagern haben wir ein buntes Gemisch von zahlreichen Versuchspersonen (vgl. auch Grenzboten, Juli 1916: v. Rzymowski, Psychologie der Gefangenenlager). Wemi wir diejenigen, welche den einschlägigen Fragen das nötige Mindestmaß von Verständnis entgegenbringen, aus- wählen, so lassen wir den Krieg, der vielfach zerstört, auch Wertvolles schaffen. An diesem Unternehmen mittätig zu sein, dürfte vor allem Dr, B. berufen sein, da er ein unermüdliches und unerbittliches Streben
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nacJi Vc'iiueidcn von Fehlern besitzt, luid mit selbstloser Zurückhaltung, welche die Ergebnisse mitunter geringer erscheinen läßt, als sie tat- sächlich sind, niu- r(er \\'ahilieit, dem Näherkommen an die bestmögliche Erkenntnis dienen will.
Die psychologische Untersuchung von Professor Dr. Udalricli Kr;'. - mär jun.. Neue (riundlagen zur Psychologie des Denkens (Brünii. Carl ^^■inicker 1914. 4,20 Mk.), geht von dem (Gesichtspunkt aus. ,,daß die .Sprache nicht das Denken selbst, sondern eine mehr oder wenigei- vollkommene Äußerung des Denkens ist, während das Denken ,, nicht nur in seinen primitiven, sondern auch in seinen höchsten Vorgängen von der Sprache ganz oder fast ganz unabhängig ist". ^^ ie diese Behauptung vei- standen werden soll, zeigt ein anderer Satz: „Die Sprache entstand und entwickelte sich gewiß in Verbindung mit der fortschreitenden Entwicklung des Denkens, aber ganz und gar nicht als natürliches Bedüi-fnis eines Einzel- individimms, wohl aber als ein Verständigungsmittel zwischen den (-liedern einer Gesellschaft" (Ö. 4, vgl. auch Dr. 0. Willmann. Phil. Propäd., 1912»— 1, 3, 24, 33, 53 ff., 82, 93, 131 !). Von dieser Anschauung
diu-clidrungen, will der Verfasser „die Denkvorgänge auf eiixfache (rrund-
vorgänge des seelischen Lebens zurückführen, denen gegenüber das Denken nach der bisherigen Auf fassungs weise mancher Psychologen als ein Vor- gang sui generis erscheint; denn es dünkt ihm falsch, daß das Psychische und Sprachliche vermischt werde" (S. 5); allerdings scheint mir mit dem Streben nach \'ereinfachung nicht ganz vereinbart, wenn der Verfasser am Ende des 2. Kapitels, das über die „Psychologie des Schlusses" handelt, zusannnen- faßt: ,,Die höhere Form des Denkens, welche wir allgemein als Scliiießeu bezeichnen, ist ein verwickelter, aus den übrigen Elementarvorgängen des ps3'chischen Geschehens zusammengesetzter Prozeß, an dem hauptsächlicli
das Wahrnehmen und Vorstellen, die Akte des Beziehungsbewußtseins ,
das allgemeine Cresetz des assoziativen \^erla\ifes der Vorstellungen, die einer- seits durch den Inhalt der Vorstellungen andererseits durch die gestörte oder iingestörte Reproduktion der Assoziationsreihen hervorgerufenen Lust- und L'nlustgefühle, und der aus dem allen residtierende Zustand der Erwartung teilnehmen" (S. 91/92). Um seine Ansicht über das Verhältnis zwischen Sprache und Denken und über das Wesen des Denkens selbst zu bewei.sen, untersucht der Verfasser, o b es Fälle gibt, in denen wir wirklich denken ohne zu sprechen (S. 105, 107, 117), und will die Sprache als etwas Neben- sächliches feststellen, indem er ihre Entstehungsgeschichte in großen Zügen gibt. Aber so wenig ein unbestreitbarer Beweis bis jetzt vorlifgt, daß die Teile des sogenamiten Neandertalschädels und seiner Verwandten wirklich eine mensch- liche Gehirnhülle einstens bilden halfen, sosehr bewegen sich diese Au.sfülirungen über das Werden des lautlichen Verständigungsmittels der Menschen auf schwan- kenden Brettern der Vermutung (vgl. S. 10 und S. 50 ff.). Sie kann der Geschichtsforscher, welcher mit unzweideutigen Zeugnissen zu arbeiten ge- wohnt ist, nie als Wirklichkeit nehmen. Doch obwohl der Untergrund, auf den der Verfasser zu bauen plant, einem Moorboden gleicht, das (Jebäude .
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selbst leidet durch diesen Umstand nicht so sehr, als man zunächst meinen könnte. Allerdings läßt sich gegen die Beweisführung selbstverständlich dasselbe sagen, was gegen die der Logiker vorgebracht wird, wie auch die Besprechinig der Tübinger Doktorarbeit von Dr. Paul Feldkeller, Unter- suchung über das normative und nichtnormative Denken (1914), herverhob (Vgl. auch Dr. 0. Willmann, Phil. Propäd., 19123, 1, 15 und 93!). Der Verfasser versucht auch — • nebenbei gesagt — • eine Vereinfach\ing des »Syllogismus und Induktionschlusses, indem er beide auus dem Ana- logieschluß ableitet (S. 78). Dr. K. gesteht sogar zu, daß Schlüsse „keine formale Gewißheit oder ^\'ahrscheinlichkeit haben, sondern nur eine größere oder geringere inhaltliehe Wahrscheinlichkeit" (S. 89). Um die allgemeinen Ausführungen zu belegen, möchte ich ein Beispiel herausgreifen. Der Verfasser initersucht die Aiissage ,,das Wasser fließt" und prägt den »Satz: „Wenn ich mir das Wasser vorstelle, so muß ich mir entweder das Wasser in einem Gefäße oder in einem Bache oder im Flusse vorstellen, oder es taucht vor mir das Bild eines Teiches, eines Sees oder des Meeres auf" (S. 1.3, vgl. S. 28). Gibt es aber nicht Wasser in der Luft oder in der Erde ? Bestimmt das Zeitwort Fließen nicht eine festiimgrenzte Tätigkeit des Wassers, so daß eine Reihe der vom Verfasser als möglich bezeichneten Annahmen über den Ort, wo das Wasser sein kann, von vornherein ausscheiden? Doch über diese Dinge zu streiten, dürfte wenig Sinn haben, da auf dem Gebiete des Schlüsseziehens und Entwickeins keine Brücke der Verständigung von denjenigen, welche dieses Beleuchten von Begriffen für wertvoll halten, zu denen, welche von sprachlichen ,, Spitzfindigkeiten" sprechen (S. 118), zu führen scheint. In derselben Richtung bewegt sich eine andere Art der Beweisführung, das Schließen von dem Verhalten des Kindes aus (z. B. S. 22/27), da dei Verfasser die heißumstrittene tileichstellung zwischen Kind und einem auf niederer Kultiu'stufe stehenden Menschen vornimmt (S. 92. A'gl. William Stern, Psychologie der frühen Kindheit, 1914, Vorrede). Hinsichtlich einiger Tatsachen berührt sich Dr. Kr. selbstverständlich mit den Feststellungen der Kinderpsychologie, wie wir sie auch in dem eben er- Avähnten Buch von \Villiani Stern beobachtet haben. Aber ist es nicht der Entwicklungsgang eines Kindes, daß es nur allmählich lernt, die Dinge an sich zu betrachten, ohne bei jeder Erfahrung an frühere Erlebnisse, welche in irgend einer Hmsicht ähnlich waren, erinnert zu werden? Gibt es nicht auch Erwachsene, die nie das Bewußtsein an alte Erlebnisse bei neuen Beob- achtungen ganz ausschalten können, sei es, daß ihr selbständiges Denken nicht geschult genug ist, sei es, daß ihre Rückerinnerung zu lebhaft ist (S. 42, 49 ff., 105), besonders da der sogenamite Analogieschluß immer wieder an- gewendet werden muß, iim Neues rasch zu erfassen (S. 71 ff.)? Angesichts dieser Erfahrungen führen Darlegungen, welche zu sehr verallgemeinern, kaum zu sicheren Ergebnissen, sondern nui" eine möglichst umfassende, viel- seitige Beobachtung von Einzeltatsachen. Sie sind aber keineswegs unwider- leglich und vielseitig umfassend festgestellt, so daß auch der Verfasser immer wieder auf spätere Untersuchungen von sich verweisen muß, da eine Fülle von Fragen sich ihm bei seiner Abhandlung aufdrängen (S. 15/6,
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2i, 50, 53, 55, 58, 61 ff., 67, 69, 75, 94/5, 113, 126/7). Dieser Weclisel auf die Zukunft erschwert aber das gerechte Würdigen des Gebotenen: infolgedessen hat der \'erfasser vielleicht Recht mit seiner Ahnung, daß „über Einzelheiten seiner Auffassung wohl allerlei Mißverständnisse entstehen können" (8. 67). Auch durch einen anderen Umstand erleichtert Dr. K. das Nach- prüfen seiner Behauptungen wenig, indem er nicht immer sagt, in welchem Zusammenhang die erwälinten fremden Stellen stehen. Doch ich will nicht mit einem Einwand schließen, sondei-n km-z die Begriffsbestimmung über das Denken anfügen (S. 127); denn sie kennzeichnet auch die Arbeitsweise sehr gut. Wenn manche Leser dieses Ergebnis für etwas mager und nicht sehr neu finden, wer ist schuld ? „Das Denken als Urteils- funktion ist ein luimittel bares Erfassen der Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen zwei Vorstellungen. Das Denken als .Schließen ist ein unmittelbares Er- fassen der Älinlichkeitsbeziehungen zwischen zwei Vorstellungen oder mit anderen Worten, ist ein durch vorangehendes Urteil motiviertes Erwarten ehr Almlichkeitsbeziehungen zwischen zwei Vorstellungen".
Gegenüber der Tübinger Doktorarbeit von Dr. Paul Feldkeller, Untersuchungen über normatives und nichtnormatives Denken (1914), befindet sich mancher Leser, zu denen sich auch der Berichterstatter leider rechnen muß, in einer eigenartigen Lage. Wer der Richtung des Verfassers sich wesensfrenid fühlt, wird auch durch die Abhandlung in seinen Ansichten nicht erschüttert; demi er hat immer wieder das GefiUil, alscb die Gedankengänge sehr oft weniger aus sich heraus entwickelt, als anein- andergereiht sind. Trotz oder richtiger wegen dieser grundsätzlichen Ab- weiclning möchte ich noch mehr als sonst ausschließlich Berichterstatter sein. Doch kann ich leider nicht alle Einwürfe unterdrücken, auch in einem äußerlichen Punkt, weil er auch etwas Grundsätzliches in sich schließt. Warum A^inde die Doktorarbeit der Braut gewidmet ? Ich kann mir nicht helfen: Solche 'NMdmungen klingen unfreiwillig komisch und reizen zu neu- gierigen Erörterungen. Im allgemeinen weiht man die erste größere Arbeit demjenigen Professor, der auf sie entscheidenden Einfluß hat. Fehlt viel- leicht eine derartige ausschlaggebende Einwirkung bei der vorliegenden Ai-- beit? Da der beigefügte Lebenslauf zeigt, daß der Verfasser zahlreiche und ziemlich entgegengesetzte Professoren gehört hat, scheint mir der beim Lesen entstandene Eindruck richtig zu sein, alsob zwei grundverschiedene philo- sophische ,, Richtungen", die der sogenannten Logiker, zu denen auch einer unserer gemeinsamen Lehrer, der leider früh verstorbene Theodor Lipps, gehört, und die der reinen Experimentalpsychologen, wie Wundt und A\'irth, den Verfasser beherrschen. Er versucht einen Ausgleich odei richtiger gesagt, eine reinliche Scheidung zwischen beiden, indem er einmal den Satz prägt: ,,Naoh dieser mm einmal gemachten Konzession an die normative, aktive Logik im allerstrengsten Simie, 'bleibt aber das gesamte übrige Denken unbestrittene Domäne der Psychologie, und dieser Teil ist der weitaus größere, ja umfaßt sogut wie alles vorkommende Denken." (S. 29) Wie stimmt diese Behauptung zu einer anderen, mit w^elcher
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der Abschnitt über die Logik des natürlichen Denkens beginnt? „Während der Logiker im engeren .Sinn, auf die beste Art zu denken reflektiert, stellt der das natürliche Denken untersucliende Psychologe die empirischen Taten fest und fragt nach Realgründen gerade dieser Bildungen und nacli Nutzen und Zweck, wie es dem Menschen als Orgatrismus entspricht" (S. 35). Daß der Verfasser mit dieser Abgrenzung allgemein Anklang findet, glaube ich nicht, da eine vollkommen klare Begriffsbestimmung mir zu fehlen scheint. Aber nicht nur diese Doppelnatm der Arbeit läßt kein ästhetisches Befriedigt- sein beim Lesen aufkommen, sondern auch das andere Gefühl, daß derjenige Leser, welcher die am Ende angeführten Schriften nicht auch selbst keimt, nie mit unbedingter Sicherheit sagen kann, was innerlich Erarbeitetes, was Nachgedachtes aus den „Quellen" ist. Dieses Nachprüfen erschwert Dr. F. auch dadurch, daß er verhältnismäßig wenig Einzelverweise bietet. Doch genug der Bedenken! Zum Schluß sei nur noch eine kxirze Inhalts- angabe geboten. Ein erster Teil, welcher über Logik schlechtweg handelt, untersucht die doppelte Gliederung von Logik und prüft auch den Unter- schied zwischen Logizismus und Logik, indem auch hier der Grenzstreit zwischen Psychologen und Logikern zu entscheiden gesucht wird. Der zMcite Teil beschäftigt sich mit normativem und tatsächlichem Denken, der dritte mit normativem oder aktivem Denken. In ihm werden besonders oft mit ent- schiedener Handbewegung sich aufdrängende Fi'agen beiseite geschoben; besonders eine Stelle (S. 53/4) klingt wie ein eigenes Gesamturteil über die Arbeit (vgl. S. 77 und 81 !). •
Gleich der Arbeit von Dr. Kramar, Neue Grundlagen zur Psychologie des Denkens (1914), ist auch diejenige von Dr. Leonid Gabrilovitsch, Über das mathematische Denken und den Begriff der aktuellen Form (Bibliothek füi- Philosophie, herausgegeben von Professor Dr. Ludwig Stein, 8. Band (Berlin 1914. 2,50 Mk.), sozusagen die Einleitung zu einer anderen Untersuchung (S. 92). Hoffentlich wird sie, was die VerAveise anlangt, gefeilter sein; denn der Petersburger Privatdozent huldigt dem schon wiederholt angemerkten Grundsatz, im allgemeinen n u r den Namen eines benützten Forschers, seltener die einschlägige Schrift, am seltensten die Seiten- zahl dem Leser zu verraten. Infolgedessen weiß nur derjenige, welcher die Literatur ähnlich überblickt wie der Verfasser, genau Bescheid. "\\'elche Mühe derartige sorgfältige Angaben machen können, haben mich eigene Schöp- fungen zui- Genüge gelehrt. Aber wer der wissenschaftlichen Welt etwas Neues bieten will, darf sich dieser Ai-beit nicht entziehen, wenn er nicht seine Abhandlung sehr beeinträchtigen will. Man mag über die „Brücke" und ihr Werden und Vergehen denken, wie man will, das dürfte jeder Nichtvorein- genommene zugeben, daß ein brauchbares Stück Philologie — im wahrsten Sinne des Wortes — in ihrer Tätigkeit und besonders in ihrem leider nicht erreichten Endziel liegt. Über philologische Genauigkeit ist schon viel ge- spöttelt worden; mitunter wohl mit Recht. Aber wie in vielen SchA\ächen eine nicht zu verachtende Stärke steckt, so auch bei der philologischen Arbeitsweise ; denn jeder, der nur zu lesen versteht, kami die Behauptungen nachprüfen, weil er die Quellen eofort greifbar liest. Abgesehen von diesem
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Foriinvun8ch hiittc ich noch einen mehr nacli der sachlichen iSeitc hinneigenden. Die Zn.siimnienfa,ssung der Ergebnisse umschreibt eigentlich nur den Titel durch einen Satz: „Wir haben zu beweisen versucht, daß das rein niathematische Denken einer »Selbstentfaltung der aktuellen Form gleich- zusetzen ist." (S. 92, vgl. S. 63, § 7) Doch ich will nicht das, was ich beson- ders bei der Besprechung von Dr. Cohn, Dr. Feldkellcr und Kramar hervor- hob, nochmals allzulang ausi^)imien, sondern km-z sagen, was in der Schritt steht. Der Verfasser schildert das Verhältnis zwischen mathema- tischem und philosophischem Denken und fügt immer wieder kurze Hinweise auf die Cile.schichte dieser Beziehungen ein. Welche Namen er bei cßeser Gelegenheit erwähnt, mag eine kurze Zusammemtellung zeigen: .\ristoteles (S. 57 f.), Descartes (S. 47), Cauß (S. 17, 24, 28), Hegel (S. 34), Helmholtz (8. 88), Humes (S. 39), Kant (>S. 3, 25, 30, 74), Leibnitz (S. 49, 77), ÄLirbe (Bewiißtseinsinhalte, S. 45), Malebranches (S. 48), Marburger Schule, be- sonders Xatorp (8. 33 ff., 36, 67), Plato(S.58),Poincare (S. 11, 65 ff., 69, 77, 79), Rüssel (S. 13, 25, 28, 64ff., 72), Schuppe (S. 40ff., 58 ff.), Spinoza <S. 48). Be- .sonders bricht der Verfasser für Schuppe eine Lanze, um gegen die nach seiner Meinung unverdiente Greringschätzung des 1903 Verstorbenen Stellung zu nehmen. Wie dieses Nichtbeachten zu erklären ist, sagt Dr. G. selbst, indem er von der „doppelten Terminologie" Schuppes, welches manches Mißver- ständnis verursacht, spricht (S. 40/1, 58/9). Wem\ auch meine Aiigabe der hauptsächlich herangezogenen Gelehrten jedem Kundigen sagt, in welcher Richtung sich die Ausführungen des Verfassers bewegen, so möchte ich docli noc-h die Gedankengänge in großen Zügen entwickeln. Di*. G. geht von der richtigen Beobachtung aus, daß die ,, Mathematik als formale Wissen- schaft zu den materialen (empirischen) \Vissenszweigen" in einem gewissen Gegensatz steht, und daß leider „die formalistische Richtung in dem Erschaffen wesenloser Symbole und im Feststellen der Verbindungsgesetze auf die Spitze getrieben wurde" (S. 4, 9, 13, dagegen S. 84); d. h. die höhere jVIathematik ging sozusagen in Logik über und verlor ihr ,, Anschauliches'' (S. 17, 39), das stets als Hauptvorzug dtu- Mathematik gepriesen wurde. Weil Dr. G. diese Dinge ausfülu-lich betrachtet, berührt er sich mit der im vor- stehenden gewürdigten Doktorarbeit von Feldkeller; geht allerdings über sie insofern hinaus, als er den wunden Punkt an den logistischen Anschauungen unzweideutig hervorhebt (S. 29). Von dieser Erkeimtnis dm-chdrungen, erschließt er „zwei Kennzeichen für die reine Form der Erfahrung: ,, Erstens steckt sie in der Anordnung von Inhalten, nicht in ihrem ,, Dasein" und „So-sein" (in ihrem Wesen und Beschaffenheit). Zweitens findet sie (wenigstens anscheinend) eine erschöpfende Darstellung in den Gesetzen der Logik" (S. 29). Um diesen Gedanken zu begründen, behandelt Dr. G. auch die Form (S. 49 ff.) und das System der Erfah- rung (S. 39 ff.) und kommt allmählich zu seiner ureigensten Aufgabe, der Betrachtung der aktuellen Form (S. 52 ff.). Lebhaft verteidigt er sich gegen gemachte Einwürfe, alsob er nur die Leibnitzsche Lehre von den Petites perceptions erneuere (S. 49 ff., vgl. auch Dr. O. Willmami, Phil. Propäd., 1912'', S. 1, 15 und 93!) und untersucht, nachdem er im Vor-
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l>eigehen den gegenwärtigen Solipsimus derb abgelehnt hat i^. 51/2), die Beziehungen zwischen -der aktuellen Form und der Logik (S. ö2ff.), beziehimgsweise Zahl (80 ff.), beziehungsweise zwischen Logik und Arithmetik (S. 63 ff.)- Fassen wir zum Schlüsse kurz den Eindruck der Ai-beit zusammen ! Manche Äußerlichkeiten erschweren wie bei Dr. Dl'. Feldkeller, Kramar, Ruckhaber das Nachprüfen der Behauptungen imd die Abhandlung ist sozusagen ein Wechsel auf die Zukunft. Zugleich aber ist sie auch dank des Scharfsinnes und gediegenen Wissens des Ver- fassers, der auch eigener früherer Untersuchungen gedenkt (8. 38, 51, 57), eine vollgültige zahlungverheißende, im Falle vor allem die Genauigkeit im Erwähnen fremder Meinungen größer wird.
Erich Ruckhaber benützt das Vorwort zu seiner Abhandlung, Das Gedächtnis und die gesamte Denktätigkeit eine Funktion des Muskelsystems (Psychologisch-Soziologischer Verlag 0. Mattha, Berlin N 28, 1915), zu verschiedenen Zwecken. In herbem Anklageton würdigt er das, was für die Sonderfrage, welche er beleuchten will, bis jetzt geschehen ist, bzw. unterlassen wm-de, und greift vor allem den Besprecher einer früheren Schrift in beleidigenden "\^ orten an; auch sagt er, was er mit der vorliegenden Arbeit Xeues leistet. Um nicht auch meinerseits den Unwillen des Verfasseis zu erregen, gehe ich auf das Vorwort nicht weiter ein und ebensowenig auf den Schluß (S. 171 ff.), weim auch seine Fassung den Eindruck erweckt, als ob die Abhandlung geschrieben sei, um zu maßlosen Angriffen von Anders- denkenden eine Möglichkeit zu gewinnen, wemi überhaupt ein iniK^rer Zusammenliang zwischen der Abhandlung selbst imd jenen Zeilen besteht. An Stelle alles fruchtlosen Streites will ich versuchen, die Leitgedanken R.s kurz anzugeben und mir erlauben, einige Fragen anzufügen. R. will das Wesen des Gedächtnisses erforschen, indem er an die Stelle der sogenamiten willkürlichen Versuche, welche nach bestimmten, durch Denkvorgänge und Erfahrungen veranlaßten Gesichtspunkten vorgenommen werden, die unbe- einflußte, die sogenannte zufällige Beobachtung .setzt. Im allgemeinen be- nützt er eine Versuchsperson, die er stets zur Verfügung zu haben glaubt, sich selbst. Doch unterliegt die Wahl dieses Beobachtungsgegenstandes manchen Einwürfen. Vor allem ist es sehr bedenklich, auf Grund der Art und Weise, wie ein einzelner denkt und emijfindet, weittragende Schlüsse zu ziehen; demi diese Persönlichkeit kann für bestimmte Eindrücke besonders empfindlich (Vgl. S. 29, 51, 89 Nr. 12) oder geschult sein (vgl. S. 40, 52, 79, 116). Gibt es z. B. nicht auch sog. Unmusikalische, die eine erinnerte Melodie nicht leise nachsingen können? (S. 95). Andererseits köiuien einzelne Beispiele, vor allem Beobachtungen, welche der Erwachende in den letzten Augen- blicken des Schlummers erlebte, sehi wohl allgemeine Gültigkeit haben, wiewohl auch bei ihnen die persönliche Stimmung aus^ chlaggebend und manchmal auch die Deutung des Durchgemachten persönlich gefärbt sein kann. Um diesem Einwand zu begegnen, ersucht der Verfasser den Leser, selbst Ver- suche zu machen: Z. B. S. 31: die „Augen zu schließen und die Hand in beliebigen Richtungen zu bewegen". Nach R. hat der Ausführende „eine
Rezeiisioueu. Ih!)
schatteiüiafto Vorstellung der Bewegimg und dt-s Ijcwegtcii (Miedt-s". .^u- fort ergebeusich zwei Einwürfe : In wekheiu Sinne wird das Wort „sehen" gebraueht ? In rein körperlichem oder rein geistigem ? Wahrscheinlich wird R. letztere Möglichkeit ablehnen, da er die geistigen Vorgänge als Muskel- bewegimgen, d. h. etwas Körperliches auffaßt. Wetm wir letztere Forderung zugeben, so eigibt sich aus ihr eine neue Frage. Ist die erwähnte Erfahrung, weiui sie wirklich von allen Menschen gemacht werden kann, nicht aucli aus der körpei liehen Verbindung des bewegten Aiines mit dem Kopfe zu erklären? d. h. aus dem unmittelbaren Fühlen der Bewegiuig? ^^^^,rum soll in diesem Falle eine Erinnerung an eine frühere Walmiehmung ausgeschlossen sein, wie bei einem anderen \'ersuch ? ^A'ie kami jemand eine Kugel, die er bei geschlossenen Augen umfaßt, als Kugel erkemien, wenn er noch nie gehört hat, daß das ergriffene Ding eine Kugel sein soU (S. 35, vgl. 8. 118 und 121 !) ? Kaben nicht diejenigen recht, welche alles Lernen eine Rückerinnerung nemien ? Die aus bestimmten Buchstaben zusammengesetzten Worte kömien nur erkamit werden, wenn die Laute oder die Sehriftzeiclien, aus denen sie entstehen, im Gedächtnisse haften. Immer wemi ein Wort vor uns hintritt, werden wir luis seiner Bedeutung in einer anderen von uns gelernten Spraclie nm- durch Rückerinnerung bewußt. Dieses Ergebnis wird um so leicht^-r Wirklichkeit, je mehr (redächtuishilfen, die der Verfasser sehr- wohl wxüdigt, vorhanden sind (z. B. S. 57). Doch wir w^oUen albermals annehmen, daß alle Fehlerquellen bei den Beobachtungen des Verfassers sich aus- schalten lassen und seine Voraussetzungen zutreffen ! Bei diesen Zugeständ- nissen kömien \v\v die Wahl der Gliederung hinsichtlich der verschiedenen Erinnerungsformen billigen imd feststellen, daß einzelne Erfahrungen an- schaulich geschildert werden; wenn z. B. der Veiiasser über das „momentane oder primäre Ciedächtnis (S. 15 ff.), über die Verwandlung der Bilder in- einander (S. 17 ff.), über die Entstehung neuer Situationen dm-ch Veimischiing oder Zusammenfassung alter (S. 20 ff.), über den M'ettstreit zwischen Wahi- nehmung und Eriimerung" (S. 23ff.) spricht oder betont, „daß man einzelner Dinge, z. B. heller und glänzender Farben oder Vokale, sich besser erinnert als anderer, z. B. dunkler Farbe und Konsonanten" (S. 28). Spielt in diesem Fall vielleicht das weniger häufige Vorkommen der genaxier Gemerkten eine Rolle ? Im übrigen, was beweisen aber diese Feststellungen für den „physi- schen sensualen Chai-akter des Gedächtnisses" (S. 27) ? In diesem Zusammen- hang dürfte sich der Verfasser auch widersprechen, wenn er z. B. S. 27 sagt, „so sind wir imstande, die Ereignis.'e des gestrigen Tages fast vollständig zu reproduzieren", wähi-end er S. 42 erklärt, „ebenso ist es immöglich, die Erlebnisse des gestrigen Tages ununterbrochen der Reihe nach dm-chzudenken". Um die einzelnen Äußerungen des Gedächtnisses zu erklären, unterscheidet R. das optische (S. 31 ff.) und akustische Gedächtnis (S. 91 ff.) und stellt ciesen beiden das Gesamtgedät-htnis zm- Seite (S. 106 ff.). Die Einleitung aieses Kapitels, dessen Unterscheidung von den beiden vorange- gangenen nicht frei von Bedenken ist, regt wieder Fragen an, insbesonde:e warum der Verfasser gewisse Behauptungen hinwirft. Warum seilen z. B. die Begriffe Fenster und Gardinen „keine Assoziationen, sondern stehende Gesamt-
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Vorstellungen" sein? (S. 107). Kann man nicht Fenster ohne Gardinen oder N'orliänge nm- an Fenstern denken? Ebenso „muß der Begriff g..iechische l*hilosophie den Blick entweder nach 'Griechenland oder nach einem Hör- saale führen"? (S. 134). Warum kann das Wort nicht auch meinen Schreib- iiscli, an dem ich griechische Philosophie lese, oder das Buch, das mich sie lehrt, vor meine Augen zaubern? Mitunter scheinen bedeutsame Einschrän- kungen R.s den Schluß zu gestatten, daß er selbst seine Willkxtrlich- keiten fühlt (z. B. Ö. 50, 70, 90). Seine Arbeitsweise, welcher die Vor- aussetzungslosigkeit etwas fehlen dürfte (vgl. S. 166 unten), wird besonaers klar, wenn wir zugeben, daß alles Denken Muskeltätigkeit, deren genaue Begriffsbestimmung wir auch vergeblich suchen, sein soll; denn aus diesem Zugeständnis ergibt sich folgende Reihe von Gedanken und Antworten. (Vgl. S. 159 ff.). Warum tritt Muskeltätigkeit ein? Weil der Mensch will. "Warum will der Mensch? Weil er denkt. Warum denkt er? Weil Muskel- tätigkeit vorhanden ist. Dasselbe Spiel wiederholt sich, wenn wir das über Schmerzempfindung (gesagte bis in die letzten Schlußfolgerungen durch- denken (S. 161 ff., vgl. auch Dr. 0. Willmann, Phil. Propäd., 1912», I, 193). Diese Einwände richten sich gegen die Beweisführung als solche. Aber auch gegen Einzelheiten ließe sich manches sagen, vor allem, daß nur sehr selten (z. B. S. 138, 168) die Stellen benutzter Schriftsteller genau an- gegeben Averden oder aiif eiiazelne Abschnitte der eigenen Arbeit nur allgemeine Wendungen hinweisen. Wir sehen, daß kiitische Fragen, welche zum strengen Überprüfen des Standpunktes von R. einladen, sich immer. wieder ergeben. Ich habe sie aiifgeworfen, nicht aus Freude am Widerspruch, sondern um im Widerspiel der Meinungen die Erreichung der Wahrheit fördern zu helfen. Im übrigen bringt eine Widerlegung R.s auch W. Stern, Psychologie der frühen Kindheit, 1914, fünfter Abschnitt. Sterns Darlegungen wirken m. E. um so überzeugender, weil St. die später veröffentlichte Abhandlung R.s nicht kannte.
Aus einem mir unbekannten Grunde erhielt ich an Ostern 1916 unter neueren Abliandlungen auch ein ungefähr 7 Jahre altes Heft, Dr. Max Cohn, Über das Denken (Berlin, Simion Nachfolger^ 1910), zugeschickt. Es zu würdigen ist leicht und schwer; leicht, wemi man sich mit einigen allgemeinen Sätzen begnügt, schwer, wenn man dem Verfasser wirklich gerecht werden ■will, ohne die Wahrheit zu verschweigen, wie sie dem vorm'teilslosen Leser sich immer wieder darstellt, im Falle er sich durch die 140 Seiten durchzu- arbeiten versucht. Schon der schleppende Stil, der Satzungeheuer von über einer halben Seite vor uns auftürmt (z. B. S. 15/6, 51/2), erschwert das Lesen sehr. Dazu kommt, daß der Verfasser noch mehr als viele Psychologen von Fach seine Quellen sehi- ungenau angibt (vgl. m. Besprech. A'onFröbes !). In welchem Zusammenhang die vielen, aus einer sehr großen Menge von ver- •schieden artigen Büchern entnommenen Stellen sich finden, wird selten deut- lich gesagt. Über den Standpunkt mit dem Vei fasser zu rechten, fällt mir nicht ein; denn jeder zimmert sich seine besondere ,, Lebensanschauung" nach eigenem Wchlgef allen. Daß sich allerdings gegen die Grundansicht
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sehr vieles sagen ließe, wird jeder, der in den einschläj^igen Fragen etwas be- wandert ist, auch nach flüchtigem Überblick sofort fühlen. Trotzdem wird .selbst derjenige, der den Standpunkt des Verfassers grundsätzlich ablehnt, sich an manchen feingeschliffenen Gedanken über die verschiedensten Fragen, die der Verfasser anschneidet, aufrichtig freuen, wenn er auch nicht den Einwurf unterdrücken kann: In welchem Zusammenhang stehen die voigebrachten Einzelgedanken zum Hauptziel der Ai-beit? Hat letztere überhaupt den ihr gebührenden Titel? Wird über das Denken klipp-klar etwas ausgesagt? Steht die Untei suchung über dasselbe wirklich im Mittel- punkt der Arbeit? oder wird sie von dem üppig rankenden Beiwerk mehr als A'erdeckt? Der wichtigste Gedanke zum Buchtitel scheint mir auf S. 139 zu stehen. „Nicht eine einseitige Verallgemeinerung ganz gleich, ob sie das Physische (Materialismus) oder Psychische (Idealismus, Spiri- tualismus) trifft, nicht das Denken der Welt, d. h. die Welt als Weltidee, Gedankendinge, Vorstellung, sondern allein das Denken über die Welt, die nur eine, und ein Kontiniium ist, das Denken über das Sein dieses Zusammen- hangs, das unendlich ist, und über dessen Werden, das durch Bewegung in endlichen Formen sich verwirklicht, führt zum Ziele. Ein solches Denken, das nicht bloß der innei'liche Akt des Denkens ist, sondern auch das Objekt des Denkens berücksichtigt, und damit der Welt als Wirklichkeit und zugleich als Vorstellung gerecht wird, führt aber auch zum Erfolg." Im übrigen läßt sich die Grundansicht durch die zwei einleitenden Sätze Aviedergeben : „Die vorliegende Arbeit ist die Frucht einer jahrelangen Beschäftigung mit der Philosophie Ludwig Feuerbachs. Seinem unsterblichen Andenken ist sie, als Zeichen der Dankbarkeit und Verehrung, auch gewidmet. Feuer- hach war ja nicht allein Philosoph, in seinem Denken nimmt vielmehr die Naturwissenschaft eine Zentralstelle ein." (Vorwort S. 1.) Außer Peuerbach hat auch Goethe besonders mit seinem Faust den Verfasser stark beein- flußt (vgl. S. 128). ,, Daher auch die Berechtigung mit Goethe, in der Kunst einen vollen und befriedigenden Ersatz für die Religion zu sehen." Ange- sichts dieses Satzes ergeben sich die Fragen: Was ist Kunst, was ist Religion ? Wie äußern sich die beiden? Der Verfasser versucht wenigstens Innsichtlich der Religion eine AntAvort. Daß er sie lückenlos und unparteiisch gibt, kami man von einem Anhänger Feuerbachs nicht verlangen. Doch schränkt Dr. C. seine eigene Ansicht sofort ein, indem er erklärt, „daß wahre Kunst und wahre Religiosität gleich selten seien". Wir sehen also, der Ver- fasser hat eine gewisse Vorstellung, daß Religion nicht ein Weissen von Kate- chismus sei, und wahre Kunst nicht ein Nachempfindenkönnen des von anderen beschaffenen. Doch ich würde mit Fragen und Einwänden kein Ende finden; f^enn jede Behauptung regt die Neugierde an, was der Verfasser meint, wa.rum rr seine Sätze niederschreibt, worauf er seine Behauptungen stützt. Das Buch ist also ein sehr unterhaltendes, natürlich nicht für leichtes, ober- flächliches Lesen bestimmt, sondern erfordert langsames Eindringen in die eigenartigen fJcdankenverbindungen und in das merkwürdige Aneiu- t'jnderreihen von Behauptungen.
Archiv für Geschichte der Philosophie. XXXI, 3. 12
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Da die Abhandlung von Dr. Georg Sommer, Geistige Veranla- gung und Vererbung, auch aus Vorträgen erwuchs, ist sie besonders frisch geschrieben. Mit ihr habe ich wieder ein Bändchen der reichhaltigen Sammlung „Aus Natur und Geisteswelt" (JS^r. 512, Leipzig, Teubner. 1,25 Mk.), zu besprechen, das dem sonst an dieser Stelle behandelten (Gedankenkreis auf den ersten Blick ferner zu stehen scheint; demi es bezieht sich scheinbar auf rein naturwissenschaftliches Gebiet. Doch wie der Verfasser die medizi- nische und die philosophische Doktorwürde vereinigt und frülier Arzt bzw. Dozent für Psychologie in Würzburg (Prof. Dr. Külpe !) u. a. 0. gewesen, so sind in dem Buch auch die Ausführungen über die menschliche Doppel- natur das Körperliche und Seelische eng verschränkt, weil sie untreimbar sind (S. 118, vgl. S. 1, 20, 90, 92, 107). Doch ich gebrauche das Wort Seele, alsob über seine Bedeutung Übereinstimmung bestünde. Der Verfasser be- spricht zum Beispiel im zweiten Abschnitt psychische Eigenschaften, und im dritten, der von dem ,, körperlichen Substrat der Seele und seiner Verer- bung" handelt, ,,Groß- und Kleinhirn, Rückenmark, 'sympathisches Nerven- system und zugleich die Bedeutung des Geschlechtsunterschiedes". Die vier ersten Untergriffe scheinen andeuten zu wollen, wo cie Seele zu suchen ist; während im letzten eine Verschiedenheit der seelischen C^samtanlage bei Mann und Weib aus der Verschiedenheit der körperlichen Beschaffenlieit abgeleitet wird (s. ixnten). Mit diesen Angaben über das „körperliche Substr?,t der Seele" gewinnen wir zunächst kein ganz befriedigendes Ergebnis: denn die Psychologie rechnet zu den Erscheinimgsformen der Seele auch sogenannte Charaktereigenschaften. Wo sie aber ihren körperlichen Sitz haben, stellte noch kein Messer eines Anatomen fest (vgl. S. 30 ff., 53). In dieser Hinsicht scheint also ein innerer Widerspruch, der nur eine Lösungs- möglichkeit läßt, zu klaffen, da auch von ererbter seelischer Konstitution (Abschnitt 4) und von speziellen Anlagen (Abschnitt 5), d. h. Instinkt und Sprache (8. 58 ff.); Begabung, Talent und Genie (S. 69 ff.) in dem Büchlein gesprochen wird. Alle diese fallen also unter den allgemeinen Begriff Seele. Er wird demnach nicht durch die „sichtbaren Substrate" erschöpft. Sollte der Verfasser vielleicht dem körperlich feststellbaren Gew-and der Seele auch einen unsichtbaren Inhalt zugestehen? Fast scheint es so (S. 11 ff.. 20, 54, 60). Infolgedessen bietet das Buch auch für den reinen Beobachtungs- psychologen, dessen Sonderliteratur etwas vermißt wird, viel Anregendes und reichen Stoff, a,uch wenn man nach der Art von Dr. Richard Müller- Freienfels (Das Denken und die Phantasie, 1916), der „im Kampfe gegen die traditionelle Vorstellungspsychologie ein System einer Aktionspsychologii bietet", vgl. Kap. 4 — 6 bei Dr. Sommer), oder mit dem Fragebogen von Dr. Bärwald (Zur Psychologie der Vor Stellungstypen, 1916; vgl. Dr. S., S. 44 ff., 91 ff.) arbeiten will. Doch sei dem, wie ihm wolle. Auf jeden Fall möchte- ich eine gewisse Ausscheidung vornehmen, indem ich p^usschließlich das Seelische, dessen körperlicher Sitz noch nicht nachweisbar ist, berücksichtige, um auch Beziehimgen zu anderen Arbeiten, die ich an dieser Stelle im Zu- sammenhang bespreche, herzustellen. Das, was der Verfasser über den (Tcschlechtsunterschied sagt, klingt in erster Linie an Dr. Baerwald
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(s. oben und ni. Besprecliung !) ftn und bietet auch eine wertvolle Ergänzung 2U Dr. Haase (Weibliche Erziehungstypen, 1915), obwohl odei weil die Auf- fassungen bei ihm und Dr. Sommer (>S. 41 und 78) sich nicht decken. Die Darlegungen über die Sprache lehnen die CJedanken von Dr. Kramäi; (Neue Grundlagen ziu- Psychologie des Denkeas, 1915), über das „Werden des laut- lichen Verständigungsmittels des Menschen", entschieden ab (S. 66 ff.) und bestätigen die Darlegungen von Dr. Kleinpaul (Volkspsychologie, 1914; vgl. S. 37, 58, 69). Auch an Dr. Fr. Hertz, Rasse und Kultur (1915), wurde ich wiederholt gemahnt, da der Verfasser erklärt, daß ,,die Bildung einer neuen Art (zunächst auf Tierwelt bezogen) im strengsten Sinn des Wortes noch nie einwandfrei beobachtet wurde" (S. 2), ferner sich zu den Sätzen bekennt, „daß die individuelle Variation beim Menschen unendlich sei" (S. 5) und „daß für ■die Beurteilung des Individuums Massemu'teile natürlich niu" einen sehr be- schi'änkten Wert haben" (S. 4.3, vgl. auch S. 4, 35 f., 67; dagegen S. 65). Doch genug mit den Vergleichen, welche niu' die na.ch allen Seiten gesponnenen Fäden erkemien lassen sollen! Auch als Historiker möchte ich einige Beobachtungen wiedergeben. Jeder, der einma.1 die üblichen Stammbaum- jäger psychologisch zu bestimmen versucht hat, gibt dem Verfasser Recht, daß derartige Forschungen einen wirklichen Zweck und eine innere Berechti- gung nur haben, wemi sie möglichst vielseitige Gesichtspunkte berücksichtigen (S. 6 ff.). Etwas weniger dagegen wird derjenige, welcher Gedanken von Dr. Friedrich H'ertz mit Anschauungen des verstorbenen Professors der alten Geschickte in München, Dr. Robert t. Pöhlraann, verbindet, einverstanden sein, wie der Vei fasser das Auffassen geschichtlicher Rollen durch Schau- spieler wertet; z. B. dürfte gerade die landläufige Darstellung der Iphigenie mehr unter dem Einflüsse deS Klassizismus (vgl. m. Bericht über Dr. Eleuthe- Topus, die Philosophie irnd die sozialen Zustände des Griechentums (1915) und von Dr. Karl Reinhardt, Parmenides (1916!) als der Wirklichkeit stehen; denn sie wird in der Tochter des Agamemnon mehr die leidenschaftliche »Südländerin und in dem Atriden den Stammeshäuptling, aber nicht einen den Gegenwart s Vorstellungen angeglichenen großen König sehen (S. 35, vgl. S. 40, 93). Meine Ausführungen treffen natürlich nicht Dr. S., da er nm' pathologische Beobachtungen mit seinen Beispielen erklären wollte, sondern die erwähnten Darsteller. Andererseits aber ist es Gemeingut aller wahr- haftigen Betrachtung des Geschehens und der gewordenen Umstände, daß die Umwelt den Menschen (S. 18, 118) und die Tiere, bei deren Psychologie die neuesten Arbeiten vor allem der Zeitschrift „Tierseele" (vgl. auch m. Besprechung von Dr. Felix Kjüger, Über Entwicklungspsychologie, 1915) leider nicht lebhaft herangezogen werden (S. 59 ff . und 71), sehr stark be- einflußt. Feinsimiig sind dagegen auch manche eingestreute kulturhisto- rische Bemerkungen, z. B. daß im Frauenraub eine unbewußte Beach- tung der nötigen Blutmischung liegt (S. 96) und daß weder Inzucht noch ihr ■Cxegenteil das alleinige Unglück oder Heil bedeute (S. 89). Auch die kurze Anspielung, wie die im Buch angeschlagenen Fragen von Dichtern behandelt werden, verdient eingehende Beachtung und eine Sonder-
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arbeit. Schließlich kommt bei dem Büchlein, das selbstverständlich gemäß seines Umfanges mehr andeutet als ausführt, aiich der Erzieher auf seine Rechnung, da die Erkemitnis, welche Folgen die Vererbung hat und wieweit trotz derselben der werdende Mensch gestaltet werden kann, ausschlaggebende Bedeutung für unsere Arbeit an der Jugend besitzt (S. 32, 36, 40, 52, 76, 150). Leider tritt das Ergebnis der Psychologie unserer Kleinen, wie wir sie vor allem in dem grundlegenden \Yerk von William Stern, Psychologie der frühesten Kindheit (1914), kemien lernten, nicht sehr in den Vordergnmd. Doch über diese Einzelheiten, welche die vielseitigen Aiu-egungen des Buches berühren^ habe ich noch nicht die Hauptsache erwähnt: der Verfasser ist ein heiß- blütiger Prediger, daß auf den künftigen Eltern große Verantwortlich- keit lastet (besonders Kap. 6), wie auch in dem ebensowenig verwerteten Buch von Friedrich Robert, Frau Amanda und ihre Kinder (Berlin 1906),. geschieht (vgl. S. 107 und 114 bei Dr. S.). Mit diesem C^danken schließt das warm geschi-iebene Büchlein, dem bedauerlicherweise auch ein Schlagwort- verzeichnis fehlt. Wie ein gewaltiger Schlachtruf für die Zukunft unseres Volkes klingt der Satz: „Möge unserem teueren Vaterlande sein Ahnenerbe, das jetzt eine so unvergleichliche Feuerprobe besteht, nach Lei)) und Seele in einer langen Reihe von Generationen erhalten bleiben, die ihrer Väter wert sind"! (S. 118.)
Fritz Witteis ist überzeugt (S. 48/9), daß seine gedruckten Äuße- rungen zu wenig gelesen werden. Deshalb hielt er im Jahi'e 1913 Vorträge und ließ sie — eigentlich im Widerspruch zu dem eben wiedergegebenen C4e- danken— 1914 unter dem Titel „Über den Tod und über den Glauben an Gott" (Wien, Per les, 1914. 2,50 Kr.), drucken. Aus mir unbekannter Ursache ging dig Broschüre erst nach längerer Zeit dem Archive und mir um Ostern 1916 ziu- Besprechung zu. Gelesen habe ich sie, als ich unter dem Eindruck des Massensterbens im Skagerag und des Todes des Lord Kitcheneiv der eine der treibenden Kräfte zum Kriege war, stand. Ich erwähne diese Tatsachen, weil ich zeigen will, daß der Verfasser mit seinen Äuße- rungen, die er lange vor dem Gegenwartsringen veröffentlichte, auch unseren Tagen etwas zu sagen hat, vor allem wenn er davon sjiricht, daß der T o d nur schrecklich ist für denjenigen, der Angst vor ihm hat, und daß wir ihn imierlich überwinden können, wenn wir von Liebe durchdrungen sind. Sie will Witteis im weltlichen Simi als Nächstenliebe aufgefaßt ^\isscn (vgl. S. 52 ff. und S. 105 ff.). M^'ährend der erste Vortrag in sich geschlossener ist, plaud.ert W. im zweiten über sehr verschiedene Fragen, da sie jedem den- kenden Beobachter unserer Zeit sich aufdrängen. Trotzdem fordert der Titel des zweiten, welcher bezeichnenderweise an Maria Empfängnis stattfand,. Widerspruch heraus; denn der Lihalt deckt sich mit dem, was man nach der Überscluift erwartet, keineswegs. W. spricht nämlich über den Gottes- "begriff, wie ihn die verschiedenen Menschen und besonders Kinder haben, und über die Ersatzmittel, welche manche sich selbst für den wahren Gott bereiten. Iiifolgedessen erwarten wir für diese Ausführungen etwa die Be- zeichnung, wie malt sich das Wort „Gott" in den Köpfen der Menschen?
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Um meiner Bericlitcrstatterpfliclit zu genügen, habe ich auch auf diesen Piuikt hingewiesen und schließe mit dem Wunsch, daß der Umgestalter Krieg duch für den Verfasser ein großes sammelndes Erlebnis sein möge, damit seine Darlegungen, welche bei allen sonderbaren Verknüpfungen wegen ihrer Fülle von (leist anregend sind, auch in einsamen, ernsten Stunden di'außen vor deniFeinde, aber auch von Kinderpsych ologen gelesen werden mögen; denn W. sagt viel Feines und Schönes über die kindliche Entwicklung, so daß er vielfach an W. Stern, ,, Psychologie der frühesten Kindheit" (Leipzig 1915), «nklingt.
Nicht wenige Leute behaupten, daß sie ein Buch kennen, wenn sie Ein- leitung und Schluß gelesen haben. Zweifellos liegt in diesem Scherze eine tiefe Binsenwahrheit, wie sie auch die Kosmogonie von Professor Dr. Christ, von Ehrenfels (Jena, C. Diederichs, 1916. 5 bzw. 6,50 Mk.) birgt <z. B. S. 159): die Grundansicht des Verfassers tritt ta.tsächlich am klarsten in der Einleitung und dem zusammenfassenden 6. Kapitel, besonders § 4 zutage. Wessen G'edankem-ichtung dem Buche vollkommen widerspricht, Avird auch dm'ch die versuchte Begi'ündung schwerlich umgestimmt, wie dei Verf. selbst ahnt (vgl. S. 141: wir würden usw., und S. 161: ich bin weit entfernt); demi eine eigenartige Verbindung von Behauptungen und .Schlüssen aus diesen Urteilen und Voraussetzungen gibt schließlich die Grundlage zum Aufbau von — Dogmen, d. h. Leitsätzen. Sie hält der Verfasser für wahr, wie andere Leute z. B. — christliche Dogmen. Die Wahl desselben Begriffes ist kein Zufall; demi Dr. v. E. glaubt in der Tat eine neue Religion schaffen zu können (vgl. S. 146 und S. 169). Die sechs Dogmen, zu denen sich in den Ausblicken Ansätze eines weiteren gesellen (S. 184), sind: 1. Die Welt ist das Erzeugnis zweier gegensätz- licher Prinzipien usw. (vgl. die verschiedenen dualistischen Welt Vorstellungen, einschließlich der alt- und neutestamentlichen !) 2. Die Welt hat einen An- fang genommen, wird aber niemals enden (vgl. auch Altes Testament!), die Welt ist in stetem ewigen Wachstum usw. 3. Das Einheitsprinzip' ist von körperloser Beschaffenheit usw. 4. Der ewige Fortschritt der Welt geht a.us einem ewigen Entwicklungsprozeß im Imaern des Einheits- prinzipes hervor (vgl. die alte Emanationslehre der Neuplatoniker !). 5. Die gegenwärtige Welt, einschließlich des organischen Lebens, ist kein Werk zweckbe-RTißten Wolleios, sondern ein Erzeugnis absichtslosen Ge- staltens (vgl. dagegen Darwinische Auswahlslehre!). Das zweckbe"\vußte Wollen, wie es sich im Menschen herausgebildet hat, ist eine späte kosmische Blüte. 6. Wir Menschen sind — jedenfalls mindestens mit einem Teil un- seres Bewußtseins - — ■ Teile des göttlichen Innenlebens und daher Mithelfer an Gottes Werk (vgl. auch Mystizismus des Mittelalters und unserer Tage, z. B. in den Schriften von Dr. Joh. Müller über ,, Erleben" Gottes!; iS. 169 ff.). Diese verschiedenen Dogmen, die fast alle bekamite Vorläufer in den letzten 3000 Jahren hatten, werden zusammengefaßt in dem Glaubens- satz „von der dualistischen Weltanschauung", die auch wiederholt in der Vergangenheit vertreten wurde, wie auch jede Geschichte der Philosophie
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lehrt. ■ — Bezeichnend für die Arbeitsweise ist auch die Tatsache, daß dio Kosmogonie gegen Kant sehr scharf Stellung nimmt, und zugleich 3 Haupt- sätze des großen Königsbergers zum Ausgangspunkt neuer Ansichten nimmt, indem behauptet wird, daß Kant aus seinen Voraussetzungen falsche Schlüsse zog, während Dr. v. E. Kants Ansichten richtig weiterentwickeln will, aller- dings, wie manche Leser behaupten werden, auch ohne völlige Lösung (vgl. S. 144, 151, 179). Um das Werk im einzelnen zu widerlegen, müßte man vielleicht ein ähnlich dickes Buch von über 200 Seiten schreiben. Ein der- artiger Versuch ist aber ziu"zeit insofern verfrüht, als das vorliegende Biich, welches Entstehen imd Sein der Welt erklären will, nach den eigenen Worten des Verfassers nur den Teil eines größeren Werkes darstellt. Von ihm, da,s allerdings keine neuen Beweise bringen soll, weiß Dr. v. E. selbst nicht, ob er es vollbringen kami (S. 184). Ich habe vielmehr lediglich den Hauptein- wand gegen die Arbeitsweise hervorheben zu müssen geglaubt. Dr. v. E. ge- hört zu den Philosophen, welche naturwissenschaftliche Leitgedanken vertreten, und verbindet diese Richtung, welche an und für sich sichere Grund- lagen bieten kann, mit einer anderen. Diese lehnt er zwar gelegentlich ab (vgl. S. 144), befolgt sie aber fortwährend, nämlich die der mittelalter- lichen Scholastiker, welche den Gegner widerlegen wollten, indem sie auf Widersprüche imd Fehler hinwiesen, die sich ergeben, wenn man eineirt Einwurf in seinen letzten Schlußfolgerungen nachgeht (vgl. S. 35 ff., 57 ff.» 63/4, 184). Dieses Vorgehen erinnert daran, daß jemand die weißen und schwarzen Schachfiguren führt und als Feldherr beider Abteilungen dem gedachten Gegner diejenigei^. Züge tun läßt, welche der eigene Schlachten- plan erfordert. Doch wenn auch grundsätzliche Bedenken — wie ge- sagt — nicht unterdrückt werden können, so muß doch auch betont werden : So schwer auch der Verfasser schon durch seinen Stil und durch die Häufung, von fremdsprachlichen Fachausdrücken es dem nichtphilologisch-philosophisch Gebildeten macht, in die mannigfachen C4edankengänge einzudringen, es ist ein reizvolles Schulen des eigenen Verstandes und Wissens, den Ansichten nachzugehen, und insbesondere zu prüfen, auf welche fremden Meinungen angespielt wird; demi getreu seinem Grundsatze (S. 2, vgl. auch m. Berichte übsr Dr. Eisenmeier und D/. Müller -Freienfels), möglichst uniier- sönlich Stellung zu nehmen, nennt er die Gelehrten, denen er widersjjricht, sehr selten mit Namen, so wertvoll es auch dem Geschichtsforscher wäre, auch in die persönliche Entwicklung der Fragen von einem Kundigen, der auf langes Wirken zurückblicken kann, eingeführt zu werden. Zv untersuchen, warum diese Rücksicht genommen "wiirde, ist nicht meine Auf- gabe ; wie ich auch nur im Vorübergehen darauf hinweise, daß auch die andere Zusage, möglichst höflich gegen fremde Meinungen aufzutreten, von einigen sehr derben Ausdrücken abgesehen (S. 152, 162, 173), im allgemeinen gehalten wird. Vielleicht sind gerade diese Stellen auf den weiteren Leserkreis, welchen sich der Verfasser natürlich wünscht, berechnet und wirkungsvoll, da selbst unter Gebildeten Freunde wuchtiger Bekämpfung von Schlag- wörtern vorhanden sein sollen (vgl. auch m. Berichte über Dr. Krauß, Bentham und Dr. Hertz, Rassentheorie). Ob letztere nicht auch in der Kosmogonie
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angewendet werden, mag jeder vorurteilslose Leser des Buches feststellen. Ich für meine Person möchte- den Beridit nicht sehließen, ohne ausdrücklich zu versiehern: So große gi'undsätzliche Bedenken ich aucli gegen die Beweis- führung habe, ich halte das Buch doch für sehr anziehend, nicht zuletzt, weil der Verfasser es wagt, auch persönlichen Entwicklungsgang offen zu berühren (S. 188 und 199) und sogar Ansichtswandel während des Ent- steheas der Kosmogonie zuzugeben (vgl. Vorrede S. 1 ff. und 8. 176). Daß aus dieser Tatsache gefolgert werden kann, es möchten auch andere Meinungen noch Änderungen unterworfen werden, ist selbstverständlich und wird auch im Buche mit rühmenswerter Offenheit selbst angedeutet (>S. 96, 103, 164, 184). Doch wenn auch diese Beobachtungen den Glauben an die unbedingte Richtigkeit der niedergeschriebenen Behauptungen etwas erschüttern dürften, man darf nicht bezweifeln, daß der Verfasser im Augenblick der Veröffentlichung von seinen Ausführungen überzeugt war. Und hat nicht Rückert mit seinem Vierzeiler (S. 2, 51) recht? „Das sind die ^\ eisen, die durch Irrtum zur Wahrheit reisen; die beim Irrtum verharren, das sind die Narren."
Als Professor Dr. Adolf Menzel Ende Oktober 1915 die Wiener Rektoratswürde übernahm, sprach er über die Psychologie des .Staates. Die inhaltsreiche Rede wurde für den Druck vor allem durch Anmerkungen, welche geschickt ausgewählte Literaturverweise bergen, wertvoll ergänzt, sodaß sie weit über die Entstehungsursache hinaus Bedeutung besitzt. Sie klingt wie ein Freudenlied auf die Tatsache, daß Österreich-Ungarn unter der schwersten Belastungsprobe, welche ihm in seiner langen (-'eschichte auferlegt WTirde, nicht zusannnenbrach, sondern zur größten Enttäuschung der Gegner wie verjüngt aus ihr hervorgeht (vgl. auch Rieh. Charmatz, Hilfe, August 1916), nachdem so manche Schlacken der Ver- gangenheit entfernt ist und noch mehr wegfallen werden und müssen, bis der staatliche Gedanke in seiner reinsten Form die dauernde Lebenskraft in sich birgt, herausgebildet ist (S. 16 ff.). Da Dr. M. „eine ähnliche Konzen- tration aller physischen, geistigen und moralischen Kräfte in der politischen Gemeinschaft zuerst in der antiken Republik" findet, tritt er für die Beschäfti- gung mit jenen Vergangenheitsverhältnissen, auch auf der Schule, ein, und bekennt sich in diesem Zusammenhang zum humanistischen Gym- nasium als der Pflegstätte dieses Geistes. Mit kurzen Strichen wird „die (^egenwartsopposition gegen den Sieg der Staatsidee" gekennzeichnet, der Egoismus des Einzelmenschen und der gesellschaftlichen Klassen (S. 5ff\ Der Verfasser sehildeit auch kurz den geschlossenen Handelsstaat, entwickelt ein anschauliches Bild, wie vielseitig der Staat während des Kiüeges in das Leben des Einzelnen und der Gesamtheit eingi-eift, und nur auf diesem Wege, der natürlich gelegentlich gestreifte Irrtümer nicht ausschließt (S. 8), sich durchsetzen kann. Den Staat der Zukunft will Dr. M. auf eine Grund- lage, welche die sicherste und zugleich die bedenklichste ist, mit freudigem (■'lauben an die Möglichkeit stellen. Den Staat nemit er nämlich ein ,, Er- zeugnis des menschlichen Seelenlebens"; „in ihm und nicht in den
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äußeren Veranstaltungen hat das politische Cienieinwesen seine eigentlichen Wurzeln" (S. 9). Da dieser Gedanke in den bisher igen Darstellungen nicht genügend gewürdigt wurde, will der Verfasser es seinerseits tun und geht davon aus, daß ,,der Aufbau des Staates auf Gemeinschaft und Unter- ordnung beruhe" (S. 10). Das Mischungsverhältnis dieser beiden Tat- sachen ist verschieden und von ausschlaggebender Bedeutung für die Gesundheit des .Staates; denn ihr Eiiofluß auf den Staat, den sie selbst bilden, muß sich sozusagen die Wage halten, da jedes beherrschende Vor- wiegen des einen Teiles nicht nur dem anderen, sondern auch dem von ihnen beiden geschaffenen Staate schadet. Das, was unter dem Druck der äußeren Ereignisse mit Hilfe einer straffen Zusammenfassung geschaffen wurde, muß für den Frieden mit manchen Änderungen, welche dem Volk eine erhöhte Mitarbeit gewähren, beibehalten werden. Fast klingen die Worte Dr. M.s an ein Platowort an, daß der Staat am besten gedeiht, wemi die Leitenden in kluger Selbstbeschränkung scheinbar sich der entscheidenden Stimme begeben, und es andererseits verstehen, die durch die Erfahrung als richtig erkannten (rrundsätze diu-ch das mitwirkende Volk, das die Führung möglichst wenig spüren soll und will, in die Tat umsetzen zu lassen, wie es im alten Athen Perikles vorbildli. h versuchte. Im Staate soll wie im Leben des Einzelnen der kategorische Imperativ, der vielbesprochene und auch viel mißverstandene und umgedeutete, gelten. Ihn birgt auch ein bekannter Satz: „Ich kann, weil ich will, und ich will, weil ich muß." Das Muß fließt aus einer im Inneren geborenen Erkenntnis, daß das Handeln mit unbedingter Notwendigkeit nach bestimmten Gesichtspunkten geregelt sein muß, wenn der Einzelne und mit ihm alle anderen, die derselben Gemein- schaft angehören, wirklich bestehen und sich entwickeln sollen. Daß diese Forderung im letzten Grunde eine Umänderung der menschlichen Natur, ein Aufgeben aller unberechtigten Selbstsucht (S. 14) bedingt, ist leider niu- zu richtig. Die Gegenwart hat aber bewiesen, daß die Einsichtigen den Willen haben, diesem weitgehenden Verzichtsverlangen stattzugeben. Die große Menge allerdings gehorcht oft genug nur dem äußeren Drucke, mehr oder minder widerstrebend, weil ihre Seele an Bewußtseinsenge leidet (S. 14, vgl. m B-riclit über Dr. Marbe). Sollte aber nicht ein Erziehen jenem hohen Ziel entgegen möglich sein? An seiner Erreichung mit- zuarbeiten ist des Einsatzes aller Kräfte wert (vgl. auch Rhein-Main- Verband, Frankfurt a. M., Jahresversammlung 1916, Vortrag von Prof. Dr. Ziehen). Daß gerade der Rektor der Wiener Universität diesen Gedanken mit edlem Freimut vertritt, entbehrt für den Kemier der öster- reichischen Verhältnisse nicht eines eigenartigen Reizes im Hinblick auf die Ver- gangenheit und die hoffentlich schönere Zukiuift. Mögen deshalb die Worte auch Aveit über den Kreis der Zuhörer am 23. Oktober 1915 auf fruchtbaren Boden fallen und sich die Leser nicht zu sehr am fremdwortreichen G«wand stoßen !
Wie William Stern in seiner Psychologie der frühesten Kindheit (1914) bisherige Ffststellungen, die er und andere machten, zielsicher zusammenfaßt und einen ausgezeichneten, sorgfältigen Überblick über vorhandene Arbeiten bietet, so entwickelt auch der Gießener Universitätsprofessor Dr. Julius
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Friedrich die Bedeutung der Psychologie für die Bekämpfung der Verbrechen (Hannover, Helwing, 1915. 4 Mk.) in gleich vorzügiichei Weise. Da der Verfasser aus dem Richterberuf zur Hochschule überging (S. 29 lind 33) und auf vielseitige Tätigkeit zurückblicken kann (S. 15, 29, 45, 99, HC, 13Gff.), so weiß er aus eigener Erfahrung, daß die Vertreter des Rechtes gediegene psychologische Einsicht und Kenntnisse unbedingt nötig haben (z. B. S. 15, 33). Wenn auch allgemeine Lehrbücher der Psychologie, wie z. B. auch m. Besprechung von Joseph Fröbes, Lehrbuch der experimentellen Psychologie (1915) erwähnt, die Bedüi'fnisse des Richters beachten und es sogar für seine Sonderwünsche zugeschnittene psychologische Darstellungen gibt (z. B. Otto Lipmami, Grundriß der Psychologie, 1914, und Dr. Otto Marbe, Grundzüge der forensischen Psychologie, München 1913. vgl. auch Anm. 2), so ist doch das Buch von Dr. F. keineswegs überflüssig; demi es verbindet sehr gediegenes psychologisches Wissen mit genauen Rechts- kemitnissen. Diese Tatsache kommt auch darin zum Ausdruck, daß der Verfasser immer wieder auf außer deutsche Verhältnisse hinweist, um auch durch die Gegenüberstellung Kritik zu üben (Amerika 8. 76 und 85 ff. Europa: lilngland 8. 89 ff., Frankreich 8. 38 und 90, Nordische Staaten (Dänemark und Norwegen) 8. 90, Österreich 8. 51, 70, 102, 107, Rheinmün- dungsstaaten (Belgien und Holland) 8. 90, Schweiz 8. 52, 70, 91, 103, 105 ff., 113 ff., 124). Auch die grundlegenden psychologischen Untersuchungen, soweit sie zur Aufgabe des Buches Beziehung haben, werden sorgfältig berück- sichtigt. Meinem Plane entsprechend, nach Möglichkeit unter den verschie- denen im Zusammenhang gewüx'digten Abhandlungen Beziehungen her- zustellen, bemerke ich, daß Dr. F. auf Dr. Christian v. Ehrenfels (Anmer- kung 222), Dr. Marbe (8. 10 ff., 27 ff., 35, 65, 85, 122, 351), Schuppe (vgl. Dr. Leonid Gabrilovitsch, Math. Denken, 1914, 8. 58) verweist. Infolge des vielseitigen gediegenen Wissens ist Dr. F. sehr wohl berufen, neuere „Strafprozeß- und Jugendgerichtsentwürfe und die herrschende strafrecht- liche Schuldlehre'" unter die prüfende Lupe zu nehmen, iiiciem er das vor- handene Gute warm anerkennt (vg'. 8. 5 ff., 12 ff., 42) und auch stets maß- volle wohlberechtigte Kritik übt (S: 4 ff., 41, 83, 93, 99, 136 ff., 143). Manch- mal scheint eine leise Bitterkeit über unausrottbare Fehler durchzuklingen (S. 3 ff., 18). Doch im allgemeinen i.st der Verfasser fest überzeugt (8. 53), daß bei unermüdlicher Arbeit von unten herauf bestehende Rechtsord- nungen so weitherzig gehandhabt werden können, daß ihre Härten, ihr nicht immer gegebenes psychologisches Verständnis keinen allzu großen Schaden anrichten können. Weit entfernt, in den Bahnen kritikloser An- hänger L9mbro.sos zu wandeln (8. 84), vertritt Dr. F. doch den allein men- schenwürdigen Grundsatz, dftß man nach den Beweggründen der Tat(S. 45,99, 116, 136 ff.), nach der Anlage und Umwelt des Unrecht- tuenden fragen muß, um zu erkennen, ob er mehr dem Arzte als dem Richter zur Behandlung übergeben werden müsse (8. 142, Anm. 206). Wie entschieden trotzdem der Schutz der Allgemeinheit vor krankhaften Trieben gefordert wird, zeigen besonders die Abschnitte über lebensläng- liches Einsperren von Trinkern (8. 38) und der Beseitigung der Fortpflan- zungsmöglichkeit bei bestimmten Gattungen von Verbrechern (8. 75ff. ),
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wie auch bekannte Monisten fordern. Bei dieser scheinbaren Grausamkeit gegen den Betroffenen ergeben sich auch für ihn selbst unter Umständen körperliche Vorteile und vor allem Segen für die Umwelt, insbesondere für den Staat; demi die Kinder von solchen Anormalen beschäftigen fast immer die Gerichte oder füllen die Heilanstalten. Infolgedessen wird durcli die verhütete Nachkommenschaft dem Staate Geld erspart. Dieses Bestreben kehrt auch in dem allgemeinen Leitsatz Dr F.s wieder, daß es in jeder Hinsicht richtiger und besser ist, Verfehlungen gegen Gesetze zu ver- hüten, als eingetretene zu bestrafen, da der Staat bei diesem Verfahren doppelten Vorteil hat: Wecier braucht er für die ,, Gefallenen" Geld auszu- geben, noch an ihnen, die gute Steuerzahler sein könnten, im Falle sie bürger- liche Beriife in Freiheit ausübten, Einnahme zu verlieren (S. 62), Nütz- lichkeits- und allgemein sittliche Gründe und Rücksichten ver- knüpfen sich also bei jenem Verlangen. In derselben Richtung bewegt sich auch das über Willensfreiheit Gesagte (S 8, 14, 58, 63 ff , 117 ff , 123). Sie erkennt Dr. F. nur in bedingter Form an, indem der Wille ,, durcli Vorstellungen, Gefühle, Triebe, Bewußtseinslagen, die er im Anschluß an Dr. Marbe amiimmt (S. 35, 65, 125 ff., 131; vgl. auch Fortschritte der Psycho- logie S.- 1, 6 !), determiniert ist" (S. 65). Manches, was Dr. F. über die Behand- lung besonders der Jugendlichen vor Gericht auseinandersetzt, gilt mit einigen nötigen Änderungen auch für die Schule (z. B. S. 11, 17, 29, 37, 143 ff.). Doch in einem Punkte scheint mir der Verfasser etwas einseitig zu urteilen, wenn er den unbewußten Geschlechtstrieb beim Kinde stark betont. So entschieden ich auch den Gedanken, daß imsere Jugend sich viel mit geschlechtlichen Dingen bcfchäftigt und deshalb die geschlechtliche Auf- klärung ihr möglichst frühzeitig geboten werden muß, seit Jalu'en in ^Vort und Schrift vertrete (z. B. Zeitschrift für Kinderpflege 5, 2; vgl. 1908 Nr. 2 und 1909, 4), diese etwas pessimistische Auffassung, welche auch Kinder- ärzte, darunter der treffliche Mannheimer Dr. Eugen Netter, vertreten, kann ich nach meinen Erfahrungen zu Hause und in der Schule nicht oder wenig- stens noch nicht teilen. Doch ich will mich nicht in Einzelheiten verlieren, sondern noch kurz gedenken, daß das Buch auch kulturgeschichtliche Einzelheiten, die auch dem Psychologen wertvoll sind, geistreich einfügt (S. 10 ff., 20, 57, 60, 84, 121, 149 ff.). Zum Schlüsse möchte ich noch einen Wunsch anfügen. Der Wert der Schöpfung Dr. F.s, der auch an der Kölner Handelshochschule segensreich wirkt, als Nachschlagewerk würde noch er- höht, wenn einerseits Eigennamen und Sachbegriffe, die immer wieder ge- schichtlich bestimmt werden (z. B. S. 1 ff., 8, 37, 123, 126 ff.), in einem Ver- zeichnis zusammengestellt und andererseits auch gesagt wird, auf welchen Seiten die zu den Einzelfragen angeführte Hauptliteratui- zu suchen ist.
Die Untersuchung von Dr. Karl Reinhardt, Parmenides und die Geschichte der griechischen Philosophie (Bomi, Friedrich Cohen, 1916, Mk. 8) ist gleich der Arbeit des Wiener Prof. Dr. E. Low ein ausgesprochenes Kampfbuch; denn der Verfasser glaubt, daß die bisherige Meimmg über vorsokratische Philosophen, besonders Parmenides, Xenophanes, Heraklit, Pythagoras und ihren Kreis, vielfach irrig sei, weil sie von
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iinrichtigen Voraussetzungen ausgehe, indem die Pliilosophen nicht aus siel) selbst und ihrer unmittelbaren Umgebung erklärt (S. 4, 62, 74, 78, 130, 134, 156, 164, 202), sondern andere Quellen, die ungehörige ^'orstellungen hineinmengen, herangezogen (8. 68, 71, 256 ff.)' und vor allem die Verhält- nisse durch die einseitige Brille des Aristoteles (8. 168) oder des Theophrast, der auch mißverstanden wird (S. 205, 257), gesehen wurde, so daß mit Xot- wendigkeit verschobene Bilder entstanden. Wie ist dieses Verfahren zu erklären? Die vorhandenen geringen Bruchstücke der in Frage stehenden Griechen wurden von den Überliefernden nicht aufbewahrt, um die Lehre der Philosophen zu zeichnen, sondern aus bestimmten Kampfabsichten, so daß sich auch daraus Unrichtiges ergibt, wemi nicht scharfe Quellenprüfung einsetzt (8. 36, 4.5, 49, 1.58 f., 164 f.). Auch gingen die Angaben durch ver- schiedene Hände; infolgedessen konnte jede neue Wiederholung bzw. Auszug zu Änderungen führen, im Falle der Benutzer nicht sehr sorgfältig war (S. 172), wie wir täglich erfahren, sobald wir Entwürfe selbst abschreiben oder ab- schreiben lassen. Zu den sachlichen Gründen gesellen sich sprachliche; denn die- Ausdrucksweise der fraglichen Philosophen erschwert ein leichtes Ein- dringen sehr (8. 4 und 217). Wegen dieser verschiedenen Ursachen kamen l)earbeitende Gelehrte auf ein falsches Geleise. Nachdem sie aber auf dem selben waren, mußten sie sich, wenn sie in der eingeschlagenen Richtung fortfuhren, selbstverständlich immer mehr vom Ausgangspunkt entfernen (8. 61, 175), schon um kühne Vermutungen zu stützen (8. 29 und 35). Die Xamen jener Gelehrten, deren Verdienste der Verfasser gelegentlich auch voll anerkennt (S. 20), haben in der wissenschaftlichen Welt einen guten Klang; denn es sind vor allem Diels (5f., 11 f., 26, 40, 117, 178), Gomperz (S. 28, 62, 82), Wilamowitz (8. 5, 407), Zeller (8. 3, 28, 117, 184, 2.56 f.). Deshalb glaubte ich es ihnen schuldig zu sein, zu erklären, wie sich ihre Auffassung walu-scheinlich bildete, indem ich zum Teil Ausführungen von Dr. R. be- nützte. Daß jene früheren Ansichten in ihrem ganzen Umfang zu halten sind, bezweifle ich. Hoffentlich entgehe ich dem Verdachte, leicht- herzig dem Xeuen zuzustimmen, weil es dem Alten widerspricht, oder allzu starr am Bisherigen festzuhalten, da ich selbstverständlich auch gegen Dr. R. Be- denken nicht unterdrücken kann; denn auch er scheint mir — trotz gesunder 8elbstkritik (S. 87 f., 119, 180)— nicht nur gegenüber dem Texte zu persönlic li oder — wie er sagt — „gewalttätig" zu sein (8. 38, 87 Anmerk., 164, 246), sondern auch unbewiesene (8. 73 Amn. 1, 157, 161, 183 Anm. 1, 189, 242, 255) oder Avidersprechende BehaAiptungen (8. 201 und 240) über das Auftreten religiöser Tiiebe aufzustellen. Doch ich will nicht meine Meinung irgendwie in den Vordergrund rücken, sondern kvirz darlegen, was und wie Dr. R. erschlossen hat. Selbstverständlich i.st er ausgesprochener Gegner des Klassizismus (8. 1) und verfolgt die neueren Grundsätze der Quellenprüfung I vgl. auch m. Ber. über Dr. Eleutheropulos, die Philosophie usw., 1915). Das Verfahren Dr. R.s, welches sich in sprachlicher und sachlicher Beziehung äußert, kann ich natiMich nur durch einige Beispiele kennzeichnen. Um eine vielumstrittene 8telle zu retten, gebraucht er den glücklichen Namen „Lreal der Höflichkeit" (8. 7 ff.), allerdings bezweifelt er seine Auffassung, die- — nebenbei gesagt — auch bei Dr. Willmann, Propädeutik (2, 21 Anmerk.),
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angewendet wird, sofort wieder (S. 7, 25). Durch seine Deutung will Dr. R. beweisen, daß das Gedicht des Parnienides einheitlicher sei, als man bisher annahm (S. 10, 32, 51 f., 89). D.i.mit der Verf. seine Ansicht bekräftige, setzt er sich auch mit der Überlieferung aviseinander und nemit die Quellen, — Clemens, Simplikios und einen Unbekannten für Pavmenides und Xenophanes (>S. 37f., 44f., 48 f., 92 f., 148 f., 163, 170 ff.), dazAi Censorinus, Hippolyt, xind Plutarch (S. 158, 164) für die anderen — zuverlässiger als andere Forscher vo-' Dr. R. (8. 89 ff., dagegen 94 Anmerk.). Die auf den verschiedenen Wegeu gewonnenen Ergebnisse lassen sich in einigen Sätzen, die ich nach der Art der sogenannten Doktorthesen möglichst mit den Worten des Verfassers an- führe, zusammenstellen. „Die Überlieferung zwingt dazu an Stelle des Mystikers Xenophanes den Dialektiker zu setzen (S. 100). Er ging von etwas anderem als Gott aus, nämlich von dem öv (S. 102, vgl 89, 100, 152 — etwas abweichend S. 52). Bei X. findet sich eine reichere dialektische Kunst als bei Parmenides (S. 104)." Auch daraus folgert der Verf., ,, daß die bisherigen Ansichten über Lehrer- und Schüler Verhältnis zwischen beiden umzudrehen seien (S. 89, lOOff., 125 f., 1.52, 221, 229). X. steht zwischen P. und Melissos (S. HO), welcher die Trüglichkeit der Sinne betont (S. 245). P., der keinen Wunsch kennt als Erkenntnis, keine Fessel fühlt als seine Logik, den Gott und Gefühl gleich- gültig lassen, so sehr, daß es uns befremden will, erweist sich als Vorgänger Heraklits und nächster Nachfahr Anaximanders (S. 256). Heraklit ist um 470 herabzm-ücken (S. 221), beeinflußt nicht den Empedokles (S. 238), hat keine ausgeführte Kosmogonie hinterlassen (S. 173) und ist nicht der Vater des Gedankens vom ewigen Fluß (S. 169, 206, 220, 241, 244 ff.), sondern dieser findet sich zusammen mit dem erkenntnistheoretischen Grundgedanken, von dem aus auch der Lehre des Heraklit beizukommen ist (S. 217, 219 f.), erst bei dem Herakliteeren (S. 245). Pythagoras ist weder ein großer Philosoph noch ein großer Mathematiker (S. 233, 241)." Zu diesen Sätzen im einzelnen Stellung zu nehmen, ist selbstverständlich nicht Aufgabe eines kurzen Be- richtes; das Wort haben vielmehr in erster Linie diejenigen, gegen deren Ansichten Dr. R. sich wendet. Auf den Ausgang des Ringens darf man gespaimt sein und auch darauf, was der Verfasser zu einigen ange- deuteten Fragen, für die er Sonder unter suchung sich vorbehält, zu sagen hat (z. B. S. 33, 248). Auch durch ein Lihaltsverzeichnis regt er zum Weiter- schürfen an, wemi er auch einzelne wichtige Ausdrücke und Begriffe nicht erwähnt, z. B. ägyptisch (S. 148), archaische Technik (S. 55, 59, 171), Dualis- mus (S. 118, 122), Flußlelu-e (siehe oben), Kugelform der Erde (S. 96, 116, 146 f., 255), Kulturgeschichte (z. B. S. 126 ff.: Stellung des Rapsoden, 142 ff.: Ver- steinerungen und Sonnenfinsternis), Metaphysik (S. 68, 79, 88, 93, 147), Mikro- kosmos (S. 227), Moralphilosophie der römischen Kaiserzeit (S. 207), politische Verhältnisse (S. 157), Psychologie (S. 19, 23, 193), religiöse Triebe (S. 201, 240, 255), Schuld und Sühne (S. 197), Urfeuer (S. 162), Weltkarten (S. 147), Weltgericht und -brand (S. 163, 168 ff., Wendekreise (S. 148). Durch derartige Ergänzungen, welche mit der unmittelbaren Aufgabe z. T. in loserem Zusammen- hang stehen, werden solche Sonderuntersuchungen noch besonders wertvoll auch für scheinbar weitab liegende Forschungen.
Bergzabern. Dr- Je gel.
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F 1 1 e il r i c h J o d 1 , Vom Lebenswege. Gesammelte Vorträge und Aufsätze in zwei Bänden. Herausgegeben von Wilhelm Börner. I. Bd. Stuttgart und Berlin. Cotta 1916. XIII und 553 S. M. 14,50; geb. M. 17,50. Wer einen besonderen Reiz darin findet, die Bilder großer Per- ^•Onlichkeiten, die uns in ihren Grundzügen längst vertraut sind, im Spiegel einer charaktervollen Denkerseele wiederziierblicken, darf von Jodls Aufsätzen Anregung und reichen Genuß erwarten. Die Redei> und Abhandlungen des im Jahre 1914 verstorbenen Wiener Philosophen, die uns hier vorgelegt werden, entstammen den Jahren 1879 — 1913. Daß es zum Teil Gelegenheitsschriften sind, beeinträchtigt nicht ihren blei- henden Wert; und auch, wo sich die Erörterung an Bücher anschließt, die längst überholt sind, erhebt sich die Darstellung überall zu allge- meinen und höheren Gesichtspunkten. Obwohl die scharf ausgeprägte Weltanschauung des Verfassers, ein positivistisch und entwicklungs- geschichtlich begründeter Monismus, deutlich hervortritt, hindert sie ihn nicht, auch anderen Gedankenrichtungen gerecht zu werden. Voii Spinoza an durchwandern wir fast den ganzen Weg der neueren Philo- sophie bis auf ihre jüngsten Erscheinungen wie Wundt und Mach. Während einzelne Aufsätze ein Gesamtbild des behandelten Denkers geben, heben die meisten einzelne Seiten und Probleme besonders her- vor, wobei der Nachdruck auf ethischen und religionsphilosophischcn Fragen liegt.
Bei Spinoza beleuchtet J. das Mißverhältnis, das zwischen der Darstellung und dem Gedankeninhalt seines Philosophierens besteht. ..Es ist, als ob hinter einem in Stein gemeißelten Bilde ein leben- diges Menschenantlitz sichtbar würde." In dem für den oberflächlichen Blick so festgefügten System weist der Verf. mannigfaltige innere Ge- gensätze und unausgeglichene Widersprüche nach. Er zeigt, daß sich bei Spinoza „mit dem kühnsten Radikalismus des Denkens eine hoho Idealität praktischer Weltansicht . verbindet." Den Zwiespalt zwischen reinem Naturalismus und Pantheismus erklärt er in der Weise, daß er die naturalistische Denkart als den persönlichen Faktor, als die innerste Richtung von Spinozas eigenem Lebensgefühl auffaßt, während er in den theologisch pantheistischen Einschlägen die zeitliche Be- dingtheit des Systems und seine Abhängigkeit von der neuplatonischen, scholastischen und jüdischen Religionsphilosophie sieht. Denn auch Spinoza war ein Sohn seiner Zeit. ., Gerade dieser Einsame zeigt, wie unmöglich es ist, gleichsam im luftleeren Raum zu philosophieren, wie allgegenwärtig jener geistige Äther ist, mit dem Gedanken der Vor- zeit uns umgeben." Rousseau wird (im Anschluß an Möbius) im Lichte derPathologie betrachtet und seine Verschiedenheit vom Geiste der französischen Aufklärung wie seine nahe Verwandtschaft mit dem deutschen Geistesleben betont. Der Aufsatz über „Goethes Stellung zum religiösen Problem", ein Muster knapper und doch tief greifender Darstellung, setzt Goethes Persönlichkeit in Zusammenhang mit der
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gesamten religiösen Bewegung seiner Zeit und zeigt zugleich die welt- umspannende Weite seines Geistes, in der widerstreitende Ansichten ihren Platz behaupteten und doch in höherer Sphäre ihre Versöhnung fanden. Die inneren Beziehungen Goethes zu Kant sucht J. auf ihr lichtiges Maß zurückzuführen. „Kantianer war er nie, konnte er nie .sein. Vor seinem Geiste standen die Umrisse einer Weltanschauunt;'. die er selbst freilich nur dichterisch zu ahnen, nicht wissenschaftlich zu gestalten und methodisch zu erweisen vermochte, zu der sich aber, wenn sie einst im an))rechenden Jahrhundert ihren Prometheus findet, das Kant'sche System verhalten wird Avie Morgennebel zu hellem Sonnenlicht." So erscheint Goethes „zugleich universelle und einheit- liche Weltanschauung" für die Gegenwart und Zukunft weit fruchtbarer als der Dualismus in Kants System, das J. als Versuch einer Ver- mittlung zwischen Glauben und Wissen bezeichnet. Von seinem Stand- punkt aus lehnt J. die metaphysische Richtung in Kant ab und läßt ihn nur als Kritiker und „Vater des Positivismus und Agnostizismus" gelten. Aber trotzdem findet er wahrhaft poetische Worte für den auf Kants Boden gewachsenen Idealismus Schillers. Wie bei Goethe so wird auch Schillers Wesen und Streben in kurzen, erschöpfenden Zügen erfaßt und besonders seine Stellung zwischen Griechentum und Kant unterstrichen. Schillers philosophische Lyrik erklärt J. gerade- zu als das Erzeugnis der Spannung zwischen diesen beiden Geistes- welten. Die abweisende Haltung des Dichters gegenüber der histo- rischen Religion lag J.s Anschauungen nahe. Aber auch die ethisch- äisthetische W^eltanschauung, nach der das Schöne als Übergangsstufe zum Sittlichen gilt,weiß er in ihrer relativen Gültigkeit zu würdigen. In dem Aufsatze „J. G. Fichte als Sozialpolitiker" stehen wir dem sehr zeitgemäßen Thema des geschlossenen Handels- und Sozialstaates gegenüber. Freilich sehen wir diese Gedanken Fichtes, „die man als ein prophetisches Programm der Wirtschaftsgeschichte des 19. Jahr- hunderts bezeichnen könnte", infolge der Erfahrungen der Gegenwart mit andern Augen an, als es vor 20 Jahren möglich war. Für J. v,a.r der Sozialstaat eine Idee, die sich selbst vernichtet: statt des un- endlichen Fortschritts, den Fichte sonst für die Tätigkeit des Ich als wesentlich annimmt, setzt er hier eine absolute Lösung fest und befür- wortet die strengste Beschränkung aller freien Tätigkeit durch den Staat. Mag J. auch von seinem entwicklungsgeschiciitlichen Stand- punkte dem Werte der Fichteschen Gedanken nicht voll gerecht werden, seine Bedenken gegen den Staatssozialismus verdienen gerade heute wieder Gehör. Während S c h e 1 1 i n g in einem Artikel für die All- gemeine. Deutsche Biographie mehr enzyklopädisch behandelt wird, erhebt sich der Aufsatz über Schopenhauer zu einem starken, persönlichen Bekenntnis gegen alle metaphysische Spekulation; und die Hoffnung auf eine Zeit, „in der man den morbiden Zug, der durch .dieses System geht, fühlen" wird, ist wohl schon erfüllt. Weniger als bisher können wir J. in der Schätzung F e u e r b a c h s folgen, dem er
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als einem Ueistesverwandten fünf Aufsätze widmet, wobei freilich manche Wiederholungen vorkommen. Die Entwicklung von Kaut zu Feuerbach, in dem J. den „geistigen Erben Kants und Vollender seines kritischen Reinigungswerkes" sieht, erscheint uns heute als ein Abweg, ciblifken wir doch die Hauptleistung Kants in der endgültigen Ver- nichtung des Materialismus. Auch gilt die Ansicht Feuerbachs, daß man die Religion durch psychologische Auflösung ihrer Begriffe weg- erklären könne, wohl nur noch in Kreisen der Halbbildung. Freilich wird es immer Menschen geben, die wie Feuerbach anstelle des „phan- tastischen Scheinwesens der Religion und Theologie" ein rein anthro- pologisches Kulturideal annehmen und in ihm ihr Genüge finden; aber die Menschheit als Ganzes wird immer wieder eine Transzendenz, in welcher Form es auch sei, fordern. Trotz solcher Widersprüche aber folgt man der eigenartig bedeutenden Entwicklung Feuerbachs, wie J. sie darstellt, mit Ant(>ilnahme; und indem die geistigen Bestrebungen des Philosophen mit der ganzen revolutionären sozialen wie religiösen Bewegung der Zeit in Beziehung gesetzt werden, entsteht ein Bild der geistesgeschichtlichen Lage um 1848. Im Zusammenhange mit Feuer- bach und der gesamten Zeitgeschichte wird auch die Persönlichkeit D. Fr. Strauß' gewürdigt. Auch bei dem Verfasser des „Alten und neuen Glaubens" „eine geschlossene naturalistische Weltansicht, in w^elcher für die Phantasmagorien der Religion kein Raum ist, andere geistige Inhalte, Wissenschaft und Kunst an die Stelle dieser Lebens- liilfe der Vergangenheit treten und der Begriff der Vorsehung durch di<' wachsende Technik der Kulturordnung ersetzt wird." Auch Grill- p a r z e r wird — namentlich was seine Kritik der spekulativen Philo- sophie und der Theologie angeht — von Kant, mit dem man ihn wohl in Verlündung gebracht hat, in die Nähe Feuerbachs und auch Goethes gerückt. In der Seele des Dichters war nach J. ein beständiger Wider- streit zwischen einer stark skeptischen Verstandesanlage und der un- beirrbaren Sicherheit gewisser Gefühlstatsachen, die von jeder logischen Begründung unabhängig schienen. Seine Stellung zur Gottesidee wdrd als Agnostizismus gekennzeichnet und am deutlichsten durch Grill- parzers eigene Worte ausgedrückt: „Ohne Ahnung vom Übersinn- lichen wäre der Mensch allerdings Tier; eine Überzeugung davon ist aber nur für den Toren möglich und für den Entarteten notwendig." In einem glänzend geschriebenen Aufsatz über das „Nietzsche- problem". der schon durch die Form der Darstellung dem Leser emen Genuß bietet, werden besonders Nietzsches soziale Ideen und ihr verderblicher Einfluß auf das heranwachsende Geschlecht be- sprodien. Obwohl der soziale Zukunftsoptimismus in mancher Hinsicht verwandte Saiten in J.s Denken berühren mußte, wird Nietzsche doch weit schroffer zurückgewiesen als etwa S t i r n e r , der sich als ein freilich verirrter Jünger Feuerbachs noch einer gewissen Sympathie erfreut. Was einen so streng wissenschaftlichen und sachlichen Denker wie J. bei Nietzsche vor allem abstoßen mußte, ist seine ausschweifend
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l)haiitastische. ruhelose Denkart. Nietzsches Moral- und Sozialtheorie ist für J. ein ..Anachronismus, die schal gewordene Kost des alten Man- chestertums und der Darwinschen .Sozialwissenschaft mit geistreichen Zieraten noch einmal aufgewärmt." Das deutsche Volk hat bessere (Teistesführer: „Schiller hat das Nietzscheproblem vorschauend gelöst, als er sagte: Nur zwei Tugenden gibts. 0, wären sie immei' vereinigt! Immer die Güte auch groß, innner die G rö ß e auch gut." — Die wenigen hier hervorgehobenen Gedanken können natürlich nur eine schwache Vorstellung von dem reichen Inhalte der Abhandlungen uml dem Geiste, der sie durchweht, geben. Fügen wir aber noch hinzu, daß weiterhin auch Darwin, Spencer, Tolstoi. Johannes Huber, A. Spir, Wundt. Mach, Ostwald und anderen eigene Aufsätze gewidmet sind, so ist damit wenigstens angedeutet, welche Persönlichkeiten die Auf- merksamkeit unseres Denkers auf seinem „Lebenswege" besonders an- gezogen haben. Außerdem enthält der Band noch einige Arbeiten, die ,. Probleme der Weltanschauung",, vorzugsweise das Kausalproblem behandeln. Auch hier zeigt sich die klare, gemeinverständliche Dar- stellung und eine stilistisch so fein geschliffene Form, wie sie in philo- sophischen Schriften nicht allzu häufig ist. Zwar kein heißes Ringen um eine Weltanschauung erleben wir hier: nirgends wird versucht, in die letzten, dunklen Tiefen der Probleme hinabzutauchen. Aber inner- halb der selbstgesteckten Grenzen bewegt sich das Denken mit einer unbeirrbaren Folgerichtigkeit und reifen Selbstsicherheit, die auch dem (regner Achtung und Bewunderung abgewinnt. Und so kann man auf Jodl selbst die Worte anwenden, die er von Gizycki sagt: „Man kann sich in vielem von seinen Meinungen entfernen: aber man kann nur wünschen, daß ein so hohes Maß von intellektueller Ehrlichkeit, selbst- loser Hingabe an ideale Ziele und begeistertem Glauben an die Zu- kunft der Menschheit recht allgemein werden möge."
Paul Sickel.
Archiv für Philosophie.
L Abteilung:
Archiv für Geschichte der Philosophie,
Neue Folge. XXIV. Band, 4. Heft.
IX.
Zu Demokrits Wandeijahren,.
Von Robert Eisler, Feldat'iug.
I.
Die Feststellung bezeichnender babylonischer Astrologenfacli - ausdrücke bei Demokrit (s. o. S. 52 ff.} kann nicht ohne Einfluß bleiben auf die Beurteilung jenes merkwürdigen autobiographischen Bruchstücks bei Clemens von Alexandria^), dessen Echtheit Theodor Gomperz (Wien. Sitz.-Ber., ph.-h. Cl. 52, S, 23) ebenso entschiedet' vertreten hat, als Diels sie (FVS^ p. 728) hartnäckig bestreitet. Alle acht Gegengründe, die Diels gegen Gomperz vorgebracht hat, lassen sich unschwer entkräften:
Zunächst ist es sicher unzutreffend, wenn Diels a. a. 0. Scgt: „die BaßvXoivioi loyoi werden von Clemens Alexandrinus dahin charakterisiert, daß sie eine Übersetzung der Stele des Akikaros seien, also eines Chaldäers, der seine Weisheit auf einer Säule auf- geschrieben hatte". Der gelehrte Kirchenvater oder seine Vorlage redet ja hier gar nicht von einer Baßvlrnvioi löjot betitelten Schrift des .Demokrit, sondern beschuldigt ihn — einem Xsjerai. folgend — tolq iöloiq övy^Qocfif/aöiv, d. h. seinen eigenen Schriften „die Babylonischen Sittensprüche" — Toig Bnßvlmvlovq Xöyovq ijlhixovq — einverleibt zu haben {ovi>zdsai\ die er bloß von d'r x\chikarf.tele heruntergelesen und übersetzt habe.
1) Strom, 1 15, 69 p. 359, H57 P.; Diels, FVS^ |>.4a9 No..299: Pythagoras, Eudoxos und Piaton seien Schüler der Barbaren: JrnjoxQiwg ydq tftvq
188 « Robort Ei ?1 er.
Diese 'AxixaQov orrjXrj, aus der der große Demokrit alexan- drinischen Plagiatselinüfflern zufolge einen Teil seiner berühmten, vielfach durch Florilegien bis heute erhaltenen yvojfiia (FVS^ Xo. 35 — 298} geschöpft haben soll, ist nun durchaus keine fingierte Quelle, sondern eine nach dem Zeugnis der Papyrusfunde von Elephantine tatsächlich schon zur Zeit Demokrits in aramäischer Fassung in Ägypten sehr beliebte, mit Sinn- und Sitten- sprüchen, Rätseln und Fabeln aller Art überladene erbauliche Rahmenerzählung von König Senacheribs des Assyrers weisem Vezir Achikar und dessen bösem Pflegesohn Nadan, die schon Theophrast zu seinem bei Piogenes von Laerte V 20 erwähnten Dialog 'AxiyaQog^^)
BaßvXojviorg Xoyovc ^&ixoig['E7J.i]vixoic oder olxeiovg*)] mnoiqTai' Xiyijuu yuQ t/Jv 'Axixüqov CTtfAijv iof^r^vfvd^fioav unc töioic avyiu^ai Gvyyqdi^ifjaGiy xaGiir iTTi6i]f.i)']vuGd^ai ituo ainov' ruds liyn Ji]^6- xoiTOg' yQucforjoC vul }.i>]v mol aiiov {sciX. yQÖXfjfi,), f; aeiJvt-vöfievcc rprjGi' jTOv STii TToXvfJud^iif lyw dk twv xu.i ifjuvior ävd^QoiiiMV yr.r jr'AeiGTrjv iTTinKaviiGd^r^v iGioQiiov tu fj^ijxiGru xut uigug ts xal yiug TTluGxag (Idov xai /.oyfwr dvöqtZv TcXitGrwr iTrijxovGa xai yooLfjfiJoir Gvv&iGioc fjfrd dnodfiX^iog ovSsfc x(.o fxe 7iaoi]')J.a'iav ord' o\ .^lyvTTTiior xa'Aföjusvoi dqn idovdjTTai' Gvv io~ig d' iTit TTÜGtv In' iJiu Trivis**) ijri '^sivrjg eysvijü^tjr' ijtr^X&ov***) ydq Bußvliörd rf xdl J/egGiSu xai AXyvnTor Tolg TS jiidyoic xut lolg ifoevGi fi u9^)]t svujv.''
*) So richtig Diels itdiovg Cobet), aber das Wort ist nicht an Stelle des ganz unanstöJligen, auf die Achikarsprüche trefflich passenden i]&txoig, sondern nachher einzufügen (vgl. Smend, ZaWBeih. XIII 67,)-
**) So richtig Diels S. 727 nach Diodor 1 m, 3 cf. FVS- p. 230 I 17. Bei Clemens steht unsinnigerweise dy<h'xnvT(x, ebenso Euseb.b. Sozom. h. eccl. II 2i infolge der Verwechslung des milesischen alphabetischen Zahlzeichens tt = 80_ mit der akrophonischen Abkürzung (sog. hero- dianischen Ziffer) tt = TiivTi.
***) ijTrjL9s Hss. bei Clemens, aber wahrscheinlich geht das Zitat bis jjud^riTsvwv, denn Clemens will die Benutzung babylonischer Sittensprüche durch Demokrits Selbstzeugnis wahrscheinlich machen.
1") Studemund hat in seiner Abhandlung über das römische Mosaik von Trier, in dem der Syrer (Nöldeke, a. u. Anm. 2 a. 0. S. 24) INIannus den ACICAR neben Homer, Arat, Kadnnis, Thamyris, Hyagnis und den neun Musen dargestellt hat (Jahrb. d. k. deutsch, archaeol. Instit. V S. 2), auch den Axi'xuqog des Theophrast als unterschoben hinstellen wollen. Es darf eben nicht wahr sein, daß Griechen auch schon vor der Gründung der alexandrinischen Bibliothek orientalische ÜberUeferungen gekannt und benutzt haben, als ob nicht schon Piato „phoenikische Erfindungen", iranische Apokalysen, wie die Erzählung des Er u. -Igl. mit Vorliebe in seine Dialoee eingefiochten hätte!
Zu Demokrits Wanderjahren. 180
(FVS- p. 727 zu 4398) angcrogt hat, die also im vierten vorchrist- lichen JiihrhvnuJert bereits i^riechisch - wenn auch wohl erst mündlich - im Umlauf war^''), im Buch Tobit erwähnt ist, in der byzantinischen Actoplegende. in „1001 Nacht" fortlebt und in arabi.^icher, syrischer, aethiopischer, griechischer, armenischer, sla- vischer, rumänischer Fassung heute noch erhalten ist.'-) Wenn Clemens von einet ot///;/ des Acliikar spricht, so muß er eine Fassung dieses heidnisch - altaramäischen^*) erbaulichen Romans gekannt haben, in der sich der Erzähler nach eine gerade in dieser Schriften-
i"») Sollte es damals schon einen schriftlich aufgezeichneten grie- chischen ylxixanoii gegeben haben, so Aväre dieses Volksbuch und nicht die'Bibol der LXX die älteste griechische fborsptzung einer fremd- si'i-achigen Schrift. Das ist doch kaum wahrscheinlicli. Als Träger mündlicher Überlieferung kommen schon damals hellenisierte Orientalen in Betracht, wie die Nachricht des Klearch von Soloi (um 320 v. Chr.; bei Joseph, c. Ap. I 22) über das Ziisammeatveffen des Aristoteles mit einem griechisch sprechenden .Juden bezeugt. Man beachte, daß an dieser Stelle ilie Juden, sowie von Posiilouios au der unten 2aj a. Strabostelle mit den indischen „Gymnosophisten" in einen Topf geworfen werden.
-; Vgl. den Artikel ,Achikar- von M. Lidzbarski in der Hastings'schen Encyclopedia of Religion and Ethics, vol. J. Über die altaramäische Fassung — Erstausgabe von Ed. Sachau, aram. Papyri von Elefantine, Berlin 1908, S. 147 ff.; nach Sachau S. 182 ist der Papyrus um 407 v.Chr. geschrieben — vgl. Nau, L'histoire d'Ahikar, Paris 1909; Th. Nöldeke, Unter- .suchungen zum Achikarroman, Abh. k. Gott. Ges. d. Wiss ph.-h. Cl. XIV 1918; Lidzbarski, Ephem. f. semit. Epigr. III 2;');',; Diels in den Nachträgen p. Xn des Registerbandes; Br. Meißner, Das Märchen vom weisen Achiqar, Das Alte Orient XVI 2, Leipzig 1917, S. lOff.
-•'') Vgl. Lidzbarski, Theol. Lit. Zeit. 1899 Sp. Ü08 f.; Ephem. f. sem. Epigr. I 2.¥J — Posidonios (hei Strabo XVI 2, p. 702 cf. XVI 1, p. 739; Smend, Beih. XIII 19o8 der Zeitschr. f. at. Wiss. S. 06 j) Aveiß von einer l)esondoren Volkstümlichkeit des Achikar in Borsippa zu melden, wo eine bestimmte Sekte der Chaldäer so auf ihn schwöre, wie die Jndeu auf Mose.<. Dort, in der Schwesterstadt von Babylon, wird der Roman auch tatsächlich in der Zeit zwischen dem 5. Jahrb., wo er schon in Ägypten gelesen wird, und der Zeit um 675 v. Chr., wo die Handlung spielt, entstanden sein, kaum vor der Perserherrschaft — von 538 an — , wo erst die Assyrerkönige Babylons zu Märchengestalten der Vorzeit werden konnten. So urteilt auch Ed. Meyer, Der Papyrusfund von Elefantine, Leipzig 1912, S. 107. Nöldeke a. a. 0. S. 6 hält ihn für wenig später als Sancherib, weil ein urkundlich bezeugter, später kaum mehr bekannter Ilofbeamter dieses Königs, NabusumL^skun, darin auftritt. — \\'er mit Nöldeke S. 23 an der überlieferten Lesart Boanoor^roC für Booanrnm'oi bei Strabo festhalten will, darf nicht an „nordische Bar-
1 Pd K o I» e r t K i s I f- r .
gattuiig beliebten Einkleidungsweise^) auf eine inschriftliche Quelle **) berief. Ja, der Fund einer aus der Zeit des Clemens Alexandrinus stammenden, wahrscheinlich im Schulunterricht ver- wendeten Marmortafel mit den „Sprüchen der sieben Weisen (gesammelt?) von Sosiades'*) in Kyzikos^) legt die An- nahme nahe, daß im jüdisch-hellenistischen®) und im christlichen®*)
baren", sondern an die bosporenischen Juden- und Hypsistarierkolonien (Gruppe, Hdb. 1603j) denken. — Die Lesart Bogtoi]ioi der Epitome würdf^ auf die im Alten Testament (Ob. 8, Jerem. 49; cf. Arnos Ijj) berühmten Weisen von Theman-Bostra führen. Die Entdeckung neubabylooischer Keil- schriftfragmente eines Achikarromans würde naich weniger Terblüffen, als seinerzeit Lidzbarski nach eigener Aussage der Papyrusfund von Elefantine.
3j Vgl. z.B. die Tulgär-epikureische angebliche Grabschrift des >;irdanapal rede, lüde, bibe / Cum te mortalem noris, piaesentibus exple / Delitiis animum, post mortem nulla voluptas / namque ego sum pulvis, qiii nuper tanta tenebam, haec habeo, quae edi, quaeque exsaturata libido / bausit et illa manent / multa et praeclara relicta / Hec sapiens iiiortalibus est documentum^ in einem St. Pauler Valerius Maximus Codex (Eisler, illum. Hss. von Karten, Leipzig 19(»7. S. 79 oben,: Vers 1 u. 2 bei Behrens, Poetae lat. min. \" No. 40S unter dem Namen des Epikur; die zwei vorletzten Verse Cicero, Tusc. V 101; griech. bei Plutarch, de Alex. M. fort, aut virtute c. 9. f. 3)3: Jahns Jbb. f. Philol., Suppl. TU, 1834, S. 126 — 130: J. G. Huberraann, Die Gnibschrift des Sardanapal: gleich- namiges Bresl. Progr. von Nfese, Sommer 1880: Ed. Meyer, Forsch. I S. 208.
•'"'•) Vgl. Smend a. a. 0. S. 67: -die ,Mta Aesopi'. die in dem be- treffenden Ab.schnitte eine Nachbildung des Acliikarromans ist, erzählt von einer goldenen Bildsäule, die der König von Babylon dem Aesoj) <Mrichten ließ [R. Harris, F. C. Conybeare, A. Smith Lewis, the story of .X'hikar. London 1898, p. 124 a. E.). A on einer ^arr^hj" des Aesop in Diilphi redet die Vita Aesopi am Schluß. Es ist nicht unmöglich, daß das bei Clemens gemeinte Akikarosbuch von einer Stele des Akikaros in Babel oder Ninive" — oder Borsippa! — .redete-. Bildsäule und Schriftstele kann ein und dasselbe sein, denn babylonische Bildnisstelen sind oft über die ganze Darstellung hin mit Keilscliriftzeichen bedeckf..
*) Im wesentlichen gleich Stob. Floril. I 78. Diels FVS^ p. 52<K Anm. zu Z. 8.
s; F. V>' Hasluck, Journ.Hell. Studies 27 (1907) S. 62 flF.: eine zwischen 29 und 3."» cm lange, 20 cm breite, 8 cm dicke Platte aus gelblichem Marmor mit Dübellöchern — zur Befestigung an einer Wand — au beiden Räudern. AVohl zu früh resignierend, meint H., -its purpose will probably never be known''. Vgl. 0. Hense, Berliner phil Wochenschr. IftOT, 765 ff.
^) Der heidnische Achikanoman i^t selir früh jüdisch bearbeitet wfirden, so daß der Weise — ähnlich dem Mardochaeus des Estherbiiches — zum hochverdienten Hausjuden des Assyrcrkönigs wird und in seine
Zu Deniokrits Waiulerjalueu. 191
Schiilbftrieb, in dem Clemens ja mitten di innen stand, eine ähn- liche Schulwandtafel oder orrj^./} mit den Achikar- sprüchen und vielleicht kleinen Darstellungen der ganzen Ge- schichte nach ^Vit der „tabula Iliaca" oder dgl. üblich war.^^*) AVenu auf einer solchen Schulübungstafel echte Gnomen des „Demoluates" dem Achikar in den Mund gelegt worden wären, könnte man das bei der Leichtbeweglich^eit solcher oft als ddtojroTc: herum- vagierender Gedankensplitter nicht weiter merkwürdig finden. Daß das Umgekehrte wirklich geschehen ist, und typische, als solche bezeugte Achikarsprüche in Gnomologier u. dgl. unter dem Namen des Demokrit^**'*) umliefen, hat Coniill schon 1875 in seiner Doktor- dissertation®**) an einem bei Schachrastani als Demokritgnome an- gefühlten Spruch des aethiopischen Achikar gezeigt. RendeU Harris a. a. 0. p. XLIII hat diese Beobachtung auch schon richtig zur Erklärung der fraglichen angeführten Clemensstelle herangezogen. Seither hat Smend a. a. 0. S. 68 ff. noch zwei weitere ..Demokrit"- sprüche bei Schahrastani im syrischen, arabischen, armenischen Achikar aiü'gefunden, den „ohne Gewähr" (FVS'^ 444 Z. 25) bei
Reden und Taten scharfe Spitzen gegen das Heidentum einflicht, z. B. in Ägypten eine heilige Katze prügelt (Smend p. 84; anders Nöldeke S. 28). Sicher ist der griechische Achikar das Werk alexandrinischer Juden, daher die Erwähnung im Buch Tobit. Über eineo AchikarsprucL im Talmud, Baba Bathra 98b s. Nöldeke S. 14, nach Epstein und Hale'vy.
^*) 2. Petr. 2 22 h geht auf einen Achikarspruch zurück (Smend a. a. 0. S. 75), der dem von Clemens Alex, im „Protreptikos" 92, 4, p. 68; er- wähnten Frag 147 des Demokrit (FVS* p. 411, Z. 1— 7) genau entspricht.
fi"») Schon in den ägyptischen Schulen des Neuen Reiches war ja „eine Sammlung hübscher, frischer Weisheitssprüche gebräuchlich", Erman, Die Hieroglyphen, Berlin-Leii)zig 1917, S 89. Vgl. desselben Verfassers „Ägypten und ägyptisches Leben,- Tübingen 1885, I S. 446, über die in' den Schulen immer wieder abgeschriebenen, alten Weisen in den Muad gelegten Sitten- und Anstandsregeln, die Sprüche des Ptachhotep und des Kagemne im Papyrus Prisse; Lehren des Dawuf in den Papyri ^«allier 2, Anastasy 7; Lehi-en des Amenemhat ebenda und in dem Papyrus Millingen und in einem Berliner; Sprüche des 'Eney, Papyrus von Bulaq, Berliner Schreibtafeln. Ebensolche jüdische Schulbücher sind die Sprüche Sälomonis, des Jesus Sirach, die Weisheit Salouionis, die Patriarchen - te.^tamente, der Talmudtraktat „Sprüche der Väter", u. a gewesen.
6aaaj Der o. Aum. 6 angeführte Achikarspruch im Talmud wird dort dem Ben Sira zugeschrieben.
^"i Das B'uch der weisen Philosopiien nach dem Atliiopischeu unter- sucht. S. 40.
]((-> Robert Eisler,
Maximus überlioior; den A/j(iox()iTov yr«')}Hu des Corpus
Farisinum Profanum stammenden, auch im, (inomologium Palati n um p. 29 Nr. 108 überlieferten Spruch „x^kirrov ro, jco(U 6Ziol)alveiv Tj rij yXinanr/ mitCornül auf den im Arabischen und Aethiopist;hen erhaltenen gleichsinnigen Achikarspruch zurückgeführt und endlich die ebenfalls zu den jDemokritea des Maxinms gehörige Sentenz „'PiQaq XiiorTOJV xQüTöiiOv irxfmicov vsßQoJv'' (Smend 75 ^ im arabischen und syrischen Achikar aufgewiesen. Dies und ähnliches (s. Anm.öa) kann zu der albernen Plagiatbeschuldigung Anlaß gegeben haben. Aber vielleicht hat der erste, der den Demokrit seine Wcifeheits- sprüche von einer Schulwandtafel abschreiben ließ, damit nur ein bos- haftes Werturteil über diese — wie alle moralia — von Gemein- plätzen und einem leichten Päichlein von Hausbackenheit nicht ganz freien Apophtegmata abgeben wollen, das Clemens dann — wenn auch nur als ;i£'7£rai — ganz ernst genommen hätte. Daß es je unter dem Namen des Demokrit eine ganze Sammlung von Sinnsprüchen gegeben habe, die sich selbst Baßv'lcövLOi Xö'/ot /jilixoi nannte und als Übersetzung einer 'Ax ex cqov OTijAi'i ausgab, und die deshalb, nicht von Demoki-it gewesen sein kann, weil— trotz jener Behauptung bei Clemens — „niemand ihn zum Übersetzer orientalischer Gnomik wird machen wollen" (Diels p. XII des Registerbandes ^'')), — davon steht in der angeführten Clemensstelle k e i n - W o r t.
Zum zwei teil ist es ako durchaus nicht unmethodisch, die Frage der Echtheit des strittigen Bruchstücks — das seinem Inhalt nach am ehesten der Anfang einer geometrischen Abhandlung sem kann, wie deren mehrere dem Titel nach bekannt sind (FVS^ p. 390 No. 11 m,n,p,)-ganz zu trennei von jenem gar nicht bezeugten Büchertitel der vermeintlichen BaßvXcoi'ioi. Aoyoi ydixoi. Clemens hat in der Tat nur die eine Schi'if t vor sich gehabt, aus der er dieses Selbstzeugnis anführt, um zu beweisen, daß der Weltreisende von Abdera gar wohl in der Lage war, aus babylonischen Quellen zu schöpfen, aber die^e Schrift hat ganz gewiß nicht Baßvlcörioi Xoyoi {/j'hxoi) oder gar Uxixccqov gt/jX/) [(.tffrjrtvOüöa geheißen.
fi'=) Warum das übrigens bei Demokrit, der in dem von Diels an- erkannten Frg. 224 den Aesop anführt, a priori gar so undenkbar sein sollte, frage ich mich Tergebens.
ZiuDt'innkrit.-; \V;ind<rj;ilirfn. |(JP,
Was drittens die aiioeblicho Ruhmredigkeit dieser Stelle an- langt, so scheint mir, daß eben das voq Dick in Gegensatz zur Tonart des Frg. 299 gesetzte bittere Frg. 116 »jXd-ov yuQ sie, "Alhjraq xai ov Tiq [IS tyrorxev das Zitat bei Clemens in bezeichnendster Weise ergänzt, und in Wirklichkeit geradezu den Abschluß jener vermeintlich prahlenden autobiographischen Sätze gebildet haben dürfte: in diesem Zusanmienhang scheint dann aus den Worten, die den Stempel schlichtester Wahrheit an sich tragen, nicht bloß das berechtigte Selbstgefühl des größtea Forschers seiner Zeit, sondern auch die über allen äußeren Khrgeiz erhabene Einsicht in die Nichtigkeit der ,vanagloria' zu sprechen : nicht die Charakteristik des Clemens (otiirrvoutroQ hitl ycoXvuadia), der natürlich sein Ideal christlicher Demut bei einem Griechen des Perikleischen Zeit- alters nicht verwirklicht finden konnte, sondern die des Cicero „constantem hominem et gravem, qui glorietur a gloria se afuisse" (Tusc. V 36, 104; FVS^ 406, 25 f.) trifft den wahren Charakter des Mannes, der am Ende seines reichen Lebens von sich sagt: „also spricht Demolfl-itos: von allen meinen Zeitgenossen bin ich am meisten in der Welt herumgekommen, im weitesten Umkreis nach Wissen suchend; auch die meisten Himmelsstriche und Länder habe ich gCoehen und von kundigen Männern die meisten gehört; und in der Zusammensetzung von Linien mit Beweiskraft hat mich keiner je übertroffen, nicht einmal die sogen, Seilknüpfer bei den Ägyptern; mit denen war ich, nach allen [erg.: Wanderfahrten] noch fünf Jahre in der Fremde zusammen. Denn ich bin nach Babylon hineingekommen und nach Persien und Ägypten, von Magiern') und Priestern Belehrung empfangend."
Sed nemo propheta in patria: )))J)-ov yaQ slq 'Ad-rfvag y.cd oi zig fts eyvcoxEv (Frg. 116). Doch was tut's! (Frg. 168): „Lieber einen einzigen Beweis finden, als den Großkönigsthron von Persien ge- winnen," Sollten nicht alle diese Aussprüche ein ganz einheitliches, des großen Gelehrten durchaus würdiges Charakterbild enthüllen?
Überdies gibt es aUer Wahrscheinlichkeit nach für den Verkehr
'') Das auch bei Herodot häufige fjuyoc — babyl. machchü, ekstatischer Prophet, Wahrsager, Delitzsch, assyr. Handwörterb. 397 3; mag bei Jerem. 39 3; aram. magusa', davon pers. maguS, griech. fiayovGoioQ^ Curaont, religions orientales p. 176. Zimmern, akk. Lehnworte, Leipz. Renunz. Progr. 1914, S. 68.
104 R o b e r t E i 8 1 e r ,
des iJemokrit mit den Iöjloi. ärÖQtq oder uvU^Qomot^^) des Morgen- landes wenigstens ein weiteres Selbstzeugnis^) in dem auch von Diels nicht angezweifelten Frg. 30 (FVS^ p. 397):
,,To5«' Xoykov av^QWJcmv oÄiyoi „Von den Gelehrten erheben avaxdravTsqraQXUQaqkvTcwd^a, einige ihre Hände dorthin, wo ov vvv /jtQc. y.alsoiiev ol wir Hellenen jetzt die Luft 'EXXtivtq' ndvra, <^<paöiv}. sein lassen <und sagen>: alles Ztvq (ivd^strai. y,ai xccrf^' ovtoc benennt Zeus und alles weiß oids y.cd 6i6oi y.ai afpaiQHtai dieser, gibt und nimmt es wieder xal ßaotlevq ovrog TcÖ7' .mir- und er ist König des Alls."
Wenn Diels p. 720 zu 397 19 sagt: „mit den Xoyioi, die die Luft als Zeus v^erehren, meint er speziell Diogenes von Apollonia (FVS"^ 51 A^B^), so ist das ungenau. Nicht die Xoyioi ävd^QWjioi, sondern 01 vvv "EXltjveg xaXioftsv i]tQa, wir Griechen von heute — z. B. Diogenes von Apollonia, mit dem Demokrit hier einer Meinung ist — nennen den Zeus, zu dem die Xoyioi avü^(^>co.7iot die Hände erheben, von dem sie sagen, er „nenne alles" — d. h. mit dem Schöpfungsworte^) — und keime alles, gebe und nähme es als König des Alls" die Luft. Wie
^a) Auch Herodot nennt so seine morgenländiöchen Gewährsmänner, z. B. Ii „JleoGkov juiv wi' o'l Xöyiot (DoCvixuc ahCovg (fuct -/iviüSui rijc
8) Ich persönlich halte, seit ich von der Echtheit von Fr. 293 über- zeugt bin, folgerichtig auch das nur syrisch erhaltene Fr. 303 für unver- dächtig: „Weise Leute müssen, wenn sie in ein fremdes Land gehen, das nicht das ihre (ihres Volksstamms) ist, unter Stillschweigen und in Ruhe auskundschaften, wie sich die Angelegenheiten der dortigen Weisen verhalten: wie sie sind, und ob man ihnen gegenüber bestehen könne, indem man die eigenen Worte mit denen jener im Geiste heimlich ab- wägt. Hat man abgewogen und gesehen, wer dem andern überlegen ist, dann tue man den Reichtum seiner Weisheit kund, damit man um des eigenen Schatzes willen gepriesen wird, während man andere be- reichert. Wenn der eigene Schatz aber zu klein ist, um davon spenden zu können, so nimmt man eben von dem der anderen und geht da- mit fort."
^) Diels „alles beredet er mit sich", fjbv&iofjiai, med. (act. unbelegt) ist sonst immer = sagen, nennen. Vgl. babylonisch, 7. Jhdt. (KB VI, 1 p. 2 f. Z. 1): «numa elis la nabu samamu „als die Himmel noch nicht ge- nannt waren''. Eccles. 610a: „was immer entsteht, lange vorher ist sein Namen ausgesprochen". Sirach 42,5: „durch das Wort Gottes sind «eine Werke" usw. Siehe Eisler, .Weltenmantel u. Himmelszelt" 751 2.
Zu Demokrits VVanderiahreii. IHf)
Herodot griechische Meinungen und Sitten mit denen der Barbaren vergleicht, so weist auch hier das „wir Griechen von heute" ^") darauf hin, daß die Xoyioi ard^Qco.^oi eben nicht Griechen von heute sind, also entweder Griechen der A^orzeit — was doch wohl eher fern liegt — oder eben Nichtg riechen, barbarische „Ge- lehrte" (Frg. 299), die ebenfalls, wenn sie von Zeus reden, die Hände „in die Luft" oder „zum Himmel" empor^trecken. In der Tat kann Demokrit, wo immer er mit jenen gelehrten Aus- liändern zusammenkam, deren Hörer und Schüler gewesen zu sein er bekennt, Ansichten zu hören bekommen haben, die denen des Diogenes von Apollonia nahe genug standen: für Ägypten hat Spiegelberg die Zeugnisse einer Auffassung des Amnion — also griechisch Zeus Uii/jcov, wie er bei Herodot heißt — als alldurch- wirkendes .Tvfvfia zusanunengestellt^^), bei den Babyloniern ist Bei — der Zeus Bf/Xo^ des Herodot — schon durch die ideographische Schreibung seines Namens als EN-LIL .,Herr dei Luft" ^2) in diesem Sinne erklärt, und bei den Persern bezeichneten die Priester dem Herodot (1 131) xcxXov xcaTa rov ovqccvov, den ganzen Luft- kreis als J/«. wobei noch zu beachten ist, wie gut das .-ravt' ovrog aide bei Demokrit zu der zarathustrischen Benennung des Himniels- herm als „ma^dao" „der Wissende" paßt. Genau der demokritischc Ausdruck ßaöfksvg rcov oXcov, aramäisch „mara' köl", assyi'isch sar kissati „König des AlLs" ist in Palmyra^^) und in eir.rr altarmeniscben Königsinschrift^*) vom Himmelsgott gebraucht.
^<') Hier ist der Gegensatz zum modernen Hellenen der Grieche der alten Zeit und vom alten Schlag, der sich im Freien — lat. sub love — if Juk fühlte (iV Jwc und ig Jtog Gruppe Hdb. 1101,). Euripide^^ Cykl. 210 läßt den aufwärtsblickenden Chor sagen: tvouc arrov tov Jlu dvuxexvcfUfA.iv.'' Ein „moderner Hellene" zur Zeit Demokrits würde sich nicht so ungebildet ausgedrückt haben, wie die Satyroi des Waldes.
1') Zeitschr. f. ägypt, Sprache, i9. Bd. S. 217 f : ,Amon als Gott der Luft oder des Windes", wo die hieroglyphischen Parallelen zu Diodor 1 12 (cf. Plut. d. Is. et Os. 30) „TU fiiP ovv 7n'srf/,a lia Ttqocayoqivovaiv" (sc. die Ägypter; gegeben werden.
12) Sumer. „lil" ^Luft, Wind, Sturm, Dämon (Delitzsch, sumer. Glossar S. 171), also genau = jirevfia.
^'■) Lidzbarski, Eph. 11 297; Cumont, relig. or. 297 u. 73.
'") Rusas II (s. ZDMG VI 1902, p. lOi; Lidzbarski, Eph. I 208) vom Himmelsgott Chaldis gesagt; babylonisch kommt sar ki'sbali als Titel des Gottkönigs Tor, der — wie Lidzbarski a. a. 0. hervorhebt — gerade im Achikarbuch dem Himmelsgott B'aal Samrm v«rglicben wird
196
Robert Eisler,
Der vierte, von J)iels selbst als nicht entscheidend bezeichnete Punkt, der „griechisch-ägyptische ' Ausdruck JiQjttdoräjirai' — aQjrsdorf/ ist gut griechisch und kommt bei Herodot und Xenophon vor, von ciirTsir nicht zu reden - = „Seilknüpfer" für die ägyp- tischen Landvermesser^s), whd ein Ausdruck der in Ägypten, in Naukratis, im 'EXhpKxov von Memphis, in der großen Oase und in Daphnai (Tehaph-nehes) schon seit dem 7. Jahrhundert (Psammetich) zahheich lebenden Griechen sein, der im Mund des fünf Jahre mit diesen Leuten zusammen gewesenen Demokrit sehr natürlich ist. Von einem Alexandrinismus zu sprechen, ist durchaus kein Anlaß.
Die fünftens von Diels hervorgehobene, „seit der Epinomis 987 E bei den Alexandrinern weit verbreitete Tendenz, die griechische Wissenschaft von den Barbaren herzuleiten, aber dabei doch die Überlegenheit der Hellenen zu betonen", trifft — als Ergebnis der Einsicht in die gerade den Alexancüinern in einem nie vorher, nie später erreichten Maß zugänghchen Quellen — ganz einfach mit der geschichtlichen Wahrheit und somit auch mit den Angaben echter Quellen zusammen.
Daß sechstens Jm jtcuuv' „hinter allen Gelehrten" schief klingt, trifft nur diese Übersetzung auf S. 728, d^nn S. 459 übersetzt Diels selbst sehr richtig ,,am Ende meiner Reise'' und es ist in der Tat nicht zu bezweifehi, daß ein Wort wie xlävaiq oder dgl. hinter ^äoiv ausgefallen ist; lx\ t,sirrjq heißt einfach „in der Fremde", wie Stephanus das aus Paulus Silentiarius 82 (VII, 162) belegt. Das ist allerdings reichlich spät, aber r/ §tvfj „die Fremde" steht ja schon bei Sophokles (Ir s^im, Philoktet 135) und Euripides (tJil ^8väg, Andromache 136). Warum soll das nur dialektisch ver- schiedene tjtl ^sivrjg gerade bei Demokrit „schief" sein?
Wenn Diels siebentens als ,, durchschlagend" — offenbar also sein schwerstes Geschütz auffahrend — das unklassische tyer/jO/jv für syevoifrp einwendet, so müßte er folgerichtig auch den Philebos des Piaton verwerfen, wo 62 d tssyevf'd-tj für hs^yhero überliefert, längst bemerkt und längst einfach verbessert worden ist. Selbstverständlich hat weder Demokrit noch Piaton noch Hippe- ls) Echt ägyptisch heißen sie „hunu", ihre Meßleine ya,, Brugsch bei Cantor, Gesch. d. Math. I 55 3. Vgl. Griffith, Hieroglyphs p. 43, Fig. 86, über das Seilmaß yt n nwh.
Zu Deraokrits Wanderjahren. 197
krates tytrt'if^rj gesagt, aber es ist doch ebenso selbstverständlich, insbesondere seit der Papyrus der 'Ai^^t/vaicor rroUrtia des Ari- stoteles^^) die Häufigkeit der Kürzungen in den frühesten litterarischen Hss. richtig beurteilen gelehrt hat, daß solche kleine Anomalien, palaeo graphisch beurteilt, nicht die geringste hsl. Gewähr haben können. AVer will heute sagen, ob Clemens von Alexandria oder irgend ein Abschreiber seiner Schriften, oder schon irgend ein alexandrinischer Abschreiber des Demokrit vor Clemens iyevW oder fc/tr" //?• anaclironistisch und nach seiner eigenen Sprach- gewohnheit in tytri'jihiv statt in l-/i-r6//tji' aufgelöst hat? Natürlich gilt genau dasselbe, wenn man (achtens) statt txtjckavf'/f^^fjv das für .Demokrit unerhörte L-^e.rÄaoäfir/v findet (also EnEIIylAA'IIA — J'JIIEUAJ^'NA findet oder wenn ein ujrodtissoiq statt dm)6ü^!:aiv {X und ^ ) einem auffällt, zumal ja Diels selbst S. 726 das unsmnige oy6c6xoTTa h?/ nach Diodor I 98 3, FVS^, S. 230, 18 als falsche Auflösung des akrophonischen sog. herodianischen Zahlzeichens .t für üt(hrf^)^'') als eines alphabetisch-milesischen Zahlzeichens jr = 80 erkannt hat; und es würde auch ebenso gelten, wenn gar nicht mit der Auflösung von Kürzungen, sondern bloß mit gewöhn- liehen Ab seh reibe fehlem zu rechnen wäre. Es geht durchaus nicht an, sich bei der höheren Quellenkritik über die elementare hinwegzusetzen und nach Bedarf so zu argumentieren, als lägen die Autographen eines Demokiit oder Pseudodemokrit vor uns, wo doch nicht einmal der genaue Urtext eines Clemens bis in solche Einzel- heiten hinein zuverlässig feststeht.^'*)
'^j um- 100 A.D.; s. das Facsinnle im Handbook of Greek and Latin Paleography von E. Cb. Tliompson, London 1894, S 140, wo in der ersten Zeile der nur wenige Sätze umfassenden Probe gleich ßov7vO(j)' ovg für ßovJ^ofJii'ovc steht. Ibid. p. 90 5 über die damals beUebten und ständigen Kürzungen und die fast regelmäßige Abkürzung aller En- dungen.
^M Es ist palaeographisch ganz unhaltbar, zu sagen, daß diese Art der Ziffernschreibung „für Demokrit oder Pseudo-Demokrit nicht sehr wahrscheinlich ist". In den Hss. — Papyrus und ma. Pergamentcodd. — sind beide Arten Ziffern ganz gewöhnlich (Thompson 104) und hinter die Absclireiber kann man nur soweit zurück, als das Zeugnis des Eusebios von Caesarea reicht, der das falsche 7r = S0 schon mit abgeschrieben hat
na) Vgl. Nöldeke a. a. 0. S. 6,; gegen Eduard Meyers Datierung des Achikarpapyrus auf Grund eines persischen Lehnworts data für „Gesetz" „jener Schluß wäre nur zulässig, wenn wir annehmen dürften, daß der vorliegende Text den Wortlaut des Originals ganz genau darstellte".
Archiv für Geschichte der Philosophie. XXXI, 4. 14
198 Robert Eis 1er.
Bei dieser Gelegenheit sei bemerkt, s) daß der (pQvyio^ Aoyog des pemokrit, den Diels in einem Atem mit dem X(i?Jaix6q yloyog (299 d) athetieren will, durchaus gar nichts zu tun haben nuiß mit den außer allem Zusammenhang init Demolait oder den Democritea vel Pseudodemocritea an verschiedenen, von Diels 299 e und Reitzenstein, Poimandros 164 f angeführten Stfllen^^*^) erwähnten <I>Qvyioi Aöyoi des „ägyptischen Herakles" = Xrovr/ig von Hera- kleopolis-Chinensu. Reitzenstein, den Diels a. a. 0. anführt, hat auch gar nichts derart behauptet. Diels selbst gibt zu, daß das Verhältnis des Demokriteischen (pQvyiog Zoyog zu den (Pseudo-) diagoreischen (pQiyioi loyoi^^^) nicht auszumachen ist; man hat diese dem Diagoras zugeschrieben, weil er (FVS- p. SbS ^^) als Demokrit- schüler galt, und weil man sie dem Meister selber nicht zuzu- schreiben wagte. Gerade das spricht aber doch eher dafür, daß e.s einen ganz andersartigen echten (pQcyfog ^.oyog Demokrits wirklich gegeben hat. Vollends unverdächtig ist, nach dem o. S.192 über den vermein ("liehen Titel BaßvlminoL Äüyoi {yd-iy.ol) Festgestellten, die wirkhch bezeugte Überschrift XaXdaiyJjQ Aoyog einer ver- lorenen Abhandlung, über die ebenfalls nichts nähere? zu ermitteln ist.
^^) Nebenbei: Zu dem botanischen Ps.-I)emokritcitat über die „aglao- pliotim lierbam, iu luarinoribus Arabiae uascentem Persico latere, qua de cavisa et marmaritim vocari'' FVS- 440 ,« sagt Diels 8.729: „Persico verstehe ich nicht." Die Blume wächst in den Steinbrüchen Arabiens auf der persischen Seite der Halbinsel, d.h. am persischen Meerbusen.
i**") Cicero, de nat. deor. III 10, 42: Schol. ApoUon. Rhod. I 558; Plut., Is. et Os. '29, p. 362D; Damasc. 11 17 Ruelle, wo ausnahmslos anonyme 0ovyioi Xöyoi als Quelle für genealogische Angaben über Götter oder Heroen — beim Scholiasten des Apollonios z. B. für eine besondere Genealogie des Achilles — angezogen sind. Wieder eine andere Schrift ist die 0Qvyia TrofrjGi^ des Thyraoites Diod. 58, 59, G7.
^'"'') Tatian. 27 (iTTig 28 Diels a.a.O.); „JiayÖQu.c 'AdrivoXoc fir, dlld TOVJOv i^OQxriGafjiivov tu rcaq' l4<9tp'Utoic fxvGTriqia 7 6Ti/jtüJQijxuT6 xal Toi^ 0oiiyioic uvToiJ löyoig h'ivyyä.vovTig rfiäg iiiefuGijxciTs." Hier ist Ooch offenbar von einer Schrift des „Gottesleugners" Diagoras über die phry- gischen (d. h. wohl Kybelemysterien) der Athener die Rede, aus dem vielleicht die christlichen Angreifer der eleusinischen und orphischen Geheimnisse ihren Stoff geschöpft haben, die aber kaum den von den Anm. 18aa Götter- und Heroenkatalogen oder -genealogieu benutzten, d. h. einen ganz harmlosen, höchstens möglicherweise euhemeristisch be- handelten Stoff enthalten haben. Offenbar sind die anonymen 0qvyi,oi Löyov auch mit denen des Diagoras — vom 0Qvyiog löyog des Demokrit ganz zu schweigen — durchaus nicht zu verwechseln, zumal doch die erstere durch die Erwähnung des XrotxfK von Herakleopolis ihren hellenistisch-ägyptischen Ursprung deutlich genug verraten.
Zu Dcniokrits Wandeijahren. 199
II.
(iaiiz tficlier zu erschließen ist dagegen der Inhalt bei zwei elicii- ialls bis auf die Titel verschollenen Abhaiidlunaen
m-o] T(~)r bv ßaßv?.oJ)i Uqojv y^a/t/ucTojv und rrf(u T(~)r tr MsqÖij teQO)V -/{fc.njn'cTor — bi i{U' im Schriftenkatalüg dos Thrasyll bei ))iogenes von Lacrte IX 4U (FVS2 p. 358 10 f., s. u. 204,7).
In der Tat heißt .t^o/ tvjv tv BaßvXoiVL hitoßv /(>«////«royr nicht über die „heiligen Schriften in Babylon," denn dort gab es keine hei- ligen Schritten im Gegensatz zu einer Profanliteratur, sondern „über die in Babylon üblichen heiligen Schriftz^ichen", d. h. „über die Keilschrift", die Demokrit im Gegensatz zu der damals in Babylon wie im ganzen persischen Weltreich üblichen aramäischen Buchstabenschrift hQa yQÜi/fiara nannte, genau wie Herodot II 36 bei den Ägyptern „zwiefache Schrift, heilige und volktümliche", unterschied {,,d((pa<jioi<ji. y^dmiaOL •/Qbcovrai ra iilv avToJr i(ta ra 6b dtjitonr/.a xaXtorxai^'') und wie das alte Testament eine „Götter- Schrift" („miköthab 'elöhim"^^'') Exod. 31 ^s 32 ^g) vom „cheret enos" (Js, 81), dem „Kritzel der Menschen "■^^) unterscheidet.
Wenn Uemokrit wirklich (0. S. 52 ff.) mit Hilfe einheimischer Gelehrten die astronomischen Tafeln und Beobachtungen der Chaldäer kenjien zu lernen versucht l^at, dann muß t.r sich, sclion für den eigenen Gebrauch eine hinreichende Liste der wichtigsten Laut- und AVortzeichen etwa im Umfang des F. X. Kuglerschon Glossars zur „Ste^-nkunde in Babylon" angelegt haben, die dann im Verzeichnis seines schriftstellerischen Nachlasses aufgeführt worden sein kann. Genau so mußte sich vier Jahrhunderte später Chaereraon zum Studium der ägyptischen astrologischen Texte eine Hieroglyphen- liste anlegen, von der ein Bruchstück (u. S. 203 26) erhalten ge- })lieben ist.^'")
'^''^) Der Ausdruck entspricht mehr der ägyptischen Bezeichnung- der Hieroglyphen als mdw ntr „Götterworte" (Sethe, Nachr. Gott. Gesellsch. Wiss., geschäftl. Mitt. 1916 S. 101 4). — Gegensatz das demotische als ,, Briefschritt" sechay-en-sa'y iTriGTo'/.oyoacpixij der Menschen — als dem babylonischen „sitir same" .^Hiinmelsschrift" (Jensen. Kosmol. d. Babyl. s. S. G und 45).
^'') Vgl. über die Frage des Keilschriftgebrauchs im israeUtischen Altertum zuletzt J. A. Kelso in der Sachau-Festschrift 1915, S. 113 f.
1''") Chaeremon muß die astrologischen Schriften Demokrits gekannt haben, denn er hat nach Athen. XIII 608e den ganz eigentünilicheD,
J4*
200 Robert Eisler,
Genau wie das Hiercglyphenverzeichnis des Chairemon die ägyptische tK(pojp//oiQ der Zeichen in griecischer Umschrift unci die Bedeutimg in griechischer Übersetzung angab, also zugleich eine Art Glossar, insbesondere der ideographisch geschriebenen Worte, bildete, muß auch der Keilschriftzeichenkatalog des Deniokrit zu- gleich ein — vorwiegend astrologisch gerichtetes — griechisch-i kka- disches ,, Vokabelheft" gewesen sein, auf das letzten Endes solche Glossen, wie ,jMo/.oßoßa(> o zov Aioc. dovr/Q jiccqu Xalöaioiq"' (Mulu babbar, sumerisch = „weißer Stern"), oder „BeXaßarog- o tov /7i'(>o[6J'ro]c (= Mars; codd. jivqoS) ccOt/'/q' BaßvXoyvLoi'' (1. 2^f:Xt- ßaT[ccv\oQ = ZAL-BAT-a-nu = Mars, Kugler, Sternk. S. 10 ad 7), oder ,,/lf:?.(:ff((T' 6 r//c "Aq^odiTtic. dor/jQ, vjio XakÖaicov'^ (DIL- BAD = Venus) oder ^acog' /jhoc BaßvXojvioi (samas, gesprochen sawas = Sonne) u. dgl. (sämtMch bai Hesych o v v.) zurückgehen mögen.
Das Vorbild für diesen zum Lesen astrologischer Keilschrifttexte unentbehrlichen Schrift- und zugleich Sprachführer konnte Demokrit in denselben Büchereien vorfinden, wo man ihn die Stern- tafeln selbst einsehen ließ.
Bekanntlich waren den babylonischen Gelehrten, die die ersten Übersetzungen der Weltliteraturgeschichte — akkadische Über- tragungen sumerischer Schriften — hergestellt haben, solche palaeo- graphisch-hnguistische Arbeiten durchaus geläufig: Beste eines kossäisch-akkadisch en Vokabulars haben sich in der Bibliothek Assurbanipals gefunden und es ist nicht unwahrscheinlicl), daß solche Sprachführer auch für die Sprachen anderer Völker her- gestellt wurden, mit denen die Babylonier poHtischen und wirt- schaftlichen Verkehr unterhielten. Ebenso sind schriftgeschichtliche Zusammenstellungen der Formen der einzelnen Keilschriftzeichen zu den verschiedenen Zeiten ihrer Geschichte, Zeichennamenlisten zum Zweck der palaeographischen Zergliederung zusanmiengesetzter Zeichen und der Ableitung gewisser Zeichen von andern, äußerlich ähnlichen vielfach erhalten.^®'')
wahrscheinlich der Terminologie der BelomnDtik angehörigen, sonst nur bei Demokrit FVS- 391 jg (cf- fi'/ao/xoc 415, lil) nachweisbaren Ausdruck uAoyxog für „unheiWoll" (dies nefastus) gebraucht.
19b) Vgl. über die Tafeln Cuneiform Texts V 8-12 und 18- Ki 0. Weber, Die Literatur der Babylonier und Assyrer, Leipzig 1907, S. 292 IV. Neue Vokabulare haben sich nach freundlicher Mitteiluug F. Hommels im Archiv von Bogliazkjöi g-efunden.
Zu Deniükritt; Waudcrjahren. 201
J>aß wirklich Deniokrit mit der babylonischen Schrift und J'alaeographie bekannt war, scheint mir aus einer auch sonst sehr merkwürdigen Stelle (Aristoteles, Metaphys. A 4, 985, FVS^ p. 344 Z. 6) hervorzugehen, wonach Demokrit in seinem berühmten Ver- gleich der Atoni- und Buchstabenkombinationen bzw. -modif ikationen gelehrt habe, das I — d. h. die zu seiner Zeit übliche alte, e})!- cliorische Form des CF/ihc — unterscheide sich vom H {tjta) nur durch tqojt//, eine Theorie, die man später — als das ^//tcc Z gesclu-iel)en wurde,-") auf die Buchstaben Z und N übertrug, und die zur Zeit J^emokrits ebenso auch vom M und ^ und vom f\ (y) und A. {^.) vom + und x {tccv und yl), von (i und ^/> (.9-//r« und rpi) gelten konnte. Diese überaus merkwürdige Idee, ein Schrift- zeichen aus dem andern durch Drehung (tqojtiJ) ab- zuleiten, die gar nichts zu tun hat weder mit der pytha- goräischen Gepflogenheit, BMchstaben durch Drehung — lil vjrriov, 3 jtläytov u. dgl. n:.; s. die Tabelle des Alypius usw.^^) ^-in Musik- noten zu verwandeln, noch mit den natürlichen Drehungen der Buchstaben beim ^oL'öT(>o9r7/(3or-Schreiben^-); läßt sich nun ganz genau so bei den liabylonischen Nationalgrammatikern bzw. -palaeo- graphen nachweisen, die gewohnt sind, gewisse Keilschriftzcichen als iennn (,, Legung"; sumerisch ien = akkadisch pasachu, nachu „ruhen", wörtlich ,, liegen") oder „Schrägsetzung" der entsprechenden geraden bzw. aufrechten Grundzeichen zu erklären.'^^)
"Wenn hier kein ganz toller Zufall mitspielt ist es 'doch sehr wahrscheinlich, daß der als Verfasser einer Abhandlung über die Keilschriftzeichen genannte Deniokrit diese Theorie einer Entstehung von Buchstaben durch ,, Drehung" anderer aus Babylon mitgebracht hat und juit seinem Begriff der rpo.Tr// das babylonische tenmi wiedergeben will. Wenn das stimmt, müssen wohl auch die eigentümlichen Versuche griechischer Schriftforscher, alle Buchstaben auf allerletzte Schriftelemente — sieben Elementarstriche {xtQatat = ,, Häkchen", „Spitzen" [vgl. unser „Keile"] bei den Tachy-
^") Philo, de aet. 22, p. 34, 13 Cum.; Diels, Elementum S. 13,.
") Vgl. die Tafel I im Anhang zu Jan's Musici Scriptores Graeci.
-2) Larfeld, Griech. Epigraph.^ 132. Boeth. mus. 4, p. 310 ff. „in notis musicis alpha supinum" (v).
2-^1 Vgl. Victor Christian, Die Namen der babylonisch-assyrischen Keilschriftzeichen. Mitt. d. Vorderasiat. Gesellsch. 1913 S. 56 ff.
202 Robert P: i 8 1 e r ,
giaplion)-^) — , zurückzuführen, die hu Schulkreis von JJeniokrits Zeitgenossen Hippokmtes nachweisbar sind,^^) auf Demokrit und die durch ihn vermittelte Kenntnis der Keilschrift zurückgehen. Wenn die Aljhandlung .t^ (^/ rr-^r kv BußvXcöri hgcör yQuit/taTOJV wirklich eine schriftwissonschaftliche Einführung in die Weisheit der Chaldäcr war — ein Vorbild und frühes Gegenstück zu dem Buch von den ägyptischen Hieroglyphen, das der alexanürinischo Bibliotheksvorstand und hQoyQafi/iaTtic: Chairemon (Zeit des Nero)
-') xeoKiai, zuerst erwähnt auf dem Akropolisstein mit dem -wabr- scheiulicli von Archinos (4. Jahrh. v. Chr.) erfundenen Kurzschriftsystem, Z. 10, Larfeld, Griech. Epigr.^ '282. Eine nach Art rlieses Akropolissystems vsystemisierte Idealschrift mit nur sieben yaouxrr^oac, die rfroaxw; /tfru- (>X>]f'('TiC,6/ifvoi 2S Lautwerte eroeben, wJl der Jambulosroman bei Diudor Tl 574 auf seinen .sieben glücklichen Inseln — den sieben Zenobiosinseln hinter Sokotra (ind. = „Glücksinsel") gemeint — gefunden haben. Die Ider wird wohl in die Zeit des Arcliinos und der delphisclien Konsonanzen- tabelle zurückgehen (Larfeld, Tafel IV) — die übrigens nicht nur im griechischen mcigliche Doppellaute, wie no. yo usw., sondern auch un- mögliche — griechisch „incompatible" Buchstaben, wie d'A und ßy (Lar- feld S. 2i)0) enthält, somit vielleicht veranschaulichen kann, was Demo- krit 18b iv T<ö TTfot fvcpcöi'iüv xul (^vG(fi6)'i.oi' youfii^idTior abgehandelt haben kann: denn von Wohlklang und Mißklang kann doch — wie bei Tönen — auch bei Buchstaben (Sprachlauten; beachte den dxaCowc angewandten Ausdruck yQu/j/iia für das akustische Phänomen, was mit der eigen- tümlichen Schallkonfiguratiunstheorie des Demokrit zusammenhängt, über die ich besonders handeln möchtel) nur bei der Kombination mehrerer, bei der „Konsonanz" die Rede sein. (Den Hinweis auf die au- gefülirte Diodorstelle verdanke ich Dornseift'.)
^=) Hippokrates de victu 23 FVS''' p. 85 Z. 1) ft". youfi /jutixi] joiövd'i' (>)( r]f.idTLov (jvr9fGi,L, G)]/JsT(f. urd^QiOTT(vi]c (piorr^g .... öid iJTjn (>X']P((TCur 1} yriÖGig . . ." Die genaue Erklärung in einem folgenden Artikel; hier nur soviel: die sieben o/rj/iiuTa oder Urbestandteile der Buchstaben sind , — , /, \, COi ^; cf. Demokrit FV^S- 360 45, wo als yiv)] der roojiij oder ."^-ffffc — bei den Atomen und somit nach FVS-' p. 314 Z.'ifi'. auch bei den Buch^taben — äno, xano, TCOÖG&fv, oniod^tr [also A, Vi >i < üqS'io)', vTTTiov, jiXdytov Grujtlor der Notenschrift , des QvOfiöc oder (>x7;/ia aber yturiu. svlfv, neoupsoic angegeben werden : cf. GTOoyyv'Aa, axa'L)]vd xut Tolytova an der entsprechenden Stelle bei Epikur, Doxogr. 408 Z. 1 1 f . und die Nachricht des ApoUonios von Messene iv tm jtsoI nor dq^ukor yo(tfjf.(d7wy, wonach die Pythagoräer die Buchstaben x«rc/. ;'fW;W67«(7<)' „rhythmisiert" hätten: ywriatg, Tifgi- (peosiaig xui evßifaig (SchoL Dionys Thrax. p. 183 30: Dornseift', Buchstabenraystik S. 20). In der Keilschrift sind alle Zeichen aus den
Keilen y' t=^ (evdeuu xsoutui), dem Winkelhaken \ (=■ ywriu , den Schrägkeilen /, \ und /' {cxah]rd) und einem eigentümlichen Drei-
j
Zu Dt'iunkrits \Vaii<]cijaIirrii. 203
seiner JiyrrrTUix/j 'loroola einfügte^ß) - dann war si( natürlich echt; denn wenn eir Alexandrhiischer Grammatiker zu einer solchen Leistung imstande ge weisen wäre, würde er sich des Ruhmes c'ner Arbeit, die den griechischen Benutzern der babylonischen astro- logischen Tafeln sehr nützlich ma erwünscht sein mußte, gewiß nicht zugunsten des Abdcriten begeben haben; auch hätten andere Xamen — etwa der des Berossos — als Gewährsmänner fni- ein Psoudopigraphon dieser Art jener Zeit gewiß näher gelegen.
eck A ijofywrov) zusammengesetzt, .las zur Darstellung eines Kreises ,ler praecuneiformen Bilderschrift .beut {A = bleogramui für 8600 = Kreisunifaug!)
-«-1 In Tlom. II. ed. G. Hermann ^ 17. Sonderausgabe des wichtigen Chaeremonbrachstücks, palaeographisch erklärt von dem englischen .■\egyptologen Birch, Transactions Royal Society of Literature, Second Series vol. III p. 387, französ. Cbersetzung von Lenormant, Revue nrch.'ol. VII, mo. Sathas, Bull. corr. hell. I, 1877, p. 125. Die Anlage der ü-anzen Schrift ergibt sich aus dem wahrscheinlich mittelbar aut .lie einleitenden Worte des Chaevemon zurückgehenden locus classicus des Clemens von Alexandrien ström. V p. 657: es waren zunächst die dreierlei Schriftarten - tjrKrjoloyouffixij (= demotisch), leouny.t: und ',sooyhnfu>'! unterschieden, dann die verschiedenen Methoden der Schrift — Buchstabenschrift diu tlÖv ttomtloi' aTor/dtov, xmioloyv/.K "n«' arijßo)ux>] .uf\9oJoc: ..r/7c ar^ußo/ux^jc r) fiir xvoioloyeuuu -autu ,uffi>]G'y ^Pictogramme, von den Aegyptern selbst durch den senkrechten Strich 1 bezeichnet, Erman Gr» S. 53), /; 6s toanto TooTitxwg yadcpenu {\deogramme in übertragener Bedeutung). H de arruqvc a/.h]yooshui y.aja^ rirag airtyijovc (sogen, änigmatische Schriftspielerei der Spätzeit. Erraair S. 8! f)' Daran schlössen sich Zeichenlisten- die man sich ähnlich vorzustellen hat wie die des etwa aus der Zeit des Chaeremon >tammenden Papyrus von Tanis (ed. Griffith, Egypt Exploration Fund, yth Memoir, London 1889) — mit Angabe der Lautwerte in gr^ie^- chischer Umschriit (.,jdc itZi youf-ifjäitov ix(f>LovijGiig AWionc/ioq'-, 'l'retzes, l. c), deren beklagenswerter A'erlu.^t durch koptisches Material durchaus nicht vollwertig ersetzt werden kann - nach allen drei Ver- wendungsweisen der Bilder geordnet. Tzetzes kannte nur ein Bruchstück der Liste ..metaphorisch" verwendeter Zeichen, das er bei einem Homer- allegoriker angeführt gefunden hat, und meint daher törichterweise o( . . . itFnojTsc GTOiyßa youii^iuTOv ovx l'xovaii', sondern nur Bilder- zeichen (Com nuvToXa y.ul inh] lodwv x(d ^tÖQta). Die fragmentarisch angeführte' Liste „allegorisch" verwendeter Zeichen sieht so aus: ^
„. . . «J'U ,(/!)■ ;fr/o«c yvrur/.a Ti\u7Turi'Coi>G(a' f;'oc<f/or (gemeint ist das Zeichen für th „Freude", chb „tanzen". Levy, V^ocab. gerogl., Schrifr- tafel p. XLIV No. 112).
terovTu (über das hier gemeinte Zeichen s. Birch l. c).
204 Robert Eisler,
HI.
Das zweite, vielleicht noch merkwürdigere schriftwissenschaft- liche Werk des Demokrit trug den bei Thrasyll unmittelbar auf .T6(>i Toyr kvBaßvXcövi UQÜiv yQnitiickojv folgenden Titel (29fa Kiels):
jrtQl Tföv Iv Mt()6)j Uqmv yQanitäxcjv'^'^), der deshalb so beachtenswert ist, weil es in Meroe tatsächlich eine besondere, eigentümliche H-eroglyphenschriff-^j gegeben hat, nämlich ein Alpha beth, das nicht vom sogen, „phoenikischen" abstammt — wie alle sonst bekannten — sondern unter dem Einfluß eines Alphabets mit Vokal-
(hil (Vi ai'ti((oo(i.c (Uji^aKfJioy 6(f.xi)vovT('. (tFt"")
(hu 70V /Ji] s/eir ovo jffFo«^- xivuc ty.T st uji ivac {„^r^
f/.yrl dvaTo)S]c lUfiv i'^soyöfjfror Ix tivuc uttTjc ('^^s)
(i.vTi dvostoc. ficfo/ofioor'' usw. (-^=-^)
Die zwei zuletzt angeführten speziellen Auslegungen der zwei ganz Hllgemein.aültigen Zeichen für ,prj' „herauskommen" und ,'ek' ..hinein- gehen" im astronomischen Sinn von „auf-" bzw. „untergehen" zeigen, wie schon Birch a. a. 0 p. 393 gesehen hat, daß Chaeremon — Yon dem astrologische Werke bei Jamblicb, de myster.. Origenes c. Geis. I r.l Halle p. 16(1 u. 167: Porphyr, Brief an Anebo erwähnt werden — sich hauptsächlich für nationalägyptische astrologische Texte interessiert- und vielleicht, nur um diese lesen zu können, Hieroglyphen erlernt hat, also ganz ähnliche Studien trieb wie seinerzeit Demokrit, Tat-^ sächlich hat Chaeremon in einem erhaltenen Bruchstück (Sathas a. a. 0. i auch über das zeitliche Prioritätsverhältnis der b^xbylonischen und der ägyptischen Astrologie gehandelt.
-") Diels FVS-' p. 713 „3Isq6ii BP\ ßiQÖi: FP^" (was mit ßaQior, m Thrakien nichts zu tun hat, sondern die echte äthiopische Form ßerüa. äg. Brw.t - Horsiatelinschr., Garstang-Sayce, 'Meroe', Oxford 1911 p, 2 — heute Begerauie darstellt) „leowr yQUiJ/^idnov au«h nach MsQori (Froben) fehlt PBF". Natürlich kann ich nicht mit Diels annehmen, daß diese Worte ein Zusatz sind, der nur das leowr you/nfiuiwi des un- mittelbar vorausgehenden Titels TTfoi JLÖv Iv Baßv'uZvi 'iBQiöv youfifidroji' wiederholt, sondern bin vielmehr überzeugt, daß diese beiden Titel wegen ihres parallelen Inhalts nebeneinanderstehen, und daß die Worte 'iSQwr you/iiiiJUTwr in der Vorlage von PBF einfach durch ein Dittozeicheu angedeutet waren, das die Abschreiber übersehen haben. Oder kann man sich unter ttsoi tlÖv ir 3Iiq6i; überhaupt etwas vorstellen? Ebenso urteilten schon Leemans in der Vorrede p. VI zu seiner HorapoUon- ausgabe und dessen dort angeführte Vorgänger.
-■') Entziffert von F. LI. Griffith. ^Vgl. dessen Meroitic Inscriptions, Archaeological Survey of Egypt, vol. XIX, Zeichentafel p, 49; dazu Kurth Sethe, Nachr. Gott. Gesellsch, d. Wiss., phil,-hist. Gl. 1917, Heft 3, S. 46S f. Vor allem aber Griffith, Karanög, the Meroitic inscriptions of Shablul and Karanög, Univ. Mus. of Pensylvania 1911, p. 11.
Zu Demokrits Wanderjahreii. 205
zeichen aus der ägyptischen Hieruglyphenschrift al>- geleitet ist und wie diese „deutlich erkennbare Bildzeichen in äg^-ptischer Zeichenweise .... mit einem ihrem ur^prünghchcn ägyptischen Gebrauch entsprechenden Lautwert" (Sethe a. a. 0.;
z. B. □ — äg. ein Sitz oder Thron — für p; m ^^ eine ^.Eule". ägypt. uot; r <z:> = ägypt. ro „Mund" usw.) verwendet, dazu noch vier Vokalzeichen, für a den sitzenden Mann ^, die Straußen- feder p für 9, den Ochsenkopf Ö' für e, und für i den rufenden
Mann T, das ägyptische Determinativ der Interjektionen, ins- besondere des mit dem Schilfblattzeichen = / (l = Schilf) und diesem Bildchen geschriebenen Ausrufs (1 ^ ,JI'^
Diese Schrift ist nur auf offiziellen Tempelskulpturen aus der hellenistisch-römischen-^**) Periode neben einer zur gleichen Zeit gebrauchten Kursive gleichen Ursprungs und Systems erhalten ^ alle früheren meroitischen Staatsinschriften u. dgl. — litterarische Papyri o, dgl. sind nicht erhalten — bedienen sich der gewöhnlichen ägyptischen Hierogfyphen. Aber da schon Herodot 2 ,9 Meroe als Hauptstadt (wohl seit dem 6. Jahrhundert) des großen Aethiopenreiches kennt, dessen Priester- staat den Griechen 2^) als Ideal eines weisen Staatsregimentes galt, bis der nach Diodor griechisch gebildete König Ergamenes unter Ptoleniaeus IL die Herrschaft dieser Theokratie zerbrach — existiert hat das Reich Meroe bis gegen 2(>ü n. Chr. — ; da ferner die Berichterstatter Kaiser jN'eros die Stadt Meroe schon in Trümmern liegend vorfanden^**), und die höchste Bhite des nubischen Reiches zwischen 800 und 650 v Chr. anzusetzen ist, wo das meroitische Reich über Ägypten herrschte und selbst den Assyrern selbstbewußt entgegentrat, so steht nichts der Annahme entgegen, daß diese meroitiK'he Schrift schon viel früher geschaffen worden ist, als sie
2^-'') Griffitli, Karanöii' p. 20: ,,pr()visionally we may attribute the arcliaic inscriptions of Dakka to the interval between the Ptoleiuaic and Koinan occupatious of the Dodekaschoinos . . Tlie titles of the Meroitic kings in ileroite hieroglyphic are niodelled on thoseoftlie later Ptolemaic kings or tlie Roman eoiperors and there is uo probability that the alpliabeth was in use before tlie tliird Century B. C."
") Diodor :5, 6, 8: Strabo 820, 822.
^) Plin. ß 3r,-
206 Robert E i s 1 e r ,
für offizielle Denkinüler in Gebrauch genoinine]i wurde — ähnlich etwa wie in Athen die Behörden bis 403 v. Chr. sich dem anit- hchen (Gebrauch des bei den Athenern privatim seit langem üblichen jonischen Alphabets hartnäckig widersetzten. Es mag sein, daß die ineroitischen Priester diese einfache alphabetische Schrift erst dann anzuwenden gestatteten, als sie selbst die schwierigen, nach Hunderten zählenden, echt ägyptischen Hiero- glyphen nicht mehr recht schreiben und lesen konnten, ^^j .Das Zeugnis jenes demokriteischen Schriftentitels — das der Aegyptologe bei Leemans a. a. 0. leicht hätte vorfinden können — • hat Griffith zur Datierung des meroitischen Alphabets heranzuziehen übersehen: selbst wenn nämlich diese Schrift unecht gewesen wäre, müßte sie zur Zeit des 36 n. Chr. verstorbenen Astrologen Thrasyll, Kaiser Neros Lehrer, der sie kataiog'siert hat, schon existiert haben, wo- durch allein schon Griffith 's Ansatz gegen die von andrer Seite vertretene Datierung der meroitischen Inschriften ins 3. bis 5. Jhdt. n. Chr. vollständig gesichert wird.
Dagegen hat Griffith, Karanög, p. J2 sehr richtig darauf hin- gewiesen, daß Diodors Behauptung (IHS): „ra . . . ff(»« yjüov^ieva YQiiiqiiaa :xa{>u iilv rote AiyvjiTioic fiovovc yivo'jOxeir tov^ h(jtTs .TiiQu TO)V rraTHjcji- tv a.-r(>{>(t/JT()ig /nci'f)'ärovTag jrccQa de toIc. Ali) io i\u r äjrc.vTac toi'toic yjj Tj o >) i'. i tovq tc.toiJ' nur dann zutreffen kann, wenn das einfache, bloß aus 23 Zeichen be- stehende m e r 0 i t i s c h e Hieroglyphen a 1 p b a b e t gemeint ist. Das können auch die ungelehrten Kubier ohne weiteres gebraucht haben. Mit diesem Beleg, der sicher aus Agatharchides von Knidos ab- geschrieben ist, der wiederum amtliclie Urkunden des Ptolemäischen Staatsarchivs benutzen konnte, reicht die Bezeugung der Meroe- schrift schon in die Mitte des 2. vorchristlichen Jahrnunderts, in die Zeit Ptolem.äus' VIII. Philometor Neos zurück.
Innere Gründe gestatten aber noch weiter zurückzugreifen. Setlie (a. a. 0. S, 468) meint, vermutlich wegen der meroitischen Vokalzeichen überhaupt und weil diese nubischen Denkmäler ein langes von einem kurzen e (/y, s) unterscheiden, daß das meroitisolie Alphabet nach dem Vorbild des griechischen ausgewählt worden
■^1) .In Ägypten selbst hört die Kenntnis der Hieroglyphenschrift zur Zeit des Kaisers Decius vollständig auf. An ihre Stelle tritt für die Aufzeichnung der ägyptischen Sprache das griechische Alphabet mit den wenigen koptischen Zusatzzeichen.
Zu Deniokrits Wanderjalneii. 207
sei. So nahe diese Annahme liegt, so wenig scJicint sie mir das richtige zu tieffen. J)ie unter dem Einfluß des Griechischen ent- standene hieroglyphische Vokalhe Zeichnung bei der Umschrift griechischer und lateiniscl er Kamen der hellenistischen Zcit-^-) .-iel t
ganz anders aus. ^^= ' ür <^ £, "•' 1=3= '•? ^■. >h "^ ; \\ = ' i*"" a, t, fo: S = w für o. cj. er: H = jj für m, i : ^^U ' jj = «/ ; ^^. ^ ' cj, (ci-, <> usw. Auch die Vokalbezeichnung bei per- sischen Namen^s) — ^^ = ' für a, ^ = u, o, \^ = i — die offen- kundig dem Vorbild der sogen, matres lectionis ', j, v für a, i, u'5 des von den Persern als Amtsschrift gebrauchten aramäischen Alphabets nachgebildet ist, erklärt nicht die besonderen meroitischen
\^okalzeichen, höchstens den Gebrauch des -L) = w ' für o/^. der ]uit großer Wahrscheinlichkeit auch für das meroitische anzunehmen ist. "Wenn die meroitische Schrift diese bequeme, keinerlei Ver- wechslungen verursachende Verwendung des ,, Geiers" für a, des \\ für i, des Knotens oder des Kückens für o/■^^ nicht zugleich ]iüt den sämtlich aus der ägyptischen Zeichenliste stammenden Konsonanten^^) übernommen hat, so liegt doch der Schluß am nächsten, daß ihr Erfinder eben vor dem Auf- kommen dieser Art von Vokalbezeichnung, also vor der Perser- herrschaft über Ägypten und Nubien unter Kambyses ge- lebt hat.
In der Tat erklärt sic'h die Wahl der besonderen meroitischen Zeichen für a, i, e und e unschwer ganz unabhängig von der aramaisierenden oder hellenisierenden Vokalbezeichnung im Ägyp- tischen. Vom ^ für A bzw. anlautendes ' hat schon Griffith. Karanög, p. 12 gezeigt, daß es einfach auf die ägyptische Schrei- bung )^l für das prothetische 'Alef zurückgeht, die auch in der hiero- glyphischen Schreibung äthiopischer Eigennamen häufig angewendet
■'-') Erman, äg. Gramm.-^ 1911, § 37 S. 23.
"3) Sethe, Nachr. d Gott. Ges. Wiss., 191(1, H. :', gesch. Mitt. S.ll^,, 18 g. Griffith, Bieroglyplis (Archeol. Snrvey of Egypt, 6t1i mem.). honfkm 189y, p. ob.
■i+) Das von Sethe, Nachr. d. Gott. Ges. phil.-hist. Gl. 1917 H. 3 S. 4(;'J als rätselhaft angeführte Zeichen für te ist nach Maspero ilas Deter- minativ Y fi'i' „hand" (kopt. TQ = ,,Land'").
p
208 RobertEisler,
wird. ^, später T ist das bezeichnenderweise auch schon im alt-. iNcnitischen Alphabet der Sinaihalbinsel ^'^j für den als Rufzeichen hej ! gefaßten Buchstal)en H herübergenomniene Determinativ der
Rufworte h i '•' ('<• S. 205) und ^pl he! also ein ganz, analog
wie das griechische fi — h" — aus dem phoenikischen Hej ent- standenes Vokalzeichen. So weit ist" eine selbständige bodenwüchsige Entwicklung aus der ägyptischen Hieroglyphenschrift denkbar.
Dagegen könnte der Schrifterf Inder sein un- ägyptisches Vorbild gar nicht genauer bezeichnen, als er es mit der Wahl seiner beiden E -Zeichen Ö' = e und
= 8 getan hat. Vom ersteren sagt schon Sethe-a. zulezt a. a. 0.: ,.das Auftreten des Ochsenkopfes, der nn semitischen Alphabet so bezeichnend hervortritt, hier unter diesen vier von den Meroiten eigens ausgewählten und selbständig l)ewerteten Zeichen berührt sehr eigentümlich. Es ist um^ so befremdender, als der Ochsenkopf gerade in der späteren Hieroglyphik kaum noch vorkommt. Man könnte versucht sein, an irgend- welche Beziehungen zu Abessinien zu denken, hätte das Aleph- Zeichen sich nicht gerade im Südsemitischen fast bis zur Unkennt- licltkeit verändert, hätfe niclit gerade dort die Vokalbezeichnung durch selbständige Zeichen ganz gefehlt und wäre bei den andern Zeichen auch Spuren eines solchen Einflusses zu bemerken."
Man wundert sich, wie Sethe an dem naheliegenden Auskunfts- mittel vorübergel en konnte, statt des von ihm selbst mit triftigen Oründen ausgesclilossenen abessynischen Einflusses, den der ägyp- tischen Juden einzusetzen, die in Elefantine und in der geradezu „Handel" (suen), „Mark^" genannten Stadt Syene seit Psammetich II, bis zur Zeit Hadrians, ja vielleicht noch viel länger als Grenzgarnison und Umschlagshändler zwischen Ägypten und Nubien lebten und nach dem Zeugnis ii rer eigenen Papymsurkunden'^^) schon vor Kambyses (525 V. Ohr.) einen großen fünf torigen' Tempel besaßen.
"'■j S. Setlie a. o. A. .S4 a. 0. S. 444 cf. 4(39. Deu kenitischen Ur.sprung <ler von Petrie entdeckten Inschriften erweist meine Entzifferung in deu „Bibl. Zeitschrift" 1918 IL -1 u. :5.
■■"') S. Sachaus o. S. 189.., angeführte Ausgabe der Papyri Ton Klefantine und Saj'ce-CoAvley, Arainaic Papyri of Asbuan, Oxford 1906. Staerk, Anfänge der jüd. Diaspora. Beilieft der Or. Lit. Zeit. 1908.
Zu Dcuiokrits Wandcrjahieii. 209
Leuten, die das Kind ^7^ 'elef, den Buchstaben n aber n;.ch der alten östlichen Aussprache alif nanntwn, mußte es natürlicli sein, den auch in ihrem Alphabet vorkommenden Üchseiikopf für V und o (s. Griffith Karanög a.a.O.) zu verwenden.
AVenn möglich noch seh lugender wie der Ochsenkopf — der ja schließlich auch im Griechischen zum Vokalzeichen (A = y) ge- worden ist — weist die Sethe ganz rätselhaft gebliebene, von Griffith unmethodisch als Verwechslung mit dem „Schilfblatt^' (o. S. 207 Z. 1) = i erklärte ,. Straußenfeder" für a auf j ii d i s c h - a r a m ä i s c h e n Ein- fluß hin: R ist bekanntlich ein ägyptisches Wort- bzw. Zweisilben- zeichen mit dem konsonantischen Wert sw, dessen Verwendung zur Bezeichnung des kurzen e jedem rätselhaft bleiben nmß, der nicht daran denkt, daß sawa' die jüdische Benennung des kurzen bzw. stummen e ist, und ywar zunächst natürhch des Lautes selbst und nicht des erst später eingeführten Vokalzeichens^^),
3')tWenn Kahle iu Bauer-Leander, Hist Gramm, d. liebr. Sprache, Halle 191S S. 98 sagt: „die A'okahaamen sind natürhcli später als die A'okalzeichen", so bestätigt dieser Satz das gerechtfertigte Vorurteil gegen Behauptungen, in denen der feh'ende Beweisgrund durch das Wort „natürlich" ersetzt ist. Gerade bei einer vokalisch polyphonen Silben-, sogea. Konsonantenschrift wie der kananäischen mußte beim Unterricht in der Lesekunst von jeher ein Bedürfnis für Aust;piache- bezeichnungen je nach dem wechselnden \'okalwerr. der Silbenzeichen empfunden werden. Wie sollte ein Qar7i' in der richtigen Aussprache zweifelhafter Stellen unterrichten oder ein Schriftgelehrter mit dem Andern über zweifelhaft vokali^ierte "NVovte streiten, wenn es keine Namen für die qöloth Ufwvui, Vokale) gegeben hätte? Phonetisch a, u, i, <>, u ^hat man sie sicher nicht genannt'. Im übrigen sind auch die V^okal- und Lesezeichen viel älter, als jetzt angenommen wird. Der Geiuinations- ])ankt hat sich eben erst in den altkenitischen Inschiiften gefunden (Bibl. Zeitschr. 191S Heft 1), diakritische Punkte kennt die hieratische Schrift d-r Ägypter (Montet, Zeitschr. f. äg. Spr. 48, 1912, 8.96 ff), eine superlineare Vokalbezeichnung der hl. Schritt haben schon Schriftgelehrte des Kreises um Akiba eingeführt, um ein Gegengewicht gegen die Ver- breitung der in griechische Buchstaben umgeschriebenen Schrift rollen (Codices ebraeo-graeci) zu schaffen. (Eb. Hommel, Untersuch, z. hebr. Laut- lehre, Leipzig 1917 p. XXVH. über meine Neuausgabe des Sefa .Jezira». Wenn Kahle S. 109 sagt: „daß der Terminus Swa jung ist, beweist z. B. Saadja i9. Jahrh. A. D.), der bei der Erwähnung des Namens in se'^nem Jezirakommentar ausdrücklich hinzusetzt: .,ich meine zwei Punkte über- einander", so gilt der Schluß selbstverständlich nur für das Zeichen, das Saadja von dem gleichbedeutenden der babylonischen Punktatoren unterscheiden will.
2.10 Robert E i s 1 e r
als eines „^w'" = „nichts" — also entweder = „kein Vokal" oder = „(bloßes) Geräusch" „(bloße) Luft"/^«)
.Oemnach wird das ganze nieroitische Alphabet eine Erfindung ägyptischer Juden sein, die im Verkehr mit den karischen und griechischen Heeresgenossen, deren Namen vom nubischen Heerzug her in Abu Sini))el heute noch eingekratzt sind, die Vorteile der von den Griechen erfundenen Vokalbuchstaben rasch begriffen haben und sich überdies aus naheliegenden Verkehrsrücksichten ver- anlaßt gesehen haben mögen, ihr einfaches, handliches Alphabet in ein hieroglyphisches, ebenso einfaches, aber auch ägyp- tisierten Kubiern und Ägyptern phonetisch ohne weiteres lesbares und für deren Sprachen gleich brauchbares umzusetzen. Daß sie mit dieser völker- verbindenden, echt jüdisch-universalistischem .Oiasporageist ent- sprungenen P^rfinclung, für die nach der persischen Er- hebung der aramäischen zur Weltverkehrsschrift keinerlei Be- dürfnis mehr vorlag, bei den bilchmgsstolzen Ägyptern weniger Gegenliebe fanden als bei "den Nubiern des ,, elenden Kusch*, daß aber selbst dort die gelehrten Priester diese neue kosmopolitische .,Jederniannsschrift" (eher et enos) und Esperantostenographie erst nach langem Widerstand zum öffentlichen Gebrauch zuließen, ist genau das, was man a priori erwarten würde. Eme auf diese Art von den Juden von Svene und Elephantine unter der 26. Dynastie ge- schaffene Schrift aber kann Demokrit ohne weiteres in Meroe kennen gelernt und zum Gegenstand einer kleinen palaeographiscLen Ab- handlung gemacht haben.
Ja, die höchst eigentümliche Tatsache, daß Chaeremon (bei Tzetzes^ö)) und Diodor HI 11 (also Agatharchides von Knido^. bis gegen 13L v. Chr.) die ägyptischen Hieroglyphen aethiopische Schrift nennt und behauptet, die Ägypter hätten, wie ihre ganze Kultur, auch die Schrift von den Aethiopen
"'8) Wohl onomatopoetisch: ägypt. kw =^„Luft", „Leere"; vgl. das Ezech. .-^Sg Prov. 1.; parallel mit ,.vSturmwiDd" gebrauchte sw'h „Unwetter'-. Auf die Bedeutung „Geräusch" führt sw' „Üucheu"', vielleicht wörtlicli „einen Krach", „ein Wetter machen", „lärmen". Die Bedeutung „nichts" — sw' = IttI /juTufM „für nichts" wäre aus „Luft", „Wind" (flatus vocis , ähnlich wie bei „hebeh' „ein Hauch", „ein Nichts", aber natürlich auch von „(bloßes) Geräusch" aus zu gewinnen. Bei Aristoteles ist der Kon- sonant im Gegensatz zur (piovi] des Vokals ein bloßer (/'oV/ioc.
39j Vgl. 0. Anm. -JG.
Zu Dcmokrits Waiulerjahien. 21 L
ontleliiit, erklärt sich am einfachsten, wenn auch schon Demokrit — der an der Praecxistenz einer alphabetisclien Schrift, wie icli nocli zu zeiiien lioffe. seiner akustischen Theorien wo2;en stark interessiert war — die einfache pJionetisch-alphabetisclie Hieiogiyi)hik von Meroe als Urform der viel komplizierteren ideographisch- phonetischen ägyptischen 1: ingestellt hat, ähnlich wie neuere Ge- lehrte aus dem — in Wirklichkeit auf ganz besondere abergläubisch" Vorstellungen zurückgehenden Überwiegen phonetischer Schreibungeji in den Pyramidentexten — einen ursprünglich rein phonetischen, ja alphabetischen, erst später so künstlich pictographisch gewordenen Charakter der Hieroglyphenschrift erschheßen zu können glaubten. Nur so könnte man auch bogreifen, daß Demokrit als Gegenstück zur Keilschrift nicht das zweite überragend wichtige voralphabetische hchriftsystem der alten Welt, die ägyptischen Hieroglyphen, sondern die verh.ältnismäßig unbedeutenden bloß epidiori sehen uqci -/Qa/timTa von Meroe behandelt hat.
Nachtrag.
Zu S. 190 Anm. 2 : Für babylonischen Ursprung der Achikar- geschichte traten schon Reinach, Rev. des etud. Juives, 1899, 12 f. : Meißner, Arch. 1. Rel. AViss. 1902, 234 f.; Vetter, Thool. Quartals- schrift 1905, 535 ff.: Nau, a. o. S. 1892 a. 0. S. Il8 ff.; Steuernagel, Einl in das A. Test. § lÖTg, Meißner a. o. S. 1892 a. 0. entschieden ein.
Zu S. Wlßaa- l^^ör ..Achikar" war von Anfang an eine pädagogische Jugendschrift, ein moralisches Schullese- buch, ebenso wie die von Meißner a, a. 0. S. 27 treffend ver- glichejien Lehren des babylonischen Sintfluthelden .,für -eine Kinder", die — nebenbei bemerkt — wie der ,, Achikar' auch schon den Befehl Böses mit Gutem zu vergelten, enthalten.
Zu S. 20224: Über die Zenobiosinseln, heute Kuria Muria. s. Peripl. m. Erythr. 33, Müller, geogr. gr. I 283. Eine davon heißt heute noch Hellaniah, trug also einst eine griechisclie (ptole- mäische) Marinestation für den Verkehr nach Taprobane-Ceylon.
Auf Sokotra griech. „Dioskoridu" = Diu (doipa) Suka- tara ..glückliche Insel" mit seinem indischen Namen könnten die Griechen schon das Deoanagari-Alphabet angetroffen haben, das die Vokale durch larad/jj^iaTi^siv dei Konsonantenzeichen wie das Äthiopische ausdrückt.
X.
Zeit- und Streitfragen der modernen Xenoplianesforschung.
Von
Dr. David Einhorn.
I.
Die xenophaneische Lehre von dem Verhältnis Gottes znr Welt hat bis nun trotz allen Bemühungen der hergebrachten Forschung keineswegs aufgehört, ein überaus schweres und ver- wickeltes Problem zu bilden. Ein Maß für die Verworrenheit der bisherigen Xenophanesforschung gibt bereits die bloße Zu- sammenstellung ihrer Ergebnisse, die uns einen Aufschluß darüber zu vermitteln haben, wie Xenophanes, der Pantheist, sich seine Gottheit gedacht habe.
Wenn wir uns nun auf die bedeutenderen Erscheinungen auf dem Gebiete der Xenophanesforschung beschränken, so zeigt sich uns folgendes wenig erfreuliches Bild') des Grundzuges der bisherigen Leistungen:
Daß die Gottheit des Xenophanes mit dem H i m rri e 1 iden- tisch sei, das ist die Meinung Lewe's. In seiner „Geschichte der Philosophie" I. S. 155, heißt es: „Das tiefblaue unendHche Ge- wölbe , . . ., das, erklärt er, sei Gott."
Daß Xenophanes unter dem Begriff der Gottheit nichts an- deres als die Erde verstand, das ist die Ansicht Dörings. In
1) Ich entnehme fliese Übersicht meiner vor kurzem erschienenen Arbeit: ..Xenophanes, Ein Beitrag zur Kritik der Grundlagen der bis- herigen Philosophiegeschichte". Wien und Leipzig. 1917. S. 43 ff.
Zeit- u. t?treitfragen d. moJeinen Xenophaiiesforschuug. 213
seinem Aufsatz über Xeiiüphaiies in den „Preußischen Jahr- büciiern" Bd. 99 S. 297 sagt er z. B,: „An dieser Stelle muß die Annahme, daß Xenophanes unter dem kugelfcirmigcn Gott ledig- lich die Erde verstanden hat, fast zur Gewißheit werden." Vgl. Döring, (ieschichte der griechischen Philosophie", S. 75, 79.
Daß Xenophanes seine Gottheit als den Weltstoff sich gedacht hat, das behauptet z. B. Döring. In der eben angeführten Abhandlung S. 295, erklärt er: „Aus diesen beiden Stoffen seines Gottes nun wird alles in der Welt abgeleitet." S. 298: „Der kugelförmige Gott war einmal ein denkender und zugleich emp- findender Lehmklumpen".
Daß der Bgriff der Gottheit Xenophanes zufolge dem der W e 1 1 s e e 1 e gleichzusetzen sei, urteilt z. B. Gomperz. In seinem berühmten Werk „Griechische Denker" P, S. 130, führt er aus: „Es ist dies kein Schöpfer des Universums, kein außer- und überweltlicher Gott, sonder wenn nicht den Worten, so doch der Sache nach eine Weltseele, ein Allgeist."
Die Gleichstellung des Begriffes der Gottheit dem der W e 1 1 - kraft wird dem Xenophanes z. B. von keinem Geringeren als Natorp, dem sich Kinkel, N. Hartmann, Huit anschheßen, beigelegt. In den „Philosophischen Monatsheften" Bd. 25 S. 213 finden wir die Worte Natorps: „ . . . daß ihm das Eine oder Gott nicht so sehr den Weltstoff als die (zugleich vernünftige) Weltkraft bedeutete.
Daß die Gottheit dem Xenophanes mit dem Welt vollstän- dig zusammenfiel, ist die Ansicht Zellers, Überwegs, Kerns, Freu- denthals, Gomperz, Dörings, Bäumkers u. a. (Belege in unserer genannten Abhandlung). -
Daß die Gottheit des Xenophanes ein Wesen ist, dessen Erscheinung die Welt bildet, diese Ansicht vertritt Zeller. In seinem großen Werke: „Die Philosophie der Griechen" r, S. 537, äußert er sich folgendermaßen: Gott und Welt verhal- ten sich hier wie das Wesen und die Erscheinung. Vgl. Lewes, Geschichte der Philosophie I. S. 158.
Daß Xenophanes seine Gottheit mit einem Wesen identi- fiziert hatte, dem gegenüber der Welt nur ein scheinbares Sein zukommt, behauptet endüch Kern.
Archiv für Geschichte der Philosophie. XXXI. 4. 15
214 D ii V i d ]^ i 11 li 0 r u ,
Ähnlich V. Arnim, Kultur der Gegenwart I, V. S. 129: „Dieser üott ist zwar das All, aber nicht die Welt . . ."
^^s ist somit eine Tatsache, daß uns in der bisherigen Xeno- phancsforschung nicht eine einzige, sondern mehrere vonein- ander grundverschiedene, einander auf das schroffste wider- sprechende Meinungen 'über das Wesen des xenophanischen Gottesbegriffes entgegentreten.
Dieser Stand der Dinge offenbart sich bereits dem ersten Anblick. Wenn wir jedoch tiefer in die Struktur der einzelnen, zumal der hervorragendsten Abhandlungen über Xenophanes ein- dringen, stellt sich alsbald heraus, daß das Chaos ein noch un- gleich größeres und gefährlicheres ist, da nicht bloß das quot capita tot sententiae an dieser Stelle zur Wahrheit wird, sondern in jeder von den bisherigen Darstellungen der xenophaneischen Lehre unvermerkt über das „Hauptprinzip" zugleich mehrere, ergo einander wiedersprechende und ausschließende Meinungen ausgesprochen werden.
Ein klassisches Beispiel für diesen überraschenden Sachver- halt bildet u. a. die Zellersche Darstellung der xenophaneischen Gotteslehre. Während Zeller in seinem Werk „Die Philosophie der Griechen" I"', S. 533, unter Berufung auf Aristoteles und Theophrast behauptet: „er (sei. Xenophanes) habe das eine Welt- ganze für die Gottheit erklärt", I", S. 535: „er habe das eine Weltganze der Gottheit gleichgesetzt", während also Zeller auf den Seiten 533 und 535 die Identität von Gott und Welt in der Lehre des Xenophanes annimmt, unterscheidet derselbe auf der Seite 537 desselben Werkes, indem er völlig vergißt, daß. wenn Gott und Welt identisch sind, sie schon keineswegs nicht identisch sein können, geradezu auf das nachdrücklichste zwischen Gott und Welt, ja, er nimmt einen schlechthin unüber- brückbaren Gegensatz von Gott und Welt in der Lehre des Xenophanes an, inedm er dort lehrt: „Gott und Welt verhalten sich hier wie das Wesen und die Erscheinung," indem er ferner auf derselben Seite 537 und Seite 554 die Gottheit als „welt- bildende Kraft" der Welt gegenüberstellt, indem er weiter auf derselben Seite 537 die Gottheit nicht mehr als Welt, mit der sie doch auf den Seiten 533 und 535 so bestimmt und entschieden identifiziert wurde, sondern als „allgemeine Naturkraft" auffaßt,
Zeit- 11. Streitfragen il. modernen Xenopluinesforsdiung. 215
indem er die üottlieit als (S. 538) „Weltursaclie", als (S. 540) immanenten . „inneren ürund der Dinge", als (S. 527 und S. 537, Anm. 1) „den letzten Grund, der Dinge" der Welt gegenüberstellt, indem er endlich teils schweigend, teils ausdrücklich geradezu mit polemischem Nachdruck einen Gegensatz zwischen Gott und Welt in der Interpretation der xenophaneischen Fragmente und der sekundären Quellen voraussetzt.
Ähnlich steht es mit den Darstellungen von Freudenthal, Gomperz. Kern, wie ich in meiner genannten Abhandlung über Xenophanes nachzuweisen suchte.
Damit ist uns die gesamte Xenophanesforschung in bezug auf ihren wissenschaftlichen Charakter schlechthin unhaltbar ge- worden, — sofern nicht der letzte Rettungsversuch sich als heil- bringend erweisen sollte, der Versuch, den H. F. Müller in der Berliner Philologischen Wochenschrift vom 15. Dezember 1917 S. 1545 ff. zur Verteidigung der Zellerschen Auffassung unter- nommen hat.
Müller will keineswegs annehmen: „Fs soll ein krasser Widerspruch sein, daß Zeller einerseits mit Berufung auf Aristo- teles und Theophrastos behauptet, Xenophanes habe das eine Weltganze für die Gottheit erklärt oder der Gottheit gleichge- setzt, also Pantheismus gelehrt, und andererseits die Gottheit des Xenophanes als weltbildende Kraft, als allgemeine Natur- kraft, als Weltursache, als inneren und letzten Grund der Dinge bezeichnet, dem Philosophen also eine Entgegensetzung von Gott imd Welt zuschreibt". (S. 1545 ff.)
Zur Begründung seiner Auffassung meint er zunächst: „Schade, daß Einhorn den, wie er wohl weiß, mehrdeutigen Be- griff des Pantheismus nicht definiert und seine eigene von der Zellerschen abweichende Auffassung nicht angibt. Dann würde sich herausgestellt haben, daß im Sinne Zellers keinerlei Wider- spruch vorliegt." (S. 1546).
Ich muß nun gestehen, daß mir die Logik dieses Schlusses in gar keiner Weise einleuchten will. Zunächst ist es mir uner- findlich, wozu ich in einer historischen Abhandlung über Xeno- phanes eine eigene Defination des Begriffes des Pantheismus auf- stellen sollte? Es handelt sich doch hier nicht darum, was ich unter dem Begriffe des Pantheismus verstehen will, sondern wie
15*
21 ö D a V i d E i n h 0 r u ,
Xenophanes das Verhältnis von Gott und Welt in seinem System auffaßte. Ferner aber ist es bereits überhaupt unbegreif- lich, wie daraus, daß i c h den Begriff des Pantheismus definiert und meine eigene von der Zellerschen abweichende Auf- fassung angegeben hätte, sich jemals herausstellte sollte und könnte, daß im Sinne Z e 1 1 e r s keinerlei Widerspruch vorhege. Allerdings bin ich Müller zum Danke für dieAnerkennung ver- pflichtet, die in seiner ausgesprochenen Erwartung liegt, daß aus meiner Definition des Pantheismus und aus meiner Auffassung sich die Einsicht in die Widerspruchslosigkeit der Zellerschen Auf- fassung ergeben würde. Nur ist eine kleine contradictio in adiecto nicht zu übersehen: Würde Müller meinerseits eine Definition des Pantheismus erwarten, die mit der Zellerschen Auffassung übereinstimmt, so könnte er vielleicht irgendwie hoffen, d-aß sich daraus herausstellen würde, daß im Sinne Zellers keinerlei Widerspruch vorhege — falls Zeller nur nicht mehrere Auffassungen vertreten würde! Erwartet er aber im Gegensatz dazu, daß ich den Begriff des Pantheismus in eigener, von Zeller abweichender Weise bestimme, wie vermag er da noch zu hoffen, daß ich aus einer gegensätzlichen Bestimmung die Ein- sicht in die Widerspruchslosigkeit des- Zellerschen Standpunktes ergeben werde?
„Mit vollem Recht" — meint Müller fortfahrend — „durfte Zeller sagen, Gott und W'elt verhielten sich wie das Wesen und die Erscheinung".
Indes, wo ist nur eine Spur von einer primären oder selbst sekundären Quelle vorhanden, die Zeller und den sich ihm an- schließenden Müller dazu berechtigen würde, dem Xenophanes die Lehre zuzuschreiben, derzufolge Gott und Welt sich so ver- halten, wie das Wesen und die Erscheinung? Ja wo gibt es in aller Welt eine Quelle, die eine Grundlage dafür abgeben könnte, Xenophanes die Unterscheidung solcher Begriffe wie das Wesen und die Erscheinung überhaupt beizulegen? Das ist für den Kundigen offenbar eine Übertragung ungleich späterer Produkte des abstrakten Denkens der Menschheit auf viel primitivere Zu- stände und damit eine Fälschung, vor der sich vornehmlich der Historiker unter aller Umständen auch Zeller zufolge in Acht nehmen muß!
Zeit- u. ."Streitfragen d. modernen Xenophanesforscliiing. 217
Letzthin durfte aber Zeller — abgesehen von allen genannten historischen Schwierigkeiten — im Sinne einer immanenten Kritik seiner Darstellung keineswegs die Behauptung aufstellen: Gott und Welt verhalten sich hier wie das Wesen und die Erscheinung, nachdem er bereits auf das bestimmteste Gott und Welt vorher gleichgesetzt hatte. Ks ist doch wohl für jedermann klar, daß w enn Gott und Welt identisch sind, sie in keiner Weise zugleich verschieden sein können — und somit auch nicht in der Weise einander gegenübergestellt werden dürfen wie das Wesen und die I:rscheinung>
Müller argumentiert weiter: „Einhorns Behauptung dagegen, Wesen und Erscheinung seien „einander geradezu diametral ent- gegengesetzt" wie Gott und Welt, halte ich für falsch. Das Wesen ist es, das erscheint; soviel Schein, soviel Hindeutung aufs Sein; die Erscheinung ist es, in der sich das Wesen den Sinnen offen- bart."
Zunächst eine formale Berichtigung. Ich habe nirgends be- hauptet: Wesen und Erscheinung seien einander geradeso dia- metral entgegengesetzt wie Gott und Welt, sondern im Gegenteil, ich fand und ich finde in der Zellerschen Aufstellung: Gott und Welt verhalten sich so wie das Wesen und die Erscheinung, eine diametrale Entgegensetzung von Gott und Welt.
Müller bestreitet nun die Richtigkeit dieser meiner Auffassung und will folglich beweisen, daß Wesen und die Erscheinung inden- tisch sind. Sollte ihm das selbst vollauf gelingen, so würde er bestenfalls bloß beweisen, daß der ganze Zellersche Ausspruch eine Irreführung des Lesers bedeutet, da sie dort Worte entgegen- gesetzt, wo sie ihre Begriffe identifiziert, dort die logische Pro- Portion verwertet, wo Identität vorliegt. Dieser Beweis würde sich folglich nicht bloß gegen mich, sondern noch vielmehr gegen Z e 1 1 e r richten.
Doch ist der Müllersche Beweis stichhaltig? Sind die Be- griffe Wesen und Erscheinung wirklich identisch und ist die ganze Menschheit, die diese Begriffe unterscheidet, in einem Wahn be- fangen und Müller allein im Recht und dazu berufen, die Mensch- heit von diesem Wahn zu befreien? Müller meint zuvörderst: „Ein Wesen ist es, das erscheint." Allein dieser Satz kann bloß dann einen haltbaren Sinn haben, wenn wir ihm die Formulierung
218 David Einhorn.
verleihen: Ein Ding ist es, das erscheint; ein Ding hat ein Wesen nnd eine Erscheinung. Was für uns sein Wesen ist, daß ist nicht seine Erscheinung, da doch widrigenfalls die Unterscheidung von Wesen und Erscheinung ganz sinnlos wird. Ist die Erschei- iiung das Wesen, so wird das Wort Wesen überflüssig, und wir können einfach behaupten, die Dinge seien keine Wesen und Er- scheinungen, sondern ledighich und allein Erscheinungen.
Die zweite Behauptung Müllers: „soviel Schein, soviel Hin- deutung aufs Sein" paßt zunächst ausgezeichnet zwar nicht auf Xenophanes, doch wohl auf Herbart (vgl. R.Falckenberg. Ge- schichte der neueren Philosophie, 6. Aufl. S. 461). Aus ihr ergibt sich aber noch gewaltiger die absolute Unhaltbarkeit der Müller- schen Auffassung. Denn gesetzt die volle Richtigkeit dieser Be- hauptung, will Müller wirklich daraus den Schluß ziehen, daß Schein und Sein dasselbe sei? Das hat Herbart am allerwenigsten behauptet. Will nun Müller allen Ernstes an- nehmen, was ihm Niemand in der Welt glauben würde?
Endlich selbst wenn das Urteil wahr wäre: „die Erscheinung ist es, in der sich das Wesen den Sinnen offenbart," so iSt doch unzweifelhaft falsch, was Müller eigentlich beweisen will, d. h. daß es das Wesen ist, das sich in der Erscheinung d e n Sinnen offenbart!
Meint aber Müller zum Schluß: „Warum soll ich die Welt nicht vorstellen können als Erscheinung, Entfaltung, Verv/irk- lichung des Einen, Gottes? Alle Dinge sind aus und in Gott, in ihm leben und weben wir. Diese Art des Phanteismus involviert die gerügten Widersprüche nicht," so können wir darauf blos ent- gegnen, daß diese Art des Pantheismus vielleicht von den ge- samten Widersprüchen freizusprechen sei; doch schade nur, daß diese Art von Pantheismus doch offenbar weder mit der Zeller- schen Auffassung noch selbst mit den Quellen über Xenophanes irgendwelche Ähnlichkeit ' habe. Daß die Welt die Entfaltung oder gar Verwirklichung Gottes sei, das hat nicht bloß Zeller, auf den es doch hier ankommt, nirgends behauptet, sondern über- haupt kein ernstzunehmender Xenophanesforscher in der Welt, wie es doch wohl aus der oben angeführten Zusammenstellung der Resultate der hergebrachten Xenophanesforschung erhellt. Das ist eine ganz neue Auffassung der xenophaneischen (jottes-
• Zeit- u. Streitfragen d. modernen Xenophanesforscliung. 21'.'
lehre, die weder mit den Quellen für die Jheologie des Xeiio- phanes, noch mit Zeiler etwas geineinsam hat, sondern lediglich die einzig dastehende Auffassung Müllers ist, wohl nur dazu ge- eignet, das bestehende oben dargestellte Chaos der bisherigen Xenophanesforschung noch zu steigern.
Wer Zeller verteidigen will, muß ihm zu allererst verstehen, er muß sich ferner die Zellersche Auffassung zu eigen machen, nicht aber Zeller eine ihm völlig fremde, aus der Luft gegriffene, mit keiner Silbe begründete Auffassung unterschieben. Vor solchen Verteidigern muß man Zeller aufs entschiedenste schützen, denn was für Mängel auch immer die Zellersche Auffassung auf- weisen mag, sie verdient in keiner Weise die Schmach, daß ihr so eine Apologie zu teil werde.
Wer ferner über Xenophanes urteilen will, der muß die Quellen über Xenophanes verwerten, nicht aber mit unverdauten neuplatonischen Reminiszenzen über Entfaltung oder Verwirk- lichung Gottes in der Welt sein Spiel treiben.
Man muß aber endlich wirklich nur staunen, wie jemand in Angelegenheiten der Philosophiegeschichte mitzureden sich anheischig macht, der es in seiner philosophischen Kultur noch nicht einmal so weit gebracht hatte, das Vorhandensein eines (Gegensatzes zwischen Wesen und Erscheinung einzusehen. Ein ausgebreitetes philosophisches Wissen verlangt ja niemand von 11. F. Müller, wenn auch zugestanden werden muß, daß £s selbst einem Rezensenten philosophiegeschichtlicher Arbeiten nicht schaden könnte. Allein solche Elemente der Propädeutik der Philosophie wie beispielsw^eise die Unterscheidung der Begriffe des Wesens und der Erscheinung sollte er sich entschieden zu eigen gemacht haben, zumal wenn er durchaus die ernste Auf- gabe der Kritik in ernster Weise lösen will. So will ich mir gestatten H. F. Müller z. B. folgende Stelle aus der „Einleitung in die Philosophie" von W^ Windelband zur Kenntnisnahme zu empfehlen (Kap.: Wesen und Erscheinung. S. 26 ff.).
„Die Unterscheidung, welche in diesen Kategorien gedacht wird, ist die Grundvoraussetzung alles wissenschaftlichen und demgemäß auch alles philosophischen Denkens, die allgemeinste Form, worin jenes sich ausspricht. Sie bedeutet, daß man sich mit dem Prima-vista-Bild von Welt und Leben nicht genügen
220 David Einhorn,
läßt, daß man eben dahinter kommen möchte, zu wissen, was das eigentHch bedeutet, was dahinter steckt. Es liegt darin eine unbestimmte Vorstellung, eine skeptische Ahnung, die Wirkhch- keit sei doch noch etwas anderes als der Mensch sie im naiven Wahrnehmen und Meinen auffaßt. Das Wirkliche ist wirklich nicht so, wie es erscheint: die vorläfig im naiven Erlebnis ge- gebenen Vorstellungen haben „nur" den Wert der Erscheinung."
„Diese (jrundvoraussetzung zieht sich durch alles philoso- phische Denken hindurch, vom allen Grübeln gilt, was Mephisto vom Faust sagt, daß er
„weit entfernt von allem Schein, nur in der Wesen Tiefe trachtet."
„ Man nennt das wohl gern das Suchen nach dem Ding- an-sich: aber dieser Name, den wir seit Wolff und Kant da- für anzuwenden gewöhnt sind, bezeichnet eine uralte, längst bekannte Sache."
„Dieser Gegensatz zwischen der wahren und der er- scheinenden Wirklichkeit bedeutet einen Wertunter- schied im Wirklichkeitsbegriffe selber."
„Für das wahrhaft Wirkliche in diesem Sinne hat Piaton den Ausdruck oroic eingeführt, und das geben wir im Deutschen genau mit dem Begriffe des Wesens wieder."
Wie sich nun aus diesen Ausführungen ergibt, verdankt der Einwand Müllers seinen Ursprung einer ganz elementaren Un- kenntnis uralter allgemein bekannter Begriffe der Philosophie. Ein Kommentar scheint uns hier überflüssig.
Da wir die völlige Haltlosigkeit des MüUerschen Versuches, den Schein der Widerspruchslosigkeit der Zellerschen Darstellung zu retten, so endgültig dargetan haben, können wir uns demnach der zweiten Streitfrage zuwenden, die ein allgemeineres Inter- esse in Anspruch zu nehmen geeignet scheint.
II.
Die hergebrachte Philosophiegeschichte hat ein ganz eigen- tümliches Bild von der Lehre de Xenophanes entworfen. Diesem Bilde zufolge löst sich Xenophanes einfach in eine Verkettung
Zeit- u. Streitfragen d. modernen Xenopiianesforschung-. 221
von W'idcrspriiclien und Sinnlosigkeiten auf. Kr ist ein Mann, der zugleich zwei einander absolut ausschließende Standpunkte, den des Intellektualismus und den des naiven Realismus, in bezug auf ein und denselben Gegenstand einnimmt, indem er einerseits in einer xar'fc^'o;^/);- intellektualistischen Weise die metaphysische Lehre vom Einen und allein Seienden aufstellt und anderseits mit einer derartigen Unbefangenheit von der Vielheit der Dinge reden kann, welche ihn unwidersprechlich als einen durchaus naiven Physiker kennzeichnet. Seine Denkweise ist so durch und durch ungeheuerlich, daß er die Behauptung aufzustellen und zu vertreten imstande ist: „Das Eine und allein Seiende ist g a n z Sehen, Hören, Denken, ergo das Sehen, das Hören, das Denken sieht, hört, denkt sich selbst." Er vermag die unbegreifhche Be- hauptung aufzustellen: „Das Eine und allein Seiende bewegt hin und her das All, das Eine und allein Seiende sonder Mühe mit des Geistes Denkkraft, ergo das Allwesen, welches dem Frg. 24 zufolge Sehen, Hören, Denken ist, welches dem Frg. 25 zufolge ewig ruht, ohne sich irgend wohin zu bewegen, b e - w e g t hin und her sich selbst sondern Mühe mit des Geistes Denkkraft." Er lehrt einerseits in einer yMt' Uoy/]r intellektu- alistischen Weise, die Anfangs-, Bewegungslosigkeit, _ Unsterb- lichkeit und Unveränderlichkeit des Einen und allein Seienden, anderseits aber redet er so ganz unbefangen von der Entstehimg, von den Bewegungen und von den Ursachen, dem Vergehen und den Veränderungen der Dinge, als ob es durchaus nicht er ^ein könnte, der doch mit so großem moralischen Ernst, Wucht und Überlegenheit die gewaltige Gotteslehre, die Lehre vom Einen und allein Seienden: die Gottheit oder das Eine und allein Seiende ist unentstanden, unvergänglich, ohne Bewegung, ohne Veränderung, der Welt verkündet.
Gott und Welt sind ihm zugleich identisch und verschieden, unbegrenzt und begrenzt. Er arbeitet mit dem Begriff der Gleichartigkeit und weiß selbst nichts darüber auszusagen, was er eigentlich unter diesem Begriffe verstehe. Von der Gottheit erklärt er zugleich: L daß sie weder sich bewegt noch ruht, 2. daß sie sich nie und nimmer bewegt; daß sie L weder be- grenzt noch unbegrenzt, daß sie 2. unbegrenzt, daß sie 3. kugel- förmig und begrenzt sei.
222 David E i n h o r n ,
Ks gibt der herkömmlichen Forschung zufolge kein einziges bedeutsames Fragment von Xenophanes, daß nicht Widerspruch und Absurdität wäre.
Daraus ergab sich für uns in unserer oben angeführten Ab- handlung der Schluß, daß der Xenophanes der bisherigen For- schung geradezu ein pathologisches Individuum sei: Dieser Schluß klingt nun zu schroff, als daß man nicht geneigt sein sollte, eine zu weit gehende Übertreibung in ihm zu erblicken.
Kann denn ein System nicht als normal bezeichnet werden, dem Widersprüche nachgewiesen wurden? Gibt es wohl über- haupt ein System in der Welt, an dem nicht Widersprüche, In- konsequenzen zu finden wären? So, scheint es, ist es eine willkürliche Beurteilung, die den Xenophanes der hergebrachten Forschung zum pathologischen Individuum macht.
Indes ist diese ganze Beweisführung eben nur scheinbar so fest begründet, ja selbstverständlich. Eine etwas eingehendere Untersuchung wird uns alsbald ihre völlige Unhaltbarkeit dartun. Kann man es wirklich ganz unbedenklich als eine normale Tat- sache hinnehmen, daß durchgängig sämthche bedeutungsvollen auf erhaltenen Bruchstücke des xenophaneischen Gedichtes nichts als Widerspruch und Sinnlosigkeit bedeuten? Gibt es wirklich keine Grenze und keinen Unterschied zwischen dem Normalen und dem Pathologischen im „philosophischen" Denken? Ja, gibt es im eigenen Bereiche der hergebrachten Philosophie- geschichte keine Kriterien für die Bestimmung der normalen philosophiegeschichtlichen Phänomene und ihre Unterscheidung von den pathologischen?
Eine Theorie der Struktur der philosophischen Systeme hat nun bekanntlich z. B. der mit Recht so hochgefeierte E. Zeller gegeben. Ihm zufolge hat jedes System sein Prinzip, aus dem es hervorgegangen ist und in dem alle Annahmen eines Denkers seinen verknüpfenden Mittelpunkt finden. Zur normalen Struktur jeder „Philosophie" gehört mithin notwendig Einheitlichkeit und Widerspruchslosigkeit. Dabei liegt es jedoch in der Natur der Sache, „daß sich nicht alles einzelne in einem System aus seinem Prinzip erklären läßt; daß nicht alles Wissen, das einen Philo- sophen zu Gebote steht, nicht alle Überzeugungen, welche sich ihm, oft lange vor seinen wissenschaftlichen Gedanken gebildet
Zeit- u. vStreitfrageii d. modcrneii Xciiojihant'sforsclnin;:. 2-'-\
haben, niclit alle Begriffe, die er aus den iTiannigfaltijieii Vä- falirungen abgeleitet hat, von ihm selbst mit seinen philosophi- schen Grundsätzen in einen inneren Zusammenhang gebracht sind; daß immer auch zufällige Einflüsse, willkürliche Hinfälle. Irrtümer und Denkfehler mitunterlaufen."
Mit einem Worte: eine Regel, ein Normales ist es, daß fast sämtliche Annahmen vmd Aussprüche eines Denkers mit seinem Prinzip, seiner Qrundlehre in Einklang stehen, daß nur hie und da Widersprechendes und WillkürHches zum Vorschein kommt.
Hieraus ergibt sich nun für uns der Begriff des Patholo- gischen. Rr bedeutet die Umkehrung des Normalen d. h. also. daß fast sämtliche Aussprüche eines Denkers mit seiner (jrund- lehre in Widerspruch stehen, daß nur hie und da Tünklang zutage tritt.
Das ist es aber eben, was uns an Xenophanes der herkömm- lichen Forschung in so überraschender Weise begegnet. Die Grundlehre des Xenophanes, das Prinzip seiner Lehre soll die Ineinssetzung von Gott und Welt sein. Mit dieser Grundlehrc stehen nun nicht die meisten Fragmente im klaren Einklang, so daß bloß an wenigen Punkten ein Widerspruch vorkäme, sondern im Gegenteil: es gibt kein einziges Fragment der positiven xeno- phaneisches Theologie, das nicht zu dieser Grundlehre im schroff- sten Widerspruch stünde, das nicht im Zusammenhang mit dem Prinzip eine völlige Sinnlosigkeit bedeuten würde. Somit ist Xenophanes der herrschenden Auffassung offenbar ein patho- logisches Phänomen,
Diese Konsequenz bestreitet nun merkwürdigerweise H. F. Müller und argumentiert a. a. 0. S. 1547 folgendermaßen:
„Die öfter geäußerte Meinung, Xenophanes sei sich über seine Theologie selbst noch nicht klar gewesen oder habe sich darüber nicht völlig klar augedrückt, verdient keineswegs die höhnische Abfertigung als eine pathologische Erscheinung. Ein genialer Mann und Dichterphilosoph kann sehr wohl divinatorisch gleichsam als geistvolles Appergu, einen Gedanken aussprechen, den er verstandesmäßig und logisch umanfechtbar noch nicht zu begründen oder darzulegen weiß. Auch hier sei an ein Wort des Plotinos erinnert, der über Anaxagoras urteilt, dieser habe zwar
224 David Ein h o r n ,
die rcclitc Lehre vom vuvc aufgestellt, aber als ein Mann grauen Altertums noch nicht klipp und klar zu entwickeln vermocht: TU <r (\y.[>i(i\c iV d{r/iii6zf/Ta .Tico/jxf^ (Enn. V 1, 9)."
Zunächst eine kleine formale Berichtigung: ich habe niemals behauptet, daß die Meinung: Xenophanes sei sich über seine Theologie selbst noch nicht recht klar gewesen etc. eine pathologische Erscheinung sei, wohl aber stellte ich die Behauptung auf. Xenophanes der hergebrachten For- schung sei geradezu ein pathologisches Individuum. Es muß da füglich Wunder nehmen, wie Müller es zustande brachte, des Unterschiedes solcher Sätze sich nicht bewußt zu werden.
Wichtiger jedoch ist eine andere, die inhaltliche Entstellung des hier in Betracht kommenden Tatbestandes. Müller zufolge zog ich aus dem Mangel an völliger Klarheit im Denken oder in der Darstellung des Xenophanes in bezug auf seine eigene Theologie den Schluß auf seinen pathologischen Charakter. Meiner eigenen Arbeit und auch den vorhergehenden Ausführungen zufolge gründete ich aber diesen Schluß nicht etwa auf die Prämisse, Xenophanes habe sich n i c h t v ö 1 1 i g klar ausgedrückt, sondern er habe sich durch ausnahmslos sämtliche uns erhaltenen Sätze seiner positiven Theologie der üblichen Auffassung zufolge die krassesten Widersprüche und Sinnlosigkeiten zu Schulden kommen lassen. Wer zwischen „nicht völlig klar" und „durch und durch widerspruchsvoll und sinnlos" sicher zu unterscheiden vermag, für den ist die völlige Gegens-tandslosigkeit der MüUer- schen Ausführungen ohne weiteres klar und der MüUersche Kampf offenbar ein Windmühlenkampf mit selbsterfundenen Qedanken- konstruktionen, ein Kampf, durch den unsere Ausführungen überhaupt in gar keiner Weise berührt werden.
Damit ist auch der Wert der einzelnen Argumente Müllers so gut wie völlig gerichtet. Wenn es da heißt: Ein genialer Man» und Dichterphilosoph kann sehr wohl divinatorisch gleichsam als geistvolles Appergu, einen Gedanken aussprechen, den er ver- standesmäßig und logisch umanfechtbar noch nicht zu begründen oder darzulegen weiß, — so mag das richtig sein. Allein „ver- standesmäßig und logisch unanfechtbar" darzustellen noch nicht imstande sein, und in jedem Satze, in jedem Gedanken unbe-
Zeit- II. fcitreitfragTU d. motlerneu Xenophaneslorscluiiig. 225
greifliche Widersprüche und Sinnhxsijikeiten begehen, das sind doch zwei durchaus verschiedene Dinge.
Was endhch das Zitat aus Plotinos betrifft, so ist wohl ein rühmliches Zeugnis für das wohlwollende Interesse, das Müller Plotinos entgegenbringt, schade nur, daß es außer Zusammenhang mit unserem wahren Problem steht und daß es bloß eine Fort- setzung im Vorbeikritisieren an meiner ganzen Xenophanesab- handlunu bildet. Denn ro <)' <'r/.(HjftJ: <)i i'^r/c.iÖT/jTic .-ricQ/~iy.i be- deutet doch eben nicht, was es bedeuten müßte, um etwas zu be- weisen, daß er nämlich seine Schrift zu einer bloßen Verkettung von Widersprüchen und Absurditäten gestaltet hatte.
So wird aus dem Ganzen klar, daß wir nun einmal an unserer früliere'n Beurteilung des Xenophanesbildes der herkömmlichen Forschung unbedingt festhalten müssen und daß allerdings gerade die Müllerschen Ausführungen am allerwenigsten geeignet scheinen hierin auch nur die geringste Wandlung herbeizuführen.
Die hergebrachte Xenophanesforschung arbeitet unter ganz eigentümlichen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen. Da Xenophanes der herrschenden Auffassung eine pathologische Er- scheinung ist und dennoch als eine normale in die Kontinuität der Geschichte der Philosophie eingereiht wird, so stehen wir am dem herkömmlichen Standpunkt vor einem Widerspruch, der auf keine andere Weise zu lösen ist als durch die Annahme, daß, was uns heute als ein Pathologisches erscheint, einst in den frühen Kinderstufen des philosophischen Denkens eben ein Normales war. daß, was wir heute unmöglich denken können, die Alten wirklich gedacht haben konnten. Diese merkwürdige erkenntnis- theoretische Annahme wird auch ausdrücklich von keinem Ge- ringeren als J. Freudenthal folgendermaßen formuHert:
„Nun mag es uns, deren geistige Lebensluft der Monotheismus bildet, freilich scheinen, als ob die philosophisch begründete Über- zeugung von der Existenz eines höchsten Gottes mit dem Glauben an das Vorhandensein einer Vielheit von Göttern schlechthin unvereinbar sei. Aber nicht um das, was wir denken und nicht denken können, handelt es sich bei der Rekonstruktion der Qe-
v2i) David Einhorn,
schichte, sondern um das, was die Alten wirkHch gedacht haben," (Über die Theologie des Xenophanes, S. 28).
Mit einem Worte: es besteht ein Gegensatz zwischen dem „was wir denken und nicht denken können" und dem „was die Alten wirklich gedacht haben." Folglich sollen wir das von den alten Denkern wirklich Gedachte ohne Rücksicht darauf er- kennen, ob wir es denken können oder nicht können, das ist aber erkenntnistheoretisch betrachtet, augenscheinlich ein Standpunkt, der hinter dem üblichen Realismus noch sehr zurückbleibt.
^!;s ist wohl unbestreitbar, daß die Forderungen, welche ein richtiger erkenntnistheoretischer Standpunkt an uns stellt, unser Erkenntnisvermögen nie übersteigen dürfen — mögen sie auch noch so viel Schwierigkeiten uns aufbürden, daß die Voraus- setzungen, von denen ein richtiger erkenntnistheoretischer Stand- punkt ausgeht, notwendig augenscheinlich wahr, von niemand im Frnst bestritten und unantastbar sein müssen. Allein der er- kenntnistheoretische Standpunkt der bisherigen Forschung stellt an uns Forderungen, die schlechthin unvollziehbar sind, und geht von einer Voraussetzung aus, die nicht allein nicht augenschein- lich wahr, sondern geradezu absurd ist. Die Forderung, die dieser Standpunkt an uns stellt, bedeutet nichts anderes, wie be- reits oben angedeutet wurde, als daß wir zu denken aufhören. Es heißt hier: wir sollen bei dem Erkennen des von den Alten wirklich Gedachten davon absehen „was wir denken und nicht denken können." Allein was anderes bedeutet davon abzusehen, was wir denken können, als davon abzusehen, was wir denken. Denn immer denken wir nur das, was wir denken können, immer behaupten wir unmittelbar und notwendig die Gel- tung dessen, was wir denken können, indem wir überhaupt den- ken. Sollen wir also die Geltung dessen, was wir denken können, verneinen, dann müssen wir überhaupt nicht denken. Auf welche Weise da noch ein Erkennen möglich sein soll, ist wohl nicht leicht einzusehen. Denn was anderes bedeutet eigentlich das wirklich Gedachte zu erkennen, als das wirklich Gedachte zu denken. Ja, die ganze Realität des zuerkennenden Begriffes wie des Systems eines Denkers hegt für uns zunächst lediglich und allein darin, daß wir sie denken können. Steht aber die Sache so. wie ist es dann möglich, das wirklich Gedachte unabhängig
Zfit- u. Streitfiajioii 'I. imMlcrin-n Xi'iiopliaiR'yfnrschun«;-, 227
davon zu erkennen, ob wir es denken können oder nicht können?! Daß somit diese Voraussetzung, auf die sich der erkenntnistheo- retische Standpunkt der bisherigen Xenophanesforschung gründet, eine contradictio in adiecto ist, wird kaum jemand bestreiten wollen.
Daß es natürüch eine conditio sine qua non der Geschichte als Wissenschaft ist, eine Identität der Gesetze des SeeHschen und Geistigen für alle Menschen aller Zeiten a priori anzunehmen, das sehen auch und geben die Theoretiker der Geschichtswissen- schaften zu, wie es z. B. Bernheim in seinem berühmten „Lehr- buch der historischen Methode" besonders eindringlich betont hatte.
Man sollte nun glauben, daß unsere entschiedenste Zurück- weisung des Freudenthalschen Grundsatzes niemand wunder- nehmen könnte, allein H. F. Müller vermag sich mit ihr in gar keiner Weise zu befreunden. „Halb spöttisch und halb mitleidig" — heißt es S. 1546 ff. — „behandelt E. den Grundsatz Freuden- thals: „Nicht um das was wir denken und nicht denken können, handelt es sich bei der Rekonstruktion der Geschichte, sondern um das, was die Alten wirklich gedacht haben." Ein Grundsatz, der aufgestellt wurde, um begreiflich zu machen, wie Xenophanes trotz seiner Überzeugung von der Existenz eines höchsten Gottes dennoch an eine Vielheit von Göttern glauben konnte. Wir frei- lich, deren geistige Lebensluft der Monotheismus bildet, können das nicht mehr, aber ein. Xenophanes und Piaton, ein Aristoteles und Plotinos, die rings von Polytheismus umflossen waren, konn- ten" es noch. Vielleicht interessiert es unseren gestrengen Kritiker zu erfahren, wie Plotinos diese Diskrepanz denkend auszugleichen sucht. Wo immer ein Gott erscheint, da schaut er die eine Gott- heit ganz, und in dem Buche gegen die Gnostiker Enn. II, 9 sagt er Kap. 9: Nicht bloß die Götterbilder, sondern die Götter selbst schauen von oben auf diese Welt hernieder, und sie werden den Vorw^ürfen von selten der Menschen entgehen, da sie alles in Ordnung leiten von Anfang bis zu Ende .... Außer den guten Dämonen und Göttern in dieser Welt, vornehmlich dem Lenker dieses Weltalls, der Seelen seligster, muß man auch die intelH- giblen Götter preisen und schließlich über all den großen König dort, und namentHch in der Mehrzahl der Götter seine Größe be-
228 David Ei n li o r ii ,
weisen. „Denn nicht das Göttliche in einen Punkt zusammen- drängen, sondern es in seiner Vielheit auseinanderlegen in der Ausdehnung, 'in der er es selbst dargelegt hat, heißt beweisen, daß man die Kraft Gottes kennt, wenn er bleibt, der er ist, aber viele schafft, die doch alle von ihm abhängig, durch ihn und aus ihm sind."
Zunächst nun die Worte: „Halb spöttisch und halb mittlei- dig." Sie enthalten eine durchgängige Fälschung des wirklichen Sachverhaltes, da ich eine streng sachliche erkenntnistheoretische Kritik des genannten Grundsatzes durchführe, eine Kritik, die Müller weder anzuführen noch selbstverständlich anzugreifen ge- wagt hatte. Er zog es eben vor, die Sache sich leichter zu machen und anstatt meinen sachlichen Ausführungen eine sach- liche Behandlung zuteil werden zu lassen, sucht er sich mit ihnen durch das bequemste Mittel: durch die bewußt falsche Klassi- fikation derselben als „halb spöttisch und halb mitleidig" abzu- finden.
Und jetzt die eigene Argumentation Müllers zur Aufrechter- haltung des Freudenthalschen Grundsatzes. Auf das Problem der Möglichkeit der Begründung der philosophiegeschichthchen Forscung auf einen derartigen erkenntnistheoretischen Grundsatz wie der Freudenthalsche geht er überhaupt nicht ein, sondern meint zunächst: „Ein Grundsatz, der aufgestellt wurde, um be- greifhch zu machen, wie Xenophanes trotz seiner Überzeugung von der Existenz eines höchsten Gottes dennoch an eine Vielheit von Göttern glauben konnte." Müller der meine Darlegungen durch bloße Wiederholung mancher Freudenthalscher Worte wiederlegen möchte, weiß eben nicht, daß der ganze von ihm kritiklos approbierte Freudenthalsche Gedankengang offenbar völHg unhaltbar ist. Denn ist zunächst die Behauptung irgendwie lialtbar, daß uns „die philosophisch begründete Überzeugung von der Existenz eines höchsten Gottes mit dem Glauben an das Vor- handensein einer Vielheit von Göttern schlechthin unvereinbar sei," und daß die Vereinigung dieser Lehren des genannten er- kenntnistheoretischen Grundsatzes von Freudenthals zur Erklä- rung bedürfe? Das Problem, „wie Xenophanes trotz (!) seiner Überzeugung von der Existenz eines' höchsten Gottes dennoch an eine Vielheit von Göttern glauben konnte," bedarf zu seiner
Zeit- u. Streitfragen d. moderneu Xenophanesforschung. 229
Erklärung nicht bloß keines Grundsatzes wie der Freudentalsche, sondern es bedarf überhaupt für uns gar keiner Erklärung; ja, das Gegenteil würde eine Erklärung nötig machen. Denn im Begriffe des „h ochsten" Gottes liegt ja nicht bloß keine Schwierigkeit, sondern geradezu die Notwendigkeit diesen Gott als einen höch- sten von einer Vielheit von Göttern, ^dyiarog kvihoioi zu denken! der Superlativ fordert zwingend, wenn er anders kein bloßer Elativ sein soll, die Voraussetzung einer Vielheit von Göttern, von denen eben ein Gott als der höchste bezeichnet wird. Allein noch aus einem anderen Grunde vermag dies Problern für keinen ernst Denkenden ein Problem zu bilden: denn die Verbindung des Polytheismus mit dem Glauben an einen höch- sten Gott ist ja aufs vorbildlichste in den meisten Religionen der Welt, zumal in der so sehr bekannten homerischen Theologie (Zeus als jiaxt)Q drdgcör rs d-eojvtt) vollzogen, für deren Ver- ständnis doch noch niemals gefordert wurde, daß wir sie un- abhängig davon erkennen, ob wir sie denken können oder nicht können.
Wenn Müller weiter urteilt: „Wir freilich, deren geistige Lebensluft der Monotheismus bildet, können das nicht mehr, aber ein Xenophanes und Piaton, ein Aristoteles und Plotonos, die rings von Polytheismus umflossen waren, konnten es noch," so ist dem. zu entgegnen, daß Müller eine neue Verwechslung sich zuschulden kommen läßt. Man muß nämlich gründlich zwischen Denkmöglichkeiten und Glaubensmöglichkeiten in der Geschichtschreibung der Philosophie unterscheiden. Wir können vieles denken, was wir nicht glauben können. So können wir freilich die Überzeugung von der Existenz einen höchsten Gottes mit der Annahme einer Vielheit von Göttern glaubend nicht verbinden, weil wir weder an die Existenz eines superlati- visch höchsten Gottes, noch .an die Existenz einer Vielheit von Göttern glauben: wir sind eben keine „Henotheisten" uiid Poly- theisten, sondern Monotheisten, Es wäre doch aber eine pure Absurdität, hätte jemand behaupten wollen, daß wir die Annahme der Existenz eines höchsten Gottes mit dem Glauben an eine Vielheit von Göttern denkend nicht auszugleichen imstande wären. Eine solche im Bereiche der Rehgion übrigens natür- lichste Verbindung sind wir nur nicht imstande n p) c h z u -
Archiv für Geschichte dor Pliilosophie. XXXI. 4. 16
230 D a V i d E i n h 0 r 11 ,
glauben, weil wir an beide verbundenen Elemente selbst nicht glauben, doch steht selbstverständlich nicht das geringste Hindernis im Wege, die Verbindung nachzu denken. Diesen absurden Standpunkt, der die letztere offensichthche Wahrheit leugnet, vertritt aber eben Müller.
Was das ganze Müllersche Zitat aus Plotinos betrifft, so hat es denselben Erklärungswert wie seine anderen offenen und nicht-offenen Plotinos-Zitate, Denn um alle anderen Einwände, die sich hier erheben, mit Schweigen zu übergehen, zeigt gerade — im schroffsten Gegensatz zur Müllerschen Hauptabsicht — der Plotonische Gedankengang ,dem wir zwar nicht glaubend, wohl aber durchaus denkend zu folgen imstande sind, daß es eben keinen Gegensatz gibt zwischen dem, was wir denken und nicht denken können und dem, was die Alten wirklich gedacht haben.
Damit schheße ich meine Bemerkungen über H. F. Müllers Stellung zu einigen Grundproblemen der modernen Xenophanes- forschung. Wenn manche methologischen Probleme der Philo- sophiegeschichte nicht genug eingehend an dieser Stelle behan- delt werden konnten, so sei zur Ergänzung auf meine bereits im Druck befindliche größere Arbeit hingewiesen, die u. d. T. „Begründung der Geschichte der Philosophie als Wissenschaft unter besonderer Bezugnahme auf die R. Euckens Ideen zur Philosophiegeschichte" eine neue Methologie der Philosophie- geschichte systematisch darstellt.
Eezensionen.
Friedrich Gundolfs Goethe.*)
Um einem ^\'erke, das die Grenzen „fachwissenschaftlicher" Leistung durch die Fülle seiner allgemeingültigen Lebenski'äftc und -werte überragt, gerecht zu werden, muß zugunsten einer klaren Überschau vieles Wichtige sich zunächst einer andeutungsweisen Behandlung bequemen. Daher sei vorweggenommen, daß das Werk reich, überreich ist an tiefen, treffenden, vielfach neuen und stets bedeutsamen Wahrheiten über Goethe, über seine einzebien Werke, über das Allgemeine und Besondere der poetischen Gat- tungen, — und, was wir von der germanistischen Fachliteratur leider sehr wenig gewöhnt sind ! — über die giundlegenden Erscheinungen des Lebens, über Staat, Religion, Natur, Liebe, Tod, mit einem Wort über alles, worüber ein weiser, tieffühlender und tiefdenkender Mann, der Leben und Wissen- schaft als Einheit erlebt hat, zu redeii Gelegenheit fiiidet, wenn er über ein Thema spricht wie Goethe. Und alles das erscheint in strengster Notwendig- keit, in der durchgebildeten künstlerischen Sprachform des Stefan George- Ki-eises. Weit entfernt, die hohe wissenschaftliche und künstlerische Kultur, die sich in Gundolfs Goethebuch zeigt in einer Zeit wie die unsrige, sei es nach der inhaltlichen, sei es nach der formalen Seite, als Nebensachen bezeichnen zu wollen, erscheint sie neben dem Entscheidenden dennoch als einfache Voraussetzung. Um nur eines zu erwähnen, müssen wir Gundolf eine ganz einzigart'ge Bereicherung der stilkritischen Terminologie nachiülimen. Steht doch die Literaturwigsenschaft diesbezüglich, trotz der einschlägigen neueren Bemühung, weit hinter der viel jüngeren Kunstkritik zurück. Trostlos ist auf unserem Gebiet die Dürre, die sich breit macht, sowie davon die Rede ist, daß das Poetisch-musikalische und das Poetisch-dingliche, die versinn- lichende und die vergeistigende Kraft eines Stils, also das eigentlich Dichte- rische wissenschaftlich klargelegt, zugänglich gemacht werde. Über einzelne, ganz grobe Eigenschaftsbezeichnungen ist man da kaum hinausgekommen. Die EindringUchkeit, mit der Gundolf Wesen, Beschaffenheit und Gesetz- mäßigkeit einzelner poetischer Formen Goethes zergliedert, ist die Quelle seiner eigenen, aber ungesuchten, durchsichtighellen Terminologie. Auch dies hochwichtige Kapitel sei hier nur berührt, um dem Gerüst des ragenden
*) Goethe, von Friedrich Gundolf. Bei Georg Bondi, Berlin. 795 Ss,
16*
232 Rezensionen.
Baues nahe zu kommen. D^ei Pfeiler tragen die Hauptlast : I. die Methode GundoKs, II. seine geiste.«geschichtliche Pragmatik und III. die Erkenntnis und die gedankliche Durchführung einer lückenlo.sen, pflanzenhaft -unlösbaren Einheit aller Werke Goethes.
I. Ohne auf eine unfruchtbare Polemik nur ein Wort zu verlieren, stellt Gundolf sich demioch in bewußten Gegensatz zu dem derzeit „herrschenden'" germanistischen Betrieb und knüpft unmittelbar bei Friedrich Schlegel und Humboldt an. Die Patenschaft ist handgreiflich: er trachtet auf Grund unserer heutigen historischen, biographischen und philologischen Goethe - kenntnis und durch künstlerisches und menschliches Erleben für das gesamte Werk Goethes das zu leisten, was Schlegel und Humboldt für Wilhelm Meister und für Hermann und Dorothea geleistet haben. Dies Ziel hat er auch er- reicht, wobei er die vorhandene Goethekenntnis, woher sie auch herrühre, soferne sie nur zuverlässig war, durchaus als anonymen Rohstoff verwendet. Daher erscheint er ebenso sehr als Umstürzler wie als getreuer Überlieferer, eine seltsame Neu Verkörperung echt goethischer Geistesrichtung.
Das ■mindersam reiche, große Leben und Wirken Goethes gliedert sich in Gundolfs „Schau" in das ruhige Ebenmaß einer gewaltig angelegten Drei- teiligkeit:
I. Sein und Werden (S. 1—243). II. Bildung (S. 251—513). III. Entsagung und Vollendung (S. 525 — 789). Es handelt sich hier durchaus nicht um wirkungsvolle Kapitelüberschriften für Anfang, Mitte und Ende. Eher kömite man im neuen Gewände die bisher übliche Gliederung: der junge, der klassische und der alte Goethe wieder- erkennen. Dennoch haben die bedeutfamen Xeubenennungen volle Berechti- gung. Was bedeutete denn die erwähnte D/eiteilung bei allen Vorgängern Gundolfs? Bestenfalls die vernünftge Disposition eines gelehrten Buches, die auf biographische Tatsachen und stilistische Beobachtungen sich stützende Einteilung des darzustellenden Stoffes, ein Schema goethischen Seins (Leben und Werke stets als Einheit begriffen). Gundolf aber gibt kein Schema, son- dern einen Aufbau; jenes geht hervor aus dem Bedüifnis, den schon „wissen- schaftUchen", schon toten Stoff zu ordnen, darstellbar, mitteilbar zu machen, dieses ist der innerste Grundsatz des sich vollziehenden Wachstums. Nach dem Schema kann der wissenschaftliche Stoff geoidnet werden, nach dem Oiganisationspiinzip ist das wahrhaftige Wachsen der einmaligen Erschei- nung „Goethe" vor sich gegangen. Das 0) ganische, das Pflanzemuäßige, das an dem größten normativen, gesetzmäß'gen und gesetzgebenden Menschen das Selbstverständliche und zugleich das Wunderbare war, hat Gundolf er- kannt und zur teibenden, tragenden Kifoft seiner Gotheschau erwachsen lassen. Zum ersten Male wurde hier der Gang und die Notwendigkeit jener imierlichen, bisher bloß verzeichneten Wesenswandlungen erkannt und dar- gestellt, die aus dem sich versuchenden Dichterst.udenten uird Studenten- dichter den jungen Goethe, aus diesem den klassischen und den alten hervor- getrieben haben. Die innere organische Triebkraft jeder dieser drei Kiisen hat Gundolf bloßgelegt, ihre Stunde und Umfang ermessen, die unerfüllten
Rezensiooen. 233
M'-gliehkoilcii übfibliikt, die überwuiidem-u Cu-fahicn neu heraufbeschworen, Gewinn und W-rlust jeder Wiindlung für Goethes Rechnung wie für die unserige gebucht. Die Untrennbarkeit von Mensch und Werk, Inhalt und Form, Gedanke und Stil ist uns hierdurch in bisher unbekannter Vollkommen- heit greifbar geworden.
Drei große Wandlungen, hervorgesprossen aus der gesetzmäßigen Be- schaffenheit des einmal'gen Menschen, aus seiner Bildung und aus allem, was als Zeit, Umgebung, Raum und Bindung: Schicksal genannt werden muß, schnellen das Goethische Sein durch drei Krisen hindurch.
Dor junge Goethe erlebt die Welt mit der einzigart'gen Gewalt seiner Empfindung und erfüllt sie, sofern er sie gestaltet, mit der Erregung seines Ichs. D.V3 (ioethische Ich, das sich in der tausendfältigen Erscheinung der Welt bricht, in ihr spiegelt, das ist der sich fort und fort läuternde Inhalt der Jugend- und Titanendichtung. Die Welt wird Goethisch erfühlt und die (loethisch erfühlte Welt von Goethes -6teist erfüllt. Werther, Urfaust und Egmont erscheinen t-o gut als bloße Gefäße des übersprudelnden Gefühls- stiomes, wie Straßburg, Herder, Friederike oder Lili, zunächst sogar Weima,r. WVsen und Eigenheit des Goethischen Seins — Werke und Leben immer als Einheit, als Sein \ind Ausdruck gesehen — hat Gundolf aus der Beschaffen- heit des junggoethischen Lebenszustandes, aus der geschilderten Ichliehkeit mit exaktester, zugleich aber phantasievoller wissenschaftlich keit abgeleitet, bis hinein in die Einzelheiten des Sprachgebrauchs, des Satzbaus, der poeti- schen Bildlichkeit, bis hinauf zur Notwendigkeit tragischer Lösungen und ent- scheidender Stoffwahl, alles ein wechselnd Weben, ein glühend Leben.
Als Prinzip des Fortschreitens waren wir bisher gewöhnt etwa Weimar und Italien zu betrachten. Bei tiundolf aber ist das Äußerliche nie das Mäch- tige. Mit dem überzeugenden Eifer des Apostels predigt er das große Wort des Paulusbriefes: „Denn der Herr ist der Geist — und wo des Herrn Geist ist, da ist Freiheit !'" Was wir als Ursache anzusehen gewohnt waren, ver- wandelt er dmch Erschließung verschlossener Pforten zu bloßen Wirkungen. Nicht etwa weil Goethe Weimar satt bekommen, flieht er nach Italien; nicht weil er in Italien war, ist er der Klassische geworden, sondern umgekehrt: weil er kraft des ihm innewohnenden, ihn treibenden gesetzmäßigen W^ichs- tums anfing im Rokokko-Weimar klassisch zu werden, brauchte er das sicht- bare Gegenbild seines neuen inneren Lebens, weil sein inneres Leben sich verwandelte, ist ihm das um ihn unverwandelt Gebliebene unerträglich ge- worden. Deshalb erwacht in ihm das Bedürfnis: Italien, Rom, Christiane. Daß er seine Bedürfnisse hellseherisch begriffen und erkannt hatte, daß er Bedürfnis nie mit Ltiune oder Gelüste verwechseln konnte, darin besteht sein (xenie, sein Dämon; daß er das Nöt'ge zur Befriedigung des Bedürfnisseb auch beschaffen, Hindernisse überspringen, wenn es sein mußte auch nieder- reißen konnte, das ist die wunderbare Übereinstimmung dieses Genies mit dem waltenden Schicksal, eben die Identität der Gesetzmäßigkeit beider, oder wie Gundolf sich wunderschön ausdrückt: das Zusammentreffen von Dämon und Tj-che. Cioethe gerät durch sein Pflanzenwachstum aus dem gefühlsmäßig-titanenhaften in den klassischen Lebenszustand, — das ist die
234 Rezensionen.
Ursache in der neuen Piagma,tik, wählend Italien und alles andere äußere Wirkungen sind. Allein, hieße das nicht, das Bekannte zugunsten des Un- bekannten veidrängen? Mit nichten ! Gundolf bleibt nicht dabei stehen, den inneren Grund einfach zu setzen. Was hat also das Klassischwerden des jungen Goethe im Gegensatz zu seiner bisherigen Weltschau — denn auf die Beschaffenheit der Weltschau kommt es eben immer wieder an — zu be- deuten? Die Ichlichkeit verändert, nein, sie erweitert sich zu einer neu er- ungenen Sachlichkeit, die die bisherige Ichlichkeit mu- scheinbar über den Haufen rennt und verwirft, tatsächlich wird sie einbegriffen, eingegeistet, der neuen Schau einverleibt. Am ersten W^endepunkt seiner Wesenheit — das In-erscheinung -treten des jungen Goethe ist kein Wendepunkt, keine Krise, sondern der bloße Durchbruch seines Wesens, das die Hüllen abstreift — wendet (iocthe sich ab von der bisherigen, seiner Jugend gemäßen egozentri- schen Art, mit der er die Welt erlebt hat. Sie genügt ihm nicht mehr, sie ist ihm zu eng geworden. Die. Möglichkeiten des persönlich bedingten Gefühls- erlebnisses sind durchschritten, oder vielmehr durchstürnit. fürderhin wären nur noch Wiederholungen denkbar. Doch konnte der, der als die gewaltigste Verkörperung des Lebenshungers zu verstehen ist, sich nicht mit Wieder- holungen, Varianten begnügen. Vom ichbedingten Gefühl mußte er somit zur sachbedingten Welt, zur Form schreiten. Aus diesem veränderten Lebens- willen ist jene einzigartige Synthese griechischer und germanischer Welt er- wachsen, die Goethe der Menschheit bedeutet. Daß Form von nun an die einzige Möglichkeit zu bedeuten habe, in der die Weit für Goethe erlebbar wird, darin besteht die Wandlung vom jungen Goethe zum klassischen. Mit den Worten:
„Natur hat weder Kern noch Schale, Alles ist sie mit einem Male",
ist das Bekemitnis zu der widerkantischen Untremibarkeit, zur offenbaren Einheit von Form und Wesenheit abgelegt. Die Wesenheit der Form ist jetzt Angelpunlvt Goethischen Denkens und Fühlens. Seit er Form als gesetzmäßige Offenbarung jeder inneren Wesenheit entdeckt hat, sei es bei der Pflanze, sei es bei den Menschen oder sonstwo in d^ Welt, lernt er treu seinen wunder- baren Sinnen glauben — und allen zuvor: dem sonnenhaften Auge. Jetzt wird seine Weltschau augenhaft, sonnenhaft. Deshalb muß er nun nach Italien, deshalb kehi-t er zurück als Dichter der Iphigenie.
Gundolf, der die Worte gar gerne von der durch den Gebrauch hervor- gerufenen Trübung befreit, sie durch die Schreibart oder sonstwie oft auf ihre ursprüngliche sinnliche Bedeutung zurückführt, — gleich dem Meister, der den trüben Kristall durch Neuschleifen der Kanten neuen Glanz und Herrlich- keit verleiht — . Gundolf nennt diese zweite Stufe Goethischer Entwicklung: „Bildung", — weil das Bilden, die künstlerisch zweckbewußte Formung ihr Inhalt war.
„Entsagung und Vollendung" ist die Altersentwicklung überschrieben.
Die Fülle der bildnerischen Gestalt ang erreicht ihre natürlichen Grenzen. Der von streng und sachlich geschauten Formwesenheiten satm-ierte Goethe
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hat im übermenschlichen Lebenshunger die ^Velt auch in dieser Richtung verzehrt, wie er sie im Gefülil«kreise einst verzehrt hatte. Eigentlich wiederholt sich also die Betätigung des nämlichen (lesetzes auf höherer Stufe. „Der Erden- kreis ist mir genug bekannt." So sehr,' daß sie ihm neue Form Wesenheiten nicht melu' zu bieten hat: er hungert wieder einmal, nachdem er ,,hier" sich tüchtig umgesehen. Wieder kann er sich nicht mit Variationen begnügen. So steigt er de im zu den Müttern hinab, sein Blick wendet sich weg von der einzehxen Erscheinung, weg von der Formwesenheit, hin zum Gesetz, zur Norm, vom Augenblick flieht er in die Ewigkeit, — so schwer es ihm wird, so gewaltsam er sich das Blinzeln nach ,, dorthin" versagen möchte. Der Ab- schied vom schönen, Ix'glückenden ,, Augenblick" erscheint als der schwerste tragische Kampf in Goethes Leben. Das tiefe Leid, das in der Marienbader Elegie seit jeher to ergreifend zu uns sprach, hat Gundolf als Brennpunkt der gesamten Altersdichtung zu deuten vermocht und nie lag der Inhalt der ., Entsagung" Goethes so klar zutage wie in dieser Deutung. Daß Ulrike von Levetzow mehr ,, symbolisch" als persönlich zu denken sei, haben schon viele betont. Allein wohin deutete dies Symbol? Auch hier geht Gundolf, Überlieferer und Umstürzler in einer Person, auf dem alten Pfade viel weiter vor als alle seine Vorgänger. In der Kri^e, in der aus dem klassischen Goethe der alte hervorbiach, entsagt er der Wonne der Formschau, der beseligenden Freude am einmaligen, unbezweifelbaren Sein, er entsagt dem schönen „Augen — blick", nicht mehr ruft er ihm beschwörend sein trunkenes: „Ver- Aveile doch" zu. Die Erblindung des II. Faust ist, wollen wir klarheitshalber eirmial den Gedanken aus dem Poetischen ins Begriffliche hinüberleiten, von Faust -Goethe auf die Welt übertragen. Nicht Goethe erblindet, sondern die Formwelt, sie ist ausgeschaut und verliert ihren Sinn. Der eben noch über- mäßig reiche, steht bloß und nackt dem Weltgesetz gegenüber: „ich habe mich, ich hab das All verloren !" Der schöne Augenblick stirbt ihm ab. Dies schauerlich geheimnisvolle Geschehen verkörpert sieh in Ulrike, es wird das Absterben in ihr sichtbar. Dahin zwingt den Alten die pflanzenhaft-gesetz- mäßige Entfaltung seiner normalen und normativen Wesenheit; nicht aus Gutdünken fügt er sich diesen allerherbsten Schmerz zu. „Es ist Drang — und so ist's Pflicht." Mit Ulrike scheidet der schöne Augen — blick von ihm, ixachdem er ihn bis zur Neige erschöpft hat. Nun ist Goethe geschieden vom Zeit- und Räumlichen. Es friert ihn. An den Eiseskreis der Dantischen Hölle erinnert die Qual seiner Einsamkeit.
Vom Ich zur Welt, von der Welt zum Weltgesetz, — das war des größten Deutschen und des schönsten, vollendetsten Menschen Lebens- und Leidens- weg. So notwendig, so einheitlich, klar in sich geschlossen und unverrückbar in allen Teilen wie in Gundolfs wissenschaftlich-bildnerischer Gestaltung ist er uns noch nie erstanden. Mit dem Aufbau seines Goethewerkes ist im Grund- satz auch schon dessen Inhalt, wenn nicht gegeben, so doch umrissen.
Das zweite, was diesem Werke eine entscheidende und langauswirkende, von dem viel überschätzten Rezensionserfolg unabhängige Bedeutung im Leben und in der Wissenschaft sichert, ist die Verwirklichung des \äelumstrit- tenen Programms geist€8wissenschaft lieber Pragmatik. Diltheys heller Geist
236 Rezensionen.
hat die Forderung aufgestellt , Walzol und Saran, Sievers und Unger und andere haben sie geklärt, zum Teil verwirklicht. Als restlose Erfüllung erschein'^, Gundolf, zugleich auch als berechtigter Erbe der von der historischen Schule unterbrochenen Schlegel- und Humboldtschen Überlieferung. So unerläßlich die grammatisch-philologische Prüfung des Textes als des faßlichen, fest- g "legten Wortes, so unerläßlich die Erforschung des historisch -biographischen Hintergrundes zur Deutung, Beurteilung und Erkenntnis des Werkes und des Künstlers auch sei, so unbedingt diese Notwendigkeiten alsV'oraussetzungen anerkannt werden sollen,, so wenig können wir sie als Selbstzweck, als Ziel anerkennen, wenn wir von einer Literaturwissenschaft, nicht bloß von einer Literärgeschichte reden wollen. Gewiß brauchen wir das Wort zur Offen- barung, aber das Wort ist nicht der Geist. Gewiß wollen wir festhalten, was uns von allem übrig blieb, dosh auch nicht die Folge aus dem Auge verlieren:
„Die Göttin ist's nicht ra-hr, die du verlorst.
Doch göttlich ist's usw."
Die Literaturwissenschaft ist ein auf das Erfassen und Erschöpfen des Kunst- werkes gerichtetes Bestreben. Alles, was diesem Zweck dienlich ist, ist nötig, und zwar in dem Maße, in welchem es dem Zweck dient, vor allem die sprach- liche Analyse und das Schicksalmäßige am L?ben des Dichters. Doch kann das Kunstwerk als sprachliches Gebilde weder vom Schöpfer, noch vom Emp- fänger völlig losgelöst werden wie ein anatomisches Präparat. Daher ist die geisteswissenschaftliche Sachlichkeit eine ganz andere als die naturwissen- schaftliche. Gundolfs Pragmatik verwendet die philologischen und die histori- schen Ergebnis=e im vollen Maße, wie er aber auch die ästhetischen verwendet, alle bloß als Mittel zur Erkenntnis d'>s Kunstwerkes, zu dessen Wesen er durch eine vierfache Spiegelung hindurchdringt. Erste Spiegelung: die Synthese aller philologischen, grammatischen, stilistischen und philosophischen Er- gebnisse ist die Grundlage für die eig^nschaftliche Auffassung und für die inhaltliche D.'utung, also für das So-uud-so-sein des Kunstwerkes. Zweite Spiegelung: die Synthese aller historischen, biographischen und philo.sophi- schen Ergebnisse, die sich auf das Leben des K^iiistlers und auf das Weben seines Schicksals, sowohl in seiner Person als in seinem menschheitlichen Zu- sammenliang bezichen, ergibt, — wenn sie durch das erste Prisma hindurch geschaut ist und nur dann, — d.is Walten der Notwendig- keit zwischen Künstler und Kunstwerk, also das Weshalb-so-und-so-sein des Kunstwerks. So verstehen wir, weshalb das Kunstwerk so sein muß wie es ist und nicht anders sein kann. Dritte Spiegelung: die Summe des bis- herigen muß im Gefühl, im Gemüt des Forschers gefühlsmäßig neuerlebt werden, er muß den Weg von dem rythmischen und formbegcenzten Sprach- gebilde zurück zur seelischen und kosmischen Erregung des Dichters finden, die dieser in umgekehrter Richtung hinter sich gebracht hat. Vierte Spiege - lung: auf Grund seiner breiten und tiefen Kenntnis des Lebens, der Gegen- wart, des Menschen und der Welt muß der Forscher das eigene Erleben des Kunstwerkes in das seiner Gemeinschaft, in die Kation oder in die Mensch- heit projizieren können. Dichtung ist gesprochenes und gehörtes Wort. SicherHch bedeutet Gundclfs Goethe werk auch den bedeutendsten raethodi.schen
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Sieg der Literat urwishtMischaft, olinc dem Eiiiwaiicl luaugflhattci' Stoff kenutui.s oder fehlender Exaktheit der Forst-hung eine Angriffsfläehe zu bieten. Es ist die ganze, ungeheuere Wissensmenge „ver-wendet", d. h. einem höheren Zweck entsprechend gefügt. Man braucht viele Ziegel zu einem Riu; aber Millionen Ziegel ergeben an sich und von selber nie einen, mögen sie noch so schön geschichtet nebcn.'inaiider liegen. Auch wiid manch ein Ziegelstein otttzwei gehauen, fügt er sich anders nicht ein.
Djr dritte große Triumph Gundolfs ist die strenge Durchführung dieser Pragmatik bis ins Einzelste. Gewiß, die sozusagen arithmetische Recht- fertigung seines Verfahrens mit all seinen Kühnheiten konnte anders nicht gedeihen. So aber ist die in allen Teilen unlösbare geistige Einheit aller Werke Goethes mit der köstlichste Gewinn der wahrhaft erstaunlich großen Arbeits- leistung Gundolfs. Die Betonung des Zusammenhanges zwischen einzelnen <Toethewerken und im Einzelnen ist nichts Neues. Auch hier betritt Gundolf begonnene Pfade, die er abar bis an ein neues, bisher ungeschautes Ziel verfolgt. Neue Zusammenhäng?, wie etwa der zwischen Dichtung und Wahrheit und Pandora werden klar; alte, wie der zwischen Tasse und Iphigenie, gehen über die bisherigen, mehr oder weniger geistvoll angedeuteten Einzelbeziehungen weit hinaus über das Bisherige und dring-Mi vor bis zur gemeinschaftlichen Quelle einer und der- selben Erregxmg, deren ähnliche und gleiche Sprachoffenbarungen in den beiden Dicliterwcrken bis ins Kleinste nachgewiesen sind. Und so von der ersten zur zweiten, von der zweiten zur dritten Krise und innerhalb derer von Werk zu Werk. Schließlich erscheinen alle hohen Werke als ein Ganzes: Tasso wird zu einem Aufzug, Werther zu einem Abschnitt der Lebensdichtung: Goethe, die wieder restlos, wenn auch nur eingegeistet, im Faust enthalten Ut. Neu ist daran nicht etwa der Satz, die Behauptung dieser Einheit, sondern ihre wissenschaftliche Durchführung im Ganzen sowohl wie im Einzelnen. Die Einheit wußten wir auch früher: wir sehen sie jetzt. Die einzelnen Werke, die wir bisher nacheinander als je ein Ganzes liebien, werden wir von nun als Teile neu genießen können, und über sie hinaus blicken wir in die Un- teilbarkeit des erhabensten Ganzen. So zwingt uns (4undolf unter einem neixen, notwendigen und ins Ungeheuere erwachsenen Gesichtspunkt von neuem nieder zum heiligen Original, zum Goethetext. D^nn wir haben die Werke Goethes, gelesen, auch den Zusammenhang erkannt, aber das eine, unteilbare, in allen seinen Teilen auch unverrückbare Goethewerk ist in die.ser Komplexität neu. Das muß neu erlebt werden. Die Erweckung eines solchen Zwanges, einer neuen Notwendigkeit in das Ganze einzutauchen, ist das (irößte, was ein Goetheforscher erstreben kann.
Ison/ofront, im Osterraond 1917. Prof. Di. Richard Meßleny.
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Hermann Schwarz, Fichte und wir. Sechs Vorlesungen, gehalten 2. — 7. Okt. 1916 auf der Lauterburger Weltanschauungswoche. A. W. Zickfeldt 1917. Osterwieck. 111 S. Es bedurfte kaum der Versicherung des Verf., daß in diesen Vor- lesungen ein gut Teil Selbstbekenntnis stecke. Überall durchweht die Zeilen die edle Begeisterung einer von ihrem Gegenstande ganz erfüllten Seele; es lebt in ihnen die eindringliche Kraft, mit der die selbsterrun- gene Überzeugung sich gern andern mitzuteilen sucht. So macht sich die Eigenart des gesprochenen Vortrages auch in der Stoffanordnung, die manche Wiederholung bringt, wie im rhetorischen Ausdruck geltend. Auch gewisse stilistische Absonderlichkeiten sind wohl darauf zurück- zuführen. Es war offenbar die Hauptabsicht des Verf., in dem Hörer den Geist Fichtes lebendig werden zu lassen und ihn aus der scharfen Luft der Kantischen Kritik zu der Sonnenhöhe eines ethischen Idealis- mus emporzuheben. Der Kampf gilt hier einerseits dem Ontologismus, der ein fertiges Sein annimmt, sei es eine Welt der Wirklichkeit oder ein Reich der Ideen, das an sich schon besteht und in unserem Geiste bloß abgebildet wird; ebenso sehr aber auch dem Psychologismus, der das Geistesleben aus dem endlichen, empirischen Ich ableiten zu köimen glaubt. Dem wird hier die Lehre entgegengestellt, daß alle Wirklichkeit nur durch freie Setzung und Schöpfung des überindivi- duellen, unendlichen Bewußtseins im einzelnen Ich entsteht. Das freie schöpferische Geistesleben im Sinne Euckens bildet den Angel- punkt in Schwarz' Darlegungen. Solches „Unbedingtheitsieben" er- scheint ihm als das Kennzeichen des deutschen Wesens. Es offenbart sich in der germanischen Gefolgstreue, im unbedingten Rechtfertigungs- glauben des Protestantismus, in der deutschen Sachlichkeit und zu- Jiöchst im unbedingten Pflichtgefühl, wie es in Kants Imperativ aus- gesprochen ist. „Ewiges will Deutsches, und Deutsches soll Ewiges sein." Wenn der Verf. den Geist Fichtes auch in unserer Zeit sich be- währen sieht, so hebt er doch auch mit kräftigen Worten die Schatten- seiten im inneren Leben unseres Volkes hervor, den Geist des Klein-, muts und der Selbstsucht. Sinnlichkeit oder Sittlichkeit, äußerliche» Dasein oder Innerlichkeit, Gebundenheit oder freie Selbstbestimmung, Fichtes ausländische oder inländische Seelen — das sind die Gegen- sätze, zwischen denen es keine Vermittlung in Goethes Sinne gibt, sondern nur ein scharfes Entweder — Oder, wie zwischen Nichtsein und Sein. Immer neuen Ausdruck findet der Verf. für den gewaltigen Gedanken, daß es die Tiefe, die Ewigkeitstiefe unseres eigenen Wesens ist, aus der die ganze Welt der Erscheinungen hervorgeht. Mit jeder Vorlesung werden wir tiefer in die Gedankenwelt Fichtes eingeführt. Denn nicht mit äußerlichem Nachdenken fremder Anschauungen ist es dabei getan. Wahres Verständnis ist hier ein Verstehen -wollen, eine Tathandlung in Fichtes Sinne. Wir müssen in uns selbst e r - leben, daß es bloßes Sein ohne Wert überhaupt nicht gibt. Wert aber erhält das Sein nur als Setzung eines Geistes. „Setzen wir uns
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geistig, wagen wir das zu tun! In demselben Augenblicke schon lebt sich ein Unbedingtheitsleben." — Es ist begreiflich, daß der A'crfasser <les „Gottesgedankens in der Geschichte der Philosophie" dem religiösen Problem besondere Aufmerksamkeit zuwendet. Und wenn er auch die ureigene geniale Leistung Fichtes in dessen Aktivismus erkennt, so sieht er sich, gerade um den religiösen Gehalt in Fichtes Denken aus- zuschöpfen, genötigt, immer wieder zu dem späteren Standpunkt, der ..Anweisung zum seligen Leben", überzugreifen. Das Eigentümliche von Fichtes Religionsphilosophie liegt nach Schw. darin, daß sie wieder einen transzendenten noch .einen immanenten Gott annimmt, daß sie also weder Theismus noch Pantheismus ist. Sie sei aber der christlichen Auffassung verwandt, wie durch Hinweise auf Augustin, Ekkehart und Böhme erhärtet Avird. Im Gegensatz zu der kosmologischen Gottesidee, wonach sich der Mensch in Gott als dem Herrn der Welt geborgen und sicher fühlt, betont Schw. den axiologischen, den wertenden Stand- l)iuikt: das Ich fühlt sich als unbedingt wertvoll und gotterfüllt der Welt absolut überlegen und in seinem rein geistigen Sein von der Welt unabhängig. Dieser Religionsbegriff Ekkeharts und Fichtes wird als eigentümlich deutsch bezeichnet. Gott als Inbegriff des Wertlebens soll nicht mit der kosmologischen Ursache der Welt einsgesetzt werden. Läßt man beide Begriffe zusammenfallen, so erhebt sich die unlösbare Frage nach der Herkunft des Übels. (Das ist richtig. Aber wenn die Wissenschaft eine solche Trennung durchführen kann, verlangt nicht gerade die Religion die Einheit von Wert und Sein als letztes Postulat?) Anstelle des seienden Gottes wird das in uns stets werdende, selbstschöpferische Gotteserlebnis gesetzt. Daß diese Lehre den esoterischen Charakter der „Bildungsreligion" hat, wird dem ^'erfasser bewußt sein. Aber auch religionsphilosophisch ließen sich gegen die Unbestimmtheit einer solchen Gottesidee Bedenken äußern. Indessen handelt es sich hier um ganz persönliche Erlebnisse, deren Wahrheit sich theoretisch weder beweisen noch widerlegen läßt. Und so wenig diese Vorlesungen eine kritische Behandlung der Fichteschen Philosophie geben sollen, so w^enig wäre eine zersetzende Kritik an- gebracht. Geboren aus dem Drange, den Gegenwartswert dieses mäch- tigen Gedankensystems auszumünzen, werden sie zweifellos auch in dieser Form matte Seelen aufrütteln, hochgestimmte in ihrem Idealismus bestärken können. (Leider stören außer den verbesserten noch eine Anzahl anderer Druckfehler und Versehen).
Paul Sickel.
Dr. Hans Offe. Politische Weltkunde. Ein Beitrag zur A^olksbildung.
Mit Vorwort von Dr. Paul Rohrbach. Leipzig 1917. Chr. Herrn.
Tauchnitz. V und 69 S. M. 2,50.
Mit Freude begrüßen wir alle Äußerungen aus dem Kreise des
höheren Lehrerstandes, die Schul- und Bildungsfragen nicht vom eng
fach- und schulmäßigen Standpunkt behandeln, sondern einen offenen
240 Rezensionen,
Blick für die Anforderungen des gesamten geistigen Lebens bekunden. Eine solche befreiende Weite des Gesichtskreises zeigt Offes Schrift über die Weltkunde. Der Verf. besitzt klare Einsicht in die Mängel unseres heutigen Bildungswesens, hält sich von jedem Fachegoismus fern, und seinen Ansichten über Wert und Unwert der bisherigen Reform- versuche sowie über die Ziele der zukünftigen ist fast rückhaltslos bei- zupflichten. Dabei bleiben seine Ausführungen nicht bei allgemeinen Grundsätzen stehen, sondern dringen überall in den Kern der Einzel- fragen ein. Im Anschluß an Gedanken von Paul Rohrbach fordert der Verf. eine Erweiterung des erdkundlichen Unterrichts zur politischen Weltkunde, d. h. die Erdkunde soll zum politischen Denken vorl)ereiten. Daß er diese Aufgabe nicht der Geschichte, sondern der Erdkunde zu- weist, rechtfertigt er damit, daß die Erdkunde einen zusammenfassenden, „komplexen" Charakter trägt und einen weit größeren räumlichen Ge- sichtskreis umspannt als die Geschichte. Da sich die Erörterungen der im engeren Sinne didaktischen Fragen hier erülirigt, mögen aus dem reichen Inhalt der Schrift drei Hauptpunkte hervorgehoben werden, die für die Neugestaltung unseres gesamten höheren Bildungswesens von grundlegender Bedeutung sind. Dahin gehört zunächst die For- derung, daß das Ziel alles Unterrichts und somit auch des erdkundlichen weniger darin besteht, Einzelkenntnisse zu vermitteln als zum Denken und Urteilen anzuleiten. Es handelt sich in erster Linie darum, ,.lei- tende Ideen" zu gewinnen, um auch neu auftretenden Tatsachen des gegenwärtigen Lebens sicher entgegentreten zu können. Ferner betont der Verf. mit Recht die Vereinheitlichung unseres Wissens gegenüber der bisher herrschenden Zersplitterung der Fächer. Ein Haupt- mittel dazu sieht er (neben der Biologie und der philosophischen Pro- pädeutik) eben in der Erdkunde. Denn sie ist eine „doppelgesichtige Wissenschaft", da sich in ihr die beiden Gi'uppen der Natur- und der Kulturwissenschaften verbinden. Die naturwissenschaftlichen Tat- sachen, von der die Erdkunde ausgeht, müssen überall eine kulturelle d. h. wirtschaftlich-politische Wertung erfahren; und diese wirtschaftlich- politische Wertung soll zum wesentlichen, wenn auch nicht ausschließ- lichen Maßstab für die Stoffauswahl des erkundlichen Unterrichts dienen. Politische Weltkunde aber setzt ferner gewisse Kenntnisse in der Völkerkunde, die als eine wahrhaft „humanistische" Wissenschaft bezeichnet wird, wie in der Wirtschaftsgeographie voraus. „So ver- standen kann und soll die Länderkunde werden zum Kristallisations- punkt aller weltkundlichen Kenntnisse und Vorstellungen, selbst über das eigentliche Gebiet der Erdkunde hinaus." Zur Vereinheitlichung des gesamten Schulwissens trägt es auch bei, daß andere Fächer wie Geschichte, Deutsch, Religion und die Fremdsprachen den erdkund- lichen Unterricht unterstützen können. Jedenfalls darf dieser Unterricht nicht zu einen bloßen Konglomerat von allerlei Wissensbrocken Averden: und nachdrücklich betont der Verf., daß er nicht neuen Lehrstoff, sondern einen ..neuen Richtungs- und Zielpunkt der gesamten Schul-
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bildung und iSchulerziehung" fordert. Eine solche erweiterte Fassung- der Erdkunde als politische Weltkunde wird auch dazu beitragen, die viel getadelte Weltfremdheit des Schulbetriebes zu überwinden. Sie setzt freilich voraus, daß der Lehrer vielseitig gebildet und daß er eine wissenschaftliche Persönlichkeit im tiefsten Sinne des Wortes sei. Und dies ist der dritte Punkt, den wir hervorheben möchten: Weit wichtiger als alle sachliche Reform und beliördliche Anordnung ist die Persönlichkeit des Lehrers und ein innerliches Verhältnis zu seinem Gegenstand. Allerdings bezweifelt der Verf., ob diese Forderung so- bald verwirklicht werden wird, und zwar deswegen, weil sie eine Uni- versitätsreform an Haupt. Geist und Glieder voraussetze. Damit ist m. E. der springende Punkt aller inneren Schulreform bezeichnet. So lange die Vorbildung unseren Lehrern nicht ein anderes Unterrichts- und Erziehungs])ewußtsein einprägt, können amtliche Verfügungen wenig nützen. Daß uns die wissenschaftlichen Persönlichkeiten fehlen, liegt vor allem an der .,durchschnittlichen Richtungslosigkeit der aka- demischen Studien." — Der Geist, von dem die Ausführungen des Verf. getragen sind, sowie die trefflichen Anregungen, die er im einzelnen gibt, lassen eine möglichst weite Verbreitung seiner Schrift wünschen. Aachen. Boxgraben 118. Paul Sickel.
Heinrich Scholz, Die Religionsphilo«ophie des Herbert von. Cherbury.
Auszüge ans „de veritate" und „de religione gentilium" mit Einleitung
und Anmerkungen. Georg B o h r m a n n , Spinozas Stellung zur Religion. Eine Untersuchung
auf der Giundlage des theologisch-politischen Traktats. Nebst einem
Anhang: Spinoza in England (1670 — 1750). (!. W i n k 1 e r und Leopold Zscharnack, John Locke's Reasoii-
ableness of the Christianity ( Vernunft igkeit des biblischen Clu'isten-
tums), übersetzt von C. W., mit einer Einleitung hcra jsgegeben von
L. Z. Diese Aibeiten erschienen als o. (Herbert) bzw. 4. (Locke) Quellenheft u)id als 9. (Spinoza) Heft der Studien zur Geschichte des neueren Piotestan- tismus, die von Heinrich Hoffmann-Eern und Leopold Zscharnaek-Berhn im Verlage von Töpelmann-Gießen hei auf gegeben weiden, im Jahre 1914. Die philoKophitges(;hichtliche Bedeutung, die ihnen unabhängig von der kirchen- historischen zukommt, lechtfertigt einen ihnen gemeinsam zu widmenden Hinwfis, da sie alle dici von der Ausstrahlung des nämlichen neuzeitlichen Rationalismus taif die religionsphilofophische bzw. rtligionshistorische und bibelexcgetisehe Sphäie handeln. Das offenbart im besonderen die Ein- leitung, die Scholz den von ihm ausgewählten Texten voranstellt. Herbert von Cherbury wiid in den Philosophie geschichten vielleicht etwas zu ein- seitig lediglich als der Vater der natürlichen Religion da: gestellt, als der be- wußte Bahnbrecher jenes aufgeklärten Glaubens, der im klassischen 18. Jahr- hundert, dem Höhepunkt der Aufkläiung, die positiven Religionen endgültig verdrängen zu sollen schien. Sicherlieh ist das auch, seine bleibende historische
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Bedeutung. Aber auf dini breiten Strom des geschichtlichen Werdens schau- end, sehen wir ihn doch — und das tritt in. der knappen Skizze der Scholzschen Einleituiig plastisch hervor — von jenem Geiste erfüllt, der in Denkern höhoren Ranges, wie Dcscartes, Spinoza, Leibniz, zur Einsieht in die Autonomie der erkennenden Vernunft überhaupt gefülut hat. Die kurze Analyse der Sclu-ift De veritate zieht diese Stelhing klar ans Licht. Wenn der voraufgehende Überblick sich vorzüglich mit der Entfaltung der Autonomie des religiösen Bewußtseins im Zeitalter von Humanismus und Reformation beschäftigt, — so entspricht das ebenso sehr dem nun einmal feststehenden Schwergewicht der Bedeutung Herberts wie dem praktischen Zweck der Arbeit, die kirchen- geschichtlichen Übungen dienen soll.
Als bedeutsamer Versuch, das Rätsel des theologisch-politischen Traktats zu lösen, muß Bohrmanns Schrift gewürd'gt werden. Was das Verständnis dieses Werkes so schwierig macht, wenn nicht sogar gänzlich verbaut, das ist das Durcheinander der ethischen und religiösen Konzeptionen der „Ethik'" und der Motive der Offenbarung-^religion. Richtig hat Frcudenthal den Traktat als eine Tendenzschritt zugunsten der anticrthodoxcn Kirchenpolitik Jan de Witts charaktciisiert. nicht mit gleich überzeugender Kraft, jedenfalls nicht restlos befriedigend das Schwankende und Schillernde darin mit der seltsamen Mischung von Vorsicht und Tapferkeit im Wesen der Persönlichkeit Spinozas erklärt. Noch weniger aber kann, wie wir Bohrmann zugeben müssen, ein Lösungsversuch Gebhardts genügen, der den Traktat aus dem Geiste der hol- ländischen Freidenker, der Neutralisten, geschrieben wissen will. Denn immer wieder bricht — so besphders im 4. Kap. — als primäre Wahrheit die Sitten- lelu-e der „Ethik" hindurch, und demgemäß er-scheint die Offenbarungsrelig'on hinter die Vernunftreligion geschoben. Als Schlüssel zur Lösung — soweit sie überhaupt möglich — bietet der Verfasser die Analyse der Religionslehre des Traktats dar, zeigt das Nebeneinander von Offenbarungs- und Vernunftreligion auf sowie das Bestreben, durch möglichste Rationalisierung der ersteren jene mit dem letztlich allein berechtigten Vernunftstandpunkt auszugleichen. Persönlich apologetische Tendenzen, das wohlverständliche Trachten, den Verdacht des Atheismus abzuweluen, dann eine gewisse übergroße Vorsicht dem Neuen Tesfament gegenüber sind neue Hemmnisse für eine glatte rei- bungslose Darstellung und danach für das Verständnis.
Wir halten die Darlegung B.s für recht aufhellend, sehen aber gerade durch die hier skizzierten „Prolegomena usw." wie durch den ihnen folgenden systematischen Überblick über das ganze Werk eine neue Schwierigkeit in ihrer ganzen Größe vor uns auftauchen: daß der Traktat von zwei verschie- denen Arten der Religion handelt, ist nicht zu bezweifeln. Dagegen wäre noch z.i fragen, ob der dort a isgebreitete Vernunftglauben wirklich ohne w^eiterej mit der philosophischen Religion der Ethik eins zu setzen ist oder ob nich; vielmehr der Traktat erst wichtige Elemente der in seiner Zeit ja in der Luft hegenden natürlichen Religion aufgenommen, sie mit derjenigen der „Ethik" verschmolzen und erst auf der Grundlage dieses — spinozistischen — Vernunft- glaubens zur Offenbarungsreligion Stellung genommen hat. Für uns bleibt darum auch nach der Untersrieh-m" Bohrr/ta'ins ein Residuum: Wie verhält
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sich Spinoza zur ,,\'ernunftreligion'" de'^ 17. .ralirhunrlorts ? P^rst die Kläiuiig dieses Problems wird das Rätsel des Traktats völlig zur Lösung bringen können. C. Winckler bietet eine ausgezeichnet lesbare Übersetzung des Reason- ableness, der der lateini.-che Text de» Briefe.5 Liniborcho an Locke vom 26. März 1697 angefügt ist. In einer ausführlichen Einleitung gibt Zscharnack einen Einblick in die Art des religiösen Rationalismus Lockes, der gerade auf Grund eines streng festgehaltenen biblizistischen vStandpunktes eine Vereinfachung der christlichen Religion oder vielmehr das Verständnis ihres ursprünglichen Sinnes erreichen will. Es folgt die Auseinanders(^tzung des Verhältnisoes zu den „Toleranzbriefen" und zum „Essay" und endlich ein Überblick über die geschichtlichen Wirkungen der Lockeschen Scluift.
Dr. Max Wiener- Stettin.
Crabrielo Gräfin Wartensleben, Die christliche Persönlichkeit im Idealbild. Eine Beschreibung sub specie psychologica. Köselsche Buchhandlung, Kempen und München, 1914. Die knappe Skizze malt von kirchlich -katholischem Standpunkt her das ideale Bild der religiösen Persönlichkeit; und die treue Bewährung der im Unter- titel gewiesenen Richtung verhindert das Abgleiten der Erörterung in ein Gebiet, in dem mu- grundsätzliche Übereinstimmung in der Weltansicht irucht- bare Diskxission und Verständigung ermöglicht. Indem die Verfasserin am Begriff der Per-^önlichkeit im prägnanten Sinne die mehr oder minder vollendete Bezogenlieit alles Peripherischen auf ein überragendes, jenes cTui-chdringende Zentrum herausstellt, gewimit sie zunächst einmal formell die Möglichkeit, um die Gotteslielje als den. Mittelpunkt der religiösen Persönlichkeit alle übrigen Lebensäußerungen als Ausstrahlungen jener zu gruppieren. Diese Form füllt .sie mit Gehalt durch die Aufweisung von sieben Prinzipaltugenden, die zu- sammen mit den davon abgeleiteten ein lebenswahres Bild ergeben. Befton- ders glücklich dünkt uns die Charakt^erisierung des religiös-ethischen Ideals des Heiligen. Obwohl das mystische Erlebnis, das in der unbedingten rest- losen Versenkung in den göttlichen Urgrund beruht, keine Differenzierung und Nüanzierung des von ihm erfüllten Bewußtseins zuzulassen scheint, wird gezeigt, wie die verschiedenen Anschauungen von (^ott bzw. von Christus sich in Besonderheiten mystischer Erfahrungen und ihnen entsprechenden eigen gearteten Idealen heiligen Lebens niederschlagen. — ■ Die Fülle wirklich kenn- zei(!hnender Zitate aus den Schriften der hervorragendsten Gestalten der katho- .schen Kirche sei besonders dankbar anerkannt.
Dr. Max Wiener- Stettin.
Emanucl Hirsch, Fichtes Religionsphilosophie im Rahmen der philo- sophischen Gesamtentwicklung Fichtes. Göttingen, Vandenhoeck und Rupiecht. 1914. Die folgerichtige Ausführung der Aufgabe ergibt für die religionsphilo- c-ophische Entwicklung Fichtes die gleiche Disposition wie für die Gesamt- 'ehre: an die Offenbarungskritik der Kantischen Periode schließt sich, mit dieser kaum durch gemeinsame Punkte verknüpft, die Zeit der früheren Wissen-
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Schaftslehre bis 1801, darauf deren reife Entfaltung mit der Unibiegung in den Pantheisnirs. Hirsch gibt jedesmal eine bis ias einzelne gehende Zer- gliederung der allgemein philosophischen und im besonderen ethischen Kon- zeptionen Fichtes. Auf diesem Fundament wird die Beurteilung einleuchtend, daß das System des radikalen Moralismus für eine positive, nicht etwa nur kritisch ihren Gegenstand zersetzende Philosophie der Religion von vornherein wenig fruchtbar erscheint, zumal durch das absolute Ich oder das Ich als Idee dem Eegriff von Gott der Raum entzogen wird, in dem er tatsächlich wirksam sein könnte. Unter solchem Gesichtspunkte ist daher auch der Erwägung zuzustimmen, daß die auf Grund einiger Stellen aus der Sittenlehre von 1798 möglich scheinende Identifizierung des aus der Person herausgesetzten reinen Ich mit C^ott nicht im Sinne Fichtes liege. Oder vielmehr damals noch nicht lag. Indem aber die „Icbviidige und wirkende moralische Oidnung" mit Gott einsgesetzt, diese moralische Weltordnuiig hinwiederum im unendlichen Streben des reinen Ich realisiert gedacht wird, tritt das reine Ich schließlich als mit derjenigen Funktion bedacht hervor, die vernünftigerweise für- den Gottes- begriff allein bereit steht. Gott kann also schließlich nicht als eine besondere Realität neben dem absoluten Ich begriffen werden, sondern er ist „die Ge- stalt, unter d^r die Qualität des reinen Ich dem Unphilosophen erscheint." So wird durch die Scheidung zwischen philosophischem und unphilosophischem Bewußt.- ein jene Disharmonie auszugleichen versucht. Das war freilich erst ein Anfang zur Lösung. Die Fortentwicklung des Systems, für deren Dar- stellung von Hirsch hauptsächlich „die Bestimmung des Menschen" herange- zogen wird, geht von der Isoliertheit der Einzeliche aus, die als Rgalität höherer Ordnung eine „gemeinschaftliche geistige Quelle'', nämlich Gott, verlange. Diese Richtung, welche die populäie „Bestimmung des Menschen" nach lichtes eigener Meinung nicht gründlich zur Klarheit bringt, entfaltet sich nun in den späteren Darlegungen der Wissenschaftslehre zur Reife. Wird jetzt die Urrealität, das Absolute, vorangestellt, als das im Grunde einzige Sein be- schrieben, so scheint diese spinozistische Wendung des Sj'stems das Wissen, d. h. aber uns einzelne Menschen, im Sein aufgehen zu lassen, zugiunde zu i-ichten. Sicherlich bedeutet das den Übergang zur- mystischen Rehgion. Aber der Verfasser zeigt mit Klarheit auf, wie nicht eine ursplünglich mystische Tendenz im Fichteschen Denken dieses Resultat gezeitigt hat, sondern wie gerade umgekehrt sich die Entwicklung vollzieht: „Das spekulative System des reinen Moialismus vermag sich gegenüber der Vernichtung, die ihm vom Gemeinschaft^ gedanken her droht, nur zu behaupten, indem es wird zur speku- lativen Leln-e von Gott." Dr. Max Wiener - Stettin.
Die verehrlichen Leser bitten wir um gefl. Beachtung der auf der vierten Uraschlagseite befindlichen Anzeige „Philosophische Bibliotliek zn kaufen gesucht".
Die beiden Grundtypen des Philosophierens
Versuch zu einer psychologischen Orientierung in den philosophischen Strömungen der Gegenwart '
Von
Dr. Vladimir Dvornikovic
Preis 2,50 M.
B E R L I N W 57, Bülowstraße 56
Druck und Verlag von Leonhard Simioii Nf.
1918
^
Dem Andenken an Friedrich Jodl
gewidmet
Ls ist sicherlich im ganzen Bereiche des gegenwärtigen philosophischen Strebens kein zweiter Punkt aufzufinden, in dem sich ein wirklich gemeinsamer, unabweisbarer Drang in einer so eindeutigen Form kundgeben würde, wie gerade in der Forderung nach einer durchgehenden Orientierung in der allzubunten Fülle des niodenieii Philosophierens. Die immer stärker im Wachsen be- griffene Zahl der einleitenden, geschichtlichen, synthetischen und systematischen Literatur bTldet ein geradezu symptomatisches Zeichen dafür. Da muß aber ernstlich die Frage erhoben werden: in welchem Verhältnis steht nun der positive Ertrag, der wirklich bisnun verifizierte Qehalt dieser Versuche zu den Dimensionen dieser sämtlichen Orientierungsliteratur?
Wer sich tatsächlich als ein Teilchen, als Mitträger der philo- sophischen Qesamtbestrebung fühlt, wer es liebt, von der ge- schichtlich-traditionellen schweren Armatur abzusehen, um bis zum lebendigen Pulse „unter die Haut" der Philosophie einzudringen, der wird sich von der weitaus größten Zahl der heute vorliegenden synthetischen Orientierungsversucbe gar nicht befriedigt finden. Es sind nämlich darunter sehr wenige Versuche anzutreffen, welche die tatsächlich bestehenden, erlebten und empfundenen schwersten Krisen der heutigen Philosophie in ihrer eigentlichen unmittelbaren Erlebnisart aufgedeckt, in ihren eigensten Tatbeständen offen und aufrichtig ausgedrückt und eingestanden haben. Es gut dies nament- lich für synthetische Werke von mehr „offiziellem" Anstriche, von Kompendien. Lehrbüchern und Einleitungen. Ein Philosoph von heute weiß wirklich nicht, wie er durch den schweren Panzer all dieser terminologisch armierten Philosopheme auf kürzestem, un- mittelbarstem Wege zu jenem Ansatzpunkte vordringen soll, wo sein ei gen -erlebtes philosophisches Weben und Streben an das objektiv Vorliegende anknüpfen soll.
Es wäre wirklich von besonderem Interesse, praktisch-metho- disch \on besonderem Werte, wenn uns die bedeutendsten Vertreter
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der heutigen Philosophie ein ausführliches Geständnis darüber ab- legen würden: wie lange sie dazu gebraucht haben, bis sie zu jenem lebendigen Kern des historisch-philosophischen Stromes vor- gedrungen waren, wo ihr Individuell-philosophisohes an das Gene- risch-philosophische organisch angebunden werden konnte.
Für alle wirklich Philosophierenden wäre dies eine höchst lehrreiche Statistik, weil man dadurch auf eine direkte, unver- fälschte Weise erfahren würde, in welch ungünstigem Verhältnisse in der philosophischen „Embryologie", — die schließlich jeder ein- zelne durchmachen muß — die Känogenesis zur Palingenesis dieser Embryologie steht. Die Anknüpfungsweise des philosophie- renden Individuums an das objektivierte Ganze der Philosophie scheint sich theoretisch wie auch praktisch immer schwieriger zu gestalten; die richtige, unmittelbarste „subjektive .\niknuphmgs- formel" scheint immer weiter entrückt zu sein. Man könnte viel- leicht sagen, daß es sehr viele gibt, die zu einer solchen unverfehlten „Anknüpfung" niemals voll und richtig gelangt sind.
Die völlige Desorganisation, die verwirrend bunte termino- logische Armatur scheint den lebendigen Puls des einheitlichen Menschlich-philosophischen zudecken, erdrücken zu wollen.
Auf welcher Seite liegt da die Schuld? — auf d'er subjektiven oder objektiven Seite dieses Verhältnisses? — Mir scheint .sie in der gebräuchlichen Verknüpf ungs weise beider Momente zu liegen. Wenn wir genauer zusehen, auf welche Weise man gewöhn- lich „emführt", orientiert, informiert, so springt uns vor allem die allzu philosophische Art dieser Orientierungen ins Auge, — mag auch diese Konstatierung im ersten Augenblick paradox klingen. Wir sehen alle diese Orientierungsversuche in ihren Aus- gangspunkten gerade dort einsetzen, wo sie eben zum Abschluß ge- langen sollten; wir sehen, daß sie ihre ersten Angriffspunkte gerade dorten aufzufinden bestrebt sind', wo sie ihr "letztes Ziel erblicken sollten; daß man zumeist von den fertig geformten, subtil zuge- spitzten Emanationen des philosophischen Geistes ausgeht, bei den höchst ausgeprägten, durchwegs erkenntnis theoretischen, innerlich philosophischen Distinktionen und Problemstellungen anfängt, statt an das Ganze der Philosophie von einer breiteren, einfacheren Grund- lage aus heranzutreten.
Man will in die Philosophie einführen, in der Philosophie orien-
Die beiden Grundtypen des Pliilosophierens 7
tieren — durch diese Philosophie allein, im Rahmen dieser Philo- sophie allein. Man sucht die Ausgangs- und Endpunkte im Rahmen der fertig vorliegenden historischen Gestaltungen der Philosophie. Man wirft sich unmittelbar in das breite Fahrwasser des philosophi- schen Strehen-s und Kämpfens, man trachtet direkt in die innigsten methodischen und sachlichen Gegensätze dieser philosophia militans einzudringen, in der Kampfarena je früher einen besonderen Platz mit einem ganz besonderen eigenen (möglichst neuen und originellen) ,.— ismus" einzunehmen um ihn gegen alle irgendwie gegensätzliche „— ismen" standhaft zu behaupten. Das Gemeinsam-charakteristisoho an allen diesen „Kampforientierungen" — werni man sie nämlich beim richtigen Namen neiuien soll — ist nun das Folgende: man tritt mit einem gewissen, mehr oder minder deutlich angelegten, schon ebenfalls philosophischen Standpunkte heran, schafft sich auf Grund der gegenseitigen relativen Gegensätze einzelner philosophischen Standpunkte und Philosopheme ein durchaus inneres, ebenfalls rela- tives Kriterium, vermittels dessen man dann eine Orientierungs-. rectius eine Kampfstellung besteigen soll. Einen gewissen — ismus mißt man an einem zweiten und so geht das fort in einem im Kreise, ohne zu einem weiten Blicke überhaupt Atem zu gewinnen. Es muß da die Frage erhoben werden, ob nach bisherigen Erfahrungen überhaupt diese usuelle Grundlage phüosophischer Orientierungen und Einführungen als die eigentlich einzige prinzipiell berechtigte und notwendige, ja sogar selbstverständliche Einführungsweise gelten soll?
Sind denn wirklich alle diese Distinktionen und innerlich sach- lichen Stützpunkte der philosophischen Praxis und des philosophi- schen Kampfes selbst zur gleichen Zeit auch als die einzig richtigen und möglichen Ausgangs- und Stützpunkte einer prinzipiellen Zu- rcchtfindung, einer Einführung in die Philosophie überhaupt anzuneh- nien? Bisherige Erfahrungen, wie auch eine prinzipiell-methodische Erwägung scheinen entschieden dagegen zu sprechen. Muß denn eine philosophische Orientierung auch einzig und allein philosophisch bleiben? Dürfen wir, — ohne eine „absolute Philosophie" über allen diesen Philosophien zu fordern — behufs einer bloßen Orientierung, zur Auffindung ehier weitest angelegten Anknüpfungsform cl an die objektivierte Philosophie auf einen anderswie möglichen metho- dischen feehelf zu diesem Orientierungszwecke denken? Dürfte
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man nicht vom Standpunkte dieses methodischen B e d ü r f - n i s s e s aus auf ein „Heraustreten" aus dier Philosophie denken, um eben dadurch ein sicher orientiert)es Eintreten, Eingreifen zu erfol- gen, zu ermöglichen? Gäbe es außerhalb der „Innerlichkeit" der Philosophie selbst gar keine weitere Grundlage, in welcher die Ausgansspunkte der Orientierung, die „Eingangspunkte" in jene Innerlichkeit aufgefunden, d. h. in den Rahmen der Philosophie selbst fortsesponnen werden könnten?
Es soll dabei nochmals und ausdrücklich lietont werden, daß es sich bei einem solchen Ausgreifen zum Zwecke des Eingreifens um einen b 1 o I.! methodisch gehaltenen Z ii g handeln würde — um ein, sozusagen, technisch-heuristisches Mittel. Uns scheint nun dieses methodische Vehikel in dem zentralen Brennpamkte aller theoretischen und praktischen, sachlichen und methodischen Probleme und Angelegenheiten der Philosophie gelegen zu sein: in der unmittelbar erlebten allgemein-psychischen Basis des Ver- hältnisses und der Stellung des spezifisch Philo- sophischen zu sämtlichen Aktivitäten des Qei- s t e s. Es gilt also aus dem engeren Rahmen des philosophischen Tuns und Treibens selbst in einen weiteren Umkreis psychischer Inhalte und Relationen überzutreten, um von diesem, un- mittelbar und breitest fundierten Gesichtspunkte die Erlebnisart, die schlichte psychologische Natur dieses Tuns und Treibens von der nächsten Nähe anzuschauen und zu bestimmen. Ohne dadurch im geringsten der prinzipiellen Entscheidung des Problems einer „Psychologisierung" der Philosophie vorzugreifen, geht unsere Forderung nach einer psychologisch fundierten Orientierung und Einführung darauf hinaus, ein methodisches Vehikel in Probe zu stellen, einem alten Bedürfnisse auf eine neu geartete, neueren me- thodischen Erfahrungen entnommene Weise entgegenzukommen.
Es soll überhaupt die Frage aufgeworfen werden: ist eine psychologische Einführung und Orientierung in d e r P h i 1 0 s 0 p h i e prinzipiell möglich und z u 1 ä s si g ? Wenn ja, in welchem. Sinne und in welchem Bereiche? Wäre viel- leicht eine so fundierte Einleitung sogar notwendig, dem allgemei- nen wissenschaftlichen und philosophischen Stande völlig adäquat?
Niemanden kann es verwehrt werden, in der Praxis und frischer Tat der Forschung sich neue Werkzeuge und Behelfe, neue.
Die beiden Orundtypen des Philosopliierens 9
wenn auch /iinächst individuell-subjektiv verifizierbare technische jMittel zu schaffen. Wir lassen uns hier auch nichts weiter ange- legen sein, als eine solche zunächst subjektiv, praktisch gehaltene Formel zu einer prinzipiell methodischen Objektivierung vorzu- .sclilagen, einer objektiv-methodischen Prüfung zu unterziehen.
Dabei sind wir uns dessen vollkommen bewußt, mit einer sol- chen Forderung der psychologisch methodisierten Einführung in die Philosophie der Gegenwart mit gewissen bedeutenden philosophi- schen Kreisen von vornherein in den schärfsten prinzipiellen Gegen- satz geraten zu sein. Wir sind uns aber in demselben Moment auch dessen nicht minder bewußt, daß der so viel verabscheute Psycho- logismus als methodisch-philosophisches Problem aus dem Felde philosophischer Aktualität gar nicht weggeleugnet werden kann und daß gerade in neuester Zeit infolge gewisser psychologischer Be- wegungen (experimentelle Methode in der Psychologie des Denkens und Erkennens) das psychologisch-philosophische Problem — im weitesten Sinne des Wortes — zu einer offenen, einfachen Tatsache geworden ist. Es soll hier nur auf dias vortreffliche allzuwenig ge- würdigte Buch C. Wenzigs') aufmerksam gemacht werden, der es unternommen hat, verschiedene Weltanschauungsformen auf ihre psychogenetisch gemeinsamen Grundformeln zurückzuführern, — um eben dadurch in rein philosophischer Hinsicht höchst anregend und klärend zu wirken. Die fertige Tat dieser psychologischen Ein- leitung Wenzigs greift also unserer prinzipiellen Frage zuvor.
Während nun diese durchwegs psychologisch fundierte Einlei- tung auf das fertige Gebilde, auf das Gerüst gewisser Weltanschau- ungen gerichtet ist (Monismus, Dualismus. Vitalismus, Mechanismus, Evolutionismus mit ihren formell-methodischen und psychologischen Wurzeln), handelt es sich in unserem methodisch-prinzipiellen Ver- suche um die psychologische Aufhellung der Grundtypen und Grund- methoden des Philosophierens selbst, um das Tun und nicht um fertige Taten, fertige Formierungen der Philosophie.
Sämtliche moderne philosophische Divergenzen lassen sich nie
^) W e n z i g- C, Die Weltanschauungen der Gegenwart in Gegen- satz lind Ausgleich. Einführung in die Grundproblerae und Grundbegriffe der Philosophie. Leipzig, 1907 („Wissensch. und Bildung". Bd. 14). — Dieses Werk wurde von der Ta.geskritik in schablonmäßiger Weise mit Lob abgefertigt.
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in ihren eigentlichen Wurizehi als (bloß) philosophische Gegensätze begreifen; denn diese Gegensätze sind im Grunde auch psycho- logische Gegensätze. Ihre Ansatzpunkte liegen in der breiteren, allgemein-psychischen Konstellation, in dem Bereiche aller der- jenigen Regulative, die von Anfang an auf die Betätigung und Ent- faltung des Intellektes als philosophischen Organs von Einfluß ge- wesen sind. Es genügt dazu ein einfacher Hinweis auf die ge- bräuchliche philosophische, erkenntnistheoretische Charakterisierung und Benennung philosophischer Richtungen und Standpunkte: gibt es unter diesen Bezeichnungen eine einzige, die voll und ganz das Wesen irgend eines Philcsophems ausdrücken würde? mit allen ihren Seiten, allen Motiven und entscheidenden Konsequenzen? Sind nicht alle diese — ismen durchaus einseitig, relativ eingestellt? Greifen wir nur eines der geläufigsten Beispiele heraus: die ge- wöhnlichie erkenntnistheoretische Entgegensetzung von Rationalis- mus und Empirismus. Wie einseitig, farblos und eng erschenit uns diese Entgegensetzung, wenn wir all ähc Momente ins Auge fassen, die damit regelmäßig verknüpft erscheinen, die man aber durch neue getrennt ausgedrückte, von anderen neuen Ausgangspunkten hergeleitete — ismen kennzeichnen muß. Und doch führt uns der synthetische Blick dazu, innerhalb dieser getrennten, relativ entgegengesetzten Charakterisierungen auf beiden Seiten einen ein- heitlichen Habitus, der dies alles in sich zusammenfassen soll, zu konstruieren. Es muß doch unter diesem äußeren, augenscheiTilich so zerrissenen Angesicht ein verborgen einheitliches Leben vor sich gehen. Es muß doch alles, was sich in seiner innerlichen Verwandt- schaft und äußerer Getrenntheit um die Grundbezeichnung des Rationalismus auf einer und des Empirismus auf anderer Seite her- umschart einem einzigen inneren Habitus entsprechen. Es muß da auf beiden, so differenzierten Seiten ein gemein- samer K on V e r g e n z p u n k t d a r u n t e r s t e c k e n ; von den subtilsten philasophischen Zuspitzungen muß zur psychologischen, genetischen Ouelle zurückgegangen werden. — um eben zu diesem Punkte vorzudringen.
Die ganze äußere schwere philosophische Ar- matur soll bis zu r psychologischen Nacktheit, bis zum alleinigen lebendigen Pulse des Philosopie- r e n s ab g e n o m m e n wer d' e n !
Die beiden Gruiidtypen des Philosophierens 11
Was steckt da eigentlich auch psychologisch wirkliches und le- bendiges? Nur im Wege solcher Fragestellungen werden die gegen- seitig-relativen, anscheinend chaotischen Divergen-zen auf gewisse abgeschlossene Qrundtypen zurückgeführt und zusammengebunden werden. Die daraus resultierenden Typen werden sich also zu psychologischen Qrundtypen des Philosophierens überhaupt gestalten müsse n.
Ebenso, wie die metaphysischen und erkenntnistheoretischen Entgegensetzungen antithetisch diichotomisch vorgehen,') werden wir auch hier zu einer psychologischen Antithesis gelangen. Die ganze Summe der miteinander unverbundenen, koordinierten Cha- raktere auf einer Seite soll zu einem einheitlichen Qnmdhabitus im Gegensatz zum analogen Orundhabitus auf anderer Seite vertieft und zusammengebunden werden. Es wird also auch dieser Einteilung eine gegenseitig rückwirkende Charakterisierung zu Grunde ge- legt, es soll aber zu einer einzigen, einfachen Grund anti- thesis kommen statt nnzähliger. mit einander unverbundenen par- tiellen Antithesen.
Wir wollen nun von irgend einer engeren Antithesis erkennt- nistheoretischer Natur ausgehen, um durch Ausbreitung und Ver- tiefung hieraus zu jener allgemdn psychologischen Qrundformel zu gelangen, die auch andere verwandte, manchmal auch philosophisch „nichtverwandte" Momente in sich aufnehmen wird. Fassen wir zunächst die gebräuchlichste Entgegensetzimg von Rationalismus und Empirismus ins Auge. Wie würde sich d'a die oben erwähnte „Vertiefung" gestalten?
Am Grunde aller Rationalismen finden wir den ersten, klassi- schen, „schlechthin philosophischen" Typus. Von den ersten histo- rischen Kundgebungsformen des philosophischen Dranges bis auf un- sere Tage erscheint uns dieser Typus als reicher, stärker und abge- schlossener repräsentiert als der zweite, den empirischen Philosophe- men zu Grunde liegende Typus. Das Formale und Statische kommt in diesem Typus zum besonderen Ausdruck; Philosophie-geschicht- lich deckt er sich im allgemeinen mit der von E. Laas geprägten
2) Über diesen Punkt sind ne.uerding's einige spezielle Arbeiten er- schienen, darunter Hofman Paul, Die antithetische Struktur des Be- wußtseins. Qrundleguncr der Theorie der Weltanschauungsformen.
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„Platonisiereiiden Philosophie". Das Gemeinsame in diesem Typus von seinem ersten Anftreten in der Geschichte bis auf den modernen Neukantianismus l>esteht darin, daß die gesamte Erkenntnistätigkeit und Erkeniitnisriclitung nach einem fertig vorausgesetzten morpho- logischen und ideologischen Gerüst orientiert ist. Den eigentlichen Kern und die Grundlage bildet dieses formale Gerüst, welches auf dogmatischer, wie auch auf kritischer Stufe als unbedingt notwendig postuliert wird, so daß sämtliche Philosopheme von diesem Typus gewiissermaßen „von oben nach unten" orientiert sind. Von der Form geht man zum hilialte, von der Norm und vom Ideal zur Tatsache über. Dieses, schon vorphilasophisch angelegte und aus- gebildete Grundgerüst gestaltete sich dann in den ersten historischen Formen der Philosophie zu einem ausgepräglen und spezifischen — eben philosophischen Postulat. Durch eine, sozusagen „Über- wachsung", durch die in Unendlichkeit projizierte, vom Inhalte ab- gelöste Morphologie des Erkennens kam es im Schöße der helleni- schen Kultur zum ersten Mal zu diesem ausgesprochen „philosophi- schen" Postulat, — welches vom biotischen Erkenntnispostulat ab- wich, ja sich zu ihm in direkten Gegensatz stellte. Das Auftauchen dieses neuen, eben spezifisch philosophischen Erkenntnispostulates, ging als psychologisches Ereignis — wie wir es hier aus- drücklich auffassen wollen — als ein vorzugsweise negativ-privater, idealbildender Prozeß vor sich. Dieses Postulieren-Projizieren, dieses Hinausgehen über das Tatsächliche und Absehen vom Tatsächlichen fand nun seinen endgültigen Abschluß in einer „rein" philosophischen Zielsetzung, in der Forderung nach einer absoluten Erkenntnis der absoluten Wahrheit. Mit dieser mehr oder minder klaren Ziel- setzung trat die Philosophie auf und dieses ideomorphologische Skelett blieb von Anfang an bis auf den heutigen Tag als derjenige Kernpunkt bestehen, der über die dogmatisch-kritische Grenze hin- aus durch alle tiefer und tiefer gehende regressive Autokritik im Wesenthchen intakt, unverändert, griundlegend geblieben ist.
Es wäre nun eine besondere zunächst rein psychologische Auf- gabe: dieses, im vorwissenschaftlichen Intellekt angelegte und vor- gebildete Ideal in bezug auf seine Psychogenesis und seine rein psychologische Natur zu untersuchen. Wie mag es nun zu einem solchen Erkenntnisideal gekommen sein, worin besteht der psycho- logische Inhalt und die Wurzel dieses Ideals? Warum mußte es
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auf (Irund der .gesamten, psycliolosischen. Insbesondere intcllek- iiiollcn Konstellation gerade zu einem derart formierten, zum spezifisch- philosophischen Erkenntnisideal kom- men? Es muß doch einen ganz besonderen, auch rein philosophi- schen Reiz haben: der bloßen Möglichkeit und Statthaftigkeit einer solchen Fragestellung sich bewußt zu werden. Wir wollen hier gar nicht weiter erörtern, warum gerade solche Fragen nach der Psycho- genesis des philosophischen Postulates an und für sich in ihrer Zii- lässigkeit oder saugen wir philosophischer ..Nützlichkeit" bisher bei weitem nicht in dem Maße klargestellt und gewürdigt wurden, als sie es gerade in der heutigen Sachlage verdienten. Liegt ja nicht auch der Bildung dieses obersten, spezifisch-philosophischen Erkennt- nisideals ein und dasselbe psychologische Grundschema des Ziel- und Idealent Werfens und Formierens überhaupt zu Grunde? Wird uns dieser Gedankengang nicht schon dadurch nahegelegt, daß in dem Rahmen der neueren psychologischen Forschung auch die gesamte intellektuelle Tätigkeit als eine psychologlsclie und physiologische Aktivitätsform in ganz analoger Weise mit anderen psychischen Po- tenzen aufgefaßt wird und somit als psychische Tätigkeit vom Grundschema der Ziel- und 1 d e a 1 b i 1 d u n g gar nicht a u s g e n 0 m e n \\^ e r d c n kann? Zu einem solchen psycho- logisch-methodischen Eingreifen in das höchste Erkenntnisideal selbst werden wir schon deswegen auf Grund historisch-philosophi- scher, spezialwissenschaftlicher und psychologischer Erfahrungen veranlaßt, weil eben auf diesen Verifikationswegen das absolute Er- kenntnisideal in seiner klassischen Urform unhaltbar, undienlich, ge- danklich unvollziehbar und illusorisch geworden ist. Dieses prak- tisch unhaltbare, durch seine abgründlich tiefe Leere und Dunkelheit zugleich anziehend und beklemmend wirkende absolute Erkenntnis- ideal wird mit einem Schlage weit einfacher und begreiflicher, wenn man an die Sache auch psychologisch herankommt. Schauen wir uns den eigentlichen Bildungsweg und Werdegang dieses Ideals mit dem ganzen zugehörigen morphologischen Unterbau aus der un- mittelbaren psychologischen Nähe an!
Der Ausgangspunkt liegt auch hier, wie bei a)llen ideologischen Projektionen in dem Erlebten, Unmittelbaren, Inhaltlichen. Das Psychisch-reale, das Konkret-individuelle, von allen damit zu- sammenhängenden psychischen Potenzen getragene faktische
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Erkennen bildet die einzig mögliche Grundlage zu diesem ideologi- schen „Überbau". Nur im Substrate des Faktischen, „Seienden" kann auch hier die Projektion des Idealen, die Forderung des Not- wendigen ihren ersten Ursprung gefunden haben. Einzelne konkre- ten, bindenden, einengenden Relationen werden „weggedacht", auf- gelöst, das tatsächlich erlebte Erkennen in allen Richtungen ringsum von seiner realpsychischen Bedingtheit aus dem real-psy chischen Konn e xus „ab — s Ol viert" — und nun steht die erste Projek- tion s r i c h t u n g d er „absoluten" Erkenntnis offen V o r u n s.
Während das tatsächlich erlebte Erkennen immer nur als ein konkret-einzelnes Erkennen auftritt, soll es auch ein allge- meines Erkennen, ein Erkennen überhaupt geben. Während die individuell erlebten Erkenntnisse zeitlich und räumlich determiniert und bestimmt sind, gestaltet sich das ideale Erkennen zu einem zeit- und raumlosen völlig indeterminierten Erkennen, zur Philosophie sub specie aeternitatis. Außer den einzel-konkreten, unfertigen, rela- tiv geltenden Wahrheiten muß es auch eine dieser Veränderlichkeit und Relativität völlig entrückte Erkenntnisweise geben, die unver- änderliche, dem Subjektiven und Relativen entwichene, eben abso- lute Wahrheiten zum Ziele hat. Durch einfaches Wegdenken ge- wisser psychisch-realer Determinationen im Wege einer negativen Abstraktion entstand dieser ideomorphologische Rahmen, der sich dann in seiner immensen Weite der „Ausfüllungsaufgabe" aufge- tan hat. Der psychologische Blick aber lehrt uns der Bodenlosig- keit dieses Idealgebildes mutiger ins Auge zu schauen, in der größten philosophischen Unfaßlichkeit eine psychologische Einfachheit zu er- kennen. Die beiden Pole des Erkennens, der morphologisch- statische und der fluktuell-inhaltliche wurden nämlich in der Weise getrennt, daß die morphologische Seite als autonome Seltbsttätigkeit und das einzige Erkenntnisregulativ vom Inhalte losgetrennt, hypo- stasiert, absolutiviert wurde. Diese Absolut isation des morphologischen und ideologischen Momentes in dem Erkennen erscheint uns somit als der eigent- liche Qrundchar akt er dieses ersten Typus. Man könnte ihn also kurz den ideomorphologischen, statischen Typus nennen, weil in seinem Erkenntnisideal ein besonderes Streben
Die beiden Grundtypen des Philosophierens 15
nacii einer endgültig abgeschlossenen Erkenntnisstatik zum Aus- druck gelangt. Es wird gewissermaßen ein ideales End- stadium der Erkenntnis postuliert und entworfen, — wozu uns das Hegeische System mit seinem charakteristischen Ansprüche auf historische „Endgültigkeit" als bestes Beispiel gelten kann. Die nähere Beschaffenheit dieses morphologischen Erkenntiiisgebäudes folgt mm aus seiner Psychogenesis. aus der Art und Weise seiner Ablösung vom Inhaltlich-faktischen. Der sämtlichen „biologischen" Erkenntnis determination und Relativität werden analoge reine Ab- solutheiten der spezifisch philosophischen Erkenntnis entgegenge- stellt. Der psychologisch erlebbaren Vemum'ttätigkeit wird eine philosophische reine Vernunft entgegengestellt, — übrigens eine ur- alte, vorbildliche Forderung im Rahmen aller „platonisierenden" Philosopheme.^) Denn nur in einer entsprechend absoluten Vernunft kann die Trägerin der absoluten Wahrheit gegeben sein. Der höch- sten absoluten Wahrheit wird demnach auch eine entsprechend ab- solutivierte und konstruierte, der bloßen psychologischen entgegenge- setzte reine Vernunft auf die Seite gestellt. Damit wird die Abso- lutisation als Ermöglichung und Sicherstellung des Erkenntnisideals zu Ende gebracht und die Erk enntnista tsächlichkeit mit einem Schwünge von einem immensen Bogen der Erkenntnisnotwendigkeit, des Erkenntnis- postulates überhöht, ja zugedeckt Die idealen Postii- late werden verselbständigt, indem sie eben der Tatsächlichkeit übergestellt werden, um dadurch zu einem festen Stütz- und Aus- gangspunkte, Endkriterium und Endquell der rationalen, einzig philo- sophischen Erkenntnis erhoben zu werden.
Im R a h m e n d i e s e r losgelösten, a b s o 1 u t i v i e r t e n Morphologie allein ergeben sich dann alle Grund-
') Zu dieser „Vernunft" sagt E. L a a s : »Wenn der Sensualismus lehrt, daß alle Vorstellungen ... nur abgeleitete und umgebildete („trans- formierte") Empfindungen (Wahrnehmungen) seien, nehmen Piaton und Kant neben und über den sinnlichen Tatsachen ein in spontaner Tätig- keit mit „reinen" Formen und Begriffen operierendes, übrigens nicht animalisches, sondern spezifisch menschliches, geistiges Vermögen („Vernunft") an, aus dem alles „Denken" und „Erkennen" seinen Ur- sprung und seine „Qiltigkeit" nehme«, In: Idealismus u. Positivismus, III. Bd., S. 3. . *
1;5 Vladimir Dvornikovir
r e '^ u 1 ;i t i V c , alle P r o b 1 e m s t e 11 u n .y; e n und - 1 ö s u n - .i^ e n , alle Wahrheiten und i h r ^c Kriterien von selbst. Alles, was außerhalb diieses apriorischen Rahmens liegte kann ganz und gar nicht zu den philosophischen Erkenntnisinstanzen gerechnet werden, kann durchaus nicht auf diesen geschlossenen Rahmen Einfluß nehmen.
Die formale Kraft des Erkeimens ging nach seiner, schon ur- sprünglich biologisch bedingten Abhebung vom Konkret-in- haltlichen zu einer endiosen Seibstentfaltnug und Selbstbe- tätigung über, hl seiner ersten historischen, pliilosophisch primitiv- sten Form äußert sich dieses rationale Kraftbewußtsein in der an- tiken (vorzugsweise Eleatischen) Dialektik. Als weitere folgende Differenzierungen dieser verselbständigten formalen Entfaltungs- kraft treten die reine Mathematik und Logik auf, wobei die erste jedoch schon „vorphilosophisch" zum Ausdruck gelangt war. Die „Platonische Scheu vor dem Relativen und Variablen"*) nimmt dann weiter in der Geschichte der Philosophie und der Wissenschaft ver- schiedenste differenzierte Formen an. Während dieser formale Typus schon in den ersten philosophischen Anfängen eine Opposition seines negativen Antitypus erlebt hat, wiederholt sich dieser in der hellenischen Gedankenwelt kilassisch vorgebildete Gegensatz erst in der neuzeitlichen Philosophie, — um. zuletzt in unseren Tagen die spezifische zeitgemäße Form des logizistisch-psychologischen er- kenntnistheoretischen Gegensatzes anzunehmen. Im Verhältnisse des Formalen zum Materialen, des Normativen zum Wirklichen fan- den die meisten philosophischen Probleme ihren Ursprung und W'ährend die gesamte empirische Wissenschaft der Hellenen, des Mittelalters und der frühesten Neuzeit nicht imstande war, die abso- lute Autonomie des Formalen ernstlich zu gefährden, verblieb sie noch tief in die neuzeitliche Epoche in ihrer Selbstherrlichkeit unan- getastet. Da kam aber diie neue Wissenschaft, es taten sich neue Erkenntnisquellen und -aussiebten auf und das formal-materiale Problem erwachte zu neuem weit aktuelleren Leben. Im Kritizis- mus Lockes und liumes erschien die erste mutige Hand, die es ge- wagt hat, an dem eisernen Gerüst der traditionellen Erkenntnismorphologie ernstlich zu rüttein.
*) E. L a a s , Idealismus und Positiivismus, III. Bd., S. 7.
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Wiedervereinigung von Inhalt und Form, von Tatsache und Norm gestaltete sich zu einem philosophischen Bedürf- nisse ersten Ranges, aber auch zum Anlaß des heftigen Zusammen- stoßes der autonom-rationalen historischen Traditionen mit der neuen kritischen und synthetischen Forderung.
Bis über die „kritische" Grenze hinaus versucht sich das Formale in seiner souveränen, losgelösten Stellung aufrecht zu erhalten; von der Absolutisation der Wahrheit als getreuer „Abspiegelung", ja ..Schaffung" der Welt ging man jetzt in dem kritischen, methodischen Zeitalter zur Absolutisation des Logizismns und der apriorischen Kategorien, zur Rettung und Sicherung der reinen Logik und des reinen Apriori über. Während der erste kritische Griff Lockes und Humas zur gleichen Zeit, ja eigentlich ein psychologisch-analytischer Griff war, stellte sich die spätere Kantische Varietät des Kritizis- mus in einen entschiedenen Gegensatz zu diesem psychologisch aposteriorischen englischen Kritizismus, in dem sie das autonom- apriorische Kontinuum aufrecht hielt und ihr Hauptaugenmerk wie- der und abermals auf das Absolute, Über- und Außerempirische, Über- und Außerpsychische richtete. Es gibt sich somit in dem ganzen modernen psychologistisch-antipsychologistischen Streit der alte Gegensatz beider Typen in einer neuen zeitgemäßen — eben ..kritizisierten" Form kund.
Die Abneigung gegen alle empirische Psychologie, nam.entlich aber gegen alle ihre irgendwie geartete philosophische Ein- griffe wurde vom Altmeister treu in die Erbschaft übernommen und hl weit radikalere Spitzen getrieben.®) Bekanntlich gestalten sich erst die neuesten Ausläufer des Kantianismus (namentlich in der „Marburger Schule") zu einem ausgesprochenen Antipsychologis- mus. Die „Farblosigkeit" des Meisters in dieser Beziehung wird so- gar öfters der koncisen Begriffsfassung des modernen Logizismus entgegengesetzt.
Die traditionelle Abneigung gegen das Sachliche und Relative gestaltet sich eben auf dem kritischen Stadium zur ausgesprochenen
^) In Bezug auf Kant selbst sagt zum Beispiel Stumpf: „Vernach- lässigung der Psychologie .... ist ein Grundschade des kantischen Philosophierens", Psychologie und Erkenntnistheorie (Abhandl. d. philos, philol. Classe d. Kgl. Bayer. Akad. 19. Bd., 1892, S. 493.
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lg Vladimir Dvo i ni l<ovio
Abneigung gegen alle Psychologie, namenblicli aber .liegen alle .?nöglichen Eingriffe und Einmengungen in das Rein- apriorische, Philosophische. Der alte formale Charakterzug kommt jetzt in der neuen Form als ein spezifisch-methodischer Standpunkt desselben nun k r i t i z i s i e r t e n Typus zum Ausdruck.
Diese Aversion ist im Grunde vollkommen identisch mit der erwähnten „Platonischen Scheu". Die Notwendigkeit des Logischen einerseits und die Tatsächlickeit des Psychologischen andrerseits haben mit einander für alle Zeiten gar nichts zu tun. An die Stelle des methaphysisch-ontologischen Dogmas ist nun das „logizistische Dogma" getreten und die so beliebte Abgrenzung der dogmatischen Philosophie gegen die kritische erweist sich als durchaus relativ; es kann im Gegenteil nur von einer stufenartigen, relativ immer weiter schreitenden „Kritizisierung" der Philosophie Rede sein. In dem ge- samten Kantisch orientierten Kritizismus steckt nur eine neue Sicherungs- und Transformationsformel desselben alten formalen Grundtypus. Dieses typische Kontinuum manifestiert sich am aus- geprägtesten in der aktivsten und markantesten neukantischen Rich- tung unserer Tage, in der Marburger Schule, weil diese ausge- sprochen logizistische Richtung klipp und klar die Erfahrungs- quelle des Erkennens ablehnt und das logisch-formale, apriorische Moment als die einzige eigentliche Erkeuintnisinstanz hin- stellt. Nur durch das Denken wird auch die Erfahrung zur Erfah- rung, eine besondere „Erfahrung" außerhalb des Denkens erscheint daher als Erkenntnisquelle vollkommen überflüssig.
Die Absolutisation bleibt also auch über die kritische Grenze als Grundcharakter vollkommen bewahrt, sie wird sogar konsequenter imd methodischer durchgeführt, im Gegensatz zum empiristischen Typus noch schärfer ausgeprägt und erkenntnistheoretisch gegen allen möglichen Psychologismus am zähesten verteidigt. Schon das „Äußere" dieser Philosophie, ihr Wirkungskreis und ihre Methode, ja auch ihre spezifische Terminologie und Phraseologie weist die un- unterbrochenen historischen Spuren ihres psychogenetischen Ur- sprunges auf: der abstraktiven Privation nämlich aus dem real- psychischen Substrate. Es ist im höchsten Grade bezeichnend für alle modernen Philosopheme von diesem Typus, namentlich aber für die meisten neukantischen Richtungen, daß einige charak- teristische Termini und Attribute mit besonderer
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\orliebc, mit geradezu auffallender Durchgän- gigkeit und Wiederholung gebraucht, betont und auf allen Gebieten in analoger Weise angewandt werden. Dieses beliebteste Attribut ist die Rein- heit mit einigen anderen sinnverwandten und analogen Termini.
Wir erblicken darin das ausgeprägteste und auffälligste ..äiincre'' Zeichen jener idealbildenden Privation, die wir am Anfang als psychogenetische Qrundformicl dieses nicht bloß gegenwär- tigen und historischen, sondern allgemein intellektuell-psychologischen Typus hingestellt haben. Denn in dieser Philosophie ist alles rein: reine Vernunft, reine Begriffe, reine Logik, reiner Verstand, reines Gesetz, reine Norm, reines Ich, reines Subjekt, reines Objekt, reine Form, reine Erkenntnis, reines Denken, reine Ideen, reine An- schauung, reine Erfahrung, reine Vorstellung, reine Wahrheit, reiner Wille, reines Gefühl, reiner Wert usw.
Um hier nur eines von den bedeutenden Beispielen anzufüh- ren, machen wir auf die drei analogen Titel der drei Teile vom Cohen'schen Hauptwerk „System der Philosophie" aufmerksam: LogiK der reinen Erkenntnis, Ethik des reinen Willens, Ästhetik des reinen Gefühls;") — ^das Übrige braucht gar nicht mit Beispielen illustriert zu werden, da dieses Attribut in der Ter- minologie kantischer und neukantischer Werke auf jeder Seite anzu- treffen ist. Vikarierend dafür wird auch „bloß" gebraucht: „Er- kenntnis aus bloßen Begriffen", „bloße Ideen", „bloße Vernunft" usw., ebenso auch einige negative Bezeichnungen: unabhängig, un- ableitbar, unbegrenzt, unbedmgt u. a. Statt dieser, zumeist in positiver Form ausgedrückten Privationen und Ablösungen wird noch eine Menge negativer und privativer Präfixe, Präpositionen und Adverbien als sozusagen „Absolutisations-hebel" gebraucht, wo- durch der im Grunde negative Charakter dieser Morphogenesis noch stärker zum Ausdruck gelangt. Diese charakteristischen sprach- lichen Ablösungs-, Absolutisationsmittel verleihen all diesen Phiio- sophemen ein besonderes, eigentümliches Gepräge, an dem sie so- zusagen schon äußerlich erkannt werden können. Wir brauchen hier
^) Hermann Cohen, System der Philosophie I. Teil, Loigik der reinen Erkenntnis, Berlin 1902, 2. Aufl., 1914; II. Teil, Ethik d. reinen Wissens, ibid. 1904 (2. Aufl. 1907) u. III. Teil, Ästhetik d. reinen Ge- fühls, 2 Bände, ibid. 1912.
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zur Illustration nur einige der gebräuchlichsten von diesen gram- matischen Absolutisationshebeln anzufüliren: un- (un-zeitlich, un- räumlich, nn-endlidi, nn-abhängig usw.); über (über-individuell. über-zeitlich, über-sinnlich, über alle Erfahrung; außer, außer- halb (außer-psychisch, außer-inhaltlich, außer-zeitlich, außer-indivi- duiell. außer-dinglich, außerhalb der Erfahrung usw.; von besonderer Bedeutung: an sich, für sich, an undfürsich, (Ding an sich. Erkennen an sich. Denken an sich, Subjekt an sich, Objekt an sich, Wahrheit an sich — oder auch „für sich" statt „an sich", Fürsich- sein, Eigensinn). Unter diesen Bezeichnungen ist zumeist dasselbe zr verstehen, wie auch unter: reines Ding, reine Vernunft, bloßes Ding, bloße Vernunft usw.; schlechthin, schlechtwegs mit analoger Funktion wie auch an sich, für sich (Das Erkennen schlechthin, die Vernunft schlechthin u. a.); überhaupt — wieder in ähnlicher Bedeutung (Die Wahrheit überhaupt, die Erkenntnis überhaupt usw.); trans, super, jenseits (trans-zendent, trans- zendental, bewußtsein-trans-zendent, erfahrungs-trans-zendent, er- kemitnis-trans-zendent, trans-subjektiv, trans-empirisch, super-indi- vi'duell, jenseits aller Erfahrung, jenseits der Dinglichkeit); ab-, (ab- solut, ab-strakt u. a.).
Es erhält dieser Typus eine ganz eigene Physiognomie gerade durch diese konsequent, symmetrisch durchgeführte und angewandte „absolutivierende" Terminologie mit ihren verschiedensten sprach- lichen Vehikeln von ein und derselben — eben abstrakt-prdvativen Funktion. Es geht nämlich diese sämtliche Ausdrucksweise auf die Absolutisation, Verselbständigung, ja Hypostasierung des Formalen und Idealen über das Inhaltliche und Tatsächliche hmaus. Es wh-d auf diese Weise im ganzen Umkreise der tatsächlich gegebenen Erkenntnisbeziehungen durch einfache negative Ab-strahierung die Abtrennung und die Abhebung des absolut gültigen morphologischen Gerüstes ein für allemal vollzogen. Der ganze Loslösungsprozeß lief somit auf eine durchgehende Absolutisation hinaus. Sie wurde dann wirklich in ihrer virtuellen Form durchgeführt, ausgebaut und in glänzender Form verschiedenste]- Systeme vertreten.
Nur durch eine psychologische Deutung dieses Typus wird uns neben der tiefsten Innigkeit und feinsten Konstruk- tivität auch seine gleichzeitige äußere Leichtig- keit, Einfachkeit, Durchgängigkeit und ästhetisch
Die beiden Qriindtypeii des Philosopliierens 21
wirkende Abgeschlossenheit vollauf begreiflich. t!s wird uns auch zur gleichen Zeit begreiflich, warum schon vom Platonischen ////dt/c (r/toi/itQ/jToc: IiöItcj angefangen über den „lehren Raum" Descartes', die Spinozische Ethik niorc geo- metrico, und die Laplace'schc „Weltformel" bis auf den modernen Mcukantianisnnis diesem philosophischen Typus die mathema- tische Methode als die wissenschaftliche Erkenn tmsform schlechthin gegolten hat und heutzutage gilt. Die Erkenntnisfunk- tion wurde im Grunde mathematisiert, das Quantitative dem Ouali- tätiven übergestellt. Kein Wunder also, wenn dieser Typus von seinem Urparadigma Plato über die Scholastik und die rationalisti- schen Anfänge der neuzeitlicl\en Philosophie bis auf Kant und seme Epigonen als der geschichtlich mehr abgerundete, voller ausgeprägte, stärker vertretene, ja als der „philosophische Typus schlechthin" an- gesehen wird. Denn er hat eine durchgängige spezi- fische Methode im Sinne eines und desselben Graimdpos tulates ausgebildet, und in wiederholten grandiosen Versuchen mit gewaltigem Schwünge dieses Postulat ein für allemal voll und fertig auszuführen gesucht — ebenso in seinen nachkritischen wie auch vorkritischen Stufen. Das historische Kon- tinuum dieser typischen Reihe blieb bis auf den heaitigen Tag voll- kormmen aufrecht erhalten. Es läßt sich daher an der ganzen Riehl- schen „Einführung in die Philosophie der Gegenwart" nichts weniger bestreiten als der Schlußsatz — und „Verteidigungssatz" — des Vorwortes: ., — war es doch eben mein« Absicht, zu zeigen, daß die Philosophie der Vergangenheit in wesent- lichen Punkten noch immer auch die der Gegenwart ist."'') (Unterstrichen im Zitat).
Das Streben nach einem festen Archimedischen Punkte, von welchem aus alles Erkennen mit einem einfachen Griffe und Schwünge ausgeführt, geregelt und entschieden werden könnte, ge- staltet sich zur offenen oder stillschweigenden Vorausset^.ung aller wirklich statisch-formalen Philosopheme.
Es wird ein absoluter Anfang gesucht, um zu einem ebenso sicheren Ende und Erkenntnisabschluß zu gelangen. Es strebt
^) A. R i e h 1 , Zur Einführung in die Philos. der Oegen"wart, Acht Vorträge. Leipzig, 1913, S. VI.
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das Ganze dieser Philosopheme nach einer festen endgültigen Statik, unveränderlicher Form und M n w i d e r r u f 1 i c h e m Abschlüsse.
Obgleich in den Rahmen einer Skizzierung beider Erkenntnis- typen eine ausführliche psychologische Betrachtung ihres methodi- schen unid inhaltlichen Unterbaues und ihres gegenseitiigen Verhält- nisses nicht hineingehört, so möchten wir doch hier bezüglich des ersten Typus — wenn auch nachträglich — einige Hinweise auf die neueren psychologischen Daten und Be- lege in dieser Beziehung hinzufügen.
Es scheint die ganze neuere exakte Psychologie des Erken- nen« und Denkens (Würzburger Schule eingeschlossen) unserem psychologischen Problem noch gar nicht in dem Maße gewachsen zu sein, um auf die jetzige Fassung und eine vorläufige Lösung dieses Problems entscheidend wirken zu können. Dazu steckt diese ganze Denkpsychologie noch allzu tief in ihren ersten methodischen Anfängen und e lern entarsten inneren Gegensätzen. Unsere — ohnehin schon geschicht- lich und crkeimtnistheoretisch vorgebildete — Aufstellung beider psychologisch-philosophischer Gnmdtypen konnte daher gar nicht in lenem Maße auf exakt-psychologische Resultate gestützt werden, wie es eigentlich wünschenswert wäre. Introspektive Erfahrungen aus der unmittelbaren philosophischen „Praxis" mit den zugehörigen objektiven Ergänzungen mußten hier zum eigentlich einzig möglichen Ausgangspunkt herangezogen werden — ganz im Sinne des Vor- schlages von W. Wandt: man möge die gelegentliche Selbstbeob- achtung mit der völkerpsychologischen Betrachtung kombinieren. Obgleich die Wundtsche Kritik") der Würzburger Methode in bezug
'') Hier die Auswahl aus der neuesten exakten Denk- und Erkenntnispsy°chologie : Dürr N., Über die experimentelle Untersuchung der Denkvorgänige (Vortrag auf d. 3. Kongr. d. Qesellsch. f. exper. Psychologie zu Frankfurt a. M.; dazu verw;andte Arbeit von Aster E. v., Die psychologische Beobachtung und experimentelle Un- tersuchung von Denkvor^rängen in „Zeitschr. f. Psychol." Bd. 49, 1908: Kiilpe O., Über die moderne Psychologie des Denkens in „Inter- nationale Monatsschrift" Juni, 1912; von demselben Autor: Versuche über Abstraktion im „Bericht üb. d. 1. Komgr. f. exper. Psycho).". Leipzig. 1904; Messsr A., Experimientell-psycholoigische Unter-
Die beiden Grundtypen des Philosophierens 2i\
auf ihre experimentelle Denkpsychologie und den „pseudoexperi- mentellen" Charakter dieser Psychologie gerade vom Standpunkte unserer Psychologie des Ph il osoph ie rens aus in vielen Punkten gutgeheißen werden kann, so scheint doch auch diese Me-
suchun.gen über das Denken im „Archiv f. d. ges. Psycholagie", Bd. VIII., Leipzig, 1906 (über Urteile, Befgriff u. a.) und: Bemerkungen zu meinen „Experimentell-psychologischeai Untersuchungen über das Denken" im „Archi-v f. d. ges. Psycho!.", III. Bd., 1907; Stör ring Q., Experimen- telle Untersuchunigen über einfache Schlußprozesse im „Archiv i. d. ges. Psychol." XI. Bd„ Leipzig 1908 (bedeutend); Bühler K., Tatsachen und Probleme zu einer Psychol. der Denkvorgämge I. u. II. Teil im „.\rchiv i. d. ges. Psychologie", Bd. IX und XII; Kritik dieser Ar- beiten von W. Wundt: Über Ausfrageexperimente und über die Methoden zur Psychologie des Denkens, „Psychologische Studien". III. Bd., Leipzig, 1907 und Kritische Nachlese zur Ausfragemethode im „Archiv f. d. ges, Psychol.", Bd. XI, S. 445 (Polemik gegen „Würz- burger-Schule"); Stör ring Q., Experimentelle u. psychopathologische Untersuchungen über das Bewußtsein der Gültigkeit im „Archiv f. d. ges. Psychol.", Bd. XIV, 1909; Watt Henry J., Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens im „Arch. f. exp. Psychol.", Bd. IV, Leipzig. 1905 (Würzb. Schule); Qroos K„ Experimentelle Beiträge zur Psycholagie des Erkennens in der „Zeitschr, f, Psychol,", Bd. XXVI., Leipzig, 1901; Marbe K., Experimentell-psychologische Untersuchungsn über das Urteil, Leipzig, 19011. (Der erste exper. Versuch auf diesem Gebiete): Ach Narziss, Über den Willensakt und das Temperament. Leipzig, 1910 (Das Denken wird als Willenstätigkeit betrachtet); Taylor Clifton. Über das Verstehen von Worten und Sätzen in der ..Zeitschr. i. Psychol.", 40. Bd., 1906; Müller-Freienfels, Typen- vorstellungen und Begriffe. Untersuchungen zur Psychologie des Den- kens in d. „Zeitschr. f. Psychol.", Bd. 64; Bühler K., Antwort auf die von W. Wundt erhobenen Einwände gegen die Methode der Selbst- beobachtung an experimentell erzeugten Erlebnissen im „Arch. f. d, ges, Psychol.". Bd. XII; Achenbach, Experimentalstudie über Ab- straktion und Begriff sibildung „Arch. f. d. ges. Psychol.", Bd. 35; Schulze, Zur Experimentalpsyohologie des Denkens im ,^rch. f. d. ges. Psychol.", Bd. XU, S. 193; Koffka K., Zur Analyse der Vor- stellungen und ihrer Gesetze, eine experimientelle Untersuchung; W r e s c h n e r . Experim, über d. Assoziation d. Vorstellungen „Bericht üb. d. I, Kongr. f. exper. Psychol.", 1904; Anschütz, Über d. Er- forsch, d. Denkvorgänge, Zirkfeld, 1913: Qrünbaum A., Über die Ab- strakticMi der Gleichheit, „Arch. f. d. ges. Psychol.", Bd. 12, 1908; W u n d t s Studien übtr den Bewußtselnsumfang in ,Philos. Studien". Bd. 7 und ähnliche Untersuchungen von Dietze, ibid. Bd, 2; Stern
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thode der Ausfrageexperimente schon bis jetzt einige Fingerzeige, durchaus dienliche partielle Weisungen, Anregungen und Ausblicke, — wenn auch nicht Lösungen für unsere „morphogenetische" Frage — zu Tage gefördert zu haben. Es mögen hier nur einige solche posi- tive Momente nachträglich unter dem Gesichtspunkte obiger Aus- führungen berührt werden.
Dabei kommen m erster Linie die denkexperimentellen For- schungen in der neuesten deutschen Psychologie in Betracht, vor allem die stattliche Zahl der Arbeiten aus der „Würzburger Schule", die eben unlängst in Oswald Külpe ihr Oberhaupt verloren hatte. Es sind dies die unten angeführten Arbeiten von Külpe selbst, von Bühler, Qordon, Qrünbaiun, Messer u. a. neben den anderen, durch diese Schule angeregten Forschungen (z. B. von G. Störring und seinen Schülern).
Ein gewisser Mangel an grandlegender Theorie und besonderer, klarer Fragestellung bildet den gemeinsamen Charakterzug der meisten von diesen ersten exakten Versuchen, — abgesehen davon, daß darunter noch keine solche aufzufinden sind, die es auf eine breiter fundierte Morphogenesis des Erkennens abgesehen hätten und bisher überhaupt absehen konnten. Einige Versuche über Apperzeption und Abstraktion (besonders negative, neglektive Ab- straktion) kommen aus der ziemlich engen Auswahl dieser Literatur
W., Die psychol. Methoden der Intelligenzprüfuns? . . . ., „Bericht üb. d. I. Kongr. f. experim. Psycho!.", 1912; Allgemeiner Natur sind Werke: Qeyser J., Eiuführunig in d. Psychologie d. Deiik-vorgänge, Paderborn, 1908; Erdmianii, B., Umrisse zur Psychologie des Den- kens i. d. Sigwartfestschrift, Tübingen 1900 (rein deskriptiv); Müller- Freienfels, Das Denken und die Phantasie, Leipzig 1916; Maier H., Psychol. d. emotionalen Denkens, Tübingen 1908; Bohn G., die Entstehung d. Denkvermögens, Leipzig 1912; Stör ring Q., Zur Lehre von d, allgem. Begriffen „Phil. Studien", XX. — Aus d. französi- schen Literatur möchte ich auf die Arbeiten von Kortyleii (be- sonders die Arbeit üb. Würzburger Schule in Revue philosophique). Ribot, Bovet, u. a. hinweisen; in d. italienischen Literatur Arbei- ten von Marucci u. Westphal (in Rivista di psicoLogia) -und in der reicheren englischen Literatur von Titschener (in Mind), Hollwig- worth. Angell, Maloney, Moore Th., Heymon, Jakobsen, Hakise, Dun- lap, Ogden R., Lanze J. u. a. (besonders im „Journal of Psycholog^'", „Psycholog!^ Bullet.". „Jo'urnal americ. of Psychology" u. a.).
Die beiden Grundtypen des Philosophierens 25
Mer zainächst in Bctraclit. Es sind dies die Arbeiten von Külpe, Qiiinbaum, Bühlcr, Mittenzwey (Leipzi.i?er Schule), und Störrin.u;. Mally, Meinon^iC, CornÄiLis. Lipps u. a.
In bezug auf die negative Abstraktion, die j^erade für eine Morphogcnesis des Erkennens von großer Bedeutung zu sein scheint, wollen wir hier die Arbeit A. Grünkiums „Über die Ab- straktion der Gleichheit" in jenem Punkte aufführen, wo es heißt: ..Die negative Abstraktion wird al'so zu einer besonderen Leistung. Sie ist nicht nur eine natürliche, von der Aktivität der Versuchs- person 'Unabhängige Begleiterscheinung der positiven Abstraktion, sondern eine Tätigkeit, die an sich durch eine besondere Aufgabe eingeleitet werden kann, wobei umgekehrt die positive Abstraktion zu einer Begleiterscheinung wird."") Es wird also hiemit der bloß negativen Abstraktion eine positiv bildende Kraft zugesprochen, — wozu noch einige anderweitige experimenteWe Belege angeführt wenden könnten. Im Hinblick auf die psychologische Tatsächlichkeit und Erlebbarkeit der Abstraktionen wäre es von Bedeutung, einen sehr wichtigen Ausspruch von O. Külpe — , vielleicht eine der philosophisch bedeutendsten experimentell-psychologischen Aus- saget! — besonders hervorzuheben: „Ich lege Wert darauf zu kon- statieren, daß in den Abstraktionstatsacben 'unmittelbare Bewußtseins- phänomene vorliegen. . . . Die Versuchspersonen glaubten tat- sächlich, die Eindrücke in der angegebenen Unbestimmtheit zu sehen . . . bzw. tatsächlich keine Farbe, kein Objekt usw. wahr- genommen zu haben. Da nun die Psychologie als Wissenschaft den Empfindungen bestimmte Eigenschaften beilegt, sie a;us bestimmten Teilinhalten bestehen läßt, so geht daraus hervor, daß sie zwischen den psychischen Vorgängen und dem Bewußtsein von ihnen unter- scheidet" und dauji weiter: „daß dieser Unterschied gemacht wer- den muß, etwa in demselben Sinne, wie man zwischen physischen Vorgängen und dem Bewußtsein von ihnen unterscheidet, das mit e. W. die alte Lehre von einem inneren Suin mit der dazu ge- hörigen Gegenüberstellung von Bewußtseinswirklichkeit und Realität für das Gebiet der Psychologie eine zeitgemäße Erneuerung finden muß, das ist das prinzipiell eErgebnis, das ich meinen
*) Die Anbeit ist ihrem genauen Titel nach in der Literaturauf- zahlung' auf S. 22 anigeführt. Dieser Passus befindet sich im TV. Teile d. Arbeit ..Resultate und Erklärungsversuche". S. 464.
2() Vladimir D vo in iko vic
V e r -s II c h c n e n t n c h m e n m ö c h t e. Jm Aiischliuß daran defi- niere ich däe Abstraktion als einen Prozeß, durch den das logisch oder psychologisch Wirksame von dem logisÄli oder psychologisch Unwirksamen geschieden wird. Die wirksamen Teilinhalte sind 'die für unser Denken im'd Vorstellen die positiv abstrahierten, die un- wirksam e n aber diejenigen, von d e n e n a b s t r a h i e r t w o r d e n ist. F ü r u n s e r B e w u ß ts e i n gi b t e s d e m n a c h a bstrak t e Vorstellungen, f ür d i e p sy chische Rea- lität g i b t es n u r K o n k r e t e Vorstellungen, Damit sei zu- gleich der alte Streit zwischen NominaHsmus und Realismus seiner Entscheidung näher geführt."*") (Unterstrich, im Zitat). Mit der von Külpe gemachten Unterscheidung zwischen „Bewiißtseinswirklich- keit" und „Realität" eines Gedankenvorganges wurde eben einer der bedeutendsten Punkte der intellektuellen Morphogenesis be- rührt, obgleich in den oben angeführten Ausführungen noch kein ent- scheidender Wegweiser für die Kardinalfrage der Abhebung und Trennung des Formalen vom InhaJtlichen gegeben wurde. Nicht einmal die Frage der realen Erlebbarkeit der abstrakten Gebilde wurde damit endgültig gelöst; in Anbetracht der größtmöglichen diesbezüglichen Differenzen zwischen Külpe und anderen Autoren muß vielmehr hervorgehoben werden, daß die prinzipielle Lösung dieser Fragen noch immer aussteht. Es darf allerdings als ein sehr günstiges Zeichen für unser Problem betrachtet werden, daß die exakte Forschung sich auch die Frage naoh psychologischen Realitäten im gedanklichen Konnexus vorgelegt hat; es ist al>er zur gleichen Zeit zu konstatieren, daß es gerade in diesem Punkte selbst auf exakten Wegen zu größten Divergenzen gekom- men ist. So nimmt z. B. K. Bühler auf Grund seiner experim. Forschungen „unanschauliche Gedanken" als real-psychische Erleb- nisse an. Seinen Versuchsresailtaten zufolge gibt es reine Gedan- ken ohne jede Anschau ungsgrundlage, derm eben diese Gedanken sind an und für sich reale Erlebniseinheiten, nicht aber die in ihnen ..enthaltenen'" Vorstellungen: „Etwas, wias so fragmentarisch, so sporadisch, so durchaus zufällig (?) auftritt im Bewußtsein wie die Vors fcellim gen in unseren Denkerlebnissen, kann nicht als Träger
*") O&w. Külpe, Versuche über Abstraktion im „Bericht über den I. KoTijrreß für experimentelle Psycholog-ie". 1904, Leipzig 1914, S. 67.
- Die beiden Gnindtypen des Philosophierens 27
des fest.tjefüjj^ten und kontinuierlichen Denkgehaltes anjcesehen werdeii"*^ und dann weiter: „Ja, ich behaupte viehnehr, daß prin- zipiell jeder Gegenstand vollständig ohne Anschauungsmittel be- stimmt gedacht (gemeint) werden 'Kann."^^)
Die ganze Bühlersche Untersuchung geht darauf hinaus, den einzelnen fiedanken als real-psychische ,JErlebnis einhei t" der Denkerlebnisse zu statuieren. Dem Einzelgedanken wird somit eine unmittelbare Erlebbarkcit zugesprochen, welche Auh'assung für unsere, oben besprochene „Abhebung und Verselbständigung des Formalen" in einem zweischneidigen Sinne bedeutend ist. Denn unsere Fassung beider Erkenntnistypen beruht eben darauf, daß der erste von unmittelbarsten konkretpsychischen Realitäten, der zweite aber von den höchsten konstruktiven psych! seh- un- mittel bar nichterlebbarens nichtrealisierbaren Projektionen und Idealgebilden ausgeht. Diese Auffassung Bühlers darf uns übrigens gar nicht wundem, da in seiner — experimentellen — Arbeit auch solche Stellen der ..deduktiven" Zuversicht aufzufinden sind: „Wenn uns alle Gedankenmomente und dazu die Idealge setze ihrer möglichen Verbindungen bekannt wären, so könnten wir daraus alle G e d a n k e n a r t e n ableiten. Damit wäre die Analyse des Gedankens vollendet, wir kennten seinen Bau."^')
Kurz möchte ich noch hinzufügen, daß gerade ©ine solche un- mittelbare Erlebbarkcit und Realisierbarkeit der abstrakten, gedank- lichen Gebilde im Sinne der oben erwähnten Forschungen von einigen anderen Forschern auf analog experimentellen Wegen in Abrede ge- stellt wird. Die dazu nötigen weiteren Anhaltspunkte sind in den Arbeiten von Bühler. Külpe, Dürr, Störring, Mally und amderen Forschern zu finden. Man kommt übrigens bei diesen Erörterungen unwillküriich an Berkeley zu denken, der vielleicht noch am ent- schiedensten die psychische Realität der .Abstraktionen geleugnet hatte. Alte Fragen erleben neue Bearbeitungsweisen.
Der gesamte methodische Apparat dieser exakten denkpsycho- logischen Forschungen erscheint uns für eine philosophische Anwen-
") Bühl er K.. Tatsachen und Probleme zu einer Psycholoffie der Denkvorgänge. I. Über Oödanken im „Arch. f. d. ges. Psycho!.", IX. 1907. S. 317.
*-) Ibid, S. 321.
^^) Ibid.. ?. 350 im 5. Kap. ..Über die Konstitution der Geda^nken".
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dung zu einfach und zu einseitig eingestellt, woraus auch MilJ Ver- ständnisse und augenscheinliche Gegensätze der Resultate begreiflich werden.
Nicht nur auf dem neuen exaktpsychologischen, sondern auch auf dem logischen Gebiete herrscht in bezug auf diese konkret-ab- strakten, inhaltsich-formalen Probleme eine große Desorientation. So werden z. B. in den „Logischen Untersuchungen" Husserls sechs verschiedene Bedeutmigen der Abstraktion aufgezählt") Die nega- tive Abstraktion definiert Husserl als Kehrseite des Abstraktionspro- zesses in toto: „Versteht man unter Abstraktion im positiven Sinne das Bevorzugte, das Beachtete eines Inhalt^es, unter Abstraktion im negativen Sinne das Abseben von gleichzeitig mitgegebenen In- halteiL"^'"') Wandt legt dem Abstraktionsvorgange die auswählende Apperzeption zu Grunde (Logik I."), in welchem Sinne auch die Versuche über die Apperzeption von seinem Schüler K. Mittenzwey gehalten sind/®) In Hinblick auf die prinzipielle Bedeutung der psychologischen' Forschungen für logische Fragen (siehe auch die Ar- beiten von Störring!) möchte ich hier aus der polemischen Abhand- lung Wundts gegen die Würzburger Methode eine methodische For- derung wörtlich anführen, weil sie unserem Problem besonders zu- gute kommt: „Vielmehr soll, wie ich glaube, die Logik aus dem psychologischen Tatbestande das herausgreifen, was sie auf mög- lichst direktem Wege zu einer Erkenntnis der Ent- stehung der Formen und der Normen des logischen Denkens führt/'^O
Von hervorragendem Werte für die Psychologie des Erkennens sind die experimentellen und psychopathologischen Arbeiten von G. Störring/*) Es wird da ausdrücklich der logische Anlaß zu denk- experimentellen Untersuchungen betont. „Experimentelle Unter- suchungen über einfache Schlußprozesse" wurden nämlich veranlaßt ,.— durch einige Streitfi'agen der Logiker, bei welchen es nahe liegt.
") Ausg. 1901, ?. 215.
1') Ibid. Bd. II. S. 218.
^«) Über nbstrahierende Apperz-eption, „Psychologische Studien", II., 1907.
^'') Kritische Nachlese zur Ausfragemethode, „Archiv t. d. ges. Psychologie", XI. S. 457.
*ä) Angeführt auf S. 22 unter dienkexperiTnenteller Literatur.
Die beiden Cjrundlypeii des l^hilosophierens 2'.>
an eine Entscheidung auf Grund experimentell psychologischer Un- tersuchung zu deniken."^^) Störring scheint in seinen Arbeiten sehr bedeutende Angriffspunkte zukünftiger Forschung aufgedeckt zu haben, obgleich in diesen, wie auch in anderen solchen ersten Versuchen gewisse methodische „Kinderkrankheiten" nicht zu verkennen sind. Mail verliert sich nämlich in allen diesen Arbeiten allzu viel in dem technischen Apparat der Versuchsmethoden selbst, aus welchen namentlich für einen Philosophen der sachliche, wie auch methodische Reinertrag so ziemlich schwer herauszulesen ist.
Ein ganz besonderes, zur weiteren eingehenden Fortführung ge- eignetes Moment wird in der Arbelt Watts „Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens" hervorgehoben: die „Perseverations- tendenz" der Vorstellungen. Dieses Moment dürfte sich für die Bil- dung und „Abhebung" des Formalen im Intellektuellen von einer ge- wissen-Bedeutung erweisen. Die „Herausschmelzung" des Gemein- samen, Schematisch-Formalen aus dem vielen Einzelnen, die Auf- deckung der Ähnlichkeit, Identität und Verschiedenheit könnte auch durch dieses Moment ihrer endgültigen Klärung näher gebracht werden. Watt sagt da unter anderem: „Vorstellungen, die vor Kurzem im Bewußtsein gewesen sind, haben für eine gewisse Zeit die Eigenschaft, sehr leicht und schnell selbst wieder ins Bewußt- sein zu treten oder sich reproduzieren zu lassen."^")
Die „Aufgabe" selbst hat sich für die Versuchspersonen auch als ein Perseverationsfaktor erwiesen; welcher Faktor sollte nun im spontanen, „außerexperimentellen" Vorstellungswechsel die Funktion dieser „Aufgabe" substituieren? Es dürfte vielieicht als solcher Fak- tor das „Interesse" des Subjektes im weitesten Sinne des Wortes betrachtet werden. Unwillkürlich kommt man in diesem Zusam- menhange auf die Hume'sche Wiederholung und Gewohnheit zu denken.
Die „affektiv bestimmten Eindrücke", die K. Gordon zum Gegenstand einer besonderen Untersuchung gemacht hat,^0 dürften sich vielleicht gerade in dieser Beziehung als bedeutend erweisen.
^») Im „Arch. f. id. ges. Psychologie", XL, 1908, S. 1.
''">) „Archiv f. d. ges. Psychologie", Bd. IV, 1905, S. 341.
-*) Über das Gedächtnis für affektiv bestimmte Eindrücke von Dr. Kate Gordon (Psycho!. Inst. Würzburg) im „Archiv f. d. ges. Psycho- logie", Bd. IV., 1905.
IJQ Vladimir D v o r ii i !< o v i i'
Das emotionale Moniünt wird als ein bildender Faktor im In- tcllektuelien nachgewiesen und während einige Forscher (z.B. Th. Ribot) sogar einen besonderen affektiven Typus der Assoziation aufstellen, zeigen sich andere Forscher einer solchen Deutung des Sachverhaltes durchaus mcht geneigt (wie z. B. Fischer, Spencer, Bain, W, James, liöffding).
Unter verschiedenen theoretischen Qrunidlegungen, unter heterogenen Gesichtspunkten und auf entgegengesetzten methodi- schen Wegen legt die gegenwärtige exakte Psychologie ihre erste Hand auf das Denk- und Erkenntnisproblem. Ja man kann schon heute vom ersten Kontakt der Erkenntnis- theorie und Logik mit der experimentellen Psycho- logie reden. Es wäre aber schwer vorauszusagen, wie sich dieses methodische Verhältnis in der Zukunft gestalten wird und was die Philosophie von diesem neuen experimentell methodisierten psychologischen Gebiete zu erwarten hat. Im großen und ganzen könnte man sagen, daß schon in den vorliegenden Versuchen der Schwerpunkt in der Herausarbeitung der Ähnlichkeit, Gemeinsam- keit und Identität in der Fluktualität der Denkvorgänge gelegen ist. Aus diesen Anfangsstadien läßt sich jedoch vorläufig kein ehideutiger weder psychologischer noch philosophischer Reinertrag herausneh- men. In wesentlichen Punkten werden auf exaktem Wege noch immer diametral entgegengesetzte Auffassungen gewonnen und ver- teidigt. Als gemeinsamer Kern aller bisherigen Erörterungen könnte nur eine mehr minder deutliche Ahnung emes psycho- loigischen Grundschemas von Ausgleichung und Unterscheidung, Ver- schmelzung. Identifizierung und damit die ersten undeutlichen Ansatz- punkte der formalen Differenziation hingestellt werden. Die viel gewundenen und komplizierten Wege bis zu einer p h i 1 o s 0 p h i s c h g e s t a 1 1 e t e n V e r s e 1 b s t ä nd i g u n g u n d Herauskrystallisierung des Formalen dem Fluk- t uell -inhaltlichen gegeniüb er wurden jedoch von den bisherigen Untersuchungen kaum betreten, obgleich auch hiefür bis jetzt wertvolle Einzelmomente und Stütz- punkte zutage gefördert wurden. Das solche Untersuchungen ge- rade für die psychologische Grundgestaltung unseres ersten for- malen Typus des Philosophierens eine ganz besondere Bedeu- tung haben, braucht hier kaum hervorgehoben zu werden.
Die beiden (liiindtypen des I'hilosopliieiens I-Jl
Von weit .geringerer Bedeutung waren diese psychologischen Untersuchungen für die Auflieliung des zweiten, entgegengesetzten Typus, der verschiedenen antirationalistischen Philosophen leji zu- grunde liegt. Es sind dies die gewöhnlich als Positivismus. Empi- rismus, Sensualismus, Skeptizismus, Evolutionisjnus, Agnostizismus. Aposteriorismus, hituitismns, Realismus, Suojektivismus, Psychologis- mus, Empiriokritizismus. Monismus. Pluralismius, Pragmatismus, Na- turalismus, Biologismus, Impressionism'us usw. bezeichnete Strömun- gen. Alle diese, vorzugsweise erkenntnistheoretisch und methodisch Jistinguierten Richtungen zeigen einen gemeuisamcn Grundbau urd L'inen einheitlichen Habitus, in welchem das Grundchema des vorigen Typus gerade entgegengesetzt orientiert erscheint. Wir werden bald später sehen, daß gerade diesem (philosophisch „unüberwiindlichen") Gegensatz zur gleichen Zeit däe Funktion der Ergänzung im breite- sten Rahmen des menschlichen Erkenntrashabifcus zugrunde liegt, — daß also der „Gegensatz" zur gleichen Zeit nicht nur historisch sondern auch philosophisch-psychologisch eine Ergänzung bedeutet. Nehmen wir nun' diese Inversität zum vonigen Typus ins Auge. Der durchgängigen Orientierung „von oben nach unten" steht hier im allgemeinen die entgegengesetzte Grundorientierung „von unten nach oben" entgegen. Während dort vom absolut Fest- stehenden, Idealen, Formalen, Normativen zum Tatsächlichen, In- haltlichen, Realen übergegangen wird, greift man hier in umgekehrter Richtung vom Gegebenen, Empirisch-konkreten zur formalen, nor- mativen, ideologischen Suibtilität hinüber; — oder man verzichtet auf diese „Subtilitäten" überhaupt. Und nun kommen verschiedene methodische Durchführungen dieser oppositionellen Inversion in Be- tracht: ebenso wie der ideomorphologische Typus sein „Herabstei- gen" in verschiedenen historischen Formen durchführt und ins Ein- zelne methodisiert, verfährt auch der „materiale" Typus in durchaus analoger Weise bei der verschiedenartigen, aber immer invers-ent- gegengesctzten Methodisierung seines „Emporsteigens" . Das Ganze der induktiv-deduktiven Inversion könnte uns als bestes Analogon dazu dienen, obgleich damit das volle Wesen der Inversität dieser Typen gar nicht ausgedrückt wird. Eine einzige philosophische, er- kenntnis-theoretische Bezeichnung dieses Typus ist auf Grund der usuell-philosophischen Nomenklatur gar nicht möglich, da durch keine einzige der oben aufgezählten heterogenen Benennungen der volle
32 Vlad imir Dvorni k ovi ('•
Inhalt und die allseitige methodisch-icenetische Natur dieses zweiten Typus zum Ausdruck kommt. Der Qrundcharakter des ersten Typus — seine Orientierung von festen apriorischen Stützpunkten aus — ermöglichte uns schon an und für sich auch eme leichtere Kemizeichnung dieses Typus, — währenddessen der entgegenge- setzte Schwerpunkt des zweiten Typus im Gegegeben, Unmittel- baren. Relativen, Fluktuellen durch seine Zerfahrenheit, innere Viel- seitigkeit und äußere Unfertigkeit einer abgerandeten Charakteri- sierung weit größere Schwierigkeiten in den Weg stellt.
Schon in der antiken Sophistik und Skepsis finden wir die ersten Kundgebungen dieses oppositionellen, „sekundären" Typus, welcher sich dann durch die ganze Geschichte der Philosophie hin- durchzieht, aber erst in der Philosophie der Neuzeit stärker und selbständiger ausgeprägt auftritt und sich mit dem ersten Typus in mannigfaltigen Verquickungen und gegenseitigen Reaktionen ver- flicht. Beide Typen bilden demnach in der ganzen Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte zwei parallele Hauptströmungen, ob- gleich sie nicht auf einzelne Vertreter und Schulen strikte verteilt sind, sondern vielmehr als Grundelemente in jedem einzelnen Philo- sophen als ausschlaggebende stärkere Seiten auftreten. Es ist da- her keiner von den beiden Typen als eine bloße Reaktion oder sogar einfache Negation des zweiten aufzufassen, obgleich uns dieser zweite Typus in semer schwächeren historischen aber auch gegen- wärtigen Vertretung, in seiner geschichtlichen Unabgeschlossenheit und Unfertigkeit, in seiner methodischen Unausgeprägtheit als der eigentlich sekundäre, reaktioneile Typus erscheinen muß. Es äußert sich dieser sekundäre ..antiphilosophische" Charakter dem ersten „philosophischeren" Typus gegenüber schon darin, daß ihm aus dem offiziellen Lager der Philosophie hie und da stufenweise gewisse kleine oder gar keine Konzessionen gemacht werden und daß es auch nach dem Auftreten seiner stärksten Vertreter, Locke's, Hume's Spencer's u. a. noch heutzutage auf dem Heidelberger philosophi- schen Kongreß zu einem Ruf kommen konnte, der diesem Typus den philosophischen Charakter selbst abspricht: „Der Evolutionismus mag recht haben, aber er ist keine Philo- sophie!"") Es erscheint nämlich den radikalen Richtungen des ersten.
") Ausgesprochen von A. Minor am Heidelberger Kongreß, „Bericht
Die beiden Grundtypen des Phiiosophierens 33
klassischen Hiiupttypus die gesamte Grundorientierung dieser Oppo- sition seinem Wesen nach als un philosophisch, dem eigentlichen philosophischen Motiv und Postulat fremd und abhold. Die morphologische und ideo- logische, rein apriorische Orientierung als solche gilt dem ersten Typus als die definitive und einzig denkbare, mit dem Begriffe der Philosophie selbst
identische Fassung und 'Konstellation des philo- sophischen Geistes und Standpunktes. Der zweite Typus rüttelt aber gerade an dieser „einzig mög- lichen" klassischen Grundiassung der Aufgabe — , an dieser Ziel- und Begriffsstellung des Philo- sophischen. Er will ein allmähliches, nie abgeschlossenes, relativ fortschreitendes, bloß wahrscheinliches Erkennen. Er geht nicht von einigen absolut und fertig vorgefaßten Stützpunkten aus um danach alles zu gestalten, indem er gerade im Gegenteil das Unendlich- mannigfaltige und Veränderliche, Relative und Variable, Subjektive und Fluktuelle des Gegebenen, des Er lebten zu seinem Ausgangs- punkt proklamiert. Während „jene dort" in der subtilen formalen, normativen und ideologischen Höhe ihre einzig gültigen Regulative für die gesamte Erkenntnisgestaltung finden zu dürfen und finden zu müssen glauben, ruft die Opposition gerade die psychisch konkret- realen Potenzen des Erlebten und Gegebenen zu ihren Grundregula- tiven und Kriterien an. Dort Ausgangspunkt von einem virtuellen abstraktidealen Punkte, von „oben" — hier von der gesamten Fülle und breiter Basis des Gegebenen, von „unten".
Während der erste Typus in einer mehr geschlossenen histori- schen Reihe mit seinem Archetypus Plato an der Spitze auftritt,, finden wir in der historischen Zerrissenheit und Diskontinutät des zweiten Typus kein solches grandioses Urparadigma, keinen „Plato des Empirismus" — obgleich gewöhnUch der eigentlich noch „plato- nisierende" Philosoph Aristoteles als „Realist" dem Idealisten Plato entgegengestellt wird. W. Windelband hat zwar den gesamten mo- dernen Empirismus und Relativismus einfach auf die Protagoräische
über den 3. internationalen Kongreß für Philosophie", Heidelberg, 1909 in der Diskussion über W. Jerusalems Vortrag „Apriorismus und Evolu-
tionismus", S. 815.
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Sophistik zurückgeführt, indem er in seinen „Präludien" aiisdrücklicli sagt: ,, — alle spätere Darstellungsformen des Relativismus, wie etwa die Lehre der Enzyklopädisten oder der moderne Positivis- mus sind nur Neuverbrämungen und zeitgemäß zurecht gemachte Abklatsche jenes protagoräischen .ttccvtcov xQri^arcoi^ nhQov av&Qco- jcog"^^) — worin aber nur eine engere Seite des sämtlichen Tat- bestandes in karikierender Weise ausgedrückt wurde.
Der allgemem gültigen, absoluten Notwendigkeit apriorischer Formen und Normen, durch welche alles Erfahrbare formiert und normiert werden soll, steht hier die Tatsächlichkeit des Erlebten, des Erfahrenen als analoger Ausgangspunkt entgegen. Dorten ein virtuelles Postulat, hier das konkrete Erlebnis. Die Morphologie und Ideologie bildet dorten den Ausgangspunkt, hier dagegen den höchst zugespitzten. — wenn überhaupt postulierten und ange- strebten — Endpunkt. Während idort die Form und die Norm als primär gilt, gestaltet sich hier die Form zur sekundären Funktion des Inhaltes: die Methode und di« Norm wird erst durch den Inhalt und durch das Erfahrungssubstrat gebildet, bestunmit, verändert. Erst durch den Inhalt, und nach dem Inhalt ist auch die Form ge- ' geben, durch die Tatsächlichkeit und auf Grund der Tatsächlichkei't ist die Norm gegeben. Vor diesem Substrat und außerhalb dieses Substrates kann es keine absolut gültige Formen und Normen geben. Was nicht psychologisch früher oder überhaupt gar nicht gegeben ist. kann auch logisch nicht gegeben sein, d. h. kann auch nicht logisch gültig sein. Das Logische ist in dem Psychischen und nur mit dem Psychischen gegeben, ein „Logisches" an und für sich gibt es nicht. Ebenso gibt es auch keine „rein objektive", „außer- tatsächliche" und außerpsychologische Notwendigkeit und Gültigkeit „an und für sich". In gleicher Weise, wie die Form und Norm sind auch ihre „Allgemeingültigkeit" und „Notwendigkeit" nur in bezug auf das Tatsächliche, nur im Rahmen ides Tatsächlichen zulässig und anwendbar. Als ein abgelöst aufgestelltes reines Postulat verlieren sie jeden Erkenntnissinn und jede raison d'etre überhaupt. Auch das höchste Erkenntnisideal selbst, die höchsten Erkenntniskriterien und -regulative haben nur in einem unmittelbar erlebten, gegebenen
-3) W. Windelband, Präludien, Ausg. 1903, Artikel „Kritische oder genetische Methode". S. 305.
Die beiden Grundtypen des Fhiiosophierens 35
Erkeiintnissubstrat ihre einzig mögliche Wur25el und RealJskruiigs- bodcn zugleich. Ein transsubjoktives, alleinstehendes Erkenntnis- ideal außerhalb des tatsächlichen Erkenntniszusammenhanges kann nicht einmal als bloße Postulatsformulierung, als reine Zielsetzung aufrecht gehalten werden. Auch die höchste, absohite, einzige Wahrheit verliert als Erkenntnisziel eben deswegen jeden Sinn und jede Existenzberechtigung. Jede „Wahrheit" muß seinem Begriffe nach in dem Psychologisch-Realen wurzeln und ihm angepaßt sein, wenn sie überhaupt als eine Funktion, und dazu noch als Endziel der Erkenntnistätigkeit gelten und dastehen soll. Ohne Inhalt keine Form, ohne Tatsächlichkeit keine Norm, kein Ideal, kein Erkennt- nisziel. Wir sahen, daß der erste Typus gerade das Entgegenge- setzte forderte. Von dem unmittelbar gegebenen Faktum des Erkennens kann die gesamte morphologisch-ideologische Seite weder praktisch-methodisch noch tbeoretisch-prinäpiell losgelöst werden; beides muß ebenso in der Praxis, wie auch in der Theorie (also auch Erkenntnistheorie!) unter einem einheitlichen homogenen Gesichts- punkte betrachtet und bewertet werden. Und eben in diesem Punkte setzt der moderne Psychologismus ein, der auch deswegen vom gegnerischen Standpunkte so gerne mit dem Positivismus und Empi- rismus in Zusammenhang gebracht wird. Es kommt in diesem Psychologismus eben jene Qrundlanschauung zu Tage, die da besagt, daß in dem zielsetzenden, normaüven Moment des Erkennens kein derart absolutes Novum hinzutritt, welches uns zu einem methodisch durohaus heterogenen und unabhängigen Standpunkte bezüglich des Normativen, Idealen berechtigen würde. Und gerade eine solche Trennung und prinzipielle Grundscheidung der Tatsächlichkeit von der Notwendigkeit, des Psychologischen vom Logischen, des Seienden vom Sollenden gehört zu den Hauptmerkmalen des ersten „antipsychologischen" Typus. Da in der heutigen Streitlage die Be- tonung dieser Tatsächlichkeit und der von ihr ausgehenden Grund- regulativen eben in dem Hinweis auf das psychisch unmittelbai- Erlebte besteht, kam es auch zu dieser neuesten, spezifischen, oppo- sitionellen Variante der eigentlich alten typischen Denkweise aller „Antirationalismen"': d. h. zum „Psychologismus^
Der prinzipiellen Trennung des Formalen und Normativen vom Inhalte und der Tatsächlichkeit wird hier die prinzipielle Verein- heitlichung beider Momente entgegengesteHt. Es gestaltet sich
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36 VladimirDvornikovic
•dieser Typus zu einem starken Relativismus erst dann, wenn die Form zu einer sekundären, veränder- lichen, Idc weglichen Funktion des Inhaltlichen u n d' Variablen „d e g r a d i e r t" wird. Damit ist nun der radi- kalste Gegensatz, der eigentliche Sohneidepunkt beider Typen er- reicht worden. Jede Erkeinntnis überhaupt, aber auch die höchste philosophische wü^d durch sämtliche real-psychische Kräfte und Relationen bestimmt und reguliert, — nicht aber durch ein abstrak- tes Erkenntnisideal und ein rein apriorisches, außenstehendes forma- les Erkenntnissohema. Ja noch mehr! Die Bildung dieses Ideals selbst kann auch nicht aus dem WirkungskreiSie faktischer Erkennt- nisrelationen ausgenommen werden, auch sie bedeutet eine Bildung, eine Resultante verschiedenartiger biologischer, soziologischer, histo- rischer, individuell- und generisch psychologischer Faktoren. Ein absolutes sich selbst gleich bleibendes Erkenntnisziel und -ideal ist daher undenkbar. Ein philosophisches Postulat, welches ein für allemal aufgestellt und endgültig wäre, also ein philo- sophisches Postulat schlechthm hat es nie in der ganzen Geistesge- schiclitc der Menschheit gegeben und es wird ein solch^es niemals aufgestellt werden können: Auch das Erkenntnisziel ist eine relativ bedingte Funktion und Emanation der Er- kenntnistat selbst. In der Bewegung und mit der Bewegung der Erkenntnistat ändert sich und transformiert sich d'as Ideal selbst. Es kann niemals aus dem lebendigen Flusse des Erkennens herausgenommen werden, es lebt und webt, bleibt und fällt in dieser Tätigkeit und mit dieser Tätigkeit; es kann ganz und gar nicht mit dem ganzen projizierten, darüber quasi schwebenden ideomorphologischen Gerüst als das ein- zig wirkliche, entscheidende Regulativ und die einzig wirkende und schaffende Funktion gelten; nein, diese Kraft kommt ihm erst idurch die Tätigkeit und mit der Tätigkeit zu! Ein solcher außenstehender Kraftpunkt kann schon deswegen nicht gegeben Wierden, weil es eine solche wirklich abgelöste definitiv und unveränderlich gestaltete Morphologie nie gegeben hat und überhaupt niemals geben kann. Eine vollkommen stabilisierte Form ist eme reine Illusion; sie wii-d im inhaltlichen Einzelerkennen, sie löst sich allmählich davon ab und kommt nur zu einer relativ immer höheren Krystallisation und Vcr- selbständigung. Es ist also der ganze Erkenntnisfluß gar nicht so auf-
Die beiden Grundtypeii des Philosophieieiis 37
zufassen, als ob er in einer immer weiter geilenden bloßen Appli- ziemng der sclion von vornherein gültig dastelienden Morpiiologie an neue Inhalte bestünde; nein, im lebendigen geschichtlichen Erkennt- nisflusse enthalten sich beide Momente zugleich; der Fortschritt konniit nicht nur durch den neu zu formenden Inhalt zustande, sondern die Form selbst entfaltet sich in einer allmählichen, dem Inhalte entsprechenden und angepaßten Herauskrystallisierung inmitten dieses breiten Inhaltstlusses selbst. Durch den Erkenntnisfluß, durch die Erkenntnispraxis ändern sich die formalen und idealen Grund- lagen des Erkennens selbst, — diejenigen Grundlagen eben, die der erste Typus von vornherein auf die Seite stellt, absolutiviert, aus diesem Änderuugsflusse aufbewahrt und gesichert wissen wiW. Und trotzdem soll gerade von diesem abgelösten, hohen Punkte das Er- kennen vorwärts gebracht, ja ermöglicht werden; es soll zum ein- zigen, entscheidenden Grundregulativ werden, obgleich es von der Erkenntnistat vollauf getrennt wurde. Nur durch erkemitnis- iheoretisch voll bewußte, und praktisch-methodisch durchgeführte Wiederangliederung des Formalen an das Inhaltliche kann auch das Formale neben anderen mitwirkenden und mitentscheidenden lebendigen Potenzen des Erkenntniisprozesses bestimmend und för- dernd wirken. Und gerade diese anderen mitbestimmenden Fak- toren sind es. die von dem statisch-formal'en Typus ausgeschieden und verabscheut werden, — obgleich sie sich in der gesamten Geistesgeschichte wie auch in der Philosophie-geschichte als mitbe- teiligt an der Formung der spezifisch-intellcktuellein Potenz selbst er- wiesen haben. Während die Formalisten mit ihren festen formalen Stützpunkten für die Intellektualität. Ethizität und Ästhetizität auf- treten, und ihre Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit voraussetzen, ^ wenn ein Erkennen der Wahrheit, die Ausübung des Guten und die Bildung des Schönen überhaupt ..zustande kommen soll" Windel- hand), gehen die Antiformalisten diesen Voraussetzungen „hinter den Rücken und graben tiefer".^*) — indem sie eben die Frage erheben, wie diese Voraussetzungen selbst entstanden sein mögen, wie sie
-*) Ausgesprochen von W. Jerusalem am He Melb enger Kongreß, „Bericht über den 3. Internat. Ko'Ugreß f. Philos.", Heidelberg 1909 im Vortrag „Apriorismus und Evolutionismus". Es entpuppt sich also in dieser „Prüfung der Voraussetzungen" selbst sogar ein „Hyperkritizis-
38 Vladimir Dvoiniko vio
selbst zu ihrer besonderen Ausprägung und Krystallisation gekommen sein sollten? Wäre es nicht im Interesse des Erkenntniszieles selbst genauer zuzuschauen, ob sie auch nicht aus dem sämdichen inneren Krkenntniskonnexus begriffen werden können, aus den real-inhalt- lichen Relationen der Erkenntnistätigkeit als solcher? Sollten sie nicht auch zu den Objekten der autokritischeni Reflexion und psycho- genetischen Analyse werden — diese Voraussetzungen und absoluten Stützpunkte nämlich, ja dieses philosophische Postulat selbst als solches?
Und gerade durch dieses Rütteln an dem morphologischen Ge- bäude des Erkenncns kam dem zweiten Typus der „revolutionäre", oppositionelle, inoffizielle Charakter zu. Während dort die Theorie und Norm vor die Praxis in absolut richtunggebender, regierender Eigenschaft gestellt wird, geht sie hier erst aus der Praxis und nach der Praxis hervor, — um sich erst d a n n u n d erst dadurch zu verifizieren und zu behaupten. V/ährend dort die höchsten Ziele (das Erkenntnisziel neben dem ethischen und ästhetischen) durch ihre Absolutisation sichergestellt, dem Flusse des Veränderlichen und Relativen entrückt werden sollen, erblickt man auf dieser Seite nur in dem Hinein- und Zusammenflechten ider idealen Ziele mit dem Tatsächlichen die einzig mögliche Sicherung und Erreichbarkeit sol- cher Ideale. Das Ideal muß in einen bewußten funktionalen Zusam- menhang mit der Tatsächlichkeit gebracht werden, weil es eben nur dadurch seinen Sinn, seine Funktion und seine Wirkungsfähigkeit erhält. Auf diese Weise kommen die Relativisten zur Formierung eines „erreichbaren" Ideals, mit dem man sich endgültig begnügen und aussöhnen muß. Aus dieser Verschiebung des Ideals au s d e m absoluten Jenseits in das relative Diesseits geht nun die gesamte entgegengesetzte Qrundorientierung hervor. Dort wird an der Möglich- keit einer absoluten, end'gültigen, abschließbaren Erkenntnis, die durch eine glückliche geniale Konstruktion zustande kommen soll festgehalten; hier dagegen begnügt man sich von vornherein mit der Möglichkeit eines allmäMigen, relativ fortschreitenden Erkennens in einer nie abzuschließenden Entwickiungsreihe. Und eiben darin be-
mus", obgleich gerade Jerusalem andererseits vom neukantischen Kriti- zismus als einer „Hypertrophie des Erkenntnistr.iebes" gesprochen hat.
Ol- l-L-idcii Oriind'ypeii dis I'hilosoplreren^ 39
Steht jenes vom Stcindpiuikte des Erkenntnisidealismus „gefährliche" Moment, auf welches Joe! in seiner Basler Rektoratsrede im Jahre 1914 mit starkem Akzent hinwies: „Die Einzelwissenschaften mögen unter solcher Lockerung der Prinzipien befreit aufatmen und frischer gedeihen wie einst unter Änesidems Skepsis die Medi- zin: der Philosophie aber, die das Ganze sucht, droht heute die Wahrheit zu zerflattern in wechselnde Hypothese und praktische Kalkulation, in Opportunität und Virtuasität, in Aphoristik und Paradoxie, in Zweifel und Schwärmerei, in Tanz und Spiel. Ja, die Wahrheit wankt und wandert heute und taumelt, — denn sie hat keinen Hort und keine Heimat mehr im Denken. Das Leben, das rauschende, wandelreiche droht das Denken zu verschlingen, und es scheint, wir sind mit unserer Auflösung der Wahrheit in ein neues Zeitalter der Sophistik ge- raten. Nicht umsonst berufen sich die modernen Positivisten von Laas bis Petzoldt ... auf den größten der Sophisten, auf Prota- garas."^^) Ängstlich fragt sich daher Joel: „— liegt nicht in alledem der Sieg des Relativen über das Absolute, der Sieg des bunten, wechselnden Lebens über feste Formen und Gesetze ?"^'')
Jede weitest gehende Charakterisierung führt von selbst zu einer gewissen Karikierung. Durch die möglichst scharfe Zu- spitzung des Gegensatzes sind wir eben zu den beiden Polen, zu den psychologischen Qrundtypen angelangt, — ohne daß damit ein real- gültiger, unmittelbar anwendbarer Einteilungsgrund aller gegen- wärtig vorliegenden Philosopheme gegeben wäre. Die beiden Qrund- typen lassen sich aus der bunten Fülle der geschichtlichen wie auch gegenwärtigen Philosophie herausgreifen, herausanalysieren und brauchen deswegen gar nicht in irgend einer historischen oder gegenwärtigen Form voll und ganz realisiert zu sein.
Wir haben gesehen, daß im Rahmen der gesamten Erkenntnis- konstellation der erste Typus der formal-statischen, der andere da- gegen der inhaltlichen Seite mehr zugekehrt ist. Mehr zugekehrt —
") K. Joel, Die philosophische Krisis der Gegenwart, Rektorats- rede von K. J., Leipzig, 1914, S. 23. =«) Ibid., S. 23.
40 Vladimir Dvor 11 ikovic
muß aiisJrücklich wieJerholt werden, demi tatsäcblioh gibt es nur dem ersten oder dem zweiten Pole näher gerückte Kombinationen und Übergänge. Die extreme Umkehnmg, die weitest gehende Ent- gegensetzung l>esteht kurzum darin, daß die morphologische Statik des ersten in die fluktuelle Aktivität, Kine- matik des zweiten Typus übergeht, der erste Typus somit im allgemeinen als der morpho- logisch-statische und der zweite als inhailtlich- fhiktuelle charakterisiert werden kann.
Die beiden entgegengesetzten typischen Richtimgen können in letzter Linie nichts anderes bedeuten, als die generisch-psychologi- schen, historischen Entwickknigsprojektionen der allgemeinen iniialt- lich-formalen Beziehungskonstellation des individuell-mensphlichen hiteUektes. Die beiden historischen „absoluten" Gegensätze werden sich also, ihrer organischen ursprünglichen Gemeinsamkeit ent- sprechend, auch in ihrer philosophischen, höchst differenzierten Form als gegenseitige E r g ä n z u n g e n erweisen müssen.
Im Punkte dieser gegenseitigen Ergänzung, — also nicht mehr bloßer Entgegensetzung sollte nun eine neueingeleitete besondere Erörterung einsetzen. Wir wollen indes unsere vorliegende Erörte- rung mit der einfachen Konstatienmg abschließen, daß in der Gesam.theit des menschlichen Erkennens, in seinem tot al -einheitlichen Habitus die beiden historischen und gegenwärtigen typischen Reihen nur zwei inverse Seiten dieser Gesamtheit aus- machen.
Von der ältesten Form dieses Gegensatzes Piatonismus— Prota- goräismus bis zur neuesten Logizismus— Psychologismus liegt da ein Urverhältnis, ein Urgegensatz im ganzen Denk- und Geisteshabitus des Menschen zu Grunde.
Die beiden Grundtypen des Philosophierens 41
Zusatz.
Der voiiiegendem prinzipiellen Erörteruni? über die Orientierungs- methoden und Orientierungsstandpunkte möchte ich hier noch einige wichtigere Daten aus der modernen Orientierungsliteratur hinzufügen:
— Wenzig C, Die Weltanschauungen der Gegenwart in Gegen- satz und Ausgleich, Einführung in die Grundprobleme und Grundbegriffe der Philosophie, Leipzig, 1914 („Wissenschaft und Bildung", Bd. 14). — Auf dieses Werk wurde schon im Text hingewiesen, weil in ihm der psychologisch- methodische Standpunkt besonders hervortritt. Wenziig bemüht sich darin, alle Weltanschauumgsformen auf besondere psychologische Motive und besondere Seiten der intellektuellen Tätig- keit zurückzuführen. Auf gleichem Wege wird auch der „Ausgleich" und die Ergänzung der Weltanschauungen begreiflich gemacht. Es muß jedoch hinzugefügt werden, daß Wenzig auch sachlich die Philosophie durchaus „psychologisiert" wissen will: „Die moderne Philosophie ist endlich in dem Sinne, wie ich sie verstehe, lediglich empirische Analyse unseres Bewußtsieinsinhaltes, d. h. Psychologie, und als Logik, Er- kenntnistheorie und Metaphysik psychologische Verdeutlichumg der Grund Vorstellungen der objektiven Wissenschaften." (S. 151). —
— R i e h 1 Alois, Zur Einführung in die Philosophie der Gegenwart, acht Vorträge v. A. R., vierte, durchgesehene und verbesserte Auflage, Leipzig und Berlin 1913. — Auch dieses Werk wurde schon oben berührt: es gibt eine Orientierung vorzugsweise auf geschichtlicher (Grundlage. Es sollen die p'hilosophischen Bestrebungen der Gegenwart dargestellt werden. „Der Weg zu ihrem Verst-ändnis führt durch die Geschichte." (Aus dem Vorwort zur ersten Auflage). —
— G o 1 d s t e i n Julius, Wandlungen in der Philosophie der Gegen- wart, mit besonderer Berücksichti:gunig des Problems von Leben und Wissenschaft, Leipzig, 1911. — Eine rein „psychologische" Orientierung im antirationalistischen Sinne. Eine ausgesprochene Kampfschrift zu- gunsten des Pragmatismus, — gegen allen „Scientismus".
42 Vladimir Dvornikovir'
— J 0 e 1 Karl, Die philosophische Krisis der Gegenwart, Rektorats- rede von K. J., Leipzig 19il4. Eine kurz und bündig gehaltene Orien- tierungs- und Kampfschrift. Warme Worte für die Retttiinig des klas- sisch-philosophischen Kontinuiums gegen den modernien Relativismus und „Protaigoras redivivus."
— Stein Ludwig, P h i 1 o s o p 'h i s c h e Strömungen der Gegenwart, Stuttgart, 1908. — Das ziemlich umfangreiche Werk (452 Seiten) soll dem Atemibediürfnisse des modernen Philosophierens entgegenkommen: „In der atemlosen Hast und verwirrenden Unrast der philosophischen Gedankenbildumgen unserer Tage laufen wir Gefahr, aneinander voir'bei zu philosophieren. Es dürfte daher geboten sein, von Zeit zu Zeit Atem zu holen und Umschau zu halten." (Aus dem Vor- wort). Im ersten Teil werden „Philosophische Strömungen der Gegen- wart" nacheinander aufgeführt und einzeln besprochen, der zweite Teil „Philosophische Probleme" (S. 294) gilbt dazu die zugehörigen „O'Uer- schnitte" der Darstellung. Einen besonderen Vorzug dieses Orientie- rungswerkes erblicke ich darin, daß die Hauptströmumgen vergleichend und ergänzend aneinandergereiht werden, indem gerade dadurch, durch mehrseitige Beleuchtung das Typische an einzel- nen Philosophen herausgegrifif-en wird. Die Darstelkmg ist durchsichtig und — was in dieser ganzen Lit'eratur seltener anzu- treffen ist — frei von jeder akademischen Schwerfälliigteiit.
— B a u m a n n Julius, Deutsche und auBerdeutsche Philosophie der letzten Jahrzehnte dargestellt und beianbeitet. Ein Buch zur Orientie- rung auch für Gebildete, Gotha, 1903. — AusdrückHch sagt der Ver- fasser in der Einleitung: „Das Buch ist mir aus philosophischem Inter- esse erwachsen." Übrigens gibt das Werk etwas über 40 nacheinander aufgezählte und besprochene philosophische Namen.
— Stumpf Carl, Die Wiedergeburt der Philosophie, Rektorats- rede, Berlin, 1917. — Diese kleine Schrift ist orientiert auf breiterer wissenschaftlicher und psychologischer Ba&is. Besonders hervorheben möchte ich die Worte deis Philosophen-Psychologen: „Von einer in na- turwissenschaftlichem Geiste betriebenen Psychologie kam neues Leben in die Philosophie." (S. 6).
— Moderne Philosophie, Ein Lesebuch zur Einführung in ihre Standpunkte und Probleme. Hrg. von Dr. M. Frischeisen- Köhler, Stuttgart, 1907. — Dieses Buch stellt eine Art „Chresto- matie" der modernen Philosophie dar, — und will eben dadurch auf seine eigene Art einführen.
— Geistige Strömungen der Gegenwart von R. Eucik e n , Der Grundbegriff der Gegenwart, vierte, umgearbeifete Auflage, Leipzig, 1904. — Kommt auch für eine breiter fundierte Orientierung in Betracht.
Die beiden Grundtypen des Philosophierens 43
— K ü 1 p e 0., Philosophie der Gegenwart' in Deutschland. „Aus Natur und Geisteswelt", m g-eschichtlicher Methode dang-estellt.
— Wind ei band W., Über die gjege.nwär tilge Lage und Aufgabe der Philosophie in „Präludien, Aufsätze und Reiden zur Einleitunig in die Philosophie" S. 20. Von besonderer Bedeutung in dieser Sammlung ist auch die Abhandlung „Kritische oder genetische Methode ?" und „Was ist Philosophie?" —
— Jerusalem W., Apriorismus und Evolutionismius im „Bericht über den 3. internationalen Komgres für Philosophie", Heidelberg, 1909. — Für Evolutionismus und gegen Apriorisimus.
— Die Philosophie im Beginm des 20. Jahrhunderts. Festschrift für K. Fischer; herausgegeben von W. Windelband, 2 Bde., Heidelberg. 2. Ausg. 1907.
— F a 1 k e n b e r g R., Über die gegenwärtige Lage der deutschen Philosophie, Leipzig. 1890.
— H ö f f d i n g Harald, Einleitiung in die englische Philosophie un- serer Zeit, 1889.
— W u n d t W., Über die Aufgabe der Philosophie in der Gegen- wart, Rede 1874.
— H ö f f d i n g Harald, Moderne Philosophen, Vorlesungen, gehal- ten an der Universität in Kopenhagen im Herbst, 1902, unter Mit- wirkung des Verfassers übersetzt von F. Bendixen, Leipzig, 1905.
— Ei s e n me i e r Josef, Die Psychologie und ihre zentrale Stellung in der Philosophie, eine Einfü'hrunig in die wiss&nschaft'liche Philosophie von J. E., Halle a. S., 1914. — In extrem psychologistischem Geiste.
— Wähle R., Das Ganze der Philosophie und ihr Ende. Ihre Vermächtnisse an die Theologie, Psychologie, Ästhetik und Staatspäda- gogik, Wien 1894. — Keine Orientation, sondern Resignation.
— Ziehen Th., Zum gegenwärtigen Stand der Erkenntnistheorie (zugleich Versuch einer Einteilumg der Erkenntnistheorien) von Th. Z., Wiesibaden. 1914. — Es soll eine erkenntnistheoretische Orientation darstiellen.
Es kommen daz'U noch ähnliche erkenntnistheoretische Einleitungen und Orientierungen in Betracht, wie z. B. von R. Eisler, A. Messer u. a.. die Werke von E. Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeil, 1916; Henning H.. Der Irrgarten der Erkenntnistheorie, Straßbiurg, 1912 und endlich die ganze neuere reiche
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Literatur der philosophischen „Einleitumgen" von Paiulsen, Külpe, (be- deutend!), Windelband, Eucken, Wündt, Jerusalem, Corneliius, Went- scher M., Richter R., Cohn J. („Führende Denker"), Menzer S., Eisiler (..Krit. Einf. i. d. Phil."), Apelit M. („Wie studiert man Philos.?), Simmel (i. („Hauptprobl. d. Philos.", Samml. Göschen), Hoff ding H. („Philo- sophische Probleme"), Struve (a. d. Russ.), Debo, Naforp P. („Philo- sophie, Ihr Problem aind ihre Probleme"), Rausch u. a.
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