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ARCHIV FÜR RELIGIO^^SWIS SEXSCHAFT

NACH ALBRECHT DIETERICH UND RICHARD WÜNSCH

UNTER MITWIRKUNG VON C.BEZOLD . F.BOLL O.KERN E. LITTMANN •. M.P. NILSSON E.NORDEN K. TH.PREUSS R. REITZENSTEIN G.WISSOWA

HERAUSGEGEBEN VON

OTTO WEII^REICH

ZWANZIGSTER BAND

GEDRUCKT MIT UNTERSTÜTZUNG DER HEIDELBERGER AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEX UND DER RELIGIONS- WISSENSCHAFTLICHEN GESELLSCHAFT IN STOCKBOLM

VERLAG B. G. TEUBNER IN LEIPZIG UND BERLIN 1920-192!

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Seite

Die Sage von der Taufe Jesu und die vuvderorientaliscbe Tauben- göttin von Hugo Greßmann in i^erlin-Schlachtensee . ! 323

Olympiscbe Studien von Ludwig Weniger in Weimar ... 41

Volcanalia von A, v. Domaszewski in Heidelberg 79

Über Kalendae lanuariae und Martiae im Mittelalter von Fe der

Schneider in Frankfurt a. M. . . . 82. 3t5ö

Die do-ut-des-F orm.e\ in der Opfertheorie von (i. van der Leeuv,-

in Groningen 241

Schuld und Sünde in der griechi>cben Keligion von Kurt Latte

in Münster 254

Der Krieg in der griechischen Religion von Friedrich Schwenn

in Güstrow 29'J

II Berichte

1 Griechische und römische Religion l'Jll 1914 von Ludv?^ig

Deubner in Freiburg i. Br ... 135. 411

Altgermanische Religion von Fr. Kautfmauu m iviei . . . 205

3 Geschichte der christlichen Kirche von Haus Lietzmann in .Jena 442

4 Kleine Anzeigen: Zur Volkskunde von Otto Weinreich in

o

Tübingen 469

III Mitteilungen und Himreise

A. Wiedemann (Zum altägyptischeu Sterugiauben) 230; Martin P. Nilsson (Die traditio per terram im griechischen Kechtsbrauch) 232; Otto Kern (Noch einmal Karkinos) 236; Gawril Kazarow (Ein Mithraadenkmal aus Makedonien) 236; R. Reitzenstein (Zu Cyprian dem Magier) 236; Adolf Jacoby (Das exanien in wen- suris) 236; F. BoU (Endymion als Sternbild) 479; K. Schwende- mann (Omphalos, Pytbongrab und Drachenkampf) 481.

Register 485.

I Abhandlungen

Die Sage von der Taufe Jesu und die vorderorientalisclie Taubengöttin

Von Hugo GreBmann

ly Wie jeder historische Forscher so ist sich auch der Interpret dessen bewußt, daß seine Erklärung des Textes nur Wahrscheinlichkeitswert beanspruchen darf. Wenn er sich auch bemühen wird, seine individuelle Auffassung überzeugend zu be- gründen und ihr durchschlagende Kraft zu verleihen, so muß er im allgemeinen doch zufrieden sein, wenn man seine Auf- fassung neben anderen möglichen gelten läßt. Da aber durch das Gebundensein an die Überlieferung die Deutungen natur- gemäß beschränkt sind, so wird man jedem dankbar sein, der eine Erzählung von einer neuen Seite zu beleuchten versteht. So hat Georg Runze seinerzeit in der dritten „Studie zur vergleichenden Religionswissenschaft" (Berlin 1897) die Sage Ton der Taufe Jesu im Anschluß an das Wort vom Zeichen des Jona, so hat Hermann Gunkel jetzt in seinen Ausführungen über „Das Märchen im Alten Testament" (Tübingen 1917 S. 147 if.) dieselbe Sage durch Zusammenstellung mit bestimmten Märchenmotiven neu zu erklären versucht; so hat Hermann Usener in seinen Untersuchungen über „Das Weihnachtsfest" (^Bonn 1888; ^ign) an der Hand der Aktenstücke die Ent- wicklungsgeschichte der Taufsage in eigenartiger Weise auf- gerollt. Auf ihren Ergebnissen und den Arbeiten der exege- tischen Erforschung des Neaen Testaments ruht auch die fol- gende Darstellung.

2. Der Text der Taufsage lautet im ältesten Evangelium, •das 'nach Markus' benannt ist: 'Und es geschah in jenen

Archiv f. BeligionswigsecBcbaft "X"y -^

2 Hugo Greßmann

Tagen, da kam Jesus aus Nazareth in Galiläa an den Jordan und ließ sich dort von Johannes taufen. Kaum war er aus dem Wasser gestiegen, da sah er, wie sich der Himmel spaltete und der Geist gleich einer Taube in ihn herabkam. Und eine Stimme vom Himmel (erscholl): »Du bist mein lieber Sohn; dich habe ich erwählte' (Mark. 1, 9 11).

Fast alle neutestamentlichen Forscher reden hier von einer Vision und streiten nur Sarum, ob lediglich ein innerer Vor- gang berichtet werde oder ob ihm auch irgendwelche äußere Tatsachen, wie etwa die Geistverleihung, entsprächen. „Was immer hier vorgegangen sein mag, es kann sich nur um ein Erlebnis Jesu handeln, das wir heute eine Vision nennen würden" (Johannes Weiß). „Deshalb weil nur Jesus den Vorgang sieht und hört, darf er jedoch nicht als unwirklich vorgestellt werden. Der Geist kommt wirklich auf ihn herab und bleibt auf ihm. Überhaupt bedeutet den Juden Vision nicht e'bensoviel wie Sinnestäuschung^' (Wellhausen). Mit dieser gewiß unanfechtbaren Behauptung ist aber die literarhistorische Frage noch nicht klar beantwortet. Sie wird auch nicht klarer dadurch, daß man zwischen subjektiven und objektiven Visionen unterscheidet; denn objektive Visionen gibt es überhaupt nicht. Die Frage muß vielmehr so lauten: I.st das, was hier erzählt wird, seiner Gattung nach eine Be- rn fungsvision nach Art derer, die wir aus Jesaja oder Hese- kiel kennen, oder müssen wir an eine Berufungssage denken, wie sie uns etwa von Mose oder Elisa überliefert sind. Der Unterschied ist von wesentlicher Bedeutung. Die Visionen sind historisch wertvolle Schilderungen psychologischer Erleb- nisse von Propheten, die im allgemeinen dem heutigen Menschen als subjektive, dem antiken dagegen als objektive Wahrheit gelten. Die Sagen aber sind Erzeugnisse volkstümlicher Phan- tasie und geben uns keinen historischen Aufschluß über die Beelischen Erfahrungen des Helden, von dem sie erzählt werden.

Wie kein Prophet Israels ohne eine Berufungsvision denk-

Die Sage von der Taufe Jesu und die vorderorientalische Taubengöttin 3

bar ist, so trifft das selbstverständlicli auch auf Jesus zu, wenn anders er wirklich ein Prophet war. Darum könnte man er- warten, von seiner Berufung in Form einer Vision zu hören. Aber diese Erwartung ist keineswegs berechtigi; denn nicht alle Berufungsvisionen sind uns überliefert. Sie fehlen meist bei den großen Sagengestalten wie bei Elia und Johannes dem Täufer. Da nun auch das Leben Jesu durch die Sage stark verfärbt worden ist, so muß man ebensosehr mit der Mösrlich- keit einer Berufungssage rechnen. Allgemeine Erwägungen führen also nicht weiter, um die vorliegende Frage zu ent- scheiden; man muß den Test selbst zu Rate ziehen.

Die Antwort scheint sehr einfach zu sein, wenn man das ^er sah' beachtet. Man denkt zunächst an ein inneres persön- liches Erlebnis Jesu; denn wenn es sich um einen öffentlichen Vorgang handelte, den jedermann wahrnehmen konnte, so wäre ein 'man sah' oder 'sie sahen' zu erwarten. Indessen un- bedingt notwendig ist -diese Auffassung nicht, da das persön- liche Erlebnis Jesu zugleich auch ein äußeres sein konnte: die anderen sehen auch, was vorgeht, aber der Erzähler braucht den Singular, weil das Ereignis einen einzelnen besonders trifft; es gibt ja Fälle genug, in denen der Zusammenhang den Singular von selbst nahelegt, auch wo man an sich ebensogut den Plural verwenden könnte. Nun wird hier auf der einen Seite zwar keineswegs hervorgehoben, daß es nur ein einziger ist, der den Vorgang sieht und die Stimme hört; vom Hören ist überhaupt nicht die Rede, sondern es heißt ganz objektiv: 'und eine Stimme (erscholl) vom Himmel.' Man wird darum doch geneigt sein, an ein öffentliches Ereignis zu denken. An dieser Auffassung wird uns der Einwand nicht irremachen: „Eine öffentliche Messias-Manifestation kann schon deswegen nicht berichtet werden, weil nach dem Markus-EvangeKum die Messianität Jesu zunächst als Geheimnis erscheint" (Martin Dibelius: Johannes der Täufer S. 60). Denn dieser Grund ist nicht stichhaltig. Wrede hat gezeigt, daß das Markus-

1*

4 Hugo Greßmann

Evangelium voller Widersprüche steckt, und daß das angebliche Messias-Geheimnis an einzelnen Stellen als ein öffentlich be- kanntes „Geheimnis" gilt. Warum soll nicht die Taufsage, zumal da sie ursprünglich für sich allein stand, zu diesen Aus- nahmen gehören? Wichtiger ist ein zweiter Einwand, den man erheben könnte: Der Zusammenhang legt den Singular 'er sah' in keiner Weise nahe; man wird im Gegenteil immer wieder daran anstoßen, wenn es sich wirklich um einen öffent- lichen, allgemein beobachteten Vorgang handeln sollte. So scheint dieses anderseits-Aber das einerseits-Zwar aufzuheben, 80 daß sich der vorsichtige Forscher wenigstens vorläufig mit einem non liqiiet begnügen wird. Vielleicht helfen uns andere Erwägungen weiter.

Ein Blick auf Matthäus und Lukas, die den Markus be- nutzt haben oder auf dieselbe Überlieferung zurückgehen, lehrt uns, daß sie diese Erzählung nicht für eine Vision gehalten haben. Denn während Markus sagt: 'Er sah den Himmel sich spalten und den Geist gleich einer Taube herabkommen', drückt sich Matthäus ganz unbefangen so aus: 'Siehe, da öffnete sich der Himmel, und er sah den Geist Gottes gleich einer Taube herabsteigen und auf ihn kommen' (Matth. 3, 13 17). Hier kann auch nicht der leiseste Zweifel sein, daß ein ob- jektiver Vorgang berichtet werden soll, obwohl uns auch hier das im Zusammenhang rätselhafte oder mindestens überflüssige 'er sah' begegnet. Aber gerade deshalb wird sich auch bei Mjirkus die Interpretation zugunsten dieser Auffassung neigen müssen. Bei Lukas wird das Sehen überhaupt nicht mehr hervorgehoben, sondern nur die nackte Tatsache erzählt, daß sich der Himmel öffnete und 'der heilige Geist' sich gleich einer Taube auf ihn herabließ, mit dem ausdrücklichen Zusatz: 'in körperlicher Gestalt' (Luk. 3, 21 22). Hier ist der ur- sprüngliche Text geglättet, sofern das scheinbar nicht not- wendige 'er sah' gestrichen ist. Überdies ist durch den Zu- satz die Objektivität des Vorganges noch verdeutlicht; aber

Die Sage von der Taufe Jesu und die voiderorientalische Taubengöttin 5

ein Mißverständnis, wie man vielfach annimmt, kann nicht er- wiesen werden, da sicher Matthäus und wahrscheinlich auch Markus derselben Meinung sind. So werden wir mit einer Taufsage und nicht mit einer Taufvision rechnen müssen.

Entscheidend ist der Inhalt der Erzählung. Läge die lite- rarische Form der Vision vor, so müßte, von allen märchen- haften und mythologischen Zügen abgesehen, die auch in einer Vision vorkommen können, speziell auf das Berufswerk Jesu Bezug genommen und dem Ganzen der Stempel seines Geistes aufgedrückt sein. Aber das ist nicht der Fall. Man spürt weder etwas von der eigentümlichen Leuchtkraft der Worte Jesu noch von seiner Aufgabe, das Reich Gottes zu verkün- digen. Nun könnte man einwenden, es handle sich nur im letzten Grunde um die Berufungsvision Jesu; da sie nicht von ihm selbst aufgezeichnet wurde, sei sie in der mündlichen Überlieferung des Jüngerkreises vergröbert und veräußerlicht worden. Damit wird indessen verblümt zugestanden, daß uns keine Berufungsvision, sondern nur eine Berufungssage mit- geteilt wird, aus der man nur durch Neudichtung und nicht durch Nachschöpfung das Erlebnis Jesu entnehmen kann. Ge- wiß wird sich ein Prophet seiner Lebensaufgabe durch einen visionären Akt bewußt; denn für ihn ist die innere Über- zeugung, die ihn vor seinem Gewissen rechtfertigen muß, die Hauptsache. Wie aber? Wenn Jesus in dieser Erzählung gar nicht als Prophet gedacht ist?

Nach Markus ist es Mer Geist', nach Matthäus Mer Geist Gottes', nach Lukas 'der heilige Geist', der wie eine Taube auf Jesus herabkommt; diese Varianten sind sachlich belang- los. Dem Ausdruck des Textes entsprechend pflegt man den Nachdruck nicht auf den Vogel, sondern auf den Geist zu legen und als Hauptpointe der Erzählung die Ausstattung Jesu mit dem göttlichen Geist hinzustellen. Ohne Zweifel ist das auch gemeint; es fragt sich nur, welchen Sinn man damit verbinden soll. Zunächst scheint damit die Berufung Jesu

HugfO Greßmann

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zum Propheten gegeben zu sein. Denn nach israelitisch- jüdiechem Glauben reden und handeln die Propheten im Geist, weil er dem Menschen unheimliche, rätselhafte, göttliche Kräfte verleiht. Der 'Geist' ist eine göttliche Hypostase, von Gott so wenig oder so viel unterschieden wie der Logos. Nach der älteren, unbefangenen Anschauung spricht ^Jahve' oder 'Gott' aus dem Propheten, nach der jüngeren, höher entwickelten ist es 'der Geist' oder 'der Geist Gottes'; besonders sind es die Propheten Hesekiel und Sacharja gewesen, die ihre geheimen Erfahrungen und ekstatischen Zustände mit Vorliebe dem 'Geiste' zuschreiben. Von hier aus verstehen wir ohne weiteres, wenn die Versuchungssasre im Anschluß an die Taufsage fort- fährt: 'Und sofort treibt ihn der Geist in die Wüste'; denn das scheint auf die gewaltige Erregung zu deuten, in die ihn sein Erlebnis versetzt hat. Sie zwingt ihn zu der unbegreiflichen, schier sinnlosen Flucht in die Wüste. Diesen Zwang kann man sich nur erklären durch den Einfluß eines Daimonions, das ihn in Besitz genommen hat; Gott oder vielmehr ein 'Geist' hat sich in ihm inkarniert. Wie sich mit dem Psycho- logischen das Märchenhafte verbindet, lehrt das Hebräer- Evangelium (Bruchstück 5 Klostermann): 'Sodann ergriff mich meine Mutter, der heilige Geist, bei einem meiner Haare und entführte mich auf den hohen Berg Tabor.' Dasselbe Motiv findet sich schon bei Hesekiel, bei dem auch die entsprechen- den seelischen Erlebnisse nicht fehlen.^ Aber es ist nun doch falsch zu meinen, die Geistausgießung bei der Taufe Jesu sei in demselben Sinne zu verstehen wie die Geistwirkung bei der Versuchung; wenigstens ist das nicht unbedingt notwendig. Beide Sagen können, da sie ursprünglich für sich allein um- liefen, verschiedene Vorstellungen vom Geiste gehabt haben; damit soll nicht behauptet werden, daß es wirklich der Fall war. Aber da die Versuchungssage meist noch schlimmer miß-

' Hes. 8, 3; 11, 24. Vpl. weiter die Geschichte vom Drachen zu Babel v. 36. 39 und Gunkel Das Märchen S. 86.

Die Sage von der Taufe Jesu und die vorderorientalische Taubengöttin 7

handelt wird als die Taufsage, so beschränken wir uns auf diese allein; und in ihr deutet nichts auf ekstatische Erfah- rungen hin.

Es kann darum nur die zweite Möglichkeit in Betracht kommen: Den Geist Gottes besitzen nicht nur die Propheten, sondern auch die Könige. Auch in ihnen inkarniert sich die Gottheit, wenngleich sich ihre Wirkungen hier in ganz anderer Weise äußern als bei den Propheten. In dem Augenblick, als er gesalbt wurde, '^sprang der Geist des Herrn' auf David (I. Reg, 16, 13), man darf wohl sagen: durch das heilige Ol; so kommt auch der Geist Gottes über Jesus in dem Augen- blick, als er zum König gewählt wird: durch die Taube. Die Taufe ist nicht, wie man wohl bisweilen fälschlich behauptet, die Ursache, sondern nur der Anlaß zur Geistverleihung. Der Erzähler mußte eine geweihte Situation oder einen heiligen Akt zum Hintergrund seiner Sage machen, weil sich die Gott- heit offenbaren sollte; und welche Gelegenheit war passender als der Moment nach der Taufe, die alle Sünden weggespült und den Menschen äußerlich und innerlich gereinigt hatte? Nach Lukas betete Jesus gerade; ein Gebet vor und nach der Taufe ist gewiß allgemeine Sitte gewesen, und doch wird der Zug sekundär hinzugefügt worden sein, um durch diesen sa- kralen Ritus die feierliche Gelegenheit noch mehr zu betonen. Die Markus-Überlieferung schreibt dem Täufer die Anschauung zu, daß Wassertaufe und Geisttaufe einander ausschließende Gegensätze sind: '^Ich taufe euch mit Wasser, er aber wird euch mit heiligem Geist taufen.' Es ist darum auch nicht wahrscheinlich, daß in der Taufsage beides ursächlich mit- einander verknüpft sei. Yor allem aber brauchte der Geist nicht vom Himmel herabzufahren, wenn das Wasser selbst sein Sitz gewesen sein sollte. Gewiß darf man sagen: „Jesus kommt als Mensch zum Jordan und geht als Gottes Sohn von dannen'^ (Usener ^S. 59), aber man sollte hinzusetzen: Nicht der Jordan ist es, der ihn vergottet, sondern die Taube; denn

8 Hugo Greßmann

ohne sie hätte er den Geist Gottes nicht. Der Taufe, wenig- stens der Johannestaufe, fehlt hier jeder sakramentale Charakter. Wenn dies klar ist, dann ist auch klar, daß die Taube auch bei anderer Gelegenheit auf Jesus herabfahren konnte; es be- darf also einer besonderen Erklärung, warum für die Geist- verleihung gerade die Situation der Johannestaufe gewählt worden ist.

Die Gottheit oder 'der Geist' schwebt direkt aus dem Himmel herab, der 'sich spaltet' oder 'sich öffnet'. Sie selbst, nicht ihr Herabschweben, wird bei Markus und Matthäus mit einer Taube verglichen; Lukas bezeichnet sie ausdrücklich als eine Taube^ da er von ihrer 'körperlichen Gestalt' spricht. Ein Unterschied der Auffassung ist nicht vorhanden; auch wenn man die Vergleichungspartikel bei Markus und Matthäus be- tonen wollte, bliebe doch bestehen, daß es sich um eine kör- perliche, nach Art eines Vogels gedachte Gottheit handelt. Der Gottesvogel flattert nicht nur über Jesus, sondern steigt 'auf ihn' herab, d. h. er läßt sich auf seinem Kopfe nieder. Nach Markus fährt er sogar 'in ihn' hinein. Usener hat wahrscheinlich gemacht und legt besonderes Gewicht darauf, daß nach dem ursprünglichen Text alle Synoptiker so lasen. Man muß ihm durchaus zustimmen, wenngleich seine Schluß- folgerungen abzulehnen sind. Wäre die Taube ein gewöhn- licher Vogel, so müßte sie freilich 'auf dem Kopfe bleiben; da sie aber mit der Gottheit identisch ist, die sich in Jesus inkarn leren will, so muß sie 'in' ihn eingehen, auch wenn sie äußerlich 'auf ihm sitzt und der Vorgang nicht genauer vor- stellbar ist. Er soll auch nicht genauer vorgestellt werden, ebensowenig wie das Reiten des wilden Heeres durch die Lüfte oder irgendwelche anderen Ideen der volkstümlichen Mythologie. Man kann auch an die babylonischen oder ägyp- tischen Bilder erinnern, in denen die Gottheit auf ihrem Hause sitzt, weil der Künstler nicht imstande ist, sie im Innenraum darzustellen; aber er darf darauf vertrauen, daß ihn der Be-

Die Sage von der Taufe Jesu und die vorderorientalische Taubengöttin 9

schauer schon richtig rerstehen werde. So begreifen wir 'in ihn' als die ursprünglichere und bessere Lesart, die erst später durch das oberflächliche 'auf ihn' verdrängt wurde. Durch diesen Text wird erwiesen, daß 'der Geist' zum ältesten Be- stände der synoptischen Überlieferung gehört. Das ist wichtig, weil man sich die Erzählung auch ohne ihn denken könnte, während sie umgekehrt ohne die Taube völlig undenkbar ist, soll sie nicht ihren Sinn verlieren.

Was ist denn nun der Sinn des Vorganges? Eigentlich müßte die Erzählung an sich genügen, aber zur Erklärung wird, wie in der Regel, zugleich ein Wort dem Zeichen hin- zugefügt. Eine göttliche Stimme ertönt, auffälligerweise nicht vom Geiste, sondern Vom Himmel' her, wahrscheinlich weil die Sage das märchenhafte, allzu unglaubwürdige Motiv des redenden Vogels vermeiden will; eine himmlische Stimme da- gegen erschallt in der jüdischen Legende sehr häufig. Sie verkündet nach Matthäus: 'Dies ist mein lieber Sohn, den habe ich erwählt' oder nach Markus und dem heute geläufigen Text des Lukas: 'Du bist mein lieber Sohn, dich habe ich erwählt.' Der ursprüngliche Text des Lukas aber lautete, wie Usener gezeicH; hat: 'Du bist mein- Sohn, ich habe dich heute gezeugt.' Das ist ein Zitat aus Psalm 2, 7, dessen Sinn klar ist: Die Gottheit proklamiert Jesus zu ihrem Sohn und damit zum erwählten König. Das erhellt besonders deutlich aus Psalm 2, einem Liede zur Feier der Thronbesteigung eines judäischen Herr- schers. Die Worte: 'Du bist mein Sohn, ichhabe dich heute gezeugt' sind eigentlich, wie das 'heute' lehrt, die Adoptionsformel, mit der ein fremdes Kind zu eigen angenommen wird. Wenn man es sich genauer überlegt, wird es freilich nicht der Vater, son- dern die Mutter sein, die das Kind mit diesen Worten auf ihren Schoß setzt, und die richtigere Übersetzung sollte darum lauten: 'Du bist mein Sohn, ich habe dich heute ge- boren.' In Psalm 2 ist dieser Sinn allerdings verdunkelt, weil der judäische König nur von einer männlichen Gottheit,

IQ Huj»o Greßmanu

von Jahve, adoptiert werden kann; ursprünglich aber muß diese Formel aus einem fremden Hofstil stammen, der die Göttin als Mutter oder Adoptivmutter des regierenden Herr- schers kannte. Psalm 2 ist auch sonst, wie man^ längst nach- gewiesen hat, durch fremde Vorstellungen und Formeln sehr stark beeinflußt.

Damit hat die vorliegende Sage ihre Pointe erhalten. Wenn Jesus durch die himmlische Stimme für den 'Sohn Gottes' erklärt wird, so wird er dadurch zugleich zum König oder Christus ernannt; der Prophet dagegen heißt niemals „Sohn Gottes". Da der Messias stets in erster Linie eine politische Größe gewesen ist, so begreift man die Übertragung dieses Psalms und des verwandten Jesajawortes auf den Christus. Nun könnte man einwenden, daß Jesus nicht in politischem Sinne der Messias-König hat sein wollen. Dies schwer zu beant- wortende Problem brauchen wir hier nicht zu lösen, uns muß hier die Tatsache genügen, daß die evangelische Überlieferung das Wirken Jesu vielfach in politischem Sinne aufgefaßt hat. Diese Anschauung wird fast von allen Jesussagen geteilt, wie von dem Wfihnachtsevangelium, der Jungfrauengeburt, dem bethlehemitischen Kindermord, der Anbetung der Magier. Sie tritt uns aber auch in ein/einen Worten entgegen; und schließ- lich darf man nicht vergessen, daß Jesus wahrscheinlich als politi.scher Revolutionär wegen seiner angeblich messianischen Prätentionen hingerichtet worden ist.

Nun l)leibt aber noch die Frage zu erwägen, woher die andere Fassung der himmlischen Stimme stammt: „Du bist mein 'geliebter' Sohn, dich habe ich erwählt" oder bei Matthäus: „Dies ist mein 'geliebter' Sohn, den habe ich er- wählt." Gewöhnlich erklärt man diese Fassung aus einer Mischung von Psalm 2, 7 mit Jes. 42, 1: 'Dies ist mein erlesener

' Vgl. Hupo Greßmann Der ürapruvg der israelitisch-jüdischen Escha- tologit. Göttingon l'JO.^,. S 253 ff.

Die Sage von der Taufe Jesu und die vorderorientalisclie Taubengöttin H

(Knecht), den habe ich erwählt ^' Der Text ist allerdings nicht ganz identisch, aber die Abweichung würde vielleicht be- greiflich werden, wenn man an eine allmähliche, nirgends ganz geglückte Verdrängung des Psalmenzitates durch die Jesaja- stelle glaubt; die leitende Absicht könnte gewesen sein, den Hinweis auf die Zeugung aus der Erzählung zu entfernen, der den Späteren nicht ohne weiteres verständlich oder gar wegen der vorangehenden Geburtsgeschichte unverständlich sein mochte. Der altsyrische Text indessen, auf den nur Lublinski^ nach- drücklich aufmerksam gemacht hat, legt eine andere Erklärung nahe. Überall, wo Sinaiticus und Curetonianus erhalten sind, bieten sie: 'Du bist mein Sohn und mein Geliebter, dich habe ich erwählt.' Das zunächst völlig rätselhafte 'und' ist gewiß nicht bei der Übersetzung sekundär eiageschoben^, sondern geht auf den ihnen vorliegenden griechischen Urtext zurück: 6v et 6 vlos iiov aal 6 dyanrjtög (lov, sv öol evööxriaa. Man wird diesen Text sogar für den älteren halten müssen, aus dem der gegenwärtige erst durch Glättung hervorgegangen ist. Das y.aC deutet auf die Verschmelzung zweier ursprünglich selb- ständiger Lesarten: 6v sl 6 vlög (lov und 6v bI 6 dyajcrjTos fiov, zumal da die erste noch im echten Lukastext erhalten ist. Damit sind aber die ursprünglichen Lesarten für beide Sätze wieder rekonstruiert ; die eiae kennen wir bereits aus dem echten Lukas, die andere ergibt sich von selbst:

1. vlos ^^ov sl 6v, iya öij^iEQOv ysyevvrjxä 6e.

2. 6v sl 6 dyajtrjtog ^ov, iv 6ol evdöxrjßa.

Der Sinn der zweiten Lesart ist durch die erste bestimmt: War

1 Idov 6 nulg (lov ... 6 iy.XsKTog (lov ov sv36>iri6ev rj '^XV i^ov so lesen einige LXX-HSS. im Anschluß an den Hebräer.

' Der urchristliche Erdkreis und sein Mythos. Jena 1910. Bd. II. Das werdende Dogma vom Leben Jesu. S. 126.

s Dasselbe rätselhafte 'und' kehrt nur noch Matth. 17, 5 Cur. wieder (aber Verklärungs- und Taufsage hängen aufs engste zusammen, und die Zitate sind wörtlich identisch), fehlt dagegen Mark. 9, 7 Sin.; Luk. 20, 13 Sin. Cur. und wo man es sonst suchen könnte.

■lo Hugo Greßmann

dort der Christus durch die Gottheit zum 'Sohn' adoptiert, so ist er hier zom 'Geliebten' erwählt. Beides erklärt sich aus dem Hofstil; nach der im Orient geläufigen Anschauung ist der König ent- weder der Sohn resp. Adoptivsohn oder der Gatte resp. Ge- liebte der Gottheit. Wie die Adoptivformel so deutet auch die Vermählungsformel auf eine ursprünglich weibliche Gott- heit hin, die erst auf jüdischem Boden durch Jahve ersetzt wurde. Während die Adoptivvorstellung für die jüdische Re- li<Tion zur Not noch erträglich ist, kann dasselbe von der Gattenwahl kaum gelten, wenngleich die hinter ihr liegende sinnliche Anschauung nicht in ihrer vollen Stärke empfunden sein mag. Aber gerade darum wird man die zweite Lesart für die ältere halten dürfen; wegen ihres hochmythologischen Inhalts wurde sie indessen schon früh verdrängt und ist da- her nirgends mehr ungetrübt erhalten. Man bevorzugte später eine Mischlesart, die aus den beiden gleichwertigen Texten das Blasseste und am wenigsten Anstößige auswählte. Wie die Adoptivformel so paßt auch die Vermählungsformel nur in eine Königsberufungssage; der Prophet gilt nirgends als Gatte oder Geliebter der Gottheit.

Fassen wir kurz zusammen: Die Frage, ob eine Berufungs- sage oder eine Berufuugsvision vorliegt, läßt sich nur durch den Sinn der Erzählung entscheiden, der glücklicherweise doppelt angegeben ist: durch die Handlung und durch das sie begleitende und erklärende Wort. Die Untersuchung der Handlung hat zu keinem sicheren Ergebnis geführt, weil sich der „Geist" sowohl in einem Propheten wie in einem Könige inkamieren kann, und weil beide Möglichkeiten für Jesus in Betracht kommen. Den Ausschlag könnte nur die Taube geben, wenn wir wüßten, ob sie ein Königsvogel oder ein Prophetenvogel ist; aber im Alten wie im Neuen Testament fehlt es an Stoff, um diese Frage zu beantworten. Die Ant- wort findet man erst in außerbiblischen Parallelen 10). So bleibt nur übrig, sich an das begleitende Wort zu halten.

Die Sage von der Taufe Jesu und die vorderorientalische Taubengöttin I3

Die beiden Fassungen der Himmelsstimme, die als die ältesten gelten müssen, passen ebenso wie die gegenwärtige Mischform nur zur Berufung Jesu als eines Königs, nicbt eines Propheten. Sie lehren weiter, daß sich in der Taube eine Göttin verkörpert, und daß eben deshalb von einem ^Geist' die Rede ist; da die Juden kein Wort für 'Göttin' hatten, so mußten sie sich mit einer Umschreibung helfen. Setzt man für "^Geisf das ur- sprüngliche 'Göttin' wieder in die Erzählung ein, so wird nie- mand mehr an eine Berufung Jesu zum Propheten denken und daran zweifeln, daß hier eine Berufungssage vorliegt.

Jetzt verstehen wir, warum diese Erzählung die Lebens- beschreibung Jesu eröffnen muß: Sein öffentliches Wirken konnte erst beginnen, wenn er zuvor zum Messias berufen ist. Jetzt verstehen wir, warum der Geist Gottes auf ihn nieder- fahren muß: In dem Könige als dem 'Sohne Gottes' inkarniert sich die Gottheit. Jetzt verstehen wir, warum diese Erzählung keine Vision sein kann: Ein König wird nicht durch inneres Schauen, sondern durch einen äußeren Akt erwählt; denn bei ihm kommt es nicht, wie beim Propheten, auf die Rechtferti- gung vor seinem Gewissen, sondern auf die allgemeine Aner- kennung an. So ist der körperliche Vorgang die Hauptsache; nur durch ihn wird es ganz sicher, daß Jesus als der erkorene König aus der großen Masse herausgehoben ist. Die Voraus- setzung der Sage bildet die Johannestaufe, und wenn es auch nicht ausdrücklich gesagt wird, so ist es doch selbstverständ- lich, daß Jesus zusammen mit anderen getauft wird. Die Überlieferung weiß im allgemeinen nur von Massentaufen, nicht von Einzeltaufen. Erst Lukas betont dies, um die Situation für seine mit den Verhältnissen nicht vertrauten Leser anschaulicher zu gestalten. Eine andere schriftstellerische Absicht, als wolle er Jesus zum Mitläufer der Menge machen und ihn so wegen der Taufe bei Johannes entschuldigen, braucht man nicht dahinter zu suchen. Die Logik der Königs- sage verlangt eine Ansammlung der Massen; bei dieser Gelegen-

1^ Hugo Greßmann

heit findet das Ereignis statt, durch das Jesus als der einzige unter vielen ausgezeichnet wird.

Gegen die hier vorgetragene Deutung der Taufsage wird man freilich einen berechtigten Einwand erheben können: Wenn Jesus wirklich vor dem Volk und nicht bloß vor seinem Gewissen zum König erwählt wird, dann muß sich die Schar der Zuschauer daraufhin irgendwie äußern. Gegenwärtig lautet die Fortsetzung: 'Und sogleich treibt ihn der Geist in die Wüste.' Die Idee könnte sein: Jesus entzieht sich allen messianischen Huldigungen; er will das Königsamt, zu dem ihn die Gottheit bestimmt hat, nicht antreten. Dazu gibt es in der Tat mancherlei Parallelen aus dem Alten Testament und dem Talmud.* Aber es handelt sich zweifellos um ein sekundäres Motiv, da die Taufsage einst ebenso selbständig umgelaufen ist wie die Versuchungssage. Dann bleibt nichts anderes übrig als die Annahme, daß der ursprüngliche Schluß unserer Erzählung fehlt. Diese Vermutung ist auch deswegen erlaubt, weil die Taufsage sicher nicht mehr in ihrer ursprüng- lichen Form erhalten ist; denn sie hat Sie Form der Einzel- sage verloren. Gegenwärtig ist sie mit dem Vorhergehenden 80 eng verbunden, daß sie ohne diese Umgebung gar nicht verstanden werden kann. Über die Johannestaufe, die sie voraussetzt, wird nichts weiter mitgeteilt, weil die Einleitung des Markus- Evangeliums ausführlich davon gehandelt hat. Wieviel die Taufsage davon als bekannt annimmt, kann nnr ans ihr selbst erschlossen werden. Die Aufgabe der Inter- pretation bleibt immer, von der primären Form der Einzel- sage auszugehen und den sekundären Zusammenhang nur so- weit heranzuziehen, als zum Verständnis unbedingt erforder- lich ist. Nun sind in der Taufsage noch drei Rätsel ungelöst, erstens, wie das sonderbare 'er sah' zu erklären ist, zweitens, warum die Geistverleihung gerade bei der Taufe durch Johannes

' Vgl. Hngo Greßmann Vom reichen Mann und armen Lazarus (Abb. d. Berl. Akad, d. Wiss, 1918. rhil.-hist. Kl. Nr. 7). S. 27. Anm. 2.

Die Sage von der Taufe Jesu und die vorderorientalische Taubengöttin 15

stattfinden muß, und drittens, -^ie der Schluß ursprünglich gelautet haben mag. Vielleicht wird uns dies alles klar, wenn wir uns den Zusammenhang vergegenwärtigen. Wir gehen dabei wieder auf das Markus-Evangelium als unsere älteste Quelle zurück.

Es stellt in der Einleitung Jesus als den Größeren dem Täufer gegenüber. Dieser wartet auf den, der nicht' mit Wasser, son- dern mit heiligem Geist taufen wird; er verkündet sein baldiges Kommen, aber er weiß nicht, wer es ist. Jetzt führt das Schicksal beide zusammen, und man vermutet, in dem Augen- blick, wo Jesus dem Täufer gegenübertritt, muß die Offen- barung erfolgen. Und in der Tat, Jesus wird durch einen Gottesvogel als der Christus proklamiert; der heilige Geist senkt sich auf ihn herab. Der Leser weiß sofort: Jesus, der selbst mit heiligem Geist getauft ist, wird auch andere damit taufen ; Jesus ist der von Johannes Erwartete. Ist es da nicht sinnlos anzunehmen Jesus sei der einzige gewesen, der die Taube gesehen habe, sei es mit wachen oder visionären Augen? Der Täufer sollte das nicht bemerkt haben, was nur für ihn oder gerade für ihn bestimmt war? Im Gegenteil, wenn man den Zusammen- hang beachtet, dann ist das einzig Natürliche, Johannes für das Subjekt des 'er sah' zu halten. Als Jesus aus dem Wasser steigt, sieht Johannes den Geist als Taube auf ihn herab- kommen; da kann der Täufer nicht länger zweifeln : der so lange und sehnlich Erwartete ist endlich erschienen! An dieser naheliegenden Auffassung vorbeizugehen, haben nur die Regeln der klassisch-griechischen Grammatik gehindert. Aber sie gelten für die Evangelien nicht, in denen der Nominativus absolutus nicht selten ist^; und für den aramäischen Urtext der Erzählung fällt jener grammatische Zwang vollends fort. Es ist eine Eigentümlichkeit der semitischen Sagenerzähler, und gerade der ältesten und besten, die sich durch besondere

' Vgl. Matth. 17, 2. 9. 14 D. Wenn Wellhauaen recht hat, stand der Nom. abs. ursprünglich auch in Matth. 3, 16.

2 g Hugo Greßmann

Knappheit auszeichnen, daß Subjekt und Objekt häufig nicht ausdrücklich genannt werden, sondern aus dem Zusammen- hang erschlossen werden müssen; natürlich wird das Verständ- nis dadurch oft sehr erschwert, bisweilen sogar unmöglich gemacht. Wer alttestamentliche Sagen oder talmudische Legenden gelesen hat, dem stehen Beispiele dafür in Hülle und Fülle zur Verfügung.' Damit ist zugleich auch das zweite Rätsel gelöst: Geistverleihung und Taufe gehören zu- sammen, weil Johannes den Christus anerkennen soll.

Ist das richtig, dann ist endlich auch der ursprüngliche Schluß der Sage gegeben; er mußte etwa so lauten: 'Da beugte Johannes seine Knie vor Jesus und bekannte, daß er nicht würdig sei, ihm die Sandalen zu tragen; und alle, die an- wesend waren, huldigten Jesus als dem Christus und riefen: Heil dir, du Sohn Gottes!' So fordert es die innere Logik der Sage; denn es ist sinnwidrig, daß Johannes auf das Zeichen hin schweigt, das er selbst gesehen hat. Schwieg er wirklich, dann mußte dies ausdrücklich motiviert werden. Wenn man fragt, wie ein solcher Schluß später verschwinden konnte, so ist die Antwort darauf nicht schwer. Eine derartige öflFent- liche und allgemeine Huldigung für Jesus als den Messias ist wohl erträglich, solange die Taufsage in ihrer Vereinzelung bleibt; sobald sie aber in den Zusammenhang des Lebens Jesu eingereiht werden sollte, konnte der Widerspruch mit anderen besser beglaubigten Tatsachen nicht gut übersehen werden. Namentlich wird es die Theorie von der geheimen Messianität Jesu gewesen sein, die notwendig zu einer Verstümmelung der ursprünglichen Taufsage führen mußte. Da diese bei Markus teilweise noch nachwirkende Theorie, wie Wrede ge- zeigt bat, älter als unsere Evangelien ist, so wird die Tauf- sage schon dem Markus in der gegenwärtigen Fassung zu-

' Als bcHondorB markante Beispiele seien genannt die BeBchneidunga- •age des Mose (Ex. 4, 24—26) und die Jesuslogende (bab. Sanh, S. 107B^

Die Sage Ton der Taufe Jesu und die vorderorientalische Taubengöttin 17

gekommen sein. Daher begreifen wir, daß auch Matthäus und Lukas keine Kenntnis des Ursprünglichen mehr besitzen.

3. Nun gibt es freilich immer noch Forscher genug, die lieber den Erzähler zu einem armseligen Stümper und seinen Interpreten zu einem kühnen Phantasten machen, als daß sie der Kraft ihrer eigenen Logik vertrauen, Ihnen gegenüber kann man sich glücklicherweise darauf berufen, daß das Jo- hannes-Evangelium die synoptische Überlieferung noch in der älteren, hier erschlossenen Form gelesen oder gehört hat.

Nach dem Prolog beginnt die Erzählung des Lebens Jesu mit vier Szenen, die an vier aufeinanderfolgenden Tagen in Peräa spielen. Von ihnen gehören jedesmal zwei enger zusammen. In den beiden ersten Szenen (Joh, 1, 19 28. 29—34) legt der Täufer mit dem Wort Zeugnis über sich und über Jesus ab, in den beiden letzten Szenen (Joh. 1, 35 42. 43 51) dagegen legen die Jünger des Täufers mit der Tat Zeugnis über Jesus ab, indem sie zu ihm übertreten. Die Erkenntnis dieser künstlerisch gut aufgebauten Komposition wird uns vor dem Fehler bewahren, einzelne Teile als Doppelgänger aus- zuscheiden und von einer ungeschickten, äußerlichen An- einanderreihung zu reden.

Uns geht hier nur die zweite Szene (Joh. 1, 29 34) ge- nauer an: 'Am folgenden Tage sieht er Jesus auf sich zu- kommen und spricht: »Siehe, das Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt! Dieser ist's, von dem ich gesagt habe: 'Nach mir kommt ein Mann, der vor mir gewesen ist, weil er eher war als ich.' Und ich kannte ihn nicht, sondern damit er Israel offenbart würde, darum bin ich gekommen, mit Wasser zu taufen.« Und Johannes gab Zeugnis und sprach: »Ich habe den Geist herabkommen sehen wie eine Taube vom Himmel, und er ruhte auf ihm. Und ich kannte ihn nicht; aber der mich gesandt hat, mit Wasser zu taufen, der hat mir gesagt: 'Auf wen du den Geist herabkommen und auf ihm ruhen siehst, der ist's, der mit heiligem Geist taufen wird.' Und

AccbiT f. BeligiouswieseQ Schaft XX 2

28 Hngo Greßmann

ich habe das gesehen und habe bezeugt, daß dieser der Sohn Gottes ist>'

Hier gibt der Täufer zunächst Aufschluß über seine Taufe und antwortet damit zugleich auf die Frage, die am Tage vor- her Abgesandte der Pharisäer an ihn gerichtet hatten: 'Wozu taufst du denn, wenn du weder der Christus noch Elia noch der Prophet bist' (Joh, 1, 25)? Die Johannestaufe, so hören wir hier, hatte keinen anderen Zweck, als Israel den un- bekannten Messias zu offenbaren; sie wird also nur als Zeug- nis für Jesus aufgefaßt. Damit wird die sj-noptische Über- lieferung, daß die Johannestaufe ganz allgemein zur Sünden- vergebung diente, ebenso abgelehnt wie die Meinung, die Johanneische Taufe sei etwa der christlichen an Wert gleich zu achten. Dem entsprechend erhält Johannes selbst nicht mehr das Beiwort 'des Täufers'; er ist nur Wegbereiter und Zeuge für Jesus. Ohne Zweifel macht sich hier eine jüngere Tendenz geltend, die historische Bedeutung des Johannes zu- gunsten Jesu und der Johann eischen Taufe zugunsten der christlichen Taufe abzuschwächen. Und das geschieht sehr geschickt durch die eigenen Worte des Täufers.

Im zweiten Teil erfahren wir Genaueres über die Art, wie die Johannestaufe zur Offenbarung Jesu als des Christus dienen konnte. Dabei wird die Taufsage nicht erzählt, sondern als bekannt vorausgesetzt. Man denkt unwillkürlich an die syn- optische Fassung, macht sich aber in der Regel nicht klar, wie groß die Unterschiede sind. Erstens: Nicht Jesus, sondern der Täufer ist es, der die Taube sieht. Der Hauptbeteiligte ist nicht Jesus, sondern Johannes, damit er Zeugnis über Jesus ablegen kann. Der vierte Evangelist hat das gewiß nicht er- funden; denn es hat sich gezeigt, daß die synoptische Über- lieferung ursprünglich auf dieselbe Pointe hinauslief, weil nur 80 das 'er sah' verständlich und die Verbindung der Geist- verleihung mit der Jnhannestaufe als notwendig begreiflich wird. Wenngleich hier nicht ausdrücklich noch einmal her-

Die Sage von der Taufe Jesu nnd die vorderorientalißclie Taubengöttin 19

vorffehoben wird, daß die Taube bei der Taufe Jesu durch Johannes herabkam, so versteht sich das doch nach dem Vor- ausgegangenen von selbst; Johannes war ja nur deshalb mit der Wassertaufe erschienen, 'damit' der Sohn Gottes 'Israel offenbart würde'. Wie man wohl richtig vermutet, deutet der vierte Evancjelist die Taufe Jesu durch Johannes nur deshalb leise an, weil er diese ihm peinliche Tatsache am liebsten ganz verleugnen möchte. So schafft er hier nicht frei, sondern ist durch die Überlieferung gebunden. Zweitens: Was für den ersten Unterschied ausgeführt ist, gilt auch für den zweiten, der mit ihm aufs engste zusammenhängt; wenn sich der ganze Vorgang vor den Augen des Täufers abspielt, dann muß er auch für Jesus 'zeugen' oder, wie der natürlichere Sprach- gebrauch sagen würde, ihm huldigen. Diese Huldigung fehlt gegenwärtig in den Synoptikern, muß aber ursprünglich erzählt worden sein.

Drittens: Die göttliche Stimme, die vom Himmel ertönt, ist beim vierten Evangelisten zu einer einfachen Mitteilung Grottes an den Täufer geworden, die man weiß nicht wie er- folgt. Das ist die konsequentere Umgestaltung der synoptischen Sage, die auf halbem Wege stehen geblieben ist. Die ur- sprüngliche Logik der Königssage verlangt, daß jeder An- wesende die Taube sieht und die Stimme hört, die den Vor- gang deutet. Indem sich nun das Motiv der Königssage mit der Taufe Jesu durch Johannes verbindet, wird Johannes zur zweiten Hauptperson; die Erzählung drängt jetzt dahin zu betonen, daß Johannes sieht und hört. So lautet es denn auch beim vierten Evangelisten ganz folgerichtig, während die Synoptiker nur das Sehen auf Johannes beziehen, das Hören dagegen der Allgemeinheit zuschreiben. Viertens wird dem Johannes das göttliche Wort zuteil, ehe die Taube er- scheint. Auch darin ist der vierte Evangelist sekundär gegen- über den Synoptikern; denn damit wird die Pointe der Sage vorweggenommen und ihre Schönheit zerstört Der Inhalt des

■5Q Hngo Greßmann

Gotteswortes ist derselbe; er weicht nur formell ab, da er kein Zitat aus dem Alten Testamente, sondern eins aus der Ver- kündigung des Täufers bringt. Das ist wieder ein Schritt vorwärts, um die Erzählung einheitlicher zu machen. Wenn Jesus von Johannes als der Christus bezeugt werden soll, dann liegt es in der Tat am nächsten, die Formulierung der Messiasidee dem Wort- und Gedankenschatz Johannes' des Täufers zu entnehmen. Diese Erwägung beweist zwar nicht, spricht aber sehr dafür, daß die Taufsage oder vielmehr Königs - sage schon in einer älteren Form auf jüdischem Boden um- lief, ehe sie auf Jesus und in die gegenwärtige Situation übertragen wurde. Die Abhängigkeit des vierten Evangelisten von der synoptischen oder der ihr verwandten Überlieferung zeigt sich wieder in der Anspielung auf den 'Sohn Gottes'.

Fünftens: Der wichtigste Unterschied sei zuletzt genannt. Trotz aller Übereinstimmung im einzelnen ist der ganze Sinn der Sage im vierten Evangelium ein anderer geworden. Nach den Synoptikern wird Jesus durch die Herabkunft des als Taube gedachten Geistes erst zum König oder Sohn Gottes gemacht; in diesem Augenblick, 'heute', inkarniert sich die Gottheit in ihm. Für den vierten Evangelisten dagegen ist Jesus schon längst der Sohn Gottes; er war es schon bei der Geburt, ja sogar schon in der Präexistenz. Es ist daher durchaus folgerichtig, wenn er das Zitat aus Psalm 2 vermeidet und durch ein anderes ersetzt. Aber er hat nicht bedacht, daß er konsequen- terweise nur von der ITerabkunft der Taube und nicht der de.s Geistes reden durfte; denn das Wort, das Fleisch ward und unter uns 'zeltete', besitzt schon den göttlichen Geist, Die Taube allein hätte genügt, um das klarzumachen, was die Erzählung sagen will: Der Messias war bereits da, aber er war noch verborgen. Niemand kannte ihn, auch Johannes nicht. So wäre es ein Geheimnis geblieben, wenn nicht Gott selbst den Schleier gelüftet hätte. Er gab dem Johannes ein Zeichen, das er ihm vorher ankündigte und deutete: „Auf wen

Die Sage von der Taufe Jesu und die vorderorientalische Taubengöttin 2 1

du die Taube herabkommen siehst, der ist es." Während also die Synoptiker von einem Menschen erzählen, der bei der Johannes- taufe durch die Taube als Gottkönig berufen und ausgestattet wird, handelt es sich bei Johannes um den verborgenen Messias, der als Gottkönig bereits unerkannt auf Erden wandelt und bei der Johannestaufe durch die Taube nur Israel offenbart wird. Das Motiv des verborgenen Messias ist auch sonst dem Juden- tum geläufig, muß jedoch in dieser Taufsage als sekundär gelten.

4. Während die Taufsage bei Lukas nicht wesentlich ver- ändert erscheint, tritt sie uns bei Matthäus auf ihrer jüngsten Stufe innerhalb des Neuen Testamentes entsjegen. Als Jesus zu Johannes kommt, sich von ihm taufen zu lassen, wehrt ihn dieser sofort ab: »Ich habe nötig, von dir getauft zu werden, und du kommst zu mir.« Da antwortet Jesus: »Laß das jetzt, denn also ziemt es sich für uns, alle Gerechtigkeit zu erfüllen.« Und so läßt er ihn (Matth. 3, 13 17). Jesus gibt dem Täufer also recht und besteht auf seinem Wunsche nur, um kein Ärgernis zu erregen; der Macht des Gesetzes oder der Sitte beugt er sich, obwohl er als sündloser Mensch der Taufe entbehren könnte. Damit ist die Taufe Jesu zur leeren Form herabgesunken und die Sage ihres Inhalts beraubt; denn wenn Jesus schon weiß, daß er der Messias ist, und wenn auch der Täufer nicht daran zweifelt, so kommt der heilige Geist -post festimi und jede Epiphanie ist überflüssig. Man sieht, wie die Urgemeinde anfängt, an der Taufe Jesu durch Johannes Anstoß zu nehmen; daraus folgt aber zugleich, daß das Motiv der Johannestaufe Jesu verhältnismäßig alt sein muß.

5. Außerhalb des Neuen Testamentes besitzen wir zunächst den Bericht des Ebioniten-Evangeliums (Bruchstück 3 Klostermann). 'Als das Volk getauft war, kam auch Jesus und ließ sich von Johannes' taufen, IJnd wie er aus dem Wasser auf- stieg, öffnete sich der Himmel, und er sah den heiligen Geist

22 Hugo Greßmann

in Gestalt einer Taube herabkommen und in ihn eingehen. Und eine »Stimme erscholl aus dem Himmel also: *Du bist mein lieber Sohn, dich habe ich erwählt.« Und wiederum: >Ich habe dich heute gezeugt/ Und alsbald umstrahlte den Ort ein gewaltiges Licht. Als Johannes das sah, spricht er zu ihm: »Wer bist du?« Und wiederum (erscholl) eine Stimme aus dem Himmel zu ihm: »Das ist mein lieber Sohn, den habe ich erwählt.« Da fiel Johannes vor ihm nieder und sprach: »Ich bitte dich, Herr, taufe du mich!« Der aber wehrte ihn ab mit dem Worte: »Laß ab, denn also ziemt es sich, daß alles erfüllt werde«.'

Usener betont mit Kecht „die rührende Unterwerfung" des Johannes unter den Höheren, die ganz natürlich durch das Wunder nach der Taufe herbeigeführt wird, während Matthäus „diesen Zwischenfall unvermittelt vor Taufe und Wunder schiebt" (Usener ^S. 62). Damit ist für ihn die Frage von selbst beantwortet, „wo der ursprüngliche und un- getrübte Bericht, wo die entstellte Umbildung vorliegt". Seine Beobachtung ist sehr fein und entspricht durchaus dem künst- lerischen Empfinden, das bei der synoptischen Erzählung den Schluß vermißt: die Huldigung des Johannes vor Jesus. Wer dies einmal erkannt liat, wird vielleicht sogar geneigt sein, einen Ur-Matthäus zu rekonstruieren oder vieiraehr eine Vor- lage des Matthäus zu vermuten, in der das Gespräch zwischen Jesus und Johannes noch wie im Ebioniten- Evangelium am Schluß stattfand; mit der Umstellung wäre eine, wenn auch nur ganz geringfügige, Umdichtung verbunden. Es macht gar keine Schwierigkeit, zwischen der Überlieferung des Mar- kus und des Matthäus mehrere fehlende Zwischenglieder ein- zuschieben. Jedenfalls "ist diese Hypothese einleuchtender als die Annahme einer nachträglichen Verbesserung des Matthäus durch einen geschmackvollen Schriftsteller; denn in allen übrigen Zügen zeichnet sich die Darstellung des Ebioniten- Evangeliums nicht durch besonderes Geschick aus. Charakte-

v^y

Die Sage von der Taufe Jesu und die vorderorientaliache Taubengöttin 23

ristisch ist für sie zunächst, daß sie die Himmelestimme dreimal erschallen läßt und so Gelegenheit hat, die verschiedenen Fassungen bei Markus, Lukas D und Matthäus miteinander zu kombinieren. Ferner ist "die Frage des Täufers: 'Wer bist du?' nach dem zweiten Grottesworte sehr merkwürdig; denn wenn er es bis dahin nicht begriffen hat, wird ihm auch die dritte Offenbarung nichts nützen, zumal da sie nur die erste wiederholt. Vor allem aber ist die Abhängigkeit von Matthäus nicht zu bezweifeln. Wenn Matthäus den Täufer sagen läßt: 'Ich habe nötig, von dir getauft zu werden', so kann man das ge- wiß im Sinne des Ebioniten-Evangeliums verstehen: 'Ich bitte dich, Herr, taufe du mich!' Aber wahrscheinlich ist diese Auffassung nicht, weil der Täufer gewiß längst getauft war, und weil es nicht auf den Taufenden, sondern auf die Tat- sache der Taufe ankam. Ebenso muß die Redewendung: 'denn also ziemt es sich, daß alles erfüllet werde' als eine falsche oder wenigstens unklare Interpretation des Matthäuswortes gelten: 'um alle Gerechtigkeit zu erfüllen'.^

Endlich ist noch ein eigenartiger Zug zu erwähnen, der sich in dem gegenwärtigen Text der neutestamentlichen Evan- gelien nicht findet: das 'gewaltige Licht', das den Ort um- strahlt. Eine Reihe von Zeugen berichtet Ähnliches, dar- unter auch zwei Handschriften der Itala (zu Matth. 3, 16). Hier heißt es: 'Als er getauft wurde, leuchtete ein gewaltiges Licht rings vom Wasser auf, so daß sich alle Anwesenden fürchteten.'^ Aber dieser Wortlaut paßt nicht organisch in den Zusammenhang und verrät sich schon dadurch als ein

* Die Betonung der Gerechtigkeit ist charakteristisch für Matthäus. „Drei originale Matthäussprüche (5, 10; 5, 20; 6, 1) und drei Erweite- rungen des Textes durch Matthäus (5, 6; 6, 33; 21, 32) lassen die Ge- rechtigkeit als Hauptsache im Evangelium oder in der Lehre des Johannes erscheinen." (Martin Dibelius Johannes der Täufer S. 61 Anm. 1.)

- et cum haptizaretur, lumen ingens circumfulsit de aqua ita ut time- rent omnes, qui advenerunt a und fast ebenso g \

24 ' Hngo Greßmann

nachträglicher Zusatz. Man kann ihm darum auch nichts Ge- naueres entnehmen über die Zeit, vcann die Feuererscheinung stattfand. Bei Justin \D\al. c. Tnjplione 88) heißt es: 'Als Jesus zum Wasser hinabstieg, wurde ein Feuer entzündet im Jordan, und als er aus dem Wasser aufstieg, flog die Taube als heiliger Geist auf ihn.'' Vermutlich geht das im Jordan entzündete Feuer auch hier wie nach den anderen Texten von Jesus aus, aber hier ist vom Feuer schon vor dem Erscheinen der Taube die Rede, während nach dem Evangelium der Ebioniten das Licht erst nach dem Erscheinen der Taube auf- leuchtet. Allerdings ist nicht einzusehen, warum die Um- strahlung des Ortes gerade nach dem zweiten Gotteswort er- folgt; aber da der Verfasser verschiedene Texte miteinander vermischt, so darf man behaupten, daß in einer seiner Vor- lacren der Heiligenschein von Jesus ausstrahlt, sobald sich der Geist in ihm niedergelassen hat. Das wäre ein einfacher Text, natürlicher als der aus den beiden Italacodices oder gar aus Justin.

Die Frage, ob diese göttliche Glorie zum ursprünglichen Bestände der Taufsage gehört, läßt sich nicht sicher beant- worten. Usener und Bousset^ halten es für wahrscheinlich. unter ihren Gründen wird man indessen den Hinweis auf das Wort des Täufers ablehnen müssen: Mer wird euch mit heili- gem Geist und Feuer taufen'^; denn so wenig wie das Taufen mit Geist, bezieht sich das Taufen mit Feuer ursprünglich auf die Taufe. Wohl aber mag man sich auf die feurigen Zungen in der Pfingstsage, auf die Lichterscheinung bei der Verklärung

' xaTtX96vT0g xov 'ItjGov inl vdcog xul nvQ ivriffd'T] iv rät 'log- dävji xal ^cvudvvTog airov &nb xov vdarog mg nsgiCTegav rb ayiov TtvtCfia inntrf\vai in ahtov lyguy^uv ol intöeroXot airov zovxov xov Xqigtov i]u€iv.

» Wilhelm Bousaet Die Evangeliencitate Justins des Märtyrers. Göttingen 1891. S. 64 f.

» Matth. 3. 11; Luk. 3. 16. Das Feuer fehlt in der Parallele bei Markns.

Die Sage von der Taufe Jesu und die vorderorientalische Tanbengöttin 25

Jesu oder bei der Bekehrung des Paulus und auf die Vor- stellungen vom Pneuma und von der Gottheit überhaupt be- rufen. Obwohl daher die Möglichkeit nicht bestritten werden kann, ist doch die Wahrscheinlichkeit sehr gering. Denn erstens sind Taube und Lichtglanz parallele Züge, von denen einer vollauf genügen würde. Zweitens weist schon die schwankende Stellung der Lichterscheinung auf einen sekun- dären Zusatz hin. Drittens würde man erwarten, wenn das Feuerzeichen ursprünglich wäre, davon nicht erst im Wasser oder über dem Wasser, sondern schon beim Offnen des Him- mels zu hören, wenn anders der Geist wirklich aus dem Himmel kommt. Demnach ist das Licht wohl erst später als selbstverständliche Begleiterscheinung des Geistes hinzugefügt worden; die Häufung der Motive, die die Epiphanie der Gott- heit deutlich machen sollen, ist fast immer Kennzeichen nach- träglicher Bearbeitung.

6. Wir besitzen ferner die Taufsage des Hebräer-Evan- geliums beinahe vollständig (Bruchstücke 3 4 Klostermann). Ebenso wie bei Matthäus wird auch hier die Taufe Jesu durch Johannes anstößig empfunden, weil Jesus der Überlegene und Sündlose ist. Geht er dort, um alle Gerechtigkeit zu erfüllen, so geht er hier, weil er von seinen Verwandten gezwungen wird. Aber er sagt zu ihnen: 'Was habe ich gesündigt, daß ich hingehen sollte und mich von ihm taufen lassen? Es müßte denn eben das, was ich gesagt habe, Unwissenheit sein.' Wahrscheinlich will er damit die Möglichkeit zugeben, aus Unwissenheit gesündigt zu haben (Lev. 5, 17), obwohl er sich im allgemeinen als sündlos fühlt. 'Da geschah es, als der Herr aus dem Wasser emporgestiegen war, stieg die ganze Quelle des heiligen Geistes herab, ruhte auf ihm und sprach zu ihm: »Mein Sohn, in allen Propheten erwartete ich dich, daß du kämest und ich in dir ruhte. Denn du bist meine Ruhe; du bist mein erstgeborener Sohn, der da herrscht in Ewigkeit«.' Wie bei den Synoptikern die Wahl des Zitates

26 Hugo Greßmann

aus Jea. 42, 1 : 'den ich erwählt habe' durch die Fortsetzung be- stimmt sein mag: 'denn ich habe meinen Geist auf ihn gelegt' \ so mag der Text des Hebräer-Evangeliums außer durch die Syn- optiker auch durch Jes. 11, 2 beeinflußt sein: 'und ruhen wird auf ihm der Geist Gottes'.- Ferner mag die 'Quelle des (heiligen) Geistes' angeregt worden sein durch verwandte alt- testamentliche Ideen von der 'Quelle des Lebens' (Ps. 35, 10) oder von der 'Quelle der Weisheit' (Prov. 18, 4 MT). Aber der leitende Grundgedanke stammt weder aus dem Alten noch aus dem Neuen Testamente: der Geist inkarniert sich, wenig- stens teilweise, in aUen Propheten. Denn er sucht, bis er den findet, in dem er zur Ruhe kommen soll; aber es ist niemals der rechte. Erst in Jesus erreicht er sein Ziel, und darum strömt er in ihn mit seiner ganzen Fülle ein und nennt ihn seinen erstgeborenen Sohn, der in Ewigkeit herrschen soll.

Dieselbe Christologie kennen wir aus dem System der Ebioniten, das uns auch in den pseudo-klementinischen Schriften vorliegt: Der Avahre Prophet durcheilt vom Anfang der Welt an ruhelos den gegenwärtigen Aon, wechselt zugleich mit dem Namen die Gestalt und findet zuletzt seine Ruhe im Christus, der als Herrscher des künftigen Äons gedacht wird.^ Die himmlische Gestalt wird verschieden benannt: 'der wahre Prophet' oder 'Adam' oder 'der Christus' oder, wie hier im Hebräer-Evangelium und bei Epiphanius, 'der Geist'.* Wie die Vorstellung von der mehrfachen Verkörperung des himm-

* fdcaxa To nvtviiä (lov in avxov.

* xal ivaTtavetzat, in aixhv nvBVfLu tov ^eov.

Hom. III 20 (= Rek. II 22): og &n' &qxV? c^iöivog &fia rotg hvöyLaoi fiOQ<pccs ScXläßacov xuv cclüva TQixei, fiixQ'^S oxb idioiv ;j;eora)»' xv%aiv . . . fle &tl f^et '■')»' ävänavaiv. Hom. III 19 niXXovxog yöcg aimvog ßaciXevg tlvai xaxT}^i(0(iivog

* Epipban. I'an. 30, 3, 6; S. 337, 6 Holl: ndXiv dh oza ßovXovxai XiYovoiv oi>ii, &XXÜ. ilg aixov ftX^h xb nvtv(icc onsQ ißxiv 6 Xgicxog xal irtdvcuxo uixbv xbv 'irjcovj' xuXovfievov. xal noXXi] nag' uitoig Gxdxacig, &XXoxe &XX(og xal äXXcog aixbv vnoxL9efiivoig.

Die Sage von der Taufe Jesu und die vorderorientalische Taubengöttin 27

lischen Wesens in Adam, Henoch, Noali, Abraham, Isaak, Jakob, Mose und Jesus entstanden sein mag, ist nicht sicher zu sagen. Bousset (Hauptprobleme S. 213 ff.) will sie mit ziemlicher Sicherheit auf die brahmanische Avatära-Theorie ^ zurückfuhren; die indische Anschauung von dem Herabsteigen (avaiära) Vischnus und von der Verkörperung anderer Götter in ausgezeichneten Menschen entspricht ungefähr der klemen- tinischen Auffassung. Wahrscheinlich aber hat diese ihre Wurzel weder in der brahmanischen Avatära-Theorie noch in der buddhistischen Lehre der Inkarnationen Buddhas, sondern in der vorderorientalischen Königsidee. Sonst wäre kaum zu begreifen, daß sich die Gottheit zwar in den (als Königen ge- dachten) Urvätern, aber nicht in den Propheten Israels inkar- niert; der 'wahre Prophet', der gesalbt ist, ist eben ursprüng- lich gar kein Prophet, sondern ein König.

7. Eine letzte Gestalt der Taufsage, die vermutlich auf ein apo- kryphes Evangelium zurückgeht, können wir aus verschiedenen Anspielungen erschließen; das deutlichste und interessanteste Bei- spiel dafür ist Ode Salomos 24, deren erste Strophen lauten:

Die Taube flog auf den Chi-istus hernieder,

weil er ihr Fürst war ; sie sang über ihn,

und ihre Stimme erscholl.

Da fürchteten sich die Bürger,

und die Fremden erschraken; die Vögel senkten ihre Schwingen,

das Gewürm ging in seine Höhle und starb.

Die Abgründe öffneten sich und schlössen sich-, sie schrien nach dem Herrn wie Gebärende.

* Über sie vgl. jetzt Garbe Indien und das Christentum S. 264 ff.

* Die Rechtfertigung für diesen Text gebe ich an anderer Stelle. Hier sei nur bemerkt, daß in v. 3 'al vemith' und mit Zahn 'kä'in' zu lesen ist.

Doch der ward ihnen nicht zum Fraß gegeben, denn er gehörte ihnen nicht an.

Man versiegelte aber die Ab- gründe mit des Herrn Siegel, so vergangen dieses Eates wegen, die von Urzeit ge- wesen.

Denn sie hatten von Uranfang vernichtet, aber das Ende ihres Vemichtens war das Leben. ^

23 Hngo Greßmann

Der Dichter dieser Ode knüpft an die neu testamentliche Taufsage an, gestaltet sie aber zugleich in grandioser Weise am. Die Taube soll den Christus als den auserwählten König erweisen, doch nicht wie im Neuen Testament als den Messias der Juden, sondern als den Herrn der ganzen Welt. Damit ist auch erklärt, was sie 'über ihn singt': sie proklamiert den Regierungsantritt des Christus. Von diesem zentralen Gedanken aus werden alle Einzelheiten der bisher so rätselhaften Ode verständlich. Zunächst wird die gewaltige Wirkung ausgemalt, die diese Offenbarung der Taube ausübt: es fährt ein Schrecken durch die Welt; die Menschen halten vor Entsetzen den Odem an, die Vögel lassen erstarrt ihre Schwingen hängen, und das schädliche Gewürm verkriecht sich in seiner Höhle und stirbt. Wenn der Christus erscheint, so beginnt, wie alle Kreatur weiß, das letzte gigantische Ringen des Guten und des Bösen um die Herrschaft in der Welt. Sitz und Personifikation des Urbösen sind die dämonischen Abgründe, die Abyssoi: sie nehmen sofort den Kampf gegen den Christus auf, öffnen und schließen krampfhaft ihr Maul, schreien wahnsinnig laut wie die Gebärenden und schnappen nach dem Herrn, um ihn zu verschlingen. Aber sie können nur die fressen, die ihnen ver- wandt sind; der Herr jedoch stammt aus einem anderen Ge- Bchlechi Der Tod hat keine Macht über ihn, weil er kein sterbliches Wesen ist. Das ist der letzte Anschlag der hölli- schen Abgründe gewesen; zur Strafe für ihn werden sie mit dem Siegel des Herrn versiegelt, das sie nicht wieder lösen können. Jetzt sind die urzeitlichen Mächte, die nur ver- nichten konnten, durch den Christus endgültig vernichtet; der Tod, der alles verschlang, ist jetzt [selbst verschlungen vom Leben. Damit ist das Ziel der Weltgeschichte erreicht: das Leben ist zur Herrschaft gekommen, der Tod hat seine Macht verloren.

Es kann kein Zweifel daran sein, daß am Eingang dieser Ode die Taufsage Jesu benutzt wird, freilich in einer eigen-

Die Sage von der Taufe Jesu und die vorderorientalische Taubengöttin 29

artigen Form. Die Taube 'flog hernieder ^, so heißt es hier; diese Lesart ist zwar im Neuen Testamente nirgends bezeugt, wir sind ihr aber schon bei Justin begegnet, und Bousset* hat neun Belege für sie gesammelt, zu denen sich jetzt unser Psalm als zehnter hinzugesellen würde. Wenn hier ferner das Erschrecken der Kreatur hochpoetisch aus- gemalt wird, so dürfen wir die Anregung dazu auf einen Text der Taufsage zurückführen, wie er uns in den beiden schon erwähnten Itala-Codices (zu Matth. 3, 16 vgl. o. S. 23) überliefert ist. Das Singen der Taube entspricht ganz dem phantastisch - märchenhaften Kolorit, das den Oden Salomos überhaupt eigentümlich ist. Eine ähnliche Verschiebung ist übrigens auch im Hebräer-Evangelium eingetreten, sofern dort die Stimme vom Himmel durch den Spruch des heiligen Geistes ersetzt worden ist. In beiden Fällen ist die ältere Fassung vereinfacht worden, das eine Mal in poetischer, das andere Mal in prosaischer Weise; das Hebräer- Evangelium redet nur vom Geist, die Ode umgekehrt nur von der Taube. Wenn der Christus hier als der 'Fürst' (aQxo^v) der Taube bezeichnet wird, dann gilt die Taube als 'Diener' (dLaxovog). Aus Clemens Alexandrinus erfahren wir, daß dies die Rede- weise der Anhänger des Basilides war: 'Die Taube, die kör-v perlich erschien, nennen die einen den heiligen Geist, die An- hänger des Basilides aber den Diener'.^

8. Da wir jetzt den ganzen Stoff überschauen, dürfen wir die Frage nach der Geschichtlichkeit aufwerfen.^ Es ist

^ iitsTcrr^.

^ Evangeliencitate Justins S. 58 f. Vgl. o. S. 24.

^ Clemens AI. exe. ex Theod. 16: i] ntgiGtsQu dh oäaa. ä)cpd-r], rjv ot ^hv ayiov Tivsvfiä. tpaaiv, oi dh äno BccGilsiSov xov diäxorov. Vgl. dazu Usener Weihnachtsfest^ S. 58 Anm. 7. Damit ist, nebenbei bemerkt, der Kreis der Gnostiker genau bestimmt, aus dem die Oden Salomos stammen.

* Vgl. dazu besonders das schöne Buch von Martin Dibelius Johannes der Täufer. Göttingen 1911.

3Q Hugo Greßmann

natürlich nicht erlaubt, aus der Sage einen historischen Kern herauszuschälen, indem man alle wunderbaren Züge abstreift und das äußere Geschehen in ein subjektives Erlebnis ver- wandelt, AVohl aber darf man und muß man forschen, wie die epische Phantasie der Erzähler dazu kam, Jesus in dieser Weise zu feiern; denn ihre Schöpfungen haben stets einen be- stimmten Anlaß. Wurde die Sage etwa ausgelöst durch den Glauben, der Täufer habe Jesus als den Messias verkündet? Dieser Glaube hat ohne Zweifel bestanden, auch wenn man leugnen wollte, daß der fehlende Schluß der Taufsage richtig ergänzt worden sei: denn die messianische Verheißuncr des Täufers von dem Stärkeren, der nach ihm kommen solle, zielt nach der Darstellung des Markus gewiß auf Jesus ab. Die Frage kann daher nur lauten, ob dieser Glaube den historischen Tatsachen entsprach. So sicher Johannes einen Messias ver- kündet hat, so sicher ist, daß er Jesus nicht als die Erfüllung seiner Christushoffnungen hingestellt hat. Den zwingenden Beweis dafür liefert die halbgläubige, halbzweifelnde Frage, die der Täufer au« seinem Gefängnis als Botschaft an Jesus sendet: 'Bist du, der da kommt, oder sollen wir auf einen anderen warten (Matth. 11,3; Luk. 7, 19)V' Wenn dies Wort 'historisch ist und das wird so leicht niemand bestreiten dann ist der Hintergrund der Taufsage unhistorisch; aber es ist leicht begreiflich, daß die volkstümliche Phantasie der Sagenerzähler statt des halben Glaubens den vollen Glauben des Täufers an Jesus als den Christus voraussetzte und diesen Glauben dann durch die wunderbaren Ereignisse bei der Taufe zu erklären versuchte.

Unhistorisch ist auch die zweite Voraussetzung der Tauf- sage, daß Jesus sich selbst für den Christus gehalten habe. Es muß hier genügen, auf die Antwort Jesu hinzuweisen, die er dem Täufer auf seine Frage gab: 'Geht hin und meldet Johannes, was ihr hört und seht: Blinde sehen und Lahme gehen. Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen

Die Sage von der Taufe Jesu und die vorderorientalische Taubengöttin 31

auf und Arme hören frölis Botschaft. Selig ist, wer sich nicht an mir ärgert.' Mit anderen Worten: Jesus sagt weder Nein noch Ja, er weicht einer klaren Stellungnahme aus und ist ebenso unsicher wie der Täufer. Im übrigen darf man als das anerkannte Ergebnis der kritischen Forschung bezeichnen, daß Jesus ursprünglich erst nach seinem Tode zum Messias erhoben ist. Unsere Taufsage steht auf der zweiten Stufe, indem sie die Krönung zum Christus in den Moment der Taufe verlegt. Die dritte Stufe bilden die Kindheitsgeschichten, die seine Messiaswürde schon mit der Geburt beginnen lassen. Den Abschluß der Entwicklung sehen wir im Johannes-Evan- gelium, das seine Auserwählung bis in die fernste Zeit der Präexistenz zurückträgt.

Im vollen Sinne historisch ist wahrscheinlich nur die dritte Voraussetzung der Taufsage, daß sich Jesus von Johannes taufen ließ. Die Einleitung des Markus-EvangeliumS erzählt von großen Scharen der Jerusalemer und Judäer, die zu Jo- hannes in die Wüste strömten, um ihre Sünden zu bekennen und sich von ihm im Jordan taufen zu lassen. Aber es ist nicht die Rede davon, daß die Wogen dieser messianisch- eschatologischen Bewegung auch über Judäa hinaus nach Galiläa hineinschlugen. Trotzdem ist dies durchaus wahr- scheinlich; ja, man darf vielleicht noch weitergehen und das Verhältnis geradezu umkehren : Wie aus mancherlei Anzeichen, aus den Berichten des Josephus und aus den Forschungen über den Ursprung der mandäischen Religion erschlossen werden darf, scheinen die messianischen Unruhen und die Taufriten zuerst in Galiläa oder Peräa entstanden zu sein und sich dann erst auf judäischen Boden verpflanzt zu haben. Wenn das Markus-Evangelium davon nichts weiß, so erklärt sich das vielleicht daraus, daß die synoptische Tradition in der gegen- wärtigen Passung aus den Kreisen des jerusalemischen Ur- christentums stammt. Das vierte Evancrelium kennt noch eine Wirksamkeit des Täufers in Peräa, und eben dorthin oder

32 Hugo Greßmann

gar in die Gegend von Tiberias, jedenfalls in das Gebiet des Herodes Antipas weist seine ausgesprochene Gegnerschaft gegen diesen Tuchs' und seine Gefangensetzung in Machärus. Gerade weil die jüngere Überlieferung an der Taufe Jesu durch Johannes Austoß nimmt, kann man diese Tatsache später nicht gut erfunden haben. BestätiLjt wird sie durch die Nachricht, daß Jesus erst nach der Gefangennahme des Täufers selbständig aufgetreten ist, und daß er dessen Verkündigung fortjjesetzt hat, vielleicht sogar auf demselben Boden am See von Tiberias. So ist er nicht nur von Johannes getauft und in seine Be- wegung hineingezogen worden, sondern Johannes hat ihn auch zu seinem eigenen Wirken angeregt. Aber es kann weder davon die Rede sein, daß er ihm schon bei der Taufe ^Is dem Messias gehuldigt habe, noch davon, daß Jesus selbst sich bei der Taufe seiner messianischen Bestimmung bewußt ge- worden sei. Die Stunde der Berufung schlug ihm erst, als die Taufgemeinde ihres bisherigen Führers beraubt wurde; er war der Nachfolger des Johannes, aber größer als er.

So haben die Sagenerzähler die historischen Tatsachen zwar nicht ganz aus der Luft gegriffen, wohl aber haben sie ziem- lich frei damit geschaltet und sie künstlerisch stilisiert, um Jesus als den verheißenen Messias noch vor dem Eintritt in sein öffentliches Leben durch Johannes, den ^Größten aller Weibgeborenen' (Matth. 11, 11), feiern zu lassen. Indem sie diesem Bedürfnis ihres Herzens genügten, befriedigten sie zu- gleich eine polemische Absicht. Denn in einer Zeit, in der »n Messiassen und Söhnen Gottes kein Mangel war, war es notwendig, den eigenen Christusglauben sicherzustellen. Nicht alle Anhänger des Täufers waren zu Jesus übergetreten. Wenn das Johannes-Evangelium den Täufer mehrfach den Messias- titel ausdrücklich ablehnen läßt (Joh. 1, 20; 3, 28), so folgt daraus, wie man längst richtig geschlossen hat, daß die dem Täufer treu gebliebenen Kreise diesen ebenso zum Messias er- höht hatten wie die Christen iiiren Meister. Und wie konnte

Die Sase von der Taufe Jesu und die Torderorientalische Taubengöttin 33

das Anrecht Jesu auf die Messiaswürde besser gewahrt werden als durch die Herabkunft der Gottestaube in Gegenwart des Johannes und durch dessen demütiges Zeugnis für den Größeren? Eben weil das vierte Evangelium die Gegner der Urgemeinde bekämpft; mag es die in mancher Beziehung ursprünglichste Fassung der Taufsage bewahrt haben. Man darf vielleicht fragen, ob nicht die Christen die Taufsage am Ende den Johannesjüngern entlehnt und vom Täufer auf Jesus übertragen haben. Eine sichere Antwort darauf gibt es nicht, wenngleich es sich als wahrscheinlich erwiesen hat (vgl. 0. S. 20), daß die Königssage schon vorher auf jüdischem Boden umlief, ehe sie für Jesus zurechtgemacht wurde. Jedenfalls erhebt sich jetzt das Problem, woher der Stoff stammt, aus dem die Taufsage geformt worden ist.

9. Daß der Stoff nicht israelitischen Ursprungs sein kann, ist sicher, obwohl es an Anknüpfungspunkten im Alten Testament nicht fehlt. Beweis dafür ist zunächst die Gottesvorstellung. Man hat auf einige Talmud -Aus- legungen von Gen. 1, 2 aufmerksam gemacht: Danach schwebte der Geist Gottes über den Wassern wie eine Taube oder wie ein Adler, die über ihren Jungen schweben.' Aber während es sich hier einfach um einen Vergleich handelt, durch den das Schweben veranschaulicht werden soll, wird dagegen in der Taufsage eine Inkarnation der Gottheit in Vogelgestalt vorausgesetzt: beides ist himmelweit voneinander verschieden. Viel euger und merkwürdiger ist die Verwandtschaft unserer Erzählung mit Gen. 1, 2 selbst, sofern die Gottesvorstellung dieselbe ist. Denn in beiden Fällen wird die Gottheit als 'Geist' bezeichnet und in beiden Fällen als Vogel gedacht, genauer als ein weiblicher Vogel; gerade weil ursprünglich eine weibliche Gottheit gemeint ist, und nur deshalb, wird sie 'der Geist' genannt, ist doch das hebräische Wort 'härü^h'

' Vgl. bab. Talmud Chag. fol. 15 a; ferner August Wünsche Neue Beiträge zw Erklärung der Evangelien S. 21 f.; Gunkel Märchen S. 148 Anm. 4.

ArsMv f. EeligionswiBsenscbaft XX 3

34 Hugo Greßmann

weiblichen Geschlechts.' Die genaue Übersetzung von Gen. 1, 2: 'Der Geist Gottes brütete über den Wassern' paßt nur zn einem weiblichen Vogel, der ein Ei ausbrütet, allerdings nur zu einem Wasservogel, etwa einer Gans, aber nicht zu einer Taube. Immerhin kann kein Zweifel bestehen, daß diese Schöpfergöttin in Vogelgestalt aus der Fremde stammt und erst sekundär mit Jahve identifiziert worden ist. Dasselbe gilt für die Taufsage, die ebenfalls zu einer Göttin zurückführt, nicht nur weil von Mem Geist' die Rede ist, sondern auch weil die Adoptionsformel in richtiger Übersetzung nur lauten darf: 'Ich habe dich heute geboren', und weil überdies der älteste, im Syrer noch nachklingende Text den König als den 'Geliebten' der Göttin aufzufassen scheint.

Zu der Gottesidee gesellt sich als zweiter Beweis für die fremde Herkunft des Stoffes die Königsvorstellung. Wenn hier der Messias als 'Geliebter' und 'Sohn Gottes' oder genauer als Adoptivkind einer Göttin gedacht wird, und wenn wir wenigstens diese Anschauung auch in Psalm 2 kennen gelernt haben, so wird dennoch niemand zweifeln, auch wenn uns Ahn- liches noch häufiger im Alten Testament begegnete, daß hier fremde Einflüsse wirksam gewesen sein müssen. Die Vor- stellungen von der Gottessohnschaft des Königs und von der Inkarnation der Gottheit im Könige entsprechen weder dem geistigen GottesbegrifiF der Juden noch dem der Christen. Von einer Königswahl durch die Gottheit weiß zwar auch die Le- gende des Alten Testamentes, aber Saul wird durch das Los erkoren; und das Ijosorakel paßt ganz anders zur jüdischen Religion als die Herabkunft einer Taube. So lassen die alt- testaraentlichfn ['arallelen die Tatsache wohl begreiflich er- scheinen, diiß man einen solchen Stoff auf den Messias-König übertragen konnte; die Erdichtung des Stoffes indessen ist auf jüdischem Boden schlechthin unverständlich.

' Tiefere theologiache Geheimnisse oder Dogmen darf man nicht dahinter Buchen.

Die Sage von der Taufe Jesu und die vorderorientalische Taubengöttin 35

Will man sein Ursprungsland ausfindig machen, so fehlt es nicht an markanten Wegweisern. Zunächst gilt es, eine Göttin zu suchen, für die die Taube charakteristisch ist; ver- mutlich wird sie die Taube ebenso auf dem Kopfe tragen wie der von ihr vergottete König. Dagegen ist es sehr die Frage, ob die Taubengöttin mit der Schöpfergöttin identisch ist, die hinter Gen. 1, 2 steht. Wohl aber muß sich zweitens zeigen lassen, daß sie besonders enge Beziehungen zum König- tum hat; vor allem wird sich das Augenmerk auf die Idee der Adoption des Königs durch die Göttin und der Vermählung mit ihr richten müssen. An dritter Stelle müßte sich die Wahl des Königs durch die Taube dieser Göttin nachweisen oder wahrscheinlich machen lassen. Allerdings, während die beiden zuerst genannten Yorstellungen allgemeiner Natur sind und uns vielfach in Wort und Bild entgegentreten könnten, ist das zuletzt erwähnte Motiv spezieller Art und infolgedessen vielleicht seltener zu erwarten. Man darf zufrieden sein, wenn die beiden ersten Hauptbedingungen erfüllt sind. Eine restlose Antwort auf di« Frage nach der Herkunft des Stoffes wird man überhaupt nicht erhoffen dürfen, es müßte uns denn ein ganz besonderer Glücksfall zu Hilfe kommen.

10. In der Tat entspricht die Wirklichkeit den an sie gestellten idealen Forderungen nicht völlig; sie kompliziert das Problem eher, als daß sie es vereinfachte. Gerade das Motiv der Königs - wähl durch einen Yogel, dem wir am allerwenigsten zu be- gegnen glaubten, lenkt zuerst unsere Aufmerksamkeit auf sich. Denn es ist in der Märchenliteratur erstaunlich weit verbreitet, wie zuletzt Bolte und Polivka^, Bousset und Lüdtke' ge- zeigt haben. Zunächst ist schon die Tatsache als solche be-

* Joh. Bolte und Georg Polivka Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Bd. I S. 325.

* Wilhelm Bousset Wiedererkennungsmärchen und Placidas-Legende ; W. Lüdtke Neue Texte zur Geschichte eines Wiedererkennungsmärchens und zum Text der Placidas-Legende (beides in den Nachr. der Gott. Ges. d. WisB. PhiL-hist. Kl. 1917 S. 703 ff.).

3*

36 Hugo Greßmann

achtenswert. Die Existenz dieses Motivs beweist zwar nicht die Richtigkeit unserer Auffassung von der Taufsage, bestätigt aber doch in erfreulicher Weise die Möglichkeit einer solchen Deutung. Der Versuch, das Märchenmotiv aus dem Neuen Testamente abzuleiten, wird schwerlich gemacht werden können, weil bisher niemand die Taufsage in dieser Weise verstanden hat; vielmehr ist Gunkel umgekehrt durch die Kenntnis des Märchenmotivs zuerst auf den Gedanken verfallen, die Tauf- sage von hier aus neu zu erklären.

Die Königswahl durch einen Vogel ist bisher wiedergefunden in deutschen, tschechischen, serbischen, bulgarischen, ruthenisrhen, beßarabischen, türkischen, armenischen, kaukasischen, neuaramäi- schen, arabischen, koptischen und indischen Märchen. Damit ist eine fast lückenlose geographische Kette hergestellt, die von Deutschland bis nach Indien im Osten und Ägypten im Süden reicht. Die erste Hauptfrage der Märchenforschung, die die Ver- breitung der Motive untersuchen will, ist damit ausreichend beantwortet; neue Funde werden das Ergebnis schwerlich ändern. Als das Wesentliche ist schon heute erkennbar, daß dies Motiv aus dem Orient nach dem Okzident gewandert ist.

Leider ist die Märchenforschung heute noch fast ganz von der Sammlung und Sichtung des ungeheuren, weitschichtigen und vielfach verästelten Stoffes in Anspruch genommen, so daß gegenüber der geographisch-ethnographischen die historische Frage, die Frage nach dem Alter und der Herkunft ungebühr- lich zurücktritt. Immerhin ist ein wesentlicher Fortschritt er- reicht, seitdem man prinzipiell erkannt hat, daß eine allgemeine Antwort unmöglich, ja falsch ist. Jedes Einzelmotiv verlangt seine besondere Untersuchung, da die geschichtlichen Voraus- setzungen überall verschieden sind. Seitdem Indien durch Ägypten aus seiner Monopolstellung als Märchenland end- gültig verdrängt worden ist, wird darüber kein Zweifel mehr herrschen. Die historische Entwicklung der Märchen und ihrer Motive ist gewiß das letzte Ziel aller Märchenforschung,

Die Sage von der Taufe Jesu und die vorderorientalische Taubengöttin 37

das gegenwärtig noch in unendlicli weiter Feme schwebt. Aber es scheint mir, daß in dieser Richtung schon heute mehr getan werden könnte, als meist der Fall ist. Als unerläßliche Vorbedingung und zugleich als wesentliche Hilfe für jede weitere Arbeit ist es notwendig, bei jedem Einzelmotiv darauf zu achten und sorgfältig anzumerken, wann es zuerst literarisch bezeugt ist. Das kann zwar unkritische Menschen leicht zu dem Irrtum verführen, als sei das relative Alter mit dem absoluten identisch, aber dennoch wird man lieber diesen Irrtum mit in den Kauf nehmen, als die gute altphilologische Sitte entbehren. Für die verdienstvollen Sammler, die den gesamten Stoff und seine Literatur überschauen, ist es wohl meist eine Kleinigkeit, das älteste Zeugnis ausfindig zu machen; sie dürfen dafür nicht nur auf den Dank der Laien rechnen, die dieser Forschung ferner stehen, sondern sie fördern auch ihre Wissenschaft selbst durch Klarheit und Übersichtlichkeit. Soweit ich urteilen kann, waren bisher die Märchen aus 1001 Nacht die älteste Quelle für das Motiv der Königswahl durch einen Vogel. Da jetzt die neutestamentliche Sage an ihre Stelle tritt, wird das relative Alter um mindestens ein halbes Jahrtausend erhöht. Aber die Urquelle ist auch damit noch nicht wieder entdeckt. Ein besonderes Interesse gewinnt von hier aus das Tier, das die Wahl des Königs herbei- führt. Es ist in der Regel '■ ein Vogel, mag er nun näher bezeichnet sein als „Regierungsvogel", Adler, Falke, Taube oder nicht; nur sehr selten begegnet uns statt dessen ein Tier, und zwar der Elefant, der natürlich für die indischen Fassungen typisch ist. Das älteste Beispiel dafür findet sich bei Somadeva (um 1070 n. Chr.): Wenn der König gestorben ist, wird ein Ele- fant ausgeschickt, und wen der mit seinem Rüssel sich auf den Rücken setzt, der wird zum König gewählt.^ Herr

' Vgl. die Zusammenstellung bei Bousset-Lüdtke GG^iV 1917 ?. 718f. * Kathäsaritßägara c. 65; vgl. z. B. die Übersetzung von C. H. Tawney. Calcutta 1884. Bd. U S. 102.

2g Hugo Greßmann

Lüders, dem ich diesen Nachweis verdanke, zeigt mir zugleich, daß hier der Elefant ein Ersatz für den älteren Phussa- Wagen ist, der in den lätakas^ (4. Jahrh. v. bis 4. Jahrb. n. Chr.) oft erwähnt wird. Das Motiv der übernatürlichen Königswahl war also den Indern wahrscheinlich schon in vorchristlicher Zeit be- kannt, aber es hat dort eine andersartige Ausprägung gefunden, die der Herabkunft durch den Vogel nicht ohne weiteres gleich- gesetzt werden kann. Bei der ungeheuren Verbreitung des Motivs fast über die ganze Welt kommt es jedoch gerade darauf an, die verschiedenen Formen, in die es gekleidet ist, scharf auseinanderzuhalten.

Dagegen ist, wie mich Herr Herzfeld belehrt hat, das Motiv der Erwählung durch einen Vogel eine altpersische Vorstellung, die schon iu der achämenidischen Zeit, also vor Alexander, bestand.- So begegnet uns im Awesta^ die An- schauung, daß die königliche Majestät in Gestalt eines Vogels* von dem gottlosen Yima fortfliegt und sich auf ein anderes Glied der Familie niederläßt, das damit zum König bestimmt wird. Nach Moses von Choren fällt auch auf Ardasir der Schatten eines Adlers als Vorbedeutung seiner Königswürde, dem persischen Volksglauben entsprechend, der vom Schatten des humai erzählt, eines adlerartigen, gewöhnlich als Phönix bezeichneten Vogels ^ Die alte Vorstellung lebt noch darin weiter, daß heute im persischen und türkischen Reich huma- yun, eigentlich 'phönixgleich'', einfach so viel heißt wie

' Lüders verweist auf Jät. 378; 445; 629; 639; 643.

' Das Awesta ist abschließend zwar erst im 6. Jahrh. n. Chr. redi- giert, aber die Überlieferung des KteHias beweist, daß die Heldensage der Perser damals bereits ausgebildet war.

Y asht 19, 7, 36. James Darmesteter The Zend-Avesta II (= Sacred books of the East Bd. XXIII) S. 294: The ßrst Urne, ichen the Glory de- parted from the hright Yimn, the Glory vent from Yimn, the mn of Vi- vmighnnt, in the shnpe of a Väraghna bird Then Mithra seized that Glory etc.

*■ Darmesteter erklärt den Vogel für einen Raben.

» Nach Nöldeke im Grundriß der iranischen Philologie. Bd. II S. 133.

Die Sage von der Taufe Jesu und die vorderorieatalische Taubengöttin 39

'kaiserlich' \ Dasselbe Motiv begegnet uns in einer zweiten Ausprägung, die sich dem Indischen nähert. Von Artachsir i Päpakän, dem Begründer der Sassaniden-Dynastie (226 240 n. Chr.), wird erzählt, daß auf seiner Flucht vor dem parthi- schen Großkönig ein schöner wilder Widder hinter ihm her- lief; die Zeichendeuter erklären dies so: die Majestät sei vom rechtmäßigen König auf seinen Rivalen übergegangen.* Der Vogel wie der Widder sind Inkarnationen des Verethragna, eines Genius des Sieges, wie auch sonst im Awesta bezeugt ist*

Während die Königswahl dm-ch den Widder spezifisch persisch, wie die durch den Elefanten spezifisch indisch zu sein scheint, kann man dagegen fragen, ob nicht die Wahl durch den Vogel von auswärts nach Persien eingedrungen ist. Das Recht, ja, man darf sagen, die Pflicht zu dieser Frage erwächst aus der Tatsache, daß das babylonisch-assyrische Königtum sehr stark auf die persischen Sitten und Sagen eingewirkt hat. Zwei Beispiele mögen genügen, dies zu beweisen: Über dem persischen König schwebt stets der geflügelte Ahuramazda in der Sonnenscheibe, ein genaues Gegenstück zu Assur; die Perser haben diese im letzten Grunde aus Ägypten stammende Darstellung, wie Eduard Meyer gezeigt hat*, zweifellos aus Assyrien entlehnt. Die berühmten Inschriften, die Darius I Hystaspis (522 486 v. Chr.) in den Felsen von Bisutün hat eingraben lassen, gelten nach dem Zeugnis des Ktesias, d. h, schon ein Jahrhundert nach ihrer Entstehung als ein Werk der as- syrischen Königin Semii-amis '". Daher ist es durchaus möglich, daß auch das Motiv der Königswahl durch einen Vogel aus Assyrien nach Persien gewandert ist.

' Nach einer Bckriftlichen Mitteilung Herzfelds.

* Darauf hat schon Darmesteter a. a. ü. S. 237 Anm. 3 hingewiesen. Vgl. Th. Nöldeke Geschichte des Artachsir i Päpakän (Beiträge zur Kunde der indogerman. Sprachen IV 1878) S. 45,

* Yasht XIV 18—21. 35 (Darmesteter a. a. 0. S. 236. 241).

* Eduard Meyer Reich und Kultur der Chetiter. Berlin 1914. S. 36, Abb. 26. 27. * Diodor 11 13.

40 Greßmann: DieSagevon d. Taufe Jesu u.d.vorderoriental.Taubengöttin

Ein solches Motiv ist aber in Assyrien bisher nicht nach- ■weisbar. Das Ursprungsproblem kann deshalb nur durch einen umständlichen "Wahrscheinlichkeitsbeweis gelöst werden. In dieser Hinsicht ist eine verwandte Nachricht von besonderem Interesse. Bei Aelian' heißt es, Achaemenes, der Ahnherr der Achaemeniden, sei von einem Adler aufgezogen worden. Er erzählt das im Anschluß an die babylonische Gilgamos-Sage, die dasselbe Motiv enthält, und die er ausführlich mitteilt, während er sich bei Achaemenes mit einer kurzen Notiz be- gnügt, vermutlich weil die Sage nichts Eigenartiges bot. Daß in diesem Falle Babylonieu die Priorität gebührt, ist kaum zweifelhaft, einmal deswegen, weil das Kind vom Adler zu einem Gärtner gebracht, von ihm an Sohnes Statt angenommen und auferzogen wird, um dann aus einem Gärtner ein König zu werden; denn genau dasselbe erfahren wir aus der Findel- kindsage Sargons von Akkad^ (um 2870 v. Chr). Hier fehlt allerdings das Adlermotiv, Sargon kommt vielmehr wie Mose in einem Kästchen geschwommen. Zweitens aber gesellt sich zur babylonischen Gilgamos-Sage noch die assyrische Semiramis- Sciicje. Wie Diodor nach Ktesias überliefert hat, wurde Semi- dem peiicht von einem Adler, sondern von Tauben aufgezogen.' des huma nntnn^ liegt daher nahe, daß in Assyrien genau so bezeichnete rsien neben diesem Motiv auch das verwandte von weiter, daß des Königs oder der Königin durch einen Vogel yiiu. eigentlic. und zwar speziell durch eine Taube. Denn die

1 LQdera verwe'^^^'8®'' ^^^S^^ ^^ ^^^ semitischen Welt und dar-

* Das Awesta irt tief in das Mittelmeerbecken hinein, ver- giert, aber die Übei^j^j ^uch die Fragen nach Existenz, Alter der Perser damals be _, , ..,.■ ^ , , i , .. i

, Yashtia 7 35 Taubengottin heute noch nicht genügend

books of the East Bd. e umfassende, wenn auch nicht erschöpfende parted from the hright ^a igt. (Bobinß folgt.)

vnnghant, in the shnpt Glory etc. XII Sl.

* Dannesteter erklber bei Greßmann Mose und seine Zeit. Göttingen

* Nach Nöldeke iin ' Diodor II 4.

Olympische Studien

Wann wurde die erste Olympiade gefeiert? Von Ludwig Weniger in "Weimar

xovs iv. xätv oXvfiTiiovixmv ccvayofiivovg

I Oxylos. Iphitos. Koroibos

Nach alter Überlieferung, der heutigestags nocli die meisten zustimmen, wurde die erste der 293 Olympiaden, welche bis zum Jahre 393 n. Chr. in der Altis gefeiert sind, im Jahre 776 v. Chr. veranstaltet, und zwar zur Vollmondszeit am 14. des zweiten der elischen Monate, welcher ApoUonios hieß.

Die genaue Feststellung eines einzelnen, nicht an ein astronomisches Ereignis geknüpften Vorganges in so ferner Vergangenheit steht einzig da in der Geschichte der Erden- völker und widerspricht den Vorstellungen, die von jener Zeit sich gewinnen lassen. Kein Wunder, daß Zweifel an der Richtigkeit der Überlieferung erwachten und in unseren Tagen immer stärker geltend gemacht sind.

Wir haben über die Geschichte der Olympiadenrechnung an verschiedenen Stellen unserer olympischen Aufsätze in der Zeit- schrift 'Klio' gehandelt, ohne doch ein Ergebnis zu erreichen, das in weiteren Kreisen Anerkennung fand. Die Bedeutung der Sache ist groß genug, daß es sich lohnt, die früheren Untersuchungen nochmals aufzunehmen und soweit als mög- lich zu einem Abschlüsse zu führen.

Immer von neuem muß betont werden, daß das Verständnis der vielseitigen Einrichtungen des olympischen Heiligtums nur dann sich erschließt, wenn man sich vergegenwärtigt, daß sie letzten Grundes alle auf dem Gottesdienste beruhen. Es mag um die Mitte des zweiten Jahrtausends gewesen sein, als am Süd- abhange des Kronoßberges ein Kultus der Erdgöttin aufkam, wie er an anderen Orten, namentlich zu Dodona am Abhänge des Tomaros und zu Pytho auf dem Vorsprunge des Par-

42 l^udwifT Weniger

nassos, schon länger bestand. Die Orakelgebung, welche mit dem Gaiadienst am Kronion verbunden war, zog Männer und Weiber aus Nähe und Ferne herbei. Ausländer brachten ihre heimischen Kulte mit, und so geschah es, daß alhiiählich am unteren Rande des Berges verwandte Dienste aufkamen, die miteinander gemein hatten, daß sie göttlichen Frauen gewidmet waren. Von dem letzten Abhang am linken Ufer des Kladeos bis zu der kleineren Erhebung weiter nach Osten, wo nachmals Stadion und Hippodrom sich berührten, umsäumten diese Heilig- tümer den Fuß des Berges, an dem sie vor den Überschwem- mungen der beiden Flüsse gesichert schienen, während auf der anstoßenden Flur südlich davon starker Baum wuchs, das svösvöqov i% 'Akqiecf) äJ.öog (Pind. 0. 8, 9), die Beziehung zu den unter- irdischen Mächten aufrechterhielt. Ein halbes Jahrtausend haben die Frauenkulte allein dem abgeschlossenen Gelände dort im Winkel zwischen Alpheios und Kladeos eine Bedeutung verliehen, die es über das umliegende Gebiet im westlichen Peloponnes weit heraushob. Die Tatsache steht fest; genauere Kunde fehlt; Einzelheiten schimmern durch. Dann kam der Zeusdienst in den heiligen Bezirk. Mau wird nicht fehlen, wenn man sein Erwachen in das zehnte Jahrhundert ansetzt, ziemlich gleichzeitig mit der Entwicklung dionysischer Kulte. Der eine wie die anderen sind von Aitolien her durch die Eleier in das Pisateugebiet eingeführt. Darf man den Ursprung ihrer Verehrung des Zeus in Dodona suchen, so war in dem Heiligtum am Alpheios doch bereits durch thessalische Ein- wanderung ein Grund gelegt.' Durch diese ist der Name

Das sind die 'Achaier' «lea Kphoros bei Strabon 8, 367, wo es von den .\itolern heißt: TTctgalußBlv ö^ xai Ti]v iTiiyiiXsiav rov hgov zov OlviiTtiaatv, t,v ttxov oi 'Axuioi. Aus Thessalien soll Kndymion gekom- men Bein. Nach Autesion war Pclops ein Achaier aus Olenos. Eine kleine Schar Achaier soll auch Oxyloa mitgebracht haben (Paus. 6, 4, 3). Wie die Bezeichnung 'OlvfiTtia sc jrmpa oder yf/, so zeugen die Orts- namen der Gegend auf -ana, -ina von thessalischer Herkunft, ebenso wie die Namen Phrixa und Salmone. Vgl. Uberg b. Iloscher u. Salmoneus.

Olympiscbe Studien 43

^Olympia' für das Heiligtum aufgekommen, das bis dahin viel- leicht bloß mit dem althergebrachten Namen der 'Altis' be- zeichnet wurde.^ Daß aber die Olympien zunächst nur eine elische Nachahmung der pisatischen Heraien waren, haben wir in der Abhandlung „Yom Ursprünge der Olympischen Spiele" dar- zulegen gesucht.* Das Fest war ein Kultakt zu Ehren des Zeus und bildet in der Vereinigung von Hochopfer und Agon das Hauptstück im Dienste des Grottes. Sein wachsendes Ansehen wirkte später zurück und schuf die Legenden. Die Aitoler waren mit den Herakleiden zu den Epeiern gekommen und hatten auch einen großen Teil des Pisatengebietes eingenom- men. Sie sind es, denen die Stiftung der Olympien und die erste Einrichtung des Agons zugeschrieben wird. Die Feier blieb fortan in den Händen der Eroberer, das ist der Eleier.^

Die ältere Geschichte von Olympia dreht sich um drei, zu Heroen gewordene Gestalten: Oxylos, Iphitos und Koroibos.

Die Einwanderung der Aitoler und mit ihr zugleich die Verpflanzung des Zeusdienstes ist an den Namen des Oxylos geknüpft. Der Herkunft von Oxylos rühmte sich der elische Adel bis in späteste Zeiten.* Daß auch der Dionysosdienst mit den aitolischen Einwanderern in das Land kam, wird durch die Legende erwiesen. Die elische Thyiade Physkoa galt als Braut des Dionysos, wie anderwärts Ariadne, Physkos aber als Sohn des Aitolos.^ Die alten Chronologen rechneten nach

' Der Ausdruck 'Altis' ist dem Heiligtum allein eigentümlich. P. 5, 10,1 "AXtiv in itaXaiov xaXovötv.

- Bh.Mus.LXKll, 1918, Iff.

^ Strab. 8, 354 AircoXol yccQ GvYxaxEXd'dvtss tolg 'Hga^XslSais (lEta 'O^vXov y.cil cvvoiK'^aavrsg 'EneLOig y.axk evyyivBiav 'TtaXaiav rivi,ri6av rriv •AolXriv HXlv Kai rf)g rs TlLeäriSog acpslXovro tcoXXtiv, xal 'OXv(inia vJt ixsivotg iysvsro' xai dr) 6 ayav Evgriiid iariv ixslvav ö 'OXv^Ttianog, xai Tccg 'OXv^üTtidöccg rag ■TtQmrag iKsivoL gvvsxeXovv.

* Eplioros bei Strab. 8,357 dia dk rrjv xov 'O^vXov cpiXiav TCgbg xovg 'HgaKXsidag avvo^oXoyrid-fjvat, gaSiag ix Ttdvxcov ftsO"' oqkov xrjv 'HXsiav isQCiv slvat xov Ji6g. Der elische Adel und Oxylos: s. m. Artikel Oxylos b. Röscher M. L. 3, 1, 1236. AlxoXbg arrjp heißt der Hellanodike b. Find. Ol. 3, 12. * Vgl. m. Artikel Physkos und Physkoa b. Röscher.

44 Ludwig Weniger

Geschlechtern oder Menschenaltern. Drei Geschlechter machen 100 Jahre aus; also kamen auf eines SS^/^, auch wohl rund ge- rechnet bloß 30.^ Oxylos war ein Enkel jenes Thoas, welcher am Troischen Kriege teilnahm. Von Thoas aufwärts bis Aitolos^ den Sohn des Endymion, zählte man sechs Geschlechter, das ist 200 Jahre. Die Inschrift seines Standbildes auf dem Markte von Elis nannte Oxylos den zehnten Nachkommen des Aitolos.^

Nach der Agonothesie des Oxylos trat eine lange Pause in den Olympischen Spielen ein, bis Iphitos. Iphitos' Be- deutung besteht in der Einrichtung des Gottesfriedens. Daher die Gruppe der Ekecheiria, die ihn bekränzt, im Pronaos des Zeustempels. An anderer Stelle haben wir zu erweisen ge- sucht, daß der olympische Gottesfriede drei Monate umspannte, und die dort angeführten Gründe möchten schwer zu wider- legen sein.' Über die Lebenszeit des Iphitos sind die Meinun- gen der alten Chronologen geteilt.'* Nach den einen war er es, der jene erste gezählte Olympiade veranstaltet hat, in welcher Koroibos siegte, und die auf das Jahr 776 v. Chr. anberaumt wird. Andere setzen die Stiftung der Ekecheirie durch Iphitos 27 oder 28 Olympiaden früher. Wenn Kallimachos 13 annimmt und Koroibos' Sieg auf die 14. ansetzt, so bedeutet das Okta- eteriden und läuft auf den gleichen Zeitraum hinaus. Eine Ent- scheidung zu treffen ist unnütz; denn beide Ansätze sind künst- lich ersonnen, und ihre Richtigkeit läßt sich nicht erweisen.

Auch die olympische Epoche des Koroibos beruht auf einer Neuerung in der Festfeier. Auf der Grenze von Elis und Arkadien zeigte man noch zu Pausanias' Zeit das Grab des Mannes. Er war der Nachwelt zum Heros geworden und als solcher zum Grenzhüter bestellt. Die Aufschrift des Denk-

' Herodot. 2, 142 yevial yocg TQtig &viQ&v ixazbv Irtä iati.

* Paas. 6, 3, 6. Ephoros b. Strabon 10,463 gibt den Wortlaut. » Ho(hfest\U, Klio, Heitr. z. A. Gescb. V 213f.

* Au.tfübrlich darüber Hochfest lU, a. 0. 186. Vgl. lo. Artikel Iphitot b. Koscher.

Olympische Studien 45

mala bezeichnete ihn als den ersten aller Olympiadensieger. "^ Nach Athenaios soll Koroibos bei Lebzeiten ein Mageiros ge- wesen sein, d. h. eine vor alters ansehnliche Stellung unter den elischen Opferbeamten innegehabt haben, und davon hatte sich eine Erinnerung erhalten.^ Seine Bedeutung für die Ge- schichte der Olympischen Spiele besteht darin, daß von seinem Sieg im Dromos ab die Olympiaden in vierjährigem Zwischen- räume wiederholt wurden. Regelmäßig von neuem gefeiert, forderten sie zur Zählung auf. Wurde mit Ol. 1 = 776 v. Chr. die Tetraeteris (Pentaeteris) in Olympia eingeführt, so übernahm man auch diese Einrichtung von den Heraien (P. 5, 16,2). Von nun ab zerlegte man die alte Oktaeteris (Ennaeteris) in zwei Teile. Diese mußten durch die Verteilung der drei Schaltmonate unter die acht Jahre ungleich werden; sie ersetzten aber, zu- sammengelegt, rechnerisch das oktaeterische Größjahr, Damals bestand der olympische Agon noch in dem einzigen Dromos; eben weil er nichts anderes als eine Nachbildung des heräischen V^ettlaufes der Mädchen war.' Bekränzung der Sieger soll zuerst Ol. 7 (752) eingeführt worden sein auf Weisung von Delphi. Da bei den Heraien gleichfalls der Olkranz verliehen wurde, läßt sich auch in dieser Form des Siegespreises, die mit der alten Verehrung der Erdgöttin zusammenhängt^, eine Nachahmung erkennen. Bedeutung gewann der olympische Agon erst, als neben dem Dromos andere Kampfarten aufkamen, vor allem Pentathlon Ol. 18 (708), Pferderennen Ol. 25 (680), Pankration Ol. 33 (648 v. Chr.).

Die Olympiaden wurden von der ersten im Jahre 776 v. Chr. ab weiter gezählt. Aber nicht nur alle späteren auf Olympien

* Paus. 8, 26, 3 'HXetoi db rbv Kogolßov rdcpov qpacl rr]v j^cogar

öqptöiv ogi^siv. xal iexiv i-jtiyQuyi^a inl fivrjfiart, aig 'OXv^ntiaeiv 6

KoQoißog ivly.r]GEv avO-gäncov Ttgärog, Kai ort rfjg 'HXsiag inl rrä Ttsgari 6 tdctpog ccvrä nBTtoiriraL. Vgl. E. Curtius, Ol. Erg. 1, 24.

* Athen. 8, 382. 14, 659 6£^vhv rjv j] (layskQiKi^.

* Vgl. m. Abh. Vom Ursprünge d. Ol. Spiele a. 0. S. 5.

* Vgl. m. Abh. Der heilige Ölbaujn in Ol. Progr. Weimar 1895 S. 17 ff.

46 Ludwig Weniger

bezosrenen Ereignisse der erriech i sehen Geschichte führen auf dieses Jahr zurück, sondern auch die Überlieferungen der Vor- zeit hat man dadurch zeitlich zu bestimmen gesucht. So bildet Ol. 1 das Zentrum der alten Chronologie. War das von jeher als unbestrittene Tatsache hingenommen, so bleibt es doch eine außerordentliche Erscheinung, und man darf die Frage nicht leichthin von der Hand weisen: deckt sich in Wahrheit die erste Olympiade der Griechen mit dem Jahre 776 v. Chr.? Ist es sicher oder auch nur wahrscheinlich, daß man bereits bei Gelegenheit jener ersten tetraeterischen Feier den Beschluß gefaßt und fortlaufend durchgeführt hat, die Namen der Sieger des noch ganz unbedeutenden Agens schriftlich festzuhalten und ohne Unterbrechung weiter zu zählen?

'o

II Olynipiadenrechniing

Unbedingte Klarheit über die Berechnung der Zeiten in der ältesten Geschichte von Olympia läßt sich nicht gewinnen. Stehen aber menschliche Einrichtungen fest, so müssen sie irgendeinmal geschaffen und irgendwie begründet sein. Welch unverdrossene Mühe die alten Völker daran gewandt haben, eine Ausgleichung des Sonnen- und Mondjahres ausfindig zu machen, lehren die großartigen Anlagen einer fernen Vergangen- heit. Unter den Griechen ist Schaltung, oktaöterische und da- nach tetraeterische, soweit wir urteilen können, zuerst in Olympia angewandt worden und hat sich dort erhalten, so- lange das Hochfest des Zeus bestand. Von Verbesserungen, gleich den anderwärts durch kluge Männer, wie Meton, Kallippos, Uipparchos, vorgenommenen, wird nichts berichtet. Man half sich, so gut es ging, die Jahrhunderte lang weiter bis zum Ende des heidnischen Kultus. Anmeldung der Panegyris durch die Spondophoren hat ärgerliche Störungen verhütet. Die Bedeutung der Neunzahl in Sage und Gottesdienst läßt auf ein hohes Alter der Eunaeteris schließen. Vielleicht hatte man ihre Kenntnis aus dem hochentwickelten Kreta bekommen, zu

Olympische Studien 47

dem früh Beziehungen nachweisbar sind. Kretische Einwanderer haben ihre Spuren zu Olympia im Dienste der Muttergöttin hinterlassen, ^

Die Nachricht von der Ermittelung der Tag- und Nacht- gleiche bietet einen Anhalt, Wenn es bei Pausanias heißt: „Auf dem Gipfel des Berges opfern die sogenannten Basilen dem Kronos um die Frühlingsgleiche im Monat Elaphios bei den Eleiern"^, so ist damit eine Beobachtung dieses Jahres- punktes vorausgesetzt. Die Kalenderordnung von Olympia wird den Sehern obgelegen haben. Dies läßt sich daraus schließen, daß sie jedes Jahr, sorgfältig auf den Tag achtend, den 19. Elaphios wahrnahmen, um im Prytaneion den Herd zu fegen und die Asche des Jahres auf den Hochaltar des Zeus zu übertragen.^ Wenigstens einen der Jahrespunkte, das ist eine der Wenden oder der Gleichen, alljährlich mit Sicherheit festzustellen, war notwendig, um die genaue Berechnung des Zeitumfanges eines Sonnenjahres zu ermöglichen. Hatte man einen erfaßt, so waren die anderen leicht zu finden : denn man kannte die Zwischenräume aus langer Erfahrung.^ Zur Ermittelung der Tageszeit half man sich im Alltagsleben mit dem Schatten- maße des eigenen Körpers, das man mit den Füßen abschritt.^ Aber das genügte nicht, um dabei aus der mit der Sonnen- höhe wechselnden Länge auch die Jahreszeit nur mit unge-

* über den viel besprochenen Minos evvsoqos s. Röscher s. t. 2, 2, 2995 zu Od. 19, 179. Gruppe Gr. Myth. 253. 919. 957. M. Abb. Dienst der Mutter- göttin Ol. Forsch. III Klio VII, 177. über die Stiftung des pentaeterischen Agens durch den idaiischen Herakles vgl. die Überlieferung der elischen Altertumsforscher nach P. 5, 7, 9.

■^ P. 6, 20, 1 inl roü oqovs t^ noQvcpy Q-vovaiv ol Baeilai xaXovfisvoL Töj Kqovw v.axa. iaTiusgiav rr,v iv 'Elacpico (liivl Ttagcc 'Hlsioig. Vgl. Öl. Forsch. I, Klio vi, 65.

'^ P. 5, 13, 8; m. Abb. Seher v. OJ. Archiv f. Rel.-W. XVIII, 1915, S. 106f.

* Die Zeiträume zwischen den Jahrespunkten gibt die angebliche EvSo^ov xixvT] auf einem Papyros, s. Unger Zeitrechnung d. Gr. u. i?. in Iwan Müllers Hdb. P S. 745.

* Vgl. Bilfinger B. Zeitmesser d. antHen Völker, Stuttgart 1886 S. 10 ff.

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^g Ludwig Weniger

fiihrer Sicherheit zu erschließen. Der Gebrauch von Instru- menten, wie Polos und Gnomon, ist verhältnismäßig spät auf- gekommen. Nach Herodot übernahmen die Hellenen beide von den Babjloniern. Den Gnomon hat Anaximander, geb. 483 V. Chr., oder sein Schüler Anaximenes eingeführt.* Die Vorrichtung bestand in einem senkrecht aufgestellten Stab, um dessen Fuß konzentrische Kreise gezogen waren, an denen sich sowohl der Mittagsschatteu abmessen, als auch der Sonnen- stand bei Auf- und Untergang und danach das Eintreten der Wenden oder Gleichen feststellen ließ. In Olympia wird man sich von Anfang an lieber an das von der Natur Gebotene ge- halten haben, und der Berg diente als brauchbare Sternwarte. In weiter Umschau konnte man von dort oben am Horizonte Marken feststellen, die den Sonnenstand bei Auf- oder Unter- gang am längsten und am kürzesten Tag und bei jeder der beiden Gleichen angaben-, und von einem Jahrespunkte bis zum entsprechenden des folgenden Jahres die Tage zählen, sei es mittelst eines Parapegma, auf dem Pflöcke in Löcher für die einzelnen Tage gesteckt wurden, oder auf andere Weise. ^

' Herodot. 2, 109. Diog. L.2, 1 von Anaximander: bvqs Sk xal yvm^iovu TtoöiTog xal ?örj](jEV i:Tl räv cxtoO^ijpmr iv Aansduifiovt, Ka&ä qprjct i^aßcaQi- »os iv iiavrodaTtfj iezogia, tgondg rs xal iarifisgiag GTniccivorra, xal mQO- cnönia xarsöxfi'-aöf. Anaximenes: Plin. N.H. 2,187. Vgl. Vitruv. 1, 6, 6. O/. Forsch. I a. (>. 72 f. fiinzel Tldb. d. Chrono}. II, 306.

" Auch anderwärts benutzte mau die Berge zu gleicher Beobachtung. Vgl. Theophrast fr. VI, 1, 4. W.r 8io xal äya'd^ol yiyivrivtai, xara rö-KOvg Tivag &OTQOv6noi ivioi olov MarQitcizag iv Msd'inivf} änb rov Astcbto^vov xal Klfi'iarQUTog iv TtviSat &nb rfjg "Idrig xal ^ativbe 'Ai^Tjvjiöiv änb xov Av*u{ir(ZTOv tu rrfpl rüg rpowa«; avvtiSf, Ttao' ov Minov Scxavaag zov tot) ivög StovTu fixoöU' iviuvrmv cvrira^sv. Über Olympia vgl. die An- gaben Rudolf .Mengen Ol. Forsch. I a.O.70. EbenderHelbe schrieb, daß ihm auf dem Kreuzberg in der Rhön beim Sinken der Sonne von einem Klosterbruder gezeigt Mvurde, an welcher Bergspitze sie am kürzesten und an welcher sie am längsten Tag untergehe.

' JlagaTrrjyvvvat ist technischer Ausdruck. Über die in Milet ge- fundenen Bruchstücke zweier Parapegmata aus der Zeit um 200 v. Chr. vgl. Diels und Rehm Sitzungsher. d. Berl. Ak. 1904, 92fr., 266 ff. Wenn die Wilden aaf Formosa für einen bestimmten Tag eine Versammlung ver-

Olympische Stadien 49

Kannte man einen der Jahrespunkte, so war der Ausgang ge- geben und der Weg zur Nachbesserung gewiesen. Denn da das Mondjahr aus 12 Monaten bestand, von denen sich jeder durch die Phasen des Planeten darstellte Neumond war immer am 1., Vollmond am 14. , so mußten die Tage der Wenden und Gleichen in den Monatstagen wechseln und da- durch den Unterschied zwischen Sonnenjahr und Mondjahr kundtun. Es war an sich das Natürliche, daß man die Rege- lung der Zeiten mit dem ungeteilten Großjahre begann. Spuren einstiger Ennaeteris in Olympia fehlen auch nicht. Abgesehen von jener 14. Olympiade des Kallimachos (o. S. 44) wiesen die drei Monate der Ekecheirie darauf hin, welche ursprüng- lich die Schaltzeit darstellten, die den Unterschied zwischen acht Mondjahren zu 354 Tagen und ebensoviel Sonnenjahren zu 365 V4 Tagen ausgleicht. Auch die merkwürdige Nachricht von der Erbauung des Heraion acht Jahre nach Oxylos deutet darauf.^ Die Einführung des Pentaeteris geschah aus Gründen der Zweckmäßigkeit. Je größeren Anklang die Kirmes einer Gottheit fand, desto mehr verlangte die Festgemeinde nach baldiger Wiederholung, und die priesterliche Verwaltung war klug genug, nachzugeben. Nach acht Jahren ist eine Sache so gut wie vergessen.^ Ol. 1 bedeutet eine Katharsis, welche dauernde Ordnung in dem wichtigsten Stücke des Gottesdienstes herstellte. Ein neuer Anfang war geschaffen und dem Ein- schlafen der Feier vorgebeugt. Daß solches zu befürchten war, geht aus der Überlieferung hervor.^ Die Frühlingsgleiche 776 fiel auf den 29. März, der dem 18. Elaphios entsprach, einbart haben, so nehmen sie einen Faden und knüpfen in diesen für jeden Tag bis zum Versammlungstag einen Knoten. (A. Niesen in d. Greogr. Gesellschaft zu Christiania.)

1 Vgl. Hochfest III, Klio V S. 195. P. 5, 16, 1 ; s. u. S. 69 Anm. 1 In Delphi wurden vor Ol. 48, 3 die Pythien ebenfalls ennaeterisch gefeiert.

- Daher diente dieser Zeitraum auch für die Blutsühne. Es war Gras gewachsen über der Missetat.

' P. 5, 8, 5: iLsra dh "O^vlov i^sXntsv axQt 'Itpizov xa. 'OXvfinia. Phlegon: ixlmovzcov xcöv IIsXoTtovvriaiav xriv Q-griexsiav XQ^^'P ^t**^- ArohiT f. Eeligionswisaenschaft XX 4

50 Ludwig Weniger

Dieser Tag wäre demnach der Ausgangspunkt für die Olympien- zeit unter Zurückzahlung bis zur Winterwende gewesen.' Diese selbst benutzte man zur Beobachtung nicht, weil das Wetter selten günstig war. Die Festfeier aber wurde im achten Mo- nate nach der Winterwende, das ist im zweiten des elischen Jahres, veranstaltet, wie oben angegeben am 14. Apollonios, der 776 v. Chr. unserem 22. August entsprach. In Athen und Delphi hat man den Schaltmonat in der Jahresmitte, nach dem sechsten Monate, der in den Winter fiel, eingefügt, und der Jahresanfang war im Sommer. Dasselbe ist für Elis- Olympia anzunehmen, wo sich der sommerliche Jahresanfang auch aus anderen Gründen erschließen läßt. Die Vorzüge der guten Jahreszeit für eilie Panegyris wurden früh erkannt. Alle großen Gütterfeste waren im Hochsommer. Wie die Olympien, so auch Karneien, Pythien, Nemeien, Panathenaien, die Isthmien etwas früher.

Daß nun aber die Pentaeteris der Olympien nicht früher und nicht später als genau im Jahre 776 v. Chr. eingeführt wurde, läßt sich nicht erweisen. Diese Epoche ist eine Er- findung christlicher Chronographen, ausgerechnet auf Grund der Ansetzung elischer Altertumsforscher, denen man mehr Glauben geschenkt hat, als sie verdienen. Den Griechen kam es besonders auf Lykurgos an, der nach der Inschrift des alten Diskos im Heraion, welche Aristoteles las, an der Neuerung des Iphitos teilnahm. Die Ansetzung der ersten Olympiade auf das Jahr, welchem 776 v. Chr. entspricht, ist das Ergebnis einer künstlichen Hückwärtsrechnung von einem späteren Ausgangs-

' Vgl. Schal. rin<l. (). 3, 'i'A iidi} yuQ avröy :rspi tov 'j^qovov, xa9' ov &ytrta Olvunia xoti^' ixüorriv OXv^Tiiäda, Kw^iaQ^og 6 ru tcbqI Jllsioiv cvt^cf^as qpr/cJ»' oTtoj^' '»pärov fiiv ovv nuvrbg ntglodov cvviifriKS JiBvzt- rrigida' £p;|rftr vovfiriviav (iT^vög, dg ©wövi^täs iv'IlXiöi ovofiä^erai, tciqI op TQOTtal T/Xiov yivovxcii jjft/ifptvai. xal ngüra 'OlviiTiia äysrut, tj /xrjff. ivbs Siovtog iiafftgorrcov ry mgu tu ^kv &QXÖ(isva ffjg önägag, xu Si vn tcirbv xov &g%iovQov . Über die Herstellung des Textes Hochfest II, Kilo V S. 6 (32).

Olympische Studien 51

punkte. Schwerlich haben die alten Agonotheten gleich von dem Laufsiege des Koroibos an die Olympiaden numeriert. Einen Sinn bekam die Zählung erst von einer Zeit ab, da die Agone als etwas Bedeutendes galten. Von da an zählte man die neuen Olympiaden vorwärts hinab und rückwärts hinauf. Den Anhalt boten die Dromossieger, von denen die nächsten noch bekannt waren, die älteren vermutet.

Als Ausgangspunkt für die Berechnung nach rückwärts er- scheint in der älteren, aber doch bereits heller beleuchteten Zeit der olympischen Geschichte keiner besser geeignet als das folgenreiche Jahr nach Ablauf der 50. Olympiade. Ol. 51 würde nach der üblichen Rechnung auf 576 n. Chr. fallen. Von da ab hat man rückwärts 50 Olympiaden, das ist zwei Jahrhunderte oder sechs Geschlechter, angenommen und in Rechnung ge- stellt. Zählt man von demselben Ausgangspunkt ein Jahr- hundert oder drei Geschlechter zurück, so kommt man auf Ol. 25, vielmehr 01.26, 1 = 676 v. Chr.^ Von Ol. 25 ab sollen die Pferderennen eingeführt sein, der glänzendste aller Agone, der den olympischen Spielen erst ihr hohes Ansehen ver- schaffte und die Großen der Welt zur Teilnahme bewog. Und wenn 13 Olympiaden lang der Dromos die einzige Kampfart bildete, so bedeuten diese 52 Jahre rund gerechnet ein halbes Jahrhundert.^ Mit dem Ausgange von Ol. 50 stimmt ferner das auffallende Ergebnis, daß die 28 Olympiaden, welche von einem Teile der alten Chronographen der Olympiadenzahl über OL 1 hinauf nach oben zugerechnet werden, um das Zeit-

' Je nachdem man den terminus a quo mitzählt oder nicht, ergeben sich unterschiede von 1 mehr oder weniger, die nicht in das Gewicht fallen. Daher ist Ennaeteris das gleiche wie Oktaeteris. So verstehen wir unter 8 Tagen eine Woche, die Franzosen unter quinze jours 2 Wochen. Das römische lustrum entsprach ursprünglich der Tetraeteris (Pentaeteris).

* Vgl. Africanus zu Ol. 1 und zu Ol. 14. 50 Jahre führen auf 726 v.Chr. = Ol. 13, 2. Ähnlich die Eechnung des Kallimachos, der zwischen Iphitos und Koroibos 13 Oktaeteriden setzt, das sind drei Menschenalter. Eigentlich sollten es 100 Jahre sein; aber da 8 in 100 nicht aufgeht, so behalf er sich mit 104. Y gl. Hoch fest Hl, Klio V, 192, 1.

4*

52 * Ludwig Weniger

alter des Iphitos zu gewinnen, ennaöterisch gezählt 224 + 776, d. i. 1000 Jahre, ausmachen würden. Man sieht auch daraus: Ol, 1 = 776 ist künstlich konstruiert.

Sichere Daten für die Zeitrechnung bieten die bei den Ge- schichtschreibern erwähnten Sonnenfinsternisse. Die Geburt Christi wurde von den Chronologen auf Ol. 194, 4 gesetzt. Wenn Diodor (20, 5, 5) die große Finsternis vom 15. August 310 V. Chr. in das Jahr des Archon Hieromnemon Ol. 117, 3 setzt, so bedeutet das, von Ol, 1, 1 an gezählt, 466 Jahre. Da- nach ist 810 4- 466 = 77(). Jene Sonnenfinsternis, welche wäh- rend der Schlacht am Halys zwischen Lydern und Medern eintrat, die Thaies vorausgesagt haben soll (Herodot. 1, 74), war am 2S. Mai 585. Das wäre nach der üblichen Rechnung im vierten Jahre der 48. Olympiade, 200 Jahre nach Gründung Roms; nach Eudemos traf sie d^tpl ri^v nBVTrjxoßt'^v öXt^nTticcda.^

Da der Ansatz Ol. 1 = 776 für die Ereignisse der Geschichte im ganzen brauchbar ist, konnte man ihn festhalten. Danach ist dann allgemein das Verhältnis der überlieferten Vorgänge geltend geworden und mag auch in den meisten Fällen un- bedenklich scheinen. Dennoch darf nie vergessen werden, daß der Boden, auf dem die ältere Geschichte Griechenlands steht, der Festigkeit entbehrt. Wann die erste Olympiade gefeiert worden ist, weiß niemand.

III Die Siegerlisteii

Erst um die Mitte des achten Jahrhunderts begann man in Griechenland mit der Aufzeichnung von leitenden Beamten, Priestern und Siegern. Ob solche Aufzeichnung bereits 776, vorausgesetzt, daß damals der erste Agon stattgefunden hätte, für den Preisträger in dem bescheidenen Dromos von Olympia und seine Nachfolger beliebt wurde, ist mehr als zweifelhaft.

Die Frage liegt nahe, in welcher Form und an welcher

' Clem. AI. Strom. 354 P. Plin. 2, 53. Vgl. Ginzel 2, 357 und die Tafel d. Finsternisse 532 f.

Olympische Studien 53

Stelle der heiligen Anlagen damals Siegerlisten hergestellt sein konnten. Von Gebäuden standen in dem bewaldeten Temenos noch keine. Die durch die neuesten Grabungen entdeckteJi Ovalbauten sind vorgeschichtlich und unhellenisch. Weder sie, noch das sogenannte Haus des Oinomaos kommen in Betracht. Das Heraion war noch nicht vorhanden. Auch würde man es für Agonisten des Zeus schwerlich verwendet haben. Der Tempel dieses Gottes ist erst in der Mitte des fünften Jahrhunderts, das Gymnasion in hellenistischer Zeit erbaut. So bliebe nur übrig, daß man die Aufzeichnungen im Freien unterbrachte, sei es auf Tafeln an Bäume gehängt oder auf Stelen von Stein eingemeißelt. Auch konnte man sie in einer Behausung außer- halb, etwa der Wohnung eines der Seher, verwahren. Später stand das Buleuterion zur Verfügung und noch später die weiter südlich ihm entsprechende Prohedrie. Vor allem aber kamen die Wände des Zeustempels, der recht eigentlich zur Verherrlichung der Sieger bestimmt war, in Betracht.

Hätte man 776 beschlossen, in aller Zukunft die Olympioniken schriftlich der Nachwelt kundzutun, so lag es nahe, eine leere Tafel herzustellen, auf welche die laufende Olympiade und da- neben der Siegername geschrieben wurde und Platz für die weiter folgenden zur Verfügung blieb. In Athen waren Solons Gesetze auf hölzernen, zum bequemen Lesen mit einer Dreh- vorrichtung versehenen Tafeln aufgezeichnet. Denkt man sich Ahnliches in Olympia eingerichtet, so konnten solche Tafeln im Pantheion, wo vor alters die Sieger gekrönt wurden, auf- gestellt sein. Wahrscheinlich ist das nicht. Die athenische Vorrichtung ist erst zwei Jahrhunderte nach Ol. 1 geschaffen-, noch zu Plutarchs Zeit zeigte man im Prytaneion Reste da- von. Sie diente anderen Zwecken und sollte jedem Bürger der Stadt leicht zugänglich sein. Später schrieb man die Namen der Olympioniken auf eherne Platten von bescheidener Größe. Die wohlerhaltene Ehrentafel des Damokrates aus der ersten Hälfte des dritten Jahrhunderts, die nach dem Wortlaut

54 Lndwig Weniger

am Zeiistempel angebracht werden sollte und südlich von dessen Südwestecke gefunden ist, gibt einen Anhalt. Sie ist 0,55 m hoch, 0,24 m breit und hatte unten drei Zapfen, durch die sie in einen Steinsockel eingelassen war. ^ Das einzige Stück eines Olympionikenverzeichnisses, das wenigstens teilweis erhalten ist, gehört der Zeit nach 400 an. Gefunden ist es im Nordosten des Zeustempels, eine Bronzetafel mit Nagellöchern zum Aufhängen. Da das Verzeichnis möglicherweise in Kolum- nen geschrieben war, so läßt sich die ursprüngliche Breite nicht bestimmen.' Von Nutzen war die Niederschrift zunächst für die Hellanodiken, die den Wortlaut selber hergestellt hatten; sie diente aber auch den Siegern zum Ausweis über die viel- beneidete Ehre. Ihre Bedeutung nahm zu, je mehr die Zahl der Agone wuchs und neben den Sieger des Dromos solche der anderen Kampfarten zu stehen kamen. Ol. 14 (724) wurde der Doppellauf eingeführt; dann folgten immer neue. 01.50(580) waren alle wesentlichen vertreten. Ein Schreiber, ygocpavg, wird in einer alten llhetra erwähnt^, ein ßcoXoyQcitpog auf der Damokratestafel. Später findet sich ein yQu^i^azevg unter den Beamten des Theokols.

Die Zeitverhältnisse konnten auf die Herstellung der Listen nicht ohne Einfluß bleiben. Bei S. lulius Africanus sind die Folgen des ersten Messenischen Krieges aus dem Fehlen "der vorher reichlich vertretenen* messenischen Sieger von Beginn der Kämpfe an wahrnehmbar; der letzte war Leochares Ol. 11 (736). Die Tatsache ist wichtig; ob sie aber hinreicht, um daraus zu folgern, daß bereits in so früher Zeit Sieger auf- geschrieben wurden, bleibt zweifelhaft. Die Namen der Preis- träger von Ol. 3 bis 11 können aus messenischer Überlieferung stammen. Eine von Brinkmann vorgenommene Prüfung zeigt,

' Y^]. Ol. Erg.Y n. B9.

* Unten und rechts ist die Platte veratümmelt ; s. Ol. Erg. V n. 17 mit Abbildung. Den Text geben wir unten S. 69. Ol. Erg. V n. 2,

01.8. 4. 7. 8. 9. 10. 11, in der Zeit von 764-736 v.Chr.

Olympische Studien 55

daß die lakedaimonisclien, tliebanischen und athenischen Namen auch sonst in ihren Ländern übliche waren, und führt gleich- falls darauf, daß heimische Überlieferung vorlag.^

An verschiedenen Stellen gedenkt Pausanias der amtlichen Verzeichnisse der Eleier. Er nennt sie xa ig tovg 6Xvy.%iovCy,ttg ''HXsiav yga^iiura} In diesen Aufzeichnungen war Olympiade, Name und Kampfart angegeben, also nicht bloß das 'Stadion', d. i. der Dromos. Es fanden sich darin Abweichungen von dem, was in der Heimat des Siegers überliefert war, sogar solche von der Aufschrift in Olympia aufgestellter Bilder.^ Die Olym- piaden 8, 34 und 104 hatten die Eleier für ungültig erklärt; wenn trotzdem bei Africanus ihre Stadionsieger genannt werden, läßt sich annehmen, daß die yQcc^nara sie verzeichnet hatten. Nur einmal ist dies nicht geschehen, nämlich bei der Festfeier des Nero, die als OL 211 nicht im ersten Jahre der Tetraeteris stattfand, sondern zwei Jahre später, 67 n. Chr.* Da es nun aber bei Pausanias von den drei Anolympiaden heißt, daß die Eleier die Sieger in dem 'Kataloge' nicht verzeichnen^, so ergibt sich, daß xardXoyög und ygäyi^axa nicht ebendasselbe bedeuten. In den yQcc^nata erkennen wir die einzelne Aufzeichnung jeder

1 Bh. Mus. LXX, 1915, 70 S. 14ff.

' P. 6, 13, 10 zu Ol. 68; 6, 2, 3 zu Ol. 90 (Lichas betr., vgl. Thuk. 5,43); 3,21,1 zu 01.125 (nach P. 10, 23, 14); 5,21,9 zu 01.178; 10,36,9 zu Ol. 211. Dagegen 6, 22, 3 iv KaraXoya r&v hXviLTtiüSav.

' Vgl. P. 6, 13, 10 ov (ir]v ys i-ziygcc^i^ccri xal rä'HXsiwv ig tovg oXviiTtiovLicag o^oXoyst yQä(iiiara. Vgl. 5, 21, 9 tovrw Xoyoi didcpoQa ovra SVQL011OV 'HXeicov ig tovg öXv^movixag ygäfi^ara. Pausanias hatte also die yQuii^aza gelesen; es stand darin, daß Straten aus Alexandreia Ol. 178 an einem Tag im Pankration und im Ringkampfe Sieger war; vgl. 1, 23, 5.

* P. 10, 36, 9 von 01.211: avrr} Sh iv rotg 'HXsiav yga^fixcei, nccgsirai liövT] Ttaaäv 7] oXv^Ttidcg. Vgl. Africanus. Auch sonst wurde die Erinne- rung an Nero getilgt; s. E. Curtius Gesch. v. Ol, Erg. I S. 60. Auf einer Inschrift ist sein Name ausgekratzt, Ol. Erg. V n. 287.

^ P. 6, 22, 3 ov 6(päg iv ^ataXöya r&v oXv^ltclüScov ygäfpovei. Vgl. 6, 4, 2 rrjv rsrdcQTTjv 3h oXv^middu inl rcüg bxcctov . . . ovk avaygdcpovoiv Ol HXstoi. 6, 9, 2 ov'HXatoi cpaaiv ov yQatpfjvai, (isrd zebv aXXoov. Vgl. 6, 8, 3.

56 Ludwig Weniger

(Olympiade, das Tafelverzeichnis oder die SiegertafeL' Der Katalog daffegen ist eine unter Benutzung der Tafeln hergestellte Liste aller, die Arbeit eines heimischen Fachmannes später Zeit, der sie bis zur eigenen Lebenszeit durchgeführt und ihre Fort- setzung einem Nachfolger überlassen hat. Wann jener amtliche oder halbamtliche Katalog der olympischen Sieger, welchen Pausanias einsehen konnte, angelegt ist, wissen wir nicht. Daß er bereits um Ol. 50 (580) bestand oder damals schon her- gestellt wurde, ist nicht anzunehmen; denn sonst hätten sich die gelehrten Sammler ihre mühsame Arbeit ersparen können. Die Tafelverzeichnisse dagegen reichen in alte Zeit hinauf, viel- leicht bis Ol. 50, aber schwerlich viel weiter, schon weil es an Gebäuden fehlte, wo sie verwahrt werden konnten. Bei Er- wähnung des Iphitos führt Pausanias die ygun^ccTa a:p;ifara der Eleier an.' Es scheint also auch eine Niederschrift über alter- tümliche Agone vor oder um Ol. 1 gegeben zu haben, offenbar ein Machwerk späterer Zeit, im wesentlichen dem entsprechend, was Pausanias selbst (5, 7, 6 ff.), sowie die Einleitung bei Africanus* und Phlegon bieten. Ob der Ausdruck dasselbe bedeutet, wie '/üTAet'oj/ ol xcc aQxoiiÖTuxu fivr]iiov£vovr£g, läßt sich nicht entscheiden.

Nach jeder Olympienfeier stellten die llellanodiken unter Benutzung ihrer auf der weißgefärbten Tafel, dem Xevxcofia gemachten Notizen, die man mit Recht als das Trogramm' der Spiele bezeichnen konnte, den endgültigen Wortlaut fest*, überr gaben ihn dein Herold zum Ausrufen bei der Bekräuzung, und

' Das Wesentliche sah schon M. H. E. Meier (Allg. Encykl. u. Olym- piade) und K. 0. Müller 7>or. 1, 130, danach Gilbert de anagr. Ol. p.'df. Sie dachten sich die (irainmata auf einzelne Säulen verzeichnet. Aber von diesen oder auch von stcinemen Tafeln würden sich Reste erhalten haben, wie von den Beamtenverzeichnissen des Prjtaneion; über diese s. u. S. 67.

' P. ö, 4, C TU Sk JiAsiav ygäfifiaru UQXula ig naxiga öfiwvvnov ävijye

zbv 'IcplTOV.

* Kuscbios Chron. 1, A. Schoene 1 p. 192 tibqI Tfji ^taecog tov äyöivoe x&v 'OXv(nti(ov. Ans derselben Quelle fließt Schol. Hat, reip. p. 466 D. Vgl. Jüthner Philostrat. S. 66.

* Dio Cü»a.79,i0 xuimgiv rw lst^xm(iaTi Kul tovto to ccd^lT^fia nQoygdtpavtsg.

Olympische Studien 57

der Grammateus sorgte dann für Ausfertigung auf dem yaXxovv yganficcrstov, einer ehernen Platte.' So sind die Tafeln entstanden, welche unter Angabe der Olympiadenzahl alle einzelnen Agone und deren Sieger enthielten, wobei der Dromos den Anfang machte.

Um eine Vorstellung solcher Tafeln, yga^^atsla, zu bekom- men, empfiehlt es sich, die Verzeichnisse der Opferbeamten zum Vergleich heranzuziehen, von denen 84 vollständig oder ver- stümmelt erhalten sind. Sie standen auf Marmorplatten und wurden im Prytaneion aufbewahrt.^ Waren die ehernen Sieger- tafeln ähnlich abgefaßt, so konnte daraus auch die Einführungs- zeit neuer Agone ersehen werden. Begonnen wurden jene Be- amtenverzeichnisse, wie es scheint, erst in hellenistischer Zeit. Das älteste ist von Ol. 186 (36 v. Chr.), am besten er- halten das von Ol. 189 (24 v. Chr.); vgl. die Abbildung in die- sem Archiv XVIII (1915) S. 54. Sie mochten nach dem Muster der Siegertafeln ausgeführt sein; uns aber verhelfen sie zu einer Vorstellung von diesen. Wären sie vollständis: erhalten, so ließe sich danach ohne Schwierigkeit ein Katalog der Theokolen, Exegeten und Seher herstellen, wie ich es von den letztgenannten versucht habe. Die Seher selbst müssen etwas Ahnliches gehabt haben. Dies war für die Zeit, da mehr als ein Klytiade und ein lamide des Amtes walteten, unbedingt notwendig, wie beide Sehergeschlechter ja auch auf sorgfältige Führung eines Stammbaumes bedacht sein mußten, zumal seit manche ihrer Angehörigen im Auslande weilten.^

Einen Anhalt für die Fassung der olympischen Grammateia bieten Siegerverzeichnisse anderer Orte. Zu Larissa in Thessalien hat sich das Bruchstück einer Tafel mit folgender Inschrift er- halten.* Ilolvzlsirog AvxLökov. avdgag TCvyfi'tjv'

* Diesen Ausdruck braucht Aelian F. H. 10, 7 von der astrologischen Tafel des Oinopides.

* Ol. Erg. Y n. 48 141. Man benutzte gelegentlich auch schadhafte Dachziegel des Zeustempels.

ä Vgl. m.Abh. D.Seher v. Ol, Archiv f. Rel.-W. XVIII, 1915 S. 53fF., darin die Seherliste S. 55ff. * SIG^ 610. Vgl. 671— 675.

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Ludwig Weniger

'ExLyevtjg 'OnyJQOv. TtalSag nccyxQariov ^AQißxövovg /dtjiiccQxov. dh rüv avÖQcbv TiayxQchiov Uqov lyBvexo. äTCoßattxä /JLOvvöiog Zi'jvcovos- Ttj ös GwagCÖL rov anoßävtog' Tiiia- öldsog roQycoTia. äcpfJinoÖQOiicc' Zrjvodorog 'löiöotov. to^c)' 'AvTiy&vr]g ^Aoiötoöi^iiov. öxoTCät l%nkcav Ali^i'O^iaxog TIoXv-

i,^VOV. ÖXOTtbv 7C£^G>V' KXBLTO^dxOV.

QOV.

Danach läßt sich mit Benutzung eines Stückes aus Phlegons dlv^TCLoviy.cdv xal xqovixüv 6xn'uyayi] das olympische Sieger- verzeichuis von 01.177(72 v.Chr.) unter Voranstellung der Kampf- art vor den Namen des Siegers folgendermaßen herstellen:

ExdSiov 'ExccTÖiivog Mü.TqöLog.

öiavkov 6 avTÖg.

döXixov

'TtIfLxkfig Uixvcöviog (rdlog

'Pco^atog)} Ttdvtad'lov

^AgiOTo^vöag Kuog.

nccXrjv

'löCdcoQog 'AXstai'ÖQSvg [äjirco-

tog tceqCoöov).

^Axvävug IjinoxQdrovg

AÖQCCHVTTTjVÖg.-

nayxndriov UtpoÖQi'ag ÜLXvävLog.

jiaidoji' örddiov

2ko6iyivrig Adiuvög.

' Römischor Beiname, wie käafig auch in den Verzeichnisflen der Opferbeamten. Vgl. E. Curtiua Gesch. v. Ol., Erg. 1, 58.

* Nach Cicero pro Flacco 13, 31 homo nobilis. Daraus erklärt sich die ausnahmsweise Nennung des Vaters.

Der Artikel zur Unterscheidung von einem Gleichnamigen. Der Name nicht im Genetiv, weil er selber sein Viergespann gelenkt haben wird.

TiaCöcov ndXrjv 'AjcoXXcoqidvrjg KvTtaQiGGisvg.

naCdcov 7tv^ I^cjti^QiXog ^HXelog.

Tiaidcov TtayxQdrtov KdXag 'HXslog.

ÖTCXCttjV

'Exato^vog AIiXtjöloq.

AQi(ix6Xo%og 6 'HXalog.^

yJXrjg 'Ayt'j^ovog 'HXsCov.

TiaXixhv xid-QiTiTiov xov avxov.

TtaXLxi] 6i)voQCg KXrjxCa 'HXsiov.

ncoXixog xsXrjg KaXXC:tnov 'HXeCov.

Olympische Studien 59

Herold und Trompeter sind nicht genannt. In den olympischen Originalen werden die Namen der Väter nicht gefehlt haben.

Dem Verzeichnisse bei Phlegon entspricht das erhaltene Stück des Papyros von Oxyrhyilchos aus der Mitte des dritten Jahr- hunderts V. Chr., welches die Sieger von Ol, 75 (480) zur Hälfte, von Ol. 76 und 77 vollständig, von 78 bis auf den letzten Namen, von Ol. 81 den größten Teil, von Ol. 82 vollständig, von 83 bis auf die zwei letzten Namen enthält, und zwar in derselben Folge wie bei Phlegon, erst Namen und Herkunft, dann die Kampfart.^ Auch die Reihenfolge der Wettkämpfe ist die näm- "liche wie bei Phlegon; doch fehlt das Pankration der Knaben und fehlen die letzten vier Agone, Spiele, die damals noch nicht bestanden.

Das einzig erhaltene Siegerverzeichnis aus Olympia selbst ist so verstümmelt, daß es zweifelhaft bleibt, ob wir darin eine der gewöhnlichen Siegertafeln sehen dürfen. Es stand auf der oben S. 54 erwähnten ehernen Platte aus der Zeit nach

400 V. Chr.: 'Evlxaöav etcX | va, dayuoQyov j

yiBÖsv %oTB%E j y,os t' olvyi^ia \ AayinvQicov 'A |

..•.. S;^

Ob eine Olympiadenzahl angegeben war, oder ob man sich mit der Nennung des Hellanodiken begnügte, der als Epony- mos galt, läßt sich nicht erkennen.

Wenn nach Ablauf jeder Olympienfeier die entsprechende Siegertafel angefertigt wurde, so macht das in 100 Jahren 25 Stück, in der Zeit von OL 50 bis Christi Geburt nahezu 150. Im Laufe so vieler Jahre mochten viele der alten Bronze- platten schadhaft werden oder verloren gehen. Das Erz besaß einen Wert und verführte zum Diebstahl.

Als die geistige Bildung in Griechenland zunahm, reizten die Verzeichnisse, zuverlässige Urkunden einer in den Augen jedes

* Grenfell-Himt, Oxyr/i. Pap. II n. 222 S.88ff. Vgl. Robert Hermes 35, 141 ff. Diels ebd. 36, 72 (mit photograpliisclier Wiedergabe).

* OlErg.Yn.n. Blaß bei CoUitz Gr. Dial. Inschr. I S. 332 n. 170.

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Hellenen hochbedeutenden Sache, zu geordneter Sammlung um so mehr an, als man erkannte, daß in ihnen ein Mittel zur Be- festigung der Zeiten für geschichtliche Darstellung geboten war, und daß sich Bemerkungen über andere Vorgänge, insbesondere zur Geschichte der Agonistik, anknüpfen ließen. So wird es verständlich, daß die Herstellung einer vollständigen und zuver- lässigen Olyrapionikenliste vom Anfange der Spiele bis zur Gesrenwart ein Ziel wissenschaftlicher Arbeit wurde.

Einen brauchbaren Anhalt boten gelehrter Forschung neben den noch vorhandenen Siegertafeln die Inschriften auf den Olympionikenbildern, von denen eine ganze Anzahl bei den Ausgrabungen entdeckt worden ist.* Die Sitte, eine Erinnerung an die Preisträger durch bildliche Darstellung lebendig zu er- halten, kann auf Nachahmung der Heraien beruhen. Wenn von den drei Siegerinnen im Wettlauf gemalte Bilder angefertigt wurden, so werden sicherlich auch ihre Namen beigefügt ge- wesen sein. Indes waren nicht von allen Olympioniken Bilder aufgestellt. Denn die Hellanodiken sprachen ihnen wohl das Recht solcher Ehrung zu, aber für die Ausführung hatten sie selber zu sorgen. Armut, Todesfall und andere Umstände konnten die Herstellung verhindern. Vereinzelt kam es vor, daß fehlende Standbilder in späterer Zeit nachträglich errichtet wurden, wie Ol. 80 (460) das des Oibotas, der Ol. 6 (756y im Stadion ge- siegt haben sollte (P. 7, 17, 6). Von den zu seiner Zeit noch vorhandenen zählt Pausanias nur solche auf, welche ihm merk- würdig schienen, und deren waren weit über 200. Ausdrücklich bemerkt er', es sei nicht seine Absicht, einen Katalog der sieg- reichen Athleten zu geben. Übrigens standen weder auf allen

' Ol. Erg.\ n. 142-248.

' 6, 1, l T&v di vixTjaävTcav 'OlvfinlaCtv oix änävTcav elclv iOTTjxOTBg ^(vdQiaiTSS, ulXu xal Siicodet^äuBvoi, Xuutiqu h "^ov ((ycbvu, oi di xal in alXoig {gycig, Ofitos oi) Ttxvxi]%ar,iv sixövtov. rovrovg iy.hl.tv6iv Sccptivai (loi u Xoyoi, ori oi> xuTÜXoyog ioziv &^Xr,x&v onöooig yiyövaetv 'OXvnJiiical vixai, Stvaürjadtav ii ciXXtov rt xal tixövav ovyygutp^.

Olympische Studien Q\

Bildern Inschriften^, noch war immer die Olympiadenzahl an- gegeben. Von den meisten wußten die Exegeten die Namen; ob es allemal die richtigen waren, steht dahin. Einen Wider- spruch zwischen den elischen yQ^iipiata und der Aufschrift eines siegreichen Pferdes erwähnt Pausanias (6, 13, 10) bei den Söhnen des Korinthers Pheidolas Ol. 68 (508). Ursprünglich waren nur für die gymnischen Agone Bilder gestattet, von den hippischen bloß solche der Rosse.^ In der ersten Zeit des Agones aber hat es überhaupt noch keine gegeben, weder von Koroibos noch von anderen. Die frühesten waren aus Holz ge- schnitzt wie die Kypseloslade, den Bauten der Urzeit im heiligen Walde, dem Hause des Oinomaos und dem Heraion, entsprechend. Hochaltertümliche Stücke, die noch Pausanias gesehen hat, sind der Faustkämpfer Praxidamos von Aigina (Ol. 59 = 544), ein Schnitzwerk aus Kypressenholz, und, etwas besser gearbeitet, der Pankratiast Rhexibios von Opus (Ol. 61 = 536) aus Feigen- holz. Beide hatten ihren Platz nicht weit vom Oinomaoshause. Wenn das ältere dieser beiden Werke der 59. Olympiade an- gehört, so wird es vor Ol. 50 entweder keine oder nur wenige Olympionikenbilder gegeben haben. Also kam diese Quelle für die Herstellung von Siegerlisten so alter Zeit nicht in Betracht.^ Die späteren Olympionikenbilder waren von Erz.

Neben den in Olympia vorgefundenen Aufzeichnungen bot die Überlieferung der Hellanodiken, Theokolen und Spondopho- ren, sowie der Seher und Exegeten, auch gewesener Buleuten zuverlässigen Anhalt zur Herstellung des Verlorenen und zur

^ Dies ergibt sich aus P. 6, 3, 1 Jay,i6xov 6h iyyvrara sarriKev ccvr]Q flßTis dij, t6 yccQ ovoiioc ov XiyovGiv in ccvxä.

' Vgl.P. 6, 1, 1; 10, 8; 13, 9; 14, 4. o/. iV^.V S. 239f. Daher heißt es bei Phlegon 'AyrjiLovois 'Hleiov xe'Itjs, ^ElXaviyiov 'HXsiov avvaglg, xov oci'Tov TtaXiKov zad'QiTtTtov und entsprechend auf dem Papyros von Oxyrhynchos.

' P. 6, 18, 7. Noch älter, nämlich von Ol. 38 (628) Eutelidas von Sparta; s. 6, 15, 8 Man äh r, rs d-Kav ccQxaia xov EvzsXiSa, Kai inl TM ßdd-Qca ygäyLiLccxa ayLvSQa vno xov xqovov. Das steht im Wider- spruch zu 18, 7 {nQ&xai).

ß2 Ludwig Weniger

Ausfülluug von Lücken. Die Eleier waren ein priesterliches Volk, und keiner lebte, der nicht über die olympischen Ver- hältnisse Bescheid wußte. Aber auch die Farailientradition der Sieger von auswärts konnte Auskunft geben. Ob sie freilich zuverlässig war, ist zweifelhaft; die Ehre, einen Olympioniken unter den Vorfahren zu besitzen, verlockte zu Fälschungen. Außerdem benutzte gelehrte Arbeit nicht nur alles, was bei anderen Schriftstellern, Geschichtschreibern, Rednern, Periegeten, Verfassern eigener Schriften über Feste, Agone u. dgl. geboten war, sondern auch was bei Dichtern sich fand, bei Simonides, Pindar, Bakchylides und ihresgleichen, und was aus Inschriften auf Grabmalen und anderen Stätten sich ergab.^ Vorbilder lieferten und Anregung gaben die Verzeichnisse der Archonten von Athen^ der Könige und Ephoren in Sparta, der Heresiden von Argos. In der Schrift Uq£iui Tijg "HQccg hatte Hellanikos eine Liste dieser Priesterinnen hergestellt, die über das dritte Geschlecht vor den Troika hinauf reichte.^ Thukydides führt (2, 2) alle Zeitbestimmungen an, die ihm brauchbar schienen: die Hera- priesterin von Argos, den eponymen Ephor von Sparta, den Archon von Athen, Aber Olympioniken erwähnt er nicht, offenbar weil eine Liste noch nicht vorhanden war. An den beiden Stellen, an denen er Olympiensieger nennt (3, 8. 5, 49), gibt er keine Olympiadenzahl an und statt der Sieger im Dromos Pankratiasten. Die Zählung der Olympiaden hat offen- bar erst spifler begonnen, wie es scheint, durch Timaios. Auf Urkunden begegnet sie zuerst 64 v. Chr., Ol. 179.'

' In l'hiffalia z.B. zeigte iniin eine altertümliche Figur des Arrhachion, der Ol. 64 siegend starb; in Aigion hatte man eine Stoa des Athleten Straten. Vgl. P. 8, 40, 1. Philostr. im. 2, 6. Africanus. P. 7, 23, 5 u. o. S. Anm. 3.

» Hellanikos fr. 53 u. Dionys. A. I{. 1, 22. FUG I p 62. Aus dem hohen Altf-r erkennt man das künstliche Machwerk. Plntarch {de mus. 3, 8) wußte von einem Verzeichnisse der Dichter und Musiker, die in den VVettkämpfon zu Sikyon gesiegt hatten, das nach den Jahren der Here- siden gcortlnt't war.

» Vgl Ol Erg.Y n. 59.

Olympische Studien ßg

Der erste, von dem überliefert ist, daß er eine Olympioniken- liste herausgegeben hat, war der übelberufene Hippias von Elis.^ Zu seiner Zeit, d. i. um 400 v. Chr., lag noch viel vor, das Pausanias nahezu sechs Jahrhimderte später nicht mehr sah. Wahrscheinlich las Hippias auch noch manche der älteren Tafeln mit Siegerverzeichnissen. Aber an einem fortlaufenden und lückenlosen Kataloge von Ol. 1 ab fehlte es noch. Daß Hippias als Eleier mit Unterstützung guter Freunde unter seinen Landsleuten die Arbeit in aller Ruhe daheim und in Olympia auszuführen vermochte, war ein Vorteil, den er vor anderen voraushatte, und daraus erklärt es sich auch, daß er von Auswärtigen benutzt wurde, obgleich er nach Plutarchs Zeugnis kritiklos gearbeitet hat und, wie wir aus Piaton wissen, ganz unzuverlässig war. Die günstigen Vorbedingungen ver- anlaßten aber auch nach ihm Männer von Elis zu crleichem Versuche.

Ein bei Pausanias als Taraballon' bezeichneter Olympionike, dessen Sohn Lastratidas im Ringen sowohl zu Olympia wie in Nemea Siege gewann, suchte bei der Nachwelt Ehre einzulegen dadurch, daß er im Gymnasion von Olympia eine Liste der Siegernamen stiftete, offenbar eine umfangreiche Inschrift auf Stein oder Erz.^ Dies ist der erste amtliche oder halbamtliche Katalog, von dem wir wissen. Eine Zeitangabe fehlt. Da

^ Plut. Numa 1 rovg iihv oiv XQovovs i^a^Qiß&öat xaXsitov iari, xal (läXtera rovg ix x&v oXv^niovix&v ävayo^svovg, av ttjv avayQaq)T}v 6i\)S cpaöiv 'Imciav iy,Sovvai xov 'Hlsiov, an ovSsvos OQiimiisvov avayxaiov TtQos Tiiexiv.

Paus. (6, 6, 3), nachdem er von dem Standbild und den Siegen des Lastratidas geredet: IlaQaßdXXovTt Sh ÄccexQaziSa tiuxqI vTcfig^s /i^v diccvXov TcaQsXQ-siv Sqo^w, vtczXLtisxo 6h xal ig fowg Sitsixa cpiXoxiiiiav, x&v vixrieävxüiv 'OXv^iTciaai xu ovöiiaxa avayQcc^ltag iv yviLvaeio xä> iv 'OXv(ntia. Ob das Wort IlaoaßdXXav ein Eigenname ist, seheint zweifel- haft. Es könnte bedeuten, daß der Vater als Sieger dem Sohn an die Seite tritt, und der Xame des Mannes ausgelassen sein. Vgl. was Polyb. 12, 11 Ton Timaios sagt: 6 yag xovg agxovxccg xovg 'A&^vr}6t xal xäg i-SQtiag xug iv "Agysi -xaqaßdXlav itgog xoijg oXvfmiovixag.

64 Ludwig Weniger

Lastratidas in Nemea siegte, muß er nach Ol. 51 gelebt haben. Das Gymnasiou ist, wie wir oben bemerkten, in hellenistischer Zeit erbaut. 'Paraballous' Anagraphe bedeutet für Olympia ein ähnliches Weihgeschenk wie der von Aristoteles und Kalli- sthenes hergestellte Pinai der Pythioniken, den die delphischen Schatzmeister auf einer Stele im Tempel des Apollon aufstellen ließen. Man erkennt, daß Taraballon' sich an Hippias' Vorarbeit nicht genügen ließ. Schwerlich hat er sie nur durch die seit- dem zusrekomraenen Sieger ergänzt und sonst unverändert gelassen.

Von Euanoridas aus Elis, der als Knabe im Ringkampfe siegte und später Hellauodike ward, berichtet Pausanias, daß er gleichfalls die Namen der olympischen Sieger aufgezeichnet habe. Die Zeit des Euanoridas ist nicht bekannt.^

Wenn wir hören, daß auch Aristoteles, Timaios, Philochoros, Eratosthenes u. a. sich mit Herstellung von Olympionikenlisten beschäftigten, so erkennt man, daß das Vorhandene mangelhaft war. A. Körte macht darauf aufmerksam, daß die Bemerkungen in dem Bruchstücke von Oxyrhynchos: bei dem Sieger im Waflfenlauf Ol. 76 (476) ovrcog KQccTtjg, bei dem im Pentathlon, 01.78(468) ovrcog Olliörog, bei dem im Knabenringen derselben Olympiade ovrcjg KaXXi6^ivi]g, von gleicher Forscherarbeit der Genannten und dem Fehlen einer anerkannten amtlichen Sieger- liste zu ihrer doch verhältnismäßig späten Zeit zeugen.' Und wenn Sosibios aus Lakedaimon, der unter Ptolemaios II. in Alexandreia lebte und eine Chronik schrieb, in der die spar-

' P. 6, 8, 1 ItyQai^t xal ovrog zu 6v6(iuTa iv 'OXvy^itia r&v verixrjxoroji-. Das %ui bezieht sich wohl auf den zwei Kapitel vorher genannten Vater dea Liwtratidas. Bei Tolybios (5, 94, 6; vgl. 105, «) wird für Ul. 140,3 (218 v.Chr.) ein hcr\-orragen<ler Eleier Euanoridas erwähnt Auf demBruch- etück einer Basis von Olympia {Ol. Erg.Y n. 299) ist der gleiche Name ergänzt.

' A. Körte Hermes 30,2.34; d. Nachweis der Namen durch Diels ebd. 36, 72 ff. Auch rhilostratoa gijmn.\2,iZ gibt Beispiele verschiedener An- gaben zu Ol. 18 und 41; weiteres Jüthner S. 112.

Olympische Studien 65

tanische Königsliste stand, Ol. 1 in das 34. Jahr des Königs Nikandros setzte, Diodor aber in das 10. des Alkamenes und Africanus in das letzte, d. i. 37., desselben Königs, so zeigt sich auch darin, wie sehr die Ansichten der Gelehrten auseinander- gingen.^

Als Ergebnis stellt sich heraus, daß weder die Siegertafeln der Eleier, noch der Katalog, welcher auf ihnen beruht, in die ältere Zeit der Agone, geschweige denn bis 776 v. Chr. hinauf- gereicht haben.

IT Die Pisatenkriege

Wenn wir behaupten, Ol. 50 sei der Ausgangspunkt für die Berechnung Ol. 1 = 776 v. Chr. gewesen, so bedarf dieser Satz der Begründung.

Die Wahl der 50. Olympiade hängt mit der großen Um- gestaltung der Einrichtungen des Heiligtums zusammen, die nach dem in schweren Kämpfen errungenen Siege der Eleier über die Pisaten erfolgt ist.

Die Ilias rechnet die Pisatis zum Gebiete der Epeier.^ Die acht Städte des Landes standen miteinander in engem Verbände. Die größte ist Kikysion; außerdem nennt Strabon Salmone, Herakleia, Harpina, Dyspontion. Die übrigen drei werden Aleision, Amphidoloi und Letrinoi gewesen sein.^ Dui'ch Glauben und Herkommen war die Bevölkerung mit dem alten Dienste der Hera am Südwestabhange des Kronosberges auf das engste verbunden. Auch Skillus hielt zu den Pisaten; Skilluntier hatten das Heraion erbaut. Gegen sie vornehmlich ist jene Bestimmung gerichtet, welche Frauen bei Todesstrafe verbot, am Hochfeste des Zeus den Alpheios zu überschreiten.*

^ Die Belege bei Busolt Gr. Gesch. P S. 516f. 583, 1. 3.

- IL 2, 615 ff. Vgl. Od. 15, 297. 11, 757 betr. Aleision. Strab. 8 341. Vgl, Africanus Ol. 2 ' Avtiiiccxog 'HXnog ix /IvGitovxiov axadtov. Partsch Ol. Erg. I, 4 f.

* Strab. 8, 356. 341. Busolt Gr. G. 1*, 288, 3. Partsch a. 0.

* P. 5, 6, 4 inl zov 7toXey,ov zov Iliaaiav TCgog 'HXsiovg initiov- QOi ra Uiaalcov ol UkMovvtioi xal didcpogoi tolg 'Hlsioig rjoav ix tov

Aiohiv f. BeUgioaawissenschaft XS 5

gg Ludwig Weniger

Solange sie denken konnten, hatten die Pisaten die Altis als ihr Eigentum angesehen, Soll nun aber die 1. Olympiade bereits 776 stattgefunden und der Eleier Koroibos gesiegt haben, so dachte man' sich offenbar die Eleier als Agonotheten. Der Zeusdienst konnte ihnen einen Vorwand geboten haben, sich in Olympia einzunisten. Die Überlieferung, daß außer Iphitos von Elis auch Lykurgos von Sparta und Kleosthenes von Pisa den Gottesfrieden vereinbarten, stellt eine Ver- mittelung und friedliches Einvernehmen dar. Um so mehr fällt es auf, daß die Pisaten immer wieder neue Versuche unternahmen, nicht nur ihres Landes Herr zu bleiben, sondern auch den aufblühenden Zeusdienst in die Hände zu bekommen, dessen wichtigster Teil das Hochfest war. Durch eine Zeit von drei Jahrhunderten wird von Ei-hebungen des kleinen Volkes berichtet, welche an die Freiheitskämpfe der Messenier erinnern. Die Überlieferung Hießt aus elischer Quelle und ist parteiisch.

Der erste Versuch, das Joch abzuschütteln, ist an den Namen des Pheidon von Argos geknüpft. Von ihm schreibt Herodot (6, 127), daß er den Peloponnesiern die Maße schuf und der übermütigste Tyrann von allen Hellenen war, auch die Agonotheten der Eleier vertrieben und selbst den Agon in Olympia veranstaltet habe. Auf Herodot beruht die Dar- stellung des F'ausauias (6, 22, 2): „Die Pisaten zogen sich selber das Unheil auf den Hals, indem sie den Bleiern feind- lich entgegentraten und den Anspruch erhoben, selbst den olympischen Agon zu veranstalten. Denn sie riefen in der 8. Olympiade den Argeier Pheidon zu Hilfe, den über- mütigsten der Tyrannen unter den Hellenen, und veran-

q>aveQOv, x«l (Kpüs oi 'HXfloi TovTtov tVexa inoii]6uv ccvuGrärove . . . 7. x«TU dl rrji' fg 'Oh'(i7tlav n86v, ttqIv fiiiaßf,vai. ror 'AXtfhidv, ienv UQOg in ^yLiXioxivroi iQxn\iiv(o nirgaig v\i)tiXuli tijrorofior. «j'Ofia^trca 3h Timuiov ro Sgog. xatu rovto rüe ywuixag 'Illsiotg terlv öi9stv v6fiog, ffi> qpwpa- %&Oiv ig rbv &yä>va ilyfovoui t'ov 'OXvnTtixör ;) xai oXag iv xalg anBigr]- (itvaig crpiciv iifitgaig diußäoai rbv ' AXtpuöv.

Olympische Studien 67

stalteten mit ihm gemeinsam den Agon." Auch die Erzählung des Ephoros bei Strabon (358) ist von Herodot beeinflußt: „Pheidon von Argos, der 10. Nachkomme des Temenos, über- ragte die Zeitgenossen an Macht und vermaß sich, die Agone, welche Herakles gestiftet hatte, selbst zu veranstalten, so auch den olympischen. Er drang gewaltsam in das Land und konnte es um so mehr wagen, da die Eleier des Gottesfriedens wegen keine Waffen besaßen, um es zu hindern, und die anderen die Gewalt hatten. Die Eleier nahmen aber diese Olympiade nicht in ihr Verzeichnis auf und verschafften sich fortan auch Waffen, um sich selber helfen zu können. Die Lakedaimonier unterstützten sie dabei, sei es aus Eifersucht auf ihren Wohl- stand im Frieden, sei es um sie als Bundesgenossen gegen Pheidon zu bekommen, der ihnen die Hegemonie über die Bewohner des Peloponnes genommen hatte. Und so ver- schafften sie den Eleiern das Pisatenland und Triphylien." Der 10. nach Temenos bedeutet das Geschlecht von 803 bis 770/69 ; denn Ephoros setzte die Rückkehr der Herakleiden 735 Jahre vor Alexanders Übergang nach Asien, der 335/334 erfolgte^, also auf 1070/69. Rechnet man 10 Geschlechter zu je 33 Va Jahren voll, so ergibt sich 737/36, bei nur 9 Ge- schlechtern aber 770/69. Der Durchschnitt würde zu Ol. 8 = 748 stimmen. Nach Pausanias (2, 19, 2) war Meltas, Pheidons Enkel, der 10. Nachkomme Medons, des Enkels des Temenos, und das stimmt zu Ephoros. Die 8. Olympiade voll gerechnet bedeutet 32 Jahre, d. i. rund ein Geschlecht, nach Ol. 1 und führt auf 745/44; Ol. 9 ist 744 v. Chr. Daß nun aber die Agonothesie des Pheidon in Wahrheit bereits Ol. 8 stattfand, wird mit Recht bezweifelt. Africanus erwähnt nichts davon. Dazumal spielte auch der bloß im Dromos bestehende Agon noch keine so große Rolle, daß der Tyrann Wert darauf legen konnte, ihn zu leiten. Herodot bezeichnet Pheidon als Zeit- genossen des Kleisthenes von Sikyon, und dieser lebte zu Be- ^ Als Euainetos Archon war, Clem. AI. Strom. 1, 403 P.

08 Ludwig Weniger

ginn des ß. Jahrhunderts. Um jedes Bedenken zu beseitigen, hat man die Zahl >/ bei Pausanias (6, 22, 2) durch xr] ersetzt und so Ol. 28 = 668 gewonnen. Das würde zum 10. Geschlechte nach Temenos nicht stimmen, wohl aber zu Africauus' Angabe, daß die Pisaier damals den Agon leiteten.^ Das genügt nicht, die Schwierigkeit zu beseitigen. Fest steht nur, daß Ol. 8 nicht haltbar ist.

Hundert Jahre nach Ol. 1 kam es zu neuen schweren Kämpfen, die sich, durch Ruhepausen unterbrochen, hinzogen, bis die Pisaten unterlegen waren. Strabon schreibt (355): „Nach der 26. Ol. nahmen die Pisaten ihr Heimatland an sich und veranstalteten auch den Agon, dessen Aufblühen sie sahen.^ In der Folijezeit fiel Pisatis wieder an die Eleier und damit zugleich die Agonothesie. Die Lakedaimonier standen ihnen nach der endgültigen Bezwingung der Messenier bei, da sie mitgekämpft hatten, im Gegensatze zu den Nachkommen Nestors und den Arkadern, die zu den Messeniern hielten, und ver- halfen ihnen dazu, daß fortan das ganze Land bis Messenien als Elis galt und so bis heute geblieben ist, und daß sich von Pisaten, Triphyliern und Kaukonen nicht einmal der Name er- halten hat." Ol. 29 (664) müssen die Eleier wieder die Ober- hand gehabt haben. Denn nach Africanus veranstalteten die 30. Olympiade (660) und die folgenden 22 die Pisaier.^ Das wäre also bis Ol. 52 (576) einschließlich gewesen. In dieser Zeit werden auch keine elischen Sieger erwähnt mit Aus- nahme des Polyneikes, der nach Africanus und Pausanias (5, 8, 9) im Dromos der Knaben den Preis erhielt , wohl aber Ol. 52: ^ Ayas ' ID.eiog öradiov. Daß in dieser langen Zeit nicht nur die Spiele regelmäßig gefeiert, sondern auch

' Ol. 28: ravTTiv jj^uv Uiaatoi 'HXeiav icaxoXoviiivwv Stic xhv ngog dvfuclovg n6Xtfiov.

* Ol. 2.5 (680) war das Wa^ronrennen mit Viergespann hinzugekommen.

Africanus Ol. 30: Ilioaioi ' Illtitov ccnoOtävzBg ruvrr]v r' ii^ctv xai XU? iifii xß'. Wenn freilich Paus. (6, 9, 4) Ol. 60 (580) zwei Ilellanodiken eingesetzt werden läßt, so liegt darin ein Widerspruch (s. u. V S. 73).

Olympische Studien ß9

wichtige Neuerungen, wie Pankration und Pferderennen Ol. 33 1.648), sowie Dromos, Ringkampf, Pentathlon und Faust- kampf der Knaben Ol. 37 (637), 38 (628), 41 (616) eingeführt, auch die Sieger aufgezeichnet und begonnene Listen ordentlich fortgesetzt wurden, geht aus Africanus hervor. Auffallend ist, daß die gedachten 23 Olympiaden von den Eleiern nicht als Anolympiaden bezeichnet und nicht im Siegerkatalog aus- gelassen wurden. Indes widersprechen Pausanias' weitere An- gaben der ungestörten Leitung durch die Pisaten von Ol. 30 bis 52, wenn auch ihr zeitweises Emporkommen nicht zu be- zweifeln ist. In den Anfang dieses' Abschnittes wird man die Erbauung des Heraion durch die Skilluntier ansetzen dürfen, als Heiligtum der großen Pisatengöttin und Webehaus ihrer heiligen Frauen. Die acht Nischen für die Weberinnen ent- sprechen den acht Städten des Pisatengaus. ^

Bei Pausanias (6, 22, 2) heißt es dann weiter: „In der 84. Ol. brachten die Pisaier und ihr König Pantaleon aus den Anwohnern ein Heer zusammen und veranstalteten statt der Eleier die Olympien. Diese Olympiaden (8 und 34) und außerdem die 104., welche die Arkader geleitet hatten, nennen die Eleier Anolympiaden und führen sie nicht im Olympiaden- katalog auf.'' Danach wären also alle anderen richtige, d. h. elische, Olympiaden gewesen. Nun schreibt Strabon (362): „Im zweiten Krieg hatten die Messenier die Argeier, Arkader und Pisaten zu Bundesgenossen gewonnen, wobei die Arkader Aristokrates, den König von Orchomenos, als Feldherrn stellten, die Pisaten aber Pantaleon, den Sohn des Omphalion." Ferner (P. 6, 22, 4): „In der 48. Olympiade (d. i. 588 v. Chr., also 56 Jahre später) erregte Damophon, Pantaleons Sohn, bei den Eleiern Verdacht, auf Abfall zu sinnen. Als sie nun bewaff- net in das Pisaierland einrückten, bewog sie Damophon durch

» Vgl. Wernicke Arch. Jb. IX, 1894, 113. Die Erbauung 8 Jahre nach Oxylos (P. 5, 16, 1) ist unhaltbar; aber von Ol. 28 bis 30 sind 8 Jahre.

70 Ludwig Weniger

Bitten und Eidschwüre zur Umkehr. Als aber Pjrrhos, der andere Sohn Pautaleons, nach seinem Bruder Damophon König

geworden war\ erklärten die Pisaier von freien Stücken den ,

Bleiern Krieg. Zugleich mit ihnen fielen die Makistier und i

Skilluntier aus Triphylien von den Eleiern ab und von den \

anderen Umwohnern die Djspontier. Diese besonders fülüten j

sich als Gaugenossen der Pisaier und bezeichneten ihren '•

Gründer Djsponteus als einen Sohn des Oinomaos. Die Pisaier i

aber und ihre Bundesgenossen unterlagen und wurden von den 1

Eleiern vertrieben." Früher (5, 6, 4) hatte der Perieget bei : Erwähnung der Ruinen von Skillus geschrieben: „Zu den

Städten in Triphylien gehörte auch diese. Im Kriege der j

Pisaier gegen die Eleier waren die Skilluntier deren Bundes- i genossen und offenbar den Eleiern feindlich, und deshalb ver- trieben die Eleier sie." Sodann: „Auf dem Wege nach Olympia

vor dem Übergänge über den Alpheios liegt, wenn man aus i

Skillus kommt, ein Berg mit abschüssigem Felsrücken; er ^

trägt den Namen Typaion. Von diesem werden nach elischem j

Gesetze die Frauen hinabgestoßen, wenn sie dabei ertappt ,

werden, daß sie zum olympischen Wettkampfe gekommen sind i

oder überhaupt an den verbotenen Tagen den Alpheios über- j

schritten haben".* Endlich heißt es (^6, 21, 1), Demeter sei ! Chamyue j^'euannt vom Aufbrechen (;i;ai/£tf) der Erde und dem emporsteigenden Wagen des Hades. Nach anderen aber solle

ein l'isaier namens Chamynos von I'antaleon, dem Sohne des '

Oniphalion und Tyrannen von Pisa, als er den Abfall von den j

Eleiern plante, getötet worden sein, und von dem Nachlasse '

des Chamynos habe man der Demeter das Heiligtum erbaut. ,

Die Deutung ist unhaltbar; denn den Beinamen hat die Göttin J

aus anderen Gründen', aber entstanden ist sie aus der Er- |

innerung an die früheren Erlebnisse und im Hinblick auf den J

Bau des Zeustempels aus der Pisatenbeute. Ergänzend tritt \

' Also später, etwa um Ol. 50. ^ Der Text oben S. 65 Anna. 4. [ » Vgl. in. Abb. D. heilige Ölbaum S. 20. '

Olympische Studien 'Jl

hierzu das bei Pausanias vorher Erzählte (5, 16, 6): „Als Da- mophon in Pisa Tyrann war, soll er den Eleiern viel Unheil bereitet haben. Wie er aber gestorben war und die Pisaier versicherten, an seinen Übeltaten ohne Schuld zu sein, hielten es die Eleier für klug, das Mißverhältnis auf friedlichem Wege zu beseitigen, und so wählten sie aus den 16 Städten, die da- mals noch im Eleierlande bewohnt waren, je eine Frau, um ihnen die Streitigkeiten zu schlichten."

Das Endergebnis der langen, schweren Kämpfe war der durchgreifende Sieg der Eleier. Das Königtum in Pisa wurde abgeschaift, Pisa zerstört, das Pisatenvolk völlig unterworfen, und die Eleier durften sich als unbeschränkte Herren von Olympia betrachten.

Nach Pausanias (5, 10, 2) wurde dem Zeus Tempel und Goldelfenbeinbild von der Beute hergestellt, als die Eleier Pisa und alle Umwohner, die mit den Pisaiern abgefallen waren, bezwungen hatten. Dies scheint in einem um die Mitte des 5. Jahrhunderts nochmals auflohenden Kampf im Zusammen- hange mit dem 3. Messenischen Kriege geschehen zu sein.^ Noch ein letztes Ringen fand Ol. 104 (364) statt. Es kommt für uns ebensowenig in Betracht, wie jenes vorletzte im 5. Jahr- hundert. Die Pisaten hatten sich mit den Arkadem vereint. Es kam zur Schlacht in Olympia während der Panegyris. Sie behielten die Oberhand, mußten aber schließlich für immer nachgeben.^

V Die große Reform

Aus dem über die Kämpfe nach Ol. 48 (588) Überlieferten ergibt sich der Ausgangspunkt für die Berechnung von Ol. 1, Pisas Macht war vernichtet. Nach endgültiger Unterwerfung

' Herodot 4, 148 . . . Aetiqsov, MdcKietov, ^gi^ag, UvQyov, Novdiov rovTScov dh rag TtUvvag in' ifiso 'HXetot, inog^riGav. Den Nachweis führte Urlichs; vgl. Verhandlgn. d. 25. Philol. Vers. i. Halle 1868, 70ff. Blümner zu P. 5, 10, 2.

^ Xenoph. Hell. 7, 4, 28 ff. Diod. 15, 78.

72 Ludwig Weniger

seiner Bevölkerung richteten sich die Eleier in dem wieder- gewonnenen Olympia auf die Dauer ein und schufen, alles überlegend, tief eingreifende Neuerungen zur Sicherung und zu dauerndem Frieden. Dies ist die große Reform, auf der das Gedeihen des Heiligtums und das Aufblühen des Hoch- festes beruhte.^ Elis nimmt seit der Bezwingung von Pisa alle Sacra in die Hand und richtet eine völlig neue gottes- dienstliche Verwaltung ein. Die als notwendig erkannte durch- greifende Neuerung ließ sich nicht in einem Jahr erledigen, sondern erforderte einen längeren Zeitraum, auch Verständigung mit dem Auslande (Delphi, Lakedaimon, Athen). Man darf dafür die Zeit von Ol. 48 (588) bis über Ol. 50 (580) hinaus in Anspruch nehmen. Um Ol. 51 (576) war das Wesentliche erreicht. Wenn das Gewissen ins Spiel kommt, muß die Staats- gewalt nachgeben, sonst trägt sie den Schaden. Die Eleier waren klug genug, tief eingewurzelte, von dem Nimbus der Heiligkeit umgebene Bräuche nicht auszureißen, sondern eine Vermittlung zu suchen, bei der manches Vorhandene über- nommen wurde. Um Dauerndes zu erreichen, bot man die Hand zur Versöhnung.* Als ein äußeres Zeichen bestehender Einheit von Elis und Olympia wurden in der Altis die sechs Doppelaltäre der Hauptgottheiten beider Länder errichtet: Zeus Laoitas und Poseidon Laoitas (n. 3), Kronos und Rhea (n. 4), Hera Laoitis und Athena Laoitis (n. 5), Alpheios und Artemis (n. 9), Apollon und Hermes (n. 26), Dionysos und die Chariten (n. 36).' Von diesen haben Athena, Poseidon, Dionysos und die

' VAnp kurze Zuaammenst^'llnng flor Neuerungen bietet bereits ni. Abb. Hochfest IT, Klio V, 191.

* Die Zuziehung «It-r Krauen zum dtaXvtiv tu dtäcpoga P. 5, 16, 5; vgl. nnten S. 73. In gleicher Weise verfuhr man auch später, als um Ol. 104 (864) die Pisaten sich noch ein letztes Mal erhoben hatten; nach erlangtem Frieden wurde der Homonoiaaltar (n. 27) gestiftet und der große Zeus fuleiav ntgl öfiovolui aufgestellt.

' Die Zählung der Altäre ii;uli th-r Folge den Monatsüpfers, vgl. Klio IX FJ 294 tr. \IV S 398tf.

Olympische Studien 73

Chariten ihren Hauptdienst in Elis, die übrigen in Olympia. Die gleiche Vereinigung der Gottesdienste beider Landschaften bekunden auch die Monatsnamen der Eleier. Bekannt sind ApoUonios, Parthenios, Athanaios, Thyios,,Thosythias', Elaphios, Alpheioos, deren eponyme Gottheiten auch in den sechs Doppel- altären yertreten sind. Wohl möglich, daß die Benennung der Monate gleichfalls um Ol. 50 aufkam, mochte auch ein und der andere, wie der Elaphios, schon früher seinen Namen be- sessen haben.

Zeus bildet hinfort den Mittelpunkt der olympischen Gottes- verehrung. Hera und die anderen Frauendienste treten zurück. Allmählich kommen neue Kulte auf, aber alle spielen eine Nebenrolle, und in der monatlichen Opferung erscheinen ihre Götter als Gäste des Zeus. Nun erst erhebt sich das Hochfest und die große Panegyris zu vollem Glänze. Gottesverehrung und volkstümliche Athletik vereinen sich zu einem untrenn- baren Ganzen. Dem Endziel, eine Vermittlung zwischen Eleiem und Pisaten zu schaffen, entspricht die Anstellung eines zweiten Hellanodiken Ol. 50, Beide wurden aus der Bevölkerung des ganzen Landes, d. i. Elis-Pisatis, ausgelost.^

Um die gleiche Zeit nahm man eine Neueinrichtung der Heraien vor. Der Frauendienst der großen Göttin wurde ein- geschränkt, dabei aber doch eine Schonung des Überlieferten für nötig erkannt. Aus den 16 Städten des ganzen Landes, nicht mehr bloß den 8 der Pisatis, wurde je eine angesehene Frau erkoren, um die Aussöhnung der beiden Gaue herzustellen. Daß Hippodameia das Kollegium gestiftet habe (P. 5, 16, 4), ist Legende. Das Prachtgewand mußte, wie bisher, durch die heiligen Frauen der Göttin alle vier Jahre gewoben werden; von jetzt ab übernahmen das die Sechzehn. Ebendieselben leiteten hinfort auch den Laufagon der Mädchen, den man aus

^ P. 5. 9, 4 Ttsvtrjxooxy 3s oXvfmiädi ardquei 8io i^ cc^dvrcov XaxovGiv 'HXtiwv iTCSTQCcTCTi TtoifiGat XU. 'OXvfiTCia, aal stiI tiXeIgtov cctio ixcivov diifisivB xwv aymvav 6 äQL&^ög xwv ovo.

74 Ludwig Weniger

dem tbyiadisclien Festbrauch übernommen hatte. Denn mit dem Heradienste zugleich versahen die Sechzehn nunmehr auch den des Dionysos und stellten zwei Festreigen zu Ehren der Hippodameia von Olympia und der Physkoa von Elis. Die Schwesterschaft der Sechzehn bildet ein Seitenstück zu dem Kolle- gium der Hellanodiken. Ihr Webehaus wurde nach Elis ver- legt in die Nähe des Hellanodikeon.' Das alte Gotteshaus der Hera kam immer mehr herunter und wurde zuletzt als Thesauros für Werte von Holz und Goldelfenbein verwandt. Die strengen Bestimmungen gegen die Anwesenheit von Frauen bei den Olympien und das Verbot, den Oberstock des großen Zeusaltars zu betreten, sind gegen die Heradienerinnen ge- richtet und sollten ein Wiederaufkommen ihres Einflusses ver- hindern. Aus ähnlichen Erwägungen ward der merkwürdige Monatswechsel der Olympien eingerichtet, der sich allein daraus erklärt, daß man neben der Förderung des Zeusfestes doch auf die Heraien Rücksicht nahm, die von alters her im dritten Monate des Jahres gefeiert wurden und der Bevölkerung ans Herz gewachsen waren. Es ist wahrscheinlich, daß auch diese Neuerung um Ol. 50 eingeführt wurde. In welchem Monate man vorher die Olympien gefeiert hat, ist nicht über- liefert.

Wir haben früher zu zeigen versucht, daß gleichfalls um Ol. 50 der, auch in Olympia gepflegte, Dionysosdieust ganz von dort losgelöst und nach Elis übertragen wurde, wo er fortan, mit dem altelischen vereint, einen der Hauptkulte bil- dete.* Wenn die Eleier den Bewobneru von Letrinoi den Artemisdienst ihrer Elapbia abtraten, so weist dies ebenfalls auf die Zeit nach dein Unterliegen der Pisaten um Ol, 50. Man darf annehmen, daß Letrinoi zu den pisatischen Acht-

' I'. 6, 24, 10.

' I'. 6, 26, 1 9tmv dk iv rote \iüXiGTU Jiövvaov rJßov6i,v 'HXtioi. Näheres: D. ÄrtemisdicnM in Ol., Neue Jahrb. 190", I S. 106. Hochfest U, Kilo V. 32. 2.

Olympische Studien 75

Städten gehörte. Um so auffallender war die Freundschaft mit den Eleiern.^

Am olympischen Heiligtume wirkten, nachdem die über- lieferte Mantik der Erdgöttin auf den Hochaltar des Zeus übergegangen war, die zwei Sehergeschlechter der lamiden und der Klytiaden. Das der lamiden ist das ältere und weist durch die Geschichte seiner Entstehung zu Doriern und Hera- kleiden in das Stromgebiet des Alpheios und nach Pisatis. Das der Klytiaden führt nach den nördlichen Gauen des Pelo- ponnes und nach Elis. Es ist wahrscheinlich, daß erst zur Zeit der Reform um Ol. 50 die Klytiaden von den siegreichen Eleiern den lamiden an die Seite gestellt wurden, um eine Sicherheit zu gewinnen, daß das Seheramt nicht einseitig in pisatischem Dienste wirksam sei.-

TJm die Zeit nach Ol. 50 mag man auch die staatliche Kommission der Theokolen mit Spondophoren und Spondorche- sten geschaffen haben, die au Stelle eigentlicher Priester fort- an die Opfer an allen Altären monatlich zu verrichten hatte und die Bürgschaft bot, daß der ganze olympische Gottesdienst in den Händen der siegreichen Eleier blieb.' Damit hängt die Anlage des Prytaneion zusammen, das durch den Platz am Berge sich den alten Heiligtümern anschließt, anderseits aber auch dadurch, daß es aus der regelmäßigen Abmessung der Altis herausspringt, deutlich eine spätere Herstellung er- kennen läßt, wie sie zur Vermittlung zwischen Klerus und Laien erwünscht war. Seine Weihe bekam das Prytaneion durch den heiligen Herd, den man mit dem Hochaltare des Zeus so eng verbunden hielt, daß seine aufgesammelte Asche, mit Alpheioswasser zu Mörtel angemacht, bei Aufhöhung der großen Opferstätte Verwendung fand. Dies geschah Jahr für Jahr am 19. Elaphios, 100 Tage vor Neujahr.

1 P. 6, 22, 10. Artemisdienst i. Ol. a. 0. S. 104.

2 Vgl. m. Abh. B. Seher v. Ol, Archiv f. Rel. W. XVIII S. 77 ff. » Vgl. D. monatl. Opferung in Ol. I, Klio IX, 301.

76 Ludwig Weniger

Zur gleichen Zeit wird die Einfriedigung der Altis durch eine hohe Mauer erfolgt sein, die unverändert bestanden hat, bis sie in römischer Zeit durch jene andere mehr umfassende ersetzt wurde, welche Pausanias bei seinem Besuche Olympias vor Augen hatte. Auf der Südseite bildete die ältere Mauer auch weiter noch den Abschluß der Terrasse des Zeustempels,*

Auch der Nordbau des Buleuterion scheint eben damals errichtet zu sein. Das Buleuterion diente gleichfalls zur Vermittlung zwischen Klerus und Laien, und so war es zwar außerhalb der Altis, aber nahe beim Eingange gelegen, dort, wo sich in der Richtung nach Norden der Seitenweg zum Zugange durch die Südmauer von der heiligen Straße abzweigt.

Anderes entzieht sich unseren Blicken. Ist aber von dem Angeführten auch nur der größere Teil jenen anderthalb Jahr- zehnten von Ol. 48 bis etwa 52 (588—572) zuzuschreiben, so senüjrt das zu der Erkenntnis, daß eine Umwälzung statt-

DD ' "^

gefunden hat, welche die gottesdienstlichen Verhältnisse in ganz neue Bahnen trieb und recht eigentlich das Olympia schuf, welches wir aus der Geschichte kennen.

Als die 51. Olympiade gefeiert wurde, 576 v. Chr., waren gerade 200 Jahre verflossen seit der des Koroibos. Das heißt aber nichts anderes als: von damals wurde der Ansatz von 50 vorausgegangenen Olympiaden oder sechs Menschenaltern entnommen, und so ist für die Nachwelt Ol. 1=776 v. Chr. ge- worden. Wann diese Berechnung aufgestellt wurde, wissen wir nicht. Man muß zugeben, daß der Ausgangspunkt der künstlichen Zählung gut gewählt ist. Aber es ist nicht daran zu denken, daß die erste wirklich gefeierte Olympiade mit Agon in Wahrheit gerade auf das Jahr 776 v. Chr. fiel, wenn man auch wohl das Ende des 8 Jahrhunderts oder den Anfang des siebenten als die Zeit veranschlagen darf, in der die Kir- mes des Zeus, zu deren Ausstattung der Laufagon nach dem ' Näheres bei W. Dörpfeld, Ol Erg. I S. 71.

Olympische Studien 77

Muster der Heraien eingerichtet ward, als wiederkehrende Feier aufkam. Die Zeit vor Ol. 50 liegt in einem Dunkel, das um so dichter wird, je weiter man zurückgeht. Von 01.51 abwärts wird es hell über den olympischen Spielen und ihren Siegerverzeichnissen. Von da ab darf man an eine, nach jeder Olympiade amtlich abgefaßte, Zusammenstellung der Preisträger in Dromos und den anderen Agonen denken, und auf diesem Grunde haben die Forscher ihre Kataloge hergestellt. Die Namen der Sieger rückwärts bis Ol. 1 wurden aus den ver- fügbaren Hilfsmitteln nachgetragen, so gut es ging. Die Kenner wußten, daß ihr Werk unvollkommen war, und daraus erklären sich die so oft wiederholten Versuche neuer Ausgaben.

Die große Reform von Olympia steht den Neuerungen zur Seite, die auch anderwärts zu nahezu gleicher Zeit vorgenommen wurden. Es ist kein Zweifel, daß diese Eingriffe in das Be- stehende untereinander zusammenhängen. Es muß eine starke Bewegung durch die griechischen Lande gegangen sein, welche darauf zielte, die staatlichen Verhältnisse mit denen des Kultus vereint in neue Bahnen zu lenken. Dazu war allerdings eine Zeit von mehr als einem Jahrzehnte nötis.

Den Anfang hat Delphi gemacht. Der heilige Krieg der Amphiktyonen gegen die alte Burgstadt Krisa bildet ein Seiten- stück zu den Kämpfen gegen Pisa und endete gleichfalls mit ihrer Zerstörung. Dies geschah um Ol. 47, 3 (590). Die bis dahin ennaeterisch begangenen Pythischen Spiele wurden hin- fort pentaeterisch gefeiert. Pythias 1 ist Ol. 48, 3 (586), nach anderen Ol. 49, 3 (582 v. Chr.). Nach Pausanias (10, 7, 4) gab es Pyth. 1 = Ol. 48, 3 noch gewöhnliche Kampfpreise. Der erste örecpavCttjg war Pyth. 2 = Ol. 49, 3. Die Pindarscholien zählen die Pythiaden von Ol. 49, 3 ab. Zum altüberlieferten musischen Agon wurde nach olympischem Vorbild ein gymni- scher und ein hippischer gefügt und dazu Stadion und Hippo- drom angelegt. Die Feier fiel in den delphischen Monat Bu- katios, der dem elischen ApoUonios entsprach. Die delphische

78 Ludwig Weniger: Olympische Studien

Archontenreihe läßt sich bis Ol. 47, 3 (590) zurück verfolgen.^ Auch die Verhältnisse der Amphiktyonie wurden damals neu geordnet. Die Athener, welche an dem Kampfe gegen Krisa teilgenommen hatten, erhielten Stimmrecht.

In Athen wirkte zur gleichen Zeit Solon. Seine Reformen datieren von seinem Archontat Ol. 46, 3 (594/3) oder 47, 1 (592/1). Er soll es gewesen sein, der die Amphiktyonen ver- anlaßt hat, gegen die Krisaier zugunsten des delphischen Heiligtums einzuschreiten. Auch werden Solons Verdienste um die kalendarische Zeitenordnung der Athener gerühmt.^

Um dieselbe Zeit, wie die olympischen Reformen, wurden die Isthmien (OL 50, 1 = 580) und die Nemeien (Ol. 51, 4 = 573) neu eingerichtet. Die Panathenaien der Athener sind Ol. 53, 2 = 566/65 gestiftet und waren pentar-terisch, auch sie offenbar nach olym- pischem Muster.

' Pomtow bei Pauly-W. 4, 2, 2589 f.

* Aristoteles nach Flut. Solon 11. Aischines 3, 108. Vgl. Ginzel, 2, 379.

Yolcanalia

Von A. V. Domasze'wski in Heidelberg

Mit welcher Schnelligkeit der Germanenkrieg Caracallas verlief, erkennt man an den Acta Arvalia.^ Am 11. August opfert die Priesterschaft, cruod dominus noster ^^er limiiem Raetiae ad hostes extirpandos barbarorum [solumj introiturus est, ut ea res ei prospere feliciterque cedat. Schon am 6. Oktober findet das Opfer statt ob salute(m) vidoriamque Germanicam lovi victori et Victoriae Laribus militaribus Fortunae reduci. Die Lares militares, verbunden mit der Fortuna redux, zeigen, daß das Heer bereits auf dem Rückmarsche in seine Standlager begriffen ist.^ Bedenkt man, daß der Kaiser auch noch die Chatten im Taunus bekämpft hat^, so kann er sich in Raetien nur wenige Wochen aufgehalten haben. Deshalb ist es durchaus nicht befremdend, auf einem Denkmale die Volcanalia des 23. August als den Tag dieser Victoria Ger- manica genannt zu finden. Cagnat ann. epigr. 1910 n. 133 (Intercisa, Pannoniae inferioris): Pro salute et victoria Germ(a- nica) Imp. Caes. M. Aur. Severi Antonini pi. felic. Aug. Parth. max. Brit. max. Germ. max. pontif. max. p. p. trib. p)ot. cos. IUI Deo patrio Elagabalo 7nil(ites) coh. (miliariae) Hem(esenorum) Anton, dedicatum opus X Kl. Sept. Messala et Sabino cos. a. 214. Gleich Caesar konnte er sagen veni, vidi, vici. Der Sieg war eben wie bei Claudius' britannischem Feldzuge, der nur 16 Tage währte, bis ins kleinste vorbereitet.

Durch diese Datierung der Victoria Germanica Caracallas auf den Tag der Volcanalia erhält eine Angabe Dios, die bis-

# ^ Dessau Inscr. sei. 451.

* Dessau 2311 reversus ad lares suos.

^ Heidelb. Süzb. 1918, 13, 148. Doch stammt auch der Sylla aus

der echten Überlieferung, Dio 77, 13, 7.

J^O A- V, Domaszewski

her einer sicheren Erklärung^ sich entzog, eine zwanglose Deutung. Er sagt, daß der Brand des Amphitheaters unter Macrinus' Regierung ein ungünstiges Omen für den Kaiser ge- wesen sei, 78, 25, 4 ort xal rr)v l'jnio8 qo^Cuv xcj 'HcpaLöxa xutsXeXvxsl.' Macrinus hatte die Circeuses der Siegesfeier Caracallas aufgehoben. Die emesenischen Kaiser haben sie wiederhergestellt, und so erscheinen sie in den späteren Ka- lendern.

Volcanus als Gott des Sieges ist eine altrömische Vor- stellung. Daher hat auch Augustus auf den Münzen, welche zur Erinnerung an die Zurückgabe der Feldzeichen geprägt wurden, Mars idtor und Vulcanus ultor genannt.^ Aber da Caracalla die Wahl des Siegestages, wie die des Siegesgottes vollkommen freistand, so hat dieser gemeine Legionär auf dem Kaiserthrone vielmehr mit dieser Datierung seine pannonischen Commilitones ehren wollen. Denn Volcanus ist der römische Name für den Hauptgott der Pannonier.* Wie diese Wilden aus den Donauländern ihren Gott zu ehren wußten, zeigt das Relief der Traianssäule, wo Weiber nackte gefangene Römer mit Fackeln zu Tode sengen. Dargestellt ist der Schutzgott der Pannonier auf dem Steine des Genius der Pannonia vere- darii. Quilling hat in der kleinen Figur zu Füßen des Ge- nius einen Minotaurus erkannt.^ In eben dieser Zeit ließ Ca- racalla .sich selbst im Lager zu Mainz als carthagischen Sol, seine Mutter als Tanit verehren.*"' Auch in der Art der Ver- ehrung glich er so dem Gotte der Pannonier, der selbst ein Sonnengott gewesen sein wird. Denn an dem Tage dieses pannonischen Vulcanus weihen die Hemesener ihrem Sol den Tempel.

' MomnjRen C. I. L. V p. S'26

' Entstellt bei Hieronymas a. 218 circcnsibus Volcanaliorum Eomae amphitheatrum iyicrnsum.

' Kckhel d. n. 6, 96. * Bei. d. r. H. hb. * Minotaurus.

llel. d. r. E. S. 72, Ahh z. r. R. S. 148

Volcanalia 81

Doch ist die Darstellung des Volcanus der Pannonier als Minotaurus eine Interpretatio Romana. Dadurch fällt endlich Licht auf das dritte Fahnenbild des altrömischen Heeres. Nach Plinius war es ein Minotaurus/ Wie wir jetzt sagen können, dieser Minotaurus ist das Bild des Volcanus als Heeresgott. Man verbrannte ihm die Waffenbeute, deren Asche ein frucht- bringendes Zaubermittel war^ als dem Gott der Sonnen- wärme.^ Deshalb wird der "Hhos, dem nach Lydus de mens. 4, 155 das Agonion des 11. Dezembers gilt, eben Volcanus sein. Er tritt dann, wie im August'^, in nähere Beziehung zu dem Consus und der Ops des inneren Festkreises der Sa- turnalia.

Man sieht auch an dieser neuplatonischen Gleichung des Lydus, wie der Sol der Carthager, der Gott der Pannonier, der Volcanus der Römer zuletzt in dem einen "HXiog aufgehen konnten.

* Bei. d. r. H. S. 118, wo ich vergeblich herumgeraten hatte. Vgl. die Fordicidia des 15. April, Abh. z. r. B. S. 177. => Abh. z. r. B. S. 172. * Abh. z. r. B. S. 172 f.

Archiv f. KeligionawiBaenaohaft XX

über Kalendae lanuariae nud Martiae im Mittelalter

Von Fedor Schneider in Frankfurt am Main

Auf die folgenden Untersuchungen führten mich Studien

über die eigenartige Beseelung des italienischen Mittelalters ^

durch die im stillen fortwirkende Antike. Paganismen, *heid- i

nische' Kulte mit oder ohne christliches Gewand, wie sie be- j

sonders im stadtrömischen Festbrauch begegneten, reizten mich, [

festzustellen, was aus der Überlieferung quellenkritisch zu ent- j

nehmen sei. Auf die methodische Hauptschwierigkeit hat ;

Helm* in nachdrücklichster Weise aufmerksam gemacht, und :

'\ * Altgerm. Religionsgesch.l (1913) S. 91f. Die in der Praxis oft ver- i nachlässipten iirinzipiellen Feststellunfjjen sind so •wichticr, daß sie hier im wesentlichen angeführt sein sollen: „Der Quellenwert all dieser kirch- ! liehen Schriften ist . . . oft geringer, als man zu vermuten geneigt ist . . . ' Die kirchliche Literatur beschränkt sich nun aber . . . nicht auf die Be- I kämpfung tatsächlich vorhandener Mißstände, in gewissem Grade be- ' kämpft sie auch einen nur angenommenen (iegner. Die Verordnungen . ] wollen ütfeiibiir auch Verhaltungsmaßregeln geben für Fälle, deren Kin- j tritt sie nur in den Bereich der Möglichkeit ziehen. Das wird voll- ' kommen klar, wenn wir sehen, wie die Bestimmungen von einer Schrift ' in «lie andre übernommen werden, manchmal wörtlich getreu, gelegent- iifh wenig variiert; originelle Fassungen, welche zeigen, daß die Ver- ' Ordnungen unter dem bestimmten Kindnick tatsächlicher Vorkommnisse : entstanden, sind selten. Manche der Schriften lassen sich sogar zurück- führen auf solche Quellen, die außerhalb des germanischen Geistes, in '< Italien und Südfrankreich entstanden sind, also sich gegen einen ganz 1 fremden Volksaberglauben wenden." Helm zitiert die Arbeit von Böse, j die gleich zu nennen ist; „. . . so ist doch hinter manches, was wir aus | dieser kirchlichen Literatur erfahren, ein kräftiges Fragezeichen zu j setzen." Die kritiklose Forschung, die aus literarischen Über- ' liefcrungsreihen tatsächliche Zustände erschließt, verfährt wie jener eng- | lische Oberrichter Haie, der 1665 die Existenz von Hexen aus dem Um- ; stände bewies, daß alle Nationen Gesetze gegen sie erlassen hatten: j Buckle Gesch. d.Civilis.in England, übers. von Arnold Rüge I ' 314 Anm.50. !

über Kalendae lanuariae und Martiae im Mittelalter 83

Nilsson^ wiederholt neuerdings den Hinweis: unsere Gewährs- männer vermengen, was sie noch selber gesehen habeD, mit ihren literarischen Kenntnissen. Welche Paganismen zu ge- o-ebener Zeit noch in Übung waren, hat man vielfach für den Einzelfall mit mehr oder weniger Willkür, oft nicht ohne das in den verschiedenen Lagern waltende Vorurteil für germani- schen, romanischen, griechischen usw. Ursprung, behauptet; eine systematische und philologische Behandlung, wie sie durch die Monumenta Germaniae historica für die politische Ge- schichte des Mittelalters seit Generationen zur Regel geworden ist, fehlte fast gänzlich. Nilsson fordert deshalb mit Recht als Grundlage weiterer Forschung einen Indiculus superstitionum mit Parallelbelegen für alle einzelnen Paganismen: diesen zu geben, hätte mich zurzeit zu weit von meinem Thema ab- geführt; doch mein Material bewies ein starkes Vorwiegen der Kaiendenriten, und sie gesondert zu betrachten, lag um so näher, als sie mit der Geschichte des Weihnachtsfestes eng zusammenhängen, die ja seit Useners berühmten religions- seschichtlichen Forschungen- das zentrale Problem für Methode und Erkenntnis geworden ist. Die folgenden Blätter waren fertig niedergeschrieben, als Nilssons gelehrte Untersuchung erschien, die Ursprung und Ausbildung der Januarkaienden in neues Licht rückte; sie erleichtert wesentlich das Studium der Nachgeschichte jener antiken Bräuche und gestattet mir, in der Hauptsache erst mit Caesarius von Arles einzusetzen.

Sollte es sich nachweisen lassen, daß ein gut Teil romanisch- paganistischen Volksbrauches im Mittelalter auf antiken, aus dem Altertum nicht überlieferten Kaiendenriten beruht, so wäre das Gesamtbild altrömischen Jahraufangskultes, das sich so ergeben würde, für die römische Religionsgeschichte nicht ohne Wert und müßte dazu einladen, seinem Sinn und Ur-

' Studien z. Vorgesch. des WeihnacMs festes, in dieser Zeitschr. Bd. XIX 108 f.

^ Vgl. den Nekrolog auf Usener von A. Dieterich El. Sehr. S. 358.

6*

g4 Fedor Schneider •,

i

Sprung nachzuspüren. Als Laie auf diesem Gebiete habe ich , nach Möglichkeit Vorsicht und Zurückhaltung geübt^; wenn, ich zunächst den Leser mit einer unvoreingenommenen methodi- ' sehen Quellenanaljse ermüden muß, so bitte ich um Nachsicht: i nur so kann ich mir den Weg zu einem Urteil über den Aus- 1 sagebereich der Überlieferung bahnen. j

Vielleicht ist der vorgelegte Einzelfall von paradigmatischer Bedeutung; die kritischen Ergebnisse für den Quellenwert deri einzelnen Zeugnisse werden für das Gesamtgebiet des mittel-; alterlichen Paganismus nachzuprüfen sein, Traditionsreihen und' Bestandteile der Einzelquellen werden sich ergeben. Eine Vor-! arbeit, die nicht nur für die antike Religionsgeschichte (ein-! schließlich Synkretismus und Magie), nein, auch für die ger-l manische^ erheblich sein wird, der wir hier durch negative) Feststellungen zur Sicherung ihres Unterbaues zu dienern hofi'en. i

1 Kritik der frühmittelalteHicheu Quellen :

über Kalendae laiiiiariae \

Kein antikes Fest kann sich in seinen Nachwirkungen bis; auf die Gegenwart mit den römischen Kalendae lanuariae^ messen. Begehung der Kaienden war ursprünglich allen; Monaten gemeinsam^; so klingt das Wort Kalendae noch auf, drei Gebieten in unsere Tage hinüber. Wenn das Vieh aufi die Weide getrieben wird, ziehen die Kinder der Ladiner in! Graubünden am I.März mit Kuhglocken vor die Häuser und! singen: 'Calonda Mars, Calond' Avril'*; ähnlich ist den Mai-;

* Dankbar l>ekenne ich, wieviel freundliche Belehrung ich meineni verehrten KoUej^en Wilhelm Weber (jetzt in Tübingen) verdanke.

* Treffliche Hilfsmittel sind die Quellenübersichten in den Mytho- logien von fJrimra, Klard Hugo Meyer, Mogk » (in Pauls Grundriß Ul),; besonder« bei Helm a. a. 0. j

' Treller-Iordan Rom. Mythologie* 1 156—168. 170. 178. WiHHOwa. Religion u. Kulttts d. Jiömer* 103f. 186. Nilsson S. 67.

* W. Mannhardt Wald- und Fcldkulte I: Der Uaumkultus der Ger-; manea und ihrer Nachbarstämme' 640 f. Deubner Glotta III 43 Anm. ,

über Kalendae lanuariae und Martiae im Mittelalter g5

liedern anderer romanischer Völker die Bezeichnung als ^calendes de mais' und ^calendimaggio' geblieben.^ In weiten Bezirken des französischen Sprachstammes heißt die Weih- nachtszeit 'Calendes', 'Chalendes', Tsalinde' in mannigfachen dialektischen Abwandlungen; der Weihnachtsklotz wird danach als 'calendäou', ^chalendal', ^calignau' usw. bezeichnet.^ In der von Byzanz abhängigen Kulturwelt des Ostens bis tief in die später abendländisch gerichteten Kreise der Westslawen hinein heißt sowohl die Weihnachtszeit wie das Weihnachts- lied nach den Kaienden: bei den Neugriechen %a hoXlccvtcc der Weihnachtsabend, davon xöXiavtov das den dabei singenden Kindern gespendete Weihnachtsbrot; ähnlich bei den Albanesen, bei den Rumänen die Weihnachtslieder 'Kolind', bei den Magyaren Weihnachts- und Neujahrsgeschenk ^Koleda', und bei den Slawen, von den Bulgaren, Serben, Russen zu den Winden, Slowenen, Tschechen, Polen werden Weihnachten wie die Lieder

^ Gaston Paris Les origines de la poesie lyriqiie en France (Journal des Savants 1892) sieht in den Gesängen der 'Kalendas Mayas' Elemente aus vorchristlicher Zeit, vgl. Alexandre Bertrand Nos origines [III:] La religion des Gaulois (Paris 1897) p. 120 n. 1. Über die italienische und proven9ali3che Sitte: Francesco Novati Freschi e minii del Dugento Milano 1908) p. 31. Über die t oscanischen Calendimaggio : Giov. Villani Historie Fiorentine VII c. 89 u. a. Stellen bei Alessandro D'Ancona La poesia popolare italiana (1878) p. 36 40, vgl. auch desselben Storia del teatro italiano P (1891) p. 55. Alfred von Reumont Lorenzo de" Medici I (1883) S. 70. Adolf Gaspary Gesch. d. ital. Literatur II (1888) S. 237 f. 668., Die Arbeit von Borghi li maggio, ossia feste e sollazzi popolari italiani (Modena 1848), nach der damals Maiköniginnen in Bologna, Ferrara Modena usw. gewählt wurden, kenne ich nur aus D'Ancona. Der Brauch lebt bekanntlich in Italien heute noch fort, ja, man fördert künstlich seine Verbreitung; ist er aber nicht proven9ali3cher Import? Ein Hin- weis auch bei Nilsson S. 104 Anm. 3. Spanien: s. u. S. 123 Anm. 2.

2 Mannhardt Bamnkultus^ 224—228. Wuttke Der deutsche Volks- aberglaube^ (bearb. von Elard Hugo Meyer, 1900) S. 82. Arnold Meyer Das Weihnachts fest, seine Entstehung u. Entwicklung^ (Tübingen 1913) S. 82. Alex. Tille Die Geschichte der deutschen Weihnacht (Leipzig 1893) S. 287. Gustav Bilfinger Untersuchungen über die Zeitrechnung der alten Germanen II: Das germanische Julfest (Stuttgart 1901) S. 86f. (mit viel Belegen).

Fedor Schneider

und Geschenke des Festes 'Koleda', 'Kolenda' u. ä. genannt. Schon Alsso bietet als Namen des böhmischen Weihnachts- singens 'calendisatio', was ^Kolenda' als übliche Bezeichnung voraussetzt.^

Nilsson- zeigt, wie dem altrömischen Neujahr der Amts- antritt die entscheidende Bedeutung lieh; als 153 v. Chr. dessen Termin vom 1. März auf den 1. Januar überging, wanderte das Neujahr mit.^ Weniger bedeutete der Neujahrstag als Kalender- abschnitt. Aus beiden Seiten, die sich mit der öffentlichen und privaten Feier zwar nicht decken, aber berühren, ergeben sich die Omina als das Charakteristische des Tages.* Jedes Betrinnen ist für den Glauben der Menschheit Schicksals- : schwanger. Zur altlateinischen Mantik trat im Laufe der Jahr- hunderte die Astrologie, besonders die Laienastrologie, des j Orients und gab dem Jahresanfang die entscheidende Bedeutung i für das Los des ganzen Jahres. Vorstellungen, die oft in anderer Umgebung selbständig auftreten, schließen sich, als die Kaiendenfeier ihre endgültige Gestalt ausgeprägt hat, an Janus den Öffner, der zum Gott des Beginnens wird; er führt die Titel ianitor und claviger, die später auf Petrus übergehen^, ihn fleht man um Glück und Gedeihen an. Ein großer Teil

' Bilfinger S. 88— 90; daß diese Gruppe auf Byzanz zurückgeht (vgl. ^ NilsBon S. 94), scheint mir die nächstliegende Annahme. Alsso: H. Usener i Christi. FestbraucJi, Religionsgesch. Unters. II (1889) S 46f. Vgl. über das ' Fortleben des Namens Nilsson S. 103 f. Die deutschen Kaiendgilden \ sind klerikal, s. K. Hegel Städte und Gilden 18. vi

* A. a. O. I: Kaleudae lanuariae S. 50 94. i *S. 66— 68; vgl. Mommscn Rüm. Chronologie 8. 218 ff. Rom. Staats- recht I«699f. H. Usener Ital. Mytheyi, Rh. Mus. XXX (1876) S. 213— 218 \ (- Kl. Sehr. IV 125 ff.). rrcllcr-.Tordan I 861—365. ;

* Vgl. Nilsson S 91 93, Übersicht über die Ergebnisse der den i Kalendae lanuariae gewidmeten Untersuchung. Über die Abweichung von seiner Deutung der Tiermasken b. u.

^ \V, Köhler Die Schlüssel des Petrus. Versuch c. religionsgeschichtl. j Erklärung von Matth. 16, 18. 19, in die.^er ZRit8chr.Bd.VIII(1905) S.224— 226. j Ov. Fast.l 139 c/". 138 lanus caelestis ianitor aulae; v. 228 clavigerum; \ dazu V. 126—130.

über Kalendae lanuariae und Martiae im Mittelalter 87

der Festsitten hat nach Nilsson als ursprüngliches Zubehör zweier Vegetationsfeste zu gelten, der Compitalien und Satur- nalien, die ursprünglich identisch waren; Vegetationsriten sind ja sonst vielfach mit Anfangsbräuchen verbunden^, treten aber in unserer antiken Überlieferung über die Kalendae lanuariae zurück. Ob sie teilweise an dem alten Neujahr des 1, März haften blieben, darüber soll uns das Mittelalter Rede stehen. Daß unsere literarischen Zeugnisse aus dem Altertum ihrer Natur nach lückenhaft sind, ist bisher nicht scharf genug be- tont worden. Aus den Saturnalien und den Vota der Com- pitalien entfaltete sich das Narrentreiben, indem der Narren- könig aus dem orientalischen Neujahr, die Tiervermummung aus keltischem und orientalischem, die Weiberverkleidung vielleicht aus Soldatenbrauch hinzutrat. So ergaben sich regionale Unterschiede: will man den Gang der Entwicklung zutreffend darstellen, so muß man Nilsson betont das richtig^ statt der Synthese aus dem Zusammenhang ge- rissener Quellenbrocken viel stärker die Analyse der Quellen betreiben. Auch für die Frage nach dem Ursprung der Weih- nachtsbräuche, in denen ja die Nachgeschichte der Kaienden gipfelt, für die Frage, was daran römisch, was germanisch sei, kann das Gebiet der von germanischen Gewohnheiten möglichst unbeeinflußten römischen Kulturwelt nicht sorgfältig genug ausgesondert werden. Daß ein großer Teil modernen, auch germanischen Neujahrs- und Weihnachtsbrauches Kaiendenbrauch ist, leugnet auch heute niemand.^

Wenn wir die Reihen literarischer Tradition unterscheiden und verfolgen, so beginnen wir mit Fug bei Caesarius von

^ Vgl. die Vernichtung der Jahresalten, Usener a. a. 0. S. 182 229 (Kl. Sehr. IV 93 flf.). Nilsson S. 106 findet zwischen dem altitalienischen Brauche und Useners Parallelen nur entfernte Ähnlichkeit; doch ist die Analogie nicht zu leugnen, s. u.

^ S. 109.

' Z. B. zuletzt Nilsson S. 120; dazu Tille S. 4f. 10—22. A.Meyer S. 81—89. Bünger (s. u. S. 91 Aum. 5) S. 20 f. Wuttke » S. 165.

38 Fedor Schneider j

Arles (f 542) als dem Urheber der wichtigsten. Daß er der

Verfasser der uns angehenden pseudoaugustinischen Sermonen j

ist, weiß Bilfinger nicht, und Nilsson stellt es nur als wahr- !

sclieinlich hin; doch steht es fest: hier genügt es, auf die treff- ,

liehen Monographien von Arnold und Malnory zu verweisen.^ j

* Carl Franklin Arnold Caesarius von Arelate u. d. gall. Kirche s. Zeit j

(Leipzig 1894) S. 172 und im Initienverzeichnis der Caesarianischen Ser- '

monen S. 436 ff. A. Malnory Saint Cesaire cvcque d' Arles 503 543 (Paria '

1894) p. XII XVIII. Bilfinger, der überhaupt nicht quellenmäßig arbeitet ,

(vgl. Nilsson S. 50 Anm.), redet z. B. S. 67 von den Augustin zugeschrie- '

benen, s. VI VII in Gallien erschienenen Homilien, während Nilsson .

S. 72 sie wenigstens als Caesarius „mit Wahrscheinlichkeit zugeschrieben" ^

bezeichnet. E. Maaß Jahresh. d. Österr. Ärchüol. histit. X (1907) S. 108f. ,

richtig nach Arnold. Wie Malnory p. XII XIV betont, gehören die drei in |

Frage kommenden Predigten zu der Grup])e, deren Zuweisung an '

Caesarius unter anderem auch durch die direkte Bezugnahme der Vita ■. Caesarii I c. 55, Mon. Germ. SS. rer. Merov. III 479, sichergestellt ist.

i

Hierzu treten stilistische Gründe. Die Vita ,,absohiment contemporaine' : Aug. Molinier Les sources de Vhist.de France \ 126 ur. 361. Die Bemer- ; kungen Kadermachers Aus altchristUcher Predigt, in Beiträge zur Volks- j künde aus dem Gebiet der Antike, SB. d. Kais. Ak. d. Wiss. in Wien, Phil.- ' Hist. Kl. CLXXXVII (1918) 3. Abh. S. 86—126 erschienen erst, nachdem ! die vorliegende Untersuchung abgeschlossen und im Februar 1918 der I Kedaktion eingereicht war; ich konnte sie nur bei der Korrektur ver- werten. Sonst hätten gerade sie mich zu der kritischen Behandlung der i mittelalterlichen Kaiendentradition veranlaßt, die ich im folgenden unter- 1 nehme. R.s Versuch, die Kaiendenpredigten des Caesarius (dessen Ver- ' fasserschaft er wie Nilsson nur auf die .\utorität der Mauriner hin. ohne ' Rücksicht auf die moderne Forschung, hypothetisch faßt) zu interpretieren, ist weit davon entfernt, das Material erschöpfend zu beherrschen oder ! die literarischen Zusammenhänge zu übersehen, was K. nach Bemerkungen S. 86 und 126 wohl auch kaum l)ean8prucht. Eine Anzahl veralteter Anschauungen (so S. 94 die dem Severian von Gabala zugeschriebene Predigt; S. 101 Anm. 1 da*« Konzil von Houen von 6601) erledigt sich wohl ebenso durch die folgenden Ausführungen, wie seine philologische ( Behandlung der Caesariusstelle von den Tiermasken oder der Eligiusetelle. 1 Das S. 114 f. besprochene Artemisfest zu Syra'kus ist kaum mit Marx den Kaienden anzuglieileni, also dessen durch Artemis wahrlich genugsam i erklärte Hirschmaske nicht mit der bei Caesarius zu vergleichen, und auch ' der Nilusbrief S. Ulf. wird nur mit Hilfe einer sehr zweifelhaften Deutung | herbeigezogen. So kann weder der erneute Versuch, griechischen Ursprung zu erweisen (in der Hirschmaske), gebilligt werden, noch die alte Beziehung '

über Kalendae lanuariae und Martiae im Mittelalter 89

Es handelt sich um die Sermonen 129, 130 und 265, deren entscheidende Stellen Nilsson abgedruckt hat^; sie finden sich z. B. auch in der Dissertation von Richard Böse, der überdies eine brauchbare Zusammenstellung der ganzen, auf Caesarius zurückgehenden Überlieferung bietet.^ Vor allem ist zu be- achten, daß nach Caesarius die heidnische Sitte in Arles selbst aufo-ehört hat und nur bei dem Landvolk fortlebt: quia deus placatus vöbis inspirare dignatus est, ut . . . ista miserdbilis con- suetudo de hac civitate in integrum tolleretur, rogo vos, . . .td vobis non stifficiaf, qiiod ipsi hoc malum . . . non facitis^\ nur das Augurium, kein Herdfeuer zu geben und nichts auszuleihen, und die Sitte der strenae werden noch von den Bürgern beobachtet, aliqui etiam miseri rustici stellen den Gabentisch auf. Die Frommen werden aufgefordert, den christlichen Wandel vicinis vel familiis vestris assidua castigatione beizubringen.^ Es ist

der Jakresalten auf die Kaienden. Während R.s Gesamtergebnisse in manchen Punkten (Märzkaienden, Yegetationsfest) unseren 2. Teil zu stützen geeignet sind und auch die gelehrte Behandlung der hellenistischen Antike vieKach förderlich ist, dürfte doch unser I.Teil den entsprechenden Darlegungen R.s durch viel eingehendere Behandlung den Boden entziehen.

1 Migne Patrologia Latina "KXXTX col. 2001. 2003. 2239; sermo 129. 130 = de Kalendis lanuariis I. II; s. 265 gegen Paganie überhaupt.

' Superstitiones Arelatenses e Caesario colleetae (Marburg 1909) S.9 11. Auch bei Maaß S. 109. Die Sammlung der Zeugnisse bei Chambers The Mediaeval stage (Oxford 1903) U 290fF. (vgl. Xilsson S. 71 Anm. 1) ist mir zurzeit nicht zugänglich. Yollständigkeit aller Anführungen der Caesariusstellen über die Kaienden erscheint in diesem Zusammenhange nutzlos. Über Böse vgl. Nilsson S. 109 Anm. 1 ; mit dessen kritischen Bemerkungen sind aber die Ausstellungen an Böses Leistung und Arbeits- ■weise nicht erschöpft. Nicht nur, daß er -wie seine Nachfolger von Literatur Loening, Hauck, Yacandard, Malnory nicht kennt und von Quellen den Regino übersieht; er vernachlässigt das von Arnold S.440 nachgeTviesene Pastoralschreiben des Caesarius, benutzt die Yita Caesarii nach Migne, die Y. Eligii zivar nach Kruschs Ausgabe Mon. Germ. SS. rer. Merov.IV, doch oberflächlich; S. 66 f. ist übersehen, daß die ziüerte Stelle des Burchard von Worms aus Isidor Eiym.YUI 9, 14—20 stammt, usw.

* Ps. Augustini s. 129 § 3 col. 2002.

* Ib. s. 130 § 2 col. 2004; auf beide Stellen weist Malnory p. 224 hin, ausführlicher Arnold S. 167.

90 Fedor Schneider

das niedere Volk, die tniscri oder pagani homines^] und wenn den Männern verboten wird, tunicis muliebrihus Miserere mili- tarcs lacerios', so denke ich bei den Armen, die das Schwert, die ^VafiFe zu führen gewohnt sind, nicht an Soldaten, sondern an das Landvolk. Die Stelle darf nicht gepreßt werden, gleich darauf folgen jene Worte, der beklagenswerte (heidnische) Brauch sei in der civitas ausgerottet. Man hat vielfach Stellen des

' Daß bei Caesariua viiseri, -abiles die lleideu bedeutet, zeigt Arnold S. 167 f.; also = pagani (das Caesarius synonym braucht): V. Schultze Gesch. d. Untergangs d. griech.-röm. Heidentums I (Jena 1887) S. 316 Anm.2. II (1892) S. 105. 184. .\rnold S. 156, Usener Wethnachtsfest^ S. 302. Wissowa* S. 100 Anm. 6. Alb. Dieterich AI. Sehr. S. 531. 536. Nach Caesarius hängen nur die Bauern der alten Religiousübung an, die Grund- herren lassen sie gleichgültig gewähren: Ps. Augustin s. 278 §5, Migne XXXIX col. 2271, Tgl. die von C. P. Caspari Kirch enhistor. Anecdota I (Christiania 1883) S. 215 224 herausgegebene homiUa ubi populus ad- moyiitur des Cod. Eins^idl. 281 s. VIII (Incipit Magnum nobis gattdiuni), die dem Caesarius gehört, Caspari S. 222; die Stelle wiederholt Paul Piper Superstitiones et paganiae Einsidlenses (in Melanges oiferts ä Emile Chatelain, Paris 1910) p.307, ohne Caspari zu kennen; auch mit Caesarius, der Literatur über ihn und über die Hs. ist P. nicht vertraut: eine ober- flächliche Publikation, in der überhaupt nur Bekanntes steht, mit dessen Nachweis sich der Autor nicht aufgehalten hat. Über die Hs.: P. (iall Morel Einsiedler Hss. d. lat. Kirchenväter bis z. IX. Jh., SB. d. Kais. Akad. d.Wiss. [zuWien] LV(1867) S. 243 261. P.Gabriel Meier Catal.codd.mss.qui in biblioth. mon. Eiymdlensis O. S. B. serv. I (Lipsiae 1899) S. 255—299.

* Ps. Augustin 8. 129 § 2 col. 2002; vgl. Nil.H-son S. 88 f., der die Alter- native stellt, die Militärmaxkerade, die in der Kaiserzeit aus dem Orient in die Kaiendenfeier eingedmngen war, habe fortgelebt, oder es sei literarische t'bertragung anzunehmen. Eher hat sich der ursprünglich Boldatischo Scherx auf andere Volksschichten ausgedehnt. Literarische Reminiszenz an Maximus von Turin liegt, wie Nilsson andeutet, daneben wohl sicher vor; vgl. Nil.Hson S. 71 die Stelle des Maximus. Verkleidung in Weiber anch sonst kultisch; so im Isiskult: Apuleius Met.lLl 8 alius aoccis obauratis inductus serica teste mundof/ue pretioso et adtextis capite crinibus incessu perllxM feminam mentiebatur, dazu der {laXaxög des ägj-ptischen Briefes bei Wilckcn Chrestom. Ml (vgl. Asterios von Ama«eia bei Nilsson S. 84 Anm. 1). VV'. Weber Aeg.-griech. Terrakotten S. 164 Anm. 4, dessen mündlichem Hinweis ich diese Analogien verdanke, macht noch darauf aufmerksam, «laß nach Plutarch änocp^. 'Pco/i. 66 an den Iden des Januar die tibicines Weibertracht anlegen durften. Radermacher S. 88.

über Kalendae lanuariae und Martiae im Mittelalter 9I

Caesarius als Zeugnisse für germanisclie Religionsübung heran- crezoffen: daran ist nach dem Gesagten nicht zu denken.^ Malnory* läßt die meisten der von Caesarius berichteten Pa- ganien auf die altkeltische Religion zurückgehen; das ist über- trieben, die Masse ist römisch, doch ergibt der Vergleich mit den älteren bezeugten Kaiendensitten eine einzelne hervorragend wichtige keltische Einsprengung. Ganz abgelehnt ist der Ver- such von Maaß, die auffallendsten Punkte auf griechischen Ursprung zurückzuführen.^

Zu diesen zählt die Tiermaskerade, die, schon viel früher in Ländern keltischer Siedelung erwähnt^, bei Caesarius zum erstenmal in ihren beherrschenden Zügen hervortritt und eine gewisse literarische Berühmtheit erlangt hat. Caesarius sagt allgemein: sumunt formas adidteras, siJecies monstruosas die von Ambrosius von Mailand und Petrus Chrysologus von Ravenna deutlicher genannten Tiermasken ^ und erklärt das näher als solche, qui cervulum facientes in ferarum se velint habitum commutare; alii vestiuntur peUibus pecudum, diu assumunt capita hestiarum^'^ in einer anderen Predigt nennt das Caesarius indui ferino habitu et capreae aut cervo similem fieri und rät: cervidiim sive <• -yniculam aut alia qiiaelibet portenta ante domos vestras venire non permittatis'' ] in einer

^ Die Germanen Südfrankreichs waren sicher keine rustici, sondern Grundherren.

^ P. 227 suiv. ; nur „beaucoup de superstitions secondaires des Roviains^^.

* S. 113— 117; dazu Böse S. 57— 62, Nilsson S. 78 Anm. 3.

■* Stellen bei Nilsson S. 71f. Radermacher S. 87ff.

^ Nilsson S. 71. 81f. ; die von Mai gefundene und dem Severian von Gabala zugeschriebene, in Wahrheit dem Petrus Chrysologus gehörende homilia de pythonibus et maleficis druckt auch Migne Patrologia Graeca LXV 27 seq. nach Mai Spicil.Eom. X (1844) p. 222 seq.; vgl. auch Bünger Gesch. der Neujahrsfeier in der Kirche (Göttingen 1911) S. 14 Anm. 8.

® Ps. Augustin s. 129 § 2 col. 2001, vgl. col. 2002 quamvis diversorum similitudinem pecudum exprimere in se velint.

' Ib. 3. 130 § 2 col. 2004.

92 Fedor Schneider

dritten heißt es si adhnc agnoscatis aliquos illam sordidissimam fiirpitudinem de hinnicula vel cervula exercere.^

Um die hinnicula ist viel gestritten: an der ersten Stelle ist die Überlieferung korrupt, als Varianten werden annicidani, anulas, agnicidam angeführt. Leider bleibt eine kritische Aus- gabe des Caesarius ein pium desiderium ; nicht einmal die hand- schriftliche Grundlage seiner Predigten ist genügend erforscht*, und ein Hineinziehen seines Ausschreibers Eligius von Noyon, wie es Maaß und Böse versuchen, scheint methodisch nicht statthaft.^ Wir müssen, solange die beste Überlieferung noch nicht festgestellt ist, Caesarius aus sich s.elbst interpretieren: da fällt die Parallele cervulum sive <• .'ynicidam mit de hinni- cula vel cervula in der dritten Predigt auf. Man wird nicht mit Maaß canicnlam emendiereu, sondern hinnindam lesen.* Daß man dabei nicht mit Böse^ an Jiinnus 'Maultier' denken darf, sondern an hinnidus, -leus, erscheint bei unvoreingenommener Prüfung der ganzen Traditionsreihe dieser Yerkleidungsbrüuche sicher; kurz vorher bezeichnet Caesarius die gleiche Sitte mit caprrae auf cervo similetn fieri; hinnicula muß demnach ein Rehkalb oder Hirschkalb sein", die Verbindung mit cervulns

' Ps. Augustin f. 266 § 5 col. 2239.

* Auch die -wertvollen Mitteilungen aus Caesarius-Hss. von Arnold S. 451 467 führen nicht weiter; jene Variauten hätten nur dann Wert, wenn Alter oder (iütc ihrer Hss. irgendwie feststünde, und es ist un- begreiflich, daß man sie unbesehen zur GrundUige des Textes nahm. Verdienstvoll wäre es, wenn ein Kenner der patristischen Überlieferung Näheres über die Hss. der drei Sermonen 129, 130 u. 265 gäbe.

* Zumal Eligius hier seiner Vorlage nicht wörtlich folgt, in welchem Falle er handschriftlichen Wert haben könnte, sondern in der stilistischen Fassung, wie wir sehen werden, von einer Nebcnquelle abhängt.

* Der Archetyp bot, wie die Varianten zeigen, eine Lücke, die, da niemand an das im Vulgärlatein ungebräuchlich gewordene Wort hinni- aila dachte, falsch ausgefüllt wurde, wobei man z. T. an die Austreibung der .lahresalten dachte. Die I.A. anviculam ging in ihe Epistola canonica s. X (a. u. S. 113 Anm. 2) über: cerbolum aut anniculas faciunt.

» S. 60 Anm. 1; 61.

' Diese Möglichkeit erwog auch Böse S. 61 : hinnula = Rehkalb Arnoh. 5, 39.

über Kalendae lanuariae und Martiae im Mittelalter 93

drückt binomisch dieselbe Art Masken ans, und zwar die, von denen es in der ersten Predigt heißt qui cervidum facientes in ferarmn se velint hdbitum commutare. Der Ursprung dieser Hirschmasken ist von der ernsten Spezialforschung immer in der keltischen Religion gesucht worden; wenn Maaß, der die Epona wegen des ihr heiligen Maultiers in den Zusammenhang zieht, daneben an eine germanische superstitio denkt, so gibt er keine Gründe an; der Hirsch des Aktäon, den Marx^ und Maaß im Auge haben, ist eine zu weit hergeholte Hypothese. Malnory spricht von Verkleidung ^en cerf et en genisse' ^ ; Arnold hat mit Recht bei den Tiermasken unserer Stelle einen Zu- sammenhang mit dem keltischen hirschgehörnten Gott Cernunnos^ vermutet*, und Nilsson hat, ohne Arnold zu nennen, dessen Hypothese erneuert.^

^ Ber. d. sächs. Ges. d. Wiss. Phü.-hist. Kl. LVIII (1906) S. 108 if., der aber doch wenigstens unmittelbar auf Cernunnos zurückgeht, den er aus der griechischen Religion ableitet; ihm folgt Radermacher S. 117 Tgl. 123; vgl. Nilsson S. 78 Anm. 3 zu Böse S. 61.

^ S. 0. S. 89 Anm. 4. Nichts bietet E. Vacandard L'idolatrie en Gaule au VIe et au Vlle siecle, Rev. des quest. bist. LXY (1899) P. 445 447, wo über die Kaiendenbräuche gehandelt ist.

■' Z. B. Bertrand La religion des Gaulois p. 317 suiv. mit pl. 26. Cernunnos-Altar im Musee de Clugny; nach der Abbildung hat Cernunnos ein doppeltes Hornpaar, Hirsch- und Widderhörner. Ob Bertrand p. 342 suir. mit Recht den Cernunnos auch auf dem Altar von Reims, wie p. 373 mit pl. 30 auf der Silbervase von Gundestrup findet hier ein sitzender deus cornutus, widderköpfig mit Schlange und Torques in den Händen, Hirsch, Stier und wilden Tieren , kann hier dahingestellt bleiben. An der keltischen Herkunft des Cernunnos ist nach Bertrand nicht zu zweifeln. Ch. Renel Les religions de la Gaule avant le Chrisiianisme (1906) p. 246 und Titelbild. Vgl. auch Mommsen Eöm. Gesch. V 95. Ihm bei P W. -lll 1984. Holder AU-Celt. Sprachschatz I 993. Das archäologische Material wird Unverzagt vorlegen.

* S. 174 „Sie verkleideten sich als Hirsche und Hindinnen . . . Wahr- scheinlich hing dieser Brauch mit dem Kultus des altkeltischen Gottes Cernunnos zusammen"; vgl. S. 172 Anm. 571.

^ S. 77, wo er sich aber durch Caspari nicht hätte verführen lassen sollen, Aldhelm ins Spiel zu bringen. Dessen Epist. 5 an Ehfrid, jetzt nicht mehr nach Migne, sondern in Ehwalds textkritisch verdienstvoller

9^ Fedor Schneider

Auch an das Kalb hat man bei diesen Tiermasken erinnert ]

und die Interpretation mit archäologischem Material zu er- j

härten gesucht.^ In der Tat ergibt sich, wenn man die Tier- j

Ausgabe Mon. Germ. Auct ant. XV 489 zu benutzen, enthält die Worte j prosatori . . ., luridum qiii linffuis celydnim trmdcis rancida virulentaque vomentem per aevum veneym torrentia tetrae tortiotm in Tartara trusit et, ubi pridem eiusdem nefandae natricis ermula cervulusque cruda fanis cole- hantur stolidiiate in pro fanis, versa vice discipulorum gurgiistia, immo ! almae oraminum aedes architecti ingenio fahre ccmduntur. Die Stelle ist weder „hoffnungslos korrupt", noch ermidi (so Migne) mit Ducange i in hinnuli 'Maultiere' zu emendieren, die überhaupt, wie im Text be- | merkt, in der ganzen literarischen Kaiendentradition ein Unikum wären. < Der Sinn ist durchaus verständlich: der Schöpfer (prosator) hat die Gift- j natter des Heidentums in die Hölle gestoßen und in Britannien, wo einst ! in Tempeln ermula cervxdusq%ie verehrt wurden, Hütten der Glaubens- , boten (Mönche) und Kirchen entstehen lassen. Ehwald verweist auf Thes. j Gloss. I 518 hermula statna sine manibus; irgendwie hängt damit zu- j sammen Serv. Aen. VHI 138 hermos vocamtis quosdam stitmdos [lies tumu- los] in modum signonim sine manibus. Prov. Salomonis 26, 8 Vulg. in j acerrum Mercurii; Thes. linguae Lat. s. v, acervus; die sog. Glossae i Isidori, Corpus gloss. Lat. V 604, 37 Mercurius lapidum congeries in i cacumine coUium. Preller-Robert Griech. Mijthol. *S. 385 Anm. 6 über j die iQiiaxBg; ein altes latein.-deutsches Glossar in: Symbolae ad littera- \ turavi Teutotiicam antiqiiiorem (Havniae 1787) In acervo Mercurii: j Consuetudinem hahebant ambulantes in via, ubi sepultus est Mercurius, lapidrm iactare in ipsius unusquisque honorem, vgl. Caspari Martin von < Bracaras Schrift De correctione rusticorum ((.'hristiania 1883) S. 8. 16. Aldhelm will sagen, in den Tempeln seien Statuen und Hirsche verehrt I worden; für Statuen gebraucht er in der irischen, gesucht gelehrten \ Manier dieses Briefes den Ausdruck ermula, den er aus literarischer, auf , eine griechische Quelle zurückgehender Tradition (wohl durch Vermitt- lung einer Glosse) kennt; auch der cervulus stammt, wie unten ausgeführt ^ wird, aus literarischer Quelle. Die LA. ermula steht durch mehrere Has. < fest und ist nicht zu emendieren; J^hwald, der ja ermula richtig aus der j Glosse intcr]>rctiert, hätte die Deutung 'ermulam cerrulumque' pro vetula ; ac cervo nccipio besser für sich behalten, zumal er diese Weisheit ! lediglich aus Ducange bezieht und die neuere Literatur über die Tier- vermummungen nicht kennt. Hülflos B.'ulermacher S. 98 (auch nach der i veralteten Lesung). i ' Nilsson S. 77f. Von den beiden (Göttinnen auf der .Tupitersäule zu | Mainz kann die, die den Fuß auf einen Kalbs- oder Kindskopf setzt, j auf die Rindermaske bezogen werden, nicht die andere, die Epona, hinter ! der ein Pferd oder Maultier kniet; hinnicula ist nicht mit Böse S. 60 i

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maskerade bei Caesarius ins Auge faßt, neben der Verkleidung als Hirsch oder Ret, die als ungezähmte Tiere bezeichnet werden; cervulum facientes in ferarum se velint habitum com- mutare, und auf die sich die Mehrzahl der Stellen bezieht, daß auch zahme Tiere dargestellt wurden: alii vestiuntur pellibus pecuduin] also Rindvieh, das hier auch ältere Schriftsteller aus dem keltischen Siedelungsgebiete erwähnen.^ Die übrigen Vermummungen, die Caesarius anführt, treten in der späteren Tradition zurück und können kurz abgemacht werden. Da sind vor allem die erwähnten Verkleidungen bärtiger Männer in Frauentracht: viri nati muliebribus vestiuntur et turpissima demutn demutatione puellaribus figuris virile rohur effeminant, non enibescentes tunicis midiehribus inserere militares lacertoSy. harbatas facies praeferunt et videri feminae nolimt^, oder an anderer Stelle: Quid enim est tarn demens quam virilem sexum in formam midieris turpi liabitu commidare?^ Wenn darauf folgt: Quid tarn demens quam deformare fadem et vultiis induere quos etiam daemones expavescunt, so mag man an die Götter- masken denken, die uns Petrus Chrysologus von Ravenna bei der Kaiendenfeier beschreibt, die tota daemonum pompa, in der Saturn, Jupiter, Herkules, Diana mit ihrem Jagdgeleit, Vulkan {verbis anhelantem turpitudines suasl) dargestellt werden, und andere Gestalten, quormn, quia portetita sunt, nomina sunt ta- cenda, quorum deformitates quia natura non habet, creatura ne- scit, fingere ars laborat.^ Der Autor unterscheidet davon die

Anm. 1 auf dieses zu beziehen (vgl. auch Nilsson S. 76), sondern aus der Gesamtheit der Caesariusstellen heraus zu interpretieren, da jeder sichere Anhaltspunkt für Pferdemasken u. ä. fehlt.

* Nilsson S. 76 (vgl. 71. 81) über Maximus und Petrus Chrysologus (jener nennt pecudes, dieser bestiae, iumenta, pecudes); vgl. auch Maaß S. 115. Nach N.s Nachweis S. 71f. 76 findet sich die Hirschmaske schon um 390 bei Ambrosius von Mailand und Pacianus von Barcelona.

* Ps. Augustin s. 129 § 2 col. 2002. » Ib. s. 130 § 1 col. 2003.

* Mai Spicil Born. X 222 sq. = Migne PG. LXV 27; auch das Fol- gende -wichtig: In idoluni transfiguratur homo. Et si ire ad iddla crimen est, esse idoJum quid videtur? Dann wird die Technik der Verkleidung

Qg Fedor Schneider

Tier- und Frauenmasken. Obwohl nur von den Tiermasken in der Literatur nach Caesarius häufiger die Rede ist, werden sich, wie die Geschichte der Karnevalsbräuche schon allein beweisen dürfte, auch die anderen Vermummungen aus Römer- zeit erbalten haben: ein Zeugnis aus Spanien werden wir kennen lernen. Wie die sakralen Tiermasken, die an sich ja mit den römischen Göltermasken gleichbedeutend sind, sich an die Kaiendenbräuche anfügen konnten, werden wir am Schluß unserer Untersuchung vielleicht genauer erkennen; immerhin versteht man schon jetzt, warum die Kirche so nachdrücklich crecren die Kalendenverkleidung kämpft: es ist der heidnische Mummenschanz, die Heidengötter wie die Tiermasken bedeuten Dämonen; Gott, wie Petrus Chrysologus sagt, wird durch diese ungestalten Verkleidungen beleidigt, weil der Mensch sein Ab- bild ist (Exodus 20, 4 usw.). Was uns Caesarius weiter von den Kaletidae lanuariae erzählt, die angiiria, besonders kein Feuer aus dem Hause zu vergeben und nichts auszuleihen, die strenae, die mit Speisen bedeckten Tische, die in der Neujahrs- nacht zur Vorbedeutung für das Jahr aufgestellt werden, das wird uns noch in der Tradition des Mittelalters begegnen; es bezeugt, daß die echte altitalische Volksreligion sich unter den Provinzialen, deren alte Sitte nicht vom Firnis der hellenisti- schen Großstadtkultur übertüncht wurde, bis in späte Zeit be- sonders rein erhalten hat.

Von Caesarius ist nun eine große Gruppe jüngerer Quellen abgeleitet: die ihm örtlich und zeitlich noch nahestehenden können den Brauch selber noch kennen und bei der Polemik an das bekannte Vorbild anknüpfen; später und auf anderem Boden beweisen die Zeugnisse nur literarische Übertragung.

karikiert: carho deficit . . . paleae, pelles, pannt, stcrcora toto saeailo per- quiruntur, et quidquid est confusionis humanae, in enrum facie coUocatur. Die Stelle scheint nicht aus literarischer Tradition abzuleiten. Nilsson S. 81 f. und Radormacher S. 94, der den wirklichen Autor nicht kennt; beide weisen gut auf dessen Sermo 155 hin.

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Zunächst beeinflußt die Predigt des Caesarius die Kanones gallischer Kirchenversammlungen. Zwischen 573 und 603 bestimmt die Synode von Auxerre an der Spitze ihrer Be- schlüsse: Non licet Kalendas lanuarii vetolo aut cervolo facere vel strmcas diabolicas öbservare, sed in ix^sa die sie omnia hene- ficia trihuaniur, sicut et reliquis diebus. Die Überlieferung führt übrigens eher auf die LA. vetola statt vetolo} Die Ab- hängigkeit von Caesarius ergibt sich aus dem Passus über die strenae und das Ausleihen: Caesarius sagt^: ut . . . vel aliud quodcumque heneficium ciiicumque petenti non tribuant. Diabo- licas etiani strenas et ab aliis accipiunt et ipsi aliis tradunt. So wird man auch die Worte über die Tiermaske inhaltlich auf Caesarius zurückführen müssen, obwohl sie formell selbständig gefaßt sind, eine Fassung, die bestimmenden Einfluß auf die ganze jüngere Überlieferung gewann. Den Grund der Formu- lierung erkennen wir: man setzte die rhetorisch gefärbte Sermon- prosa des Caesarius-' in die dem Volke geläufige Ausdrucks- weise um; schon Pacianus (um 390) sagt: puto nescierant cervulum facere*; also ist retolo (vetola) aut cervolo facere die übliche vulgärlateinische Bezeichnung für die bei den Kelten herkömmlichen Formen der Tiermaskerade gewesen, und nur aus diesem Grunde darf man aus dem Kanon, der sonst ledig- lich für die Einwirkung des Caesarius auf die Nachwelt beweis-

^ Mon. Germ. Coric. I 179 c. 1; auch Bruns Canones apost. et concU 237 c. 1. Nilsson ö. 74 zitiert das Konzil mit ungenauer Chronologie nach der veralteten Ausgabe von Mansi. Vgl. E. Loening Gesch. d. d. Kirchenrechts II (Straßburg 1878) S. 461 463. Hauck Kirchengeseh. Deutschi. 13-4 S. 126. Vacandard p.446. Renel p. 373. Arnold S. 174. Zu vetolo, das in keiner Hs. steht, folgende Varianten: vecolo, vetola (der Herausgeber Maaßen setzt ein Fragezeichen), vecola, vaecola. Eine Hs. hat cervola, alle anderen cervolo. Vgl. Caspari Hom. de sacril. S. 56 Anm. 3, Es ist also sehr zweifelhaft, ob man nicht vetola lesen muß.

« Ps. Augustin s. 129 § 3 col. 2002, vgl. s. 130 § 3 col. 2004.

* Der z. B. streng auf rhythmischen Satzschluß sieht. Über diesen bei seinem Lehrer Julianus Pomerius s. Wilh. Meyer Ges. Äbh. z. mittel- alt. Rhythmik II 278.

* Nilsson S. 72.

ArclüT f. BeUgions Wissenschaft XX 7

98 Fedor Schneider

kräftig ist, Rückschlüsse auf die damaligen Zustände ziehen.* ^lan kannte also außer der Maske des Hirsches die des Rind- viehes vorwiegend in Gestalt des Kalbes: nur so sind die Worte zu deuten, wenn man sich die innere Abhängigkeit von Caesarius vergegenwärtigt. Da die Zusammenstellung cervulus et vetula, die fortan ständig wiederkehrt, von dem Kanon von Auxerre herstammt, dürfen wir sie nicht aus jüngerer Überlieferung interpretieren, und deshalb ist die beliebte Beziehung auf die Austreibung der Jahresalten* (^vetula soll diese Bedeu- tung haben) abzulehnen: vdolo ist, wie man längst erkannt hat^ wenigstens in den ältesten Quellen, von denen die jüngeren abhängig sind, Vulgärlatein für vitulus. Die beiden Masken

' So richtig die oben S. 97 Anm. 1 genannte Literatnr über das Konzil von Auxerre.

* Die Behiinptnng von Nilsson S. 76, das zweite Wort der Formel ^verde „gewöhnlich von der Figur eines alten Weibes verstanden", kann ich 80 nicht ala richtig zugeben. Das ngärov i\jbvSos beging Ducange. Von namhaften neueren Forschem kommen wesentlich nur Uaener Eeligions- yesch. Unters. I, Das Weihnachtsfest *S. 218, Maaß S. 115, Bilfinger II 82 tf. in Betracht. Ober die Jahrcsaltc (Anna Percnna, Befana, das /;ruciar la vecchia usw.) vgl. Uscucr Jtalinche Mythen a. a. O. S. 182 209 (Kl. Sehr. IV 93 ff.). Preller-Jordan 1343—346. Mannhardt i'attwfcu/« *S. 498f. Ders. Antike Wald- und Feldkulte »S. 200. Wissowa »S. 147 f. 241 f. Dieterich Sommertag, Kl. Sehr. S. 336 f. Freilich können die jüngeren Abschreiber, soweit .-lic nich überhaujit etwas ilabci dachten, vetulii miß- verständlich auf tlie ■lahrcsaite bezogen haben, für die sich jetzt wieder Kadermacher S. 91 ff. erklärt.

' '/.. 15. Ca8]>ari Kirchenhist . Anecdoia I 175 Anm. 2. Vacandard 1. 0. p. 446. Büngcr S. 15. Auch Loening, der S. 462 allgemein bemerkt, ,,daß sie (die ('bristen) am 1. Januar alter heidnischer Sitte gemäß sich in Tierhäute steckten", scheint die gleiche Auffassung zu haben, die NilsBon S. 76 f. hauptsächlich im Anschluß an Caspari betont. So auch die Literatur über die Bußbücher (s. u.): Friedberg S. 25. Schmitz S. 311 (schwankend). Sprachlich vgl. zu der ganzen Überlieferungsreihe Caspiiri Pseudoang. Ilom. de sncril. S. 55 Anm. 3. 56 Anm. 3. Vertauschung <ler Vokale i und e im gallischen Vulgärlatein der Mcrowingeczeit ganz ge- wöhnlich, Beispiele aus der Sprache des sog. Fredegar gibt Krusch Neues Archiv VII 486 f., dazu etwa Fredeg. III 9 p. 95 Kr. (SS. rer. Merov. II) bistea = bestia. IV 20 p. 128 duodicem.

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des Caesarius entsprechen völlig den beiden des Kanons: cervus, cervulus, hinnicula, caprea-. cervolo; pecudes: vetolo}

Nicht unmittelbar mit Caesarius, wie es in der Regel ge- schieht', sondern daneben mit dem Konzil von Auxerre zu verbinden ist Eligius von Noyon (f 659), bei dem die in diesem Zusammenhang gewohnheitsmäßig vernachlässigte Über- lieferung zunächst kurz darzulegen ist. Die als sein echtes Werk z. B. von Thijm betrachtete Schrift de reditiidine catho- licae conversationis scheidet aus : Krusch hat sie als jüngere Sinderausgabe desjenigen Kapitels der Vita Eligii (II c. 16) erwiesen, aus dem sich die zusammengearbeiteten echten Pre- digten herausschälen lassen. Für uns kommt also nur Vita Eligii II c. 16 in Betracht; leider ist seine Biographie nicht in der ursprünglichen Gestalt, wie sie Audoen [^ 683) verfaßt hat, auf uns gekommen, sondern nur in Überarbeitung aus Karolingerzeit.* Die Überarbeitung ist jedoch, wenigstens

* Die von Böse S. 61 statuierte Dyas bei Caesarius deckt sich nicht mit der von mir bestimmten; seine Polemik gegen Caspari über die vetula (S. 57 ff.) ist abzulehnen, mit Eligius beweist er nichts. Das Konzil von Tours (567) Mon. Germ. Conc. I 126 sq. c. 18. 23 vgl. Nilsson S. 74, L. Duchesne Origines du culte chre'tien ^275 n. 2 (die vierte Aufl. mir zurzeit unzugänglich) und die oben S. 97 Anm. 1 ge- nannte Literatur bekämpft die Kaiendenfeier nur in allgemeinen Aus- fb-ücken, geht aber wegen des Euhemeriamus (s. u.) ebenfalls auf Caesarius zurück. Das IV. Konzil von Toledo, dessen Kaiendenkanon Nilsson S. 74 nicht gefunden hat, ist das von 633; im 11. (nicht 10.) c. bei Bnins I 226 heißt es nur in temporibus quoque rdiquorum Kalendis lanuartis, quae propter errorein gentilium aguntur, omnino Alleluia non decantabiU<r. Bei der wenig prägnanten Ausdrucksweise muß die Beziehung auf Caesarius dahingestellt bleiben. Vgl. die Zusammenstellung der Januarkaienden in Konzilien bei Böse S. 41 f.

* S. 0. S. 92.

» Ed. Krusch Mon. Germ. SS. rer. üferov. IV 634—714; vgl. Watten- bach Deutschlands GescMchtsquellen I ' 126. Molinier I 136 nr. 425. Hauck DKG. I '^-'»S. 314. 327 und in PRE. 'V 301. Thijm in KL. IV 375—377. Vacandard Vie de Saint-Onen, eveque de Eouen (1902) und in Rev. des quest. hist. LXIII (1898) 469—480. LXV (1899) 243—246. Helm I 89. Maaß S. 108f. Die Kontroverse zwischen Krusch-Vacandard

1(30 Fedor Schueider '

soweit es uns hier angeht, lediglich formal und hat den Sinn der | Vorlage kaum verwischt. Die Stelle über die Jauuarkalendeu \ lautet*: NuUiis in Kalendas lanuarii nefanda et ridiculosa, \ vetnlas aut cenndos vel iotticos faciat iieque fuensas super noctem \ cnnponat ncque !>irenas aut hihitiones superjhias cxerceat. Soweit 1 die Vita auf Predigten des Eligius beruht, zeigt sich engster I Anschluß an Caesarius, für den die Edition von Krusch zahl- reiche Nachweise erbringt; ja, diese können, wie Hauck richtig j bemerkt, noch stark vermehrt werden. Ferner benutzt das \ Kapitel gallische Konzilskanones und, was au der ausgehobenen Stelle nicht in Betracht kommt, den Martin von Braga. Für ! einzelne merkwürdige Stellen ist überhaupt keine Vorlage nach- ; weisbar.^ Das Wort iotticos muß, wie auch Krusch annimmt, \ mit iocus zusammenhängen^ und die von Caesarius neben den i

und Hauck über die erhaltenen Homilien des Kligius wcheidct hier aus, da sie nichts über die Paganien enthalten; die Echtheit der Predigt, ' die Krusch fand und 1. c. p. 749—761 abdruckt, zweifelt Hauck DKG l I"— ^314 Aniu. 1 au. Das Verhältniß der Vita zu de red. cath. conv. und: den Quelleuwei-t. von V. El. II c. 16 erörtert abschließend Krusch 1. c. p. 662 sq. Ähnlich wie Krusch (dem Hauck I *-■• 328 Anni. 3 zustimmt) j nimmt Vacandard als Vorlage eine echte Predigt des l^ligius an. Über- ftetzung von T'. Kl. II c 16 hei Vacandard Jiev. des quest. hist. LXV 443—446.

V. El. II c. 16 p. 714 Kr. Diese abHchließendc Edition erledigt ^ vorab das unsichere Herunita«ten am Text, wie es Böse S. 22. 80 versucht, der auch wie Maaß de rect. cath. conv. als echt behandelt.

' Böhc arbeitet mit dem Aligiie-Text und übersieht Kmutii.s Nach- weise über (Quellen und libcrlicfcrung; vgl. S. 20 seine Hypothese eines später aus Caesarius gefertigten Index der Paganien. Auch die Kon- I struktion ve;-lorener Sermonen des Caesarius über das Heidentum in j Arie» ist willkürlich und gänzlich unbegründet. Ich stütze mich auf eine . kritische rntcrsuclning des ganzen Ka]titels, deren Ergebnisse hier nicht : im einzelnen auszuführen sind; vgl. auch die von Böse S. 21 27 ziiHaniruen- | gestellten Caesariusparallelen zu de rect. cath. conv. i

" Krusch 1. <•. !> 714 nota 8; die LA. ulerwticos eines C^odex von ' de rect. cath. cnnr., mit der nf>ch Böse operiert, war durch Krusch ; bereits Iteseitigt, da sie in der älteren und besseren Überliefening nicht j begegnet. L)ic LA. iotticos ist vielfach emendicrt worden (Maaß S. 116 1 catulos); W. Weber denkt an .sewco« (wegen dee auch in vetula möglicher- |

\

'j

über Kalendae lanuariae und Martiae im Mittelalter 101

Tiermaskeu noch berührten anderweitigen Vermummungen zu- sammenfassen. Dann ist die Komposition der Stelle klar: von mque mensas ab folgt der Autor formal und inhaltlich dem Caesarius^, inhaltlich auch vorher, doch ist die Zusammen- fassung durch den Kanon von Auxerre beeinflußt: vetulas mit cermdos . . faciat, vgl. vetolo (vetola) aut cervolo facere. Höchstens könnte man annehmen, daß Eligius ganz entsprechend wie das Konzil Kenntnis des Maskenbrauches und seiner volkstümlichen Bezeichnung hatte und bei vetola nicht mehr an das Kalb, sondern an die Jahresalte dachte; ob aus Augenschein, kann nicht so sicher behauptet werden, da uns ein übersehenes Zeugnis^ lehrt, daß später die Kirche stellenweise mit Erfolg den „heidnischen Kaiendenunfug" in sogenannten „christlichen Festbrauch" umzubiegen bestrebt war. In einem Leben des Bischofs Samson von Dol (in Armorica)^, der 'zwischen 557 und 567 starb, wird erzählt, daß der Heilige einst veniente

weise vorliegenden Mißverständnisses 'Jahresalte') oder ionicos; doch möchte ich mich der Auffassung eines so vorzüglichen Kenners des Mero- wingerlateins wie Krusch anschließen, der mir gütigst mitteilt, er halte die Deutung „Spaßmacher" für möglich, oder man müsse »diof «cos = »"Msiccos konjizieren. Radermacher, der wie seine Vorgänger ohne den kritischen Text arbeitet, lehnt zwar S. 97 Anm. 1 die Maaßschen catulos ab, doch seine eigene Emendation iorcos befriedigt auch nicht.

^ Zu der oben S. 91 Anm. 7 angeführten Stelle tritt Ps. Augustiu s. 129 §3 col. 2002 Aliqui etiam rustici mensulas in ista nocte quae prae- teriit plenas multis rebus, quae ad manducanduni sunt necessariae, coni- ponentes tota noete sie compositas esse volunt etc.; § 4 1. c. maximavi partem hominum diebus istis gulae vel luxuriae deservire et ebrietatibus

et sacrilegis saltationibus insanire; s. 130 § 1 coi. 2003 per licentiam ebrietatis; % 3 col. 2004 cjui Kalendas istas pro giila et ebrietate sacrilega consuetudine cohmt und vorher über die strenae.

^ Meines Wissens nur von Arnold S. 175 in diesem Zusammenhang beachtet, der die Stelle anführt. Dazu jetzt Radermacher S. 110, freilich ohne kritische Wertung.

' Hei, Acta SS. 0. S. B. 1 172 sq., vgl. Molinier 1 129 nr. 382 : nach ihm ist sie vor dem X. Jh. abgefaßt und „ne para'it pas fort ancienne". So

auch Krusch nach frdl. Mtteilung, der keine echte Quelle, sondern nur

Rückschluß aus dem klerikalisierten Brauch annimmt; höher schätzt Lot

Mel. d'hisi. Bretonne p. 97 die Vita ein.

1()2 Fedor Schneider

per annuam vcrtigitiem Kalcnda lanuaria, qua homines supra- diclne insulac (Resiae) harte nequam solcmncm . . . consudiidhiem prne ceteris sane celebrarc consueverant, dagegen predigte und sie davon abzustehen bewog, darauf omnes parvulos, qui per hisiilam iUutn oh harte nefariam diem discurrehnrU, zu sich rief, ihnen mercedem vunimisniuncuU auro quod est mensura schenkte und ihnen fürder die sacrücga consuHudo untersagte, mit dem Erfolg, ut nsquc hodie ibidem sjnritales loci eins solide ac caiholice remanserinl. Es handelt sich also neben den Hauptriten, die nicht näher erklärt werden, um einen Bettelumzug, wie er in Kleinasien und durch Caesarius für die Kaienden bezeugt ist, hier aber als Kinderumzug erscheint. Die strenae werden ständig durch Kinderbeseherung mit einem Goldstück, die vom Klerus ausgeht, ersetzt: selbst wenn man die Stelle nur für die Entsteh ungszeit der Vita verwendet, liegt doch die früheste Klerikalisierung der Kaiendenbräuche vor.

Die weitere Tradition über die Kalendenmasken auf frän- kischem Gebiet macht nun völlig den Eindruck, literarisch zu sein: wenn sich auch das hergebrachte Treiben beim Volke erhalten hat, der Wortlaut der Zeugnisse bietet keinen zwin- genden Reweis dafür, daß die Autoren ihn im Auge hatten. Zeitlich zunächst kommen die Bußbücher.* Die Reihe der

' F. W. H. Waaserschleben Die Bußordtiuvffcn der ahcndlfind. Kirche (Halle 1851) 9. 1 80, ge{?en dessen Feststellungen der Weihbischof llcrin. .Jos. Schmitz Die Bußhücher u. d. BußdisvipUn der Kirche (Mainz 1883, zitiert als Schm. I> mit der Annahme nicht rlurchgedrunjifcn ist, es gäbe ein selbständiges I'önitcntiale der römischen Kirche, und dieses sei ge- meinsam mit den angelsächsischen Bußbüchern Grun<llage der „fränkischen", zu denen er auch in Italien entstandene wie das Böen. Cummeani rechnet. Vgl. dcHüclben Verf. Die Bußbücher und das hanon. Bußverfahren (Düssel- dorf 1H98, zitiert als Schm. II) und zur Kritik seiner Theorie Friedberg in PRE^IW 581. Hanck DKG. P-^ S. 274 Anm. 3. W. v. Hörmann Buß- />ttc/icr«eM</i>»i,Zeitflchr. der Sav.-Stiftung Kan. Abt. I (1911) S. 201 Anm, 1. Vering Beichthücher in KL. II' 20'J 221, von katholischen Autoren z. B. noch .loh. Bapt. Sägmüllcr Lehrbuch des kuth Kirchenrechts* 1 163 166. Emil Friedberg Aus deutschen Bvßbüchern. Ein Beitrag zur deutschen Cnlturgesch. (Halle 1868), gibt eine brauchbare Zusammenstellung der in

über Kalendae lanuariae und Martiae im Mittelalter 103

fränkischen Pönitentialien entspringt dem Vorbild der irischen, das insulare Glaubensboten auf das Festland brachten. Es enthielt, wie die rein angelsächsische Gruppe, keine Bestimmung über die Januarkaienden; auch das dem Columba von Bobbio (f 615) zugeschriebene ^, das uns jedenfalls in jüngerer Form vorliegt, berücksichtigt wohl Paganismen ^, nicht aber Neujahrs- bräuche, Auf diese geht ein Kanon, der in einer ursprüng- lichen ausführlichen Gestalt und in jüngerer Verkürzung einer ganzen Reihe fränkischer Bußbücher gemeinsam ist, ohne daß man eine zwingende Klassifikation durchführen könnte; nur wird die Grundlage von einigen schon dem VII. Jahrhundert zugeschrieben, und die Benutzung durch Pirmin, die gleich er- wiesen werden wird, gibt für die Aufnahme des Mummen- schanzes den terminus ad quem 724 727, während die Syn- ode von Auxerre den terminus a quo liefert.^

dieser t5lDerlieferung bekämpften Volksbränche und Paganien, ohne sicL mit der Frage nach der Tatsächlichkeit der Aussagen oder nach dem Kultur- kreis, dem der einzelne Brauch entstammt, kritisch zu beschäftigen. W. V. Hörmann S. 200 ff. Allgemein über die Gruppe: Helm I 87 f. Über- sicht über die auf die Januarkaienden bezüglichen Stellen: Böse S. 50 53, Tgl. Friedberg S. 64; auch Nilsson S. 74; Bünger S. 28 Anm. 1; Rader- macher S. 91f. geht auf die Bußbücher nicht ein.

^ Wasserschieben S. 52— 57. Schm. 1205—215.588—594. 11146—153 spricht das Pönitentiale dem Columba ab; vgl. aber Hauck DKO. 13—4 S. 273 ff.

* C. 24 p. 600 Schm. I.

' Schmitz (vgl. V. Hörmann S. 233) rechnet die Gruppe zu dem Kern seiner römischen Bußordnungen und nimmt als Objekt der auf Paganie bezüglichen Satzungen heidnische Gebräuche in Italien an, vgl. Schm. I 167 ff. II 138 ff.; Arch. f. kath. Kirchenrecht LI 33—35. Doch auch er gibt fränkische Zusätze zu, und da in dem Kaiendenkanon ein gallisches Konzil Vorlage und will man für seine Aufnahme nicht lediglich literarische Beweggründe gelten lassen ein gallischer, wenn nicht alles trügt, Rom gänzlich unbekannter Brauch Anlaß war, ist für ihn die Frage, ob es überhaupt eine römische Bußordnung gab, gleichgültig. Für die Alters- bestimmung scheidet das Poenitentiale Cummeani, das man mit einem 744 gestorbenen Bobbieser Mönch hat in Verbindung bringen wollen, aus, da der Kaiendenkanon nur in der jungen interpolierten Form steht (s. u. S. 104 Anm. 2), und zwar in der verkürzten Fassung ; die echte, von Zet-

^Q^ Ffdor Schneider

Saclilich erfahren wir nichts Neues: Buße schuldet, si quis, qnod in Kalcndis Januariis multi facinnt, quod adhuc de pa{ja- nis residit, in cervolum, quod dicitur, aut in vecola (sie!) vadit . .; quia hoc daemonum est-, so .heißt es in der ausführlichen Fas- sung ', oder verkürzt Si guis in Kalendis Innuarii aut in ve- cola aut in cervolo vadit.., quia lioc daemonium csl.^ Die Ab- hängigkeit von gemeinsamer Vorlage ist für beide Fassungen und die mit ihnen übereinstimmenden, soweit sie das Mißver- ständnis vecola haben, deutlich; einmal wird es in vehicula zu emendieren versucht. Schon VVasserschleben ^ wies auf den Kanon von Auxerre als Quelle hin, nur daß retolo (oder vetola) aut cervolo facere zu in v. aut in c. vadere abgeändert ist. Auch die jüngere Reihe fränkischer Bußbücher, die zeitlich und der Tendenz nach schon teilweise mit Pseudoisidor zusammenfällt, weicht nur teilweise ab. Sachlich erfahren wir nichts Neues;

tinger gefundene und im Arcit. /'. katli. Kirchenrecht LXXXII 505 tf. heraus- ^'egebene Form kennt ihn nicht. (Jber die Zusammengehörigkeit der ganzen (rruin»e vgl. die neueste Spezialliteratur bei v. Hörmann S. 2.SSff. \'\r\. auch die Konkordanz bei Schni. I 702.

' Pocn. Merseh. A s. IX c. 32 p. 361 Sclim. II (vgl. VVaaserschleben S, 67—60. Schni. I 697-705). Foen. Burg. s. VIII c. 33 p. 322 Schm II. Poen. Vallicell. I s. .\ c. 88 p. 311 i^'rhm. I ('nur die Wortutelhing in Un- ordnunix: ••ii qut.s quod in Kai. Jan., quod m fac. adhuc in vetula e. q. a.). !']ä ist dies da.H vornehnilichste Poenitentiale Romanum von Schmitz, dessen Irnndlagen (l 237f.) noch in die erate Hälfte des VIII. Jh. gehören sollen. Ähnlich Poen. Floriac. <•. 31 p. 343 Schm. II {vehicula, ohne adhuc); Pocn. Paris, r. 26 |i. 329 Schm. U (ohne quod residit): Pocn. Rom. bei llalitgar v. 36 p. 479 Schm. I (Ph. Korn. VI § 3 p. 368 Was«.).

» So Poen. Ps. Cumnieani VII c. 9 p. 627 Schm. II. Si quis Kalendas lauuarias in cervolo vel vicola vadit Poen. Bobiense s. VIII c. 30 ]). 325 Schm. II ; Poen. Sangall. c. 28 p. 347 Schm. II ebenso (cervulo aut vetula). Cap. iudic. x. VIII (vgl. Schm. I 396. II 377) c 18 p. 237 Schm. II St quis in Calendas lauuarias consucludinc j)aga}iorum cum ccrvula aut quahbel veaila vadit . ., quia et hoc daemonum est (vgl. Poe». Vallicell. II c. 62 p. 379 Schm. I) vennischt die kürzere und längere Fassung; es ist nach Schmitz Kompilation dreier Gruppen.

' S. 59. So auch Friedberg S. 64 und Schm, I 311. Beachten.swert ist, daß für da« Konzil von .\uxerre einige Codd. vaecola, vecola haben: ». o. S. 97 Anm. 1.

über Kalendae lanuariae und Martiae im Mittelalter 105

die durchgehende Verlesung vecola^ beweist, daß lediglich literarische Übertragung vorliegt. Aber auch jene jungen Texte, die aus dem Rahmen fallen, sind nicht infolge von Rücksicht auf noch bestehenden Brauch abgeändert, sondern durch die echte Fassung des Caesarius und ihre Ableitungen, wie sie da- mals durch die Predigtliteratur bekannt wurden, interpoliert.* Höchstens kann man die Möglichkeit zugeben, daß die ge- meinsame Vorlage des ausgehenden VII. oder beginnenden VIII. Jahrhunderts die Maskerade kannte und aus diesem prak- tischen Grunde den Kanon von Auxerre aufnahm; notwendig ist auch das nicht. In welcher Gegend aber diese Vorlage ent- standen ist, bleibt völlig unsicher.^ Schottenmönche werden,

^ Zusauimengestellt von Caspari Hom. de sacril. S. 56 Äiun. 3. Cum- tnean hat im Titel VII vecla.

■^ Poen. Hubertense c. 35 p. 336 Schm. II Si quts in Kalendis lanuarü cervoJam vel vetolam observaverit, quae de pagnnis remansit. C. 42 p. 337 Si quis balationes ante ecclesias sanctorum fecerit, seu qui faeiem suam iransformavei'it in habitu nmlieris aiit ferarmn seu mulier in liabitu, viri .'aus Ps. Augustin s. 129 § 2 col 2001 sq. s. 265 § 5 col. 2239). Ähnlich Poen. Merseb. B c. 32 p. 432 Wass. Si quis ecclesiam fec. seque fac. s. ferarum seu mulier in habitu viri. Poen. Ps. TJieodori s. IX 1. XII c. 19 p. 597 Wass. hat zu der Cummean entsprechenden Fassung die Glosse id est in ferarum habitus se communtcant (lies commutant) et vestiuntur pellibus pecudum et assumunt capita bestiarum; qui vero taliter in ferinas species se transfoi-mant (aus Ps. Augustin s. 129 § 2 1. c), die zeigt, daß der Aus- druck in cervulo aut vetula vadit (so der Text) damals unverständlich ge- worden war. Spät ist Poen. Ps. Bedae qu. 33 p. 682 Schm. II Fecisti aliquid paganias, quae in Calendis lanuarü faciunt in cervulo aut in vegula? Nach Wasserschieben S. 86 ff. ist es jünger wie Halitgar, vgl. Schm. I 615 f. Aus Halitgar, dessen Bußbuch in die Gruppe der jüngeren, durch Kompilation älterer Formen entstandenen Pönitentialien gehört, ging der Kanon in der Form Fecisti aliquid, quod pagani faciunt in Kalendis lanuariis in cervulo vel vegula? in die große Bußordnung in Regiuo de syn. cau^is et discipUnis ecclesiasticis 1. I c. 304 j). 145 über, daraus in Burchards von Worms Beer. X c. 5 § 20 u. a. kanonistische Sammlungen.

* Gerade die ausführlichere Fassung gehört der Gruppe au, die als Poenitentiale Romanum bezeichnet wird, und von der Schmitz ein Exem- plar als im X. Jh. in einer römischen Kirche gebraucht nachwies; daraus darf aber nichts für den römischen Ursprung der Pönitentialien ge-

lQ[y Fedor Schneider

wie bei der Einführung der Pönitentialien in Frankreich überhaupt, so auch in diesem Einzelfalle ausschlaggebend ge- wesen sein. Nur als fränkisch, und zwar eher nord- wie süd- gallisch, werden wir sie ansprechen dürfen.

Nicht viel später wie das Auftauchen der Bußbücher be- ginnt im fränkischen Reich die Bekämpfung der Paganie in den Miss ionsp red igten. Hier wie dort fehlt ein Passus gegen die Kaiendenfeier nicht oft, hier wie dort ist die Eimvirkung des Caesarius deutlich. Wechselseitige Beeinflussung der bei- den Gruppen ist kaum von der Hand zu weisen; aber die Pre- diger verfügen über theologisches Wissen und kennen außer Caesarius noch andere bewährte ältere Schriften.

Nicht weiter einzugehen ist auf die in den Predigtsamm- lungen des VIH. und IX. Jahrhunderts beliebte Gepflogenheit, Sermonen des Caesarius, die häufig anonym oder unter Augu- stins Namen umliefen, wörtlich oder verkürzt unter jüngere zu mischen; so ist die Kaiendenpredigt im sogenannten Ho- miliar des ]3ischofs Burkhard von AN ürzburg (f754) vollständig der Sermo 129 des Caesarius.^ Dessen Bekanntschaft war all- gemein und ergibt sich aus der Art, in der die Polemik nicht

folpert wprden, Koiidorn nnr, d;iß in jünprcrcr Zeit (JX. Jh.) dicjonigc Form di«'Her fränkiHcln'ii HuUbüchtir, die in Koni Fiin<^ang fand, vjThältnieniiißip: rein und ursprünglich war. Für jüngere Zeit «ei j«tzt verwiesen auf Franz fhiutkai^pp Il)er die alldeutschen JSekhIrn und ihre Beziehungen auf Caesarius von Arlci^, in Forschungen und Fnnde, herausgeg. v. F. Jostes IV Heft 5, Münstr«r 1917.

' (bfr da« Hurkhard zugeschriebene Iloniiliar (s. VIII IX) vgl. Nürn- berger Aus d. litterar. Hinterlnssensch. d. hl. Bonifatius u. d. hl. Burchar- duM (NeiHse 188«) S. 27 tf. lf.8 165. Morin in Rcv. Bcncd. XIII (1896) p. 100; über die Vorlagen der Predigh'n Tlauck DKG. 11-'*— 4 S 260f. und Kose R. S6f., der lluuck übersieht. Hier liandclt es sich nm hnm. III de Kfd. Inn., .1. K. Krrard Commcniarii de rebus Franciac orientolis I (Wircah. 1729) 887 sq. Vgl. die alt« Honiilienhs. cod. Einsidl. 199 fol. 431 526 u. cod 281 fol. 1 148, 8. VIII— IX, über die oben S. 90 Anm. 1 Literatur angeführt ist, und aus der Caspar! mehrere Predigten des Caesarius, dar- unter die hnviilia übt j)opulus adwovilur, femer den Pimiin und die hom. de saciilcgii.s druckte.

über Kalendae lanuariae und Martiae im Mittelalter 107

nur gegen die Januarkaienden, sondern auch sonst gegen eine ganze Reihe heidnischer Sitten geführt wird: Beleg dafür ist die große Klasse von Homilien, die auf die karolingische Musterpredigt zurückgeht.* Mußten wir schon für das Gallien der Merowingerzeit vorsichtig sein, aus der literarischen Tra- dition über Kaiendenbräuche auf deren wirkliches Weiterleben ^u schließen, so werden wir es doppelt, wenn nun aus metho- disch völlig analogen Aussagen auf eine Übung jener keltisch- römischen Festriten durch das Heidentum Deutschlands ge- schlossen werden müßte. Mit einer gewissen Freude an der Vollständigkeit der aufgezählten heidnischen Gebräuche werden wir bei den Missionaren unter allen Umständen rechnen; daß die Polemik praktische Ziele verfolgte, wird zwingend wider- legt durch das sklavische Kleben am Wortlaut der Quelle, das vielmehr von der unsicheren Gewissenhaftigkeit, ja, der Bor- niertheit dieser Leute ein wertvolles Bild gibt. Hier wird die historische Untersuchung vollends zur textkritischen; doch dürfen wir den Umweg nicht scheuen, wenn wir zu einem sicheren Urteil über den Qaellenwert unseres Materials ge- langen wollen. Wie nötig das ist, erkennt man, sobald man

* W. Scherer Eine lat. Musierpredigt aus der Zeit Karls d. Gr., ZDA. XII (1865) S. 436-446, vgl. Helm 1 89; von ihr, die Scherer in ver- schiedenen Hss. nachweist, ist Ps. Bonifatii s. VI, Migne LXXXIX col. 855 abhängig (über die Unechtheit: Wattenbach DGQ. V 150 Anm. 2, Hauck DKG. 13—4 462 zusammenfassend). Mit ihi- berühren sich die beiden von Caspari Kirchenhist. Änecd. I 193 202 und 202—212 herausgegebe- nen jüngeren Predigten; überall die stereotype Wendung et multa alia quae enuinerare longum est, vgl. Ps Augustin s. 129 § 3 col. 2002 et alia his similia, quae longum est dicere. Scherer S. 446 f. weist eine in Italien, Frankreich, Deutschland, Spanien verbreitete, von Regino benutzte Ad- monitio nach, die Baluze Leo IV. zuschrieb, Scherer in die Zeit des Boni- fatius oder wenig später setzt. Sie ist älter und ein Pastoralschreiben des Caesarius: Arnold S. 440. Kenntnis der Vorlagen wird noch viel Licht über das vorläufig noch recht dunkle Literaturgebiet verbreiten. Über die von V. Eligii II c. 16 abhängigen Predigten (darunter de rect. cath. conv., 8. 0. S. 99 Anm, 3) Krusch 1. c. p. 652 und Hauck 13-* S. 314 Anm. 1, 473 Anm. 2.

;[Qg Fedor Schneider

beobachtet, wie häufig, ja, allgemein üblich es ist, die Quellen- zeugnisse iler gekennzeichneten Gattung als einwandfreie Be- weise für die tatsächlichen Zustände der deutschen Vorzeit zu benutzen, ja, zu Rückschlüssen auf Glauben und Treiben der sermanischen Urzeit zu mißbrauchen.

Zunächst, weil zeitlich und örtlich festgelegt, steht das Zeugnis des Abtes und Bischofs Pirmin, vielleicht eines Angel- sachsen, der unter Karl Martell nach Alamannien kam (f 753 oder eher). ' In der paränetischen Schrift Pirmins gegen den Paganismus ', die sich im Titel als Exzerpt aus „kanonischen", d. h. kirclüich anerkannten Büchern gibt, heißt es: Cervulos et veiculas in Kalendas vel aliiul tempm nolite amhiäare. Viri vestes f'emineas, femine vestes vir'dis in ipsis Kfdandis vel in alia lusa t/uam phiri^na nolite vestire. Die Überlieferung gehört noch dem VIII. Jahrhundert an, die Abhängigkeit von einem der früheren irisch-fränkischen Bußbücher wird durch amhularc, das statt des meist gebrauchten vadere in einem Pönitentiale vorkommt, augenscheinlich, ja, auch die sinnlose Verderbnis

' ('her l'iriuiii vf,'I Wattfiibaeh DG(^>. V 154. dessen flachn Behand- lung durch dio r'indringendc Darsttdlung bei Hauck DKG. I 3—4 S. 846 356 trefflich ergänzt wird. IL'lm I 80: „Dir Dicta abbatis Pirminli wenden sich gegen allt-rhand Aberglauben, aber es ist nicht «eher, daß er damit immer genide Aberglauben der Bevölkening meint, in der er lebte."

- Dicta abhatis Pirminii de singulis libris cannonnieis scnrapsus ed. »'aspari KirdwtUnstor. Anecdota I 151—193, die St.dle c. 22 S. 176. Die alte Ausgabe von Mabillon Vet. anal. IV App. p. 669 sqq., nachgedruckt von Oallandi und Migne, IhI neben ('aH])ari nicht mehr zu gebi-auchen. Über den cod. Kinsidl. 199 b. VIII, der in das alte Iteichenauer Ilomiliar «gehört, H. o. S. 90 Anm. 1 und S. 106 Anm. 1, bew. Habriel Meier Cat. codd. Ein-sidl. I 155—159 (über die Dicta Pirmütii S. 158); auch Maassen Bibl. Lat. iuris can. ms8., SB. d. Kais. [Wiener] Ak. d. Wiss. LVI (1867) S. 201—205. Morel a. a 0. S. 243—261, bes. S. 246. 258. 260. DaH Wort ncarapsus würde auf iriychen Ursprung Pinninx führen, was in dem Zu- Haramenhang der Frage nach seiner Herkunft, .soweit ich sehe, nicht beachtet worden ist; doch steht dem bekanntlich entgegen, daß Pirmin nach der Benedictinerregel lebte; übrigens findet »ich der Ausdruck auch bei Angelsachsen.

über Kalendae laiiuariae und Martiae im Mittelalter \QQ

veicidas statt vecolas, vefulas findet sich in der gleichen Gruppe.^ Da die einzige erhaltene Handschrift aus Einsiedeln auf die Reichenau zurückgehen dürfte^, muß Pirmin sein Werk in der Zeit seines Wirkens auf der Bodenseeinsel, also etwa zwischen 724 und 727, verfaßt haben. Wenn damals schon in den Bußbüchern aus der ersten Verlesung veculas die Verballhornung vehicidas geworden war, wird man, wie oben bemerkt, das erste Eindringen des Kaiendenkanons in ein Pönitentiale entsprechend früher anzusetzen haben. ^ Daneben ist Caesarius benutzt/ Ebenfalls in einer Einsiedler Handschrift^ steht eine Predigt,

' Poen. Floriacense (Fleuiy an der Loire), s. o. S. 104 Anm. 1, und Vallicellianum 11 c. 62 bei Schm. I 379 (s, X? vgl. Schmitz S. 342; den Kern der Sammlung will Schmitz S. 349 noch, dem YlII. ^h.. zuschreiben). Es stammt aus dem monasterium s. Eiiticii: Schmitz S. 342, also aus der Diözese Norcia, vgl. Kehr Italia pontificia IV 17. Hier lautet der Kanon: Si quis in Kalendis lanuarü consuetudme paganorum cum cervola aut quolibet velucido ambulaverit.

* Einsiedeln ist um die Mitte des IX. Jh vom Einsiedler Meginrat gegründet; über die Beziehungen der Bibliothek zur Reichenau vgl. nur die Hs, des Anonymus Einsidlensis und der Inschrifteusammlung cod. Minsidl. 326 s. IX X, die bekanntlich aus der Reichenau stammt, aber aus Pfäfers nach Einsiedeln kam: Literatur bei Wattenbach DGQ. F 280 Anm. 4; Beschreibung: Gabriel Meier Cat. codd. Einsidi. I 297 300. Meginrat ging aus der Reichenau hervor: Wattenbach DGQ. I' 285.

* Daß etwa Pirmin die Quelle des Archetyps aller Bußkanones über die Kai. lan. sei, ist durch die Textkritik ausgeschlossen : er benutzt ja eine von der ältesten abgeleitete jüngere Klasse. Casparis Emendation vetulas verwischt die Textgeschichte.

* Zu dem, was Hauck S. 351 über augustinische Ideen bei Pirmin bemerkt, vgl. die CaesariusparaUelen zu Pirmin, die Böse S. 27 29 gibt; über Caesarius als Xachahmer Augustins s. Arnold S. 126 129. Minde- stens für die Polemik gegen die Paganien hat Pirmin den Caesarius be- nutzt, dessen Predigten neben Augustinischen u. a. auch das Reichenauer Homiliar enthält. Unmittelbare Benutzung ist nicht zu erschließen, aber auch nicht auszuschließen.

^ Cod. Einsidi 281 s.YIlI fol. 149 (alt 101); dieser zweite Teil (fol. 146 bis 237) gehört nach Morel und Meier (s. o. S. 90 Anm. 1) nicht zu cod. 199, ist also kein Bestandteil des alten Reichenauer Homiliars, da- gegen ist er inhaltlich, aufs engste mit ihm verwandt: echte Stücke von Augnstin, ein Sermon des Caesarius und ein Psalmkommentar des Augustin

\1Q Fedor Schneider

tue denT'de\HunieliasanctiAgnstini de sacrilegiaiilhrinnd von Caspari herausgegeben wurde. Diese höchst interessante Predigt eines Heidenmissionars, die den Caesarius sparsam be- nutzt, kommt an zwei getrennten Stelleu auf die Neujahrs- Ijräuche zu reden; das erstemal 17) berührt sie sich auch inhaltlich nicht völlig mit dieser Vorlage, der sie das zweite- mal (§§ 23 26) in engstem wörtlichen Anschluß folgt.* Aus dieser zwiespältigen Behandlung wird man schließen, daß § 17 nicht ohne Zwischenglied auf Caesarius zurückgeht; er lautet: Quicumque in Kalendas lenuarias mensas panibus et aliis cyhis ornat et per nocU'm ponet et diem ipsum colit et auguria aspicet vd arnia in campo ostendit et feclum (fectum cod.) et cervulum et alias miserias vel lusa, qiic in ipso die insipientes sölent facere,

und Caesarius (vielleicht später und nicht mit dem vorhergehenden zu- sammengehörig; ob es der Augustins ist, bleibt zu bestimmen, vgl. Morel a. a. 0. S. 246). Klarheit kann nur hs. Untersuchung bringen, zu der zurzeit die Möglichkeit fehlt. Ed. Caspari ZDA. XXV (1881) S. 314 .S16 und 'Eine Augustin fälschlich beigelegte Ilomilin de sncri- /egüf. Aus e. Einsiedeier Hs. des VIII. Jh. herausgeg. und mit krit. u. sachl. Anmerkungen, sowie mit einer Abhandlung begleitet' (Christiania 1886) S. 5 16; die Angaben über die Hs. S. 3—6 sind nicht voll be- friedigend. Vgl. Hauck IJKd. IIS— i S. 404 Anm. 2. Bardenhewer Pafro- logie'^ S. 432. Helm I 89. Über KinHuß Martins von Braga s. u. S. «21 Anm. 1.

' § 17 p. 10 Casp. (ich zitiere die Buchausgabe und Casparis fort- laufende Paragniphcnzählung); §§ 28 26 p. 12 16. Caspari S. 63—66 zeigt, daß die beiden Abschnitte, in die die Predigt formell zerfallt (S. 46 48), den Vorlagen ent,M])rechcn : zuerst ein bunter Catalogus pnga- nianim, dann Auszüge aus Caesarius (h. 129 und 278 gegen miguria). Der erste Teil ist aus einer oder mehreren älteren Quellen abgeleitet imd berücksichtigt außerordentlich viele verschiedene heidnische Bräuche. Auch in der Ausdrucksweise weichen beide Teile ab, der erste hat ana- thematischc, der zweite historische und paränetische Form: S. 61 f. Vgl. die CaesariusiJarallcicii zu unserer Predigt bei Böse S. 29 84 und Caspari 8.68. Außer diesen Stellen zeigen nur §§ 2. 12. 14. 16 mehr oder weniger schwache Anklänge an Caesarius, die bezügliche Bemerkung von Caspjuri zu § 23 26 ist ungenau. Der Reihe nach werden in §§ 23—26 aue- geschrieben Ps. Augustin H. 129 § 1 col.2001; § 2 col.2001; § 3 col. 2002; zum Teil wörtlich aus tj 17 wiederholt. Zur Erklärung Caspari Homilie S. 83f. 49.

über Kalendae lanuariae und Martiae im Mittelalter m

der Rest gehört nicht mehr hierher. Das Mittelglied zwischen der Predigt und Caesarius erscheint mit Pirmin identisch*: das zeigt der Ausdruck lusa. Aber die Hiimelia ist reich- haltiger; eher ist eine gemeinsame Quelle in ihr ausführlicher wiedergegeben, bei Pirmin zusammengezogen. Wir werden, wenn wir mit Caspari die Heimat der Predigt aus der Über- lieferung erschließen, dabei doch diesen Zusammenhang beachten müssen. Beweisunkräftig erscheinen Casparis Argumente, das Werk einem fränkischen Kleriker in den nördlichen Gegenden des fränkischen Reiches zuzuschreiben*; richtiger schloß dieser Forscher in seiner ersten Abhandlung, das Schriftstück dürfte „seinem Fundort zufolge aus dem alamannischen oder frän- kischen Kirchenkreise stammen",^ Die Abfassungszeit bestimmt sich durch das Alter der Überlieferung auf spätestens die zweite Hälfte desVlH. Jahrhunderts*, doch verbietet nichts, sie näher zu Pirmin hinaufzurücken; die Heimat dürfte eher Ala- mannien als das eigentliche Frankenreich sein. Caspari^ be- zeichnete das Werk als eine Art Catalogus sacrilegiorum oder Indiculus superstitionum et paganiarum\ der „Prediger spricht

^ Die Pönitentialien , an die Caspari S. 49 der Form -wegen mit Recht erinnert, kommen hier doch nur mittelbar in Betracht, vgl. Caspari S. 66—69. Zu feclum: Caspari S. 55 Anm. 3. 56 Anm. 3 (s. o. S. 105 .\nm. 1).

* Besonders wegen der im § 17 genannten dies spuret, aus denen im Anschluß an die von Äldhelm de virg. c. 25 genannten lustrationum spurcalia ein nordgermanisches Schweineopfer erschlossen wird. Die ganze Beweisfühi-ung entbehrt der quellenkritischen Methode.

* ZDÄ. XXV 313.

* Caspari Homilie S. 6f, 71; ZDÄ. XXV 313 f. hielt er für die Schrift den Ansatz Mitte des VIII. Jh. für möglich, was aus inneren Gründen nicht unwahrscheinlich ist. Paläographische Untersuchung ist dringend erforderlich. Auch das Vulgärlatein (Caspari Homilie S.52— 63, der zu den Genetiven soles, viartes, ioves, veneres, dann lunes, tnereures an Jordan Topogr. d. Stadt Rom im Altertum II 1 5 hätte erinnern können) warnt vor zu spätem Ansatz. Caspari ZDÄ. XXV 313 „seinem Sprach- charakter nach aus dem VII. Jh. oder aus dem Anfange des VIII.", was richtiger ist wie seine späteren Ausführungen.

^ ZDA. XXV 313.

119 Fedor Schneider '

i

von allem Aberglauben; von dem er gehört und gelesen hat". ^ j

„Es ist", um mit Caspari zu reden-, „nicht glaublich, daß alle j diese (Paganien) zu seiner Zeit und in seiner Umgebung ge- ; herrsclit haben sollten und er sie aus eigener Erfahrung sollte , kennen gelernt haben''. Aber wir brauchen uns nicht, wie bei \ so vielen anderen wichtigen Nachrichten dieser eigenartigsten ; unter den Missionspredigten, die völlig dunkel bleiben, mit , einer in jedem Einzelfall problematischen Untersuchung ab- | zuquälen; nur daß man artna in campo ostcndit, ist neu*, alles übrige aus Caesarius. ' So sehr nun Hauck* hat die Parallele im einzelnen ; durchgeführt die Humelia de sacrilegia mit dem bekannten i Indiculus superstitionwn et paganiarum^ in Verbindung steht, ' der gewissermaßen nur die Überschriften zu den einzelnen Ab- j schnitten der Predigt enthält, so fehlt doch, wie schon Hauck'' i bemerkt, in diesem Schriftstück der Hinweis auf den Neujahrs- brauch; er mag aus Rücksicht auf die Sachsen, für deren ! Mission der Indicidus diente, als diesen fremd beiseite gelassen ' worden sein. Immerhin hat man" nicht ohne Berechtigung |

' Hauck DKG. II 3-4 S. 405 Anm. 4. ^ Homilie S. 65.

* Darüber weiter unten. * S. 404 409.

' Mon. Germ Capit I 222 uo. 108. Auch A. Saupe Der Ind. stip. et i

pa<j. (I'rocfr- d. Real^ymn. Leipzi«^ 1891;. E. Wadstein Kleinere altsäch^. '

Sprachdenkmäler (1899) S. 66. Grimm DM. *l\\ 403. \^\. neben Hauck j

a. a. 0. Hefele Concilienge.<ich. III 506. Helm I 94 mit Literatur. Böse '

S. 34f. Hauck S. 404 Anm. 2 nimmt richti«; gemeinsame Vorlage mit der !

Homilio (aber nur dem ersten Teile!) an. * S. 405 Anm. 7. ;

' IJö.se S. 62; ob man in incoatione alic. rci mit den heneficia in \ oiuB .setzen darf, die Caesarius (Ps. Aufrustin s. 129 § 3 col. 2002) mit \ dem focum de domo sua tribuerc verbindet, das muß doch dahinf^entellt J bleiben; eher ist an Hurrhard v. Worms XIX c. 92 zu denken, s.u. Teil 2. ^ Ganz abwejjif? ist die Hypothc.se von Uösc S. 35, ein aus Caesarius zu- i sammengestcilter Indiculus der Paganien sei hier wie in anderen kirch- ', liehen Schriften gemeinsame Vorlage; gerade die durch Caspari heraus- ] gearbeitete Komposition der mit dem erhaltenen Indiculus so nahe ver- wandten Homilie lehrt, daß die Vorlage des allein in IJetrak-ht kommen- '. den ersten Teils durchaus nicht in der Hauptsache von Caesarius ab- ; hängt. 1

über Kalendae lanuariae und Martiae im Mittelalter 113

an c. 17 De ohservatione pagmiorum in foco vel incoatione rei cUicuius erinnert: aber jedenfalls fehlt die ausdrückliche Be- ziehung auf Neujahrsriten oder ein anderes Fest; und auch die Homilie hat gerade diese Kaiendenbräuche nur in dem aus Caesarius entnommenen, dem Indiculus unbekannten Ab- schnitt.

Freilich traf der hl. Columba um 600 unweit der späteren Reichenau, im Römerkastell Arbon am Bodensee, noch roma- nische Bevölkerung an. ^ Im VII, Jahrhundert mochte noch Anlaß sein, die Polemik der älteren Väter und Konzilien gegen die Kaiendenbräuche zu wiederholen, die von den Resten der Romanen auch den Germanen vermittelt sein mögen; doch aus der an Caesarius anschließenden Traditionsreihe ergibt sich außer der Tatsache der Wiederholung kein Beweis für ihr Fortbestehen, wohl aber spricht die sklavische Wiederholung aller, auch der mißverstandenen Termini dagegen, und eine Predigt, die in einer Hs. des X. Jahrhunderts vorliegt und fast wörtlich den Caesarius ausschreibt, spricht von den Kaiendenbräuchen im Imperfektum.^

* Wetti Vita s. Galli c. 35, Mon. Germ. SS, rer. Merov. IV 277, dazu Hauck 13-4 S. 332.

- Cod. Monac. Lat. 6108 fol. 48 'f. bei Caspari Hom. S. 12 Anm. 6: Multi etiam rustici multa fantasmaticum genera observabant, ita ut in Kalendis lanuariis foeum de domo sua non tribuebant. Aliqui etiam rustici in ista nocte quae praeterüt mensulas sie compositaa esse volu- encnt, credentes perseverant. Sed haec iam favente gratia Dei ex parte magna in populo Christiano videntur extincta. Der letzte Satz nicht wörtlich aus Caesarius, aber frei nach Ps. Augustin s. 129 § 3 col. 2002, vgl. oben S. 89. Auch das Folgende daher, das meiste aus der Kaienden- predigt des Maximus von Turin. Ygl. über die Predigt Caspari Hom. S. 63 Anm. 2. Eine Epistola canoiiica, die Kard. Mai aus einem Vati- canus s. X in langobardischer Schrift und einem Barberinus druckt, Script, vet. nova coll.Yl 2 p. 101 (= Migne CXXXVIII col. 443) geht wohl mittels einer Missionspredigt auf die Caesariustradition zurück und gibt die falsche LA. anniculam (o. S. 92 Anm. 4) wieder: c. 5 De his presbyteris, qui . . . recipiunt idola colenies vel insipientes homines, qui ad fontes atque ad arbores sacrilegium faciunt nee non dieslovis acVeneris propter paga- norum consuetudinem observant vel cerbolum aut anniculas faciunt, hoc

AicMy i. KeUgionswiBsenscbaft XX 8

]^j^4 Fedor Schneider

Wie weit haben die von Caesarius bezeugten keltischen Maskensitten am Neujahrsfest auf den britischen Inseln ge- herrscht? Ein dem Theodor von Tharsus zugeschriebener Be- leg ist fränkisch-karolingisch.^ Auch Aldhelm scheidet aus; denn wenn er für die ehemalige heidnische Zeit von ermula cervulusque spricht, die in den Tempeln verehrt worden seien, so schmückt er seine Schilderung mit literarischen Reminis- zenzen, um den rhetorischen Kontrast gegen die Gegenwart mit ihrem blühenden Christentum wirkungsvoll zu gestalten : man verkennt den Aussagebereich dieser Stelle, wenn man den vergeblichen Versuch macht, ihrer Interpretation etwas Tat- sächliches zu entnehmen. Außerdem waren die Angelsachsen Heiden, die Briten Christen, und gerade diese hätten ja die keltischen Maskeraden ausüben müssen. Wenn viel übrig- bleibt, dann ist es Kenntnis des dciis cornutus, des Cernunnos; aber auch diese ist unklar und ungewiß.* Ein drittes Zeugnis steht im Bußbuch, das dem Erzbischof Ekbert von York (731 767) zugeschrieben wird.^ Sicher kannte dieses eine

est suffitorcs et cornua incantant {vel cerb. ine. fehlt im Barb.). Die (UosHC, die nach der italienischen Grammatikerschule schmeckt, zeigt, daß die Maskenbräuche den Lombarden des frühen X. .Ih. unbekannt waren; denn in diese Zeit und Gefjend f^'ehört wohl die Schrift, die, wie Schultz Atto (s. u. S. 131 Anm. 1) S. 68 zeif^t, von Atto von Vercelli in seinem nach Schultz S. 48f. vor 946 geschriebenen 8. Brief (Migne CXXXIV col. 115) benutzt wird.

' Das früher von Ducange und seinen Abschreibern als Zeug- nis für Hritannion verwertete Poenitentiah Ps. Tlxeodori (die Stelle oben S. 106 Anm. 2), cd. Wasserschlebeu S. 566 622 ist fränkisch und aus dem IX. Jh.: WasHPrschlebeu S. 13tf. Schm. II 161.

' Über die Stelle s.o. S. 98 Anm. 5, über Aldhelm ,: Roger L'enseigne- ment drs lettrcs classiques d'Ausonc ä Alcuin (1906) p. 288-^303. Manitius Gesch. d.lat.Lit. des MittelaUcrs I (1911) S. 134— 141.

» Porn. Kgh. VIII c. 4 ].. 668 Schm. II (= Poen. Ps JTieod. XXVII c. 24 p. 611 Wass., p. 681 Schm. I). Vgl. Wasserschieben S. 37 62 über die Bußbücher des Beda, Cummean, Theodor, Gildas und ein dem des Columba entsprechendes als Quellen; Bünger S. 17 Anm. 2. Schm. II 648 ff. bestreitet Ekberts Autorschaft. Die Sammlung geht nach Wasser-

über Kalendae lanuariae und Martiae im Mittelalter 115

der irisch -fränkischen Sammlungen etwa von der Art des Poemtentidle Ciünmeani; und der vage Ausdruck Kdlendas lanuarias secundum paganam causam honorare wird auf eine kontinentale Vorlage zurückgehen. Die rein angelsächsische Gruppe der Bußbücher bietet nichts über Kaiendenbräuche. So sind für die britischen Inseln der keltische Maskenbrauch und die Kaiendenfeier nicht bezeugt.

Fassen wir nun Spanien ins Auge. Ahnlich wie die Stellung des Caesarius als des berühmtesten Vorkämpfers gegen das Heidentum Galliens war dort die des Bischofs Martin von Braga (f 580), der jünger wie sein Amtsbruder in Arles und nicht ganz unabhängig von ihm war; an ihn knüpft sich eine ähnliche Traditionskette wie an diesen.^ In seiner Schrift gegen den Bauernglauben sagt er: Sine causa autem miser Jiomo sibi istas praefigurationes ipse facit, ut quasi sicut in in- troitu anni satur est et laetus ex omnibus, ita Uli et in toto anno contingat. Also das Neujahrsmahl in seiner Bedeutung als Be-

schleben u. Sclim.I 565 573 nur indirekt auf Ekbert zurück und ist von Ps. Theodor ausgescbrieben. Gerade das VIII. Kapitel ist von frän- kischem Material abhängig. Caspari Hom. de sacr. S. 46 Anm. 1 zitiert aus Ducange nach einem Poen. mscr. den Satz mit der Variante paganiam für pag. causam. Der Kanon von Ronen (s. u. Teil 2) klingt am nächsten an.

^ C. P. Caspari Martin von Bracaras Schrift De correctione rusti- corum zum ersten Male vollständig und in verbessertem Text herausgegeben, mit Anmerkungen versehen und mit einer Abhandlung über dieselbe soicie ■über Martins Leben und übrige Schriften eingeleitet (Christiania 1883); die zitierte Stelle c. 11 p. 15 sq. Casp. Vgl. über Martin: Bardenhe-wer Pafr.* S. 566. Böse S. 20, der die Selbständigkeit gegenüber Caesarius be- hauptet; doch läßt sich zeigen, daß dem Martin mindestens einige Ser- monen des Arelatensers doch vorlagen: vgl. z. B. Mart. de corr. rust. c. 16 p. 29 Casp. Nam ad petras et ad arbores et ad fontes et per trivia cereolos incendere mit Ps. Augustin s. 265 § 5 col. 2239 und der Homilia übt po- puliis admonitiir bei Caspari Kirchenhist. Anecdota I 222, oder c. 16 p. 32 Casp. Et alia multa, quae longum est dicere mit Ps.Augustin s. 129 § 3 col. 2002 et alia his similia, quae longum est dicere, vgl. o. S. 107 Anm. 1. Wattenbach BGQ.V 92. Hehn I 90.

8*

11(3 Fedor Scbneider i

standteil des Anfangszaubers. ^ Wichtiger ist ein Kapitel der j

kanonistischen Sammlung, die Martin zwischen 561 und 572 j

verfaßte; dessen literarische Nachwirkung ist in der heortologi- j

sehen Literatur aus Unkenntnis der kanonistischen Quellen nie |

vollständig erkannt worden: Noti liceat iniquas ohservationcs j

agere Kalendarum et otiis vacare gcntilibus neque lauro aui j

viriditate arhorum cingere domos.^ Wenn wir auch die Vor- j

läge dieses Verbotes nicht kennen, so wissen wir doch, daß

die Capitida Martini au^ älteren, hauptsächlich orientalischen ^

Konzilien exzerpiert sind. Diesen Umstand erklärt die Lebens- 1

geschichte Martins.' In Pannonien geboren, lebte er länger |

im Orient „und erwarb sich hier nicht nur Kenntnis der i

..... i

griechischen Sprache, sondern auch eine für die damalige Zeit )

bedeutende Gelehrsamkeit".* Es ist eine ganz grundlose Hypo- j

these, daß sich seine Missionstätigkeit neben den romani- j

sehen Bauern auch auf die Sweven Galläciens gerichtet habe; !

' Job. Chrj-H. ÄbiH. in Kai. % 2, Migne Pa«r. Graeca XLVIII col. 964 '

Noiil^ovöi, sl ri]v vov^rjviav rov firjvög rovrov fisQ-' riöovfig xal evcpQOövvris \

i:tLrBXiatiav, xal Tov unavra roiovzov s^siv iviccvrov. Caesarius Pb. Augustin j 8. 129 § 3 col. 2002 rustici meiisulas . . . componentes . . . credentes, quod hoc

Ulis Kahndae lanuariac praestare possint, ut per totum annum convivia '•

illorum in tali abumlatitia perseverent. Vgl. auch Nilsson 8.65 f. ;

* Canones er Orient, antiq. pairum synodis a ven. Martino ep. vel ab ' omni Bracarensi synodo exeerpti c. 73, Bruns II 67. 'Für die Stelle ist ! kfine Vorlage, beu. keine eines orientaliscben Konzils, bekannt; der Hin- weis auf Laodic. c. 37 (Br. I 77) erklärt das Qucllcnverhiiltnis nicbt. Der ' von Bruns gegobone Titel ist in-tümlicb und Ktammt aus der Hispana. In VVirklicbkeit bat die Synode von Braga uicbts mit dem Werk zu tun, dessen ecbter Titel Capitula Martini ep. Bracar. ist, vgl. Caspari S. XXX VII XLI, der darauf hinweist, daß neben orientalischen Kanones nur in untergeordnetem Maße abendländische übernommen sind. Wenn er S. XL aun dom Umsümde, daß für c. 73—76 keine Quellen bekannt : sind, auf Autorschaft Martins schließt, so ist das zu kühn. Er würde i dann allerdings beweisen, daß der in c. 73 verbotene, allgemeiner ver- \ breitete Kalendcnbniucb damals noch in Spanien bestand. Aus l's.Isidor, ', der die Capitula Martini aus der Hispana aufnahm, ist dieser Kanon als i eines der drei Kalt-ndenvcrbote in das offizielle Kirchenrecht geraten: ; Gmtian C. 26 q. 7 c. 13. <

» Caspari S. I— XXII. Ebenda S. U. ^

über Kalendae lanuariae und Martiae im Mittelalter W-J

Caspari versucht vergebens darüber hinwegzukommen, daß Martin nur gegen die römisch -griechischen Götter, nicht gegen die germanischen predigt, und seine Voraussetzung, unter den rustici Nordspaniens seien damals Sweven gewesen, beruht auf einer älteren unhistorischen Auffassung der germanischen Siedelung im Römerreiche. Grundherren, nicht rustici, waren die germanischen Eroberer in Spanien wie in Gallien und Italien.* Daneben ist nicht einzusehen, weshalb die arianischen Germanen mehr Reste des römischen Heidentums hätten be- wahren sollen wie die katholischen Romanen.^ Hypothetisch ist auch Casparis Ansicht, unter den Capitula Martini bezögen sich gerade die gegen heidnische Bräuche gerichteten auf tat- sächliche Zustände^; und selbst dies zugegeben, fehlt jeder Anhaltspunkt, daß er die Zustände bei den Sweven und nicht vielmehr bei den Romanen, wie stets, im Auge hat. Es steht

^ S.IVff. LXXXVI Anm. 3: (die Schrift de corr.rust.) „ist nicht bloß für Sueven, sondern auch für Romanen (für romanische und suevische Bauern) bestimmt. Sie richtet sich nicht direkt gegen Sueven, sondern enthält eine für den Bischof (Polemius ton Astorga) ausgearbeitete Predigt, die dieser vor romanischen und suevischen Bauern halten soll." S. XC XCII über die Sweven in Galläcien und ihre Landnahme nach Gaupp and Dahn; über die Siedelung der Ostgoten und Langobarden in Italien, die prinzipiell nach gleichen Grundsätzen wie bei anderen ger- manischen Stämmen vor sich ging, vgl. meine BeichsverwaUung in Tos- eana I (Rom 1914) S. 147 f. 156 ff. Alle Germanen siedeln als possessores, nicht als rustici. So ist Casparis Annahme, die Sweven hätten viel romanisches Heidentum angenommen, methodisch ein Trugschluß oder mindestens überflüssig; was er als Belege dafür, daß es sich bei einigen Angaben des Martinus um germanische Religionsbräuche handle, anführt (S. XCII Anm. 2), ist alles petitio principii, und bei den Belegen bleibt die literarische Abhängigkeit unberücksichtigt. Nilsson S. 107 f. (vgl. auch S. 124 über germanische Bräuche bei Martin) sieht zu stark durch Cas- paris Brille, wenn er auf dem indirekten Wege der interpretatio Bomana einzelne mythologische Namen bei Martin auf „einheimische", d. h. nicht- römische Gottheiten bezieht. Die interpretatio Bomana ist bei Martin durchaus abzulehnen.

* Falls Martin wirklich bei den Sweven missioniert haben sollte, dürfte sich seine Tätigkeit gegen den Arianismus, nicht gegen die Paganie gerichtet haben. » g xL Anm, 3, vgL o. S. 116 Anm. 2.

11^ Fedor Schneider '

nichts Neues oder irgendwie auffallend Merkwürdiges in dem

Kanon: außer dem allgemeinen Verbot, die Januarkaienden zu

feiern, wird insbesondere der Lorbeerschmuck der Häuser unter-

sacrt; d. h. doch wohl, da man nicht das Haus mit Lorbeer

umwinden (lauro cingere donios) kann, das Winden von Lorbeer- j

kränzen um die Türen, eine für das Altertum, besonders gerade

für die Januarkaienden, gut bezeugte Sitte ^: nur daß hier j

neben dem Lorbeer auch anderes Baumgrün hervortritt. ;

. . 1

Die Stelle hat eine gewisse Berühmtheit als locus classicus 1

. . '

für den Weihnachtsbaum erlangt; in diesen Zusammenhang I

stellte sie zunächst Mannhardt', der sie durch Jakob Grimms

Vermittlung aus Burchards von Worms Kanonessammluug

kannte und einem hypothetischen Papst Martianus (so! Bur- 1

chard hat Martialis) zuschrieb. Da die Forschung seit Arnold 1

Meyer wohl erkannte, daß Burchards Quelle Martin von Braga j

sei, aber nicht, wie die Tradition verlief Arnold Meyer

hätte als tertium comparationis zwischen Martin von Braga j

und dem Martialis papq bei Burchard nicht an Martialis, den

allbekannten Heiligen von Limoges, erinnern sollen' , so !

sei dieser Punkt kurz richtiggestellt. Zunächst gibt die

Hispana die Capitula Martini gewissermaßen als Bestandteil ]

oder Anhang der IL Synode von Braga^; in dieser Form be- i

' Hier f^onüf^ft der Hinweis auf Nilsson S. 61f. Neben Libanius vi;l. i

TertuUian de idolol. c. 15 p.48 Keiff.-Wiss. pZurcs iam invenias ethnicorum \

fores sine lucernis et laureis quam Christianorum. Vgl. auch Biliinger II |

62tf. Caapari S. 30 Anui. 6. Radennacher S. 105. j

* Baumkult "241 f., (xriinm DM.^m 460 Martiani. i " Tille S. :U7 Anm. zu 8. 244, der ebenfalls an den Weihnachtsbaum

«lenkt: er spricht von Lorbeer und „grünen Bäumen"! Martianus sei j

einer der ersten Päpste des Namens Martinas. A. Meyer S. 142 Anm. 160 ;

za S. 77. Bilfinger II 64 nach Mannhardt. Nilsson S. 109f. (vgl. S. 107 .

Amn. 3) klärt die Tradition gerade des c. 73 der Capitula Martini nielit ! auf, da er von der Stelle de corr. tust. c. 16 (s. u.) ausgeht.

* Caspari S. XXXVIII Anm. 1, auch über die Zitierweise anderer kanonistischer Sammlungen, die wir hier übergehen können; ex decreto \ Martiani papae kommt vor, eine solche Stelle haben wohl Grimm ; und Mannhardt im .\uge. )

über Kalendae lanuariae und Martiae im Mittelalter 119

nutzt sie Ps.Isidor häufig und zitiert sie unter dem Namen Martialis papa (= episcopus) ^ ; aus ihm schöpfte Burchard von Worms in seinem Dekret. Es hätte also bei diesem Quellen- verhältnis sofort klar sein müssen, daß Burchards Quellen- angabe auf die Capüula Martini zurückgeht.^

Mit Martins Kanon steht in Beziehung eine Stelle in seiner Sclirift de corr. rust.: Vulcanalia et Kalendas observare, mensas Omare, lauros ponere, pedeni observare, effundere in foco super truncum frugem et vinum, et panem in fontem mittere, quid est aliud nisi cidtura diaholi?^ Neben dem uns schon bekannten Lorbeer haben wir die Gabentische, die wir aus Caesarius^ kennen: es handelt sich um Speise, die die ganze Nacht auf den Tischen stehen soll und in die Geschichte unseres Weih- nachtstisches gehört.^ Wir kommen darauf in anderem Zu- sammenhang zurück. Ferner wird ein Opfer von Wein und Feldfrüchten auf einem Klotz erwähnt, bei dem man an den späteren Kalendenklotz denkt: in der Provence wurde früher zu Weihnachten, auf welchen Zeitpunkt der Kaiendenbrauch wanderte, der calendäou beim Anzünden mit Wein und Ol be-

^ Ed. Hinschius p. 432 c. 74 der im Zusammenhang von Ps.Isidor aufgenommenen Capüula Martini.

* Buch X c. 15 ex decretis Martialis papae.

^ C. 16 p. 30 Casp. Der Bernensis läßt in foco (Var. focum, focos) aus: Caspari S. 31 Anm. 1.

■* Ps.Augustin s. 129 § 3 col. 2002, s. o. S. 116 Anm. 1, vgl. Nilsson S. 123 Anm. 1, mit dessen Behandlung der Tradition ich nicht überein- stimme (s. u.). Von Caesarius hängt V. Eligii II c. 16 ab, s. o. S. 101 Anm. 1. Auch bei Martin dürfen wir hier Einfluß des Caesarius annehmen.

'' Das pedem observare ist durch Caspari S. 30 Anm. 6 nicht erklärt: die von diesem verglichene Burchardstelle liegt zeitlich und örtlich ab. W. Weber danke ich folgenden Hinweis : aus Weinreich Antike Heilungs- wunder S. 67 ff., bes. 69 mit Anm. 3 und 70, ist klar, daß man, wenn man den einen Fuß beobachtet, Heilbringendes (Glück) von ihm erwartet; vgl. die lat. Redensart pes secundus, felix; übrigens spielt im Sarapiskult der heilige Fuß eine große RoUe; es gibt sehr merkwürdige Nach- bildungen von Füßen in allen Arten von Denkmälern. Weinreich jedoch denkt einfach an das Omen des Anganges mit dem linken Fuße, vgl. Petron. c. 30, Apuleius Met. I c. 5 u. sonst (nach briefl. Mitteilung).

J20 Fedor Schneider

sprengt und ein ursprünglicher Neujahrssegen dazu vom Haus- vater gesprochen.^ So gibt Martin von Braga den ältesten Beleg für den Kaiendenklotz, der romanischer Herkunft sein muß wie aller von dem Spanier berichtete Brauch; ob er keltisch oder römisch ist, muß sich später ergeben. Das Brot- opfer an der Quelle ist unter den Kaiendenbräuchen singulär; nicht jedes Quellopfer braucht germanisch zu sein, es könnte auch keltischer Kult vorliegen; doch wissen wir weiter nichts von dieser Sitte. ^

' Bilfinger 11 59, der mit Recht die mit dem Kalendenklotz zu- sammenhängenden Weihnachtsriten als ursprünglichen Kaiendenbrauch in Anspruch nimmt (S. 86 89, vgl. o. S. 87 Anm. 3); die Einwürfe von Nilsson S. 103f. scheinen mir zu spitzfindig. Radermacher S. 100 Anm. 1.

- Über die Volcanalia hat Nilsson S. 107 f. gehandelt: er will sie wie die von Ambrosius erwähnten nicht auf das am 23. August gefeierte römische Fest, sondern auf ein Frühlingsfest zurückführen. W. Weber weist mich auf CIL. VI 457 hin : Augustus macht dem Vulkan a. 9 v. Chr. eine Weihung ex stipe quam populus Born, anno novo apsenti contulit. Vgl. die Zusammenstellung von Kai. lan. und Volcanalia bei Martin. Daß Vulkan in Gallien besonders stark verehrt wurde, hängt wohl mit Theokrasie zusammen: Wissowa* S. 232. Germanische Herkunft (die N. streng genommen hier auch nicht behauptet, doch s. S. 124 für die Seelen- tische) ist mit der Filiation Mailand -|- Nordspanien nicht zu erweisen, höchstens keltische; doch Martin benutzt den Ambrosius hier wie sonst; dieselbe Stelle von dessen Gulaterkommentar ist Vorlage von de corr.rust. c. 10 p. 12 f. Casp. ut Kalendas lamcarias putent anni initium, quod om- nino falsissimum est. Hier sei die Bemerkung gestattet, daß man viel zu sehr im Anschluß an Caspari (s. o. S. 115 Anm. 1) die Schrift de corr. rust. als Missionspredigt behandelt. Caspari S. LXXXVI Anm. 3 nennt sie „eine für den Rischof (Polemius von Astorga) ausgearbeitete Predigt, die tlieser vor romanischen und suevischen Bauern halten soU"; damit erledigt sich schon wenigstens die direkte Missionstätigkeit Martins. Wir müssen aber den Brief an Polemius, der über den Charakter der Schrift klari' Auskunft gibt, genauer analysieren: c. 1 p. 1 Casp. Polemio episcopo Martinus episcopus . . . I'^pintolam tuae sanctitatis accepi, in qua scrij)sisti ad me, ut pro castigatione rusticorum, qui adhuc pristina paganorum isuperstitione detcnti cultum renerationis plus daemoniis quam Deo per- solvunt, aliqua de origine idolorum et sceleribus ipsorum vel pauca de multis ad te scripta dirigercm. .Martin, der (infolge seines Aufenthalts im Orient?) otfenbar über mehr Gelehrsamkeit verfügt wie die einheimi- schen Bischöfe, soll einem von diesen die theoretische Grundlage zu der

über Kalendae lanuaiiae und Martiae im Mittelalter 121

Pirmin hat Martins Schrift über den Bauernglauben stark benutzt; so auch an der zweiten Stelle, an der er neben der schon besprochenen über die Kaiendenfeier handelt.^ Auf eine andere Handschrift Martins, wohl nicht auf Pirmin, geht eine spätere Predigt zurück, die in der Anlage einen gewissen Zu- sammenhang mit der karolingischen Musterpredigt zeigt; vielleicht enthielt deren reicheres Prototyp unseren Passus,^

Wir haben neben der Kunde von heidnischen Kaienden- bräuchen in den Akten des lY. Konzils von Toledo (633) noch ein späteres Zeugnis aus Spanien, das des Bischofs Isidor von Sevilla (f 686).^ Neues bringt er nicht, sondern er folgt in- Polemik gegen den Paganismus liefern. Nichts von tatsächlichen Ge- bräuchen, weder romanischen noch germanischen: aliqua de origine ido- lorum et sceleribus ipsorum, seine literarische Kenntnis der antiken Mythologie soll und will Martin vermitteln. Das ist die erste Position aller aggressiven Apologetik der Christen und stimmt durchaus mit dem Inhalt des Werkes. Wir müssen diesen Gesichtspunkt überall bei der theologischen Literatur dieses Jahrhunderts und der Folgezeit scharf im Auge behalten: den Leuten war der Volksbrauch schon fast so unYerständ- lich wie uns, und so erklärt sich bei ihnen allen der Eifer, mit dem sie sich die paar tatsächlichen Angaben über heidnische Sitten zu eigen machen, die ihnen literarisch bekannt werden.

' C. 22 p. 172 Casp. Nam Vulcanalia et Kalendas observare, laurum ohponire, pedem observare, effundire super truncum frugem et vinum, et panem in fontem mittere . . ., ista quid aliut nisi cultura diabuli est? nach einer dem Bemensis, dem in foco fehlt, verwandten Hs. Aber auch die oben S. 110 angeführte Stelle der Humelia de sacrilegia zeigt in den Worten mensas panibus et aliis cybis ornat Martins Einfluß neben Caesarius: also ist Martin in deren mit Pirmin gemeinsamer Vorlage benutzt.

* Der Sermo II bei Caspari Kirchenhist. Anecd. I 204 Vulcaria (!) et Kalendas observare, mensas ornare, lauros ponere, pedem observare et aquam fundere, in focum super truncum frumentum et vinum mittere et panem in fontem ponere, quid est aliud nisi cultura dyabuli? Vgl. Cas- pari Martin S. 31 Anm. 1. Pirmin ist also nicht Vorlage. Über die karol. Musterpredigt s.o. S. 107 Anm. 1.

ä Wattenbach BGQ. V 93—95. Bardenhewer Patrologie^ S. 568 bis 571. Manitius I 52—70. Schmekel Fos. Philosophie II: Isidorus v. Sevilla, s. System u. s. Quellen (1914). Zu der Liste der von ihm be- nutzten Quellen bei Manitius I 62 65 (vgl. das Register S. 746 oben) ist nach unseren Ausführungen Caesarius nachzutragen. Über das Zeugnis des IV. Konzils von Toledo (633) s. o. S. 99 Anm. 1.

j[22 Fedor Schneider

haltlich und teilweise wörtlich dem Caesarius: aus diesem erklärt er zunächst den lanus euhemeris tisch, dann schreibt er wörtlich eine der uns bekannten Stellen über Tier- und Weiber- masken aus, schließlich ist von auguria und den Tänzen des Volkes die Rede. ^ Immerhin ist aber ein Unterschied zwischen einem Gelehrten wie Isidor und naiven Abschreibern wie Pirmin und seinesgleichen. Mag Isidor ein Kompilator ohne selb- ständige Forschung und mit geringer kritischer Begabung ge- wesen sein*, anerkannt ist, daß er " wenigstens sonst auf die Landessitte achtet.* So wird er seine Gründe haben, aus der Vorlage gerade das Angegebene zu übernehmen, die Auf- stellung der gedeckten Tische, die Gelage' und die strenae zu

* De eccl.ofj'.l c. 41, Mif^ie LXXXIII col. 775 §2 Tunc enim miseri homines et, quod peius est, etiam ßdeles, suwentes species motistniosas, in ferarum habitu transformantur ; alii, femineo gestu demutati, virilem vul- ium effeminant. NonnulH etiam de fanatica adhuc consuetuditie quibus- dam ipso die ohservationum auguriis profanantur ; perstrepunt omuia saltan- tium pedibus, tripudiantium plausibus, qtiodque est iurpius nefas, nexis inter se utriusque sexiis choris inops animi, furcns vino turba miscetur. Neben verschiedenen Stellen dea Caesarius über heidnische Tänze (einiges bei Arnold S. 177) ist hier im letzten Satz Augustin s. 198 de Kai. lan. II, Migne XXXVIII col. 1024 1026, dazu wohl Maxinius von Turin be- nutzt; das Vorhergehende ist meist wörtlich aus Caesarius. Das Wort fanaticus, das auch Aldhelm de rirg. c. 25 p. 268 Ehw. fanaticae lustra- tionis spurcalia (s. u. im zweiten Teil) hat, stammt aus der Mysterien- sprache (Isis, Bellona, Magna Mater, s. Wissowa* Index) und bezieht sich hipr otFenbar auf orgiastische Tänze. Is. 1. c. § 3: Daher haben die Väter considerantes maximam partem generis humani eodem die huiusmodi sacri- hgiis et Inxuriis inserrire das Neujahrsfasten eingeführt; wieder fast wörtlich aus Caesarius. Die Stelle auch bei Nilsson S. 72.

' Trotzdem ist er bekanntlich eine wichtige Fundgrube antiker GJe- lehrsaink^'it; ein Philologe wie Böse hätte ihn beachtfu und nicht bei Burchard X c. 43, der großen Etymologie der divini, incantatores , arioli, arnspices, augnres, auspices, sich mit hypothetischer Zurückfi'Lhrung auf Varro begnügen sollen (S. 66) : die Stelle ist zunächst wörtlich aus Isid. Etijm. VI II 9, 14—20 übernommen. Daß Varro eine von dessen Haupt- quellen ist, steht fest, wenn er ihn wohl auch nicht direkt benutzte.

' Cber den Charakter von Isidors literarischer Tätigkeit: Manitius I 62 f.; Berührung spanischer Wörter und Sitten: das. S. 66.

* Anspielung darauf furens vino turba? Caesarius betont die ebrietas, Angustin 1. c. in conviviis, später inebriaturus te.

über Kalendae lanuariae und Martiae im Mittelalter 123

übergehen. Die Möglichkeit des Fortlehens gewisser Einzel- heiten der Kaiendenfeier in Spanien wird man nicht abstreiten dürfen: besonders der Anfangszauber, die öffentlichen Masken- umzüge und Tänze ^ mag Isidor aus der Yolkssitte gekannt haben. Das ist beachtenswert, weil diese dann noch nicht auf andere Termine abgewandert waren.

Das dürfte in der Folge geschehen sein: in dem Poenitentinle Vigilanum, einem wohl im YIII. Jahrhundert, sicher vor 976 entstandenen spanischen Bußbuch heißt es: Qui in saltatione femineum lidbitum gestiunt et monstruose se fingimt et maias et Orcum et pelam et Ms similia exercent, I annum peniteant.^ Überhaupt die älteste Stelle für einen von den Kalendae la- nuariae abgewanderten Festbrauch. Der Kanon geht in seiner ersten, umfangreicheren Hälfte auf Cummean zurück, in der zweiten bereichert er das Poenitentiale TJieodori durch Zusätze spanischen Ursprungs. Der erste Teil des Satzes Qui fingunt entstammt, wohl durch ein Zwischenglied, aber keins der uns bekannten Bußbücher, aus Caesarius; doch ist schon hier darauf hinzuweisen, daß die Maskerade nicht als Bestandteil der Neu-

* Die dann auf Kirchenfeste übergingen.- Nilsson S. 127 und Cae- sarius (s. 0.).

- Poen. Vigil. c. 84 p. 533 Wass., dazu Wasserschleben S. 71. Die Hs. (cod. Vigüanus) ist im Jahre 976 geschrieben; W. gibt dann auf Grund von Mitteilungen seines Kollegen Prof. Dr. Blanc wichtige Er- klärungen der Stelle, die Schmitz S. 711 übernimmt, ohne Neues* hinzu- zufügen. Pela, Pelo ist in Spanien ein reichgekleideter Knabe, der zu Fronleichnam auf den Schultern eines Mannes getragen wird, Maia die Maikönigin: Mannhardt BaumJcidtus" S. 344ff. ; die Göttin Maia gehört zu Vulkan, über ihr Opfer am 1. Mai s. Wissowa- S. 229. Mannhardt BanmJcultiis^ S. 338 und Friedberg S. 65 bieten nichts Neues. Zu dem Orcus, den schon Ennius mit dem Dis pater gleichsetzte (Wissowa^ 310), vgl. noch Y. Eligii II c. 16 1. c. p. 705 Nullns nomina daevionum, mit Neptiimim aut Orcum aut Dianam mit Hercidem aut Minervmn aut Ge- niscum . . . credere mit invocare praesumat, und Mannhardt BmtmhiUus- S. 110-112. AiitiJce Wald- nnd FeldJculte^ (= Wald- u. Feldkulte II) S. 99. 106 über den Berggeist Orco in Italien und Südtirol. Geniscus wohl = Genius.

124 Fedor Schneider

Jahrsfeier eingeführt wird. Der Rest ist ein höchst wichtiges Zeugnis für spanischen Volksbrauch, der sich im Orcus und der Mala mit dem anderer Romanen berührt.

Fassen wir zusammen, was sich uns aus der Untersuchung der älteren mittelalterlichen Überlieferung über die Januar- kaienden ergeben hat. Reste davon leben in Gallien (KonzQ von Auxerre) und Spanien (Martin von Braga, Tsidor) fort; doch die allermeisten Zeugnisse erweisen, scharf interpretiert, nur so viel, daß ihre Autoren auf literarischem Wege von der Kaiendenfeier Kunde hatten; deshalb und da sie großenteils die Ausdrucksweise ihrer Vorlagen nicht mehr verstanden, fallen sie als Belege des tatsächlichen Brauches ihrer Zeit völlig aus.

Zur Beurteilunf; der Zustände bei den Romanen in den Germanenreichen ist es wichtig, die von fremden Einflüssen ungehemmten Teile des Orhis Homanus ins Auge zu fassen. „Im byzantinischen Reich", sagt Nilsson S. 94, „setzten sich die Kai. lan. bis tief in das Mittelalter fort"; er verweist neben Theodor Balsamon (XIII. Jh.) auf das Trullanum von 692.' Hier finden sich besonders Tänze: öffentliche der Weiber und solche im Namen der Götter, die von Männern und Frauen geübt werden. Da im Zusammenhang damit Verkleidungen der

' Trull. c. 62, Mansi XI 972, Bruns I 65 Tag ouroo Xtyoiiivag Ka- luvdag Kai tu leyoftBvu ßoru y.al tu xuXovusva Bgoviidlia xal ti]v iv rj ngärr, roü Muqziov urjvog Ti^iiga ztXovfitvriv nuv^yvQiv Kud^äita^ . . . itsgi- uiQf9fjvui ßovX6(it9u, ^iTjv xal rüg xwv ywaiatv irifioölag üp;jji7(r£ts . . . frt ^iTjv xai rag 6v6(iaTt xüv jrap' "EI.Xt]6i l^tvd&g ovofiao^ivroav Q-täv T\ i^ iivdQWV T] yvvaiKätv ytvoyiivag öpjjjjcftff xal rtXirag xarä zi fO-og Tta- 'uii'ov %ul &'/.Xi)TQiov Toü rmv XQioriavöiv ßiov &no7it(i7t6fis9'a, OQi^ovTtg urtdivu &.vdQU yvruixuiup CToXijV ivStdroxkO^ai i] yvvaixu TOig uvÖqÜgiv ccnuodiov &X).ü ^Tjrt TiQoawniia xw/xtxa ^ aaTVQfxä f; rpaytxä vnodvta&ui, UTJTB t6 toü ßdtXvQov Jtovvoov Si'0(ia, zT}v GTatpvXijv änoQ'XißovTag iv rolg Xrivoig, inißaüv, \ir\di röv olvov iv roig xiO-oig inixiovzag yiXwra ini- xivtiv, &yvoiag xqÖtka ^ fiaTajdrrjri xa xfig (luviadovg Ttlävrjg ivtQyovvrag. Vgl. auch Nilsson S. 90 f. Kadermacher S. 109. 112. 124.

über Kalendae lanuariae und Martiae im Mittelalter 125

Männer in Weibertracht und umgekehrt und andere Masken^ verboten werden, werden wir auch an Göttermasken denken dürfen. Altherkömmliche seltsame Weihen oder Riten (raAftai) sind mit den Tänzen verbunden; Dionysosfestbräuche scheinen in den Neujahrs- und damit Weihnachtskreis zu treten.* Neben den Märzkaienden, die wir gesondert behandeln müssen, wird mit der Neujahrsfeier zusammen die der Vota^ und Bru- malia^ verboten; von den Brumalia haben wir auch aus dem Abendland Kunde: aus Rom (s. u.), in der Humelia de sacri- legia aus unbekannter Quelle, vielleicht aus Italien, dem das dritte Zeugnis aus einem karolingischen Capitulare um 800 angehört.^

Am wichtigsten wäre es, wenn wir das Weiterbestehen der Kaiendenfeier in. ihrer Heimat Rom feststellen könnten, zu der sich die Untersuchung nun aus dem Kolonisationsgebiet zurück- zuwenden hat. Wie schwer hatten die Päpste Roms mit Roms altnationalen Festen zu ringen! Eine ganze Reihe von ihnen war unbesieglich und gab dem Sieger das Gesetz, wie einst die

* Nilsson S. 90 weist richtig nach, daß die Dreiteilung der TtgoccoTtsta auf antiquarischer Gelehrsamkeit beruht.

2 Freilich scheint sich die Stelle auf die Weinlese zu beziehen. Der Dionysosbrauch müßte ursprünglich zu Epiphanias gehört haben; doch leugnet Karl Holl Der Ursprung des Epiphanien festes, SB. d. Kgl. Preuß. Akad. d. W. 1917 S. 430 die von Arnold Meyer Weihnachtsfest S. 90f. und DLZ. 1915 S. 698 und von Wilh. Bousset Eyrios Christos S. 333 ver- fochtene Ableitung der Epiphanie von einem Dionysosfest.

' Vgl. Tertullian de cor. mil. 12 annua votorum nuncupatio und andere Stellen beiWissowa- S. 448. Preller-Jordan I 181 f. Nilsson S. 54.

* Wissowa* 443 Anm. 1. Nilsson S. 61 Anm. 1. Tertullian de idoloL c. 10 p. 40 ReiflF.-Wiss. nennt die Brumae, c. 14 p. 40 neben den (Kalen- dae) lanuariae. Bilfinger 11 11. W.Weber in dieser Zeitschr. XIX 823 Anm. 3.

^ Conc. Bomanum a. 743 c. 9, Man. Germ. Conc. II 1 p. 15 Ut nul- lus Kalendas lanuarias et Bromas ritii paganorum agere praesumat. Hum.desacr. c. 17 p. 10 Casp. (1886) et qui brumas colet in eigenartiger Verbindung mit den Februarriten (s. u.). Capitulare Italicum 790—800, Mon. Germ. Capit. I 202 n. 96 § 3 De pravos homines qid brunatiais colunt (Beziehung nicht ganz sicher). Vgl. Caspari Eomilic S. 38.

126 Fedor Schneider

Gra€cia capta ferum vidorem cepit] in christlichem Mantel schreiten bis heut die Cara cognatio, die Ambarvalien, Robiga- lien, das Amburbale, besonders der Natalis Solis invidi. Am bekanntesten ist der Kampf Gelasius' I gegen die Luperealien.' So scheint denn auch die Kalendeufeier in Rom, die um 400 durch Symmachus und Prudentius bezeugt ist', für die Mitte des VIII. Jahrhunderts durch Bonifatius und Papst Zacharias in einer jeden Zweifel ausschließenden Form gesichert. Uns frei- lich, die der Gang unserer Untersuchung an rein literarische Erklärung auch der auf den ersten Blick völlig einwandfreien Aussagen gewöhnt hat, kommen sofort literarische 'Erinnerun- gen und in ihrem Gefolge kritische Zweifel, Avenn wir lesen, was Bonifatius an den neugewählten Papst Zacharias zu An- fang des Jahres 742 schrieb: wenn carnales homines idioie,

' Das meiste wie.f bekanntlich Usener Das Weihnachtsfest grund- legend nach; vollständigere Quellenbelege, die hier überflüssig sind, sollen iin anderer Stelle geboten vrerden.

* 8ymm. ep. X 7. 15 p. 285. 291 Seeck. Prud. C07itra Symm. I v. 237—244. Ein altes übersehenes Zeugnis steht in einer Predigt, die in dem Monte- cassineser cod. 11 s. XII p. 215 unter Augustins Namen, anonym in einem Laurentianus (Bandini Catal. codd. hibl. Mediceae-Laur. Suppl. I 620 nr. 17) überliefert ist, vgl. Bibliotheca Casinensis I (1873) 158. 162. 216; ed. Floril. Casin. I (Anhang zu Bibl. Cas, I) 131 seq. Hier scheint der Ort, die wichtigsten Stellen der Predigt mitzuteilen, über die ich gern Näheres von den Patristikern erführe, und die doch wohl vor 534 geschrieben ist, da Flavins Decius Paulinus lunior der letzte weströmische Konsul war- nach dem das Abendland post consxüntuin Taulini zählte {Fasti Consu- lares imp. Rom. von Liebenam 1910 ji. 65 ad ann. 534. Ureßlau Handbuch der Urkundenlehre in Beutschld. u. Italien I ' 829. Mommsen Ges. Sehr. VI 335) : De octava nativitatis domini. Kalendas lamiarias, fratrcs carissimi, Romanar nrbis co)isules ac magistratus festis annalibus renovant, ut voca- bulis con.<i}(lum scries renovetur annorum . . . dies isfe qui semper consules rrcipit . . . (^lid yinnc mundana letitia fasces, secures atque infulas cetera- que bonorum ranissima insign(i)a plausibili ambitu ostentas? Quid laureas renovando frondescis? Quid reciprocis osculis et pecuniis hunc tibi vendi- cas diem? . . . qui per fora mundi lucra celebratis. Strenggenommen müßte das Stück freilich vor die zwischen Rom und B5'7,anz geteilte Kon- sulproklamierung gesetzt werden. Um alles als rein literarische Reminis- zenz za erklären, scheinen mir die Einzelheiten zu konkret.

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über Kalendae lanuariae und Martiae im Mittelalter \21

Älamanni vel Baioarii vel Iranci, Sünden, die er, Bonifatius, verbiete, iuxta Botnanam urhem sähen, dann hielten sie sie für erlaubt, Sicut adfirmant se vidisse annis singulis in Romana urbe et iuxta ecdesiani sancti Petri in die vel node, quando Ka- iende lanuarii intrant, paganorum consuetudine cliorus ducere per plaieas et addamationes ritu gentilimn d cantationes sacrüegas cdebrare et mensas illa die vel node dapibus onerare d nullum de domo sua vel ignem vel ferramentum vel aliqiiid commodi vicino suo prestare velle. Dicunt quoque se vidisse ibi mulieres pagano ritu ßacteria et ligaturas d in hradiiis et cruris ligatas habere et publice ad vendendum venales ad comparandum aliis offerre^ Nun zitiert Bonifatius Galat. 4, 10 11 und als Augu- stinus eine Predigtstelle des Caesarius über Zauberer und Amu- lette ' und schließt, Zacharias werde sich Dank und ihm Erfolsr verschaffen, si istas paganias ibi . . . in Romana urbe proliibuerit. Es ist kaum erforderlich, Wort für Wort mit den Parallelen aus Caesarius, denen die Stelle nachgebildet ist, zu belegen; sie stehen nicht alle in den drei auf die Kaienden Bezugnehmenden Stellen, aber in ista node qiiae praeteriit ; de domo sua; fociim . . . vel aliud quodcumque beneficium cuicumque petenti noti iribuant^ bringen uns auf bekannte Spur, auch ohne daß wir besonders betonen, daß Bonifatius ja im Zusammenhang den Caesarius anführt; Gesang und Tanz werden von diesem ebenfalls öfter ganz entsprechend bekämpft*, und wir werden nun auch das

^ S. Bonif. et Lulli epp. ed. Tangl (Mon. Germ. Epp. sei. I 1916) p. 84 f. mr. 50. Vgl. Bünger S. 16 Amn. 8. Nilsson S. 63. 124. Rader- macher S. 99.

- Ps. Augustin s. 278, Migne XXXIX col. 2268 ; der Herausgeber weist darauf hin, daß der Sermo apokryph ist: nach Arnold, Caesarius S. 437 ist Caesarius der Verfasser, Justus Lipsius -v^ollte den Severian als solchen ansehen.

=* Ps. Augustin s. 129 § 3 col. 2202, s. o. S. 97; vgl. s. 130 § 2 col. 2004 in diem Kdlendarum . . . etiam focum dare dissimulent.

* Einige Stellen über Gesänge, aber nicht alle, bei Arnold S. 170 Anm. 564; eigentlich nur Ps. Augustin s. 303 §3 Migne XXXTX col. 2325 hierher gehörig, ich füge hinzu s. 266 § 4 col. 2241 ; s. 277 § 4 col. 2268,

128 Fedor Schneider

mensas . . . dapihus onerare auf die Caesariuspredigt zurückführen, von der in unserem Text das Vorhergehende und Folgende abgeleitet ist. Da das Material über die Gabentische bei Nilsson^ etwas durcheinander geraten ist, sei es hier kurz besprochen. Die Grundlage ist die bekannte Caesariusstelle, von der Eligius wie die Humelia de sacrilegia, aber, wie wir sahen, auch Martin von Braga literarisch abhängig sind. Burchard von Worms ist nicht direkt in Beziehung mit dieser älteren Reihe zu setzen, wir werden die Grundlagen seines Textes kennen lernen; und daß, wie Nilsson' behauptet, Martin von Braga hier „sicher" auf germanischen Brauch gehe, haben wir aus allgemeinen Gründen wie durch die Kritik der Einzelstelle als Irrtum er- kannt. Nilsson scheidet die Seelentische vom Kaiendenschmaus wie überhaupt von römischer Sitte und will sie zu den un- römischen Bräuchen rechnen, die sich im Lauf der Zeit mit jener verschmolzen; dieser sei gewiß germanisch, unsicher sei, ob auch keltisch. Wir werden ihm um so weniger folgen, als wir nicht nur die Beziehung seiner Quellen auf alten germa- nischen Glauben widerlegen können, sondern als Grundlage seiner Beweisführung ein argumentum ex silentio erkennen müssen. Warum soUen wir die Seelentische des romanischen Bauernglaubens prinzipiell von dem Festmahl der Kalenden-

vgl. B. 130 § 2 col. 2004; h. 265 § 4 col. 2239. Über Tänze die Caesarius- Btellen bei Arnold S. 177 Arnn. 584, vgl. zu Isidor oben S. 122 Anm. 1. Zu der Stelle über Amulette vgl. außer dem von Bouifatius selbst zitierten H. 278 (o. S. 127 Anm. 2) die von Arnold S. 177 Anm. 583 gesammelten Stel- len: Caesarius sagt öfter phylacteria und characteres, Eligius 1. c. hat ligamina. Vgl. auch Böse S. 69 71. Übersehen ist die wichtigste Stelle de« Caesarius, die auch in die Predigten übergegangene Homilia übt populus iidmomtur, Caspari Kirchenhist. Änecd. I 222 FiJactiria diaboUca, caracteres, suctJios et herbas nolite vobis et vestris adpendere. S. a. Schm. II 307 und die Bußbücher.

S. 122 132; Stellen S. 128 Anm 1. Herbert Mischkowski Die heiligen Tische im Götterkultus der Griechen u. Römer (Königsberger Diss. 1917) übergeht in der Übersicht über die b. Tische im römischen Kult S. 31 f. die des .lanus.

' S. 124.

über Kalendae lanuariae und Martiae im Mittelalter 129

feier trennen, das wir doch nur in einer Gestalt kennen, die durch die verflachende städtische Kultur ihres wahren Wesens entkleidet ist? Wir wissen doch wirklich nicht genug von den römischen Kaienden, um gerade für deren privatsakrale Feier sehr apodiktische Feststellungen zu machen. Ist nun das Fest- mahl, wie stets, der Rest eines Opfers, so dürfen wir metho- disch die Möglichkeit nicht leugnen, daß der romanische Volks- brauch der Spätzeit uns den Ritus der Kaiendenfeier in ur- sprünglicherer Gestalt bewahrt hat wie die städtische Kultur. Nur müssen wir hei Caesarius als einziger sicherer Quelle zu- nächst mit keltischer Sondersitte . rechnen. Vorläufig ergibt sich uns aus dem Bonifatiusbrief, daß der Apostel der Deut- schen bei der Ausmalung der ihm nur aus mündlicher Mittei- lung ungebildeter, einfacher Leute bekannt gewordenen Kalen- denfeier zu Rom dem Caesarius die charakteristischen Farben eatlehnt. Daß ihm die Tatsachen selbst auch nur aus diesem bekannt geworden seien, muß uns an sich unmöglich erschei- nen und wird es vollends, wenn wir die durch ein besonderes Glück der Überlieferung erhaltene Antwort des Papstes Zacha- rias danebenhalten. Dieser macht keinen Versuch, das römische Volk gegen die Vorwürfe zu verteidigen; nur sich selbst will er reinwaschen: vom ersten Tage seines Pontifikats ab habe er all diese Unsitten beseitigt und sei dabei dem Beispiel seines Vorgängers Gregors III. gefolgt.^ Die prompte Entschuldigung klingt etwas schuldbewußt; doch daß bereits Gregor, aber auch Zacharias I. schon vor dem Empfang der Mahnung, ilico, gegen

' JEp. Bon. p. 90 sq. nr. 51 Tangl: De Kalendis vero lanuariis vel ceteris auguriis, filacteriis et incantationibus vel aliis diversis observationi- hus, que gentili more observari dixisti apud b. Petrum apostolum vel in urbe Borna . . . ; er zitiert Levit. 19, 26. Num. 23, 23. Ita et nobis ca- vendum esse censemus . . . Et quia per instigatione didboU iteruin pullu- labant, a die, qua nos tussit divina dementia . . . apostoli vicem gerere, ilico omnia haec amputavimus . . . Nam et sanctae recordatiotiis prae- deeessoj'is atque nutritoris nostri domtii Gregorii pape constitutione omnia haec pie atque fideliter amputata sunt . . . Cuius instai- pro illius popuU Salute dirigere maturammus.

Archiv f. KeligionswissenBcliaft XX 9

130 Ke>lor Schneider

den Kaleudcnuufu^ eingeschritten seien, ist wohl keine leere Ausrt'de: nicht von Gregor III. freilich, sondern von dessen Vorgänger Gregor II. besitzen wir eine Instruktion für Legaten nach Bayern, die neben Wahrsagerei auch die Kaiendenfeier bekämpfen sollen, die man doch sicher nicht als besondere germanische Ketzerei, sondern zu Hause kannte.' Zacharias ging weiter: er hielt die Kalemlac Immariae für wichtig ge- nug, um noch im Jahre 743, dem sein Schreiben angehört, auf einer römischen Synode einen Kanon gegen sie zu erlassen *, und wenn er dabei im ganzen den Wortlaut des Bonifati us- briefes benutzt, so wird dieser eben das, was vorkam, sachlich zutrefiFend geschildert haben; denn selbständige Zusätze, wie die Brumae, verbieten es, die Quelle ihres tatsächlichen Inhalts zu entkleiden und nur als literarisch abhängig zu werten. Hier hebt der Papst als bestimmte Züge der Kalendae et Brumae die sedeckten Tische und das Volkstreiben außer dem Hause mit Gesang und Tanz hervor.

Was ist nun aus diesem Quellenkomplex für den Volks- brauch zu Rom zu erschließen, was ist von Caesarius abhängig? Davon, daß die Gegenstände, die man nicht ausleiht, besonders fcrramcnta sind, sagt dieser nichts; daß gerade an Neujahr Amulette nicht nur getragen, nein, besonders auch feilgeboten

' Die constitutio (iregors III. ist jedenfalls nicht erhalten, doch hat Gregor II. auf dem Konzil von 721 c. 12, Mansi XII 264 das Anathem ver- hängt, st qtiis hariolos, aruspices, incautatores observarerit aut phylacteriis usus fuerit, woran man immerhin erinnern kann; vgl. seine MisBJons- ingtruktion für Hayern 716 Mai 15, Jatfe-Kwald Reg. pont. nr. 2153, ed. Migne LXXXIX col. 634 c. 8 gegen somnia und augtirin ; c. 9 C/< incantationes et faslidiationes (doch wohl richtige LA.) sive diversae Observationen dierum Kalendarum, quas error tradidit pngannrum, prohibeantur, sicut maleficia et magoritm prestigia seu climn sortileyiinu ne divinuntium observuiio ecsecrandd. Zu den Synoden vgl. Helm I 87.

' Zachnriae Conc. liom. n. 743 c. 9 Mon. Germ. Couc. II 1 p. sq. ut ntälus Kaiendns lanuarias et Bromas ritu paganorum colcre praesum- pserit aut men.ias cum dapibus in domibus pracparare et per ricos et per plateas cantationcs et chnros ducere, quod mnxima iniquitas est coratn Deo; davon existiert auch eine kürzere Fasi-imfr

über Kalendae lanuariae und Martiae im Mittelalter 131

werden, konnte ebensowenig aus ihm entnommen werden, und schließlich nennt Bonifatius genau den Schauplatz und Zacharias bestätigt seine Angabe: besonders auf Piazza S. Pietro fand das Kaiendenfest damals statt. Zacharias fügt als Einzel- zug die Verbindung der Kalendae mit den JBmmae hinzu: wir sahen, diese sind für Italien und den Osten charakteristisch. Die Interpretation der Stelle ergibt also, daß Bonifatius mit einer hier durchaus angebrachten Gelehrsamkeit der gewiß un- gewandten Schilderung seiner Bayern und Franken Farben aus Caesarius leiht, daß aber das Ganze und seine meisten Einzel- heiten von Gregor II. und Zacharias beglaubigt werden. Man kannte in Rom um 743 die Neujahrssitte des mensas dapibus onerare. Sie ist keineswegs germanisch. Bisher mußte die Frage offen bleiben, ob sie ein sehr ursprünglicher, in unserer literarischen Überlieferung bereits verwässerter sakraler Brauch der Römer, oder ob sie keltisch sei. Übertragung von den Kelten auf Rom ist nicht denkbar: die Seelentische sind guter alter römischer Bauernbrauch.

Zwei Jahrhunderte später bestätigt uns Bischof Atto von Ver- celli (f 961)^ unseren Schluß und zeigt das Weiterbestehen jener Riten. Dieser für seine Zeit hochgelehrte und scharfsinnio-e Lombarde, der in einer um 925 gehaltenen Neujahrs- oder vielmehr Silvesterpredigt- und in seiner kanonistischen Samm-

* Vgl. Julius Schultz Ätto v. VercelH (Göttinger Diss. 1885). Bünger S. 17f. über seine Gelehrsamkeit bes. Götz Über Dunkel- u. Geheim- sprachen im späteren und mittelalterlichen Latein, Ber. d. Sachs. Ges. d. Wiss. zu Leipzig 1896 S. 75—78. Fulgentius herausgeg. v. Lersch (1844^ S. 90—95. Wattenbach DGQ. I' 351. 481 Anm. 3. Gerh. Schwartz Die Besetzung der Bistümer Reichsitaliens 951 1122 (1913) S. 134—136.

" Se'rmo III in festo octavae domini, Migne CXXXIV col. 835 Rune diem semper Kalendas lanuarias . . . celebramus. Sed nobis hoc tacere non convenit, qiiod qiudam falsi Christiani tanti diei solemnitatem sacri- lega commistione perturbant, ita ut divina officia in ecclesiis videantur celebrare et variis maleficiis domi non desinant inservdre. Insuper lania- nas traditiones gentiliumque ritus non metuunt observare; qui etiam adeo a se charitatis gratiam expellunt, ut neminem suam domum eodem die in- gredi velint, nisi qui cumulattis oblaiionibus advenerii; aliquem autem

9*

132 Fedor Schneider

lung' die Kaienden bekämpft, läßt nicht ohne das Selbstgefühl seiner Zeitgenossen Gunzo von Novara und Liutpraud von Cre- mona seine Gelehrsamkeit leuchten, die er wohl der Mailänder Domschule verdankt.- Reiches Material über antike Religion und Astrologie hat er zu seinem Thema gesammelt, aber nur zur Erklärung; er ist viel zu wenig typisch mittelalterlicher Mensch, um die üblichen Gedankenreihen zu reproduzieren mit dem Anspruch, ein Gegenwartsbild zu bieten. Er beobachtet

hospitio se susdpcrc ahnegant et nihil penitus de sua domo dare aiit com- modare desiderant. Im Anschluß daran kommt er, wie wir sehen werden, auf die Mürzkalendeu zu sprechen, dann gibt er eine ebenfalls in anderem Zusammenhang zu würdigende euhemeristische Erklärung von Mars und lanus; deren Kaienden hätten die Alten gefeiert. Qui error in tantum frequentando crevit, ut pene ab omnibus coleretnr suhverais; et inde existi- mo, quod hodieque dural in i~nsticis. Auch in den nun folgenden, teilweis»' sehr gelehrten Ausfühi-ungen über Monatsnamen, Tierkreis, Sternbilder weiß der seltene Manu klar zu scheiden, waa er aus Hüchern und was, er aus dem Leben erfahren hat.

' Copitulare § 79 1. c. col. 43: Ut nulliis Kalendas lanuarii et Bntmas ritu pngnnorxm colere jn-aemmat ; si quin Kalendas lanuarii et Bnnnas colere pracsympserit ant mcni^as cum lampadibus in domibus praejmrare, avt per ricos et plateas cantionea et rhoroti ducere 2iraesum- pserit, quod magna itiiquita^ est coram JJeo, anathema sit. Die Quellen- angabe ist nach der bei Migne col. 25 sq. ahgednickten Praefatio von D' Achery Zusatz der Editoren. Nürnberger Neues Archiv d. Ges. f. ölt. d. Geschichtsk. XIII 312 dnirkt aus der kanoni.'ftischen .Sammlung des Cod. Vat. Lal. l.!64 t«. XIII <*in Stück, Cl-a» er fiir die äll^-re, im Konzil von 743 etwas abgeänderte Verordnung des Zacharias hält: Zncharias )>npa. Si quis Calendas lanuarii Htu paganornm colere rel aliquid plus iiori faore proptfr no\nim annum nut mevsu.<< cum lampadibus et epidis in domibus suis prneparare et prr r^co.^ et plateas cantutiones ri choros ducere jnaesumpserit, annUiemn si{. Der Herausgeber kennt flas Quellen- Verhältnis nicht; daß die LA. lampadibus statt dapibus auch bei Atto steht, ist für die Kritik dieser Überlieferung nicht beachtet worden; und zwar steht sie wohl schon in Atto» Vorlage, s. u. Nicht erschöpfend Hadermarher S. 92 Anm. 1.

' Er ging aus den Mailänder ordinarii (adligen I)omhen-en) hervor. Mailand hatte im XI. Jh. mehrere Schulen am Dom, darunter zwei Philo- Hophenschulen. Sein typischer Vertreter war Anselm von Bisate, der in der Bhetorimachia ein interessantes Beispiel seiner an Cicero geschulten philosophisch-rhetorischen Manier bietet.

über Kalendae lanuariae and Martiae im Mittelalter 233

und scheidet, was er weiß, scharf von dem, was er sieht.^ Er sieht maleficia, die den christlichen Festbrauch des Neujahrs- tages sacrilega commistione stören: also Paganien. ^ Daneben bezeichnet Atto anderes als Janusbräuehe und heidnische Ri- ten; was er darunter versteht, erfahren wir hier nicht. Aber eine recht ursprünglich anmutende Form der strenae lernen wir kennen: nur wer cumulatus dblationihus kommt (um Glück zu wünschen, ist offenbar zu ergänzen), darf das Haus betreten. An bekannte literarische Vorbilder klingt allein an, daß niemand etwas aus dem Hause geben oder ausleihen darf von Feuer ist nicht die Rede, und die hinzugefügte Weigerung der Leute, jemand zu beherbergen, die nur hier auftritt, ist nicht litera- risch zu erklären.^ So zeigt uns Attos Zeugnis, das im gan- zen weder formell noch sachlich auf bekannte Quellen zurück- geht, das Fortleben der Januarkaienden in Italien zu seiner Zeit, und wir werden ihn nicht verdächtigen, er krame, wo er Tatsachen zu berichten vorgibt, gelehrte Erinnerungen aus.*

* Vgl. Schultz S. 51 f. zu 46; dieser bestimmt das Datum der Predigt auf etwa 925. Albert Dresdner Kultur- u. Sittengesch. d. itdl. Geistlich- heit im 10. u. 11. Jli. (1890) S. 264 schließt aus lanianas traditiones in Verkennung von Attos gelehrter Phraseologie, der Dienst des lanua sei noch nicht ganz ausgestorben gewesen. Mit gleichem Recht könnte man das noch heute behaupten.

^ Für die technische Bedeutung von sacrilegiutn = Paganie genügt der Hinweis auf die Etimelia de sacrüegia \im\ die Gruppe der karolin- gischen Musterpredigt.

* Atto kennt weder die Caesafiuspredigten und die von ihnen ab- hiingige Reihe, noch insbesondere den Briefwechsel zwischen Bonifatius und Zacharias; im Kanon der römischen Synode von 743, der ihm be- kannt ist (s. u.), fehlen gerade die Ausleiheaugurien. Immerhin kann ich mich schwer entschließen, in der Übereinstimmung von Caesarius de domo sua und Atto de sua domo an der Stelle vom Ausleihen einen Zufall zu sehen.

' Um so mehr, als er die Predigt für sachlich wichtig genug hielt, sie in seinem Bistum herumzusenden; das Begleitschreiben emictis fideli- bus in nostra parochia (= Diözese) constitutis ist erhalten: Attonis ep. 2, Migne CXXXIV col. 104 Niiper in vigilia octavae domini quemdam sermonem his qui praesentes erant deo donante retulimus, quem vohin dirigere neces-

134 F- Schneider: (^ber Kalendae larmariae und Martine im Mittelalter

Vielleicht darf man aus einer anderen Schrift Attos ergänzen, was er unter den Janusbräuchen meint, von denen er nichts Näheres sagt; in seine kanonistische Sammlung nahm er den römischen Konzilskanon von 743 auf. Nun sammelte er zwar * nicht nur solche Satzungen, die noch von praktischem Wert waren; aber gerade seine Zusätze sind bereits mit Recht auf wirklich bestehende heidnische Bräuche bezogen worden^, und eine kleine, aber wichtige Textänderung wird die Rück- sicht auf eine in Italien herrschende Festsitte zur Ursache haben, wenn sie auch wahrscheinlich schon in Attos Vorlage stand: statt der Tische mit Speisen ((hipihiis) verbietet er solche mit Lampen (lawpadihus) aufzustellen.^ Wie der Laubschmuck, war die Illumination allen antiken Festen eigen, also auch den Kalenden^; aber die Lichter auf den Tisclien, die wir hier finden, sind etwas Neues, das sehr wirksam für die Geschichte des Weihnachtsbrauches wurde; unser Christbaum ist ja am letzten Ende eine Vereinigung zweier ursprünglich getrennter Kalendensacra, der laurns Martins von Braga und der Inmpadcs des Atto von Vercelli. (Schluß folgt.)

sarium aestiuiainus. Heu! quia sunt mitlti in vestn's partihus, qui divina servitia contcmvunt et auguria rel codi sigva seil vanas praecavtationes intendunt (folfjen nur noch Bibolzitate, darunter auch Gal. 4, 9 11).

* Schultz S. 44 f., wo aber, wie bei Dresdner S. 264 Arno. 2, nicht er- kannt ist, daß c. 79 auf den Kanon von 743 zurückgeht. § 48 über Beten an Bäumen und Quellen gehört in die Caesariustradition, b. S. 133 Anm. 3. Daß Atto die Capituln Martini Brncarensis (o. S. 116 Anin. 2) kannte und im Capilulare zitierte, Bei bemerkt, weil Schultz 8. 68 mit den von Atto im 8. Briefe erwähnten „100 Kapiteln der orientalischen Kirche" nichts anfangen konnte; übrigens hatte Atto sie aus Ps. Isidor (s. Schultz S. 67: „unzählig oft benutzt").

' Wenn bloße Verlesung vorläge, wäre gerade dieser Text nicht im kanonischen Recht zur unbedingten Vorherrschaft gelangt. Freilich dürfte Atto einer älteren Vorlage folgen; Burchard zitiert den Kanon nicht aus Atto, sondern aus Zachariaa, doch in der auch bei Atto vorliegenden Umarbeitung, wie auch in der S. 132 Anm. l angeführten, von Burchard unabhängigen Sammlung.

' NiläHon S. 62f. Nichts Neues bei Bilünger 11 62-67.

II Berichte

1 Griediische nnd römische Religion 1911—1914

Von Lud"wig Deubner in Freiburg i. B.

Man erwartet vielleicht, daß dieser durch den Krieg ver- zögerte Bericht nunmehr gleich bis auf das Jahr 1920 aus- gedehnt werde. Dies geschieht deswegen nicht, weil ich vom Jahre 1915 ab nur noch die römische Religion bespreche: die griechische übernimmt dann 0. Weinreich. Für die bei der Auswahl der vorgeführten Literatur maßgebenden Grundsätze kann ich im wesentlichen auf die Bemerkungen Wünschs Archiv XIV 1911 S. 517 verweisen.

Die von Wünsch a. a. 0. 517 f. ausgesprochene Hoffnung auf eine vollständige volkskundlicbe Bibliographie ist für das Jahr 1911 annähernd in Erfüllung gegangen. Die frühere Zeit- schriftenschaü der Hessischen Vereinigung für Volkskunde, in die jetzt auch selbständige Werke einbezogen sind, ist unter Leitung von A. Abt in neuer Form wiedererschienen.^ Das Material wird in einen einleitenden und einen Hauptteil ge- gliedert; der erste enthält die Unterabteilungen: Bibliographie der Volkskunde, Geschichte der Volkskunde und Methode der Volks- kunde, der zweite zerfä'lt in die Unterabteilungen: Darstellungen allgemeinen Inhalts und Einzeldarstellungen. Jeder dieser beiden Teile ist wiederum in besondere Abschnitte zerlegt; der zweite enthält die Abschnitte: Wohnweise, Nahrung, Körperpflege und Kleidung, Sitte und Brauch, Volksglauben, Volksdichtung und

' Die volkskundliche Literatur des Jahres 1911, ein Wegweiser im Auf- trage der Hessischen Vereinigung für Volkskunde und mit Unterstützung der dem Verband deutscher Vereine für Volkskunde angehörenden Ver- eine heransgeg. v. A. Abt, Leipzig u. Berlin 1913 (134 S.).

136 Ludwig Deubner

Mundart, die ihrerseits auch wieder mannigfache Unterabschnitte aufweisen. Zuweilen wird dem Titel der betreflFeuden Arbeit ein kurzer Hinweis auf den Inhalt zugefügt. Am Schluß des Bandes st'hen Verzeichnisse der Abkürzungen der Zeitschriften- bezeichnungen, der Verfasser sowie der Orts- und Völkernamen. Es ist sehr zu bedauern, daß dieses auch für den Philologen wichtige bibliographische Hilfsmittel infolge der Ungunst der Verhältnisse bisher nicht hat fortgesetzt werden können, Einen Bericht über einige neuere Arbeiten auf dem Gebiete der grie- chischen und römischen Religion bringt V. Beitran im Rahmen eines Berichtes über die gesamte Religionswissenschaft.^

An literarischem Quelleumaterial ist vielerlei neu her- gerichtet, manches neu herausgegeben worden. Eine Samm- lung der Fragmente der griechischen Kultschriftsteller hat A. Tresp veranstaltet^ und dabei das in den Fragm. hist. graec. vorliegende Material vervollständigt und um 38 Nummern ver- mehrt. Auf die Fragmente der attischen Kultschriftsteller folgen die der nichtattischen und schließlich die Fragmente ohne lokale Beziehung. Die Texte sind nach den maßgebenden kritischen Ausgaben revidiert, die Parallelstellen werden verzeichnet, zu den Autorennamen, den Büchertiteln und dem Sachinhalt der Fragmente wird das Nötigste angemerkt und auf die einschlägic^e Literatur verwiesen. Die Einleitung gibt eine Übersicht über die Ausbreitung und Entwicklung der griechischen Sakralliteratur und berührt auch die Frage ihrer Quellen sowie ihrer Benutzung bei späteren Schriftstellern und Lexikographen. Ein Register der Fundorte der Fragmente, ein Verzeichnis der Kultschrift- steller und ein Sachindex schließen die Arbeit ab, die als ein Hilfe- und Nachschlagebuch nicht ohne Nutzen sein wird. Für das Studium der hesiodeischen Theogonie bietet der

' A. Colunga u. V. BeltrÜD Boletin de ciencia de las religiones, Aub- tug aus Biblioteca de 'La ciencia tomista' XV. XVII. XX., Madrid 1918.

' Die Fragmente der griechischen Kultschriftsteller gesammelt v. A.Treep, Rel.-Geach. Vers. u. Vorarb. XV l, Gießen 1914.

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Griechische und römische Religion 1911—1914 137

kurze Kommentar, den W. Aly seiner Ausgabe^ beigegeben hat, ein dankenswertes Hilfsmittel. Die Voßsche Übersetzung von Hesiods Dichtungen hat B.Kern von Hartmann neu herausgegeben.* Vorausgeschickt ist eine gut orientierende, durch ihre selbständige Einfühlung anziehende Einleitung über Hesiod und seinen Nach- laß. W. A bernetty kom mentiert Plutarchs Schrift de superstitione und führt sie auf Bion als Quelle zurück.^ Einem dringenden Bedürfnis ist J. Garstang entgegengekommen, indem er den (ins Englische übersetzten) Text von Lucians Dea Syria mit reichen sachlichen Anmerkungen herausgab.* In der vorausgehenden Ein- leitung wird der Kult von Hierapolis einleuchtend auf hetti- tischen Ursprung zurückgeführt und eine kurze, durch Abbildung einschlägiger Monumente belebte Skizze der hettitischen Religion gegeben. Garstang ist als Kenner der hettitischen Kultur be- kannt: so lag die Sache bei ihm in besonders guten Händen. M. Wellmann verdanken wir eine Ausgäbe des Buches des Philumenos über Vergiftungen durch den Biß von Tieren und deren Heilung.^ Das von Philostratos verfaßte Leben des Apollonios von Tyana hat J. S. Phillimore ins Englische übersetzt.^ Die wertvolle, durch ihren Witz ergötzende Ein- leitung betrifft hauptsächlich die literarhistorischen Fragen. Von

* Hesiods Theogonie mit Einleitung und kurzem Kommentar ver- sehen V. W. Aly, Kornmentierte griech. u. lat. Texte, herausgeg. v. J. Geffeken, Heft 2, Heidelberg 1913.

^ Hesiods Werke übers, v. J. H. Voß, neu herausgeg. durch Bertha Kern von Hartmann, Tübingen 1911.

* Gualt. Abernetty De Plutarchi qui fertur de superstitione libello, Dias. Königsberg 1911.

* The Syrian Goddess heing a Translation of Lucian's 'De dea Syria', with a Life of Lucian iy Prof. Herbert A. Strong, edited with Notes and an Introduction by J. Garstang, London 1913.

° Philumeni de venenatis animalibus eorumque remediis ex codiee Vaticano primum ed. M. Wellmann {Corp. medic. graec. X 1, 1), Leipzig u. Berlin 1908 (nachträgliche Erwähnung).

® Philostratus in Honour of Apollonius of Tyana translated by J. S. Phillimore, 2 Bände, Oxford 1912.

138 Ludwig Deubner

der Forst ersehen Lib an ios ausgäbe erschienen Band VI und VII. ^ Im sechsten verdient die 22. Deklamation, eine Rede des Demo- stheues über den Altar des Eleos, Beachtung. Im siebenten die 41., der eine Orakelangelegenheit zugrunde liegt. Die Aber- kiosvita samt den Metaphrasen des zuerst von Boissonade veröfl'entlichten Anonymus und des Symeon hat Th. Nissen ediert*, die Psalmenmetaphrase des Apolinarios von Laodikeia A. Ludwich.^ Diese beiden Texte führen uns schon auf christ- liches Gebiet.

Ein Stück des Pariser Zauberpapyrus (2441—2705) hat R. Wünsch mit gewohnter Sorgfalt und Sachkenntnis kritisch herausgegeben und erläutert.* Drei diesem selbeu Papyrus ein- gelegte Hymnen erklärt B. Küster.^ Das erste Heft der papyri landanae, die unter Kalbfleischs Leitung von seinen Schülern herausgegeben werden^, enthält einige von E. Schaefer bearbei- tete Stücke, darunter ein Amulett, in dem eine Verwirrung des Wortlauts darlurch entstanden ist, daß ein in sechs kurzen Kolum- nen aufgesetzter Text (1. ein neutestamentlicher Cento, 2. ein Exorkismos des 'Salomo') durchlaufend abgeschrieben wurde.

Die Kenntnis des Kultes der Atliena Lindia wird erweitert durch die von Blinkenberg veröflFentlichte inschriftliche Tempelchronik', die ein Verzeichnis der Weihgeschenke und

' lAbanii opera rec. R. Foerster VI, VII, Leipzig 1?11. 1913.

* S. Abercii vita ed. Th. KiHsen, Leipzig 1912. Vgl. Crünert DLZ 1918, 9-,i4f.

' Apolinarii vielaphrasis psnhnorum rec. A. Ludwich, Leipzig 1912.

* R. WiiuBch Atis einem griech. Zauber pnpyrus, Lietzmanns Kl. Texte 84, Bonn 1911.

* B. Küster De tribus carminibus papyri magicae Parisinae, Dies. König.sberg 1911.

* l'apyri Jandanae, cum discijtuHs edidit C. Kalbfleisch, fasc. I: Vo- luminum codicumrju/; fragmenta graeca cum ajtiuleto christiano ed. E. Schaefer, Leipzig 1912.

' Chr. Blinkenberg La chronique <lu templc lAtidien, Bull.deVAcad. Ron- de Danemark 1912, Nr. 6—6. Vgl. dazu Holleaux jRci>. deset. gr XXVI 191.'>, 40ff.; Gregoire Wochenschr. f. khifis J'hilol. 1913, 1299f; Pfister ebd. 1914, 17.0 £F. [Kb Bei gestattet, im Anschluß hierao gleich die in der nächsten Be-

Griechische und römische Religion 1911 191-t 139

ihrer Stifter von den mythischen Zeiten an, sowie eine Auf- zählung der Traumepiphanien der Göttin und der damit ver- bundenen Ereignisse enthält. Ihr Wert liegt nicht zum wenigsten darin, daß zahlreiche Belege aus der damals (Anfang des 1, Jahrh. V. Chr.) vorhandenen lokalhistorischen Literatur angeführt werden, die einen überraschenden Einblick in den großen Um- fang dieser Literatur gewähren. Wünschs Auswahl antiker Fluchtafeln ist in zweiter Auflage erschienen.^

Das 2. Hefe der Plasbergschen Cicero ausgäbe enthält die Schrift de natura deorum} Das Argonautengedicht des Valerius Flaccus ist von 0. Kramer neu herausgegeben worden^, Apu- leius' Apologie in zweiter Auflage von R. Helm'*, Festus' für die römische Religion so außerordentlich wichtiges Lexikon von W. M. Lindsay^, die für den Kaiserkalt manchen Aufschluß gebenden panegi/rici latini von W. Baehrens.^ Mit Freuden ist zu begrüßen, daß nunmehr auch der zweite Band der von

richtsperiode erschienene editio minor anzuzeigen : Die Lindische Tevipel- chronik, neu bearbeitet von Chr. Blinkenberg (in Lietzmanns Kl. Texte Heft 131, Bonn 1915, Marens u. Weber. Die Inschrift ist neu verglichen, die bis dahin erschienene Literatur verarbeitet, das Material auch für die son- stige Hinterlassenschaft des Timachidas beigegeben, alles mit gewohnter Sorgfalt und Sauberkeit. Hinzu kam seitdem Keils Aufsatz Hermes LI 19t6 S. 49lff., Rostowzew Klio XVI 1919 S. 203flF. (ini(pdvBiai), H. G. Broecker De Timachida scriptore lihodio, Dies. Berlin 1919. Religiona- gescuichtlich wichtig ist, daß das von Wünsch (dieses Ai-chiv XVI 1913^ 634) u. a. vorgeschlagene i.ov[tQ]oTg jetzt als gesichert gelten kann; die ganze Stelle über die Selbstmordentsühnnng des Athenatempels versuche ich im Hermes 1921 zu erklären (,, Blutgerichte iv vncci&Qof'). Weinreich.] ' Antike Fluchtafeln, herausgeg. u. erklärt v. R. Wünsch, 2. Aufl. Lietzmanns Kl. Texte 20, Bonn 1912.

* M. Tulli Ciceronis Paradoxa Stoicorum etc. ed. 0. Piasberg, fasc. 11, Leipzig 1911.

^ C. Valerii Flacci Argonauticon lihri octo ed. 0. Kramer, Leipzig 1913.

* ApuJei pro se de magia Über (apologia). Herum ed. R. Helm, Leipzig 1912.

^ Sexti Pompei Festi de verborum significatu quae supersunt cum Pauli epitome Thewrewkißnis copiis usus ed. W. M. Lindsay, Leipzig 1913,

® XII panegyrici latini, post Aemilium Baehrensium Herum rec. Guilielmus Baehrens, Leipzig 1911.

140 Ludwig Deubner

Kroll und Skutsch besorgten Ausgabe des astrologieclien Werkes des Firmicus Maternus erschienen ist^; er enthält Praefatio und Indices. Die in den Zusätzen zu den Schriften des archiater Theodorus Priscianus begegnenden Zauberformeln, Amulette und sonstigen volksmedizinischen Rezepte werden von .1. Fahney in einer nützlichen Arbeit^ gesammelt und erklärt. Mythologischen Inhalt haben zum Teil die von Vollmer neu edierten Gedichte des Dracontius.' Der auch für die Kennt- nis der antiken Religion bedeutsame apologetische Dialog des Minucius Felix liegt in zwei neuen, von Waltzing* und A. Schoene^ besorgten Ausgaben vor. Eine kritische Be- handlung zweier spätlateinischer Gebete an die Mutter Erde und 'Alle Kräuter' hat E. Norden gegeben®.

Sehr geeignet für Vorlesungen über Römische Religion ist die von Fr. Richter veranstaltete Auslese lateinischer Sakral- inschriften.' Die aufgenommenen Stücke enthalten zum größten Teil Weihungen an römische und nichtrömische Götter (Kap. II V), voran gehen (Kap. I) leges sacrae, Kalenderproben und Dokumente von Sodalitäten und Priestern.

In E.Lehmanns nützlichem Urkunden bände hat K. Zieg- ler die griechischen und römischen Texte ausgewählt und

' Julii Firmici Matcrni Matheseos libri VJIl edd. W. Kroll et F. Skutsch in operis societatcm assumplo K. Ziegler, fasc. II, Leipzig 1913.

" J. Fahney JJe I'seudo-rhiodori addüamcntis, Diss. Münster 1913.

^ Poelae Jatini minores, post Aimilium J!tiehrens itcrum rec. Fr. Voll- mer, vol. V, Leipzig 1914.

* M. Minucii Felicis Octaüius rec. I. P. Waltzing, Leipzig 1912.

' M. Minucii Felicis Octavius herausgeg. v. Dr. Alfred Schoene, Leip- zig 1918. Ich erwähne hier kurz die Arbeit von F. Feßler Benutzung der philosophischen Schriften Ciceros durch Lactanz, Leipzig u. Berlin 1913, deren Inhalt im Titel ausgedrückt ist. Dazu vgl. W. Harloff Wochenschr. f. khtss. Philol. 1914, 40 f.

* E. Norden Über zwei spätlatcinische precationes, Festschrift zur Jahrhundertfeier der Univ. zu Breslau, herausgeg. v. Th. Siebs, Breslau 1911, 517ff.

' Lateinische Sakralinschriften, ausgewählt v. Fr. Richter, Lietzmanng Kl. Texte 68, Bonn 1911.

Griechische und römische Religion 1911 1914 141

übersetzt.^ Im literarischen griechischen Abschnitt yermißt man hellenistisches Material, z. B. Kallimachos, Kleanthes: nach Aristo- phanes stehen hier nur noch zwei orphische Hymnen. Die in- schriftlichen Texte sind den literarischen gegenüber vielleicht etwas zu kurz gekommen, es fehlen so wichtige Stücke wie die Labyaden- und lobakchen-lnschrift; nachchristliche Inschriften sind fast gar nicht herangezogen. Auch auf dem römischen Gebiet ist noch manche Lücke vorhanden. Ich vermisse z. B. Stücke wie die Inschrift von Furfo und das Haingesetz von Spoleto; Auguralwesen, Privat- und Kaiserkult verdienen mehr Berücksichtigung, die Epitome des Festus kann stärker aus- genutzt werden. Man hat freilich dem Umstände Rechnung zu tragen, daß der Verfasser die Arbeit im letzten Augenblicke, statt des ursprünglichen Mitarbeiters, übernahm. Daraus erklärt sich dieser und jener Mangel, der bei einer neuen Auflage zweifellos ausgeglichen werden wird. Eine praktische Zu- sammenstellung griechischer und lateinischer Wundertexte liefert P. Fiebig.' Einige antike Geister- und Gespenster- creschichten teilt P. Wendland in Übersetzung mit.^

Eine Anzahl Arbeiten literarhistorischen Charakters sei hier gleich angereiht. Hedens Homerische Götterstudien* versuchen zu einem Teil die von Cauer bezeichnete Aufgabe zu lösen, Murch Vergleichung der Art, wie da und dort die Götter wirkend gedacht sind, ein neues Merkmal zu gewinnen, nach dem die Schichtungen des Epos geschieden und abgestuft werden können'. In diesem Sinne behandelt der Verfasser 1. Zeus und die allgemeinen Bezeichnungen göttlicher Macht: dsoC, dsög^ öaCfioav] 2. die Gestalten des Seelenglaubens: Keren, Harpyien

* Textbuch zur Religionsgeschichte, herausgeg. v. E. Lehmann, Leip- zig 1912, 297 ff.

* Antike Wundergeschichten zum Studium der Wunder des Neuen Testa- ments zusammengestellt v. P. Fiebig, Lietzmanns Kl. Texte 79, Bonn 1911.

' P. Wendland Antike Geister- und Gespenstergeschichten, Festschrift für Breslau (a. o. S. 140 A. 6) 33 ff.

* E. Heden Homerische Götter Studien, Uppsala 1912.

142 Ludwig Denbner

und Erinyen; 3. das Schicksal und sein Verhältnis zu den Göttern. Nun gelingt es zwar, eine allmähliche Verschiebung der Vorstellungen festzustelleUj und es soll auch anerkannt werden, daß die Ausführungen des Verfassers in manchem Punkte klären und fördern, aber sichere Kriterien für die Unterscheidunor von Schichten werden sich auf diesem Wesje deswegen schwerlich gewinnen lassen, weil relativ junge Ent- wicklungsphasen unter Umständen schon den ältesten »Schichten angehören können und statistische Aufstellungen über die rela- tive Häufigkeit bestimmter Vorstellungen keineswegs eindeutig sind; der Verfasser selbst hat keine Probe auf das Exempel gegeben. Ein starkes Bedenken möchte ich auch gegen das Prinzip geltend machen, daß die direkten Reden im Homer für den Volksglauben verwertet werden könnten, während die er- zählenden Partien die freiere Auffassung des Dichters wider- spiegelten, um so mehr, als der Verfasser selbst S. 18 f. zugibt, daß eine strenge Grenze nicht zu ziehen ist. Beachtenswert ist die Gleichsetzung der Phineuskinder mit den lIarpyien(S. 127). Auf ähnlichen Wegen wie Heden versucht sich T. Rei/bstein. Er bemüht sich nachzuweisen, daß diejenigen Partien der Ilias, in denen sich die Götter unter Menschen mischen, spätere Zu- sätze sind. Aufschlußreich für die Nachwirkung posidoni- scher Lehre, insbesondere des Timaioskommentars, bei Basileios und Gregor von Nyssa, sind die weit ausgreifenden Quellen- untersuchungen von K. Gronau.- Hier mögen speziell die Abschnitte über Seelenlehre und Eschatologie erwähnt werden (163ff). B. Schmidt handelt eingehend, zum Teil in Aus- einandersetzung mit K. Reinhardt T>e Oraecornm tlieologia, über Autorschaft, Charakter und Quellen des theologischen Compendiums des Cornutus. Er kommt zum Resultat, daß

» T. Ileihntein De dein in Uiudc inter homines apparentifnis. Dies, Leipzig 1911.

* K. Gronau Poseidonios und die jüdisch-christliche Genesisexegese, Leipzig and Berlin 1914.

Griechische nnd römische Religion 1911 1914 143

Cornutas selbst das Büchlein, wie es vorliegt, für einen Schüler verfaßt hat,^ M. Hauck will das Corpus der orphischen Hymnen in das Eade des 5. Jahrh. n. Chr. setzen.^ Die Be- weismittel: Entlehnungen aus Nonnos und Proklos, sowie zahl- reiche spätgriechische Wörter, sind trügerisch.^ Die Über- einstimmungen mit den genannten Dichtern sind keineswegs von der Art, daß sich eine Abhängigkeit mit Sicherheit ergäbe; die Möglichkeit gemeinsamer Vorlagen wird überhaupt nicht in Erwägung gezogen*. Der Wortschatz aber gewährt nur ganz allgemeine Eindrücke und gestattet keine genauere Fixierung. Nichtsdestoweniger werden die gesammelten Materialien für alle, die sich mit der Sprache der Hymnen abgeben, ihren Wert behalten. Eine lateinische Schrift des 4. Jahrh. n. Chr., die in den Text Vergils neuplatonische Gedanken hinein inter- pretierte, hat Fr. Bitsch erschlossen.*

Den unschätzbaren Wert der Denkmäler für die Erforsch uns: der antiken Religion, der besonders darin liegt, daß sie Tat- sachen des Kultes und Vorstellungen von Göttern ungeschminkt, unreflektiert, ungebrochen widerspiegeln, betont Bulle mit Recht in den methodischen Ausführungen des neuen archäolo- gischen Handbuchs^ (vgl. S. 48. 73). Ein wichtiges Hilfs- mittel für die in Rom befindlichen Denkmäler der antiken Re- ligion stellt der Helbigsche Führer dar, dessen Neuherausgabe in dritter Auflage Amelungs bewährter Kraft im Verein mit

^ Bruno Schmidt De Cornuti theologiae graecae compendio, Dias. Hai. XXI 1 (1912).

- M. Hauck De hymnorum Orphicorum aetate. Breslauer philolog. Abh. 43, Breslau 1911.

^ Vgl. auch Norden Agnostos Theos S. 158, 3.

* Vgl. Weinreich Athen. Mut. XXXVII 1912 S. 42 Anm.

" Fr. Bitsch De Platonicorum quaestionibus quibusdam Vergilianis, DisB. Berlin 1911. Dazu vgl. Ziegler DLZ 1912 S. 2209.

® Handbuch der klassischen Altertum swiss. V[: Handbuch der Archäologie, herausgeg. von H. Bulle, München 1913. Bisher ist eine Lieferung erschienen 1 1 184.

144 Ludwig Deubner

E. Reisch und F. Weege verdankt wird.^ In dem von P. Perdrizet herausgegebenen Prachtwerke der Bronzes Fouquef^ ist eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Götterdarstellungen veröffentlicht. Die ausführlichen Erklärungen des Herausgebers sind nicht nur durch ihre reichen Literaturnachweise wertvoll, sondern enthalten auch wichtige neue Bemerkungen. Vgl. nament- lich S. 4 über Aphrodite, S. 8 über die Hermaphroditen, S. 19 über den geflügelten Dionysos und Silen, S, 28 über Hermes mit der Feder, S. 41ti". über Baubo (S. 45 wird ein Lampen- griff aus Terrakotta publiziert, der eine ihr pudendum zeigende BVau über einem großen Auge darstellt: klärlich apotropäisch), S. 50f. über Votivohren, S. 80 ff. über die Bedeutung des Frosches. Unter den publizierten Stücken möchte ich speziell auf einen Alexanderkopf hinweisen (T. XVI unten in der Mitte), der mit Strahlenkran/ und Uräusschlantre geschmückt ist. Für die Kenntnis kunstmythologischer Typen ist wichtig die Beschreibung des Gemäldes im Winterbade zu Gaza, die Johannes von Gaza verfaßt hat. Sie ist von P. Friedländer mit einem gelehrten Kommentar vorgelegt worden.' Es kommen in dieser Beschreibung vor: Urauos, Atlas, Hesperos, Selene, die Winde, Okeanos, Eos mit den Hören, Ge, Karpoi, Thalassa, Cheimon, Ombroi, Iris, Phosphoros, Orthros, Anatole, Nyx und andere Typen. Von Interesse ist die menschliche Bildung des Aion (vgl. Rom. Mitt. XX VU 1912, 17 ff.).

Ich schließe hier einen Hinweis auf die gesammelten Abhandlungen Useners, Dieterichs und des Grafen Goblet d'Alviella an. Useners religionsgeschichtliche Aufsätze, unter

' W. Heibig Führer durch die öffentlichen Sammlungen klassischer Altertümer ]\om, dritte Auflage, lierausgeg. unter Mitwirkung von W. Amelung, E. Keisch, F. Weege. 2 Bände, Leipzig 19J2. 1913.

* P. Perdrizet Jiroyizes grecs d' Fgypte de la collection Fouquet, Paris 1911.

* Johannes von Gaza und Paulus Silentiarius, Kunstbeschreibungen Justinianischer Zeit, erkl. v. Paul Friedländer, Leipzig und Berlin 1912. [Vgl. dazu jetzt G. Krahmer De tabula mundi ab Joanne Gazaeo descripta. DisB. Halle 1920, mit Htark abweichendem Kekonstruktionsversuch. W.}

Griechische und römische Religion 1911 1914 j^45

denen mir der "^Keraunos* methodisch besonders wertvoll zu sein scheint, sind in der Hauptsache im 4. Bande seiner Kleinen Schriften vereinigt*, den Wünsch redigiert hat. Doch enthält auch der dritte Band^ ein paar hierher gehörige Arbeiten: S, 74 ff. die 'Beiträge zur Geschichte der Legendenliteratur' (I. Das Wachstum der Legende, IL Die Akten des Timotheos, IIL Legendenaustausch der griech. und röm, Kirche), S. 176 ff. 'Eine Hesiodische Dichtung' (Rekonstruktionsversuch im An- schluß an den Typhonaufsatz von A. v. Meß, Rh. Mus. LVI 1901) und besonders S. 411 ff. De lliadis carmine guoclam Phocaico, in dem die Vorstellung des Todes unter dem Bilde des Löwen aufgezeigt wird. Auch A. Dieterichs Kleine Schriften sind von R. Wünsch auf das sorgfältigste gesammelt, redigiert und herausgegeben worden.^ Zu Bekanntem neu hinzugekom- men ist ein kleiner Aufsatz über die Verhüllung der Hände (ein wahrscheinlich im Orient wurzelnder Brauch) und fünf Kapitel zum Untergang der antiken Religion, in denen die Zersetzung durch die Philosophie, die Mystik, die orientalischen Religionen, den Aberglauben sowie die Wundermänner und das Christentum dargestellt wird. Von den früheren Arbeiten Dieterichs möchte ich als Muster großzügiger Betrachtung die Abhandlung über Wesen und Ziele der Volkskunde heraus- heben, als schönstes Beispiel einer Einzeiuntersuchung die Erklärung der Szene in den Aristophanischen 'Wolken'. Graf Gobi et d'Alviella hat seine gesammelten Abhandlungen selbst in drei Bänden vorgelegt.* Band I enthält Aufsätze zur Geschichte der Religionen (vgl. S. 27 ff. über magische Räder bei den Griechen), Band II Methodologisches und Arbeiten zur

H. üsener Kleine Schriften IV: Arbeiten ztu: Religionsgeschichte, Leipzig u. Berlin 1913.

* Arbeiten zur griech. Literaturgeschichte, Geschichte der Wissen- schaften, Epigraphik, Chronologie, ebd. 1914.

^ A. Dieterich Kleine Schriften, Leipzig und Berlin 1911.

■* Comte Goblet d'Alviella Croyances, rites, instiiutions, 3 Bände, Paris 1911.

Archiv LBeligioDSwissenschaft XX 10

146 Ludwig Deubner

Urgeschichte der Religion, Band III behandelt moderne Pro- bleme. Eine größere Anzahl dieser Abhandlungen ist im An- schluß an neu erschienene religionsgeschicbtliche Werke ge- schrieben. Die Leser dieses Archivs seien besonders auf die Diskussionen urgeschichtlicher Probleme im 2. Bande hingewie- sen, die für die Klärung der in Frage kommenden Vorstellungs- gebiete von Nutzen sein können. Das eigentlich nicht hierher gehörige Buch von E. Seilliere über Nietzsche und Rohde^ behandelt die Geschichte dieser Freundschaft. Man findet darin das überraschende Urteil, daß Rohdes Werke 'fein und gewissenhaft' gearbeitet waren, 'trotzdem sie stets von einem etwas engen Horizont begrenzt und durch die ihm angeborene Zurückhaltung beschränkt werden' (S. 151).

Wir betreten das Gebiet der griechischen Religion und erwähnen zunächst einige Arbeiten, die den Totenkult und was damit zusammenhängt betrefien. Abzulehnen ist das Er- gebnis von 0. Seifferts Abhandlung über die Totenschlange.' Er nimmt an, daß die Schlange nicht deswegen dargestellt werde, weil sie ursprünglich das Bild des Toten sei, sondern daß man in ihr vielmehr eine chthonische Untergottheit zu er- kennen habe, deren Gemeinschaft mit dem Toten auf dessen Verbrüderung mit den Mächten der Unterwelt hindeute. Das Gezwungene dieser Auflassung kommt in der weiteren Folge- rung zum Ausdruck, daß der Tote, der die Schlange aus dem von ihm gehaltenen Kantharos tränkt, die ihm dargebrachten Opfer- gaben raitdenchthonischen Dämonen teile. Die Tqixoxolxoqb«; hat G. Lippold einleuchtend als die 'echten Ahnen' erklärt' («afs T()iToyfV7/5 = waig yvi^fjLos). Eine eingehende Beschrei- bung euböischer Gräber aus vormy kenischer, my kenischer und

' E. Seilliere Nietzsches WafJ'enbrudcr, Erwin JtoMc, Berlin 1911.

* 0. SeiflFert Die Totenschlangc auf lakonischen Reliefs, Breslau 1911.

^ G. Lippold TQiTOTiazQBle, Athen. Mitt. XXXVI 1911, lOölf. Eine sprachwiBsenBchaftlich»; Bestätigung gibt P. Kretschmer Glotta X 1919^ 38 ff.

Griechische und römische Keligion 1911 1914 147

'historischer' Zeit liefert G. A. Papabasileios.^ Aus der inter- essanten Zusammenfassung (89 ff.) ist hervorzuheben, daß für die vormykenische Zeit keine Verbrennung nachgewiesen wer- den konnte, wohl aber für die mykenische Periode und später. Die nichtverbrannten Toten der 'historischen' Zeit blicken in der Regel nach Westen. In den Kuppelgräbern der mykenischen Epoche fanden sich außer den Beigaben eine Menge Knochen von verschiedenen Tieren, also Überreste von Totenopfern. Die 'Charons'münze begegnet nicht vor dem 4. Jahrhundert. Unter den angehäng-ten Inschriften ist bemerkenswert eine Weihung der Chalkidier Tixa eatfjQL (S. 93, der Herausgeber vergleicht Plut. Tit. 16) und die Dedikation einer QueUanlage an Asklepios aus Styra (S. 100). Die äußeren Formen der Kriegergrabstätte des Kerameikos und der einzelnen Krieger- gräber behandelt die sorgfältige Diss. von S. Wenz^, deren In- halt aus dem Rahmen dieses Berichtes herausfällt. Doch merke ich an, daß für die in Betracht kommenden Grabreliefs die Abwesenheit jeglicher Heroisierung scharf betont wird (591^ 70 f. 105); wie es scheint mit Recht. Eine umfassende Klassi- fikation und geschichtliche Darstellung der statuarischen Grab- plastik bietet das reich ausgestattete Buch von M. Colli gnon.^ Es wird gezeigt, wie einige der hauptsächlichen Typen, der Seelenvogel und die Klagefrauen, zunächst als Terrakottabei- gaben im Grabe auftreten, um dann später in größeren Ver- hältnissen auf dem Grabe Verwendung zu finden. Der Seelen- vogel und auch die anthropomorphe Darstellung des Toten wird vielleicht richtig unter dem Gesichtspunkt betrachtet, daß man der Seele und dem Toten ein i'dog habe schaffen wollen, um sie zu bannen. Die Grabstatuen der archaischen, klassi- schen und hellenistischen Epoche werden getrennt behandelt.

^ G. A. Papabasileios Ilegl xGiv iv Evßoia uQ^aiav rdtpav (Bibliothek der Athener Archäologischen Gesellschaft), Athen 1910.

- S. Wenz Studien zu attischen Kriegergräbern, Diss. Münster 1913. ' M. CoUignon Les statues funeraires dans Vart grec, Paris 1911.

10*

148 Ludwig Denbner

Aus der archaischen sind hier neben der Sirene besondersj Sphinx und Löwe zu nennen. Jn der klassischen Epoche macht sich ein Überwiegen des künstlerischen Prinzips bemerkbar, in, der hellenistischen mit ihrem ausgebildeten Heroenkult tritt das religiöse Moment wieder mehr in den Vordergrund, die Toten werden Göttern, besonders dem Hermes gleichgesetzt, Eros- und Thanatos-Typen werden beliebt, allegorische Genre- bilder wie der schlafende Eros kennzeichnen die Denkweise der Zeit. , ;

L. Malten hat in einem sehr lehrreichen Aufsatz^ nach- gewiesen, daß die Vorstellung vom Götterlande Elysion dem 'karischen' Volksstamm angehört und vom orphischen Orte der Seligen ursprünglich verschieden ist. Erst später verbinden tind vermischen sich beide Vorstellungen. Eine inhaltreiche Abhandlung von M. Hostowzeff' bietet wichtiges Material für Jeuseitsvorstellungen und orphischeleusinische sowie chtho-] aische Kulte in Südrußland. Das besprochene Grab zeigt ein vergottetes Mystenpaar, im Elysium an einem Altar beschäftigt J Im Verlaufe seiner Ausführungen kommt der Verfasser auch auf die Serapisfragp /u sprechen und nimmt gegen Dieterich und Schmidt an, daß nicht der mythische Norden, sondern; ganz bestimmte, vor Ptolemäus' Zeiten in Sinope gepflegte! syukretistische Kulte die Zurückführung des Serapis auf diese'

Stadt veranlaßt hätten. Der Greif, den 11. als spezifisch apoK

i

linisches Symbol betrachtet (S. 7; 30, 2), ist Kennzeichen der Apotheose schlechthin.' Dieterichs Nekyia ist von K Wünsch neu aufgelegt and mit Nachträgen (8 S.) versehen worden.*

i ' Ii. Miilten l'Jlymon und Bhadamanthys, Arch. Jahrb. XXVIII 1913,

35 ff I

* M. IlostowzefF BcKoJireibung eines Kertsch-cr Grabes, aufgedeckt im\ ■fahre 18!>1, Somiprabdruck auB i\cr Festschrift zu Ehren des Grafen A.j A Bobrinski, Petersburj? 1911 (niHsiach) |

» S. Cumont Her. de l'hist. des rel. LXIV 1911 S. 164.

* A. Dieterich Xekyia, Beiträge zur Erklärung der neuentdeckten] P^trusapokalypse, 2. Aufl., Leipzig und Berlin 1913.

Griechische und römische Religion 1911 1914 149

Ehe wir zu den griechischen Göttern übergehen, seien zwei dankenswerte Dissertationen der Kernschen Schule ge- nannt, die im Anschluß an frühere analoge Monographien die Kulte bestimmter Landschaften und das dazu gehörige Quellen- material zusammenstellen: J. v. Keitz behandelt die ätolischen und akarnanischen Kulte\ W. Baege die mazedonischen.^ Unter den von Baege am Schluß aufgeführten Monatsnamen sei der Savdiüös hervorgehoben, in den die Lustration des zum Kampfe ausrückenden Heeres fiel. Er wird vom Verf. einleuchtend mit dem Beinamen iSlavd-iitög des Kriegsgottes Ares in Verbindung gebracht (225 f.). Die Kulte von Andros werden in der dieser Insel geltenden Publikation von Th. Sauciuc^ besprochen.

Für das gesamte Ursprungs- und Verbreitungsgebiet der griechischen Götterwelt ist die wertvolle, auf umfassenden Samm- lungen aufgebaute Arbeit E. Sittigs über die theophoren Namen* von großer Wichtigkeit. Es ergibt sich eine ganze Anzahl bemerkenswerter Tatsachen: Namen mit Zeus sind in Kleinasien sehr selten, verhältnismäßig wenige Namen sind von Hera abgeleitet, Namen mit Bakchos treten gegenüber solchen mit Dionysos in Attika stark zurück, Namen mit Ares fehlen fast ganz, was die geringe Volkstümlichkeit dieses Gottes hell beleuchtet. Ich weise ferner hin auf die Ausführungen über die Entwicklungsgeschichte des Apollon, über Hephaistos, über Men, über den Namen Dionysos (86 f.). Da bisweilen Götter- und Menschennamen vom selben Wort herkommen können, so ist der theophore Charakter eines Namens nicht immer ohne weiteres festzustellen. In der Scheidung theophorer und nicht- theophorer Namen ist der Verfasser umsichtig verfahren. Allein kann das Material der Namen natürlich keinen Ausschlag geben

* I. de Keitz De Aetolorum et Acarnanum sacris, Dias. Halle 1911.

- W. Baege De Macedonum sacris, Diss. Hai. XXII 1 (1913). Nach- träge gibt 0. Weinreich DLZ 1914 S. 4ü2.

' Th. Saucinc Andros, Untersuchungen zur Gesch. u. Topogr. d. Insel, Sonderschriften d. österr. archäol. Instituts VIII, Wien 1914, S. 110—126.

■* E. Sittig De Graecorum nominibus theophoris, Diss. Hai, XXI (1911).

150 Ludwig Deubner

für oder gegen die Bedeutung eines Kultes, Die Statistik be- hält ja immer nur relativen Wert. Asklepios stammt anerkannter- maßen aus Thessalien, aber alte Namen mit Asklepios sind dort nicht vorhanden. Vorteilhaft wäre es gewesen, die von Festen abgeleiteten Namen von den theophoreu zu trennen, da jene unter Umständen mit Göttern nichts zu tun haben. Namen, die mit Epi- theta vou Göttern zusammengesetzt sind, können nicht immer unbedingt für bestimmte Götter iu Anspruch genommen werden. Der Versuch Mary Hamilton Swindlers, kretische Ele- mente im Kult des ApoUon nachzuweisen', hat die Wissen- schaft nicht gefiirdert.^ Die Arbeit ist äußerlieh und ober- Hächlich und kennt keine recensio der Zeugnisse. Es ist der Verfasserin nicht gelungen glaubhaft zu machen, daß die von Apollou aufgesogenen Sondergötter Delphinios, Amyklaios, Hya- kinthos, Smiutheus, Agyieus aus Kreta stammen, und gar das von Apollo in Besitz genommene delphische Erdorakel als kretische Gründung oder wenigstens als kretisches Einfluß- gftbiet vorapollinischer Zeit erweisen zu wollen, ist ein aus- sichtsloses unternehmen, nicht zu reden davon, daß an Stelle dor durch Wilamowitz mit ganz anderen Mitteln bewiesenen kleinasiatischen Herkunft des ApoUon ein nebelhafter 'nordischer' ApoUon gesetzt wird. Richtig ist, daß Hyporchem und Paian, die im apollinischen Kulte eine große Rolle spielen, in Kreta beheimatet sind, und die kathartisch - ekstatische Bedeutung Kretas ist im großen und ganzen zutreffend gezeichnet, doch auch hier ist gar manches falsch oder schief, und daß die delphische Kathartik ihre Wurzeln in Kreta gehabt habe, halte ich eben- falls für unrichtig, so wenig die Beziehungen geleugnet werden sollen, die ohne Frage zu gewissen Zeiten zwischen Kreta und D'ilphi bestanden haben.

' Mary Ilaniiltou Swindlcr Cretnn Elements in the Cults and Ritual nf Apollo, Bryv Mavr College Monngraphs, Monograph Series XIII, Bryn Mawr, l'eDDHjlvania, 1913.

* Vgl. flie ahlclinen*!*' Kritik Nüshotip DLZ 1914, 981f.

Griechische und römische Religion 1911—1914 151

W. Qu an dt stellt in einer brauchbaren Arbeit^ die Zeug- nisse für den Kult des Dionysos in Kleinasien seit Alexander sorgfältig zusammen und behandelt in einem Schlußteile die auf die Mysterien dieses Kultes sich beziehenden Tatsachen. Auf das Fest der Lenäen hat Frickenhaus^ eine größere Anzahl zusammengehöriger Vasen bezogen, die uns bestimmte dionysische Kultszenen vor Augen führen. Den Mittelpunkt bildet ein säulenförmiges Idol, das mit der Maske des Gottes und meist auch mit einem Gewände ausgestattet ist; ringsum sieht mau ekstatisch tanzende, weinschöpfende oder mit son- stiger sakralen Hantierung beschäftigte Frauen. Da die Häufig- keit der Vasen auf ein bekanntes Fest weist und der Name der Lenäen m. E. mit Recht von den Mänaden {Afjvai) ab- geleitet wird, so scheint mir im Gegensatz zu Robert^ minde- stens eine starke Wahrscheinlichkeit für die Richtigkeit der Frickenhausschen Deutung zu bestehen, während die direkte Ableitung des attischen Kultes von dem thebanischen Dionysos Kadmos allerdings abzulehnen ist. Für die Kenntnis vom Wesen der dionysischen Dämonen sind die Satyr- und Bakchen- namen von Wichtigkeit, die sich häufig auf Vasenbildern bei- geschrieben finden. Sie werden von Charlotte Fränkel^ in einer wertvollen ^Bonner Dissertation gesammelt und nach Mög- lichkeit erläutert.

Die Darlegungen von H. Prinz ^, der eine Gruppe alt-

* Gail, Quandt De Baccho ab Alexandri aetate in Asia minore culto, Dias. Hai. XXI 2 (1913).

- A.FrickenhansieHäewüosen, 72. Berlin, Winckelmannsprogramm,1912.

» Gott, gel Anz. 1913, 366 ff. Die Tatsache, daß auf der Hieron- schale (Flickenhaus a. a. 0. S. 6 Nr. 11 A) zu beiden Seiten dei Maske Trauben dargestellt sind, scheint mir keinen Schluß auf die Jahreszeit des Festes zu gestatten. Der Künstler konnte die Trauben zur Charak- terisierung des Gottes aus seiner Phantasie hinzutun.

* Charlotte Fränkel Satyr- imd Bdkchennamen auf Vasenbildern, Diss. Bonn 1912.

^ H. Prinz Ein Miitzenidol aus Kreta ^ Festschrift für Breslau (s, o. S. 140 A. 6) 577 ff.

152 Lndwig Denbner

kretischer kegelförmiger Tongebilde als kultisch verehrte Mützen der Göttermutter zu erweisen sncht, vermögen nicht zu überzeugen. Daß Hephaistos ein ungriechischer Gott ist und von den lykischen Solymern herstammt, zeigt in einem aus- gezeichneten Aufsatze L. Malten.' Wie unbedeutend der Kult der Hera in Attika war, geht aus der Dissertation W. Scheuers deutlich hervor.^ Die Erörterung der Mythen, in denen die Göttin eine Rolle spielt, gibt für das Thema nichts aus, obwohl sie zwei Drittel der Arbeit einnimmt. Von Bedeutung sind Frickenhaus' Ausführungen über den Herakult in Tiryns und die Entstehung des 'Staatskultes' eben dieser Göttin aus mykenischem Hauskulte.* Daß nicht alles außer Zweifel ge- stellt ist, weiß der gedankenreiche Verfasser selbst am besten (vgl. S. 42). Insbesondere die kathartische Erklärung der Ferkel und Ferkelträgerinnen aus Terrakotta (28 ff.) scheint mir der genauesten Nachprüfung zu bedürfen. Aber zweifellos ist allein dem Versuche, die Entwicklung eines Kultes auf Grund des gesamten literarischen und archäologischen Materials darzustellen, ein großes Verdienst beizumessen. Als besonders bestechend hebe ich die Vermutung hervor, daß die Fetischsäule der Hera mit einer der alten Herdsäulen des Tirynther Megaron identisch 8ei(S. 39). Das Kerykeion wird von K. Boetzkes zutreffend mit dem Zauberstabe {(mßdos) des Hermes identifiziert.* Vollkommen wertlos ist die russisch geschriebene Abhandlung A. M. Mironoffs über die Nikedarstellungen der griechischen Plastik.^

Fr. Hübner'' bemüht sich um den Nachweis, daß die Ge-

> L. Malten Hephaistos, Arch. Jahrb. XXVII 1912, 232 tf.

* Guil. Scheuer De lunonc Attica, Dias. Breslau 1914.

* Tiryns, Die P^rgebnisae der Auagrabungen des Instituts (Athen 1912) I 1: A. Frickenbaua Die Hera von Tiryyin. [Kritisch aoeben Robert Hermes 1920, .STSff. W.]

* R. Boptzkos Das Kerykeion, Dias, von Münster, Gießen 1913.

* A. M. Mironoff Die J)arstellutigen der Siegesgöttin in der griech. Plastik, Kasan 1911. Vgl. Berl. philol. Wochenschr. 1912, 1260 ff.

* Fr. Hübner De Pluto. Dias. Hai XXIII .'J (1914).

Griechische und römische Religion 1911 1914 153

stalt des Plutos nicht der griechischen Volksreligion angehöre. Die Personifikation des Plutos kommt zum erstenmal bei Hipponax vor; für die Abstammung von Demeter seien die Verse 969 ff. der Hesiodischen Theooronie maßsebend geworden; der eleusitiische Plutos sei eine Metapher; der statuarische von Kephisodot erfunden. Die Erwähnung des Plutos in der attischen Thesmophorienformel wird ohne kritische Äußerung verzeichnet, obwohl jene Formel die wichtigste Gegeninstanz gegen die These des Verfassers bildet. Hier also hätte vor allem der Beweis ge- liefert werden müssen, daß der Plutos irgendwie künstlich in die alte Götterreihe jener Formel eingedrungen ist. Auch das Verhältnis zu Pluton und TcXovtoöÖTrjg ist nicht genügen d ge- klärt. Insbesondere vermisse ich das wichtige Zeugnis für einen selbständigen Sondergott TlXovtoddtas in der südruss ischen Defixion Arch. Anz. 1907, 12 7 f. xavoQvööo) Savonevijv xal egya Ssvoiievovg xal TCaldcav t&v lEjevofiEvovg jvsqI 'Equ&v %d'6vL0v xal xap' 'Eon&v Xd'oviov xal TCagä Illovtoödzav Xd'övcov xal Traoä IToa^iSCxav yßtovlav xal %aqa 0£Q6s(p6vav l^oviav xxl. Vor allem aber mangelt dem Schriftchen eine abschließende Zusammenfassung der zugrundeliegenden Ge- danken.

Eine vortreffliche Leistung ist die unter Otto Kerns Leitung entstandene Dissertation von Joh. Schaefer über denkarischen Zeus^, in der die Zeugnisse für diesen Kult gesammelt, ge- ordnet und besprochen werden. Von dem reichen Inhalt hebe ich folgendes hervor: Zeus Labrayndos hat seinen Namen nicht von der Labrys (Doppelaxt), sondern von der Stadt Labray nda; diese wurde ihrerseits nach der Labrys benannt, die ursprüng- lich selbständige göttliche Verehrung genoß (355 f.). Ebenso ist der Zeus Chrysaoreus von der Chrysaoris genannten Ort- lichkeit abzuleiten (435). Die Heimat des Gottes mit der Doppelaxt ist wahrscheinlich Vorderasien (Karer oder Het titer),

^ I. Schaefer De love apud Gares culto, Diss. HaL XX 4 (1912). Vgl, Nilsson DLZ 1912, 3149 ff.

J^54 Ludwig Deubner

vou dort kommt er nach Kreta (380 ff.)- Der 2same des Zeus Askraios kennzeichnet ihn als Baumgott (Hesych äöxQW ÖQvg ay.aQn:os) und ist nicht anzutasten (406 tf). Zeus Panamaros und der Zeus Kariös des Pjinamarensischen Bundes sind iden- tisch (417 f.)- Von großem Interesse ist die sakrale Prostitu- tion und das Nichtwaschen der P'üße im Kulte des Zeus Lara- sios in Tralles (461 tf.). Die Erklärung der Seiler (11.16. 234f.) als Inkubanten (462 f.) ist wenig wahrscheinlich. Anfechtbar ist auch die Beweisführung für die Lichtnatur des kretischen Stiergottes (S. 379). In einem ausgezeichneten Aufsatz han- delt A. Delatte über eine Darstellung des Sonnengottes und solarer Symbole auf einem magischen Globus des Athener Museums.*

Die Zeugnisse für den Kult der Kureten und Korybanten, für ihre Erscheinungsform und Funktion, ihre Vermischung untereinander und mit anderen Gottheiten sowie für die Deu- tungen ihres Namens bei den Alten stellte Poerner mit gutem Urteil in einer fleißigen Arbeit zusammen", die durch eine be- sonnene Erörterung der modernen Ansichten vom Wesen jener Dämonen und der neueren Etymologien beschlossen wird. Die dem Kuretenmythos zugrundeliegende primäre Tatsache apo- tropäischer Riten wird richtig festgehalten. P]ine zusammen- hangende Behandlung der attischen Heilgötter (Heros latros, Aristomachos, Amynos, Asklepios und Amphiaraos) nebst einer Sammlung der auf sie bezüglichen Inschriften und Skulpturen bietet F. Kutsch.^ Herrlich bespricht in einem Programm über antike Wunderkuren* zunächst die Beurteilung dieser Kuren in der modernen Literatur: ein zweiter Teil haudelt

' A. Delatte lAudc sur In lungic f/r'C/uc 7. Sphire magique du Musie d'Athenes, JiiiU. corr. hell. XXXVII 1913, •247 ir.

- I. Poerner JJc (uretihm et Conjhnntihus, Disb. Hai. XXII 2 (1913).

■* K. KutBch Attische IleUgölier und ITcilheroen, KelJgionBgesch. Vers, u. Vorarb. XII 3, Gießen 1913.

* S. Herrlich .UUif'e WiDiderLureu, Trogr. dos Humboldt- Gymn., Berlin 1911.

Griechische und römische Religion 1911—1914 X55

über Träume und Inkubation, Als bemerkenswert verzeicime ich, daß auf die Ähnlichkeit der Schlaf halle von Oropos mit dem 'Abaton' in Epidauros hingewiesen wird (271). Ein lebensvolles Bild von der Religiosität des Asklepiosjüngers Aelius Aristides und seiner Zeit entwirft die Hallenser Antritts- vorlesung 0. Weinreichs.^ Ein ungarisch geschriebenes Buch von J. Hornyanszky* behandelt in seinen beiden ersten Abschnitten (Die Medizin in Athen. Religion und Medizin) u. a. die Zusammenhänge zwischen Heilkunst und Kultus. Eine zusammenfassende Behandlung der auf orientalischem Ein- fluß beruhenden d^eol ant)y.ooi^ der 'erhörenden Götter', gibt 0. Weinreich.^ Man stellte auch die Ohren von Göttern dar, um in sie hinein seine Gebete sprechen zu können. Die äxoaC^ die in verschiedenen Heiligtümern erwähnt werden, sind nach der bestechenden Erklärung Weinreichs (57 f.) eben solche plastische Ohren; doch vergleiche dazu das von P. Wolters Hermes XLIX 1914 S. 151 geäußerte, nicht unbegründete Be- denken und dazu Weinreichs Antwort Hermes LI 1916 S. 624. Die Zeugnisse für die 'Großen Götter' sammelt Br. Mueller in einer bei Kern gearbeiteten Dissertation.* Kap. I Die Kabiren, Kap. II Die große Mutter, Kap. III Die übrigen griechischen Götter, Kap, IV Die ägyptischen, Kap. V Die Zauberpapyri und Defixionen, Kap. VI Könige und Kaiser, zuletzt ein Epimetrum über poetischen Gebrauch in Inschriften und Papyri. Es er- gibt sich, daß in der Regel nur nichtgriechische Gottheiten, besonders ägyptische, die Bezeichnung 'Großer Gott' aufweisen. Hervorzuheben ist die Klarstellung, daß Kybele die große Mutter ist, Rhea die Göttermutter: dann tauschen sie infolge der gegen- seitigen Vermischung auch die Beinamen aus (S. 302). - Bei-

^ 0. Weinreich Typisches und Individuelles in der Religiosität des Äelius Aristides, Neue Jahrb. XXXIU 1914, 597 flP.

- J. Hornyanszky Die Wissenschaft der grieeh. Aufklärung. Hippo- krates, Budapest 1910, vgl. Räcz DLZ 1911 S. 3258.

^ 0, Weinreich ©aol inriMoi, Athen. Mitt. XXXYII 1912, Iff.

* B. Mueller Miya^ O^adg, Diss. Hai. XXI 3 (1913).

156 Ludwijr Deubner

trüge zum Kapitel von den 'Unbekannten Göttern' liefert Weinreichs Habilitationsschrift.'

Zum griechischen Kultus leitet ein bemerkenswerter Auf- satz H. Pomtows^ über, in dem die delphischen Tholoi nach Analogie anderer Rundbauten einleuchtend als Herd- und Speise- häuser der Gemeinde (Prytiineia) gedeutet werden (in Magnesia a. M. wurde alljährlich ein ebensolcher Rundbau aus Holz zur Bewirtung der 12 Götter aufgeschlagen). Ein Herdhaus ist auch die Tholos des Odysseus und die von Epidauros, die infolge dieser Bestimmung auch Q-vuelrj genannt wird. Über antike Festreden bei der Einweihung von Tempeln und ihre Fort- setzung in der christlichen Weihepredigt handelt Paul Fried - laender in seinem oben S. 144 genannten Buche S. 97 ff. Beiträge zur Geschichte sakraler Tänze liefert die wertvolle Dissertation K. Lattes^ in Kapitel 111 V. Besonders hervor- gehoben sei der Abschnitt über die Pyrriche, in dem auch auf das Wesen der Kureten des längeren eingegangen und der neue kretische Hymnus behandelt wird. Die Verteilung des Opferfleisches bei den Griechen untersucht in umsichtiger Weise die fleißige Dissertation Fr. Puttkamraers.* Es wird hier nicht nur eine nützliche Zusammenstellung des vornehmlich aus den Inschriften gewonnenen Materials geboten, sondern auch nach Möglichkeit den Gründen der Erscheinungen nachgegangen. Die allmähliche Verweltlichung der Einrichtung tritt in der Dar- stellung gut hervor. Ein großer Teil der sogenannten Toten- mahlreliefs wird von Rhomaios in einer anregenden Studie

' 0. Weinreich J)e dis ignotis rjuaestümes selcctae, Halle 1914 = Archiv XVIII 1915, itr.

* H. Pomtow Die große Tholos zu Delphi und die Bestimmung der delphischen liundhauten, Klio XII 1912, 179flF. 2JJlff. S. besonders 289ff.

" K. Latte, De saliationibus Graecorum capita quinque, Religiousgesch. Vera. u. Vorarb. XIII 8. Gießen 1913.

* Fr. Puttkammer Quomodo graeci victimnrum carnes distribuerint, DiBB. Königsberg 1912

Griechische und römische Religion 1911 1914 X57

Über Reliefs aus Tegea^ als Weihreliefs an Götter und Heroen in Anspruch genommen, die Bezeichnung d-eo^svca mit Recht auf die Götterbe wirtuugen beschränkt, die dem aus der Ferne herbeigekommenen Gotte zuteil werden. Die Frage, ob man in Attika für einen <pövos dixaiog rituelle Reinigung verlangt habe oder nicht, erörtert J. W. Hewitt in fördernder Weise.2 Mit der Schrift des Giraldi (1479—1552) über die Symbole des Pythagoras beschäftigt sich Fr. Boehm', der sich um das Studium dieser Symbole bereits verdient gemacht hat. Er analysiert die Arbeitsweise des Humanisten, zeigt seine weitgehende Abhängigkeit von Erasmus auf und macht es wahr- scheinlich, daß Giraldi in dem Schlußteile seiner Schrift dem Pythagoras Vorschriften beilegte, die er selbst auf Grund seiner volkskundlichen Kenntnisse erfunden hatte. Für den Volks- glauben des 15. und 16. Jahrhunderts bieten die in die Be- sprechung der einzelnen pythagoreischen Symbole eingestreuten Hinweise Giraldis auf ähnliche Bräuche seiner Zeit eine mit Vorsicht zu nutzende Quelle (vgl. S. 19). Eine Enttäuschung bereitet die mit vielversprechenden Sätzen anhebende Arbeit von A. Nawrath über die griechischen Hochzeitsdarstellungen auf Vasen.* Sie enthält nichts Neues von Belang und ist in Methode, Zitierweise, Literaturkenntnis und Darstellung un- zureichend.

In einer inhaltreichen Abhandlung bespricht Fr. H e i n e v e 1 1 er^ die auf mehreren kleinasiatischen Inschriften erhaltenen Reste

* K.A. Rhomaios Tegeatische Reliefs, Athen. Mitt. XXXIX 1914, 204 ff.

* J. W. Hewitt The Necessity of Eitual Purification after Justifiable Homicide, Transactions of the American Phüological Association XLI 1910, 99ff.

' Fr. Boehm Die Schrift des Giglio Gregorio Giraldi über die Symbole des Pythagoras, Progr. d. Friedr.-Wilhelms-Gymn., Berlin 1913.

* A. Nawrath De Graecorxtm ritibus nwptialibus e vasculis demon- irandis, Diss. Breslau 1914.

* Fr. Heinevetter Würfel- und Buchsidbenorakel in Griechenland und Kleinasien, Festgruß d. archäol. Seminars zum hundertjährigen Jubiläum der Univ. Breslau, Breslau 1912.

]^58 Ludwig Deubner

von Würfelorakeln, die verschiedene Rezensionen eines Originals darstellen.^ Zugrunde liegt ein Spiel von 5 Astra- galen, die eine Gesamtheit von 56 Kombinationsmöglichkeiten ergeben. Jeder Kombination entspricht ein Orakel. Die An- ordnung der Orakeltexte ist die, daß mit der kleinsten Summe besonnen wird. Jeder Abschnitt wird eingeleitet durch die Angabe der Einzelwürfe {AAAAA), der Gesamtsumme {E) und des Gottes, der dem Wurf vorsteht (..^^/tög "OlvunCov)-^ darauf folgt ein Hexameter, der den Wurf bezeichnet und drei weitere, die das Orakel enthalten. Nach einigen Bemerkungen über die Technik der Würfelorakel geht der Verfasser zu den Buchstaben- orakeln über, die sich vielleicht aus den Würfelorakeln ent- wickelt haben und deren Technik darin bestand, daß man sich aus einer Spruchreihe, deren Anfangsbuchstaben alphabetisch geordnet waren, den mit dem erlosten Buchstaben beginnenden Vers als Orakel heraussuchte. Im Zusammenhang damit findet ein interessantes massives Bronzedigamraa des archäologischen Museums von Breslau seine Erklärung, das zweifellos einem solchen Orakel gedient hat. Merkwürdigerweise steht auf diesem Buchstaben das Zahlzeichen für 25 und die Aufschrift rivd-aieog. Beides hat wohl Beziehung zum Würfelorakel, wenn auch der eigentliche Sinn dieser Vermischung noch nicht <remi<ren(\ klar<iestellt zu sein scheint. Daß das Bronzedigamma in der Argolis im 3. Jalirh. v. Chr. hergestellt worden ist, darf als gesichert angesehen werden. V^on dem sonstigen In- halte möchte ich noch die mit Buchstaben bedeckten, aus ver- schiedenem Material bestehenden Polyeder hervorheben, die wahrscheinlich ebenfalls zu Orakelzweckeii gedient haben. Vielleicht privaten: es wäre denkbar, daß den Polyedern lür den Hausgebrauch angefertigte Orakelrepertorien entsprachen.— Die Verwendunii; von Orakel und Traum in der dramatischen

' Ein neues FraKmenl, das einige Lücken füllt, veröffentlicht H. A. Ormerod Journ. of Hell Stud XXXII 1912, 270 If.

Griechische uud römische Religion 1911 1914 159

Technik behandelt R. Staehlin.^ Die brauchbare Tübinger Dissertation von K. Steinhauser über das Prodigienwesen in Griechenland^ bespricht im ersten Teile das Verhältnis von Volk, Bildung, Wissenschaft und Kult zum Prodigienglauben und gibt im zweiten Teile eine Aufzählung der verschiedenen Arten von Prodigien. Empfehlenswerter wäre folgende Dis- position gewesen: 1. Volksglaube, 2. Kult, 3. Stellung von Wissenschaft und Bildung.

In einem starken Bande (500 S.) hat P. Foucart seine früheren Forschungen über die eleusinischen Mysterien zusammengefaßt.^ Er vertritt aufs neue seine bekannte Ansicht von dem ägyptischen Ursprung dieser Einrichtung, ohne ernst- hafte Beweise anführen zu können. Weder Funde von ägyp- tischen Skarabäen^, noch die Danaossage, noch gewisse Ana- logien im beiderseitigen Kultus können jene kühne Auffassung irgendwie wahrscheinlich machen.^ Aber abgesehen von diesem seltsamen Grundirrtum wird das Buch Foucarts, das nunmehr alle Eleusis betreffenden Dinge (soweit literarische und epi- graphische Zeugnisse in Frage kommen) erschöpfend und um- sichtig behandelt, als Nachschlagewerk jedem Bearbeiter des eleusinischen Kultes die besten Dienste leisten. Es ist bei unserem äußerst dürftigen Wissen von dem eigentlichen Inhalt der Mysterien nur natürlich, daß man der Hypothese nicht ganz entraten

' R. Staehlin Da>< Motic der Mantik im antiken Drama, Relifious- gesch. Vers. u. Vorarb. XII 1, Gießen 1912.

- K. Steinhäuser Der Prodi gienglaube und das Prodigiemresen dtr Griechen, Diss. Tübingen 1911.

* Paul Foucart Les my stires d' Eleusis, Paris 1914.

* Über ägyptische Funde in Griechenland (u. a. in Delphi und Sunion) s. Bissing Der Anteil d. ägypf. Kunst am Kunstleben d. Völker, München 1912, 67f. (Nachweis von Karo).

"^ Auch die Ausführungen Aßmanns über Ägypter in Troja und Böotien Berl. philöl. Wochemchr. 1920, 16 ff. können Foucart nicht als Stütze dienen, selbst dann nicht, wenn sie sich in vollem Umfange als stichhaltig erweisen sollten. Vgl. Bhsing Berl philol. Wochenschr. 1920, 405 ff.

160 Ludwig Deubner

kann. Doch versteigt sich der Verfasser gelegentlich auch hier zu allzu vagen, ja unwahrscheinlichen Aufstellungen, so wenn er die höheren Weihen der Epoptie mit dem Gotte Dionjsos verbindet (445 ff.). Für beachtenswert halte ich die Betonung der rituellen Bedeutung des ÖQco^svoVf das den Raub und die Wiederfindung der Köre darstellte (464f.), wenn mich auch die S. 496 f. gegebene Erklärung zu abstrakt anmutet. Überhaupt scheint mir der Verfasser von dem Wesen ritueller Handlungen eine etwas blasse Vorstellung zu besitzen, womit denn auch Beine übertriebene Abneigung gegen Magie, Folklore usw. in Zusammenhang steht. Gelegentlich stößt man auf eigentümliche Lücken in der Literaturkenntnis. So vermißt man S. 379 bei dem iQyaöäfisvog der eleusinischen Formel ein Eingehen auf Dieterichs wichtige Ausführungen in der Mithrasliturgie S. 125. S. 330 fehlt Lippolds aufschlußreicher Aufsatz über die Trito- patores, s. o. S. 146. Daß es außerhalb des eleusinischen Kultes bei den Griechen kein sakrales Fasten gegeben habe, wird durch die in meiner Schrift De incuhatione 14 f. angeführten Belege widerlegt. Was über lakchos gesagt wird (110 ff.), möchte ich der Aufmerksamkeit des Lesers ebenso empfehlen wie die Ab- lehnung des orphischen Finflusses 252 ff'.*

W. GundeP verfolgt die Entwicklung der Begriffe Ananke und Heimarniene sowie deren Personifikation von Thaies bis an den Ausgang des Altertums, indem er hauiitsächlich die An- schauungen der Philosophen behandelt, Anschauungen, in denen religiöse Vorstellungen eine nicht geringe Rolle spielen. Auch die Volksreligion wird berührt, in der speziell Ananke die Be- deutung einer Todesgöttin erlangt hat.

Die Lehren des Hermes Trismegistos darzustellen hat Josef Kroll unternommen*, indem er .sie in die Hauptteile:

' Vjyl dazu Kern Orpheus (Hcrlin 1920) S. 14. 30. .03.

* W. CJiimlel Jieitrüge :ur Kvtnickhaigfigciichichte der Begriffe Ananke und Heimnrniene, Habilitationsschrift Gießen 19 1 4.

JoBef Kroll Die Lehren des Ifertnes Trismegistos, Baeumkers Beiir. z Gesch. d. Philos. d. Mittelalters XII Heft 2—4, Münster i. W. 1914.

Griecbische und römische Religion 1911 1914 IßJ

Götfeerlehre, Lehre von der Welt, Lehre vom Menschen, Ethik und Religion gliedert. Er hat mit großem Fleiß viel wert- volles Material zur Kenntnis der Hermetik zusammengebracht und für das einzelne allenthalben Zusammenhänge mit Posei- donios, Philo, den Gnostikern usw. aufgezeigt. Seine spezielle Absicht, im Gegensatz zu Reitzensteins Arbeiten das Ägyptische möglichst auszuschalten und die Fäden aufzudecken, die zu griechischem Denken zurückführen, hat er erreicht. Die eigent- liche Aufgabe einer zusammenfassenden Darstellung war in dieser Form unlösbar, denn ^das unsystematische Gewirr der hermetischen Lehren' (185 f.) läßt sich nicht systematisch er- fassen, zumal nicht nur die verschiedenen Quellen voneinander abweichen, sondern gelegentlich sogar in ein und dem- selben Schriftwerk die verschiedenen Teile, wie das Kroll in bezug auf den Dualismus von Gott und Materie S. 120 an- gemerkt hat. Durch das Aneinanderreihen einer überreichen Fülle von Einzelheiten und Parallelen hat das Buch etwas Formloses bekommen, das der Verfasser nicht imstande war zu überwinden, trotz allen Bemühens, die historische Linie in diesem Chaos hervortreten zulassen. Es wäre vielleicht richtiger gewesen, die Aufgabe gleich so anzufassen, wie es der Verfasser selbst am Schluß seiner zusammenfassenden Bemerkungen S. 389 andeutet: zunächst Interpretation der einzelnen hermetischen Schriften, Feststellung ihres Ideengehalts, eventuell Aufdeckung verschiedener Schichten, sodann eine vergleichende Betrachtuns: der verschiedenen Schriften und endlich eine zusammenfassende Darstellung der gedanklichen Einflüsse, die sich in dem her- metischen Korpus nachweisen lassen, dergestalt, daß Umfang und Intensität erkennbar werden, in dem und mit der sich hier frühere Lehrmeinungen geltend machen. Dazu müßte eine mehr literarische Untersuchung über die äußere Einkleidung treten (vgl. S. 387 Anm.), die dann wohl die positiven, konsti- tutiven Elemente der hermetischen Schrift stellerei herauszu- arbeiten hätte. Für alle diese Forderungen der Zukunft hat

Archiv f. Religionswissensohaft XX JJ

162 Ludwicr Deubner

der Verfasser das sei nochmals ausdrücklich hervorgehoben wertvollste Vorarbeit geleistet. Verzeichnet sei in diesem Zusammenhang ein Buch Fr. M. Cornt'ords, in dem der Versuch gemacht wird, das Fortleben religiöser Vorstellungen in den Theoremen griechischer Philosophen nachzuweisen.*

Das Verhältnis eines Dichters zur Religion schildert C, Pascal in seinem nicht sehr tief greifenden Buche über Aristophanes.' Es wird betont, daß manche satirische Darstellung der Götter sich schon in der Tragödie vorbereitet, und speziell auf die Abneigung des Dichters gegen alle fremdländischen Gottheiten hingewiesen; doch kann hieraus schwerlich das Verhältnis des Aristophanes zu Dionysos erklärt werden (S. 65). Für verfehlt halte ich die chthonische Deutung der Basileia am Schluß der Vögel , und auch dem für die Choen erschlossenen, mit dem Namen des Orest verknüpften Lustrationsritus (86 ff.) stehe ich höchst skeptisch gegenüber. Die Volkstümlichkeit der Götteranrufung und des Gebets in Aristophanes' Komödien hebt K. Ziegler hervor.*

Als ein Muster von Sagenanalyse sind die lichtvollen und über- zeugenden Untersuchungen Maltens über die kyreuäischen Sagenüberlieferungen hervorzuheben.* Die älteste epicl)orische Fassung wird rekonstruiert und scharf von der späteren Um- bildung geschieden, die in delphischem Intere.sse die Handlung von Kyrene fort nach Thessalien verlegt und mit ApoUon ver- bindet, auch den thessalisch-keischen Fruchtbarkeitsgott Ari- staios und den Vorgebirgsgott Antaiou genealogisch einbezieht.

' Fr. M. Cornford From Religion tn Philosnphy, a Study in thc Ori- gins of WcRtern Speculation, London 1912 Vtrl. Gmppe Berl. philnl. WocJientichr. 1913, 668 ff.

C. Pascal Dioniso, Saggio sulla religione e la purodia religiosa in Aristofanc, Catania 1911.

' K. Ziegler Die altattischen Komiker und die Volksreligion, Festschrift für Breslau (s. o. S. HoA. 6) 44ötr.

* L. Malten Kyrene, Sagenge-'Chtchtliche und historische l Untersuchungen, Philolog. Unters, lierausgeg. v. Kießling u. Wilamowitx lieft XX, Berlin 1911. Zur Beurteilung der bei Herodot vorliegenden Überlieferung vs]. .lacoby Pauly-Wissmra Suppl. II 434 ff.

Griechische und romische Religion 1911 1914 ][g3

Kyrene selbst erweist sich als Ortsnymphe, ohne jede weiter- reichende religiöse Bedeutung, im Gegensatz zu Aristaios, dessen Kult nach den verschiedensten Seiten der griechischen Welt ausstrahlte. Für nicht gelungen halte ich die Gleichsetzung der Teichinen mit den Hunden des Antaion (91 f.): es ist fast die einzige Stelle des ausgezeichneten Buches, wo sich ein Widerspruch regt. Der zweite Teil legt in der behutsamsten Weise die mannigfach verwickelten kyrenäisch-theräischen Sied- lungssagen auseinander und zieht mit sicherem Urteil die Schlüsse für das geschichtliche Substrat. Sie gipfeln darin, daß Kyrene zum ersten Male vor dem Jahre 1000 vom Pelo- ponnes aus durch Stämme besiedelt wurde, die der vordorischen Schicht angehörten und sich in der Heimat mit vordorischen Zuwanderern aus Thessalien vermischt hatten. Um 631 v. Chr. folgte dann eine zweite große Siedlungswelle aus Thera, und zwar waren es diesmal Dorer, die auf dieser Insel mindestens seit 1000 V. Chr. gesessen hatten. Die Kultstätten Kyrenes sind in dem topographischen Abschnitt 201 ff. besprochen. Das neue Material, das die im VII. Bande der Ox. Pap. veröffent- lichten Reste der kallimacheischen Aitia für die Urgeschichte von Keos lieferten (V. 56 ff.), mußte naturgemäß zu einer Ge- samtbearbeitung der ältesten keischen Sagen und Kulte reizen. Sie ist von K. C. Storck in einer Gießener Disser- tation unternommen worden^ und hat da und dort unsere Er- kenntnis erweitert und geklärt. Vor der Benutzung der Scho- llen zu Ovids Ibis (^Storck S. 21f.j ist zu warnen, vgl. Teuffel- Kroll Gesch. d. röm. Lit. II 107, 3 Abs. 2. Die wenig über- sichtlichen Ausführungen Vürtheims über die Stelluno- des Teukros und der Teukrer in der griechischen Sagengeschichte ^

^ K. Chr. Storck Die ältesten Sagen der Insel Keos, Disa. Gießen 1912. Ich verzeichne dazu P. G. Gunning De Ceorum fahulis I, Amster- dam 1912.

* J. J. G. Vürtheim Teukros u. die Teukrer, Untersuchnng der home- rischen u. d. nachhomer. Überliefening, Rotterdam 1913.

11*

1(54 Ludwig Denbner

enthalten, abgesehen von dem Hinweise auf die wahrschein- lichen Beziehungen d<'r Teukrer zu den Lelegern, nichts Be- merkenswertes.

Einige Gruppen von Metamorphosensagen hat Bubbe in seiner Dissertation zusammengefaßt.* Zunächst (Kap. I) solche Sagen, die von einer Verwandlung in ein Tier erzählen, z. B. lo, Kallisto. Sie hängen mit altem Tierkult zusammen und stellen die Verbindung zwischen diesem und entwickelteren anthropomorphen Vorstellungen her. Ihnen verwandt sind die im IV. Kapitel vereinigten Verwandlangen in Pflanzen: denn auch diese dachten sich die Griechen von göttlichem Numen beseelt. Die Verwandlungen in Steine (Kap. II) beruhen im wesentlichen auf äußeren Ähnlichkeiten, die in Vögel (Kap. Ili) auf deren Gebaren, das in mancherlei Zügen an das der Menschen erinnert. In II und III sind die volkstümlichen und die von Dichtern erfundenen Sagen getrennt behandelt. Die Arbeit enthält nicht viel mehr als eine katalogartige Auf- zählung.* Die Darstellung der Sagenentwicklung, die besonders im I. Kapitel geboten wird, würde man gerne enthehren, da sie für den eigentlichen Zweck der Schrift nichts ausgibt.

Den- Mythos vom Koreraub lührt Fr. M. Cornford auf die Bergung des geernteten Getreides in unterirdischen Vorrats- räumen zurück"' und erblickt in dem Hervorholen der Saat die Wiederkehr der Göttin. Im spätert-n Altertum scheinen solche Gedanken vorzukommen, der eigentliche Sinn des Mythos wird damit schwerlich getroffen. Völlig unkritisch und verfehlt ist der Versuch J. K Harrisons in derselben Festschrift^,

' ffualt. Bubl)e De mctamorphosibus Grnecorum capita selecta, Dise. Hai. XXIV 1 (1913). Eiu alle Metamorphosen umfassendes Buch wird vom Verf. auf S 1 in Anssicht gostellt.

' Vgl. auch da» Urteil von Magnus IJLZ 1914 S. 1197.

Fr, M. Cornford The dnaQxcci and the Elcusinian Mysieries, Essays and Sindifs prescnUd to William Kidgeway, Cambridge 1914, 163 ff.

* I. E. Harrison Sopli. Ichn.col. IX I / and the dgmuEvov of Kyllenc nvd the Satyrs, ebd 136 ff.

Griechische und römische Religion 1911 1914 \fjPf

die Kylleneszene der Ichneutai des Sophokles auf ein rituelles Frühlings-Dromenon zurückzuführen. Die Hemmungslosigkeit der vorgetragenen Kombinationen mag durch die Tatsache be- leuchtet werden, daß die zum Tode verurteilte Vestalin, der nach dem Ausdruck des Plutarch äiiaqyai von Lebensmitteln mitgegeben werden, mit Köre, d. h. dem in unterirdischer Vor- ratskammer geborgenen Korne, in Parallele gesetzt wird.

Die Volkstümlichkeit der Thanatosgestalt betont mit Recht K. Keinem ann,^ Neben der primitiven Vorstellung erscheint seit der Homerischen Sarpedonepisode der veredelte Typus des Bruders des Schlafes, und noch später betrachtet man den Dämon als den Erlöser von allen Leiden. Die Home- rische Vorstellung wird von der bildenden Kunst aufgegriffen, die den Tod immer in dem Sarpedonschema mit dem Schlaf gruppiert. Das starke Wiederaufleben dieses Motivs auf den weißgrundigen Lekythen wird einleuchtend aus der Sitte des k-xixdffio^ Adj^og abgeleitet, in dem der Vergleich mit Sarpedon, insbesondere für die in der Fremde gefallenen Krieger, nahe- lag (73 f.); dann fand die Übertragung auch auf andere Tote statt. Des Apuleius Märchen von Amor und Psyche auf einen orientalischen Göttermythos zurückzuführen versucht R. R eitzen- stein in einem gedankenreichen und literarhistorisch wert- vollen Büchlein.^ Wenn ich recht verstanden habe, soll der Mythos von der Vereinigung des Gottes Eros mit der Göttin Psyche in mystischen Kreisen Prototyp und Garantie für die Vereinigung der Menschenseele mit der Gottheit geworden sein (vgl. S. 28). Die Grundlagen für jene Auffassung des Apuleius- Märchens bestehen im wesentlichen aus folgendem. Einmal handelt es sich um zwei Anweisungen für einen durch Eros zu bewirkenden Liebeszauber. Es soll L auf einem Stein ein

* K. Heinemann Thanatos in Poesie tmd Kunst der Griechen, Dies. München 1913.

* R. Reitzenstein Bas Märchen von Amor mid Psyche bei Apuleiue, Leipzig 1912.

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Bild der Aphrodite hergestellt werden, wie sie auf der Psyche reitet und ihre Haare, offenbar in quälerischer Absicht, hochzieht; gleichzeitig soll Psyche von unten durch eine von Eros ge- haltene P^ackel gesengt werden. Auf der anderen Seite des Steins sollen Eros und Psvche voneinander umschlungen ab- gebildet werden. 2. soll ein bogenschießender Eros aus Wachs gefertigt werden, bestimmt, Psyche zu treffen. In beiden Fällen wird Eros im Zaubergebet mit einer großen Anzahl von Epi- theta und Prädikaten angerufen. Ich glaube nicht, daß die vorgeschriebenen Darstellungen auf eine Erzählung zurückgehen, wie R, meint (S. 19 f.). Es scheint sich mir einfach um Bilder der gequälten, zu quälenden und glücklich mit Eros vereinten Psyche zu handeln, die der Verfasser der Zaubertexte ohne allen religiösen Zusammenhang kennenlernen und die er pas- seuderweise als Mittel eines Analogiezaubers verwenden konnte. Genaueres wird sich erst sagen lassen, wenn alle die Bilder, deren Anfertigung die Zauberpapyri vorschreiben, auf ihre Vorlagen untersucht sind. Die Erzählung, die R. aus den Zauberbilderu und Apuleius erschließt, wird von ihm als helle- nistischer Göttermythos bezeichnet. Dann muß Psyche eine Göttin sein (S. 21), und zwar eine orientalische, die später ins Griechische umgedeutet wurde. Eine Spur dieser orientalischen Göttin findet R. in dem von Dieterich im Abraxas behandelten Papyrus, wo Psyche als siebente Gottheit vom Urgott geschaffen wird. Eine solche orientalische Göttin Psyche scheint es tat- sächlich gegeben zu haben, vgl Keitzenstein Hcidelh. Sitz. Ber. 1917 Abb. 10, einen Zusammenhang aber zwischen dem Mythos dieser Gfittin und dem Märchen des Apuleius halte ich nicht für er- wiesen.' Ebensowenig vermag ich in den von Reitzenstein be- hand<*lteu genrehaften Eros- und Psychedarstellungen der ägyp- tisch-hellenistischen Kleinkunst* eine Nachwirkung jenes Mythos

' V^rl. auch R. Helm Neue Jahrb. XXX III 1914, 170 ff. * K. Reitzenstein f'Jms und Psyche in der ägyptisch -griechischen Kh,„l-uvsf. Heidelb. Sitz. Bcr. 1914 Abb. 12.

Griechische und römische Religion 1911 1914 167

zu erblicken. Die auf diesen Darstellungen erscheinenden Mo- tive (Lampe, Flasche, Kanne) sind trotz Reitzenstein a.a.O. S. 7, 3 nicht auf eine Erzählung zurückzuführen, sondern finden in den entsprechenden Gegenständen, die mit jenen Darstellungen geschmückt sind, ihre ausreichende Erklärung.

Die Quellen des im platonischen Symposion vorgetragenen aristophanischen Mythos von den runden Doppelmenschen, die wegen ihrer Hoffart von Zeus zerschnitten werden und deren Hälften in Erinnerung an den Urzustand sich zu ver- einigen streben, untersucht K. Ziegler.^ Schon andere Ge- lehrte, z. B. Zeller und Bury, hatten auf Anklänge an Empe- dokles aufmerksam gemacht, die sich im Symposion finden; die platonischen Doppelmenschen erweisen sich als nahe ver- wandt den mit doppeltem Gesicht, doppelter Brust und mann- weiblicher Bildung^ ausgestatteten Geschöpfen der zweiten Empedokleischen Schöpfungsperiode. Ziegler schließt aus diesen und anderen, mir weniger durchschlagend erscheinenden Parallelen auf enge Beziehung zwischen Plato und Empedokles. Er nimmt dann aber weiteV an, daß eine Reihe von Zügen des platonischen Mythos die engste Berührung mit der orphischen Kosmogonie aufwiesen. Insonderheit hält er die Teilung des orphischen Welteis in Himmel und Erde für eine wichtige Analogie zur Teilung der platonischen Doppelmenschen. Er erschließt demzufolge eine orphische Anthropogonie, die von Empedokles und Plato benutzt sei, von Plato nicht direkt, sondern durch eine nicht mehr nachweisbare Mittelquelle, die Empedokles mit der orphischen Anthropogonie kontaminiert habe. Die orphische Anthropogonie sei ferner von babylonischen Vorstellungen abhängig, die ihrerseits auch die biblische Schöp-

^ K. Ziegler Menschen- und Weltenwerden, ein Beitrag zur Gesch. ä. Mikrokosmosidee, Neue Jahrb. XXXI 1913, 529 ff.

^ In Neuseeland glaubt man, daß vor der eigentlichen Weltschöpfung im Chaos doppelgeschlechtige Wesen existierten, vgl. Archiv X 1907, S. 542:

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fungsgeschichte beeinflußt hätten. Die Verbindung der Orphik mit altbabylonischen Vorstellungen kann zugegeben werden, wenn auch über das Alter dieser Orphik eine genauere Unter- suchung erforderlich ist. Die Beziehungen aber des platonischen Mythos zur Orphik scheinen mir keineswegs erwiesen. Wir kommen m. E. für Plato über Empedokles nicht hinaus. Und auch hier ist vor Überschätzung der aufgedeckten Parallelen zu warnen. Ziegler faßt die Rede des Aristophanes bei Plato als eine Parodie auf eine damals bekannte Anthropogonie auf. Das ist sehr fraglich. Das Wesentliche an Aristophanes' Erzählung, das poetisch Tiefste, die Erklärung des Eros als Sehnsucht nach der Ganzbeit, hat nirgends eine Parallele. Wenn Plato zur Einkleidung die.ses Gedankens Züge aus Empedokles entlehnt, die aus der Lektüre in seiner Erinnerung hafteten, so hat das nur eine sekundäre Bedeutung. Die ganze Erzählung des Aristophanes ist eine einfache und folgerichtige Entwicklung des einen Grundgedankens, und daß diese Einfachheit eine Folge zahlreicher Umbiegungen von Einzelheiten sei, die letzten Endes aus verschiedenen Vorlagen stammen, wie der Verfasser meint, will mir nicht einleuchten. Was Plato, der Künstler, bieten wollte, war nicht eine Zusammensetzung von Mosaik- stiften — um ein Wort Harnacks zu gebrauchen und über- haupt keine durchgeführte Parodie, sondern eine Charakteristik des genialen Erfinders Aristophanes, der wahrscheinlich nicht lange vorher gestorben war. Daß bei der Konzeption dieses Stückes empedokleische Anregungen von Einfluß waren, ist wahrscheinlich, mehr aber schwerlich.

Nur literarisch ist die graziöse Plauderei Andrew Längs über den Helen amythos* zu bewerten. In dem für weitere Kreise verfaßten populären Büchlein über die mythischen und wissen- Bchal'tlichen Anschauungen von Entstehung und Untergang

Andrew Lang Adventurcs among Hooks, 3. Aufl., London usw. 1912, 287 ff.

Griechische und römiscbe Religion 1911 1914 lß9

der Welt berührt M. B. Weinstein^ auch die dahingehörigen Ideen der griechischen Mythologie und Philosophie. Be- herzigenswerte Bemerkungen über die Freiheit, mit der die epischen Dichter der Griechen ihre mythischen und historischen Stoffe verarbeitet haben, findet man in einem Aufsatze W. Krolls.- Wir wenden uns den Arbeiten zu, die einzelne Epochen der griechischen Religionsgeschichte zum Gegenstand haben. Für die kretische Kultur enthält das dieser Kultur gewidmete Buch R. Dussauds^ eine sehr verdienstliche Zusammenfassung des religionsgeschichtlichen Materials in dem 5. Kapitel Cultes et mythes, S. 193 273. Es werden besprochen: die Kultlokale, Doppelast, liorns of consecration und Schildfetisch, heilige Bäume und Pfeüer, Altäre und Libationsgeräte, Idole, Schlangenfrauen, Gesten der Adoration und des Segnens, Tier- Dämonen, Zeus, Rhea und andere Götter, ritueller Stierfang und Votive, Totenkult und Grabbeigaben; den Beschluß bildet eine genauere Analyse des Sarkophags von Hagia Triada. Nicht sehr befriedigend ist, was über die kretischen Götter vorgebracht wird (246 ff.), auch daß der Sförmige Schild ebenso mit dem Donner in Beziehung steht, wie die Doppelaxt mit dem Blitz (S. 207), scheint mir sehr fraglich. Dagegen ist die Deutung der Schlangenfrauen als Priesterinuen (S. 234) zu beachten. Der Skepsis des Verfassers gegenüber manchen zu weitgehenden reli- giösen Deutungen des glücklichen Wiederentdeckers von Knosos werden die meisten beistimmen. Mit altkretischer Religion und Mythologie beschäftigt sich auch ein Kapitel der tango färben einge- kleideten minoischen Impressionen Sir Galahads* (17ff'.). „Reli-

^ M. B. Weinstein Entstehung der Welt und der Erde nach Sage und Wissenschaft, Aus Ivatur und Geisteswelt 223, 2. Aufl., Leipzig und Berlin 1913. Ders. Der Untergang der Welt und der Erde in Sage wid Wissenschaft, Aus Natur und Geisteswelt 470, Leipzig und Berlin 1914.

* W. Kroll Sage und Dichtung, Neue Jahrb. XXIX 1912, 161 ff.

^ R. Dussaud Les civilisations prehelJeniques dans le bassin de la mer egee, Paris 1910; 2. Aufl. 1914.

* Sir Galahad Im Palast des Minos, München 191 S.

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gere bedeutet verbinden*', „(Religion) bedeutet Wiederverknüpfung des in Einzelleiber auseinandergefallenen Lebens zu unirdischer, unzerreißbarer Geisterkette". ^Labris', Teplon', 'Hymation* weist nicht gerade auf Vertrautheit mit griechischer Kultur; ^enterdet", 'völkerlang', 'narzißhafte Verichung' und dgi. mehr überrascht unser Stilgefühl. Manches ist nicht ohne Witz, das meiste gedunsen.

Die Frage nach dem Einfluß der mesopotamischen auf die frühhellenische (1500 1000 v.Chr.) Religion erörtert LR. FarnelP in seiner sorgfältigen, weitblickenden, unbestechlichen Art. Er kommt zu einem rein negativen Resultat. Mit vollem Recht. Vielleicht erscheinen Stoff und Darstellung manchem etwas umfangreich im Verhältnis zu dem behandelten Problem. Die Beweislast fällt ja überhaupt dem Gegner zu. Aber das Buch ist auch mehr als eine polemische Auseinandersetzung: es bietet eine lehrreiche vergleichende Charakteristik der ge- nannten Religionen. Eine Schwierigkeit liegt bei solchen Be- trachtungen in der genaueren Fixierung dessen, was 'hellenisch' ist. Welche Vorstellungen haben die einwandernden Hellenen mitgebracht und welche waren etwa schon vor ihnen da? Ist die hellenische Religion einheitlich? Gibt es ethnographische Unterschiede? Sind diese noch faßbar? In einem wertvollen Buche, das dem Einfluß der orientalischen Kunst auf die archa- isch-griechische nachgeht, zeigt Fr. Poulsen', wie auch die Typen griechischer (Jötter und Dämonen von orientalischen, insbesondere syrischen Vorbildern abhängig sind. Vgl. z. B. die Behandlung der tiöxviu 7>i]Q(Öv llSlf.

Eine Charakteristik der hellenistischen Religion enthält der zweite Band von M. Wundts Griechischer Ethik' (344(1".). Die tiefdringende Energie seines Denkens erfaßt die Gegensätz-

' L. R. Farnell Greece and Babylon, a Cowparative Sketch of Meso- potamian, Änatolian nnd Jlellenic lieligions, Edinburgh 1911.

' Fr. Poulsen Der Orient und die früh griechische Kunst, Leipzig u. Berlin 1912.

' Max Wundt Geschichte der priechischeu Ethik, Band II: Der Jlellenisvius, Leipzig 1911.

Griechische und römische Religion 1911—1914 171

lichkeit dieser Periode zu den früheren in voller Schärfe und sucht ihre allgemeinen konstitutiven Faktoren (Rationalisierung, Technisierung, Individualisierung der Religion usw.) in mög- lichster Geschlossenheit herauszustellen, nicht ohne jene feine Vergewaltigung, die von allem philosophischen Denken un- zertrennlich bleibt. Es steht z. B. nicht so, daß im Hellenismus alle Götter freizügig werden und vorher alle Götter wurzelhaft festsaßen. Schon der missionierende Kult des Apollon ist für die frühere Epoche ein durchschlagendes Gegenbeispiel. Auch jene Herleitung des Herrscherkultes aus der Tatsache, daß der Monarch Vertreter eines normgebenden Sittengesetzes sei (42 f.), entschwindet in allzu abstrakte Höhen. Besonders lesenswert sind die Ausführungen über den Zusammenhang zwischen Stoa und Volksreligion (287 ff.). Das Dasein der epikurischen Götter wird vollkommen zutreffend als Spiegelbild des Idealzustandes des epikurischen Weisen aufgefaßt (S. 201).

Den Einfluß der griechischen Kultur im römischen Nord- afrika weist W. Thieling^ auch an griechischen Weih- und Grabinschriften, an Fluchtafeln und Amuletten nach. Von 92 afrikanischen Fluchtafeln sind 20 völlig griechisch, 29 orie- chisch und lateinisch abgefaßt, 41 zwar lateinisch, aber viel- fach mit einzelnen griechischen Buchstaben, Formeln oder Fremdwörtern vermengt (S. 45). Von den Weih- und Grab- inschriften gibt der Verfasser auf S. 32 ff. eine erstmalige Sammlung (80 Nrr.); 14 Amulettinschriften folgen weiter unten S. 51 ff. Außerdem sei auf die Liste der griechischen Personennamen verwiesen, die aus dem Mythos oder Kultus abgeleitet sind (116 ff.).

Das gedankenreiche und anziehende Buch von G. Murray- behandelt vier Abschnitte der griechischen Religions- geschichte: die primitive Periode, die Olympier, die heUe-

" W. Thieling Der Hellenismus in Kleinafrika, Leipzig und Berlin 1911. ' G-. Murray Fot/r Stages of Greek Religion, New York 1912,

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nistische Epoche und die Reaktion unter Julian. Im Mittel- punkt des ersten Kapitels stehen Erörterungen über die Ent- stehung der Götter, die besonders beachtenswert sind, soweit sie den Ritus als Ausgangspunkt von Göttervorstellungen be- trachten. Zurückhaltender wird man sich der Auffassung georenüber zu verhalten haben, daß der Medizinmann oder Zauberkönig der erste Gott gewesen sei und ein wesentliches Teil zur Bildung der Gottesvorstellung beigetragen habe, in- dem seine gelegentlich beobachteten Mißerfolge zu einer Differenzierung zwischen ihm und dem hinter ihm stehenden wirklichen Gott führten ( S. 40). Ebenso fraglich ist es, ob und inwieweit auf griechischem Boden mit der Formel Douttes: der Gott sei le dcsir collectif personnifie gerechnet werden kann, und auch die an Miß Harrisons Arbeiten anschließenden Aus- führungen über den Jahresdämon Kuros, aus dessen Wieder- auferstebung der xgCxog 6(dt7]q wie mir scheint allzu külm abereleitet wird, sind mit Vorsicht aufzunehmen. In demselben ersten Kapitel findet man gute Bemerkungen über heilige Tiere und ihr mana^ sowie über die Attribute von Göttern und deren im Verhältnis zur Gottheit ursprünglich selbständige und originale Bedeutung; auch über Tabu und Orakel wird ge- handelt. Das zweite Kapitel schildert die olympischen Götter. Sie gehörten dem Nordvolke an, das in Griechenland eindrang, und tragen den Charakter von Eroberern an sich. Durch die ionischen Säuger umgebildet, erhielten diese Gestalten ihre Ausprägung, vornehmlich in Athen. Sie haben das rohe Ritual der Vorzeit in den Hintergrund gedrängt und Ordnung in da* Chaos relijiiöser Vorstellungen gebracht; auch waren sie ge- eignet, als (j Otter der ndkitg verehrt zu werden und kom- pensierten den Mangel an reeller Bodenständigkeit durch eine allgemein menschliche, symbolische Bedeutsamkeit. Das dritte Kapitel handelt von dem Verfall der olympischen Religion, dem Aufkommen der Tycheverehrung und des Schicksals- glaubens, der Verehrung der Planeten, dem Wiederaufleben

Griechische und römische Religion 1911 1914 173

primitiver Denkweise sowie von den Gestalten des Mittlers und des Erlösers und von der Vergöttlichung der Fürsten. Den Kern des vierten Kapitels bildet der Katechismus des unter Julian und in seinem Sinne schreibenden Sallustius neQl d's&v xal y.66^aov, von dem anhangsweise eine Übersetzung mit- geteilt wird. In seinem warm empfundenen Reisebüchlein kommt 0. Kern^ in einer auch den Fachmann anregenden Weise auf Probleme der griechischen Religionsgeschichte, (Zeus, Olymp, Musen, Kabiren, Fortleben der Kultformen der eleusinischen Mysterien im heutigen Griechenland) zu sprechen.

Dem römischen Totenkult ist ein dänisch geschriebenes Werk J. P. Jacobsens gewidmet.^ Der erste Band behandelt das gegenseitige Verhältnis von Lebenden und Toten, und überhaupt die grundlegenden Gedanken des Totenkultus, der zweite das Göttliche im antiken Menschen (Heroen, Genius, Kaiserkult). Ein dritter Band soll den Toten- und Heiligen- kult der römischen Kirche schildern. Ihn vorzubereiten, ist der Zweck der beiden ersten Bände, die gleichwohl selb- ständige Bedeutung besitzen.

Eine wertvolle Monographie der Kulte von Ostia verdanken wir L. Ross Taylor,^ die von J. B. Carter zu diesem Thema angeregt wurde. Es war ein glücklicher Gedanke, die durch die neuen Ausgrabungen von Ostia gewonnenen Funde dem bereits bekannten Material zuzuordnen und eine Gesamtdarstel- lung zu unternehmen. Die Verfasserin gliedert den Stoff in drei Kapitel: T. Griechisch-römische Gottheiten, II. Kaiserkult, III. Orientalische Gottheiten. Das hauptsächlich epigraphische Material setzt nicht vor dem 1. Jahrhundert der Kaiserzeit ein

' 0. Kern Nordgriechische Skizzen, Berlin 1912.

^ J, P. Jacobsen Manes, Die Toten und das Menschenleben, 2 Bde, Kopenhagen nnd Christiania 1914. 1916. Band II führt den Untertitel Der große Mensch, Genius und Manes. Einige Mitteilungen über den Inhalt des mir durch seine Sprache unzugänglichen "Werkes verdanke ich der großen Liebenswürdigkeit meines KoUegen John Meier.

' Lily Ross Taylor The Cults of Ostia, Diss. Pennsylvania 1912.

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und strömt erst im zweiten und dritten reichlicher zu. Der älteste und ehrwürdigste Kult ist der des Volcauus, wie ins- besondere aus dem Titel des obersten Priesters der Stadt pontifex Volcani et aedium sacrarum hervorgeht. Vom 2. Jahr- hundert ab macht sich ein starkes Eindringen der orientalischen Kulte bemerkbar, deren ungewöhnliche Expansion nicht nur durch die Kaufleute des Ostens bedingt wird, sondern vor allem durch die große Menge von orientalischen Arbeitern in den Docks, Speichern und Kaufläden. In der späteren Kaiserzeit befindet sich sogar ein Mann senatorischen Ranges unter den Priestern der Isis. Die Darstellung der dankens- werten Arbeit ist klar und ruhig. Es ist ein Vergnügen, sich der umsichtigen und sicheren Führung der Verfasserin an- zuvertrauen.

Den von den Römern geübten metonymen Gebrauch von Götternamen zur Bezeichnung einer Sache, die der betreffen- den Gottheit unterstellt ist, untersucht 0. Groß' in einer fleißigen Dissertation. Es ergibt sich, daß jene Art Metonymie bei den Römern liäufiger ist als bei den Griechen, was S. 312 richtig aus der Tatsache erklärt wird, daß die Römer eine Gottheit nicht selten durch den Namen des Gegenstandes, in dem sie waltet, bezeichneten (Janus, Vesta, Terminus u. a.). Der Hauptteii der Arbeit besteht einmal in der historischen Verfolgung der besagten Metonymien durch die römische Li- teratur, zum andern in einem alphabetischen Katalog der metonym gebrauchten Götternamen mit den nach verschiedenen Nuancen gruppierten Belegen. Auch griechische Parallelen werden diesen Belegen hinzugefügt, um die häufige Nach- ahmung griechischer Metonymien durch die Römer zu ver- anschaulichen.

Die Zeugnisse (zum größeren Teil griechische) für Ver- crleichung oder Gleichsetzung der römischen Kaiser mit be-

* 0. Groß De mrtonymiis sermonis latini a deorum nominibus petÜis, DiB8. Hai. XIX 4 (1911).

I

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stimmten Göttern und ihre Aufnahme als 6vvvaoi in bereits be- stehende Kulte sammelt und bespricht P. Riewald^ in einer gründlichen Arbeit. Über Darstellungen des Tempels des Divus Augustus und des Palatinischen Apollo auf Münzen und die Lage des Augustustempels handelt 0. L. Richmond.^

Der salisehen Priesterschaft hat R. Cirilli eine um- fangreiche Monographie gewidmet^, nach der man zu schneller Orientierung wohl gelegentlich greifen wird, da sie das Material für die äußere Geschichte des Kollegiums, seine Organisation und Verwaltung, seine Attribute und Riten bequem vereinigt. Dazu kommen im Anhang die inschriftlichen und literarischen Zeugnisse. Die Hauptsache indessen, die religionsgeschichtliche Einordnung, ist völlig verfehlt.* Wenn hier die Salier von den Kureten abgeleitet werden, Mars als Blitzgott gedeutet und der Waffentanz als Kampf gegen böse Geister aufgefaßt wird, so erscheint gerade diese Arbeit höchst ungeeignet, einen Beleg dafür zu liefern, daß eine fruchtbare Betrachtung der altrömischen Religion heutzutage über die römisch-italischen Grenzpfähle hinausblicken müsse. Dies ist nämlich die an sich nicht un- richtige Ansicht Toutains, der das Buch mit einer empfehlen- den Einleitung versehen hat, in der die Solidität und Gründ- lichkeit der religions geschichtlichen Methode Cirillis gerühmt wird. Angesichts der Tatsache, daß z. B. die Mamuralia und das Regifugium ohne jede Hemmung schlankweg für identisch erklärt werden (I33f.), kann man zu solchem Urteil eines Gelehrten von Ruf nur den Kopf schütteln. Mit Problemen, die sich an die Priestertümer des muni- zipalen Kaiserkultes knüpfen, beschäftigt sich die ergebnis-

^ P. Riewald De imperatorum Bomanorum cum certis dis et compa- ratione et aequatione, Diss. Hai. XX 3 (1912).

* 0. L. Richmond Tlie Temples of Divus Augustus and Apollo Pa~ latinus upon Eoman Coitis, Ridgewayfestsclirift (o. 164) 198 ff.

* R. Cirilli Les pretres da7iseurs de Borne, Paris 1913.

* Vgl. Wissowa Berl. pJiilol. Wochenschr. 1915, 19 ff.

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reiche und in ihrer sorgfältigen Knappheit musterhafte Arbeit Fr. Geigers.^ Sie gibt Aufschlüsse über den verschiedenen Ge- brauch der Termini flameti, sacerdos, pontifcx, weist nach, daß die Bezeichnung jlamcn Angnslorum nur auf gleichzeitig regierende Herrscher, nicht auf einen lebenden und die Gesamtheit der konsekrierten, bezogen werden darf, daß in den griechischen Bezeichnungen des Kaisernameus bei konsekrierten Herrschern O'fjig meist an der Spitze der Reihe steht, bei lebenden an späterer Stelle, daß der jlamcn perpetims der afrikanischen In- schriften keine.swegs ein lebenslängliches Amt darstellt, sondern einen vermutlich mit dauernder Würde und Abzeichen ver- bundenen Ehrentitel u. dgl. mehr.

H. F. Soveri- ordnet die bei Tertullian de spectaculis sich findenden Nachrichten über die römischen Spiele in drei Haupt- abschnitten: Namen, Ortlichkeiten und Apparat der Spiele, wo- bei die Einzelheiten ausfiihrlicli erörtert werden. Am Schluß sind Tabellen angehängt, die über die Verteilung der Spiele auf das Kalenderjahr für den Anfang des 1. und 3. und die Mitte des 4. Jh. n. Chr. einen praktischen Überblick geben. Mit der Interpretation der 4. Ekloge Vergils beschäftigt sich R. C. Kukula.^ Er deutet das Gedicht auf Oktavian und be- trachtet es 'als ein offizielles Präludium der für 39 v. Chr. ge- planten Säkularfeier'. Die Basis für diese Auffassung gewinnt der Verfasser dadurch, daß er aus dem Gedichte ein vom Dichter zitiertes sibyllinisches Orakel herausschält (V. 4 10; 18--45). Diesem Orakel werden auch die Schlußverse 60 63 zugeteilt, die zwischen Vers 25 und 2() gerückt werden. Da nunmehr

' Kr. (Jeiger De sacerdotibus Augustontm municipulihirs, Disa. Hai XXIIl 1 (1913). Vocabulo 'niutticipalis' non solum munidpia profvie dicta et coloniw Jionuinae rtl Latinac covtjn'ehendutihir, sed ctiam ciritutes, op).ida, pagi, gctilcs indigenarum, i. e. omnea congrcgutiuncs, qxuie formani lei public(ie hiibcnt (p. 1).

* H. F. Soveri De ludurum memoria, jyraecipue Teriullianen, Helsing- fors 1912.

' R. C. Kuknla Bümische Säkular poesie, Leipzig u. Berlin 1911, 41 ff.

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die Yerse über den puer und seine Geburt insgesamt im Orakel stehen, also zeitlos sind und nicht notwendig eine Beziehung auf die Gegenwart haben, so wird es möglich, die Worte des Dichters mit dem erwachsenen Oktavian zusammenzubringen, woraus sich dann für die Einzelinterpretation weitere Folgerungen ergeben. Ich glaube nicht, daß die Umstellung der Schluß verse gerechtfertigt werden kann, und finde nicht, daß sie zwischen 25 und 26 hineinpassen. Ebensowenig vermag ich den Ge- dichten 16 und 17 des Theokrit eine Bedeutung als Vorlagen der Ekloge zuzumessen, wie der Verfasser will. Am aller- wenigsten aber dürfen jene Gedichte und die 4. Ekloge als Stützen der heute doch wohl überwundenen Theorie von der sakralen Bukolik verwendet werden (vgl. S. 76).

Die Cacuslegende untersucht Fr. Münzer in einer sorg- fältigen und klärenden Arbeit.^ Besonders für die StoJBPbehand- lung Vergils, der Cacus nicht als Menschen, sondern als Un- geheuer schildert, sind hier lehrreiche Beobachtungen zu finden. Für die Abhängigkeit der römischen Sagenbildung von grie- chischen Mustern ist die eingehende Analyse der Numafabel von W. Buchmann zu vergleichen, der für die Schilderung von Numas Persönlichkeit, sein Schülerverhältnis zu Pythagoras und seinen Verkehr mit Egeria griechische Motive als Vorlagen nachweist. Von speziellem Interesse ist S. 50 fi". die Wider- legung der Ansicht, daß die Quellgöttinnen nach altrömischem Glauben die Gabe der Weissagung besessen hätten (vgl. Wissowa Bei. u. Kultus d. Bömer^ S. 221). Auch diese in der römischen Literatur vertretene Auffassung beruht auf griechischem Einfluß.

Warde Fowler veröffentlicht 20 Vorlesungen über die Religion der Römer bis auf die Zeit des Augustus.^ Die Vorlesungen sind in Edinburg gehalten und für einen weiteren

^ Fr. Münzer Cacus der Einderhirt, Basel 1911.

* Gull. Buchmann J)eiVt<»jaere<jf/s2?o/noMOrMw/a6tt?a,Diss.Leipzigl912. ' W. Warde Fowler The Tteligious Experience of tlie Roman leople from the Earliest Times to the Age of Augiistus, London 1911.

ArchiT f. EeUgionswisseDSchaft XX 12

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Zuhörerkreis bestimmt. Das Buch gibt sich also als populär und verweilt des längeren auch bei bekannten Dingen. Es erhält seine spezielle Orientierung durch den Versuch, die Religiosität der Römer herauszuarbeiten und zu charakterisieren. Die moralischen Seiten dieser Religiosität sind für den Ernst der englischen Ethik alten Stils besonders anziehend. In diesem Sinne ist die Darlegung des behandelten Stoffes durchaus eng- lisch, und es liegt für den Leser etwas Eindrucksvolles darin, daß der Verfasser in diesen Dingen auf unmittelbares Ver- ständnis bei seinen Landsleuten rechnen darf. Das Buch ist keineswegs bloß eine ethische Betrachtung. Sein wissenschaft- licher Wert beruht vor allem auf der Anwendung des ent- wicklungsgeschichtlichen Standpunktes, auf der Scheidung von Schichten. Die zweite und dritte Vorlesung beschäftigen sich mit jenen Anfängen der Religion, die wir heute als die Epoche der Magie bezeichnen, und auch über die Überreste dieser Epoche in späteren Entwicklungsstadien finden sich wertvolle Bemerkungen. Dagegen vermag ich keine Anzeichen davon zu erblicken, daß die Staatsreligion gegen die Magie einen energischen Kampf gekämpft habe. Der Unterdrückungsprozeß wird vielmehr ein friedlicher und selbstverständlicher gewesen sein, und wir haben ja auch genug der Fälle, wo der offizielle Kult alte 'magische' Riten konservierte, Fowler hat sich seit vielen Jahren mit der römischen Religion beschäftigt, schon im Jahre 1899 erschien seine wichtige Bearbeitung der römi- schen Feste. Es ist daher von großem Interesse, seine Auf- fassung in Bezug auf zweifelhafte oder strittige Punkte der römischen Religion zu erfahren. Daneben findet der Leser eine ganze Reihe von neuen anregenden Bemerkungen, so über den religiösen Ursprung der toga praetexta (vgl. Diels Sibyll. Bl. S. 70 Anm.), über das Fortwirken der durch den Rex ver- körperten Verbindung von politischer und religiöser Macht in der Stellung des Pontifex und der höheren Magistrate, über die Identität der rituellen Furche bei der Stadtgründung mit dem

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Pomerium, über die reinigende Bedeutung des Triumphbogens für das durchziehende Heer (dies nach van Gennep und Ande- ren), womit das Durchschicken des besiegten Feindes durch ein Joch zusammengebracht wird. Schlagend richtig ist die Betonung der Verwandtschaft des Flamen Dialis mit den ta- buierten Magier-Königen, nur "wird man den Flamen nicht von dem Könige von Alba ableiten, sondern lieber annehmen, daß die Vorfahren der Römer selbst einen solchen tabuierten König besaßen. Erst diese Erkenntnis macht die Bestimmung ver- ständlich, daß dem Flamen Dialis der Sitz in der Kurie zu- steht. Daß der König bei den Römern (oder ihren Vorfahren) frühzeitig von den Tabus befreit wurde, erklärt sich hinläng- lich aus der Kampfstellung, in die dieses Volk durch seine Geschichte versetzt wurde. Fowler zweifelt mit Wissowa an römischen Menschenopfern, sieht in den Argei einen Regen- zauber, hält die Laren für Flurgötter, lehnt die Ottosche Auffassung der Juno als Erdgöttin ab und sagt Beherzigens- wertes gegen eine allzu juristische Behandlung der römischen Religion. In manchen Einzelheiten trage ich Bedenken zu folgen. Zweifelhaft scheint mir u. a. die Zuweisung der Lemu- ria an eine ältere Rasse, die Beschleunigung der Personifika- tion göttlicher numina durch priesterlichen Kult, die Ver- mehrung der göttlichen Kraft durch das Opfer (dynamische Opfertheorie), die Individualisierung der Religiosität durch den Kult des Juppiter 0. M, Besonderen Wert für das Verständ- nis echt römischen religiösen Empfindens mißt Fowler der Aeneis Vergils bei, der er eine ganze Vorlesung widmet. Doch ist der romantische Charakter dieser Poesie gar nicht in Rechnung gezogen. In einigen Fällen entstehen Unklarheiten dadurch, daß der Verfasser sich bemüht, verschiedene Ansichten zu vereinigen. So betrachtet er die Indigitamenta als eine Schöpfung der Pontifices, nimmt aber an, diese Namenlisten seien dadurch hervorgerufen, daß das Volk von jeher eine Menge von namenlosen Geistern mit allen Phasen seines Lebens

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verbunden gedacht habe: diese «uw?«« hätten die Pontifices später benannt und systematisiert. Daß die Priester Ordnung in diese Vorstellungen brachten, ist sehr wahrscheinlich, dagegen wird die Benennung jener Geister zweifellos im wesentlichen ein Werk des Volkes sein, das sich diese Geister schuf. Wie sollte man sich auch namenlose Götter in größerer Zahl vorstellen?

Mit der relipfiösen Gesinnunf' der Römer im letzten Jahrh. n. Chr. beschäftigt sich ein zweites weniger umfangreiches Buch Fowlers.^ In sechs Vorlesungen wird vornehmlich die Be- deutung des Genius, der im Juppiterkult liegenden monothei- stischen Tendenzen, der Fortuna und der Apotheose großer Männer entwickelt, worauf zum Schluß der Verfall der poly- theistischen Religion geschildert wird, deren Götter schon in der augusteischen Zeit einen nur noch symbolisch-oi-namentalen Wert besitzen. Es liegt in der Natur der Dinge und in der Art unseres (^uellenmaterials, daß Betrachtungen wie die von Fowler angestellten etwas Vages an sich haben, nicht zu festen und bestimmten Resultaten führen können: dem subjektiven Empfinden ist ein ziemlich weiter Spielraum gestattet. Indessen die vorsichtige Herausschälung des religiösen Gebalts der be- handelten Epoche erzeugt doch willige Bereitschaft zu nach- fühlendem Verstehen, und die ethische Grundstimmung des Buches verleiht dem alten, echten Römertum einen warmen Schimmer. Bedenklich scheint mir die Auffassung, daß bereits der primitive Jup])iterkult einen monotheistischen Charakter gehabt habe: auch den folkloristischen Analogien des einen großen Gottes bei unkultivierten Völkern (70 ff.) stehe ich nicht ohne Skepsis gegenüber.

' W, Warde Fowler Roman Ideas of Deity in the Last Century befoir the Christian F.ra, London 1914, Ich verzeichne noch J. B. Carter Tlie Jicligious Life of Ancient Home, a Study in the Development of lieligious Consciousness from the Foundation of the City until the Death of Gregory the Great, London 1911 und dazu Wendland Tlieolog. Literaturz. XXXVJI 1912. 417f.

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Von J. Toutains großem Werk ist der zweite Band des ersten Teiles erschienen.^ Er behandelt die Verbreitung der orientalischen Kulte in den lateinischen Provinzen und ergänzt somit die Darstellung Cumonts (s. u. S. 202) in er- wünschter Weise. Auch in diesem Bande ist der Hauptwert darauf gelegt, das geographische und soziale Verbreitungsgebiet der besprochenen Kulte nachzuweisen. Es ergibt sich dabei die bemerkenswerte Tatsache, daß die orientalischen Kulte in den Provinzen mindestens zu einem sehr großen Teile auf äußere Faktoren, wie vor allem auf die kaiserliche Gunst, zurück- zuführen sind. Die Vulgatvorstellung von dem Einfluß der orientalischen Kulte auf das religiöse Leben der Kaiserzeit, die für den Mithraskult in dem vielzitierten Worte von Renan ihren Ausdruck findet: Wenn die Welt nicht christlich geworden wäre, würde sie mithreisch geworden sein, bedarf nach den Ausführungen Toutains einer ganz erheblichen Revision. S. 216,1 durfte für Apuleius Magie ein Hinweis auf das Abtsche Buch nicht fehlen.

Ein guter Abriß der römischen Religion findet sich in dem hübsch illustrierten Handbuch der römischen Altertümer von H. Stuart Jones.^ Wenn auch im einzelnen überwundene Auffassungen begegnen, wie die Gleichsetzung des Oktober- rosses mit dem Korngeist oder die Erklärung der Vestalinnen als Töchter des Königs, so kann die Gesamtdarstellung doch als njp to date bezeichnet werden: Fowlers Keligions Experience (s. 0. S. 177) lag dem Verfasser bereits vor. G. Wissowas im- posantes Meisterwerk ist nach zehnjähriger Frist in 2. Auflage erschienen.^ An äußerem Umfang um 80 Seiten gewachsen, hat es vor allem in den Anmerkungen reichen Hinweisen auf die neueren literarischen Erscheinungen Raum gegönnt, Erschei-

^ J. Toutain Les ciiltes paiens dans Vempire romain I 2, Paris 1911, vgl. Archiv XIV 1911, S. 597.

^ H. Stuart Jones Comxanion to Vornan History, Oxford 1912.

' G. Wissowa Beligion tincl Kultus der Sömer, 2. Aufl., München 1912.

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nungen, die zum guten Teil durch die Erstauflage dieses Buches angeregt wurden, das zum ersten Male aller Forschung über römische Keligion sicheren Boden bereitete. Die Gesamtanlage des Werkes, das eine Darstellung der römischen Staatsreligion geben will, ist unverändert, ohne Zweifel zu seinem Vorteil. Niemand, der sich in dieses Buch eingelebt hatte, konnte wünschen, daß es seinen Charakter aufgebe. Indes die ge- spanntere Position, in der sich Wissowa früher der allgemeinen religionsgeschichtlichen Forschung gegenüber befand, ist zu unserer großen Freude einer Auffassung gewichen, die die Möglichkeit gegenseitigen Nehmens und Gebens anerkennt, wenn auch mit berechtigter Reserve. Die Forderung, daß jedes Stück einer Beweisführung zuerst innerhalb der römischen Religion und Kultur seinen Platz angewiesen erhalten müsse, ehe man ans 'Vergleichen' geht, wird jeder 'Vergleicher' unterschreiben, dem seine Arbeit nicht Spiel ist. Wer aufmerksamen Auges den neuen Band durchblättert, wird nichtsdestoweniger fest- stellen können, daß die früher ganz in den Hintergrund tretende Urgeschichte der römischen Religion jetzt so weit zu ihrem Recht kommt, wie man es in dieser Darstellung billigerweise nur verlangen kann. Besonders bezeichnend für diesen Um- schwung ist der Abschnitt über den Terminus, der früher als Abspaltung von Juppiter Terminus galt, nun aber in sein Recht als selbständiger Fetisch eingesetzt ist (136 ff.). Von sonstigen Änderungen ist vor allem das Kapitel über Juno zu erwähnen, die dem männlichen Genius gegenüber die empfangende und gebärende Funktion der jungen Frau (iuno : iuvetiis) verkörpert, aus welcher Urbedeutung mit Evidenz die mannigfachen Kom- petenzen der Göttin hergeleitet werden. Wissowas Werk hati im neuen Gewände an Kraft gewonnen. Es ist reicher und voller geworden und wird mehr noch als in der ersten Auf- lage der zuverlässigste Ratgeber demjenigen sein, der auf diesem Gebiete die ersten Schritte tut, und ein ernster Mahner allen, die von dem einzelnen und national Gebundenen zum

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allgemein Menschlichen aufzusteigen den Mut nicht verlieren werden.

Ich füge eine Reihe von Arbeiten an, die sich gleichzeitig auf die griechische und römische Religion beziehen. Die Arbeit von C. Hönn über die Himmelfahrt im klassischen Altertum^ ist in ihrer Allgemeinheit wenig förderlich. Die Himmelfahrt ist von anderen Arten der Yergottung nicht ge- nügend geschieden. Der Nutzen der Hönnschen Abhandlung liegt in der zusammengetragenen Literatur. Der Methode 0. Roßbachs in der Erschließung von Todes- und Früh- lingsgottheiten* vermag ich im allgemeinen nicht zu folgen. So kann ich beispielsweise in der Tatsache, daß Odysseus in der Odyssee Xin 354 seine Heimaterde küßt, keinerlei tiefere Beziehung auf die Erdnatur des Gottes Odysseus erblicken (S. 30), noch in dem Selbstmord des Aias durch das Schwert die Selbstopferung des Kriegsgottes mittels einer uralten, im historischen Griechenland abgekommenen Hinrichtungsart (S. 40). Die 23 S. umfassende Untersuchung ist in eine Anmerkung zu einem Vortrage über Henna gepackt, der eine populäre Beschreibung dieses für den Demeterkult wichtigen Ortes gibt.

Material zur Geschichte des antiken Kultes bieten die Stiftungsur künden, denen B. Laum ein zusammenfassendes zweibändiges Werk gewidmet hat.^ Das ganze Stiftungswesen geht überhaupt Von sakraler Grundlage aus: man will einer- seits die Götter durch derartige Zuwendungen günstig stimmen, anderseits seinen eigenen Totenkult sicherstellen. Das erste findet sich schon in Babylon, das zweite in Ägypten. Allmählich

^ C. Hönn Studien zur Geschichte der Himmelfahrt im Mass. Altertum, Programm d. Karl Friedrichs-Gymn., Mannheim 1910.

* 0. Roßbach Castrogiovanni, das alte Henna, in Sizilien, nebst einer Untersuchung über griech. u. ital. Todes- und Frühlingsgötter, Leipzig und Berlin 1912.

' B. Laum Stiftungen in der griechischen und römischen Antike, ein Beitrag zur antiken Kulturgeschichte. Band I: Darstellung, Band II: Urkunden; Leipzig und Berlin 1914.

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vollzieht sich dann die Säkularisierung dieser religiösen Einrichtungen. Der Verfasser stellt die durch Stiftungen ge- ehrten Götter zusammen und handelt über die verschiedentlichen Opferbestimmungen, Prozessionen, Festmähler, Götterbilder und Weihgeschenke, die in den Urkunden erwähnt werden, weiter über die Kaisergeburtstagsfeiern des Herrscherkultes, die in der Kaiserzeit die griechischen Kultstiftungen ablösen, woran eine alphabetische Liste der Städte anschließt, aus denen Stiftungen für Götter oder Heroen bekannt sind. Es folgt dann eine Be- sprechung der Totenkultstiftuugen, wobei zunächst die umfang- reicheren Dokumente, wie das Testament der Epikteta, betrachtet werden. Besonders ausführliche Bestimmungen für eine um- fangreiche Feier zeigt die Aleximachosstiftung von Amorgos, deren Ausführung dem Staat übertragen ist. Neben und an Stelle der eigentlichen Totenopfer treten in der Kaiserzeit die mit Gelagen und Verteilungen verbundenen Gedächtnisfeiern in kleinerem Kreise (speziell aus Kleinasien werden Totengelage häufiger erwähnt; eine Tabelle römischer Totengelage bietet S. 77). Agonale und soziale Stiftungen, die vorher zurück- treten, werden in dieser Periode zahlreich. Die Urkunden der Totenkultstiftuugen berichten von Opfern und Spenden, von Statuen der Toten, deren J\einigung, Salbung und Bekränzüng gelegentlich ausführlich angeordnet wird, von Pflege und Be- wachung der Gräber, sowie ihrer Schniückung mit Kränzen (s. dazu bes. S. 83, 1) und Rosen. Als Empfänger sakraler Stiftungen erscheinen Götter und Kultvereine; die Weihung an die Gottheit hatte nebenher den sehr praktischen Zweck, die Unantastbarkeit des Stiftungsvermögens sicherzustellen. Für die Totenkultstiftunj'en bej]cründete man in Griechenland be- sondere große Familienvereine, in die auch Götter hereingezogen wurden, während bei den Römern die Freigelassenen der Fa- milie die Stiftung übernehmen. Fluch- und Segensformeln sollen dazu dienen, die gewissenhafte Ausführung des Willens des Stifters zu gewährleisten. Die römische Kultur kennt zu-

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nächst keine kultischen Stiftungen. Das hängt damit zusammen, daß Privat- und Staatskult dort so fest organisiert war. Erst die Nachahmung griechischen Wesens und das Eindringen fremder Gottheiten führt hier einen Wandel herbei. L. Wengers Darstellung des griechischen und römischen Rechts in der Kultur der Gegenwart^ streift nur selten das religions- geschichtliche Gebiet, so wenn von den Resten sakralen Rechts in den 'Königlichen Gesetzen' die Rede ist (168), vom Ver- hältnis des Fas zum Jus (184), von der Adoption zum Zwecke der Fortsetzung der Familiensacra (204), von den religiösen Wurzeln des Strafrechts (276), von der Deutung der Todes- strafe als Opfer an die Gottheit (278 f.), von Religionsdelikten und Zauberei (281 f.), von der Anwendung des Gottesurteils im Strafprozeß (289).

Der von ü. Wilcken besorgte erste Band der monumentalen Chrestomathieder Papyruskunde ^ enthält in seiner ersten Hälfte S. 92 131 orientierende Darlegungen über die Religions- politik, sowie über die Verehrung griechischer, römischer, ägyptischer, orientalischer und synkretistischer Gottheiten in der ptolemäischen und römischen Periode Ägyptens, während die zweite Hälfte S. 91 151 eine sehr instruktive Auswahl von religionsgeschichtlich interessanten Urkunden bietet, deren Ver- ständnis durch einleitende Vorbemerkungen und Anmerkungen erleichtert wird. Ist hier allenthalben das Bemerkenswerte der einzelnen Stücke hervorgehoben, so wird in der zusammen- fassenden Darlegung auch auf die Lücken der bisherigen Forschung aufmerksam gemacht. Die betreffenden Partien des Werkes werden als Einführung in den Betrieb der helle- nistisch-römischen Kulte Ägyptens hervorragende Dienste leisten.

^ J. Kohler und L. Wenger Orientalisches Recht und Recht der Griechen und Römer, Kultur d. Gegenwart 11 7, 1, Berlin und Leipzig 1914.

^ L. Mitteis u. ü. Wilcken Grundzüge und Chrestomathie der Papyrus- kunde, Band I: Historischer Teil (2 Halbbände), Leipzig und Berlin 1912,

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H. Aubert erzählt für Schüler die antiken Sagen.* Voraus- geschickt ist ein Abschnitt über Götter und Göttinnen. Eine zweckentsprechende kurze Darstellung der gesamten griechischen und römischen Religion, die allerdings der Ver- tiefung fähig wäre, bieten Pol and und Wagner in einzelnen Abschnitten der reich ausgestatteten, verdienstlichen Bücher über die hellenische und die hellenistisch-römische Kultur.* Vom 2. Bande der Gercke-Nordenschen Einleitung, der die von S, Wide geschriebene, gut orientierende Darstellung der griechischen und römischen Religion enthält, ist die 2. Auflage erschienen.^ Der Umfang des Wideschen Beitrags ist um fünf Seiten gewachsen, wovon nahezu vier Seiten auf den neuen Abschnitt 'Gesichtspunkte und Probleme' entfallen. In diesem wird darauf hingewiesen, wie die Forschung zurzeit besonders auf dem Gebiete der primitiven Vorstellungen sowie der Beziehungen zwischen griechischer und christlicher Re- ligion tätig ist. Auch die Frage nach dem Grade der Abhängigkeit Griechenlands vom Orient wird aufgeworfen. Das in der Göschenschen Sammlung zum vierten Male aufgelegte Büch- lein von Steuding*, das hauptsächlich die Götterlehre und die mythische Dichtung der Griechen und Römer behandelt, leistet nicht ganz, was in diesem Rahmen heute geleistet werden könnte. Insbesondere behauj)tet die Naturmythologie noch zu sehr das Feld (vgl. z. B. S. 30 oben über Zeus). Auch sonst 'findet sich niaoohe anft.'chtbare Auffassung. In dem knappen Literaturverzeichnis durfte ein Buch wie Nilssons Griechische Feste nicht fehlen, zumal ein spezielleres Werk

' H. Allbert Lcs legendes mythologiques de la Orice et de Jiome,

2. Aufl., Paris 1911.

* Fr. Baumgartcn, Fr. Poland, R. Wagner Die heUenische Kultur,

3. Auflage, Leipzig 1913. Dieselben Ute hrllenistisch-römiscJie Kultur, Leipzig und Berlin 191.S.

* A. Gercke und E. Norden Einleitung in die Altertumsicissenschaft, Band II, 2. Aufl., Leipzig und Berlin 1912, 167 ff.

* H. Steuding Griechische und römische Mythologie, Leipzig 1911.

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wie Töpffers Attische Genealogie genannt wird. Der Abriß der griechischen und römischen Religion, den das von Söder- blom neu bearbeitete Tielesche Kompendium^ enthält, beruht auf wirklicher Kenntnis und bietet dem Laien auf knappem Raum eine Fülle wertvoller Belehrung. Nur selten hat man Anlaß, seine Zustimmung zu versagen, so, wenn es heißt, daß Apollo ursprünglich Heilgott gewesen sei (S. 416), oder wenn die Totenklage als ein Hauptausgangspunkt des Dramas bezeichnet wird (S. 434). Auch von der Armseligkeit der römischen Re- ligion (S. 465) würde ich lieber nicht sprechen. Die groteske Schreibung 'Aiskhylos', ^Khthonisch' usw. würde besser beseitigt. Einige Bemerkungen zur griechischen und römischen Reli- gion bietet auch die für den evangelischen Religionsunterricht bestimmte Schrift W. Koppelmanns.^ Der Verfasser hängt, natürlich ganz von einigen Hauptwerken ab. Die Einmischung von allgemeinen ^"erturteilen, z. B. über den Kaiserkult ^ er- klärt sich wohl aus der Bestimmung der Arbeit, wäre aber doch besser durch historisch vertiefte Betrachtung ersetzt worden. Wieso Tellus neben Juppiter als überragende Gott- heit genannt wird, ist unerfindlich. Die Darstellung der griechischen und römischen Religion in der 2. Auflage von Orellis Religionsgeschiohte^ steht keineswegs auf der Höhe. Der um Pitys werbende Pan erscheint (nach Max Müller) als

^ Tieles Kompendium der Beh'gionsgescMchte. vierte, völlig um- gearbeitete Auflage von D. JSathan Söderblom, Berlin 1912.

* W. Koppelmann Einführimg in die BeligionsgeschicMe, Hilfsmittel zum evangelischen ReKgionsunterricht, begründet von M. Evers und F. Fauth, Heft 28, Berlin 1914.

' S. 36 'die allem tieferen religiösen und sittlichen Empfinden Hohn sprechende Menschenvergötterung'. Vgl. dazu Tiele - Söderblom Kompendium der Religionsgesch.: S. 488 'öfters bedeutete die Kaiser- verehrung vielmehr eine Würdigung der Reichsobrigkeit und der Ein- heit als eine Menschenvergötterung. Demnach entbehrte sie nicht sitt- lichen Wertes'.

* C. V. Orelli Allgemeine Religionsgeschichte, 2. Aufl., Bonn 1911/13,11 187 ff.

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'ein liebenswürdiger, gelinde buhlender Wind' (S. 192), ApoUon als Lichtgott, Poseidon als Abzweigung des Himmelsgottes (S. 198), Hera soll ursprünglich Vohl in der Gegend um Delphi" besonders verehrt worden sein (S. 217), die Lahmheit des Hephaistos wird '^auf die flackernde Bewegung des Feuers, die Zickzackbewegung des Blitzes' gedeutet (S. 226), der Name des Prometheus soll auf kluge Vorsicht weisen; an dem Kapitel über die reimische Religion istWissowas grundlegendes Werk ziem- lich spurlos vorübergegangen, wie z. B, die Erklärung des Janus als eines Sonnengottes beweist. Im übrigen macht sich auch die theologische Einstellung^ in nicht immer erfreulicher Weise bemerklich. Dem Stil würde die Beseitigung mancher spieß- bürgerlichen Wendung zum Vorteil gereichen. Das unver- hältnismäßige Überwiegen der römischen Religion gegenüber der griechischen in dem Handbuche der Religionsgeschichte von N. Turchi^ (einschließlich eines kurzen etruskischen An- hangs 101 gegenüber G7 Seiten) wird mau dem italienischen Autor und seinem Publikum zugute halten. Dem größeren Umfang entspricht auch ein reicherer Gehalt. Als Einzelheit merke ich an, daß Turchi die Laren wie ISamter als Ahnen- geister faßt. Toutains ottima idca, daß die Todesstrafe der un- keuschen Vestalin als Sühnopfer zu betrachten sei (S. 506), hätte ruhig beiseite bleiben können. Auf dem griechischen Gebiet ist die Sicherheit des Verfassers geringer: die Auf- fassung, daß wir in Hera speziell eine Göttin des Nachthimmels zu erblicken hätten (S. 412) und daß an den ländlichen Dio- nysien das Leiden und die Auferstehung des Dionysos dar- gestellt worden sei (S. 434), verrät nicht gerade tiefgehende Vertrautheit mit den betreflfenden Kulten,

Wir gehen nunmehr zu einigen Völkern und Stämmen über,

' Vgl. I 21 'Wir verlangen . . . das Recht, die einzelnen Religionen mit dem Lichte zu beleuchten, welches uns die höhere Offenbarung Christi an die Hand gibt'.

' N. Turchi Manuale di storia delJe religioni, Turin 1912.

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die im Mittelmeergebiet seßhaft waren und in mehr oder weniger nahe Beziehungen zu den Griechen oder Römern getreten sind, und zwar beginnen wir unsere Übersicht im westlichen Teile der antiken Welt, um sie mit den orientalischen Religionen zu beschließen. In einer etwas diffusen Abhandlung bespricht A. Reinach^ gorgonenartige Bildungen der keltischen Plastik, die auf einheimische Analogien zurückgehen, aber über Etrurien durch griechische Gorgonentypen entscheidend beeinflußt sind. Für die Gigantensäulen Galliens wird ebenda eine neue Deutung vorgetragen, derzufolge sie das Aufschlagen einer Quelle durch den himmlischen Reiter ausdrücken sollen; sie wären in der Nähe von Quellen errichtet worden (was für einen Teil der Denkmäler zuzutreifen scheint, vgl. S. 96), um Klarheit des Wassers und Fruchtbarkeit des Feldes zu garantieren (S. 102). Das Phan- tastische dieser Auffassung befremdet nicht weniger, als die aus der verstaubten Rüstkammer der Wettermythologie hervorgeholte Deutung der Gorgo auf den Gewittersturm. Von Wichtigkeit für die gallo-römische Religion ist der von Esperandieu heraus- gegebene imposante Katalog der gallo-rö mischen Skulpturen, von dessen viertem Bande (Provincia Lugdunensis) uns der zweite Teil vorliegt.' Er bringt besonders zahlreiche Darstellungen des Apollo, Bacchus, Hercules, Mars, Mercur, der Minerva und der mütterlichen Göttin. Jedes Stück ist abgebildet. Das Ver- ständnis der etruskischen "^ Mumienbinde ' von Agram sucht G. Herbig^ auf Grund neuer Lesung weiter zu fördern. Die Natur des Materials bringt es mit sich, daß man über schwache Wahrscheinlichkeiten nicht hinauskommt. Auch die Annahme, daß wir es mit einem funerären Texte zu tun haben, bleibt zu-

^ A. Reinach Le Klapperstein, le Gorgoneion et V Anguipede, Extrait du Bull, du Mus. hist. de Mulhouse XXXVII 1913.

* E. Esperandieu Recueil general des has-reliefs, statues et bustes de la Gaule r omaine IV 2, Paris 1911.

^ G. Herbig Die etrusMsche Leimvandrolle des Agramer National- Museims, Abh. d. Bayr. Akad. d. Wiss. XXV 4, München 1911. Vgl. auch Lattes Hermes XLVIII 1913, 481 ff.; XLIX 1914, 296ff.

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nächst Hypothese, wenn auch eine naheliegende. Das hindert nicht, daß wir die entsagungsvolle Geduld des Verfassers bewundern. Die sardische Religion behandelt R. Pettazzoni in einem gedankenreichen, aber etwas zu phantasievollen Buche.^ Die positiven Tatsachen sind spärlich. Wir hören von Inkubation in den sardischen Heroenheiligtümern, wir lernen sakrale Kuppel- bauten kennen, die nicht ohne Wahrscheinlichkeit mit der Ver- wendung von Wasser zu Heil- und Ordalzwecken zusammen- gebracht werden, wir erblicken seltsame Votivtigaren von Menschen mit vier Augen und vier Armen, die nach der geistreichen, aber zweifelhaften Erklärung des Verfassers den Zustand der aus dem Ordal gerechtfertigt hervorgegangenen Menschen veranschaulichen sollen. (Wer nämlich Unrecht hatte, erblindete, wer im Recht war, sah besser, nachdem er die Augen mit dem heiligen Wasser befeuchtet hatte [Solin IV 7]; die doppelten Arme sollen das Kraftgefühl des Gerechtfertigten ausdrücken.) Der Hauptgott ist der Sardiis patcr, über dessen Natur wir keine näheren Nach- richten besitzen. Neben ihm wird die verwandte Gestalt des Jolaos verehrt, den der Verf. mit Wahrscheinlichkeit als Gott der nach Sardinien eingewanderten Karthager anspricht. Wie diese Gestalt gleichzeitig als mythische Hypostase des Sardus pater betrachtet werden kann (S. 85), ist mir nicht ganz ver- ständlich. Jolaos besaß nach Solin 161 einen Tempel bei seinem Grabe. Schlüsse auf seine Bedeutung wird man daraus nur mit Vorsicht ziehen dürfen. Unsicher ist auch die Verbindung des Sardus pater mit den vorhin erwähnten Kuppelheiligtümeru. Von der Betrachtung der Einzelheiten steigt der Verfasser zu allgemeinen Problemen auf. Er stellt die sardische Keligion hinein in die Kultur der Mittelmeerländer und des afrikanischen Kontinents und hebt die gemeinsamen Züge hervor. Bedarf schon hier die vorwärts drängende Synthese des Verfassers eines starken Zügels, so schweben seine Erörterungen über das höchste

' R. Pettaz/.oni La religione primitiva in Sardegna, Piacenza 1912.

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Wesen der Primitiven und die Beziehungen des Sardus pater zu ihm m. E. völlig in der Luft. Nichtsdestoweniger gehört dies Buch zu denen, die der Wissenschaft einen Ruck geben.

Die schwierigen Fragen der sizili'schen Kulte und Mythen erörtert E. Ciaceri in einer ausführlichen und verdienstlichen Arbeit^. In 5 Kapiteln werden die einheimischen, die orienta- lischen und die griechisch-römischen Götter und Heroen ab- gehandelt, das letzte Kapitel erstreckt sich auch auf die Ge- stalten des Mythos, wobei besonders die Aneassage und was dazugehört in den Vordergrund tritt. Der Verfasser ist eifrig bemüht, für die griechischen Kulte den Weg zu erschließen, auf dem sie nach Sizilien gelangt sind. Bei der Dürftigkeit des Materials befindet er sich naturgemäß oft auf unsicherem Boden. Mindestens ebenso schwierig ist seine Lage bei der Ab- grenzung der alteinheimischen Gottheiten, da diese durch die frühe griechische Kolonisation so stark verdunkelt worden sind. Für den alten vorgriechischen Heros Eryx, den C. erschließen möchte, ist kein Zeugnis beigebracht, er scheint seine Existenz lediglich der hellenischen Mythenbildung zu verdanken. Be- sonders angelegentlich bekämpft C. die Ansicht, daß sich in alter Zeit orientalische Kulte auf der Insel festgesetzt hätten, in den meisten Fällen sicher mit Recht; doch gerade bei der erycinischen Aphrodite scheint die Institution von Hierodulen gebieterisch auf orientalischen Ursprung hinzuweisen. Daß das religionsgeschichtliche Urteil des Verfassers der methodischen Sicherheit entbehrt, ist hier und dort zu bemerken, so wenn er den Phobos der bekannten selinuntischen Inschrift einfach mit Ares gleichsetzt (S. 175) oder wenn er mit einem leisen Befremden dem düster-fröhlichen Doppelcharakter der Anthe- sterien gegenübersteht (S. 222). Die Annahme, daß der Hund im alten Sizilien die Rolle eines Totemtieres gespielt habe (S. 133), ist ganz unwahrscheinlich und ermangelt jeder Be-

' E. Ciaceri Culti e niiti nella storia dell'antica Sicilia, Catania 1911.

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gründung. Merkwürdig berührt es, daß für das Epidaurische Asklepieion die betreöende Pausaniasstelle zitiert wird, ohne daß der Ausgrabungsresultate Erwähnung geschieht. Sehr dankenswert sind die Hinwieise auf das Fortleben heidnischer Bräuche und Vorstellungen in christlicher Zeit: ein besonders hübsches Beispiel ist die Sibylle von Lilybaeum, deren man- tische Kräfte bis in die Gegenwart weiterwirken (56 f.).

Über apulische Gräber unterrichtet uns M. Mayer in seinem großen Apulienwerk.^ Etwa vom 8. bis 6. Jahrh. v. Chr. finden sich in Mittelapulien (speziell im inneren Teile er- halten) Rundhügelgräber, 'Aufschüttungen von großen und kleinen Steinen in Gestalt eines niedrigen, flachen Kegels, von kreisrundem oder auch elliptischem Grundriß, über der Leiche, welche in geringer Vertiefung oder direkt auf der ebenen Erde gebettet, von einigen großen Steinplatten umgeben und wahr- scheinlich auch irgendwie bedeckt war' (S. 33). Die Toten sind in seitlicher Hockerlage beigesetzt, Knochenreste weisen auf die Sitte des Leichenmahles. Das übrige Italien kennt diese Begräbnisweise im wesentlichen nicht, dagegen ist sie jenseits der Adria im illyrischen Kulturkreise stark verbreitet. Dazu stimmt, daß die eisenzeitliche Bevölkerung Apuliens aus eben dieser Gegend eingewandert ist. Es folgen im 6. uud 5. Jahrhundert die in ganz Apulien auftretenden Schacht- und Kassettengräber, die sich im allgemeinen nicht zu Nekropolen zusammenschließen, was mit dem lockeren Gefüge des apulischen Siedlungswesens zusammenhängt. Vielfach liegen Gräber in den Wohnorten, sozusagen innerhalb der Stadt. Wandgräber sind sehr selten, in Nordapulien scheint man die zugehörige Urnenbestattung sj'mbolisch beibehalten zu haben, indem man ein größeres Gefäß mit einem darin befindlichen kleineren in die Gräber stellte (S. 56). Das Regelmäßige ist die Bestattung, für die aus dem lebenden Stein Gräber herausgeschnitten oder

' M. Mayer Apulien vor und während der Ilellenisierung mit be- sonderer Berücksichtigung der Keramik, Leipzig und Berlin 1914.

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Platten zusammengefügt werden; bisweilen erscheint das Grab als kunstlose Steinkiste. Die beigegebenen Gefäße sind ge- legentlich nach bekannter Sitte mit Absicht zerbrochen (S, 57). Auch hier, in den älteren Schacht- und Kassettengräbern, ist der Tote als liegender Hocker beigesetzt. Der Verfasser ist der Ansicht, daß damit die Schlaflage nachgeahmt werde, die bei primitiven Verhältnissen durch die Enge der Wohnräume be- dingt wird: 'der Tote soll nur zu schlafen scheinen', man wollte 'das Bild des langhinstreckenden Todes vermeiden'. Ich glaube nicht, daß durch die Annahme eines solchen sepulkralen Eu- phemismus das vielbehandelte Problem seine Lösung findet, vielmehr wird der Brauch am einfachsten aus dem Gesichts- punkte der Platzersparnis erklärt, und was dem Lebenden recht ist, ist dem Toten billig. Bei zunehmender Kultur vom 5. Jahrhundert an liegt denn auch der Tote allmählich be- quemer; die Schachtgräber nehmen größere Dimensionen an; daneben treten die platzreichen Kammergräber, in denen dann wieder zuweilen eine in den Boden eingetiefte Bettung für den Toten angelegt wird (S. 59). Auch in dieser Periode kommen Gräber von elliptischer Form vor. Auf die Grabesspende weisen kugelförmige Tassen, an denen Spuren von Kohlen oder Feuer zu sehen sind, und die auch oben auf die Deck- platte des Grabes gestellt werden (S. 61). Leichenmahle sind auch hier mit Wahrscheinlichkeit anzunehmen. Stelen und Cippen sind so gut wie gar nicht vorhanden, der Verfasser denkt an die Möglichkeit, daß man Pfähle oder Bretter ver- wendet habe. Eine dritte Epoche bezeichnen die prächtigen Kammergräber aus Canosa (4. u. 3. Jahrb.), von deren Inhalt die schlauchförmigen Tongefäße ohne Griffe zum Ausgießen erwähnt seien. Sie hielten vielleicht aus rituellen Gründen eine altertümliche Form fest, die aus einer Zeit stammen mag, wo das Herstellen eines Henkels noch Schwierigkeiten bereitete (S. 311). Das letzte Kapitel des Buches (391 ff.) beschäftigt sich mit apulischen Kulten und Sagen. Von Interesse ist die

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i94 Ludwig Deobner ]

i

Erwähnung eines Korridors mit eigentümlichen Schallverhält- ]

nissen bei der St. Michele-Grotte von Putignano: er wird auf eine Orakelstätte gedeutet. Zu dem Wunder von Gnatia und ! dem dortigen Nymphenkult (Hör. Sat. I 5, 97ff.) vgl. S. 393. ! Überhaupt scheinen Wasser- und Flußgottheiten bei den illy- ; rischen Völkerschaften Apulieus eine Hauptrolle gespielt zu \ haben (S. 397). Eine merkwürdige Darstellung zeigt ein in i der Nähe von Bari gefundener Becher des 5. Jahrhunderts l (393 f.): ^ein Jüngling und ein Mädchen, beide nach links ge- wendet, der Jüngling bietet mit ausgestreckten Armen eine i Blüte und eine Frucht oder anders gestaltete Blume dar; das ! Mädchen mit der einen Hand ebenfalls eine Blüte hinhaltend, hat in der Linken ein Idol, offenbar ein Anathem, bereit.' Vor : ihnen in der Höhe befindet sich ein kleiner, oben spitzer Pfeiler ; mit Basis, nach Mayer frei schwebend oder aufgehängt; doch i macht mich Karo mit Recht darauf aufmerksam, daß in dieser ; Lage die Basis unnatürlich wäre; vielmehr sei der Gegenstand \ im Hintergrund des Feldes zu denken. Der Verfasser erblickt in dem Pfeiler ein Kultobjekt. Seine Bedeutung bleibt unsicher. ; Dasselbe gilt von der Beziehung der römischen Pales zu ! Apulien (S. 395) und der Erklärung der schwarzen 'Maske', die > von der als Griff eines Gefäßes dienenden Figur Taf. 1 2 getragen wird (S. 402). Einige Tongefäße, die mit dem Per- sephonekult zusammengebracht werden, sind S. 394 Fig. 80 82 i abgebildet, vgl. Taf. XXXV l 12 und S. 248. 261, 4. Im An- ^ Schluß an die Vasen mit emporgestreckten Händen wird S. 92 ff. [ über die Bedeutung von Handdarstellungen gesprochen. Fast j überall, auch bei den Vasen, liegt die apotropäische Be- . deutuiig zutage. Eine bestechende Auslegung erfährt die j von Paus. X 10, 6 ff. erzählte Geschichte des Phalanthos aus .; Sparta. Das Orakel verkündete ihm, daß er Land und Stadt i erwerben werde, wenn er merke, daß es bei heiterem Himmel i regne. Er geht nach Unteritalien und gewinnt Tarent, nach- dem seine Frau ihm beim Lüusesuchen mit ihren Tränen

Griechische und römische Eeligion 1911 1914 ]Q5

den Kopf genäßt hat. In Wahrheit hängt der Orakelspruch nach Mayer mit der Tatsache zusammen, daß an der apulischen Küste die Straßen im Winter manchmal plötzlich wie von Regen ge- näßt erscheinen; 'selten daß man den Nebel als niedrige Wolke von der Seeseite her hereinwallen, sich verbreiten und auflösen sieht.' M. Rostowzeff^ sieht in den thrakischen Reiter- reliefs Dokumente einer Verbindung des Mithraskultes mit dem der großen iranisch -semitisch -kleinasiatischen Göttin. Seine tiefgreifenden Ausführungen^ sind von größter Wichtig- keit, wenn auch das letzte Wort damit schwerlich gesprochen sein dürfte. Insbesondere scheint mir der doppelte Reiter, den R. als einen verdoppelten Mithras betrachtet, noch keine ge- nügende Aufklärung gefunden zu haben. In einem wert- vollen Aufsatze bespricht derselbe Gelehrte^ Votivreliefs aus Ai Todor (Südrußland) und Olbia, deren Darstellungen auf die Existenz thrakischer Heiligtümer an diesen Orten hinweisen, und betont den kulturellen Zusammenhang zwischen Thrakien und Südrußlaud.

Wie jüdische Einwanderer aus Babylonien im phry- gischen Apamea auf einheimische Flutsagen stoßen und, durch äußere Umstände angeregt, die Landung der Arche Noah in jene Gegend verlegen, wie dann der jüdisch-heidnische Synkretismus, zuletzt auch noch durch das Christentum weiter befördert, immer mehr ins Kraut schießt, das hat A. Reinach mit einem Übermaß von Kombinationsfreudigkeit und er- müdender Breite dargestellt.^ Wenn die Dinge so unsicher sind, sollten sie wenigstens amüsanter vorgetragen werden.

* M. RoetowzeflF Die Vorstellung von monarchischer Gewalt in Skythien und am Bosporus, Nachrichten der Archäolog. Kommission XLIX 1913 (rassisch), 37 ff.

* Ders. Das Heiligtum der thrakischen Götter und die Inschriften der Beneficiarü in Ai Todor, Nachrichten der Archäolog. Kommission XL 1911 (russisch).

* A. Reinach Noe Sangariou, etude sur le deluge en Phrygie et le syncräisme judeo-phrygien, Paris 1913.

13*

j 9(j Ludwig Deubner :

Der orientalischen Gedankenwelt gehören die merkwürdigen lydisch-phrygischen Inschriften an, die Fr. Steinleitner ; in einer nützlichen Arbeit systematisch besprochen hat.^ Es i handelt sich um Aufzeichnungen von Leuten, die an einer ! Gottheit oder einem Menschen, gefrevelt haben und dafür von j der Gottheit bestraft wurden, nach Ablegung eines Sünden- j bekenntnisses aber und geleisteter Genugtuung Verzeihung er- j langten und schließlich zum Ruhme der Gottheit und zur Warnung der Mitmenschen den Hergang kurz auf '

einer Stele niederschreiben mußten, die in dem be- !

I

treffenden Heiligtum aufgestellt wurde. Typus der ersten Art j

S. 40 Nr. 13: HvTovla 'Avrc3viov ^A'xdXXcovi dsäi Boti]Vcp diä I

avccßsßrjxevui ^e ItcI xbv %&qov iv QvnccQa iTTsvdvTi],

iio}M6rf£L6a de i^G}iiokoyr}(}Cci.irjv jccct äved-tjxcc svXoyCav, 8Tt ,

iy£vö^r,v bloiclrjQog, Typus der zweiten Art S. 34 Nr. 10: insi '.

'EQ^ioyivTjg D.vxavog xal Ninavlg 0t).o^Evov iXoiöÖQrjöav ;

^AQXBuCddQOV 7t£Ql Oivov, 'AQtf^iidoDQog TtLxtdxLov edojxsv. 6 1

^ebg exolä()£ro (sie) tbv 'EQiioyevrjv^ xal ikdöSTO rbv d^sbv xccl \

ccTtb vvv ivdotsl. Das zweite Beispiel zeigt, daß der ge- '.

schädigte Nächste dem Gotte ein Klagetäfelchen einreichte; |

vermutlich nahm es der Priester entgegen. Damit hat Stein- ,

i leitner passend die knidischen Bleitafeln zusammengebracht,

die nicht bloß wie die sonstigen Verfluchungen den Wider- ; sacher den Unterirdischen überantworten, sondern die Mög- lichkeit ins Auge fassen, daß er einlenkt, in welchem Falle ihn die Folgen des Fluches nicht treffen sollen. Die Tafeln waren also im Heiligtum der Demeter, an deren Adresse sie gerichtet wurden, aufgehängt und sollten den Schuldigen, der sie las, zur Umkehr veranlassen. Die von den Sündern in den lydisch-phrygischen Inschriften bekannten Verfehlungen sind nur äußerliche, auch den Göttern gegenüber handelt es sich bloß um Übertretung von Vorschriften des Rituals. Aber das j|

' Fr. Steinleitner Die Beicht im Zusammenhange mit der sakralen Rechtspflege in der Antike, Leipzig 1913.

Griechische und römische Religion 1911 1914 197

ist richtig, daß mit dem verlangten Sündenbekenntnis die Möglichkeit einer sittlichen Entwicklung angebahnt war, für die das Griechentum kein Analogen besaß.

P. Carolidis^ sucht arische Elemente in kleinasiatischen Sprachen und Kulten nachzuweisen und diese Elemente zum griechischen und armenischen Kulturkreis in Beziehung zu setzen. Die Kabiren von Samothrake sind nach ihm von den phrygischen Kabiren ganz verschieden, der Name im ersten Falle semitisch (Kabir = groß), im zweiten armenisch-klein- asiatisch (Wurzel xov = sagen), 79 f. S. 114: 'Wenn nun der von Pontus aus Kleinasien in Ägypten eingebrachte Gott UaQUTtig Pluto oder Orcus ist, kann er nichts anderes sein als der in pontischen Küsten wie in Thrakien als Neptunus ver- ehrte, in vielen kleinasiatischen Ländern als Lichtgott be- kannte Sarpedon, der in dem mit ihm verwandten armenischen Sandaraped = Orcus, Dispater, seine erste Eigenschaft er- halten hat.' S. 139 ff. findet der Heortologe Materialien, die ein kleinasiatisches Blumenfest betreffen, leider nicht übersicht- lich genug geordnet. Der attische 'Av&aatr]QLc6v entspricht 'ziem- lich dem April' (S. 176), >c»j> soll eine Personifikation des Todes sein, nicht die Seele selbst (S. 177). Ebensowenig befriedigen die nicht gerade durch Klarheit ausgezeichneten Darlegungen desselben Gelehrten- über armenische Psycho- pompos- Gestalten; doch erregt die Zurückführung des Pla- tonischen Pamphyliers Er auf den armenischen König Ära, der angeblich vom Tode aufersteht (14 ff.), kein geringes Interesse. Die Identität der Amazonen und Hettiter vertritt nach Anderen W. Leonhard^ indem er nachzuweisen versucht,

* P. Carolidis Bemerlcungen zu den alten kleinasiatischen Sprachen und Mythen, Straßburg 1913.

2 P. Carolidis Anubis, Hermes, Michael, ein Beitrag zur Gesch. d. religiös-philosophischen Sijnlretisrrms im giiech. Orient, Straßburg i. E. 1913.

^ W. Leonhard Hettiter und Amazonen, Leipzig-Berlin 1911. Vgl. dazu A. Reinach Bev. de l'hist. des rel. LXVII 1913, 277 fr.; Casson Class. Bev. XXVII 1913, 163 ff.

193 Ludwig Deubner

daß das Verbreitungsgebiet der Amazonentraditionen und der Münzen mit Amazonendarstellungen gut zu der Ausdehnung des liettitischen Reiches passe imd daß die Kultur beider Völker eine starke Übereinstimmung zeige. Ich gestehe, daß ich ein Gefühl der Sicherheit bei den Darlegungen des Ver- fassers nicht gewonnen habe, doch wird die Möglichkeit ein- zuräumen sein, daß eine Erinnerung an die Hettiter in den Amazonensagen zugrunde liegt, wenn auch jede genauere Fixierung und insbesondere eine Verwendung von Amazonen- traditionen für die Rekonstruktion hettitischer Geschichte starken Bedenken unterliegt. Nach F. M. Bennett^ sind die Amazonenüberlieferungen in der Gedankenwelt der prä- hellenischen Kultur entstanden und gehören zu den Spuren alten Matriarchats. Die Beweisführung hängt an dünnen und dünnsten Fäden und die Darlegungen sind von reichlichen Ahnungslosigkeiten durchsetzt.' Jene Verknüpfung mit dem Prähellenismus ist zweifellos berechtigt und nicht weiter merk- würdig, nur bedarf das eigentliche Amazonenproblem viel schärferen Zufassens, und vor allem wäre eine eingehende Auseinandersetzung mit dem der Verfasserin keineswegs un- bekannten Werke Leonhards am Platze gewesen.

In 2. Auflage erschien die kleine deutsche, von Gehrich besorgte Ausgabe des Cumontschen Mithras-Buches.* Die Anmerkungen und Abbildungen sind vermehrt, ein Ver- zeichnis der Literatur seit 1900 ist beigefügt. Auch ein Anhang über die mithreische Kunst ist beigegeben (= I 213 bis 220 des Hauptwerkes). Kluges Darstellung des Mithras-

' Florence Mary liennett Belirfious Cults associated ivith the Amazons, New York 1912.

» Vgl. auch Gruppe Berl. philol Woctienschr. 1913 S. 1587.

" Fr. Cumont DU Mysterien den Mithra, ein Beitrag z. Religionsgesch. d. röm. Kaiaerzeit, autorisierte deutsche Ausgabe von G. Gehrich, 2. veno. und verb. Aufl., Leipzig 1911.

Griechische und römische Religion 1911 1914 199

kults* im 'Alten Orient' genügt einigermaßen den an diese Sammlung zu stellenden Ansprüchen, könnte aber flüssiger geschrieben sein und einen bescheideneren Titel führen. Die von Dieterich dem Pariser Zauberpapyrus entnommene 'Mithras- liturgie' wird vom Yerf. als solche verwertet, obwohl gewich- tige Bedenken dagegen geltend gemacht worden sind.*

Von Wichtigkeit für die Frage nach der Bedeutung des Adlers auf svrischen Grabdenkmälern ist ein Aufsatz von S. Ronzevalle^, worin die von Cumont gegebene eschato- logische Erklärung jenes Symbols^ angezweifelt und seine syrische Herkunft bestritten wird. Ronzevalle erblickt die Heimat des Grabadlers vielmehr in Kleinasien und vermag allerdings ein so wichtiges Dokument beizubringen wie den mit zwei symmetrischen Löwen vereinigten Adler auf einem paphlagonischen Grabe, das mehrere Jahrhunderte vor Alexander anzusetzen ist (S. 47*). Dieser Adler kann wegen der Löwen schwerlich als Vehikel der zur Sonne aufsteigenden Seelen aufgefaßt werden. So wird denn das Problem des syrischen Grabadlers erneuter Überlegungen bedürfen.

Zwei Untersuchungen zur Geschichte ägyptisch- grie- chischer Religion legt W. Weber vor.^ Die eine betrifft die Gleichsetzung des Sarapis mit Helios, die zweite die des An- tinoos mit Hermes. Die beachtenswerten Gedanken des Ver- fassers würden bei größerer Klarheit der Linienführung

^ Th. Kluge Der Mithrcikult, seine Anfänge, Entwicklungsgeschichte und seine Denkmäler, Der alte Orient XII 3, Leipzig 1911.

* Vgl. Dieterich Mithrasliturgie^ 225 ff.

' S. Ronzevalle L'aigle funeraire en Syrie, Sonderabdruck aus Melanges de la faculte Orientale Beyrouth V 1912, l*ff.

* Vgl. Archiv XIV 1911 S. 585, wo zu lesen: Eev. de Vhist. des rel. LXIV1911, 119ff. S. auch Berl. philol Wochenschr. 1911, 1606f.; Eöm. Mut. XXVII 1912, Iff.

" W. Weber Zxvei Untersuchungen zur Geschichte ägyptisch-grie- chischer Beligion, Progr. des Heidelberger Gymn. 1911. Erweitert um einen dritten Aufsatz „Zwei Formen des Osiris" gleichzeitig als Heidelb. Habilit. Schrift ; Drei Untersuchungen zur ägypt.-griech. Beligion.

200 Ludwig Deubner

zweifellos zu stärkerer Wirkung kommen, manches freilich scheint mir sehr problematisch. Die Resultate der Arbeit sind mitbenutzt in desselben Gelehrten Groninger Antrittsrede über ägyptisch-griechische Götter im Hellenismus.* Hier wird ein Überblick über die Entstehung der alexandrinischen Kulte und über ihre Wirkung im griecliisch-römischen Kulturkreise ge- geben. Etwas zu stark scheint mir der Verfasser den Alexan- drinismus der ägyptischen Kulte außerhalb Ägyptens zu unter- streichen. Das führt zu dem nicht sehr einleuchtenden Schluß, daß Differenzen zwischen ausländischen Kulten der gleichen Gottheit aus der Herleitung dieser Kulte von verschiedenen alexandrinischen Mutterheiligtümern zu erklären seien (S. 35). Die Ableitung des Sarapis vom memphitischen Osiris-Apis hat Sethe^ mit starker Wahrscheinlichkeit vertreten. Der babylonische Sarapis ist endgültig durch ihn abgetan; die Ge- schichtlichkeit der Einholung des Plutonbildes aus Sinope scheint unbestreitbar.^ Den Nachweis Sethes, daß die xatoxoi des Sarapeions von Memphis weder Inkubanten noch Klausner waren, sondern vielmehr als Häftlinge zu betrachten sind, und daß diese Haft wahrscheinlich nichtreligiösen Charakters war, hat U. Wilcken Archiv f. Papyrus f. W. 184 ff. alsbald zu er- schüttern versucht, indem er an der religiösen Bedeutung der Institution festhielt; ihm hat Spiegelberg BLZ 1914, 1114ff. zugestimmt. In einer Besprechung des Wilckenschen Auf- satzes, Gott. ffd. Anz.\^\^, 385 ff., nahm dann Set he noch- mals das Wort und behauptete siegreich seine Positionen.*

' W.Weber Ägyptisch-griechische Götter im HeUenismus, Groninger Antrittsrede 1912.

* K. Setbe Sarapis und die sog. xütoxoi des Snrapis, zwei Pro- bleme der griech.-ügypt. ReUginnsgeschichtc, Abbandlangen d. Gott. Ges, d.WisB. N. F. XIV 6, Berlin lai.S.

' Vgl. dazu jetzt Weinreicb Neue Untersuchungen zur Sarapis- lieligimi, Tübingen 1919, S. 8, 8.

' Einer scbärferen Interpretation bedürfen noch, wie mir scheint, die Pariser Papyri 35 und 37, Sie bilden zurzeit den Hpringenden Pankt für die Austragung der Streitfrage.

Griechische und römische Religion 1911 1914 201

Auf weitere Kreise ist das seinen Zweck erfüllende Büchlein berechnet, das J. Burel über den Isiskult im römischen Reiche verfaßt hat.^

Über heilige Tätowierung^ in den Kulten der Magna Mater, des Dionysos und vielleicht auch des Mithras findet man einiges in dem die Frage der altchristlichen Taufbezeich- nung erörternden Buche Fr. J. Dölgers,^

Wie stark die hellenistische, aus alten orientalischen Quellen gespeiste Astrologie auf die Bilder der johanneischen Apokalypse gewirkt hat, zeigen die meisterhaften, aufschluß- reichen Untersuchungen Fr. Bolls*, die eine überwältigende Fülle von Motiven des Apokalrptikers auf Bilder und Vorstellungen jener Disziplin einleuchtend zurückführen. Als ein besonders glänzendes Beispiel dafür, wie wertvolle neue Erkenntnis auf dem Spezialgebiete des Verfassers gewonnen werden kann, sei die schlagende Deutung der apokalyptischen Heuschrecken- dämonen aus den Skorpion - Kentauren des babylonisch - helle- nistischen Himmelsbildes erwähnt (68 ff.). Von Wert für die Formenlehre der Offenbarung (die Dieterich einmal schreiben wollte) sind die Ausführungen über die Typik der Offenbarung 4 ff. (Ekstase, Verkehr mit Gott, Buch, kosmische und tellu- rische Vorgänge) und über Könige als Offenbarungsträger 176 ff. Auch auf die vierte Ekloge Vergils fällt neues Licht (12 ff.). Sechs in Amerika gehaltene Vorlesungen über die Astrologie im Altertum veröffentlicht Fr. Cumont^: das Werk

^ J. Bnrel Isis et les isiaques sous l'empire romain, Paris 1911.

* Vgl. Perdrizet Archiv XIV 1911, 54ff.

' Fr. J. Dülger Sphragis, Studien zur Gesch. u. Kultur d. Altert., herausgegeb. v. Drerup usw. V 3/4, Paderborn 1911, 41flF.

* Fr. Boll Aus der Offenbarung Johannis, Hellenistische Studien zum Weltbild der Apokalypse (in: ZxoixBia, Studien zur Gesch. d. antiken Weltbildes u. d. griech. Wiss., herausgegeb. von Fr. BoU, Heft I), Leipzig und Berlin 1914.

'■' Fr. Cumont Astrdlogy and Religion among the GreeJcs and Bomans, New York und London 1912.

202 Ludwig Deubner

eines Kenners, ebenso elegant wie solide, eine vorzügliche Einführung in das behandelte Wissensgebiet. Der erste Ab- schnitt bespricht die Entwicklung der Astrologie bei den Chal- däern, der zweite die Wechselwirkungen, die zwischen Babylon und Griechenland in der Auffassung von den Sternen be- standen und die Rolle, die der dem Sternglauben entgegen- kommende Stoizismus spielte besonders hingewiesen sei auf die Betonung der Tatsache, daß die '])latonische' Epinomi.s stark unter dem Einfluß orientalischen Sternkultes steht (S. 50). Im dritten Abschnitt wird eine Übersicht über die Ausbreitung der Astro- logie im Okzident gegeben, der vierte und fünfte bieten eine Darstellung der Sternenreligion und der mit ihr verbundenen Mystik und Ethik, der letzte behandelt die aus dem Stem- glauben fließenden eschatologischen Vorstellungen, die Kate- gorien derer, die nach ihrem Tode in den Sternenhimmel ver- setzt werden, die Vehikel und Etappen ihres Aufstiegs und endlich die intellektuale Seligkeit der Verklärten.

Die GehrichscheUbersetzung von Cumonts ^Orientalischen Religionen' ist in zweiter Auflage erschienen.* Der Text hat nur 'unerhebliche Änderungen und Zusätze erfahren' (S, XXII), dagegen sind die Anmerkungen (93 Seiten gegen 84 der ersten Auflage) auf den neuesten Stand des Wissens gebracht. Auch in der Vorrede ist noch auf einige neuere Literatur hingewiesen. Auch in der Kultur der Gegenwart hat Cumont den Einfluß der orientalischen Religionen auf den antiken Okzident mit be- währter Kennerschaft dargestellt.^ Insbesondere sei auf den Schlußabschuitt hingewiesen, der das Verhältnis zum Christen- tum behandelt.

Von der Aufdeckung einer aus dem 1. Jahrh. v Chr.

' Fr. Cumont Die orientalischen Religionen im röm. Heidentum, auto- risierte deutsche Ausgabe von G, Gehrich, 2. verb. u. verm. Auflage, Leipzig und Berlin 1914.

* D. Kultur d. Gegenwart, Teil I Abt. III 1 : Die Religionen des Orients u. d. altgermnnische Rel., Leipzig-Berlin 1913, 243 ff.

Griechische und römische Religion 1911 1914 203

stammenden jüdischen Synagoge auf Delos berichtet A. Plassart.^ Gewisse Berührungen mit griechischen Vor- stellungen in der Engellehre der griechischen Apologeten hat Fr. Andres aufgewiesen.' In der Hauptsache freilich er- gibt sich volle Selbständigkeit der christlichen Väter bzw. Ab- hängigkeit von der spät-jüdischen Lehre, deren Verwandtschaft mit hellenistisch -romischem Glauben auf gemeinsame orien- talische Quellen zurückweist. Wichtige Bemerkungen über die Beziehungen zwischen christlichem und heidnischem Ge- bet stehen bei Reitzenstein G'ött. gel. Ans. 1911, 550 f. 564ff, Useners Weihnachtsfest ist von H. Lietzmann neu aufgelegt worden^, unter Zufügung des Usenerschen Auf- satzes über 'Sol Invictus', einer Abhandlung des Herausgebers 'Über das Datum der Weihnachtspredigt des Johannes Chry- sostomos' und eines Registers. Die glänzenden Vorträge von Ed. Schwartz über Konstantin d. Gr.* zeichnen die Entwicklung des römischen Kaisertums und der Kirche bis auf Konstantin, um dann eine lebensvolle Schilderuns: der Kirchenpolitik des Kaisers zu entwerfen, die in dem Satze gipfelt, daß es Konstantin vor allem darauf ankam, das feste Gefüge der kirchlichen Organisation seiner Universalmonarchie dienstbar zu machen. Von besonderem Interesse ist die ge- schichtliche Betrachtung der Nicänischen Bekenntnisformel (s. namentlich S. 147). Einen Zusammenhang zwischen dem Labar um Konstantins und der Labrys (Doppelaxt) aufzuzeigen

* A. Plassart La synagogite juive de Delos, Separatabdmck aus Melanges Holleaux, Paris 1913, 201 fF.

* Fr. Andres Die Engellehre der griechischen Apologeten des ziveiten Jahrhunderts und ihr Verhältnis zur griech.-röm. Dämonologie, Forschungen zur Christi. Literatur- u. Dogmengesch., herausgegeben von Ehrhard u. Kirsch XII 3, Paderborn 1914.

^ H. Usener Religionsgeschichtliche Untersuchungen I: Das Weih- nachtsfest, 2. Aufl., Bonn 1911.

* Ed. Schwartz Kaiser Constantin und die christliche Kirche, Leipzig und Berlin 1913.

204 Ludwig Deubner. Oriech.-n. röm. Religion 1911 1914

ist B. Schremmer^ nicht gelungen. An der dornenvollen Kontroverse über das Verhältuis des Urchristentums zu den Mysterienreligionen beteiligt sich C. Giemen mit einem beachtensvferten Beitrag.' Er kommt zu dem Resultat, daß das älteste Christentum von jenen Religionen nur in ge- ringem Maße beeinflußt worden sei. (Scwuß folgt.)

' B. Schremmer Labartim und Steinaxt, Tübingen 1911.

' C. Giemen Der Einfluß der Mysterienreligionen auf das älteste Christentum, Religionsgesch. Vers. u. Vorarb. XIII 1, Gießen 1913.

i

2 Altgermanische Eeligion

Von Fr. Kauffmann in Kiel

Unsere Arbeitsgemeinschaft hat eines ihrer begabtesten und tatkräftigsten Mitglieder yerloren: Dr. Axel Olrik, Pro- fessor für nordische Volkskunde an der Universität Kopen- hagen, ist am 17. Februar 1917 verstorben.^ Er stand im 53. Lebensjahr und hinterließ sein Lebenswerk, die dänische Heldensage, unvollendet. Vom Volksleben, von der Volkskunde, von der Lied- und Sagenforschung war er zuletzt immer näher an die Religionswissenschaft herangedrängt worden. Er ist auch als Mythologe Sagenforscher geblieben, zum Religions- historiker nicht ausgewachsen. Aber in seiner jüngsten Leistung sahen wir ihn diesem Ziel entgegenreifen. Mit zunehmender Konzentration hatte Olrik eine Stilgeschichte der mytho- logischen Überlieferungen in Angriff genommen. Sein opus postumum („Eddamythologie", Neue Jahrbücher f. d. klass. Alt. 1918, 38—48) hebt mit den Worten an: „Mytho- logie kann erzählende Darstellung sein . . . Mythologie kann auch die Gottesverehrung umfassen ihr Stoff ist dann mit andern Worten die Religion , zwischen diesen Zielen schwankt die Forschung unserer Zeit."

Der Verfasser kennzeichnet zuerst die erzählenden Dar- stellungen der Eddalieder. Diese Dichtungen sind nicht naive Nacherzählungen der Volksüberlieferung oder des volkstüm- lichen Mythus; ihre Dichter gestalteten den ererbten Stoff' nach Maßgabe ihrer persönlichen Stimmung, ihres religiösen Erlebnisses oder ihres grübelnden Denkens. Ihnen stellt Olrik

^ Es gedachten seiner A.Heusler Herrigs Archiv für das Studium der neueren Sprachen 136, Iff.; M. Kristensen Danske Studier 1917, Iff. u. a.

206 ^r. Kauffmann

die Skalden gegenüber^, deren unpersönlich-geschnörkelter Stil die Grundtatsache enthüllt, daß sie es waren, die die Götter- erzählungen nicht nach ihrem Herzen oder ihrem Kopf um- gießen, den Stoff J)orsmythen wurden in den Skalden- liedern, OJiiusmythen in den Eddaliedern bevorzugt nicht selbständig bearbeiten, sondern der „ungebrochenen Volks- religiosität" nahestehen. „Skaldenlied" und „Eddalied" ver- treten zwei verschiedene mythologische Stile: jenes haftet am volkläufigen Stoff, dieses schmückt ihn mit freierer Ornamentik. Beiden Gattungen folgt die Edda des Snorri Sturluson und gibt die Mythen der Eddalieder und die der Skaldenlieder mit der besten Erzählkunst wieder, über die die Isländer im 13. Jahrhundert verfügten; diese Poetik enthält also im Sinn eines Lehrbuchs umstilisierte Prosavarianten der beiden Lieder- quellen. Alles dies und noch etliches weniger Bedeutsame faßte Olrik unter dem Begriff „Eddamythologie'* zusammen, die er von der Volksüberlieferung um ihrer Stilform und ihrer Tendenz willen mit Recht unterscheidet. Der wichtigste und allgemeinste Grundgedanke der Eddamythologie, in dem alle ihre Vertreter einig gehen, ihr erster und ihr letzter Gegen- stand war außer dem Gegensatz der Lebenden und der Toten der Kampf der „Götter" und der „Ixiesen". Von ihm aus be- kommen wir einen Überblick über das mythische Weltbild der Nordgermanen. Die von den Menschen be\Yohnte Erde (hinter dem Bollwerk von Midgard) ist der Schauplatz, auf dem die streitenden Mächte miteinander sich messen. Im Norden, wo die langen Winternächte drohen, liegt das lleich der Toten mit Grenzfluß und Gren/.schranke und dahinter die ungeheure Halle für die Verstorbenen und ein äußerster Strand am finstern Meer, wo die Missetäter büßen. Im Osten liegt die Riesenwelt: ausgedehnte Landstriche, ein endloser Wald, ein reißender Grenzstrom, die Heimat der kalten Winterstürme,

' Vi,'l. Olrik Nordischem Geistesleben heidnischer und frühchrist- licher Zeit. Heidelberg 1908.

Altgermanische Religion 207

wobei die Vorstellung von Osteuropas großen Wildnissen mit tierisch-wilden Völkerschaften mitgewirkt haben möge. Bald im Süden, bald im Westen, in einer Licht- und Wärmezone suchte man die Götterwelt mit der umzäunten Asenresidenz (hinter dem Bollwerk von Asgard) durch eine Grenzwehr gegen den Sturmlauf der Riesen gesichert und durch eine Brücke mit der Menschenwelt verbunden. Diese Menschen- welt ist der Verkehrsraum für die feindlichen Gruppen. Das Menschenleben verläuft unter beständigem Kampf zwischen denen, die es vernichten („Riesen"), und denen, die es schirmen wollen („Äsen"). Dies Grundverhältnis verdichtete sich in der Poesie zu einer plastischen Bildvorstellung. Mitten aus der Welt ragt der Weltbaum Yggdrasil auf: unter seiner Krone tagen die Götter, unter seinen drei Wurzeln hausen die Toten, die Riesen und die Menschen; seinen Stamm begießen die Nomen, damit er immer aufs neue wachse, damit der Baum unter den Schädlingen, die er beherbergt, nicht verkümmere. Auch in diese Esche fressen unaufhörlich verheerende Kräfte sich ein^, aber entgegenwirkende Kräfte erhalten ihr Leben. Und so sehen wir dieselbe Auffassung allerwege wirksam : „Jedes Ding existiert nur kraft eines Kampfes." Der über die Auswahl der dichterischen Motive und ihre Stilisierung; ent- scheidende Grundzug der Eddamythologie ist also ein allge- meiner Naturzustand: die Spannung zwischen den fördernden und den vernichtenden Gewalten, die für das Gemeinschaftsleben der Menschen Geltung besitzen. Der Gesamtinhalt ist „Behaup- tung im Kampf".

Drohende Vernichtung spornt die fördernden Mächte noch stärker an. Es ist die sogenannte Götterdämmerunff ge- meint. Sie hat die J)orsmythen überhaupt nicht beschattet,

^ Forstzoologißch hat Olrik dies Naturphänomen behandelt in seinem letzten Vortrag, den er wenige Tage vor seinem Tod in Kopenhagen gehalten hat Yggdrasil: Danske Studier 1917, 49 ff. (vgl. auch Arkiv f. nord, Filöl. 30, 112. 218).

208 ^^- Kauffmaan

ist also nicht ein beherrschendes Grundmotiv der Edda- mvtholoffie, aber es bestätigt sich doch, daß die Götter- dämmerung (ragnarok oder raf/narQklr) für ihre Mythen wenig- stens den Hintergrund geliefert hat. Damit war ein neuer Horizont über die altnordische Mythologie gespannt worden: das Kampfmotiv kam unter die Perspektive des [Jntergangs, der einmal kommen muß, so ständig man ihm auch entgegen- arbeitet. Das Schlußbild skandinavischer Mythendichtung ist also dies, daß eine jüngere Idee (im Gefolge der Umwälzungen, die die Völkerwanderung mit sich brachte) das herkömmliche Weltbild durchwirkte und durchfärbte. Diese Idee war weder in Edda- noch in Skaldenliedern zu einer plastischen Bild- vorstellung gediehen. Aber daß überhaupt die Mythologie der Germanen in Skandinavien im Spiegel der „Götter- dämmerung'' aufgefangen wurde, das ist nicht bloß von literarhistorischer, sondern auch von religionsgescliichtlicher Bedeutung. Es wurde dadurch etwas in andern A^olks- religionen nicht Erhörtes geschaffen , und der altnordischen Mythenpoesie ihr Sondergepräge verliehen.

Gerade dies nordische Motiv übte die stärkste Anziehungs- kraft auf einen so spezifisch nordischen Menschen wie A. Olrik einer war. Ihm widmete er sein mythologisches Hauptwerk. Es liegt in zwei Teilen vor <)m raffnarok: Aarhoger f. nord. oldkyudifihcd 1902, 157 291 und Bagnarokforestdllngernes 1 udspring: Danskc slndirr 1913, 1 283 (zum Teil Neu- bearbeitung des früher erschienenen Aufsatzes).

Für Olrik war ein „Mythus" im letzten Grund nichts anderes als eine „Sage". Die Spannkraft seines Denkens richtete sich auf die alle volkstümlichen Dichtungsgattungen in- spirierenden Lebensverhältnisse, deren dichterische Spie- gelungen Bild Vorstellungen sind, die er wie Plastik, ja geradezu als plastische Kunstwerke gewertet und geschaut hat. Mythus als „Religion" interessierte ihn, wie gesagt, fast so wenig wie der Kultus. Die die Yolksnatur dichterisch sym-

Altgermanische Religion 209

bolisierenden Bildwerke unserer religionsgeschichtlichen Ur- kunden standen für ihn, dem Mythus Poesie von der Art der Sage war, im gleichen Rang mit jeder andern epischen Gattung (namentlich mit der Heldensage). Er hat sie daher kurzweg auf epische Motive zurückgeführt und seit seinem Erlebnis mit Moltke Moe die Kompositions- und Stilgesetze dieser volkstümlichen Epik (Mythus, Sage, Märchen) erforscht.^ Eigentümlich ist ihm die Beziehung der epischen Motive bzw. der plastischen Bildvorstellungen sie sind es, nach denen er immer zuerst bei jedem Mythus (Sage, Märchen) fragt auf Naturmotive. Um die Bildvorstellung des Weltbaums der Eddamythologie (Esche Yggdrasil) zu ver- stehen, wandte er sich um Auskunft an die Biologie der auf nordischem Boden da und dort grünenden Eschen. Er leitete ihr mythologisches Abbild, und weiterhin dann auch dessen religiösen Wert, den Kultus der Esche, von dem natürlichen Dasein dieses Baumes ab. Diesen Leitgedanken halten auch seine Ragnarokstudien fest: die plastischen Bildvorstellungen wollte er in Naturphänomenen verwurzelt finden.^ Epische Hauptmotive der Weltuntergangsdichtungen sind z. B. der Sonnenbrand, der das Land austrocknet, und das Erdbeben, das den Boden erschüttert und den Himmel zum Einsturz bringt. In Skandinavien ist weder Sonnenbrand noch Erd- beben naturgemäß.^ Folglich sind diese Motive, die sich

* Für A. Olriks Persönlichkeit nnd wissenschaftlichen Charakter ist höchst aufschlußreich sein dem genannten, 1913 verstorbenen Nor- weger gewidmeter Nachruf {DansJce Studier 1915, iff.).

* Die Frage nach der Entstehung einer Bild Vorstellung aus einem Naturphänomen hat unsern Forscher nicht ernstlich beschäftigt; er begnügte sich mit der landläufigen Antwort und sprach von ,, Natur- beseelung" (Om ragnarok S. 283).

^ Dieser Satz klingt angesichts der vulkanischen Ausbrüche Islands verwunderlich ; Olrik meinte wohl mit Skandinavien das Mutterland (vgl. S. 123 f.), die Erlebnisse in der Kolonie fielen ihm wahrscheinlich in eine zu späte Zeit, als daß sie konstitutive Faktoren der Mythen- dichtung hätten werden können.

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daran knüpfenden Vorstellungen und Mythen nicht ein- heimisch, sondern aus Liindern mit Sonnenbrand und Vul- kanismus, aus südöstlichen Landstrichen, zugewandert. Kommt es irgendwo zu einer solchen Wanderung man ge- denke der aus Indien abwandernden Tierfabel so lösen sich die Vorstellungen von den Naturmotiven ab, es beginnt die ausmalende Phantasie ihr Werk: wir haben es nun nicht mehr mit reinen Naturmythen, d. h. Natursagen, zu tun. In Skandinavien ist die von Natureindrücken erzeugte Ragnarok- vorstellung („die Welt wird untergehen") von dem reichen epischen Material der heimischen Dichtung umrankt worden (Götterdämmerung). Religion war daran ursprünglich nicht beteiligt. Erst in der Eddamythologie sind die Götter Rollenträger geworden, so daß nunmehr religiöses Denken mit dem geophysischen Material in Kontakt oder in Zwiespalt ge- riet (und auf den Wegen philologischer Kritik davon ge- sondert werden kann). Wir wollen hier mit dem Vertreter dieser rationalistisch angehauchten Lehre nicht darüber rechten, daß die geophysischen Naturmotive für die Mythologie und gar erst für die Religion eine allzu schmale Basis hergeben dürften, fahren vielmehr fort, darüber zu berichten, daß An- holm (Danske Studier 1904, 141), Krohn (Finnisch-ugrische Forschungen 1907, 129) und v. d. Leyen (Prager Studien 1908, 1) ihn angeregt haben, für eine wichtige Gruppe der Götterdämmeruugsraotive die Heimat im Kaukasus zu suchen, während er sich bisher vornehmlich im Westen, unter den Iren, danach umgesehen hatte (Festskrift til Feilberg S. 559; Danske Studier 1913, 134). Er prüfte die sog. Prometheus- und Antichristsagen Kiiukasiens auf ihren epischen Grundstock und auf die dominierende Bildvorstellung, den„gefesselten Ri e 8 en" (Danske Studier 1913, 3ff.). Das Prometheusmotiv ist nach Griechenland (S. 107 fif.), das Antichristmotiv ist zu den Juden ^

' Der „gebundene Satan" der Bibel {Handbuch zum Neuen Testa- ment berausgeg. von Lietzmann 8, 2, 32 ff.).

Altgermanische Religion 211

und so ist der gefesselte Riese nach Skandinavien gewandert^ Ist er dort, so ist er auch hier einheimischen Sagen be- gegnet: Loki, der gefesselte Riese des Nordens, wurde eine aktive Ragnarokfigur (S. 121 ff.), „det fysiske jordskoelfs ragnarok" (S. 225) sank dagegen zum blinden Motiv herab. Eine kaukasische Dublette zum gefesselten Riesen ist das gefesselte Raubtier (S. 51 ff. 140 ff.).^

Auch diese Bildvorstellung haben die Skandinavier ihrer Dichtung einverleibt: es geht darauf einerseits ihr Hund Garmr (S. 157), anderseits ihr Wolf Fmrir zurück (S. 159). Diese beiden Varianten geben das vulkanische Erdbebenmotiv nur noch andeutungsweise oder überhaupt nicht mehr zu er- kennen, diese plastischen Gestalten sind von dem Natur- phänomen abgelöst rein epische, d. h. mythische Werte ge- worden (S. 255—56).

Daß das nordische „Raubtier" synonym mit dem gefesselten Riesen und ebenso sicher kaukasischer Abkunft sei, das ist von Olrik nicht bewiesen, kaum wahrscheinlicher gemacht, als es bisher gewesen war. Wie es sich nun auch damit ver- halten möge, es ist jetzt eine Nebenrolle, die Loki in der nordischen Götterdämmerung spielt, aus einer Sondersage ab- geleitet. Ich kann mich mit Olriks Datierung der vom Schwarzen Meer nach Skandinavien abgelenkten Zufuhr nur einverstanden erklären (Völkerwanderungszeit 3. bis 4. Jahrh. n. Chr.; vgl. Archiv f. Rehg. 15, 604 f.). Denn es besteht ein vollkommener Einklang mit unsem archäologischen Er-

* Die geschichtlichen Voraussetzungen der Wanderung hat Olrik dadurch aufklären wollen, daß er die Goten mit den benachbarten Tscherkessen in Verbindung brachte und um Vermittlung ansprach {Danske Studier 1913, 125f. 1914, 9. 20).

* Das Urbild glaubte Olrik in der bei den Persern eine große Rolle spielenden Schlange nachgewiesen zu haben (S. ISöff.) und darum befngt zu sein, Indien und Peraien als die eigentlichen Heim, statten des Naturmythus vom Weltuntergang bezeichnen zu dürfen (S. 170flf. u. ö.).

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fahrungen, und was diese fordern, ist auch auf mythologischem Felde erfüllt: wir können die von der pontischen Küste ah- wandernden Güter nicht bloß von Süden nach Norden, sondern auch von Osten gen Westen begleiten* und stoßen dabei auf eine der überraschendsten, ja verblüffendsten Gleichungen, die die neuere verarleichende Sagenforschung an den Tag gebracht hat.

F. V. d. Leyen (Prager Studien 8, Iff.) hatte in Panzers Beitrag zur deutschen Mythologie 2 (1848), 56 einen nieder- bayrischen Volksbrauch entdeckt^: Der Schmied, der als letzter der Gesellen vor Feierabend die Werkstatt verläßt, macht einen kalten Schlag auf den Amboß, „dies geschieht, damit Luzifer (der gefesselte Satan) seine Kette nicht abfeilen kann, denn er feilt immer daran, so daß sie immer dünner wird. Am Tage nach Jakobi ist sie so dünn wie ein Zwirnsfaden, aber an diesem Tage wird sie auf einmal wieder ganz ; würden die Schmiede nur einmal vergessen, den kalten Schlag auf den Amboß zu machen, so könnte Luzifer seine Kette ganz abfeilen", v. d. Leyen bezog sich auf E. Kuhn (Zeitschr. f. deutsche Philol. 2, 374) und erinnerte daran, daß bei Arme- niern, Georgiern, Tscherkessen dieser Brauch ins 5. Jahrh. unserer Zeitrechnung zurückverfolgt werden kann („der in der Höhle des Elbrus gefesselte Unhold hätte längst seine Ketten durchbrochen, wenn nicht die Schmiede durch dreimaligen Hammerschlag am Gründonnerstiigmorgen der Kette ihre frühere Stärke wiedergäben"). Man lese nun nach, welch prächtige Fülle ergänzender Belege Olrik aus reicher Belesen- heit beizusteuern vermochte (S. 52, 55 ff., 91 ff.), um die Wan- derung dieses Brauchs und dieser Sage uns zu veranschaulichen.

Zu solchem Wandergut rechnete Olrik nun auch den

' Eaukasiscbe Zwergaagen „schmiedende" Zwerge im Berg berührt A. Lütjens Der Zwerg in der deutschen Heldendichtung des Mittel- aW'TS S. 3 6 f. 86 f. 88 u. a.

' Vgl. aber schon Russische Revue 23 (1883), 206; diesem Aufsatz von V. Miller (Prometheisclie Sagen im Kaukasus) kommt die eigentlich grundlegende Bedeutung zu.

Ältgermanische Religion 213

fimbulvefr (Winterstrenge) der nordischen Götterdämmerung, den er aus Persien, und den surtalogi (Weltbrand), den er aus Indien abwandern läßt (S. 173. 204. 219 ff.); denn dort ist ein übermäßig harter Winter, hier der Sonnenbrand naturhaft. Gleicher Abkunft soll das Ragnarokmotiv „Auflösung der Rechtsordnung" sein (S. 261). Im einzelnen beschäftigte sich unser Autor noch mit dem „Versinken der Erde ins Meer" (S. 259ff.), mit der Völkerschlacht auf Vigri\>r (S. 273 ff.) und mit der auf die Katastrophe folgenden neuen Schöpfung (S, 270. 279 ff.; Om ragnarok S. 203. 262 ff.). Aber das dominierende Hauptmotiv „Die Götter sterben", das den Sagenforscher tief in die religionsgeschichtlichen Probleme der Götterdämmerung hineingeführt hätte ^, ist von ihm nicht tiefer erfaßt und be- arbeitet worden ; wir rechnen ihm jedoch zum Verdienst an, daß er wenigstens von der jüngeren eingewanderten eine ältere einheimische Götterdämmerung auszuscheiden und von dem skandinavischen Sonderbesitz das gemeingermanische Erbe ab- zuteilen begonnen hat (S. 231. 248 ff. 262).

Haben die Nordleute aus dem Südosten Stoff für ihre Mythologie bezogen, so spendeten sie aus ihrem Vorrat mancher- lei ihren in bezug auf Mythus und Ritus ärmeren Nachbarn, den Finnen und den Lappen (Arch. f. Rel. 15, 614). E. Reuter- ski öl d hat in einem Buch über die Religion der Lappen {De nordiske Lapparnas religion. Stockholm 1912 = Populära etnologiska skrifter Ed. V. Hartman Nr. 8), dem er eine Samm^- lung der Hauptquellen vorausgeschickt {Käüshrifter tili Lappar- nas mytologi. Stockholm 1910), die Hauptpunkte übersichtlich hervorgehoben.^ Er berichtet daselbst in Kürze über die Literatur und über die religionsgeschichtlichen Stufen, auf denen wir die Lappen einer- und die Nordgermanen ander-

^ R. Pestalozzi Die germanische Götterdämmerung. Neue Jahrbücher f. d. klass. Alt. 31 (1913), 706 ff.

* Ich verweise außerdem auf das große Sammelwerk Norges land og folk XX, 2, 216 ff.

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seits antreffen (S. 45 ff.), er schildert das interessante lappische Bärenfest, dessen ätiologische Kultlegende wichtig ist (S. 17 ff.) und wendet sich sodann zu den Einflüssen, die die Lappen von den Norwegern und Schweden erfahren haben (S. 71. 85 ff.). Wertvoll sind für uns namentlich diejenigen Entlehnungen, die einem unserer literarischen Überlieferung vorausliegenden Zeit- raum angehören und uns in den Stand setzen, die Eddamytho- logie an volkstümlichere Vorstufen zu heften (z. B. Nomen S. 79ff. ; vojttir S. 85ff.). T. E. Karsten, Germanisch-finnische Lehnwortstudien. Ein Beitrag zu der ältesten Sprach- und Kulturgeschichte der Germanen. Helsingfors 1915 = Acta societatis scicntiarum fmnicae XLV, 2) hat zwar in erster Linie grammatische und etymologische Interessen, widmet sich aber auch ausführlich den Problemen der altgermanischen Religionsgeschichte, soweit sie durch Entlehnungen der Finnen zu fördern sein möchten. Unter den zahlreichen Ver- wandtschaften, die sich haben anknüpfen lassen, ragt die Ent- sprechung finn. Pekko = anord. Byfjgvir hervor, die neuer- dings mit Vorliebe verwertet worden ist (Norf/es indskrifter med de O'ldre runer 2, 666; Arkiv f. nord. fil. 33, 326; Englische Studien 52, 165; Nordisk Tidskrift [Lettnrst. förenj 1918, 163). Mag man auch gegen Karsteiis Ausweitung der finnisch-nord- germanischen Lehnbeziehungen ernste Bedenken hegen, so wird doch die besonnenste Kritik die Erfahrung nicht Lügen strafen, daß der Gesichtskreis der auf dem Felde nordgerma- nischer Mythologie und Religion arbeitenden Forscher not- wendig über ganz Skandinavien, Lappland und Finnland ein- geschlossen, ausgedehnt werden muß. An diesem Ergebnis haben Gelehrte schwedischer und finnischer Nationalität gleich verdienstlichen Anteil.'

* Vgl. die Übersicht im hxdogermanischen Jahrbuch 5 (li>17), Iff ; K. N. Setälä Studien ans dem Gebiet der Lehnbeziehungen. V. Thomaeu zum 70. Geburtstag gowidmet. Helsingfors - Leipzig 1912 (= Finnisch- ugrische Forschungen XII) fand die sehr schöne Gleichung finn, raunt

Altgermaniache Religion 215

Der Norweger M. Olsen hat in seinem groß und vielseitig angelegten Werk über die in norwegischen Ortsnamen stecken- den Kultüberlieferungen {Hedenske Kultminderi norske siedsnavne I. Kristiania 1915 = Videnskapsselskapets shrifter. Hist. fil. Kl. 1914 Nr. 4) diesen erweiterten Gesichtskreis festgehalten (vgl. z. B. Byggvir S. 106 ff.). Sehr freigebig bereichert er die herkömmlichen Kultdarstellungen und bevölkert den west- nordischen Götterhimmel mit bekannten und unbekannten, zu- verlässigen und fragwürdigen Namen. Es ist ihm nicht daran gelegen, die Grenze zwischen Götternamen und Personennamen abzustecken oder die Bedenken zu beschwichtigen, die aus unsern allgemeinen Erfahrungen auf dem Gebiet germanischer Ortsnamen auftauchen. Ich bin der Meinung, daß erst alle Mühe daran gewendet werden sollte, einen Ortsnamen aus einem Gelände- oder aus einem Personennamen zu erklären und dabei die theophoren Namen nicht bloß in ihrer Voll-, sondern auch in ihrer Kurzform auszunützen. Was die Grund- wörter der von Olsen behandelten Ortsnamen, die zweiten Glieder der Komposita, anlangt, so wird man selbstverständlich hof und Tiorg und vi Vertrauen schenken (S. 163. 273 ff.) ^, aber doch nur unter der Voraussetzung, daß diese Bezeichnungen von der Lokalforschung erst daraufhin geprüft worden sind, ob sie nicht etwa mittelalterliches Kirchen- oder Klostergut betreffen'; allgemeine Benennungen des Tempel- oder Kirchenbesitzes (akr, vang), denen Olsen ausführliche Kapitel widmet, müssen strengster Zurückhaltung begegnen. Gerne erkennen wir aber an, wie viele Fäden er neu geknüpft

anord. regnir (S. 39 ff.; Karsten S. 15. 22); Loki S. 62; Baldr S. 68 {Dmiske Studier 1912, 95). Zu v, Unwerths Aufstellungen über Bota {Arch. f. Bei. 15, 614) vgl. jetzt Paul und Braunes Beiträge 39, 213; Reuterskiöld a. a. 0. S. 98 ff.; ^öxx und Freyr {Sonnenkult nnd Opfer- ivesen) S. 104. 112. 122 ff.

^ Wrindaici: ÄrJciv f. nord. fil. 29, 109; horg og hof: Nordisk Tid- skrift 1916, 245.

* Asgard: Banske Studier 1914, 1.

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und wie fleißig er unser Quellenmaterial gemehrt hat; zu- künftige Einzelstudien werden sein Gespinst kritisch zu sichten und die Spreu vom Weizen zu sondern haben.

Wollte man auf Grund von Olsens Buch die neueren Schil- derungen altgermanischer Religion beurteilen, so müßte man ihnen allzu viele Lücken vorwerfen; aber ich habe schon ge- sagt, weshalb ich ein solches Verfahren nicht billigen könnte, auch wenn ich davon absehe, daß jenes Werk noch nicht vor- lag, als diese auf den Markt kamen. A. Heusler hat in dem knapp bemessenen Rahmen der Teubnerschen Kultur der Gegen- wart (1, 3) eine Skizze „Altgermanische Religion" ausgestellt;^ J. Negelein hat seine „Germanische Mythologie" (Aus Natur und (Jeisteswelt 95) in 2. Auflage (Leipzig 1912) heraus- gegeben; E. Mogk hat unter Stichwörtern (nach dem Alpha- bet) in Hoops Reallexikon der germanischen Altertumskunde die mythologischen Namen und Sachen verzettelt, und 0. Seh rader hat in der im Erscheinen begriff'enen 2. Auflage seines Reallexikons der indogermanischen Altertumskunde (Straßburg 19170".) seine die altgermanische Religion be- rührenden Artikel aufzufrischen begonnen. Was uns angesichts dieser Leistungen vor allem not tut, das ist erstens eine Chronologie der Quellen (mit Hilfe der Stilgeschichte) und zweitens die Einordnung dieses auf Grund seiner Stilformen neu gewerteten Quellenstoff's in die großen Zusammenhänge des altgermanischen Volkslebens.' Ich selbst habe der von mir geplanten Mythologie und Religion der Germanen zunächst eine „Deutsche Altertumskunde" I (München 1913) voraus- geschickt und andere haben für das gleiche Ziel sich eingesetzt (G. Steinhausen, Germanische Kultur in der Urzeit, 3. Aufl. Leipzig 1917 = Aus Natur und Qeisteswelt 75; H. P^ischer, Deutsche Altertumskunde 2. Aufl. Leipzig 1917=Wissen-

' Vgl. hierzu Deutsche lAfcraturzeitung 1916, 440f. (Germanische« Heidentum in Skandinavien).

Altgerm anische Religion 217

Schaft und Bildung 40^). Von den Rechtsbegriffen kommt H. Seh reuer her, der in der Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanist. Abteilung, N. F. 34, 313 über altgermanisches Sakralrecht sich ausläßt („die Persönlichkeit der Götter";, nicht um das Recht durch die Mythologie zu beleuchten, sondern „um die Mythologie juris- tisch zu untersuchen und das Zusammenleben von Göttern und Menschen vom Rechtsstandpunkt aus zu erfassen". Die Götter wollen als Naturgottheiten, aber auch als juristische Personen angesehen werden. Ihre Familienverhältnisse und ihre Versippung mit dem Menschengeschlecht hat der ge- lehrte Bonner Rechtshistoriker vorerst zur Darstellung ge- bracht (Göttergeschlecht S. 330; Götter als Ahnen des Menschengeschlechts S. 341 [Götter und Menschen sind bluts- verwandt]; Gotteskindschaft S. 365 [Adel]).^ Von der Völker- psychologie kommt V. Grpnbech her, der den kühnen Wurf einer Seelengeschichte der Sippen und Sippegenossen gewagt hat (Archiv 15, 607). Im 2. bis 4. Band seines Werkes werden die einschlagenden religiösen Grundvorstellungen der Ger- manen entwickelt.^ Von hohem Standort aus zeigt uns ein geistreicher Schriftsteller die Erde und das Menschenleben (Midgard og menneskelivet. Kobenhavn 1912 =VorFolkecet i old- tiden II), sofern sie an das Jenseits grenzen und auf Himmel und Hölle hinüberspielen (Leben S. 36 ff. [Seele S. 79 ff.], Tod S. 161 ff).* „Heiligkeit und Heiligtum" lautet der Titel des

* Unzulänglich ist L. Wilser Deutsehe Vorzeit. Einführung in die germanische Altertumskunde. Steglitz 1917.

- „Wo die christliche Vorstellungsmasse klar durchbricht, erscheint Odin nicht als Vater des Menschengeschlechts (Stammvater), sondern als Schöpfer", S. 370; die Götter (familienhaft aufgefaßt) sind Volks- genossen, Rechtssubjekte, juristische Persönlichkeiten S. 402 f.

" Als interessante Reaktionserscheinung sei erwähnt, daß Gr. von Folklore und Volkskunde den vorsichtigsten Gebrauch zu machen empfiehlt (4, 110 ff.).

* Macht des Personennamens S. 124 ff. ; Analyse des in der Mytho- logie mißbrauchten Begriffs der „Personifikation" S. 40 ff.

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3. Bandes {Hellighed og hdWjdom. Kobenhavn 1912), in dem von der Symbolik des Schenkens aus der Friedenszustand ge- schildert vfird. Wer etwas von einem andern bekommen und angenommen hat, ist mit ihm in seelischen Kontakt gesetzt, ihm verpflichtet, von ihm abhängig, in seine Gewalt geraten und muß ihm danken, lohnen und vergelten. Das sind wich- tige religiöse Grundbegrifl'e. „Geschenke waren schicksals- schwanger" (Macht des Goldes S. 8 ff.), hatten keineswegs in einer gemeinschaftbildenden Funktion ihren Zauber ausge- wirkt^; Geschenke haben Glück ins Haus gebracht, sind als Heiligtümer einer Familie liebevoll bewahrt worden, man „glaubte" daran (vgl. z. B. das von Odin den Weisungen „ge- schenkte" Schwert). Gegenseitiges Beschenken stiftete einen Bund oder Friedensverband (S. 60 ff.), auf dem Boden solch vertrauensvoller Friedensgemeinschaft keimte und gedieh die „Liebe" (Ehebündnis S. 70). Was Frieden stiftet und Glück bringt, wird zum Heiligtum (S. 141 ff.), unter dem Friedens- gebot stehend, ist das Heilige das Unantastbare (außerhalb und innerhalb der Religion S. 149 ff. z. B. Haarschmuck als Sitz der Heiligkeit S. 157 ff.). Im 4. Band treten Heiligkeit und Heiligtum in das zwischen Göttern und Menschen bestehende Verhältnis üljer (MenncsJcelivet og Gudcrnc. Kobenhavn 1912) und gewinnen Bedeutung für den Sippenkult (Tempel S. 1; Opfer S. 14. 78; Gebet S. 38; Festlichkeit S. 64. 97 ff.). Hauptanliegen ist auch bei dem Kultweseu der Sippen (der Staatskult bleibt außer Betracht) das Pathos der „p]hre" und des „Glücks", Ziel aller Religion ist aber Heilig- keit und Seligkeit, worunter Gronbech die Erhöhung der Lebenszustände und die Sicherung sowie die Steigerung der Lebenskräfte versteht; Seelengröße und Seelenstärke sind auch

Gaven er en social faktor S. 7; Med Klenodict folger noget over fra den forrige ejer S. 13; Pfandsetzunp ("Kbre verpfänden) S. 94 ff,; Speiae- gemeinscbaft (der Gast ist heilig) S. 117 ff.

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in der Religion die dominierenden Ajffekte; Gottesverehrung zweckte auf Lebenserneuerung ab.^

Ideengeschichte und Begriffsgeschichte, wie Grßnbech sie betreibt, liegt dem philologisch gesinnten K. Helm und seiner Altgermanischen Religionsgeschichte (1. Band. Heidelberg 1913 = Religionswissenschaftliche Bibliothek 5 *) fern. Chronologisch, man möchte fast sagen annalistisch, gliedert er seinen Stoff und breitet ihn, das Zuständliche schildernd, mit besonderem Hin- blick auf die Kultentwicklung, aktenmäßig vor uns aus (vor- geschichtliche Zeit, vorrömische und römische Zeit [West- germanen bis zur Bekehrung, Germanen des Nordens 2. Bd.]). In die Prähistorie führt er uns mit Hilfe der Archäologie ein und versucht den Totenkult von den Grabbauten abzulesen; auf dem Umweg über den primitiven Zauberkult (S. 164 ff".) landet der Verfasser bei der Naturverehrung (S. 172 ff.). Die frühgeschichtliche Periode hebt mit Cäsar und Tacitus an, es werdendiekeltisch-germanischen,römisch-germanischenundkelto- romanischen Beziehungen betont und stufenweise werden Seelen- glaube und Totenkult (S, 246), Götterglaube und Wahrsagung (S. 255. 279) und schließlich die höheren Kulte (S. 286) rubriziert. Es wäre zu wünschen gewesen, daß Helm nicht allein auf die Chrono- logie der Denkmäler und Quellenschriften, sondern auch auf die Chronologie der religiösen Ausdrucksformen ^ (Stilgeschichte der Religion) Bedacht genommen hätte, es wäre dann wohl schon im ersten Band seiner Religionsgeschichte neben dem archäo-

^ Lebensstärkung auf "wirtschaftlicliem Gebiet bringt die altnordische Formel til ärs ok frijjar zum Aasdruck (S. 41. 48 ff.); hlöta ndtrylcker menneskets cevne til at forvandle en gemtand af almindelig helUghed, so. at den fyldes med guddomskraft og formidier styrken overi menneske- Verden S. 78; hlöta vil sige: forhoje egenskaberne til det overordentlige, ja til guddommelige S. 80.

' Vgl. Jahrbuch des Freien deutschen Hochstifts zu Frankfurt a. M. 1912 S. 26ff.

^ R. M. Meyer Ritus und Mythus. Internationale Monatsschrift 1914, 9 51. Fr. Langer Intellekiualmyihologie. Leipzig 1916.

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logisch-literarischen Quelleuniaterial die altnordische Dichtung und Sage sowie die neuere Volkskunde stärker hervorgetreten.^ Auf diesen beiden Gebieten war in den für meinen Bericht maßgebenden Jahren die Einzelforschung tätig. Die Namen der nordischen Götter und ihre Ämter sind erneuter Deutung unterzogen.* Von den Wesen der sog. niederen Mythologie

' In einem selbständig erschienenen Buch hat V. GrOnbech seine Uetrachtungen auf das frühchristliche Zeitalter ausgedehnt (7?e- ligionsskiftet i Norden. Kobenhavn 1913); R. Muuss Die altgermanische Religion nach kirchlichen Nachrichten aus der Bekehrungszeil der Süd- germanen. Diss. Bonn 1914; ich verzeichne außerdem H. Boehmer Das germanische Christentum Theolog. Studien und Kritiken 86 (1913), 165 („die Geschichte des mittelalterlichen Christentums ist zum guten Teile nichts weiter als eine Fortsetzung der germanischen Religionsgeschichte" S. 229); U. Stutz Eigenkirche. Realenzyklopädie f. protest. Theologie. 3. Aufl. Ergänzungsbd. Leipzig 1912; G. Pfeilschifter Germanentum und Kirche im Mittelalter. Wissenschaftliche Vorträge, gehalten in Warschau (Berlin 1918) S. 45 ff.;' H. v. Schubert Geschichte der christlichen Kirche im Frühmittelalter I. Tübingen 1917; Die Anfänge des Christentums bei den Burgundern. Sitzungsber. d. Heidelb. Akad. d. Wiasensch. 1911, Phil. bist. Kl. 3; J. Mansion Lcs origines du christiani.sme chez hs Gots. Analecta BoUandiana 33 (1914), 1. Die religiösen Grundgedanken ver- folgt auch die unten S.227 A. 2 zu neunende Geschichte der althochdeutschen Literatur von G. Ehrismann; die Geschichte der Kircheusprache Deutschlands, mit ihren religionsgeschichtlich bedeutsamen Terminis (z. B. Geist, heilig, Ostern, Weihnachten) hat neuerdings W. Braune er- hellt {Beitr. 43, 380 ff.).

* A. M. Sturtevant Ä study of the cid norse u-ord regin (= „Macht"). .Tourn. of english and germanic philology 15 (1916), 251; Vanir: E. Brate Vanerna. Stockholm 1914; Festskrift tillägnat V. Norström (Göteborg 1916) S. 293; ferner Arkiv f. nord. filologi 31, 153. 3-J, 299. 33, 97 (Baldr. Fjorgyn, Hffnir, Loki, Njor{)r u. a.); Loki: Dun^ke Studier 1912, 87.90, 1913. 12G. 1914, 65; Hanir: Paul und Braunes Beiträge 43 (1918), 210; Oftinn: M. Olsen Kultminder o. S. 215 Beiträge 39, 216. Arkir 34, 296. 33, 320 (Fjolnir); J,6rr: Dnnske studier 1915, 113 (jätten ITymes bägare). Mnal og Minne 1915, 80 (Tor i Irland; dazu K. Meyer Sitzungsber. d. Berliner Akad. 1918, 1030 ff.); Tyr: Norges indskrifter med de reldre runer 2, 603; Uli: M. Olsen Kultminder o. S. 215 Maal og Minne 1916, 107. Beiträge 43, 242. 247; Frcyr: Fornvännen 1913, 213; Horn: Namn och bygd 1915, 57; Skajii: Aniikvarisk tidskrift 20 (1914) 4, 1. Iringes ueg: Zeitschr f. d. Alt. 56 (1918), 77.

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ist in Skandinavien Volsi^ und in Deutschland die auf den Kreis der Frau Holle und Frau Percld entfallende Volks- überlieferung bearbeitet worden. Wir begrüßen die Material- sammlung, die V. Waschnitius vorgelegt hat (Sitzungs- berichte d. Wiener Akad. phil. bist. Kl. 174. Bd. 7. Abhandl. Wien 1915); dankenswert ist die räumliche Gliederung des Gebiets auf Grund der Siedelungsbezirke, in denen Holda oder JBerhta volkläufig geworden sind, fruchtbar ist namentlich die Unterscheidung des alten deutschen Mutterlandes, und der erst im Verlauf der Völkerwanderung kolonisierten römischen Pro- vinzen Süddeutschlands. Leider ist aber Waschnitius den im römischen Reich verbreiteten Volksüberlieferungen, die an parcae-strigae, epiplianiae, Diana Herodias Ähundantia sich hefteten, zwar nähergetreten, aber nicht gründlicher nachgegangen.^ Seine These, Berhta sei ein bayrisch-öster- reichischer Seelendämon (S. 140), Holda ein in Mitteldeutsch- land beheimateter Tegetationsdämon (8,168), kann daher nicht befriedigen (Spinnstubenfrauen S. 164 fi.). Obwohl er den Namen JBerhta von epiphania nicht zu trennen wagt wenn er ihn auch für älter erklärt und obwohl er ihr Amt, den Seelen ungetauft verstorbener Kinder das letzte Geleit zu geben, deutlich erkannt hat, hält er trotzdem den Grundstock für nicht-christlich (S. 146). Bei der mitteldeutschen Frau Holle^

^ Antikvarisk tidskrift 20. Norges indskrifter med de celdre runer 2, 648. 702 (Olsen versteht den Fo?« [Archiv 8, 126] als Phallos eines Pferdes; er habe den Mittelpunkt eines der Tierzucht geltenden Kults gebildet, aus dem mit der Zeit ein Opfer und ein „Gott" hervor- gegangen sei). Den Volsa-pdttr findet man jetzt bei F. Jonsson Skjalde- digtning A 2, 219. B 2, 237.

* Vgl. einerseits E. Hoffmann-Krayer Tante Arie. Zeitschr. d. Ver. f. Volkskunde 1915, 116, anderseits Archiv f. Bei. 19, 122£F. (K. Holl Der Ursprung des Epiphanienfestes. Sitzungsber. d. Berl. Akad. 1917, 402) und die durch die christliche Festordnung vorgeschriebene Arbeits- ruhe (R. Stiibe Der Himmelsbrief. Tübingen 1918) bzw. Versündigung gegen dies kirchliche Gebot.

' E. Klingner Luther und der deutsche Volksaberglaube (Berlin 1912) S. 8. 50f.; Waschnitius S. 104.

222 ^'- Kauffmann

wird übrigens zu erwägen sein, ob ihr Name und ihr Wesen nicht auf eine ganz andere Grundlage gestellt werden muß, wenn man geneigt ist, sie mit harre (S. 109. 171) und werre (S. 103) zu vereinigen und das Zaubermotiv des Ver- wirrens der Haarzöpfe ^ in den Vordergrund zu schieben. Mit dem bekannten Ahundantia -^oti\ des in den Zwölften ge- deckten Tisches tauchte Holda (regina coeli quam dominam Holdam vulgus appellat) in einer Breslauer Handschrift des Frater Rudolfus auf (de confessionis discretione c. a. 1250) ; diese interessante Stelle ist von J. Klapper veröffentlicht und mit höchst schätzbaren Anmerkungen versehen worden (Mit- teilungen der schles, Gesellschaft für Volkskunde 17 [1915] 19). Er meint, altdeutscher Volksglaube sei mit römisch- antikem und mittelalterlich - französischem Volksglauben ver- mengt und eine Dämonisierung herbeigeführt worden, die quellenmäßig verfolgt werden kann und gestattet, dabei auch der Percht zu gedenken (S. 42 ff.).

Die noch recht wenig geklärten Seelenvorstellungen hat G^ Neckel grundsätzlich zu definieren unternommen („die Lehre vom germanischen Seelenglauben bedarf einer gründ- lichen Revision"}', das eigentliche Thema seines Buches (Wal- hall. Studien über germanischen Jenseitsglauben. Dortmund 1913) sind jedoch die mythologischen Überlieferungen, die die Toten fortleben und mit besonderer Auswahl eine Aristokratie in VallioU einziehen lassen {Alfohr mun hj6l>a iil sin honnngum olc jqrhim epa oprutn rilcismonnum Snorra Edda 1, 128; Kauffmann, Bai der S. 229 ff.). Es wäre von Nutzen gewesen, wenn der Verfasser sich in der befreundeten Welt, zumal im Ely- siura derGriechen, Römer undOrientalen etwas genauer umgesehen

' {hiren Mab (Ackermann Seelenglaube bei Shakespeare S. 96 f.) < Abundantin?

* Ältere Abhandlungen hat Feil her g unter dem Titel SJcelclro. Kobenharn 1914 (Danmarke Folkeminder 10), versammelt.

Altgermanieche Religion 223

hätte. ^ Denn die Auslese der Toten („ein Auserwählter war es jedesmal, der das ferne Götterland erreichte" S. 71) ge- bietet, nicht nur das Jenseits der Walhalle (got. waliso', Neckel S. 2) von dem unterirdischen Reich der Hei räumlich zu entfernen (S. 52f. 62), sondern auch das himmlische Fortleben der um ihr Yolk und ihr Land verdienten Kriegs- helden (einherjarj zur Diskussion zu stellen. Ich hätte auch gewünscht, daß Neckel dem religiösen, genauer gesagt kultischen Gehalt von Jcjosa (: Jceusch DWb 5, 653 f.) einige Aufmerksam- keit geschenkt hätte, nachdem er mit ausgezeichnetem Scharf- sinn zwischen den Yolksüberlieferungen von den Waffentoten, die dem OJ)inn zum Opfer fallen, und der Valholl-^ljth.ologie einen scharfen Trennungsstrich gezogen (S. 27ff.)^ und erkannt hat, daß „zwei verschiedene Walhallbilder, die verschiedener Herkunft sein müssen", von den alten Mythographen und den neueren Mythologen verwechselt worden sind. Das ist eine so einfache Erklärung für den Doppelsinn von valr und für die widerspruchsvollen Zahlen der in ValhoU weilenden Ein- herjer, daß sie sofort einleuchtet (sekundär ist jedenfalls das Ragnarqk-^lotiy) und daß man der Vermutung zuneigt , auch für valkyrja werde doppelter Ursprung anzusetzen und die männermordende Kriegsfurie (ein gespenstisches Unterwelts- wesen) von der Epiphanie einer himmlischen, den einher i ein- holenden Götterbotin (eines gefiederten Orakelwesens) zu unter- scheiden sein.^

' Ich kann mich jetzt kurzerhand auf E. Xorden P. Vergilius Maro Äeneis Buch VI (2. Aufl. Leipzig 1916) S. 34. '257. 272 ff. 295 ff. berufen; vgl. Neckel S. 65; Olrik Daiiske Studier 1913, 191 f. 198.

- ValhoU ist ein als Halle stilisiertes Schlachtfeld, das Haus der Hei ist ein stilisiertes Grab (S. 52).

* Die Begriffe vom Leben in Walhall, die in unsem Quellen herrschen, sind zusammengewachsen aus hauptsächlich zwei ursprüng- lich ganz verschiedenen Vorstellungsmassen: 1. Der gefallene Krieger lebt weiter in der ValhoU, blutend, mit zerschossener Brünne unter einem Dach von Speeren und Schilden. 2. Der Fürst, der diese Erde verläßt, wird in die Reihe der Einherjer aufgenommen, um bei Odin in Ehre

224 *"'• Kauffmann

Einen umfangreichen Sonderdruck der Zeitschrift für ver- gleichende Rechtswissenschaft (Bd. 33, 333. 34, 1) widmete H. Schreuer dem Recht der Toten (Heft I : Die Rechts- persönlichkeit des Toten; Heft 11: Das Personenrecht des Toten. Stuttgart 1916). Für den Aberglauben ist der Tote manchmal ein recht lebendiges Wesen (Archiv 11, 122), es bewirkt der Tod zuweilen geradezu eine Steigerung an Wissen und an Können und das ist für den Walhallglauben zu berück- sichtigen^ — , folglich ist die Aufgabe des Juristen, nach der Rechtspersönlichkeit der Götter (o. S. 217) auch die der Toten zu erforschen und für beide nach einer gemeinsamen Wurzel zu suchen. Im Altertum lag der Schwerpunkt nicht auf dem Fortleben der Seele des Toten, es lebte vielmehr auch sein Körper fort : am Anfang der Entwicklung steht nicht ein Dualismus von Leib und Seele, sondern die individuelle Einheit des lebenden Körpers vor und nach dem Tode („Der lebende Leichnam" S. 343 ff; Leichenkult, nicht Seelenkult S. 353; vgl. z. B. Das Haupt des Mimir S. 368). Die Persönlichkeit und das Recht des Toten ist aber nicht ausschließlich an den Leichnam gebunden, es bleibt von dem Verstorbenen noch sein Erinnerungsbild zurück (S. 371f.); mit Recht dünkt dem Verfasser dies Erinnerungsbild eines der wesentlichste^j 7.w^e in dem Glauben an das Fortleben des Toten zu sein, Ausgangspunkt ist aber nicht eine „Seele", sondern die „Er- scheinung'" des Toten beruht auf dem Erinnerunjrsbild des leib- haften Toten, das von seinem Leichnam sich abli)ste. Je mehr das physische Substrat, das der Zerstörung verfiel, dahin- schwand, desto mehr trat die „Leiche" zurück, wurde das real

nnd Freude zu leben und einst dem Gotte gegen den Wolf streiten zu helfen (S. 73). Zu 1 jjehörten urHprün^lich auch die spiitor unter die einherjar und chifnjur versetzten iralkyrjen (blutsaugerische Kampfhexen S. 74ff.) und vielleicht auch die auf der Walstatt Gefallenen, unter den Männern kämpfenden Weiber, die zu Freyja kamen (S. 87 f).

' Zu Neckela Bach nimmt Schreuer II, 2 f. 113 Stellung.

Altgermanisclie Religion 225

geschaute Bild des Toten der Träger seiner Persönlichkeit (Leichenkult > Ahnenkult, Grab > Jenseits). Das Erinnerungs- bild des Toten blieb aber auch für das Zeitalter des Seelen- glaubens in Herrschaft (Stufenreihe der Seelenvorstellungen S. 394ff. : Stoffliche und stofflose Seele; Leichenbestattung und Leichenverbrennung). Erst das Christentum hat den ToteTn spiritualisiert, nun ist seine Seele und seine Rechtspersönlich- keit nicht mehr von dieser Welt Vom Rechtsleben des Toten in den verschiedenen religionsgeschichtlichen Epochen wird im IL Heft ausführlicher gehandelt (Familienrecht S. 5 ff. [Sippen- und Hausgemeinschaft, Schwurbrüderschaft und Gefolgschaft, Bestattungsgebräuche und Totenkult], Strafrecht S. 154 ff. [der Tote nimmt Blutrache; Wergeid und Totenopfer]).

Arch. 19, 196 ist bereits über den ägyptischen Fund be- richtet worden, der unserem vaterländischen Orakelwesen die Seherin Waluburg hinzufügte; K. Helm ist in Paul und Braunes Beiträgen 43, 337 genauer darauf eingegangen. Eine oelegentliche Lesefrucht ^ hat R. Meißner veranlaßt, die alt- germanische und altnordische Divination (einschließlich des Losorakels und des seipr) zu erörtern und in einer gut ge- ordneten Abhandlung die einschlagenden Zeugnisse sachkundig zu interpretieren {Ganga til frettar Zeitschr. d. Ver. f. Volks- kunde 1917, S. 1. 97).^ Auch das verwickelte Problem der Gottes- urteile hat einen neuen Bearbeiter gefunden (H. af Trolle Om ordalierna hos de germanslca FoTken. Stockholm 1916). Das Runenwesen und der Runenzauber ist in dem von M. Olsen fortgesetzten norwegischen Inschriften werk {Norges indskrifter med de celdre runer II. Christiania 1917) eingehend berück- sichtigt worden (Magische Runenzeichen S. 599, gandr S. 615,

' Fret, früh in Schottland nnd auf den Hebriden setzt anord, fre (nicht ags. freht) voraus; vgl. mengl. frete.

* M. Olsen Varßlokkur. Maal og Minne 1916, 1; L. Weniger Loos- orakel hei Germanen. Sckrates 5 (1917), 433; P. Petsch Über Zeichen- runen und Verwandtes. Zeitschr. f. deutschen Unterricht 31 (1917), 433.

Archiv f. EeligiongwisSenBchaft XX 15

226 l*!". Kautfmann

Trylleruner S. 670,^ zauberkräftige Runeomeister [gudja] schützen die Gräber und die Toten S. 624 ff.)l E. Goldmann (Archiv 11, 120) setzte seine interessanten Studien, wie Zauberbrauch in den Ri'chtsbrauch eingegangen ist, forf^; Hexenprozesse hat B. Ga- delius ausgeschöpft (Tro och öfvertroi gäugna tider. Stoc]<- ft)lm 1912— 13), dem bekannten norwegischen Sammelwerk Bangs hat nunmehr F.Ohrt (ÜanmarksTrylleformler Kobenhavn 1917) ein dänisches Gegenstück angereiht. Die althochdeutschen Zauber- sprüche findet man jetzt am bequemsten bei E. Steinmeyer, Die kleineren althochdeutschen Denkmäler. Berlin 1916.

Bei der Quellenkunde gedenken wir in erster Linie der taciteischen Germania^, der Eddalieder^ und der Sagaliteratur.^

* Edda 5 (Kristiania 1916), S. 1. 225 (Magische Alphabete u. a vgl. H. Gering Hermes 61, 632).

"^ S. Feist Zur Deutung der deutschen Eunenspangev. Zeitschr. f. d. Phil. 47, 1; V. d Leyen Zeitschr. d. Vcr. /. Volksk. 'Ib, 236. 26, M.

•'' Der Andehing. Gieikes Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte. Heft 111. Breslau 191:i (Kesselhakeu und Herd kette in Glaube, Brauch und Recht der Vorzeit S. 28ff. ; daß andelavg Kessel- hakeu bedeute, kann ich nicht zugeben). Cartam leimre Mitteil. d. Instit. f. Österreich. Geschichtsforschung 35 (1914), Iff. Dingo oder Ter- sonen werden bei einem Rechtsgeschäft auf die Erde gelegt, um ihnen die Dauerhaftigkeit der Mutter Erde zaubermäßig zu verschatfeu (Confortarc durch die Zauberkraft der Erde S.31. 43 ff.). Über Zauber mit der Fuß-spur vgl. Datiske studier 1912, 102. 196. 1914, 193f.

* Zur Ausgabe von Gudemann vgl. G. Winsowa Göti. gel. Avz. 191f), 656. Derselbe Jnterpretatio rnmano (römische Götter im Barbaren- land), Archiv 19, 1. ist» Sutborum: Helm Paul und Braunes Beiir. 43, 627;'waldkiilt: E. Norden Agnostos Theos S. 92. 116-117; C. Giemen Ehein. Museum 1918, 155. F Hertlein Die Jahres: eitensockel an den Juppitersäulen, KurreHpondenzbl.des Gesamtvereins d. deutschen Geschichts- und Altertumsvereine 1916, 1. G. Wissowa Juno auf den Viergöttersteinen. Korreapondenzbl, d. römisch - germanischen Kommission 19i7, 175. Matroneninschriften: H. Lehner Die antiken Sieindcnkmäler des Prov.- Museums in Bonn. Bonn 191«; Alafcrhuine: Zeitschr. f. d. All. 54, 172.

Voluspä: Arkir f. nnrd. fd. 30, 43. 129; Hymcskrijjn: Danske studier 1915, H-'i; Söhnt jöp: Skrifter titgit of videnskapsselskapet Kristiania 1914. Fil. bist. Kl. II nr. 7; Edda 6 (1916) 139.

G. Wenz Die Fridpjofstigu. Halle 1914; F. R. Schröder Hul/- danarsaga Eysteinssonar. Halle i917 (Beziehungen der Saga zum Märchen).

Altgermanische Religion 227

Altnorwegische Balladen sind von K. Liestol in ausge- zeichneter Weise bearbeitet und ihre mythologischen Reste sachverständig beurteilt worden (Norske tryllevisor. Kristiania 1915) Unter den altdeutschen Quellen sind es die Merseburger Zaubersprüche^ und das Muspilli^, die der Deutung harren und zu neuen Lösungen ihrer Rätsel verlocken. Die religiöse Volks- kunde des Mittelalters hat die Forschung noch nicht im selben Maße zu fesseln vermocht.^ Um die Voiksüberlieferungen, die in unserer mittelhochdeutschen Literatur stecken, bemühten sich H. W. Puckett (Elementargeister as literary char acters in the middelhigli-german epic. Journ. of english and germanic phüol.lb, 177) und A. Lütjens (Der Zwerg in der deutschen Heldendichtung des Mittelalters. Breslau 1911 = Germanist. Abhandlungen 38).* Mit Luther betreten wir den neuereu

Übersetzungen: Thule Altnordische Dichtung und Prosa, herausgeg. von F. Niedner. Jena 1911 ff.

^ Zeitschr. f. d. Alt. 55, 148; Bayr. Hefte f VoUslcunde 1, 270; Sitzungsher. d. Berl. Akad. 1915, 278. R Tb. Christiansen Die finnischen und nordischen Vananten des 2. Merseburger Spruches. Helsingt'ors 1915 (Folklore fellows Communications 18).

" DansJce Studier 1913, 196. 202; Faul und Braunes Beiträge 40, 349. 425. 41, 192; Sitzungsber. d. Berl. Alad. 1918, 414; vgl. auch

E. Peters Quellen und Charakter der Paradiesvorstellungen in der deutschen Dichtung vom 9. bis 12. Jahrh. Breslau 1915. (Germanist. Ab- handlungen 48.)

* G. Ehrismann Geschichte der deutschen Literatur bis zum Ausgang des Mittelalters I.Teil: Die althochdeutsche Literatur. München 1918.

F. Hautkappe Über die altdeutschen Beichten und ihre Beziehungen zu Caesarius von Arles. Münster 1917; Zur Literatur- und Quellenkunde der Bußbücher: Oberbayrisches Archiv 52, 156. 54, 249; Frater Rudolfus

0. S. 222): A. Franz Theolog. Quartalsschrift 88, 411. (Klapper S. 28 ff.; er nennt u. a S. 36. 49. 51 eine Art von Hauskoholden [steteivaldinj, mit denen R. Hahn Mitteil. d. Gesch. und Altertum sv er. zu Liegnitz 5, 1 sich beschäftigt). Eine Fülle von Material schüttet K. Buidach aus in seiner Ausgabe des ,,Ackermann aus Böhmen^' (Berlin 1917); vgl. z. B. über den Tod als mythologische Figur S. 243 ff.

* Weitlos ist F. Kondziella Volkstümliche Sitten und Bräuche im mhd. Volksepos. Mit vergleichenden Anmerkungen. Breslau 1912 (Wort und Brauch 8).

15*

228 ^r- Kautfmann

Zeitraum.^ .,Überreste altgermanischen Heldentums'' sind auch bei Shakespeare sehr dünn gesät (A. Ackermann, Dei- Seelenglaube bei Shakespeare. Frauenfeld 1914). Die folk- loristische Literatur kann hier nicht ausführlicher berück- sichtigt werden.^ Allzu groß ist die Schar gut gemeinter, auch mehr oder weniger gut geschriebener, aber für die Wissenschaft überflüssiger Kompilationen.^ Erst in den An- fäncren steht die wissenschaftliche Bearbeitung des durch den Weltkrieg erweckten Volks- und Soldatenaberglanbens.*

' E. Klingner Luther und der deutsche Volksaberglaube. Berlin 1912 (Palaestra 56): Teufelsglaube S. 18, Dämonen S. 47, Nigrotnantie S. 65, Alchemie und Astrologie S. 100, Hexen S. 74, Omina und andere von Luther bekämpfte Volkebräuche S. 92. 112.

- F. V. d. Leyen Die deutsche Volkskunde in „Deutsche Abende" (Berlin 1916) Nr. 5; J, Weigert Das Dorf entlang. Freiburg 1916: H. Bächtold Die Gebräuche hei Verlobung und Hochzeit. 1. Basel 1914. W. Manz Volkshrauch und Volksglaube des Sarganserlandes. Basel 1916 (Schriften der schweizer. Gesellsch. f. Volkskunde XI XII). P. Sartori Sittr und Brauch. Leipzig 1910 14 (Handbücher zur Volkskunde V— VIII). E. Fehrle Deutsche Feste und Volksbräuche. Leipzig 1916 fAuB Natur und Geisteswclt 518). E. Kück und H. Sohnrey Feste und Spiele des deutschen Lnndrolkes. 2. Aufl. Berlin 1911. Beiträge zur Rdigionstciosenschaft, herausgeg. von dor religionswissensch. (tesellsch. in Stockholm. Leipzig 1912 ff.

' Ich gebe einige Beispiele: J. Bcudel ZurVoVskundederDaitschen im Böhmerualde. Derselbe Zur Volkskunde der Deutschen im östlichen und nördlichen Bohnen. Wien und Prag 1916. M. Höller Volk-s- medi:inische Botanik der Germanen. Wien 19f^8; E. Lemke Äspliodelos und anderes aus Natur- und Volt'-kundc. Allenstein 1914 („diese kleine Sammlung wird nur in vereinzelten Füllen einen bescheidenen Beitrag aufweiten, der dem Volkskundeforscher unbekannt geblieben war"); K. Knortz Amerikanischer Aberglaube der Gegenwart. Ein Beilrag zur Volkskunde. Leipzig 1913; Derselbe Hexen, Teufel und Blocksbergspuk. Annaberg o. J.

H. Bächtold Aus Leben und Sprache des Schweizer Soldaten. Hanel 1916 (Schutzbriefe); Derselbe Deutscher Snldatenbrauck und Soldaten glaube. Straßburg 1917 (herausgcgeb. vom Verband deutscher Vereine fiix Volkskunde), auf S. 42 ff. findet man ein Literaturverzeichnis und auf S. 46 ff. den Fragebogen. R. Stube Der Himmehhrief. Tübingen 1918.

Alfcgennanische Religion 229

Das Hauptmagazin gelehrter Sagen- und Märchenforschung ^ ist nun fast vollendet: J. Bolte und Gr. Polivka, Anmer- kuncren zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Neu bearbeitet. 1. bis 3. Band. Leipzig 1913 18. Nach diesem monumentalen Regestenwerk ist das dringendste Bedürfnis, daß die stofflich gesichtete Masse stilgeschicbtlich geordnet werde. Künftige Stiluntersuchungen (Archiv 15, 605; o. S. 209) werden auf alle Gruppen und Gattungen volkstümlicher Dichtung sich zu erstrecken haben (K. Spieß, Das deutsche Volksmärchen. Leipzig 1917 = Aus Natur und Geisteswelt 587; M. Moe, Episke love. Edda 2, 1. 233; vgl. Danske Studier 1915, 71. 1916, 45).^

^ Deutscher Sagenschats, herausgegeb. von P. Zaunert. Jena 1917if. [G. Goyert und K. Wolter FZämiscÄe Sagen 1917). H. Plischke Die Sage vom wilden Heer im deutschen Volke. Diss. Leipzig 1914 (Percht-Holle S. 47 ff.); V, Schweda Die Sagen vom wilden Jäger und vom schlafenden Heer in der Prov. Posen. Diss. Greifswald 1915 (dazu Archiv 9, 201; Oskoreidi Maal og Minne 1912, 80). Die Märchen der Weltliteratur, herauageg. von F. v. d. Leyea und P. Zaunert. Jena I912ff. Die neue Ausgabe der von den Brüdern Zingerle gesammelten Kinder- und Haus- viärchen aus Tirol (Regensburg 1916) ist kein vollwertiger Ersatz der editio princeps. Aus den Sammlungen der Schweizer. Gesellschaft f. Volkskunde hat H. Bächtold Schweizer 3Iärchen veröffentlicht (Basel 1916), daneben verdienen die als wissenschaftliche Beilage zum Jahres- bericht des Vereins f. bayr. Volkskunde 1914 erschienenen Märchen aus Bayern besondere Hervorhebung.

* Hinter den Erwartungen bleiben zurück: W. Bruinier Die ger- manische Heldensage. Leipzig 1915 (Aus Natur und Geisteswelt 486). R. Petsch Das deutsche Volksrütsel. Straßburg 1917 (Grundriß der deutschen Volkskunde, herausgegeb, von J. Meier I); vgl. Paul und Braunes Beiträge 41, 332 ff.

III Mitteilungen und Hinweise

Zum altägypfischen Sternglanben

In seinen eingehenden Studien zum antiken Sternglauben, Leipzig. 1916 hat Pfeiffer die im alten Griechenland volkstümliche Vorstellung besprochen, daß atmosphärische Erscheinungen nicht nur zeitlich jnit himmlischen Vorgängen, mit dem Auf- und Untergang, dem Sichtbarwerden usf. von Gestirnen zusammenfielen , sondern von diesen Gestirnen unmittelbar veranlaßt werden. Bei einer Unter- suchung der Frage, inwieweit ähnliche Gedankengänge im alten Ägypten herrschten, muß man von einer Heranziehung der Haupt- sonnengötter Rä und Horus absehen. Diese waren beim Einsetzen der schriftlichen Überlieferung bereits völlig zu menschen- oder tiergestaltigon Wesen geworden, welche Götter und Menschen be- herrschten und die Sonne nur als ein Organ benutzten, vermittels dessen sie ihre Tätigkeit ausübten. Der Sonnengott konnte sich von dem Gestirn loslösen, auf dem Herrscherthrone sitzen, umher- gehen, auf Erden den künftigen Pharao erzeugen, ohne daß darum die Sonne ihren Platz verließ. Anders lag die Sache bei dem Gotte Atnn, „Sonnenscheibe*', dessen Verehrung Amenophis IV. dem ganzen Volke aufzuzwingen suchte. Dieser Aten war und blieb das. Gestirn selbst. Ohne daß eine Anthropomorphisieruug stattge- funden hätte, beherrschte dieses die Welt, spendete Licht, Wärme und alles (lute.

Auffallend gering war in der ägyptischen Religion die Bedeu- tung des Mondes Es gab zwar einen Sondergott desselben Aäb, doch wird dieser nur selten als einzelstehende Gottheit genannt, lieber verschmolz man ihn mit anderen Göttern zu Mischgestalteii, wie Aah-Tlioth. Noch häufiger übernahmen andere Götter, wie Tlioth und < hunsu, ohne solche Verschmelzung, zu ihrer sonstigen Tätigkeit auch die des Mondes und ließen ihn hierdurch seine selb- ständige Persönlichkeit einbüßen. Es machte sich bei dieser Über tragung ein Bestroben geltend, welches sich in zahlreichen Fällen in der Geschichte der ägyptischen Religion feststellen läßt. Man suchte im Laufe der Zeit alte Sondergottheiten mit beschränktem Wirkungskreise durch Gottheiten von umfassenderer Bedeutung zu er- setzen und diesen die Funktionen der einstigen Sondergottheiten als

Mitteilungen und Hinweise 231

Nebentätigkeit zu übertragend Freilich wurde dieser Gedanke nicht systematisch durchgearbeitet und führte nicht zum Verschwinden der alten Sondergötter, welche ohne weiteres neben den ihre Tätigkeit übernehmenden großen Gottheiten fortbestehen konnten.

Die Verbindung mit großen Göttern trat auch bei einigen der Planeten, welche alle als männlich galten, ein. Juppiter, Saturn und Mars verknüpfte man, wie ihre Namen' und auf sie bezügliche Texte zeigen, mit einem Horus, welcher vermutlich mit dem Sonnengotte Horus im Zusammenhang stand. Merkur und Venus hielten sich selbständiger, wenn auch letztere gelegentlich zu Osiris, Merkur ganz vereinzelt zu Set in Beziehung gebracht wurde. Von den Fix- sternen verbindet sich der für Ägypten wichtigste, die Sothis^ der Sirius, nicht selten bereits in früher Zeit und von da an ständig mit Isis. Es ist daher, auch wenn Sothis allein genannt wird, im Einzelfalle kaum möglich zu entscheiden, ob man unter ihr den Stern selbst oder die sich in ihm offenbarende Isis zu verstehen hat. Bei andern Sternbildern'* tritt die Verbindung mit großen Gottheiten mehr gelegentlich auf^ So wird das weibliche Nilpferd vereinzelt mit Isis, der Stierschenkel mit Set verbunden", meist gelten aber diese Gestirne als selbständige Wesenheiten.

Von meteorologischen Erscheinungen, welche ein Sternbild be- gleiteten, ist nur selten die Rede, und dann ist es meist unklar, ob der Ägypter annahm, daß das Gestirn die Erscheinung noiet und nicht nur arjfiuLvsi. Daß man erstere Ansicht, welche sich mit der Auffassung des Äten durch Amenophis IV. deckt, bereits etwa 3 00 Jahre vor dessen Reform hegen und glauben konnte, daß ein Stern selbst, nicht eine in ihm sich offenbarende Gottheit der Ver-

^ Verdrängung der alten Monatsgötter Wiedemann Orient. lAt. Zeit. 6. Sp. 3 ff.; der sog. 4 Totengenien Sphinx 16 S. 52 f.; von Totengöttern Theol. Lit. Zeit. 36. Sp. 131.

^ Für die ägyptischen Planeten vgl. Brugsch Tliesaurus Inscript. Aegypt. I S 63 tf.; Die Ägyptologie S. 335 ff.; Lepaius Die Chronologie der Ägypter S 84ff.

* Das Material für Sothis am vollständigsten bei Röder Sothis in Röscher, Lex. der griech. Myth. 4. Sp. 1273 ff.; zahlreiche Denkmäler- angaben für Isis- Sothis als Stern bei Brugsch Thesaurus. I.

* Ein tatsächlicher Sternkult wird in den ägyptischen Texten sehr selten erwähnt; vgl. Wiedemann Bec. de Trav. rel. ä VEgijpt. 17 S. 12,

" Auf einem Denkmal im Louvre (D. 37; Brugsch Thesaurus I S. 179ff)., welches vermutlich aus Saft el Hine stammt und aus der Zeit etwa Neetanebus 1. herrührt (vgl den Naos von Saft el Hine bei Naville Goshen London 1887, und den von dort nach El Arisch verschleppten Naos bei Griffith The Antiquities of Teil el Ydhndiyeh S. 70 ff.) werden die Sternregenten von Tagesdekaden, welche btürme, Regenschauer, den Tod, usf veranlassen, mit dem Gotte Sepd des Nomos Arabia ver- schmolzen.

^ Stellen bei Brugsch Thesaurus I. S. 121 ff., 128; Ägyptologie S. 343 f.

232 Mitteilaugen und Hinweise

anlasse!- eines meteorologischen Vorganges sei, beweist eine im offiziellen Auftrage hergestellte Inschrift Thutmosis' 111. In seiner sog. poetischen Stele^ heißt es von diesem Herrscher, die liewohner des Ostlaodes sähen ihn „wie den 8eschet- Stern (mit Krokodil determiniert*), der ausstreut (das AVort ist mit dem Sämann deter- miniert) seine Hitze in Flainmenglut, der gibt seinen Tau'' Leider läßt sich nicht feststellen, inwiefern derartige Vorstellungen in weiteren Kreisen des ägyptischen Volkes Verbreitung gefunden ha- ben, üas aus dem Niltal erhalten gebliebene roligionsgeschichtliche Material ist für eine diesbezügliche Untersuchung allzu einseitig. Es beschäftigt sich mit den Geschicken des Verstorbenen und mit dem Tempelkulte der großen Götter; Volksvorstellungen, und zu diesen würden derartige Ausgestaltungen des Sternglaubens zu rechnen sein, finden nur in Ausnahmefällen Erwähnung.

Bonn A. Wiedemann

Die „Traditio pev terram'* im griecliischeu Rechtsbrauch.

Es ist im altgermanischen Kechtsbrauch wohlbekannt, daß bei dem Verkauf oder Überlassung eines Grundstücks der Gegenstand des Rechtsgeschäftes durch eine Scholle, ein Rasenstück oder etwas Erde von dem Grundstück, die dem Käufer übergeben wurde, kör- perlich vergegenwärtigt wurde. Das hieß hadere per tcrrarn vel herham oder cum cacspUc und kam nicht nur beim Kaufgeschäft, sondern auch bei der Investitur eines Lehensträgers vor. Li den skan- dinavischen Sprachen wird die Zeremonie mit den Wörtern (schwedisch) sküta (Verb) und .sÄ:ö7ww// (Substantiv) bezeichnet, weil etwas Erde dem Empfänger in den Schoß geworfen wurde. Die Wörter sind in das mittelalterliche Latein einfach übernommen worden in den Formen scotare und scutatio^ die überall in den Urkunden begegnen.^

' Tietzte VerößFentlicliung mit Litcratnrverzeicbuis Lacau Stiles du Nourcl Empire (Kut. Kairo) S. 17 0". Tat. 7. - Der betretfeude 'i eil des Textes wurde später wörtlich, unter {gleicher Determinieruug des Stern- nameng mit dem Krokodil, auch für Seti I verwendet (Charapollion Not. manuscr. II ri. 'Jd; Maspero Genre cpLstolaire chez les anciens Eflijpiicn.s S. 90; GuieysHC Rec. Trav. 11. t?. 64).

* Welctier Stern unter Sesched zu verstphen ist, ist unbekannt. Die AuffasHunKen als Gestirn (Bnigsch Wörteibuih S 1319; Suppl. >. 11 36 f.), circling star (Ureasted Ancient Rrcords o/ Kpypt II. H. '264). Tlauet (Maspero Genre ejiistolairc S. 88 1, Sirius (Wiedemann Z. I). M. G. 3U. S 151), Canopus (Maiiette Not. du Musee de Jioulaq, 6. Aufl. S 106; IJmgHch Grsvhivhte Äfiyptens S. 3.t. ) , feuriger Stern wie ein Komet Birch Arihneoloyid 28 S, aH7), Sternsebnnppo (Lefebure ^dcs du Congrds des Orientalistes Ali;ier II. 4. ö. 16), Solstioium E. de Roug«5 liev. < rch. Nouv Sür. 4. S. 209 f.) wind alle, gelc^;entlich U' ter Verwertung eines Wortsinns von soched, welches u. a. „sich im Kreise bewegen" bedeutet, geraten.

» '. Grimm Deutsche Hecht baltertümer I', 163fr., bes. 167 ff.

Mitteilangea und Hinweise 233

In Rom kam derselbe Brauch vor im Prozeßverfahren, profedi slmul in agrum (der Kläger und der Beklagte), de quo Utigahatur, terrae aliquid ex eo, uti unam glebam, in ins in urhem ad praeforem deferrent et in ea gleha tamquam in toto agro vindicarent, Gellius, N. A. XX, 10. Man hat daraus piit vollem Recht geschlossen, daß einmal auch beim Kaufgeschäft das Grundstück durch eine Scholle vergegenwärtigt wurde. Es gibt ein Zeugnis dafür, daß der Sinn dieses verschollenen Rechtsbrauches dem Volke noch im Anfang der Kaiserzeit lebendig war. Sueton, Vesp. 5 erzählt: cum aedilem cum (den Vespasian) C. Caesar succensus cur am verrendis viis non adUhitam Mo iussisftet oppleri congesto in praetextae sinum, non defuerunt qui interpretareniur quandoque proculcatam desertamque rem publicam civili aliqua periurbatione in tutelam lius ac velut in gremium deventuram. Die Auslegerweisheit des Sueton können wir auf sich beruhen lassen. Wieviel einfacher und handgreiflicher wird das Omen, wenn man sich an die alte Bedeutung der traditio per terram hält! Der Kaiser übergibt etwas Erde seines Landes dem jungen Ädilen, das heißt aber, daß er das ganze Land, was er sein nennt, ihm übergibt.

Die bekannte persische Sitte, Wasser und Erde als Zeichen der Unterwürfigkeit zu verlangen, beruht auf dem nämlichen Rechts- brauch. ^ Ob sich sonst einige Spuren davon bei den Persern finden, ist mii- leider unbekannt.

Es ist längst und öfters bemerkt worden, daß der Mythus den- selben „Symbolismus" auch für Griechenland bezeugt.^ Da aber das wichtigste Zeugnis m. W. nicht hervorgezogen worden ist, dürfte es nicht überflüssig sein, einmal eigens auf den interessanten Brauch zurückzukommen. Besonders ist er in Verbindung mit der viel diskutierten Gründungssage Kyrenes erwähnt worden.^ Li Libyen an der Mündung des Tritonissees erhält Euphamos von dem Triton oder vom Sohne des Poseidon Eurypylos als Gabe eine Erdscholle. Nach dem Sinn der alten Sage bildet diese den Rechts- titel der Kolonistea zum Besitz der libyschen Erde. Nachher ist dieses Sagenmotiv in die verwickelte Gründungsgeschichte Kyrenes verflochten worden. Medea wahrsagt, daß, wenn Euphamos die Scholle bewahrt und in dem Erdschlund am Tainaros niedergelegt hätte, seine Nachkommen im vierten Glied anstatt, wie es ge- kommen ist, im siebzehnten Kyrene besiedelt haben wüi-den. Nun

1 Die Belegstellen a. a, 0. S. 167.

» Z. B. A. Gercke Hermes, XLI 1906, 4 55, A. 1; S. Eitrem Beitr. zur griech Religions'gesch. 111 (Ges. d Wiss., Kristiania, 1919, II, Nr 2) S. 24 Ä. 2 und die in den beiden folfjenden Noten anijefübrten Stellen.

» Find. Pyth IV; Apoll. Rh. IV I549if. K. 0. Müller Die BorierlSö. Vgl. Studniczka Kyrene 105 ff., L. Malten Kyrene (Fhilol. Unters. Xä.) 121.

234 Mitteilungen und Hinweise

wurde die Scholle aber nacli Pindar bei Tbera über Bord gespült oder nach Apollonios Rhodios ins !Meer geworfen; daraus entstand die Insel Tbera, von wo aus später Kyrene besiedelt wvirde.

Der zweite Mythus betrifft den korinthischen König Aletes.' Die Parömiograpben erwäbnei;i öfters ein Sprichwort öixstcct nat ßäXov ^Akrjxt^g^, inl rä)v aTtavza ngbg to Kgehrov iY.ÖE'fpiiivoiv , wie es erklärt wird. Es ist ein Hexameterschluß und dürtte wohl also aus irgendeinem alten Epos stammen. Die Erzählung lautet, daß Aletes aus Korinth vertrieben wurde und nach Befragung des Orakels zurückzukehren versuchte. Als er in das korinthische Land kam, traf er einen Rinderhirten, den er um etwas Essen bat. Dann heißt es bei Pseudo-Plutarch: 6 8\ ßCoXov iy. Tijg nrjQag «Qcc^evog köiSov. 6 61 ^A. löi^aro ol(oviodf.uvog vial simov xrX. tK xTjg m']Qag ist selbstverständlich ein Autoschediasma, das in den anderen Quellen nicht erscheint. Nicht viel besser sind die erklärenden Worte, die bei Diogenianos und Apostolios hinzugefügt sind: (xQavxcc 8e ßäXov äovvai avrco üg tov /iiog '(')vxa. Das einzige, worauf es ankommt, ist, daß Aletes durch das Ergreifen einer Scholle des Landes von diesem Besitz ergreift.

In diesen Mythen braucht nun nicht mehr als ein leicht ver- ständlicher Symbolismus zu liegen, wie in der vorwandten Erzählung bei Herodot VIII 188 von Perdikkas, dem der makedonische König, bei dem er diente, statt des Lohnes den durch den Rauchfang hin- einfallenden Sonnenschein gab. iNichts mehr lehrt eine dritte, auch von K. 0. Müller a. a. 0. zitierte Erzählung. Nach vielen Wande- rungen kamen die Anianen in das Land um Inachos. Die Ein- wohner hatten ein Orakel erhalten, daß, wenn sie das Land mit jemandem teilten, sie das Ganze verlieren würden, die Änianen, daß sie in den Besitz des Landes kommen würden, wenn sie es frei- willig erhielten. Also begab sich ein angesehener Aniane Temen als Bettler verkleidet zu den Inachiern. Zum Spott gab ihm der König eine Srholle; er steckte sie in seinen Ranzen und entfernte sich, ohne um etwas mehr zu bitten Die Altesten des Volkes sahen nun den Irrtum ein und versuchten Temon zu ergreifen. Das gelang nicht, und die Anianen kamen in den Besitz des Landes.

Die wichtigste Erzählung steht kurz nachher, Plut. qu. gr. 22. Sie betrifft die Besiedelung Euböas durch die loner. Die Söhne des Xuthos, Kothos und Aiklos, kamen nach Euböa, das damals von Aolern bewohnt war. Kothos hatte ein Orakel erhalten, daß es ihm Wohlergehen würde, wenn er das Land kaufte. An dem

' Plut Prnverb. 48. Diopenianos II 38, ZenobioB III 22, Schol. Pind. Nem. V'Ii am Ende, wo 'las Orakel ans Do'lona: zÖti- xpaTr/Cf«»», ort rif ßcbXov y^g, ans der P>rzähliing geholt ist. lleeych und öuidas bieten nicbta als da^i Sprichwort und seine Bedeutung.

Mitteilungen und Hinweise 235

Ufer traf er eiuige spielende Kinder, denen er viele fremdartige Spielsachen vorzeigte. Da die Kinder die Spielsachen gern haben mochten, wollte er sie nicht hergeben, wenn sie ihm nicht etwas Erde gäben. Die Kinder nahmen etwas Erde von dem Boden und gaben sie ihm, worauf sie sich mit den Spielsachen entfernten. Da die Äoler das Geschehene erfuhren, steinigten sie im Zorn die Kinder.

Hier ist es ganz deutlich, daß ein Kaufgeschäft in aller Ord- nung stattgefunden hat. Die Aoler können es nicht einmal rück- gängig machen, sondern müssen sieh begnügen, ihren Zorn an den armen Kindern auszulassen, die gesteinigt werden. Die Geschichte erinnert an die Art, wie europäische Kolonisten in vergangenen Jahrhunderten um glitzernde Glasperlen und allerlei Tand den Kothäuten und den Schwarzen wertvolle Grundstücke und Land- striche abgekauft haben. Mancherlei solches mag in der Zeit der Koloniengründung erzählt worden sein. Ein bekanntes Beispiel ist die Sage von der List mit der Rindshaut bei der Gründung Karthagos Der Wert des erzählten Mythos besteht darin , daß er klar zeigt, daß ein rechtsgültiges Kaufgeschäft durch das Übergeben von etwas Erde bei den Griechen wie bei den alten Germanen einmal ab- geschlossen wurde.

Freilich ist dieser Rechtsbrauch noch vor dem Anfang der ge- schichtlichen Kachrichten abhanden gekommen; die Sage hat aber dieses wie so viele andere Überbleibsel älterer Kulturzustände be- v/ahrt. Diese Sage zeigt, daß auch die übrigen, hier angeführten Sagen sich auf denselben alten Rechtsbrauch beziehen.

Da dieser Brauch sich bei vielen indo- europäischen Völkern wiederfindet, würde man vielleicht geneigt sein, in diesem einen Rest der gemeinschaftlichen Urzeit zu erkennen. Ich glaube, Vorsicht ist geboten, da das indo -germanische Urvolk sicher ein wanderndes Volk gewesen ist. Leist meint, daß der Liegenschaftsprozeß sich als eine spätere Gestaltung erweist, der Prozeß über Fahrnis, der Gegenstände der Haushaltsordnung umfaßt, Frau, Kinder, Hörige, Tiere, leblose Sachen, ist das Ältere^. Die traditio per terram ist eine so leichtverständliche Form, daß sie sich sehr leicht von selbst ergeben kann. Sie kommt auch im fernen Osten vor. In China geschah die Investitur eines Lehensträgers dadurch, daß ihm eine Scholle übergeben wurde, die vom Altar des Gottes des Erdbodens genommen wurde. ^

Lnnd Martin P. Nilsson

' W Leist Altarisches Jus civile TI, 292 J0F.

- P. Chavannes Le dien du sol dans la Chine antique, Annales du Musee Guimet, Bibl. des etudes XXI 438 f.

236 Mitteilungen uud Hinweise

Noch einmal Karkinos

(Zu Archiv XIX S. 553)

Weder 0. Crusius, Untersuchungen zu den Mimiambeu des Herondas 1892 S. 84 fi". noch A Nairn in seinem Kommentar des Herondas (Oxford 1904) S. 50 haben eine plausible Erklärung für die Worte der Kynno im ]V. Mimiambus V, 44 i'orrjxf ö' cTg ;*' oQevaa nagKL^v^ov fii^ov, wodurch die träge Magd Kydilla charakterisiert werden soll, vortragen können, und weder Büchelers Übersetzung '^immo achtat intucns mc caitcro grandius^ noch Crusius' Wiedergabe in seiner Übersetzung (Göttingen 1}'93) "^Und glotzt mich größer an wie ein Taschenkrebs!' können befriedigen. Es er- ledigt sich jede Schwierigkeit, wenn wir auch hier an das Krebs- gespenst Karkinos denken, dessen Erwähnung in einem Mimus gewiß nicht auffallend ist.

Halle (.-^aale) Otto Kern

Eiu Mithrasdenkinal ans Makedonien

Bei meiner archäologischen Keise im südwestlichen Makedonien im Jahre 191 8 konnte ich, dank einem Hinweis des Herrn Leutnant N. Tschilev, ein bis jetzt unbekanntes Mithrasdenkmal besichtigen. Nordwestlich von Prilep, unter der aus dem Mittelalter stammenden Festung Markovi-Kuli (Markusburg)', befindet sich eine kleine Höhle, gebildet von kolossalen, vom Berge abgestürzten Felsblöckon; auf dem rechts vom Eingang liegenden Block ist eine halbkreisförmige Flüchp, hoch 0,32, breit 0,39 m, geglättet und mit einem ziemlich verwitterten Relief verseben: Mithras Tauroktonos, in gewöhnlicher Kleidung und phrygischer Mütze, tötet den Stier; gegen die Wunde zu springt ein Hund und windet sich eine Schlange. Unter dem Relief, wieder auf einer geglätteten Fläche sieht man Spuren einer griechi- schen Inschrift (^Buchstabenhöhe 0.02 m), von der ich nur folgendo.'; lesen konnte: ^^^ ^^,^ ,^^

I AO AC . TO TOr XO All Soviel wir wissen, war bis jetzt kein Mithrasdenkmal aus Makedonien bekannt; aurh Cumont in der neusten Auflage seines Werkes TjCS mystercs dr Mithra (III ed. 1913) verzeichnet keines. Sofia Qawrii Kazarow

Zu Cyprian dem Mafijier

Ich habe in dou Nachrichten d Gesel'sch. d. Wissensch., Göttingen 1917 S. 38 ff. Zahns Untersuchungen fortführend rrwinson. daß de)-

' Über diese Festnns? vgl. P. Milükov Mut. den rus-i. urtli. Inatil. m Konstant inojjd IV, 1, S. 121 flg. (russ.).

Mitteilangen und Hinweise 237

heilige Cyprian von Antiochia seine Verehrung lediglich einer christ- lichen Novelle von einer Asketin Justa (Justina) verdankt, die um 350 n. Chi-, zu Erbauungszwecken gedichtet ist. Alle Figuren der Erzählung tragen, wie ich damals schon (S. 48) bemerkte, Namen aus der Literatur, Aidesios, ihr Vater, den des neuplatonischen Philo- sophen, der Bischof Anthimos den eines Märtyrerbischofs von Niko- medien: Optatus stammt aus den Perpetua -Akten, Cyprian, der Zauberer, der später Bischof wird, kann nur dem berühmten Cyprian von Karthago den Namen verdanken. Den besten Beleg für diesen Schi-iftstellergebrauch, Athenaios, ließ ich mir damals entgehen und werde erst durch die fleißige Studie eines früheren Schülers K. Mengis. Die schriftstellerische Technik im Sophistenmahl des Athenaios, 1920, S. 29 ff. darauf geführt, obwohl Kaibel schon die Hauptsache klar- gestellt hatte. Ich verzichte darauf, Einzelheiten hervorzuheben: Heide und Christ verwenden genau die gleiche Technik für ihre Phantasiegebilde. Man wird aufhören müssen, in der zierlichen Novelle irgendwelche Reste einer Tradition zu suchen. Von Ver- wechslung zweier Cypriane kann nicht mehr die Rede sein.

R. Reitzenstein

Das „examen in mensuris*^

Meinen Studien über Ordale\ zu denen ich in gelegener Zeit weiteren Stoff zu bringen gedenke, möchte ich im folgenden eine neue hinzufügen. In seinem Buche über die „Kirchlichen Be- nediktionen im Mittelalter" teilt Franz auch zwei Formeln mit über ein nur selten auftretendes Verfahren unter dem Titel ..cxamen in mensuris", von denen eine noch ungedruckt war'^ Seine Erklärung dieser Texte läßt aber eine Reihe von Fragen offen und ist außerdem in Einzelheiten sicher nicht richtig.

Da es sich um kurze Texte handelt, wird es gut sein, sie zui- nähern Untersuchung hier im ganzen zu wiederholen, um an der Hand des genauen Wortlauts die zutreffende Deutung zu geben.

Der erste Text ist schon von Roziere* und Zeumer*, freilich mit Fehlern, die Franz verbessert hat, abgedruckt worden. Er stammt aus der Handschrift 306 von Montpelher, datiert aus dem 9. Jahr- hundert, und lautet:

Quidam fideJes fro viVibus causis mdicii faciunt examcn in men- suris. Ad lioc etiam rite peragendum devota intentionc opus Jiaheni divinum praesidium. In primis oratio dominica et simlotum cum

» Vgl. Archiv Xlil, 525ff. XVI, 122ff. XVIII, 585 ff. - Freitiurg 1909, II, 390 ff. •■ Rtcmil Nr. 625, II, 883.

* Monumenta Germaniae Historica, Legum Sectio V Formulae Merov. et Karol. aevi 639.

238 Mitteilungen und Hinweise

letania chcantcnt, dcindr psahnos: ..Exaudi, ilrus, orutioni'm mcam. cum dcprccor" (63). „Levavi"' (120). „Ad te levavi" (122). „JDominc, t^audi^^ (142). Evangdmm Icgiinr snundum Lucum: .yEstote ngo miscricordes" Hsquc ,.rnncfi('tur vohis'' (Luc. 6, 36 38).

Dcus omnipotvns Sahaoth, qiä crlontm conihtrns ihronos H dbyssos iniucris, domine, rex rvgum, t/iii onnem creaturam in mmsurasi irHuali et ponderr dlvino disposiiisti, qui furtum Achan irope Hiericho prr soiiis iudifia Josuc revvlasii (Jos. 7, 13-25); qui JcsediieU pro- l)hrfar Urnen angelormn (= argulorum) calamo mensuraniem / er lati- ludinem, hngiludinem, subJimiiaiem, profunditalcm [oslcndistij (Ez. 40, 3 40), qrii verbuw aposioli concordantnn demonsirasÜ (Eph 3, 1 8), exaudi nos propicius j,er gratiam sancti sjiiritus et per sanctar crucis virtutem et sanctae dei genitricis virginisque Mariae et othnium aanctorum tnornm intercessionem, qvicnuid in liac quaesituri sumus min^uruj nrissimi cxaminis tili pt'ohatione declara.

Der zweite, längere Text ist der Sankt Gallener Handschrift 932 p. 521 entnommen, die aus dem 15. Jahrhundert stammt. Er lautet:

Ordo indicii in mensnra. Qjiidcnu fideles pro Jerilms caiisis iudicii faciunt examcn in mensuris etc.

1. Dens omnipotens Sabaoih, qui celorum continens etc.

!2. Adiuratio mensure. Coniuro te, gcnus mcnsure, per patrim. ifui cum filio .<tanctoque cooporante .<ijnritu in principio mundum in rerbo. wrnsitra rt jiondere dispo.<iuit (Sap. 11, 21), «/, .s/ homo iste /traenofali fitrti sit innocens, sibi datutum tcrminum non excedas, si. iiutem obiecte sibi cause reus est, tcrminum e.rcedere [debeas], ut et voci creatoris tui obedias et nomen eius benedicat, qui rivit.

3. Item atia. Duminr Jesu Christe, qui liberasti, antcqnum in- carnatus esses, Ahralioni de IJr Chatdcorum (Gen. 11, 31) et treu jiueros de caminu ignis, quique incarnatas crucis patibultim [pro salutr humanij (jener is ascendisti et ad inferos descendens electos teciim n- duxisti, impios vero ilaustris tnirbareis dimisisti: iudica causam, quesumus, i.ftius mensure secimdum iudicinm iustitiae tue, qui cum /tatre.

ühor das anzuwendende Verfahren fehlen alle Anweisungen. Man muß sich also mit dem Katen helfen. Schon Z cum er dachte an eine Losprobe*. Franz deutet den ersten Text auf Grund der richtigen Lesart ,, Achan" für die Koziere'sche „arcam", die auch Zeumer übemoinnifn liatte, von hier aus gleichfalls in diesem Sinne. Es sei auf die gröli^re oder gt-ringere Länge der dabei verwendeten

' a. a 0 6.'J*j: Hoc „examcn in mensuris" ud iudicium sortis spcciure nidetur. Q»od ideo fortasse ita appelluri potuü, qnia calauius extractus mensurabaiur, ntrutn lovgior an tirertor esset.

Mitteilungen und Hinweise 239

Stäbchen angekommen. Zu dieser Annahme scheine die Erwähnung des Engels zu berechtigen, der nach der Vision Ezechiels die ein- zelnen Teile des neuen Tempels nach Länge, Breite und Höhe mißt. -Man könne demnach an ein Verfahren denken, wie es nach der Lex Frisonum tit. XIV^ bei einem Mord angewendet wurde, nur daß bei dem examen in mensuris ungleiche Länge der Stäbchen vor- gesehen sei.

Ln Geg-msatz dazu stehe die andere Formel. Sei die erste ein ixamen in mensuris, so enthalte die zweite eine adiuratio n.ensure und sie rubriziert: ordo indicii in mensura. Sie sehe also nur einen Maßstab vor. Dieser soll sich beim Unschuldigen nicht verlängernj dagegen über die rechte Länge hinausgehen, wenn der Schuldige gemessen wird. Das sei ein Gegenstück zum Wägen der Hexen. Näheres ergebe sich aus den Texten nicht, aber das Verfahren habe sich demnach im Laufe der Jahrhunderte geändert. Soweit Franz.

Ist diese Beweisführung nun richtig? Ohne Frage stimmt eins: es muß sich um ein Los mit Stäbchen handeln, wie man das 2. Mos. 28, 30; 1. Sam. 14, 41 ff. (Septuaginta y.uxu-AXriQOvv ) vor- aussetzt und wie sie zum Orakeln auch Hosea 4, 1 2 ( Iv Qccßöoi-g avrov aTCijyyslov avro)) und Ezech 21, 26 (avaß^aaui Qaßdia) erwähnt werden. Aber Franz hat übersehen, daß es sich in beiden Formeln um das Gleiche handeln muß und der Unterschied, den er finden \vill, in Wii'klichkeit gar nicht besteht. Zwar lesen wir am Be- ginn der ersten Formel: examen in mensuris, am Ende des Gebets aber: quicqnid in hac (juesituri sumus mensura, und in der zweiten: als Rubrum: ordo iudicii in mensura, im Folgenden aber: quidam . . . faeiunt examen in mensuris Li den Texten wird also w cnsura neben mensurae ohne Unterschied gebraucht. Der Grund dafür muß wohl darin zu suchen sein, daß man das Verfahren bald bei einem ein- zelnen, bald bei mehreren Verdächtigen anwendete und daß in jedem Falle mindestens zwei Losstäbchen oder ein Maßstab und ein eigent- licher Losstab zur Verwendung kamen, die gleiche Länge aufwiesen, denn nur so ließ sich ennitteln, ob der Losstab in der Hand des Schuldigen gewachsen sei oder sich verlängert habe {statutum ter- minum exccderc). Bei dieser Auffassung läßt sich der Wechsel der Einzahl und Mehrzahl von mensura ungezwungen erklären.

Das seltsame Verfahren hat seine Wurzel wohl in Überlegungen, wie sie uns in der jüdischen Überlieferung der Achan-Geschirhte begegnen. „Als Josua den Achan durch das Los bestrafen wollte, da sagte dieser (nämlich Achan): ;,Wie kannst du dich auf das

^ Man. Germ. Wstor. Legg. III, 667. Man versah ein Stäbchen mit einem hrpuz, die Verdächtigen mußten ihre Stäbchen mit der Hausmarke zeichnen und dann auf den Altar legen, worauf sie gezogen -wurden. Vgl. auch W. Golther, Handbuch der german. Myth. (1895), ö36.

240 Mitteilungea und Hinweise

Los verlassen? Wirf Lose zwischen zwei Unschuldigen, so wird das Los auf einen fallen!" Da war Josua sehr betrübt. Er blickte in die zwölf Steine auf der Brust des Hohenpriesters. Es war die Überlieferung verbreitet, daß, wenn ein Stamm gesündigt habe, der Stein dieses Stammes farblos war, sonst aber glänzend. Hier ver- dunkelte sich die Farbe des Stammes Jehuda. Da erkannte Josua, daß der Sünder aus dem Stamme Jehuda sei, und zwar Achan "^ Das Gleiche geschah auch bei Saul, als er Jonathans Sünde auf- deckte (l. Sam 14, 41). Beide Fälle, Achan und Jonathan, stehen auch nebeneinander in einem Gebet eines examen cum ferro ignito: „(JMJ furtum Äclian et transgressionem Jonathae sorfe demonstrasti^^^. Das übliche Loswerfen mit ungleichen Stäbchen war also zu leicht angreifbar; mit einem Ordal sollte schon eine handgreifliche Wunder- wirkung, ein unverkennbares Eingreifen Gottes verbunden sein. Auf diesem Gedankengang beruht wohl auch das examen in mensuris.

Die Deutung auf gleich lange Stäbchen, die den Verdächtigen in die Hand gegeben wurden in der Erwartung, daß durch ein göttliches Wunder das Stäbchen in der Hand des Schuldigen wachsen und so den Schuldigen verraten würde, gewinnt aber die höchste Wahrscheinlichkeit nichtnur durch den Wortlaut der Formeln, sondern auch durch ein Cberlebsel des Ordals. Wuttke erzählt'*: „Wenn in Masuren ein Hausgenosse sich des Diebstahls verdächtig gemacht hat. läßt der Hausvater die Leute zusammenkommen und verteilt unter sie Strohhalme von gleicher Länge; nach einer Viertelstund«" werden die Halme wieder untersucht, wo dann der Halm des Diebes gewachsen sein soll. In einem Falle sei der Dieb auch gefunden worden, weil er aus Furcht vor Entdeckung ein Stück von dem Strohhalme abgebissen habe'V Hier haben wir noch das alte, ge- suchte Verfahren, das den Formeln entspricht, aber der begleitenden kirchlichen Zeremonien entkleidet.

Ijuxemburg Adolf Jacoby

' Ard'iv XVII, 134. ' Zeumer a. a. 0. 640, B II, I. Deutschem- Volksabcr glaube^ 239.

(Abge8ohlo«*CD am 6. Dezember 19i0.

1 Abhandlungen

Die do-ut-des-YoimQl in der Opfertlieorie

Von Gr. van der Leeuw in Groningen Unter dem Worte „Opfer" wird seit langem in der Reli- gionsgeschichte nicM mehr eine einheitliche Größe verstanden. Es kann ja geradezu eine Sache der bloßen Bequemlichkeit scheinen, daß man so verschiedene Handlungen noch mit dem einen Namen andeutet. Es gibt erstens das Geschenkopfer, wo man allerdings wieder unterscheiden muß nach Opfern, wobei die Gabe magisch auf den Gott wirken soll, andere wo sie eine Huldigung oder eine Tributsdarbringung, wieder andere, Ivo sie eine Bestechung des Gottes bezweckt. In zweiter Linie sind die Speiseopfer zu erwähnen, die sicher nicht ohne weiteres eine Nuance der Geschenkopfer darstellen.^ Dann kämen die mehr oder weniger sakramentalen Opfermahlzeiten, wobei man das Essen des Gottes scheiden muß von dem Essen mit dem Gotte. Und endlich die Sühnopfer.

Also kann die do-tit-des-F ormel als Erklärung des Opfers im allgemeinen von vornherein keinen Anspruch auf Geltung erheben; auch als Beschreibung der seelischen Verfassung des- jenigen Opferers, der seinem Gotte Geschenke bringt, ist sie längst als fehlerhaft und einseitig rationalistisch erkannt worden. Es kann ja leicht sein, daß das Distichon des Ovid:

Mimer a^ crede mihi, capiunt Jiominesque deosque,

Placatur donis luppiter ipse datis die Stimmung vieler Opferer richtig wiedergibt, wie sie auch auf die unsrige manchmal zutreffen möchte, wenn wir unsere

^ Vgl. die Bemerkungen von Ada Thomsen Der Trug des Prome- theus, in diesem Archiv 12, 1909 S. 480.

Archiv f. Beligionswisseu Schaft XX. S/i 16

242 ^- ^ä^^ d^^* Leeuw

Freunde zu Abend gesellsctiafteu einladen oder ihnen Geschenke verehren. Daß sie aher kein richtiger Ausdruck ist für die seelische Keguug desjenigen, der zum erstenmal Geschenke machte, anders gesagt, für d^s psychische Phänomen, welches dem Geschenkaktus zugrunde liegt, das bedarf jetzt Avohl keiner weitläufigen Erörterung. „Diese Theorie . . . mutet uns zu, zu glauben, daß die Religion zum Geschäft gemacht werden konnte, bevor ein Geschäftswesen bekannt war; daß Religion besteht oder ursprünglich bestanden hat, nicht im Tun des- jenigen, was angenehm ist in den Augen Gottes, sondern im Bestechen der Götter; daß die relativ späte Mißdeutung die ur- sprüngliche und wahre Meinung des Rituals ist; mit einem Wort, daß in der frühesten religiösen Kundgebung keine Re- ligion war."^ Ich habe diesen Bemerkungen Jevons' nichts hinzuzufügen.

■* Es ist aber vielleicht dennoch möglich, die Formel do-ui- des so zu interpretieren, daß sie einen guten Sinn bekommt. Es ist dies auch wünschenswert. Denn, wie das Jevons tut, alle Erwägungen, welche sich auf eine Erwiderung oder Loh- nung der Opfergalje beziehen, als sekundäre Entartung zu be- zeichnen, geht doch nicht an. Es hieße das u. a. das ganze Gelübdewesen aus dem Bereiche der eigentlichen Religion aus- schalten.

Ich versuche im folgenden einen solchen Sinn zu finden. Vielleicht daß dann auch herauskommt, daß sich von einer richtig verstandenen do-ut^tlcs-F ormoi Wege finden lassen zum Verständnis der übrigen Opferformen.

Wenn ein Mensch auf primitiver Stufe einem anderen Menschen oder einem Gotte ein Geschenk macht, so bedeutet dies etwas anderes, als wenn wir dasselbe tun. Das Geschenk soll beim Beschenkten nicht nur irgendwelchen Einfluß üben dieser Einfluß ist auch sicher berechenbar, d. h. magisch.

' F. B. JnvonH The Idea of God in earhj religions. Cambridge 1913 p. 69 sq.

Die do-ut- des -Formel in der Opfertheorie 243

Das Opfer soll den Gott zwingen.^ Es ist dies aber wohl noch nicht die primitivste Auffassung.

Man hat neuerdings eino-esehen, daß bei magischen oder religiösen Handlungen der Glaube an „Götter" keine not- wendige Voraussetzung bildet. Die unpersönliche Kraft, welche man ziemlich allgemein mana nennt, vertritt in manchen Vor- stellungen der Primitiven und auch der Halbkulturvölker das- jenige, was wir Gott nennen. Es gibt eine gewisse, dem elektrischen Strome zu vergleichende Kraft, weiche sich überall manifestiert und welche unter Umständen bei gewissen Per- sonen oder an gewissen Orten solche Dimensionen annehmen kanu, daß wir sie übernatürlich oder göttlich nennen würden. Der primitive Mensch sieht aber nur eine Steigerung der all- gemeinen Kraft in seinen außergewöhnlichen Menschen und Objekteu, während wir uns gewöhnt haben, Gott und das Göttliche als etwas vom übrigen Gegebenen prinzipiell Ver- schiedenes zu betrachten. Es gibt im primitiven religiösen Denken noch nicht zwei Regionen: die göttliche und die menschliche; es gibt bloß Leben, im gewöhnlichen Maß als das Eigentum jedes Menschen und jedes Dinges kaum beachtet; in gesteigertem Maß als das Vorrecht der außergewöhnlichen Menschen und Dinge auffallend und entsprechend gewertet; immer aber begleitet von Gefühlen, die wir nicht umhin können religiös zu nennen.

Von hier aus fällt Licht auf einen Umstand, welcher der Opfertheorie viele Schwierigkeiten gemacht hat: wie kann unter Umständen der Gott, dem geopfert wird, ganz fehlen und das Tier, welches geopfert wird, als Gott oder göttlich be- trachtet werden? Ich denke an die sakramentalen Opfer. Das Problem sieht auf einmal ganz anders aus, wenn man sich vergegenwärtigt, daß das Opfer nicht mit Notwendigkeit per- sönlich gedachte Götter zur Voraussetzung hat, um es in Emp- fang zu nehmen, daß vielmehr das Opfer eine Operation be-

* Siehe W. Wundt Völkerpsychologie VP iJ S. 467.

16*

244 Gr- ^^^ ^^^ Leeuw

zweckt in betreff des „Gott-Stoffs", der un])ersöiiliclien Kraft, nämlich diese Kraft an einem bestimmten Orte, in einem be- stimmten Mensclien oder Stamme zu verstärken und zu steigern. Es braucht dazu nicht immer „Götter", d. li. mit vielem Maiia versehene Mächtige; die Lebenskraft kann sich ebensogut im zu Opfernden konzentriert habend Auch kann beides zu gleicher Zeit stattfinden. Es entsteht dann eine Art Wechsel- wirkung zwischen dem Mana des Gottes (in unserem Sinne) und dem Mana des göttlichen Oj)fers. Das zweite soll das erstere verstärken, damit der Gott in der Lage sei, seine Ver- ehrer mit Mana zu versehen, und diese wiederum ihn^ usw.

Eine solche Wechselwirkung sehe ich angedeutet in der römischen Opferformel iuacte esto} Diese Formel kann wohl nichts anderes bedeuten als: Heil sei dir durch diese Opfer- gaben, die ich dir bringe, sei stark durch diese meine Gaben, Ein solcher Zuruf in vcrhis certis ist aber nie eine willkür- liche Floskel.^ Es hat gewiß einmal die Anschauung ge- herrscht, daß die Götter nur durch ständige Nahrung ihrer Kraft zum Kraftspenden fähig seien. Der Betende wird so, nach dem Worte Nietzsches, wirklich zum Segnenden. Er kann nichts erhalten, bevor er etwas gegeben hat. So opfert

' Der Begriff „Gott" hat ja durch die Entdeckung des mana -über- haupt eine unerwartete Ausdehnung und Biegsamkeit erhalten. Gott (in unserem Sinn), Kraft, Seele (der ägypt. Ka z. B), Schutzgeist, Schicksal, Weltgesetz (Hamingja, Tao usw.), das liängt alles zusammen und ist zum Teil nicht einmal immer zu unterscheiden. Siehe meine Abh.: „E.xiervnl Sou'", Schutzgeist u. der ägypt. Ka in: Zeitschr. f. äg. Spr. 64, 1918 S.56 tr. u. Process and Drama in: Constructive Quart. 8, 1920 S. 281 sqq.

' Ein Beispiel aus vielen: Cato Agri cultura 132: lupjriter dapalis, inarte ütace dnjjr polhiccnda esto, niacte vvw infcrio esto. [Daß mactiis ursprünglich heißt „gemehrt, gestärkt", dann „geehrt", erwies Wünsch m. Mus. 69, 1913, 127ff., vgl. Diels Site. Ber. BcrJ. Ähad. 1921,238. W.]

' Zu vergleichen ist das altgermanische Ordheill, Wortglück, der Zuruf, der entweder Segen oder Unglück mit magischer Gewißheit aus- wirkt, 8. V. Grönbcch Vor Folien et i OUUidcn I. Kopenhagen 1909 S. 170. Im 3. Bande dieses wichtigen Buches lese man jetzt auch Interessantes über den bindenden Charakter des Geschenks, S. 60 ff.

Die do-ut- des -Formel in der Opfertheorie 245

ja der Römer auch dem Herde, der Vesta, und wirft kleine Gaben ins Feuer, während er zu gleicher Zeit ganz von diesem Herdfeuer abhängig ist und es verehrt als Inbegriff der gött- lichen Lebensfülle.

Es hat die Schwierigkeit des Opferproblems nicht unerheb- lich vergrößert, daß man sich das Verhältnis des Opfernden zum Göttlichen fast immer nach unserer Weise, d. h. als ein Abhänsigkeitsverhältnis vorausgesetzt hat. Dazu stimmte dann natürlich das Sakramentale und das Totemopfer nicht. Aber ebensowenig das Gabenopfer im hier umschriebenen Sinne, wo ja weit eher ein Wechselverhältnis zugrunde liegt: do nt des, aber keineswegs in der alten rationalistischen Bedeutung, viel- mehr in der einer mystischen Abhängigkeit des Menschen von Gott, Gottes vom Menschen. Der Mensch gibt, damit Gott gebe. Gott gibt, damit der Mensch gebe. Es ist dies von Beiden aber nicht ein willkürlicher Akt, eine Bezeugung der Gnade oder der Liebe, der Untergebenheit oder der Ergeben- heit. Dazu ist die ganze Sache zu magisch gedacht: beider- seits wird ein opus operatum zustande gebracht. Mechanisch schenkt der Gott, wenn ihm geopfert ist: sein gesteigertes Mana fängt zu wirken an. Und ebensowenig kann der ge- stärkte Mensch es unterlassen, vom Erworbenen wieder abzu- geben.

Es ist diese ganze Darstellung übrigens nicht so fremd- artig und ausschließlich primitiv, wie es manchem wohl scheinen möchte. In der Mystik kehren diese Gedanken mit größerer oder geringerer Konsequenz wieder. Segond beschreibt das (mystische) Gebet als eine „deniande d'avoir de quoi donner": „Aussi la priere, qiii etait „deniande d'avoir de quoi donner", devient-elle don de ce que Von avait aussi deniande, ä celui-lä- meme qui Va donne: „Seigneur, je voiis donne toid".'^^ Das ist ja ein vergeistigtes do ut des von genau derselben Art, wie es uns bei den Primitiven begegnet, die das Leben nicht nach ^ J. Segond La Friere. Paris 1911 S. 135 ss. 138.

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Geist und Materie diiiereuziereu. Uud auch außerhalb der eigentlichen Mystik lebt der Gedanke einer Wechselwirkuno; wenn, auch ohne die Vorstellung der magischen Folgerichtig- keit der Handlung, in weiten' Kreisen fort. Ich erinnere an das Gerhardtsche Lied:

Ich komme, bring' uud schenke dir, Was du mir hast gegeben.

Segond führt Pascal an: „C'est mon af faire que ia conversion; ne crains pomty et prie avec confiance comme pour moi^\ und „11 a ete fait pcclie par moi. 11 est plus abomindble que moi, et, hin de w' ahhorrer, il se tient honore que faille a lui et le se- coure" Mit Recht zieht Segond die verwandten, wiewohl pri- mitiven Vorstellungen heran des Haonia, des himmlischen Lebens, welches wächst, dank sei den Lobpreisungen der Men- schen.^ Auch der Gedanke eines himmlischen Thesaurus, der wächst durch unsere guten Werke uud Gebete, wie es uns aus dem Parsismus und dem Christentum geläufig ist, gehört hierher.

Also hat nicht nur Gott, auch der Mensch etwas zu geben. Deshalb soll der geben, der am meisten hat: dem Hausvater oder dem König oder dem Priester, überhaupt demjenigen, der das meiste Maua hat, wird das Opfern überlassen.

Es existiert übrigens ein enger Zusammenhang zwischen Opfer und Gebet. Beide sind ja analoge Erscheinungen. Das Huldiguug.sopfer entspricht dem lluldigungsgebet, der Lob- preisung; das rationalistisch gefaßte dO'Ui-des-0])ieY dem Bitt- gebet: das Gelübde i.st die Form, welche Opfer und Gebet ver- einigt." Dem sakramentalen Opfer im Sinne der oben beschrie- benen Wechselwirkung entspräche das mystische (iebet: „Vidcn- tite foncicre de la „demande" et de la „rqwnse''.'^^ Auch in der

' Segond, a. a. 0. p. 144 u. A. 2.

* Dem Opfer, bei dem man irgendein Tier für einen Menseben eigentlich eich selbst substituiert, könnte man die Selbsthingabe im Gebet vergleichen.

* Segond, a.a.O. p. 140.

Die do-^lt- des -Formel in der Opfertlieorie 247

Mystik ist ja das gewölinliclie religiöse Abhäugigkeitsveriiältnis nicht vorhanden. Unter Umständen kann auch Gott vom Menschen abhängig sein. Man denke an den cherubinischen Wandersmann. Und Zweck des mystischen Gebets ist die Identifizierung mit dem Höchsten, worin Gott und Mensch kaum mehr zu unterscheiden und die Rollen vertauscht werden können.

Genau wie wir bei aller Vieldeutigkeit des Ausdrucks das eine Wort „Opfer" beibehalten, für das Geschenk wie für das Sakrament , bleiben wir auch, und mit Recht, bei dem einen Ausdruck ,.Gebet", obwohl anscheinend das Bitt- und Ge- sprächsgebet mit demjenigen der mystischen Versenkung wenig zu tun hat. In beiden aber existiert die Wechselwir- kung zwischen der Kraft im Menschen und der Kraft außer dem Menschen. Der Irokese, wenn er betet, „legt sein orenda nieder", weil das Verlangen nach etwas voraussetzt, „daß man sein orenda niederlegt, um sich gleichsam einem fremden orenda zu unterwerfen".^ Man könnte sich auch denken, daß die eigene Kraft niedergelegt wird, um die fremde zu ver- stärken. Einerlei Kraft muß im Gebet wie im Opfer be- zeugt werden; so fordert die Chorführerin in den Choephoren den Chor auf, für Orestes „des Gebetes Kraft" zu zeigen:

Eiev, cpiXiav^ df-icotösg otKcov, Ttore di] öto^dzoiv

öei^Ofxev iayhv £7t' 'OqiGxiy^

Die göttliche Tätigkeit wird erst durch die menschliche aus- gelöst. Es soll durch Opfer oder durch Gebet Kraft im Universum losgemacht weiden. Dazu ist eine Betätigung- eigener Kraft erforderlich. Auch diese Kraft ist aber wieder von der Kraft von außerhalb gewirkt. Es gibt viele orendas,

^ J. N. B. Hewitt Orenda and a Definition of JReligion. American Anthrop. N. S. 4, 1902 p. 33. K. Betb Eeligion und Magie hei den Natur- völkern. Leipzig 1914 S. 159.

^ Aischylos Choephoren 719 sqq.

248 G. vau dor Leeuw

schließlich sind sie aber alle orcnda. Wir beten, aber der Geist betet in uns. Spreche ich mit Gott oder spreche ich mit mir selber? Schließlich ist das dem Mystiker gleich.^ Ist er doch selbst Teil Gottes, seine Kraft ist Gottes Kraft. Und alle Mystiker, wenn sie zu spekulieren anfangen, sind darin einig, daß man mit Gott nicht verkehren kann außer durcli Gott: et quod videtur et quo videtur. Golt ist dann im Men- schen Subjekt und Objekt geworden; umgekehrt wird die Seele selbst das Absolute, indem sie das Absolute denkt.' Man kann es auch moderner sagen:

War' nicht das Auge sonnenhaft,

Die Sonne könnt' es nie erblicken;

Lüg' nicht in uns des Gottes eigne Kraft,

Wie könnt' uns Göttliches entzücken? Die Kraft zirkuliert von Gott zu Mensch, von Mensch zu Gott, von innen nach außen, von außen nach innen. Die Gebets- wie die Opferhandlung sind das Ingangsetzen einer Zirkulation, das Drehen des Hebels. Frau Guyon beschreibt ihren Umgang mit Fenelon: „il sc faisait im ccoidement presque continuel de Dieu."^ Der Strom durchfloß sie beide.

Wir sind hier mitten im Reiche der Mystik. Mit dem Ge- spräch mit einem persönlichen Gotte, mit dem Abtreten irgend- eines Teuern an einen geliebten Herrn haben dieses Gebet und di'.'ses Opfer nichts zu tun. Hier ist alles unpersönlich, und auch das magische Element ist oft noch gut bewahrt.

' So besonders in der raoderneu, pantbeistisch-monistiBclien Mystik, vgl. W. H. Myers If we ask to irhotn 7ce xiray, the anstver (strangely e»ou(jh) niust be that thal docs not much maWr. Das Gebet ist bier in der Tat eine Operation, das Ingangsetzen eines geistigen Prozesses, es „ope- ratcs". S. W. James 27«; Varicties of reliyious Jixjcriencc**. London 1911 p. 467. Diese Art des Gebets ist natürlich grundverscbieden von dem neuerdings von Heiler als „prophetiscb" charakterisierten.

' S. die Ausführungen von G. Siedel Die Mystik Taulers. Leipzig 1911 S. 22 ff. über Tauler und Thonaas. Über R^ckhart in dieser Be- ziehnng: A. Lasson Meister Kckhnrt. Berlin 1860 S. 86 ff.

' M. Masson Fenelon et Mine Guijon. Paris 1907 p. XXX VJL

Die do-ut-des-FoTme\ in der Opfertheorie 249

Das „Losmachen^' nämlich irgendeiner Lebenskraft setzt magische Vorstellungen voraus; allgemeiner und besser gesagt mit Levy-Brühl: prälogische Vorstellungen.^ Es gibt für den primitiven Menschen Zusammenhänge zwischen den Dingen, von welchen wir Modernen nur noch dann etwas verstehen, wenn wir Dichter oder Mystiker oder Kinder sind. Das Ma- gische liegt darin, daß die Art, iu welcher auf etwas mit Er- folg eingewirkt wird, sich von unserem zweckmäßigen Handeln durchaus unterscheidet. Ich weiß nichts Besseres, als, anstatt der allbekannten Beispiele aus der Primitivität, ein Fragment von Novalis hierhinzusetzen, welches ja auch zeigt, wie all- gemein menschlich das Magische immer noch ist. „Über so- genannte gefährliche Gedanken. Nähern sich etwa manche Gedanken der magischen Grenze? Werden manche ipso facto wahr? Alle Bezauberung geschieht durch partielle Identi- fikation mit dem Bezauberten, den ich so zwingen kann, eine Sache so zu sehen, zu glauben, zu fühlen, wie ich will." Wir haben hier, was man, wenn es Gott betrifft, ein zwingendes Gebet nennen könnte: das Wort, der bloße Gedanke, in Wahr- heit aber die Kraft, welche dahinter steht, zwingt neue Kraft. Es wohnt dem Menschen ein Prinzip inne, das zu herrschen und zu zwingen vermag, das seine Kraft hingibt, damit Kraft hingegeben werde: do ut des.

Nun ist aber nicht bloß das Verfahren des magisch Beten- den oder Opfernden prälogisch; auch die Beziehungen zwischen den Menschen und Gegenständen unter sich sind eigentüm- licher Art. Das Bewußtsein der festen, unerschütterlichen Iden- tität fehlt. Es gibt keine Grenzen. Wir berühren hier Levy- Brühls „loi de participation"^ Die Bororos sind Araras (Papageien). Sie werden keine Papageien nach ihrem Tode, sie sind auch keine verwandelten Papageien, nein, sie sind

' L. Levy-Brühl Les fonctions mentales dans les societes inferieures. Paris 1910 p. 6S ss.

^ Levy-Brühl a. a. 0. p. 76 ss.

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■wirklich uud wahrhaftig Araras. Ein Meusch ist ein Mensch; unter Umständen aber auch ein Wolf, ein Werwolf. Mein anderthalbjähriger Sohn besitzt ein Bilderbuch, in dem ein Pferd abgebildet ist. Er nennt jetz^t alle Bilder uud Bücher Pferde. Zu gleicher Zeit weiß er aber ganz genau, was ein Pferd ist, uud erkennt es als sokhes, wenn ihm auf der Straße eins be- gegnet. Alles fließt über in alles. Alles hängt zusammeu. Alles kann zu allem werden,^ Es herrscht ein geheimnisvoller Levy-Brübl sagt: mystischer Zusammenhang vor zwischen dem Menschen und seinem Totem. Dasselbe Verhältnis kann aber zwischen allen möglichen Sachen oder Personen bestehen. Denn in allen zirkuliert ja dieselbe Lebenskraft. Man kann diese Kraft „losmachen", in Gang setzen in einem Gegenstand mittels einer Operation, welche man mit einem anderen Gegen- stand vornimmt. Das Verbrennen des Opfers hat die Steige- rung der (göttlich gedachten) Lebenskraft zur Folge. Das mystische Gebet, d. li. die bis ins Unaussprechliche fortgesetzte Steigerung der Konzentration auf das Selbst, bewirkt das Zer- fließen der Grenzen zwischen Selbst und Gott. Man wird Gott, indem man immer mehr man selbst wird. Man kann den Satz auch umkehren. In den Worten eines ganz modernen Dichters;

' Vgl. was H. Oldenberg Die Lehre der L'panishaden Göttingen 1916 S. 20, aif Levy-Brühl fußend, über Indien aosführt: Das Opfer ist das Jahr, das Opfer ist Hede, ist Vieh. Das Auge ist Wahrheit. Und zwar nicht in dem Sinne, worin wir sagen: der Halbmond ist der Islam, tlcT Lorbeer ist der Kulim, sondern vielmehr im Sinne des frommen Katholiken: das lirot ist der Leib Christi. Das Sakrament des Altars ist in der Tat das wichtigste und augenfälligste überbleibsei dieser prä- logischen Denkweise. In Ägypten ist das Opfer zu gleicher Zeit das Horuaauge oder auch die Schenkel der Feinde des Gottes, die ihm dar- gebracht werden. Eine Metai>her ist nicht gemeint. Der Priester wird zum Gott durch die Maske, welche er beim Tanz oder sonstiger heiliger Handlung anlegt. Man kann ein anderer sein: Thurnwald sah seinen Wirt krank im Freien sitzend; es stellte sich heraus, daß nicht er eigentlich krank war, sondern seine Frau. Beth lieligion und Magie ^. 104 ff.

Die do- Mi -des -Formel in der Opfertheorie 251

When to tlie neio eyes of thee To each other l'mked are, AU tlnngs hy immortal poiver^ That thou canst not stir a flotver Near or far, WitJmd troubling of u star}

Hiddenly Oder, wiederum mit einem von Novalis' Fragmenten: „Alles Sicht^bare liaftet am Unsiclitbareu, das Hörbare am ünliörbaren, das Fühlbare am Unfühlbaren/' Man sieht, wie sich Urprimi- tives und Hochmodernes berührt: Namen und Gegenstände haben gewechselt, das Verfahren ist dasselbe geblieben. Am eindringlichsten wurde dies ausgeführt für die indische Ge- dankenwelt von Oldenberg: die primitive Prälogik, der es keine Schwierigkeit macht „dieses und zugleich etwas anderes zu sein", hängt unmittelbar zusammen mit der raffinierten Speku- lation des tat tvam asi.'^

Um zum Opfer zurückzukehren: im allgemeinen kann man sagen, daß in ihm Lebenskraft zum Besten des Opfernden in Bewegung gesetzt wird. Es ist dabei zunächst ziemlich gleich- gültig, ob diese Lebenskraft in einem Gotte wohnt und mittels der heiligen, lebenskräftigen Speise durch den Opfern- den zu zirkulieren genötigt wird, oder ob die Lebenskraft im Opfer selbst liegt und direkt vom Opfernden als Speise ge- nossen wird,^ Ursprünglich wird wohl die Nahrung, auf welcher das Leben beruhte, genossen sein im religiösen, d. h. nach spä- teren Begriffen, sakramentalen Sinn. Jede Mahlzeit war ein Sakrament, wie ja auch die Vorratskammer bei manchen Völ- kern heilig gehalten wurde (Ägypten; Uom-.penus). Dann wurde die primitive, altehrwürdige Speise (Milch und Honig^) zur Götter- nahrung oder zur Speise des Götterlandes. Sie konnte aber

*■ Francis Thompson.

^ Oldenberg a. a.O S. 126.

* Man könnte auch sagen: der Strom des Lebens geht von Gott aus durch das Opfer zum Opfernden und umgekehrt; so kommt ja auch der Gedanke des „int&jinediaire", von Hubert und Mauss einseitig betont, zu seinem Recht; Melanges d'Histoire des Beligions. Paris 1909.

* H. Usener Bhein. 2Ius. 1902 S. 177 ff. = Kl.Schr.lY Z^%^.

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auch selbst als göttlich betrachtet werden: dann wird die Mahl- zeit ein Opfer.^

Sowohl bei dem Bescheuken der Götter (mit Speisen oder anderen das Leben erhöhenden Sachen) als bei der sakra- mentalen Mahlzeit liegt aber die Vorstellung der Wechsel- wirkung — des do ut des, aber ganz unpersönlich gedacht zugrunde. Sogar das Sühnopfer könnte von hier aus Licht er- halten, indem es als eine Wiederfestmachung des zu Unrecht Losgemachten, als ein Versuch der Wiederherstellung der Lebens- zirkulation aufzufassen wäre.

Am großartigsten und konsequentesten hat sich diese Auf- fassung des Opfers in Indien entwickelt, während bei den Se- miten die Idee der Huldigung oder auch der Selbsthingabe, aber dann mehr persönlich, hervortrat. In Indien wurde das Opfer zu einem mit automatischer Bestimmtheit vor sich gehen- den Prozeß: „Man erfaßt das Geschehen, wie es in primitivster Form schon jene vorgeschichtliche Weltauffassung getan hat, als beruhend auf dem Spiel von Kräften, die das Universum durch walten, und deren Wirkungsweise, von fern der Natur- gesetzliclikeit des modernen Weltbildes vergleichbar, der Ken- ner zu berechnen und wie er will zu lenken weiß. Dieser Kenner aber ist man selbst."* Das Opfer ist hier im eigent- lichen Sinne zum Weltprozeß geworden. Der Mensch versteht es zu beherrschen. Das Zentrum der Lebenskraft liegt in ihm selbst, er ist der Durchgangspunkt der Kräfte, welche die Welt bewegen. Götter sind da ebenso überflüssig, wie sie es auf der primitiven Stufe waren.

' Auf ilcr IIülio der Myfltik findet bisweilen eine Rückkehr zur pri- mitiven Auffassung des einen, nicht in göttlich und menschlich oder geistig und fleischlich differenzierten Lebens statt. Von Nikolaus von der Flue und Catharina von Siena wird erzählt, daß t,ie längere Zeit vom Genuß des Sakramentes im l)uchstäblichen Sinne Igjjten. S. J. Görrea Die christliche Mystik* I. Kegonsburg 1879 S. 372 ff,

* Oldenberg a.a.O. S.16f.

Die do-ut- des -Formel in der Opfertheorie 253

Die Welt, sie war nicht, eh' ich sie erschuf;

Die Sonne führt' ich aus dem Meer herauf;

Mit mir begann der Mond des Wechsels Lauf;

Auf meinen Wink, in jener ersten Nacht,

Entfaltete sich aller Sterne Pracht.^ Die Formel do, ut des ist gewiß nicht sehr zutreffend. Sie hat aber das Verdienst, diese Selbstwirksamkeit des Menschen im Opfer den Mächten der Welt gegenüber zu betonen.

^ In diesem Sinne konnte Amiel sogar in Schleiermachers Mono- logen magisches Gefühl finden: „L'indomptable liherte, l'apotheose de l'individu s'elargissant jusqu'ä ne reconnaitre rien d'etranger, ni aucune limite, se fortifiant jusqu'ä reeommencer la creation, tel est le point de vue des Monologues."

I

Scliuld und Sünde in der griechischen Eeligion

Vou Kurt Latte iu Münster

I Aus der vollblütigen Juoendliisehe des homerischen Men- sehen quillt all sein Handeln, Gutes und Böses. Dieselbe jäh aufwallende Leidenschaft zeugt die noch von späten Geschlech- tern gepriesene Heldentat und den Avilden Frevel, dessen die Sage mit Schauder gedenkt. Der selbstherrliche, freie Mann macht im stolzen Gefühl seiner Stärke auch vor dem von Sitte und Brauch anerkannten Rechte des anderen nicht halt, wenn Zorn und Begierde ihn treiben. Eine unbedingte Verurteilung solcher Gewalttat liegt der honierischeu Gesellschaft fern; selbst in die Äußerungen der Mißbilligung mischt sich Bewunderung für die ungezügelte Kraft dessen, der vor nichts zurückschreckt, ßii]i y.ul nÜQxai ely.cov (0 139. v 143). Fast alle Worte, mit denen das Epos dieses Überschreiten des eigentlichen Macht- bereiches, den „Uber"mut bezeichnet, werden gelegentlich auch auf den rühmlich heldenhaften Trotz augewandt.' Über Wert oder Unwert menschlichen Handelns entscheidet letzten Endes allein der Erfolg. Scheitert ein solcher Übergriff auf fremdes Gebiet an dem überlegenen Willen des Gegners, folgt ihm die Vergeltung, so erzwingt sich die Erkenntnis Kaum: die Tat war Unrecht. Und in raschem Umschlag der Stimmung er-

' M. Wundt Gesch. d. gricch. Ethik I 13. Mart. Hoffmaun Die eth. Terminologie bei Rom., Hcs. «. d. alt. Elegikeni u. Jamhngr. TiibiDgen 1914, 1 1 ff . Ein bcBonflers klares Beispiel ist ößQi^notgyos, dem Wort- sinne nach nur der Vollbringer gewaltiger Taten, daa aber durchweg TOD Tadelnswertem gesagt wird (Uotrinann a. a. O. 61). Auf der anderen Seite findet sich selbst tträod'aXos ganz abgeschwächt für „streitlustig" {N6U. h. Apoll. 67. h. Ib, ü).

Schuld und Sünde in der griechischen Religion 255

scheint jetzt als Antrieb nicht mehr dias eigene Wollen, son- dern eine unselige Yerbleudung, eine wesensfremde Macht, die den Unglücklichen fortgerissen hat zu Werken des Wahnsinus, für die er nun büßen muß; es sind äijövla egyu^, die er voll- bracht hat, ein Dämon muß ihn dazu verleitet haben. ^ Wie Freud und Leid den Menschen beschieden sind nach der Himm- lischen Ratschluß, für den mau Gründe weder weiß, noch sucht 1^187. (? 132), so nimmt man auch die eigenen Taten und ihre Folgen als etwas Gegebenes hin, ohne je die Frage aufzuwerfen, ob es möglich gewesen wäre, anders zu handeln. Die Götter machen den Menschen besonnen oder töricht (^ 11), sie haben Klytaimestras Fall bestimmt {y 269), wie den Frevel des Alexaudros (Z 356) oder den Raub der Briseis (r270). Das eigentliche Wort für solche „Schickung" ist atr]^-^ in ihm

^ al'evXa, arfivXa gehört zu ai. yätü, Zauberei, böser Geist. Bechtel Lexü. 15.

* Vgl. zur Erklärung von daifioviog Ameis-Hentze-Cauer zu | 443.

* Die Literatur bei Havers Z. Semasiologie v. griech. arri (Z. f. vgl, Sprachw. 43, 1910, 225 flf.). Dazu Boieacq Dict.etym. 96. Bechtel XciCiV. 3, der mit Recht betont, daß die von den Etymologen angesetzte Grund- bedeutung „Wunde" nirgends nachzuweisen ist. Auch der Versuch von Havers (a.a.O.), den von ihm angenommenen ursprünglichen Sinn , .Schlag

"(des Dämons)" IT 805 und abgeschwächt ü 480 aufzuweisen, überzeugt nicht. Tov 8' axr\ cpQevag alXs 11805 kann man nicht gut anders verstehen als sonst döat, adöd'at (pQsvag (Buttmann iexiZ. I * 224. Bechtel a.a.O. 13), muß also ,, Verblendung" übersetzen, nicht ,, Ohnmacht". Sl 480 wird das Unglück des Priamos mit der Xot des flüchtigen Totschlägers ver- glichen, der plötzlich zu aller Erstaunen am fremden Herde schutz- heischend auftaucht. Das Gleichnis malt die Stimmung bei beiden Teilen, aber von Stupor,, wie Havers (a. a 0. 242) nach Ebeling {Lex. Hom. 189) übersetzt, kann keine Rede sein; das Staunen ist auf selten der Zu- schauer (v. 482), urr} heißt hier Unglück. Von dieser Bedeutung scheint das Wort überhaupt ausgegangen zu sein. Wenigstens ist der Sinn „schuldhafte Tat" nur bei Homer und in der von seiner Diktion be- einflußten Literatur, wie bei den Tragikern, nachzuweisen. Die Prosa der dorischen und nordwestgriechischen Dialekte kennt es nur als „Schaden, Buße" (Belege b. Havers 238), ebenso Herodot I 32 (argco VII 223 scheint durch düs homerische Vorbild veranlaßt) und Epicharm frg. 78 Kaib. Dieselbe Bedeutung liegt bei Hesiod durchweg vor (auch

256 K"rt Latte

liegen eigene Tat und unverschuldeter Schaden genau so un- getreunt beieinander, wie im Denken der homerischen Zeit, und jeder Versuch der Scheidung, zu dem die Übersetzung gezwungen ist, wird der Eigenart der dahinter stehenden Vor- stellung nicht gerecht. Die rasche Tat der Leidenschaft ist arrj (^412. 7115 u. s.), das Handeln unter dem Zwange des Weines (A 61. (p 295) und der sinnlichen Triebe (h. Ven.253); aber auch bloße Nachlässigkeit (J537), mangelnde Wachsam- keit (x 68) heißen so, und selbst wo jeder Gedanke an persönliche Schuld wegfällt, wird das Unheil mit art] bezeich- net [Sl 480. /i 372. o 2'6'd). Es wäre verfehlt, wollte man darin eine deterministische Ablehnung der Verantwortung für das eigene Tun erblicken. Nicht der individuelle Anlaß, son- dern einzig die Tat selber ist maßgebend für die Folgen. Der Totschläger muß landfiüchtig werden, mag er auch vrJTCios^ ovx id^sXav ('<P'88) gehandelt haben, der Falscheid ist so gut inCoQXog wie der Meineid {K 332). Jeder Mißerfolg bringt Schande {kXayxiii]), einerlei, ob man ihn verschuldet hat oder nicht (/i 285. z/ 171. >F342).' Rechtliches und sittliches Empfinden begreifen auf dieser Stufe Verantwortlichkeit aus- schließlich unter der Deukform der Erfolgshaftung: die Tat und nicht ilire Gründe sind es, für die der Mann einzustehen hat; sie allein bestimmt das Urteil.^

Der Vermenschlichung der Götter entspricht es, daß Ver- gehen gegen sie qualitativ gar nicht anders gewertet werden

an den beiden von Scherer l^e Graec. &TT]g votione, DisB. Münster 1858, 16 für mala insoUntia illata beigebrachten Stellen op. 216. 231). So dürfte bei Homer eine Sonderentwicklung des EpoB vorliegen, psychologisch zn erklären ans der im Text dargelegten Auffassung von Schuld als „Schaden".

' Wenn M. Hofruiimn a. a. U. 38 (ebenso 48) darin nur einen Mangel „terminologischer" Scheidung erblickt, so legt er den Maßstab unserer modernen Denk- und Ausdrucksweise an, statt den der einheitlichen Bezeichnung entsprechenden einheitlichen Begriff der homerischen Zeit zu suchen.

» Parallelen gibt es zahlreich, z. B. Oldenberg Reh d. Veda^ 295 ff.

Schuld und Sünde in der griechischen Religion 257

als solche gegen Sterbliche. Auch die Sprache kann beides mit denselben Worten bezeichnen. Das trotzige Hohnwort des eben aus höchster Todesnot entronnenen Aias ist atTj (^503^ der Bruch des beschworenen Vertrages vTCs^ßccöCr] (PiOV), so gut wie der Streit, den Eurytion bei der Hochzeit des Peiri- thoos vom Zaune bricht (g> 295) oder das Gebaren der Freier (y 206. V 193 u. s.). Freilich , während Menschen oft Unbill ungerächt hingehen lassen müssen, erreicht die Macht der Olympier den Frevler mit unbedingter Sicherheit. Wer klug ist, wird darum den Zorn der Götter „beachten", „vermeiden '' {ö:xC^a6d-ai, ccXsvaöd-cci), und noch viel eindringlicher als sonst erscheint zurückschauender Betrachtung derartiges Tun als Tor- heit oder als Irrtum, als „Fehl". So nennt man die gegen die Götter gerichtete Untat vorwiegend Verblendung, Wahnsinn; anderseits hat sich ein Wortstamm, der ursprünglich etwa einen Mangel, ein Versäumnis bedeutet haben muß, bei Homer an den meisten Stellen und später fast ausschließlich zur Be- zeichnung des religiösen Frevels verengt, nämlich aXitslv und seine Sippe.^ Zwar werden diese Ausdrücke auch von Ver- gehen gegen Menschen gebraucht (I 375), Athene nennt Zeus, der ihren Willen kreuzt, im Unmut ahtQÖg (0 361), ja, in der Odyssee begegnet das V\'ort sogar einmal für den abge- feimten Fuchs, der sich nicht leicht hinters Licht führen läßt {e 182), eine Verwendung, die anscheinend der Volkssprache angehört (Semon. 7, 7. Ar. Ach. 907). In der Regel jedoch richtet sich das äXirelv gegen die Götter, so daß wir in ihm das eigentliche Wort der epischen Sprache für religiöse Ver- gehen zu erblicken haben.

^ Auf die hier angenommene Grundbedeutung fühvtriXiroiirivis T118, das sich formal von älixtiv, ccXsirrig, äXLZQog nicht trennen läßt und semasiologisch mit ihnen nur auf diesem Wege zu vereinen ist. Des- halb wird sich die Verbindung mit lat. lis ("Walde s. v.), ahd. leid (Boi- sacq 42) nicht aufrechterhalten lassen. Hes. cclizoiiaQ'Jtov ^araiörtiivov, rjXit6(t,rivi,g' 6 iiäxr\v iyxaXäv könnten spätere Neubildungen nach fiXir6y,r]vO'i eein und bleiben daher besser außer Betracht.

Archiv f. KeligionswiBsensohaft XX, 3/4 17

258 Kurt Latte

Der Kreis der Haudlungen, die nach homeriseber Anschau- ung der Götter Zorn erregen, ist noch ganz eng umgrenzt. Vornehmlich ist es direkte Beleidigung der Himmlischen (s 108 u. s. Fiusler, Homer P 248); dazu gehört natürlich, kultische Vernachlässigung (E 177. 1 534. M 6), soAvie der Mein- eid, der den Gott als Bürgen und Riicher aufruft (T265, W 595). Darüber hinaus steht wenigstens in den jüngeren Teilen der llias und in der Odyssee das Gastrecht, die not- wendige Ergänzung der Recht- und Friedlosigkeit des Stamm- fremden in jeder noch unentwickelten Gesellschaftsordnung, unter Zeus' besonderem Schutze; seine Verletzung gilt als Verstoß gegen das Gebot des Himmelsherrn (5^570. 157. ^207. ^283j. Ab- gesehen von dieser einen Ausnahme trifft also der Unwille der Götter nur Handlungen, die sich unmittelbar gegen sie selbst richten; dabei ist aber genau wie hei Unrecht gegen Menschen die böse Absicht, das subjektive Verschulden, ganz unwesent- lich. Oineus hat der Artemis keine Opfer gebracht, ?) Xdd^tr' tJ ovx ivor/öev {I bSl)] dennoch trifft ihr Zorn ihn nicht minder hart als den böswilligen Götterverächter. Aus dem Fehlen dieses subjektiven ^Moments ergibt sich ferner ohne weiteres, daß Sünde für den homerischen Menschen Tatbestand ist, nicht Schuldbewußtsein. Erst das Unheil Aveckt in ihm das Emp- finden, sich vergangen zu haben. Aus dem widrigen Geschick schließt er auf den Groll der Götter, die er gereizt haben muß, selbst wenn ihm jedes Gefühl einer \ erfelilung abgeht {(P 83. d 377. ^ 36B. x 74). Der homerische Sündenbegriff stimmt darin genau mit dem anderer alter Religionen überein. So bezeichnen beispielsweise auch die Israeliten Sünde und Unheil mit dem gleichen Wort und sehen in dem Tatbestand, nicht der Ge- sinnung, das konstituierende Element der Sünde; auch bei ihnen ist sie wesentlich „Strafverhängnis, nicht Schuldbewußtsein" (Gunkel in Schiele -Zscharuacks Rel. in Gesch. u. Gegenwart V 9901".).

Unbekümmert in Taten und Leiden, trotz des lebendigen Gefühles der Abhängigkeit von einem unberechenbaren, als

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persönliche Willkür höherer Mächte empfundenen Schicksal, lebt die homerische Yfelt dahin. Nur hin und wieder klingt in den Gedichten ein fremder Ton an, der Vorbote einer anderen Zeit. Ein vereinzeltes, aber sicher echtes^ Grleichuis der Patro- klie (77 384 ff,) schildert, wie Zeus in Zorn ob Rechtsbeugung und unbilligem Spruch den strömenden Herbstregen sendet, der die Ackerkrume vom Felsen spült und des Landmaunes Arbeit zunichte macht. Ergänzend malt die Odyssee das Ge- deihen von Volk und Land, das die (jiötter zum Lohn für den Schutz der svdiüCtj verleihen, und nennt den Herrscher, der solches tut, „gottesfürchtig" (■d-£ovd}ig x 109). Das Wort be- gegnet erst in der Odyssee; die in ihm liegende Rücksicht auf die Gottheit als ein dauernd das Handeln bestimmendes Gefühl ist etwas Neues, das ebenso bedeutsam auf die folgende Ent- wicklung vorausweist wie die von Zeus geforderte Gerechtiy;- keit. Im übrigen decken sich die Äußerungen der Gottesfurcht mit den uns bereits geläufigen Anschauungen; ^iovh]% ist, wer den Göttern reichliche Opfer bringt (r 364) und wer den Schutzflehenden schont (^ 121. -ö- 576 u. s.). Auf das Pietäts- verhältnis zwischen Schutzheischendem und Schirmherrn, das sich auf die Nachkommen vererbt^, wendet die Odyssee auch den neuen Begriff der Frömmigkeit (bßi)]) an. Mit dem gleichen Wort (ovx ööCrj) bezeichnet Odysseus es als Sünde, ob der Er- schlagenen zu jubeln (v 412) in sehr fühlbarem Gegensatz zu den Sitten der Ilias, trotzdem er anders als deren Helden in einem ^Tcidijuiog Tiöls^og (7 64) obgesiegt hat. Er fährt fort: Diese bezwang der Götter Schickung und ihre eigenen

^ Daß die Stelle singulär, aber dem Stile dieser Partie gemäß ist, hat Finaler (Hom. I* 252) hervorgehoben. Vgl. jetzt über die Gleichnisse der Patroklie v. Wilamowitz Ilias- u. Homer 134. 161.

* 7t 423. Die Beziehung der Worte auf die Pflichten des ixettj? gegen seinen Wohltäter verdanke ich einer liebenswürdigen Bemerkung H. Schoenes unter Hinweis auf Cauer z. d. St. Vergleichbar ist die Sage von Ixion, die die Pflichten des Schützlings gegen seinen Wirt einschärft, V. Wilamowitz Hom. Unters. 203, 4.

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frevek'u W erke: deshalb fuhren sie in ihrem Übermut elend dahin. Das Los der Freier erscheint hier als göttliches Straf- gericht, das der Mensch sich nicht jubelnd als eigenen Erfolg zurechnen darf, will er durch solchen Triumph nicht den Zorn höherer Mächte auf sich lenken.^

Der nur an diesen beiden Stellen bei Homer auftretende Begriff der ödCrj und der verwandte des ayvöv sind nun wesent- lich als eine Abwesenheit ihres Gegenteils, der Befleckung {äyog) zu verstehen. Es ist der uralte, allen primitiven Reli- gionen eigene Begriff des Tabu, der Sünde, Krankheit und son- stigen Unsegen als eine äußerliche, durch geheimnisvolle Kräfte bewirkte Befleckung auffaßt (Fehrle, Kult. Keuschheit R. G.Y.V. VI 430". Scheftelowitz, Arch. Rel. W. 17, 1914, 353ff.). Bei Homer begegnet diese Anschauung nur in einzelneu Spuren (Nilsson, Gr. Feste 99): die Achäer werfen nach der Pest die Ivßuru ins Meer (A 314), Odysseus reinigt, als er die Freier erschlagen hat, sein Haus mit Schwefel (i 494). Im ganzen je- doch spielen solche Vorstellungen im Denken der homerischen Gesellschaft keine Rolle (Rohde, Psyche- 1 272. H 71, 1); nie- mand scheut sich, des Totschlägers Hand zu fassen; das sicherste Zeichen für diese Stellung der epischen Gedichte ist die Tat- sache, daß das Wort ayog in ihnt-n überhaupt nicht vorkommt. Der animistische Begriff, der zu dem anthropomorphen Götter- glauben dieser Kreise nicht paßte, wird wohl ganz bewußt ge- mieden sein. Denn es kann keinem Zweifel unterliegen, daß dieser ganze Vorstellungskomplex schon um seines primitiven Charakters willen in älteste Zeit zurückgeht, obwohl das Dunkel, das über dieser Periode der griechischen Religionsgeschichte liegt, uns die genauere Kenntnis verhüllt. Deshalb müssen auch Zeugnisse einer jüngeren Epoche zur Verdeutlichung herangezogen werden.

' In der Stimmung vergleichbar ist das bekabnte Wort des The- mistoklea bei Herodot (VI II 109), daß der Sieg über die Perser nicht das Werk der lebenden Hellenen, sondern der Götter und Heroen ist.

Schuld und Sünde in der griechischen Religion 261

"Ayog, iila6^a^ ^vöos bezeicbnen jeden Zustand, der den Menschen von seinesgleichen sondert und irgendwie in Ver- bindung mit den unbekannten Mächten bringt, die alles wunder- bare Geschehen im Dasein veranlassen. Die Berührung mit dem Tode ebenso wie die Vorgänge des Geschlechtslebens machen unrein, einerlei auf welche Art der Mensch zu ihnen kommt (Eur. I. T. 380). Die Trauer um den verwandten Toten ist ein ^laCvsö&ai (l.G. Xll 5, 593, 25), die Grabklage eiu ayog (Aesch. Choe. 155), obwohl sie gebotene Pietätspflicht ist. Das technische Wort iür das Totenopfer, ^vayC^stv, trägt die Be- ziehung zu ayog im Stamm.^ Erwin Rohde hat zuerst mit aller Schärfe betont, daß individuelle Verantwortung oder gar ein Bewußtsein subjektiver Schuld hier völlig ausgeschaltet sind (Psyche TP 74 ff.). Wer seinen Feind in gerechter Not- wehr erschlägt, ist unrein und bedarf der xad^agiioC (Aesch. Sept. 680). Anderseits ist überall, wo eine direkte Berührung des Täters mit seinem Opfer nicht stattfindet, auch kein ayog vorhanden. Kreon erklärt, da er Antigone dem sicheren Tode im Grabgewölbe preisgibt, rjfislg [ihv äyvol xovtiI trjvds ti]v jcÖQTjv (Ant. 889). Er ist nur für die Einschließung verant- wortlich; mag aus ihr werden, was will; das Weitere geht ihn nichts an. Gewiß soll der Hörer nach Sophokles' Willen die Worte als Ausflucht empfinden, aber daß sie für die Anschau- ung der älteren Zeit keineswegs ein bloßes Sophisma sind, lehrt das Verhalten des Pontifex Maximus, der der unkeuschen Vestalin noch einige Lebensmittel in ihr Grab mitgab. Noch

' Das dazu gehörige Substantiv steht an einer meist geänderten Stelle der Labyadeninschrift, die otorvSttv in den Straßen verbietet, bis der Leichenzug zum Grabe gekommen ist, rrivsi: 6' Svayog ^ffrto (C 37). Gewöhnlich schreibt man mit Blaß-Bechtel d{h ^rid)iv ayog. Aber ein ayos bleibt die rituelle Grabklage an jedem Ort, nur eben hier ein ge- botenes. So wird man 'ivayog als Synonym des späteren ivayia^ög fassen müssen. Sobald man entsprechend der im Text angeführten Choephorenstelle das ozorvSav als wesentlichen Teil des Totenkultes anerkennt, das sehr wohl, wie dort mit ayog, so hier mit hayog be- zeichnet werden konnte, ist die Überlieferung verständlich.

2ß2 Kurt Latte

Euthyplirou wird von den Verwandten entgegengehalten, sein Vater, dem ein Sklave in der Grube, in die er ihn hatte werfen lassen, durch Hunger und Kälte umgekommen, liabe diesen ja gar nicht „getötet" (Plat. Euthyphr. 4d). Kausalität wird in dieser Periode nur ganz primitiv materiell erfaßt.

Die lange Zeit zäh festgehaltene Vorstellung von der kör- perlichen Xatur der Befleckung erklärt auch, wie sie sich durch Berührung einem ganz Unbeteiligten anheften kann. Die Chro- nik von Milet berichtete die Geschichte einer Königin, die sich selber den Tod gibt; ihr Gemahl ag ivayi]g 7iaQBxäQi]6£ 0qv- yCdi xfis ccQxng (Arist.frg. 556 R.^ Parthen. 14, 2). Noch Pia- ton ordnet an, wer mit einem wegen Mißhandlung der Eltern Verurteilten zusammengeweilt habe, müsse sich reinigen, vo^C^ojv xsxoLvcovijXBvac äXitriQiädovg Tii;^7;s (legg- ^^ 881 e). Überaus häufig begegnet der wohl auf eine alte liturgische Formel zurückgehende Wunsch: der Sünder möge mir nicht Freund noch Hausgenosse sein.' Eine ganze Stadt, ein Volk kann die Befleckung in solcher Weise mit treflen. Darum muß man ihren Träger fortjagen, rb ccyog iXavvsiv, wie die stehende Wendung heißt (Thuk. I 126 u. s.). -Vermag doch schon der bloße Anblick des Fluchbeladenen Verderben zu bringen (Soph. ('. C. 1482. Eur. 1. T. 1229). Anderseits kann mau durch ei"-enes Tun einem anderen ein solches uiuaua mitteilen. So drohen die Dauaiden, sich au den Altären von Argos zu er- hängen und damit Pelasgos ein solches üyog zu schaß'en (Aesch. S. pt. 375, aus der gleichen Anschauung ist noch Plut. Cic. 47, 6

' Ae8cb. Og. 303 N». Soph. Ant. b":^. Plat. legg. 111 6i>6b. Calliui. Cer. 116 (vgl. Aesch. Choe. 291. Plat. legg. IX 881c) wi.'derholeu mit leichter Umformun^f die gleiche "Weuthing, die wohl aus dorn Kultritual 8t;immt. Sie wirkt uoch auf liellenistiscben Fluclitafelu nach (Audollent Defix. iah. 212, lö; LG. XIV 644; vgl. Audollent u ib 23. 2a 16. la 6. 7 b. 8, 9). Bei Eur. frg. 862 N.*, Hör. c. 111 2, 6 ist damit die gemein- same Schiffahrt kombiniert. Ans dem gleichen «trnnde findet angeb- lich der Mordprozeß unter freiem Ilimmel statt: die Richter sollen nicbt mit dem Unreinen unter eint-m Dache weilen (Ant. 6, 11), 8. Weinreich Blutgerichte h inai^goi (Hermes 56, 1921, 32611.).

Schuld und Sünde in der griechischen Religion 263

zu verstehen). Auch der Fluch ist im Grunde nichts anderes als solch ein magischer Akt. Deshalb kann die Fluchformel lauten avtbv iv xüi aysi aväx&öd-ai (Hdt. VI 56) oder uvoöCja ■Fol ysvotrv (Solmsen, Inscr, Gr.^ 4, 29). Diese Vorstellung von einer automatisch eintretenden, ganz äußerlichen religiösen Unreinheit entbehrte ihrem Thesen nach zunächst jeder Be- ziehung zu dem inneren Leben des Menschen und überhaupt jeder Wer^betoutheit. Wen eine Befleckung trifft, der muß sich durch bestimmte Zeremonien und Opfer reinigen; er weiß genau, was er zu tun hat, oder kann es durch Priester und Orakel erfahren. Damit hat er aber dann seiner Pflicht ge- nügt; er ist wieder rein (Aesch, Eum. 445), mehr fordern weder Menschen noch höhere Mächte von ihm.

Eine Weiterentwicklung, die den Begrifl:' den fortgeschritte- neren religiösen und sittlichen Anschauungen anpaßte, wurde erst möglich, als der Glaube an persönliche Götter ihn in seinen Bereich zog. In dem alten Amphiktyonendekret über das Gebiet von Krisa, das Aischines (3, 110) zitiert, heißt die eben angeführte Fluchformel mit bedeutungsvoller Wandlung ivayrjs eörco rov 'A^öXXcovog nah rfjg AtjTOvg xal xfis 'A^xi- liidog 'Aui Tfjg A&rjväs r^g ÜQOvuCag nah ^r^Ttora böCcog d-v6sisv x&i 'A:i6ll(ovi xxL Im Grunde widerspricht die Be- schränkung des cr/og auf einen bestimmten Gott dem Vv^esen der ursprünglichen Vorstellung. Darin kündigt sich das Ein- dringen einer entwickelteren Auffassung, das Verblassen des animistischen Grundgedankens an. Selbstverständlich hielt sich das Alte noch sehr lange, starb wohl in den niederen Schichten des Volkes nie ganz aus, bis der vom Orient beeinflußte helle- nistische Dämonenglaube mit leichter Umformung diese Ge- danken von neuem zur Herrschaft brachte (unten S. 295).* Schwerlich ist es ein Zafall, daß gerade in Delphi, das man so vielfach um Sühnuug von Unheil befragte, zuerst uns die

^ Beide Vorstellungereihen stehen auch in den Yeden nebenein- ander, Oldenberg Bei, d. Veda- 294 IF.

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Umbieeruus entcrefjentritt, daß Sünde nicht mehr Unreinheit schlechthin, sondern Unreinheit vor Apollon ist^ und es un- möglich macht, dem Gott genehme Opfer zu bringen. Wir erfassen hier wenigstens noch in einem Punkt den Einfluß, den das Pjthische Orakel, schon weil es den Fragenden in der Regel Opfer an bestimmte Götter gebot, auf die Entwicklung der Sündenvorstellung ausgeübt haben muß. Erst auf dieser Stufe ist eine Wortbildung wie ad^sog, „der sich um die Götter nicht kümmert", zur Bezeichnung des Sünders möglich.^ Sünde ist nunmehr, was die Himmlischen tadeln, ßin iv^svqjis, wie es das Gottesurteil von Mautinea bezeichnet^, im Gegensatz zu dem Zustand, da die Gottheit gnädig (JXaog) ist. Zum ersten- mal ist in solchen Wendungen die Entscheidung über Wert und Unwert menschlichen Tuns den Göttern anheimgestellt; wie die Befleckung ihre Strafe herabruft, so wird nun auch umgekehrt jeder, der ihren Zorn erregt hat, ävayvog, dvööLog. Damit war der Weg gewiesen, auf dem alle Gebote, die unter göttlichem Schutz standen, mit diesem SündenbegriÖ' in Ver- bindung gesetzt werden konnten; die Bahn für die Weiterent- wicklung war frei.

Inzwischen hatte sich auch inhaltlich der Kreis der Hand- lungen, die man als Sünde empfand, erweitert. Hesiod nennt neben der Vernachlässigung der Opfer, die er als „Torheit" bezeichnet (op. 135), auch mangelnde Ehrerbietung gegen die

* Ähnlich redet die Tragödie : Polyneikes hat ein a'yog Q-Bäv TtatQmiav anf sich geladen (Aeech. Sept. 1017), Oidipns ist ^x 9Emv &i>ayvos (Soph. O.R. 1383).

» Pind. J'ijth. 4, ICl. Aesch. l'ers. 808. Eiim. 151. 540. Soph. O.B. 1360. El. 124. Tmch. 1030

* /. G. V 2, 522. Die religiöse Bedeutung des Wortes hat Danielsson Ernnos 2, 1897, 27 erkannt, der noch auf Aesch, Ag. 145 dt^iu uhv KUTcc(ioy,rfu 3i (fäcnuTU, Chor. 830 i:tiiio^rpos aza , Soph. Ai. 180 hätte verweisen können. I'ie von den bisherigen völlig abweichende Deutung der Inschrift durch Comparetti Ann. della Scuola nrch. rUAiene I, 1914, 1 ff. wirkt schon wegen der schweren sprachlichen Anstöße (xa als Modal- partikel im Arkad., öpivrr/p als nom. ag. zu öpiroj) wenig überzeugend.

Schuld und Sünde in der griechischen Religion 265

Eltern (op. 185. 331) als unmittelbare Beleidigung der Götter, während bei Homer nur der Fluch und die ihn vollstrecken- den Eriuyen, also dem Wesen nach ein Akt magischer Selbst- hilfe, begegnet, mit dem die Eltern frevle Angriff^ des eigenen Blutes rächen (Finaler, Homer I" 249). Es sind die beiden Grundpfeiler hellenischer Sittlichkeit, die solchergestalt religiöse Weihe erhalten. Mit dem Gebot, den Göttern zu opfern und die Eltern zu ehren, begannen die „Ermahnungen Chirons" (Find. Pyth. 6, 22 u. SchoL), und noch in hellenistischer Zeit sieht man in beiden die wesentlichen Äußerungen der Frömmigkeit (Theophr.ap.Stob. III 3, 42p. 207, 16H.; frg.152 Wimmer. Polyb. 36, 9, 15. Porph. ad Marc. 14, vgl. noch Diels zu Syll.^ 1268). Dazu tritt als Drittes die uns bereits aus Homer geläufige For- derung, sich nicht an dem schutzlosen Fremdling zu vergreifen. Auf Verstöße gegen diese drei Vorschriften folgt die göttliche Strafe (Dieterich, Nekyia 163 ff.). Ergänzend faßt den ganzen Kreis der anerkannten religiösen Ethik eine Stelle der Erga zusammen, die überdies noch Ehebruch mit des Bruders Frau und Gewalttat gegen Waisen mit dem Zorne des Zeus bedroht (op. 327 ff.). So erfährt der Sündenbegriff auch in der Folge- zeit in dem Maße, in dem sich die sittlichen Vorstellungen erweiterten, eine stetige inhaltliche Bereicherung. Am bedeut- samsten ist vielleicht, daß auch Hochverrat jetzt unter den religiösen Freveln erscheint, ein Ausfluß der kraftvollen Be- tonung des Staatsgedankens in den hellenischen Republiken, der indes schwerlich älter ist als die Perserkriege. ^

^ Die Belege bei Dieterich Nekyia I67f., dazu jetzt Ziehen L.S. 117, 10, wo dem TtQoSorrig das Betreten des Tempels untersagt wird. ügodidovai, das bei Homer und Hesiod fehlt, muß dem Wortsinne nach ursprünglich vom Preisgeben, Ausliefern eines einzelnen, des Sippen- genossen, Freundes oder Schutzbefohlenen gebraucht worden sein. So ist TiQodcoGsrciiQov in dem attischen Skolion Ar. rep. Äth. 19, 3 gesagt, nur in dieser Bedeutung verwenden Theognis und Pindar {frg. 1(30) den Stamm. Die Übertragung auf den Verrat an der Gemeinde ist vermut- lich erst ei folgt, als Leute wie Ephialtes und Arthmios von Zeleia die Griechen dieses Verbrechen in seiner ganzen Schwere empfinden lehrten.

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Viel ei uscb neidender als solch allmälilicher Zuwaclis ein- zelner Untaten war es für die Entwicklung des SündenbegriÜes, daß Zeus der Schirmherr des Rechts schlechthin wurde. Be- reits in der.llias legt eine vereinzelte Stelle (s. S. 259) davon Zeugnis ab, und, wie bekannt, bildet der Glaube, daß alle Un- gerechtigkeit Sünde ist, aus persönlichstem Erleben des Dich- ters erwachsen, den Angelpunkt der Hesiodischen „Werke". Faßt diese Zeit dabei noch vornehmlich den unbilligen Spruch des iiichters ins Auge, so empfindet man bald auch jede ein- zelne ungerechte Tat als religiösen Frevel. Mau spürt die leidenschaftliche Energie, mit der dieses Geschlecht um den Gedanken der Gerechtigkeit gerungen hat, in der unbehilflichen Symbolik der Kypseloslade, auf der Dike dargestellt war, die Adikia würgend und mit der freien Hand auf sie einschlagend (Paus. V 18, 2, nachgebildet Masner, Kat. d. ant. Vas, d. öst. Mus. u. 319). In adixstv hört der Hellene fortan stets auch das Vergehen gegen den Willen der Götter, und die uner- schütterliche Überzeugung, daß alles Unrecht Sünde ist und früh oder spät seine Strafe linden wird, klingt durch die Jahr- hunderte hellenischer Kultur hindurch. In ergreifender Schlicht- heit tönt sie bei Archilochos aus der Klage des Fuchses, dem der Adler die Jungen geraubt hat: Zeus, Vater Zeus, Dein ist die Macht im Himmel, Du schaust auf alles Menschenwerk herab, auf Bös und Gutes, und der Tiere frevle und gerechte Taten stehn in Deiner Hut (frg. 88 Bgk.*). Selon verkündet in seiner irroßen Elegie den Glauben, daß unrecht Gut nimmer

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gedeiht, und daß Zeus einmal i)lötzlich Gericht hält, wie ein Gewittersturm über die Lande dahinbraust (frg. 13, 16), und noch Demosthenes verwendet den Gedanken in eindrucksvoller Rhetorik (2, 10. 18, 227). Die zentrale Stellung, welche die Platonische Philosophie der Gerechtigkeit anweist, wurzelt tief in hellenischem Fühlen.

So sind die Götter zu Hütern der Rechtsordnung geworden; jeder Verstoß gegen diese ist zugleich religiöser Frevel und

Schuld uud Sünde in der griechischen Religion 267

zielit ihre Ahndung nach sich. Freilich, Gottes Mühlen mahlen langsam und oft stirbt der Sünder dahin, ohne gebüßt zu haben. Aber dann trifft die Rache die kommenden Geschlechter, und der Nachfahre muß für des Ahnen Schuld leiden.^ Hält man sich vor Augen, daß auch das irdische Kecht eine Ge- sa in thaftung der Familie für die Taten ihrer Angehörigen, eine Solidarität des Geschlechtes" kennt .^, so wird man in dieser Gemeinsamkeit der Verantwortung zunächst den Ausdruck einer festgeschlossenen Gesellschaftsordnung sehen, die den einzelnen nur als Glied der Gemeinschaft gelten läßt. Auch relio-iös ist ja jeder an dem Fortbestand der Familie, auf dem cPer Toten- kult ruht, noch über das Grab hinaus beteiligt (Rohde, Psyche II ^ 200, 1). Es ist die Zeit des Geschlechterstaates, tiie solche Anschauungen hervorgebracht hat. Sie erhielten sich in der Folgezeit unter dem Eindruck der Unmöglichkeit, in die ge- gebenen Tatsachen des Lebens ein Gleichgewicht zwischen in- dividueller Schuld und Strafe hineinzudeuten. Es ist bezeich- nend, daß ein Gedicht der theognideischen Sammlung (731) bereits an der Gerechtigkeit dieser Vergeltung zweifelt, aber die Tatsache derselben als unbestritten hinstellt. Noch der Theaetet nennt unter dem Stadtklatsch, um den der Weise sich nicht kümmert, die Frage, welch Unheil jemand durch der Ahnen Schuld betroffen habe, tC xcql xuxov ysyovsv sx TtQoyovcov (Theaet. 173 d), und an anderer Stelle schildert Pia- ton das Treiben der Bettelpropheten, die sich erbieten, mit Sühnzeremonien Sünden der Vorfahren so gut wie die eigenen abzulösen (rep. II 364 b).

Ungerechtigkeit haben die griechischen Götter seit alters verdammt; freilich, was sie unter dem AVort verstanden, hat sich im Laufe der Jahrhunderte mehr als einmal geändert. Die ältere Zeit sieht darin in erster Reihe listigen Betrug

1 ßohde Psyche II- 228, 1 vgl. etwa noch Hom. y 301. Sol. 12, 29. Theogn. 205. Aesch. Sept. 742. Soph. Ant. 593. Lys, 12, S6. Dem. 57, 27. ^ G. Glotz La soUdarite de famille, These Paris 1904.

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(Hes. op. 323. 352. Sol. 13, 7. Find. Pyth. 4, 247) und offene Ge- walttat. Offenbart sich darin bereits eine völlig veränderte Ein- stellunt; des Denkens gej^enüber dem homerischen Preise des Autolvkos, der unter den Menschen hervorrayft durch Dieb- stahl und listige Eide (t 395), so erführt der Begriff der Ge- walttat, der Hybris, in der Folge eine noch viel tiefergreifende AVandlung. Zunächst hört mau, im Anschluß an homerische Anschauuncren, in dem Worte lediojlich den Übergriff über den eigenen Machtbereich hinaus, der freilich jetzt in steigen- dem Maße nicht allein den zunächst Verletzten, sondern die Gesamtheit auf den Plan ruft und den Zorn der Götter weckt. Aber durchweg, bei Homer und Hesiod, wie bei Mimnermos und Solon bezeichnet Hybris eine Handlung, ein dvi]Q vßQi6ri]g ist, wer frevle Taten verübt.^ Zuerst Solon stellt daneben den Q-vfibs ccXitqös, den Zeus früher oder später straft (frg. 13, 27), Theognis verbindet das Wort mit avuLdsir] (291) und stellt es in Gegensatz zu 6cog)Qo6vvrj (379). Wenn bei ihm noch, entsprechend dem älteren Sprachgebrauch xoQog vßgiv T^xT£t (153), das satte Gefühl des Wohlstandes die übermütige Tat erzeugt, so kann Pindar die Hybris umgekehrt Mutter des xooog nennen (Ol. 13, 10, vgl. Hdt. 111 80). Die beiden Be- griffe sind also im Laufe des 6. Jh. synonym geworden, Hybris bezeichnet nicht mehr ausschließlich die Tat, sondern auch die ihr zugrunde liegende Gesinnung. Äußerte sich die homerische „Gottesfurcht" noch vorzugsweise in Handlungen (o. S. 259), so gewöhnt man sich jetzt, bereits den dahinter stehenden Willen ethisch zu bewerten. Sünde ist aus einem nur äußeren Ge- schehen zu einem auch seelischen Vorgang geworden. Es dauerte noch lange, ehe diese Anschauung sich so weit durch- gesetzt hatte, daß mau lehrte, die Götter sehen ausschließlich auf die Gesinnung, aber die Bahn war beschritten, die zu

' Heg. op. 134. 2i;jff. Mimn. 1», 4, vf,'l. z. d. St. Jacoby Herrn. 63, 1918, 273 tf. Mit ö;jErA«a, xaxä Iq-/ic zusammengestellt Hes. op. 146. 191. 238. Sol. 4, 8. 8. 13, 16.

Schuld und Sünde in der griechischen Religion 269

diesem Ergebnis führen mußte. Dem Wandel der Anschau- ungen, der die Bedeutungsentwicklung von (5/3^ts vielleicht mehr gefühlsmäßig als klar bewußt vollzogen hatte, gibt Simo- nides mit vollem Verständnis für seine Tragweite Ausdruck: jeden will er loben, der nicht vorsätzlich Frevel begeht; kämpfen doch wider die Notwendigkeit nicht einmal die Götter an (frg. 5, 20, vgl. V. Wilamowitz, Sappho und Simonides 172). Der Unterschied zwischen sxäv und äxcov, den das Recht seit Drakon gewonnen hatte, macht sich auch in der religiösen Ethik geltend. Etwas anderes kam hinzu, um den Begriff der Hybris zu vertiefen. Unter dem Eindruck jähen Wechsels und plötz- lichen Zusaminenbruchs, an denen die Geschichte des 7. und 6. Jh. so reich ist, prägte sich den Hellenen ein tiefes Gefühl für die Unbeständigkeit alles Irdischen ein. Simonides (frg. 32. 39) und Pindar (Ol. 13, 147. Pyth. 2, 90. 164. 3, 106. 8, 135 u.s.) kommen immer wieder auf diesen Gedanken zurück. Alle Größe, jedes Übermaß birgt die Gefahr des Umschlags, deshalb ergeht an den Menschen die Mahnung, sich zu bescheiden; er soll nicht „um Aphrodite freien'^ (Alcm. Parth. 17, vgl. Diels, Herm. 31, 1896, 346) oder den Himmel zu stürmen versuchen, wie es im Sprichwort heißt ^ und wie es die Sage von den Frevlern Otos und Ephialtes oder von Bellerophon erzählt. In solchem Sinne verkündet der Pythische Apollon das Gebot der Selbsterkenntnis, lehrt sein Prophet Pindar zu bedenken, oiag si^isv aL6ocg (Pyth. 3, 69). Jn zahlreichen Geschichten dieser Zeit bekundet sich die Angst vor allzu großem Glück.

1 Alcm. a.a.O. Find. Pyth. 10, 41. Isthm. 7, 64. Verwandt IstJim. 5, 14 fiT] ^idtBVB Zsvg yeveadat,, Pyth. 3, 61 ^lr|, cpUa ipvxcc, ßtov cc&ävarov Git&vds. So sagt noch das Versorakel von Adada (Sterret The Wolfe exped. 437, 23) ^pccvoe ri-s äargcov tnmoQ'&v SiiOifäXri. Einer Zeit, die diesen Schauder zu fühlen verlernt hat, ist „den Himmel berühren" sprichwörtlich für die höchste Glückseligkeit und das höchste Können : Crusius Unters, zu Serond. 96, wo das für die Deutung der Herondasstelle wichtige Apophthegma des Apelles (Piut. Demetr. 22, 3) nachzutragen ist. Heinze zu Hör. c. I 1, 36. Außerdem Udt. Hl 30 und caelum digito attingere, Otto Sprichic. d. Rom. 63, 10; hinzuzulügen Gaius inst. lU 98.

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Ein dumpl'es Graueu vor dem Unberechenbaren, übergewal- tigen in dem Wesen der Gottheit, das allen Denkens spottet, prägt sich in solchen Erzählungen aus. Der Versuch, dafür einen adäquaten Ausdruck aus der menschlichen Sphäre zu finden, blieb freilich roh genug; eine naive Psychologie suchte in dem Neide der Götter auf alles Große die erklärende Formel für die Wechselfälle des Lebens zu finden. Einzelne über- ragende Naturen, wie Aischylos (Ag. 750 j, mochten in dieser Vorstellung bereits eine Lästerung erblicken, die große Masse hielt zäh daran fest, und nicht nur Herodot (Jacoby, Art. Herodot in K.E. Sp.481), sondern selbst Pindar (Pyth. 10, 21) redet gelegentlich so. Die Sprache wahrt in der Verwendung für izCffd-ovog für verderblich durch alle Zeiten ein Zeugnis für die Macht dieser Anschauung. Sogar Aischylos, der doch den Gedanken selbst ablehnt, vermag sich dem Einflüsse dieses Wortgebrauches nicht zu entziehen; er nennt der Erinyen ver- derbenbringenden Tanz i7ti(fd-ovoi öf)xriöuoC (Eum. 870) und läßt Artemis den Adlern, welche die trächtige Häsin zerfleischen, knlff^ovoi sein (Ag. 135). Noch in der Kaiserzeit wird das Wort mit lebendigem Gefühl für den ihm zugrunde liegenden Glaubeu verwandt.^ Von dem reichen Hipponikos erzählten sich die attischen Weibei- schaudernd, er habe eine Art splrüas familiaris, einen uhn\QLOi im Hause (Andoc. 1, 130), in dem die VolksanschauuuiX das über ihm schwebende Verderben verkörpert sah. Aus solchem Empfinden heraus erscheinen Hybris und das gleichwertige xÖQOi als ein Ilinausgreifen über die dem Menschen gesetzten Schranken überhaupt. Die Untat wird nun Sünde, weil die in ihr zutage tretende Nichtachtung des Rechts als Überhebuiig und Verstoß gegen die von den Göttern gesetzten Daseiusformen erscheint, mit denen die Men-

' Ein besooders Hcbüner IJelt'<,' iet das Edikt des Germanicns, der die ihm erwiesenen überschwenglichen Ehren mit den Worten zurück- weist ziii iTiifpd^ovovi ifioi y.al iood'eovs ixtpcov^osig vfimv . . tzuqui- rovuui (Sher. IJerl. Ak. 1911, 797. 31, vgl. v. Wilamowitz z. d. St. a.a.O. 819, 1;.

Schuld und Sünde in der griechischen ßeiigion 271

sehen sich abfinden müssen. &vi]rä (pQovstv, sein Handeln und Denken in demüticrer Einsicht in die Vergänglichkeit alles Irdischen zu mäßigen, so lautet die Mahnung, die noch So- phokles einzuschärfen nicht müde wird (Aesch. Pers. 820. Soph. Ai. 760. frg. 321. 531. Eur. frg. 76^). Der Gipfel der Macht verführt zur Hybris (Pind. Pyth. 11, 55. Isthm. 3, 2), das Über- maß vernichtet die Hoffnung auf Aveiteres Gedeihen (Pind. Pyth. 1, 82), so ist Tantalos ins Verderben geraten (Pind. Ol. 1, 55). Selbst den Preis des Glückes bricht Pindar gelegent- lich mit dem Hinweis auf die drohende Gefahr der Überhebung ab (Pyth. 8, 32. Nem. 10, 20). Die Götter hassen den ver- messenen Sinn, aus dem die Freveltat entspringt (Aesch. Sept. 502. Suppl. 80. 528), Zeus straft schon Gedanken und Worte, die von dieser Gesinnung zeugen i^Aesch. Pers. 827. Soph. Ant. 127). Seinen reinsten Ausdruck findet dieser Glaube in dem zweiten Stasimou des König Oidipus, das als Antwort auf die Hohnworte lokastes über Sehertrug und täuschende Wahr- sprüche Apollons des Dichters Absage an solche sündigen Anschauungen, wie sie damals bereits in Athen im Schwange waren, in mächtigen Worten verkündet: Fromme Reinheit sei allzeit mein Teil. Denn Hybris macht zum Tyrannen, sie lockt den Menschen zu unwegsamen Höhen und zum jähen sicheren Sturz. Hier ist der rücksichtslose Maehtwille, dessen Streben keine Grenze achtet, zur Sünde gestempelt, die Staat und Gesellschaft bedroht und an den Schranken der göttlichen Weltordnung unfehlbar scheitern muß.

Dieses tiefe Gefühl für die eugen Grenzen, die allem mensch- lichen Wirken gezogen sind, wird ergänzt durch eine Vorstel- lung von der Gottheit, die das Unerforschliche, Geheimnisvolle

^ Die Baccheu verkünden das gleiche Gebot: ro cocpbv d' ov aocpicc TS (i7j %vrira. qjoovblv. ßga-^vg aicov i:tl tovzcol 6s rig av ^byä).u ötäxcav TtuQovr' ovxl cpegoi (395). Der „schrille Hohn", der das ganze Lied durchzieht, wird hier besondera deutlich, wo die fromme Mahnung an die Grenzen der Menschheit in die Aufforderung zum Genüsse des Tages umgebogen ist.

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ihrer Natur stark betont. Ihre Wege sind dunkel und der Gedanke eines Gleichgewichts zwischen Schuld und Strafe, also einer Beurteilung ihres Waltens vom Standpunkt mensch- licher Einsicht, kann gar nicht aufkommen. Bereits Hesiod klagt einmal, wie schwer es für den Sterblichen sei, den wandelbaren Sinn des Zeus zu erraten, der auch dem frommen, fleißigen Manne die Ernte verdirbt (op. 483). So ergibt man sich darin, daß die Himmlischen entscheiden, was gut, was unheilig ist, auch wo das eigene Empfinden anders urteilt. Man mag durch eine Tut Ehre vor den Menschen erwerben, die doch ein Vergehen gegen die Götter ist (Ibjk. frg. 24 Bgk.^), und umgekehrt schaöt der über allem Geschehen stehende x'ü/uog Gewalttat zu Recht, ötxaiäv xb ßiaiöraTov vTtaoxäxai, X^iqC (Piud. frg. 169, vgl. v. Wilamowitz, Piaton II 96. 0. Schroe- der, Philol. 74, 1917, 195). Es ist im Grunde die alte Wer- tung des Erfolges als einer Entscheidung höherer Mächte, die uns hier religiös vertieft entgegentritt. Sie konnte um so leichter beibehalten werden, als die Volksanschauung fortgesetzt nach der Handlung, nicht nach ihren Beweggründen urteilte, mochte die Rücksicht auf die Gesinnung sich auch bereits geltend machen. Dabei war es gleichgültig, in welcher Weise der Sterbliche die Rache der Ewigen auf sich gelenkt hatte. Nur in den seltensten Fällen wird ein kühner Frevler ihnen mit voller Absicht trotzen. So bezeichnet man die Sünde vor- zugsweise mit \Vorten, die ein Verfehlen des Zieles, ein Ver- sehen bezeichnen, wie u[i7c).uxCa, ühuqxCu^ in ihnen fehlt jede Riicksicht auf Vorsatz und Willen; lediglich der objektive Tatbestand wird damit festgehalten, und der darin liegende Tadel geht nicht sowohl nach der sittlichen Seite als nach der intellektuellen; es ist der Vorwurf, den Ausgang nicht vorher- gesehen zu haben.' Tausendfältig, heißt es bei Pindar,

' Zum Belegf". Haß Bul)jektives Verscbulden durchaus nicht in dem Worte liei,'t, vergleiche man beiBjiielaweise, wie es bei Theognis baltl die schuldhafte Verfehlung (204y, bald den bloßen Irrtum bezeichnet

Schuld und Sünde in der griecMschen Religion - 273

schweben dn^XaxCai um des Menschen Sinn, tovto d' äiidxccvov £VQStVy ort vvv iv xal teXbvx&i (pEQxatov dvÖQi txiyßlv (OL 7, 24). In gleichem Sinne sagt Sophokles, alle Menschen könnten fehlen {kla^aQxdvaiv), aber wer nicht ein dvi]Q aßovXog ist, muß sich durch den Erfolg belehren lassen (Ant, 1023). Dementsprechend hat sich auch die alte Bezeichnung des Fre- Yels als Torheit, als Wahnsinn in dieser Epoche erhalten, mag darin auch vielfach nicht mehr als der Einfluß der Homerischen Sprache auf alle spätere Literatur zutage treten. Dem eid- brüchigen Lykambes muß jemand den Sinn „verwirrt" haben (Arch. frg. 94 Bgk.), Augeias war „übel beraten", da er Herakles betrog (Find. Ol. 10, 49). Es ist die seit Homer geläufige An- schauung, daß alle Leidenschaft und Sünde etwas Fremdes, außerhalb der Menschennatur Liegendes, eine Einwirkung von Dämonen (Tambornino, De antiqu. daemonismo R.G.V.V. VH 3, 55 ff.) ist, die hier fortlebt. So sagt man, daß die Schuld dem Menschen „folgt" (Theogn. 327), drohend ihn umgibt (ß.ug;t (pQaölv annXaxiai XQS^avrai Find. 01.7,24). Die Erinyen sinsren bei Aischvlos von dem Amt, das ihnen die Moira ver- liehen, den Menschen zu verfolgen tolöiv avtovQylai ^vfi- iCEGaöiv^ ^dtatoL (Aisch. Eum. 337), wo denn mit Iv^TtCTtrsiv die Tat so scharf als möglich, als etwas vom Willen des Täters Unabhängiges bezeichnet wird.

Je mehr die Sünde als Unglück, als der Seele und ihren Trieben fremde Macht empfunden wird, desto lebendiger prägt

(404). Pindar sagt von der Untreue der Koronis a^TtlaKiai, cpQtv&v {P'jth. 3, 24) fast gleichbeoeutend mit a(fQ06vvr\. Bezeiclinend für die intellektualistische Nuance Ol. 1, 104 d 6h Q'sbv cc^Tiq ttg UTterai ri Xad'd^Bv ^qScov, aiiccgrävst.

* avtovQyiuLg ^v[L7cd6%a6iv: verb. Turneb. Etium scelera üla v.ara. fioLQuv accidunt bemerkt v. Wilamowitz zu der Stelle. Paläographisch näher läge übrigens ^vintl.eaei , so daß das eTiovrai der angeführten Theognisstelle durch das Bild vom Schiff und seiner Sündenfracht (Aesch. Ag. 1005. Sept. 769) ausgeführt wäre. Daß die Anwesenheit des Schuld- beladenen das Schiff gefälyrdet, ist geläufig (Aesch. Äe^Jt 602. Enr. £"?. 1335. Ant. 5, 82. [Lys.] 6, 19. Xen. Cyrop. VIII, 1. 25. Theophr. Chuv. 25, 2).

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sich die Überzeugung aus, daß auch sie, wie alles Gute und Böse auf Erden, von den allmächtigen Göttern verhängt ist. Nach Zeus' Willen sind die Menschen berühmt und ungenannt, heilig und Frevler (uQQijroi), so verkündet der Eingang der Ersa. Ein Gedicht der Kataloge führte die Untaten der Töchter des Tyndareos auf Aphrodites Zorn zurück (frg. 117 Rz.). Die Götter senden Sinnesbetörung so gut wie materielle Not (Arch. frg. 56, 5). Auch in der Folgezeit herrscht diese Anschauung. Wohl wendet sich Herakleitos, hier wie sonst ein Verächter der Menge und ihrer Meinungen, gegen den Volksglauben, der alles Menschenschicksal in Tuten und Leiden auf höhere Ein- flüsse zurückführt {y.aTu dcd^ovag xal xviuv ndvTcc ßQotolöiv kxtalBlxui Diagoras frg. 2), mit dem scharf pointierten Satze ri^og ocv^QcoTCOL öaCynov (vgl. Rohde, Psyche 11-316,1), aber dieser Gedanke findet zunächst keinen Widerhall. Wie man zu den Göttern um Besonnenheit und ein reines Herz betet (Aesch.Choe. 142. Eur. Med. 635. Plat. Phaedr. 279b), so ist auch alle Schuld ihr Werk. Apollon befiehlt bei Aischylos den Muttermord, der doch in den Augen des Chors eine knC- tioucpog Uta selbst in dem Augenblick ist, da er den Jüngling zur Tat ermuntert (Choe. 830). Die Opferung Iphigeniens wird von Artemis gefordert und dennoch als Sünde empfunden {(pQEvog dvööeßijg roonulu ävayvog avUgog kg.2\^). Aischylos hat sogar gesagt, daß Gott den Menscheji in Schuld verstrickt, wenn er ein (Je.schlecht vernichten will (frg. 156), und in den Persern ist von der ccTLätr] &iov die Rede, von Ate, die den Sterblichen schmeichelnd ins Netz lockt, aus dem es keine Rettung gibt (93fr., vgl. Ar. Nub. 14080"). Selbst angesichts der Untat Klytaimestras gibt der Chor zu rC yccQ ßgorolg avav zii'og TflBiTci; rl rcbx'<y ov ^söxgavröv iöriv (Ag. 1487). Und doch weist er den Versuch der Verbrecherin, sich damit zu entlasten, sofort zurück (Ag. 1505). Die Verantwortung für die eigenen Taten nimmt dieser Glaubenden Menschen nicht ab, schon weil er von der alten Erfolgshaftung herkommt.

Schuld und Sünde in der griechisclien Religion 275

Das Problem der Willensfreiheit spielt für das 6. und 5. Jh. keine Rolle; die Überzeugung, daß der Mensch letzten Endes für sein Tun einzustehen hat, gleichviel, wodurch es veranlaßt ist, steht auch Aischylos fest (Kranz, Sokrates 8, 1920, 132). Nicht an die Unfreiheit des Willens, sondern an die unermeß- liche Übermacht des Göttlichen über alles Planen und Streben der Menschen denkt man bei solchen Aussprüchen.' Der in- brünstige Glaube an die Allmacht des Zeus, der mühelos, durch einen bloßen Gedanken, alle Anschläge durchkreuzt, und dessen geheimnisvollen Willen niemand erraten kann, bricht bei Aischy- los gelegentlich mit einer Gewalt hervor, vor der ihm die Kraft der Formung versagt (Suppl. 86 ff.; ähnlich Diagoras frg. 1). Die nüchterne Überlegung, daß derselbe Gott, der die Schuld sendet, auch die Strafe verhängt, tritt gegenüber der Stärke des religiösen Erlebnisses in den Hintergrund, und wie die hier zutage tretende Spannung sich in des Dichters Seele ausglich, lehren die Verse, die sich bedeutungsvoll in die Erzählung von Iphigenie hineinschieben. In Anlehnung an die traditionellen Formen des Kultliedes ^, aber inbaltlich doch ganz Ausdruck der persönlichen Religiosität des Aischylos, heben sie an mit dem Preise des Zeus, der alle Gewalten der Yorwelt bezwang

* Wie auch die Prädestinationslehre, soweit sie der Religion und nicht rational philosophischen Erwägungen entspringt, in solchem Ge- fühl wurzelt, hat Rudolf Otto dargelegt {Das Heilige. Über das Irratio- nale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. 2. Aufl. Breslau 1918, 97 ff).

* Der berühmte Eingang Zevs, oazis tiqt' iariv, si röd' uvt&i cpiXov x£x>l7jfi£Vcoi, xovxo viv TtQoßsvveTca entstammt zunächst dem traditionellen Hymnenstil, was die neueren Erörterungen der Stelle meist übersehen: Plat. Crat. 400 e mOTtsg iv xatg tvxcüs vouog iarlv riiiiv t'u;^c-(jO-o:i, oi'tivdg TS v.ul ojcöQ'sv xaiQOvOv övoiia^oasvoi, ravra kccI Tj^äg avrovg y.uXclv. Das bedeutet doi-t natürlich nicht mehr als luppiter 0. 31. sive quo alio nomine te appellari volueris Serv. Aen. II 251, vgl. Appel De Born, precat. R.G.V.V. VII 1, 76 £F. Bei Aischylos dagegen ist es der Ausdruck des Monotheismus, wie frg. 70 lehrt (vgl. Norden Ägnostos Tlieos 248, 1). Es ist methodisch wichtig, wie verschiedene Religiosität sich hinter den gleichen Worten bergen kann.

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und nun iu Ewigkeit herrscht. Er führt durch Leid die Men- schen zur Eliusicht; nimmer ruhen läßt sie der Gedanke an das über alle Schuld verhängte Unheil. So lernt auch der Widerstrebende sich zu bescheiden. Und doch gnädig sind die Ewigen, die gewaltsam der Welt Steuer lenken (Ag. 160). Aischylos war ein zu tiefer Denker, um auf die Gegensätze nicht wenigstens hinzudeuten, welche die Stärke seiner religiösen Empfindung zu überbrücken vermochte. Die Choephoren ge- stalten den Konflikt zwischen der gottgewollten Tat und der Stimme des eigenen Herzens zu ergreifenden Szenen. Anderen genügte der überkommene Glaube der Väter, der sich mit ehrfürchtigem Schauer vor dem Uuerforschlichen beugte. In solchem Sinn hat Sophokles die Geschichte vom König Oedipus dramatisiert (v. Wilamowitz, Herrn. 34, 1899, 55 ff.). Nur an einer Stelle des Dramas deutet er an, wie auch ihn der Welteu- lauf nicht beirrt in dem Vertrauen auf das planvolle Walten der Götter; unmittelbar nach der Katastrophe steigert sich die Klaffe des Chors zu dem Wunsche: Hätt' ich dich nie ge- sehen; aber daran schließt das Bekenntnis: Doch in Wahrheit, dir dank' ich die Rettung, dank' ich den ruhigen Schlummer (0. 11.1220). Gewiß ist grauenvoll, was über Oedipus schuld- los hereingebrochen ist, aber seine Tat hat Theben befreit.^ Fast schroffer noch als in diesem Drama formuliert der Dichter seinen Glauben in dem großen Liede der Antigone, das ein- drintrlich schildert, wie Götterwille Leid und Schuld im Labda- kidenhause häuft bis zum Untergange des ganzen Geschlechts Unvermittelt, in gewollt schneidendem Kontrast zu dem düsteren Bilde menschlichen IClends malt die nächste Strophe die AU- niacht des Zeus droben im lichten Glänze des Himmels; nie- mand steht so hoch, daß er sich vermessen könnte, ihm zu trotzen; in alle Ewigkeit gilt das Gesetz, daß niemand ganz ohne Schuld (ära) durch das Leben geht. Voll Hoffnung,

* über verwandte Gedanken iu den anderen Dramen Rohde Psyche II 236.

Schuld und Sünde in der griecbischen Religion 277

nichtsahnend, lebt der Mensch dahin, bis ihn das Verderben ereilt. Mit dem alten Wort, daß Gott des Menschen Sinn ver- blendet, wenn er ihn in Unglück stürzen will, schließt das Lied, das ohne jede Milderung bekennt: Schuld und Leid kom- men über die Menschen nach dem unerforschlichen Ratschluß der Götter. Erst rückblickend ermißt man ganz den tiefen Sinn des Eingangs : nur wer svdccC^wv ist, wem es die Gnade der Ewigen verleiht, bleibt xccjcäv aysvörog^ Wie lebendig diese Auffassung im 5. Jh. noch war, lehrt die Geschichte vom Ausgange des Miltiades, die Herodot berichtet. Bei der Be- lagerung von Faros verleitet eine parische Priesterin den athe- nischen Feldherrn, zu irgendeinem für uns nicht klaren Zweck frevelnd in das Heiligtum der Demeter Thesmophoros einzu- dringen. Er verstaucht sich dabei den Schenkel, und das wird der Anlaß zu dem Abbruch des Feldzuges und damit zu seiner Verurteiluno- in Athen. Als die Parier die Priesterin wegen ihrer Verbindung mit dem feindlichen Führer richten wollen, wehrt ihnen das Delphische Orakel: sie treffe keine Schuld, dXXa, delv yocQ MiXndösa xsXevxäv ^r) av, (pavfjval ol r&v xax&v y.arrjys^ova (Hdt. VI 135, 3). Also das Verderben des Miltiades ist von den Göttern bestimmt; irgendeine Schuld seinerseits kommt nicht in Frage, und doch veranlassen sie ihn zu Freveln, die seinen Untergang herbeiführen. Ahnlich redet Herodot öfter: der Athiopenkönig, der Ägypten besetzt hat, sieht im Traum einen Mann, der ihm rät, alle ägyptischen Priester zu töten. Da meint er, die Götter zeigten ihm dieses Gesicht, damit er wider das Heilige frevle und danach von Göttern oder Menschen Unheil befahre (Hdt. II 139). Die Er- zählung von der Schandtat des Kandaules an seinem Weibe wird mit den Worten eingeleitet: XQW T^Q KavdavX)]i ysvsöd^ai,

^ Daß Kaxöv hier nicht Sünde, sondern Unheil bedeutet, hat Dirichlet De vet. macarismis R. G. V.V. XIV 4, 14 f. gegen Bruhn z. d. St. erwiesen. Freilich ist nicht zu übersehen, daß für diese Anschauung Schuld und Unglück fast synonym sind.

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y.ccxäs (lldt. 1 8, vgl. uocli II 120). Noch im 4. Jh. hören wir gelegeutlich ähnliche Äußerungen (Aeschiu. 3, 117. Lyc. Leoer. 92). So heißt alle Schuld iu volkstümlicher Rede avn(fOQd, aTvp]}ici (Hdt. I 35. Ar. Ran. 699. Dem. 23, 70). Die üherkommene Auffassung des Verbrechens als einer Torheit, anfangs im Sinne einer intellektualistischen Ethik gemeint, wandelt sich unter dem Druck dieser Anschauungen in eine gottgewollte Verblendung, ^aoßlußaCi] (Hdt. I 127. III 137, 4), die den Menschen seinem Verhängnis entgegenführt (Soph. Ant. 1272. O.e. 367. Eur. HippoL 241*). Rein äußerlich betrachtet, könnte scheinen, als wäre diese Anschauung nächstverwandt der helle- nistischen von dem Walten der Heimarmene. Aber die müde Resignation jenes Determinismus hat in den kraftvoll auf- strebenden Generationen dieser Jahrhunderte keine Stätte. Das Gefühl, frei zu sein und verantwortlich für seine Taten, stand ungebrochen neben der demütigen Ehrfurcht, die in allem Erdenschicksal den persönlichen Willen höherer Mächte ver- spürte (vgl. Kranz, Sokrates 8, 1920, 143'. In solchem Glau- ben fand das lebendige Empfinden für den unermeßlichen Ab- stand zwischen den ewigen Göttern und dem Menschen, der eines „Schattens Traum" ist (Find. Pyth. 8, 95), seinen Aus- druck, Die begrifflich -rationale Unvereinbarkeit beider Vor- stellungen beirrt keine echte Religion, weil sie gar kein aus- schließlich rationales Gebilde ist.

Der erweiterte und vertiefte Sündenbegriff dieser Zeit ging neben den altüberlieferten «^'oj- Vorstellungen her, mit denen er sich mannigfach berührte, ohne doch je völlig mit ihnen zusammenzufallen. Wo ayog^ fivöog und die verwandten Aus- drücke bei den Tragikern vorkommen, liegt zwar bereits ein Werturteil darin, aber stets handelt es sich um Fälle, in denen gleichzeitig eine wirkliche „Befleckung" vorliegt. Wenn Aischy- los einmal die ungerechte sündige Tat mit nCvog X^O^^ ^^'

Besonders charakteristisch ist die Betonung dieses Moments bei dem Fanatiker, der [Lys.] 6 verfaßt hat .19. 22. 27).

Schuld und Sünde in der griechischen Religion 279

zeichnet (Ag. 776\ so wird man darin eher eine durch den Stil des Chorliedes bedingte Übertragung als ein Zeugnis für die Erweiterung des Begriffes zu erblicken haben. Umfassen- der ist der Gebrauch von ccvööiog, das sowohl den Unreinen^ wie den Gottlosen (Aesch. Sept. 611. Soph. O.C. 281. Eur. Herc. 853. Hec. 790. Bacch. 613) und Ungerechten (Eur. Phoen. 493) bezeichnet, weil man darin die Verletzung der Frömmigkeit hört. Diese sprachlichen Tatsachen lehren, daß die beiden, zwei verschiedenen Schichten der Religionsentwicklung entstammen- den Vorstellungsreihen (vgl. Rohde Psyche P 312 f.) auch im Empfinden dauernd getrennt wurden. Zu einem offenen Gegen- satz kam es indessen nirgend, solange die Ehrfurcht vor dem Glauben der Väter mächtig genug war, die Kontraste zu ver- schleiern und zwischen den auseinanderstrebenden Anschau- ungen zu vermitteln. In einem Punkte mußte der Wider- spruch zuerst hervortreten, in der Frage nach der Sühnbarkeit der Sünde. Eine Religion, die Reinigungszeremonien für jede Befleckung in Bereitschaft hatte, vertrug sich schlecht genug mit dem alten Grundsatz der Talion, dem dQ<x6avti nad'Blv und mit der Erfahrung, daß alle Sühnungen nicht immer vor der Strafe zu schützen vermochten. Aischylos hat das Problem empfunden; den entsühnten Orestes verfolgen die Erinyen weiter, und ob die Lösung, die ihm die überlieferte Gestalt der Geschichte aufzwang, ihn selbst vöUig befriedigt hat, darf als zweifelhaft gelten. So taucht in dieser Zeit der Gedanke an unsühnbare Schuld auf. Platou nennt es ein altes Priester- wort, daß es für Verwandteumord keine Verzeihung gibt (Plat. leg. IX 872 6; vgl. Aesch. Sept. 682); die unverbrüchliche Heilig- keit, die damit den Banden des Blutes zugesprochen wird, weist diese Anschauung wohl in das 6. Jh. hinauf, in die Zeit des ausgebildeten Geschlechterstaates. Die Unzulänglichkeit

^ Von schuldloser Befleckung dur^jh gräßliches Unglück z. B. Soph. Ant. 1071. Eur. Herc. .S23, von Blutschuld Soph. O.B. 353. O.C. 946. Eur. El. 683.

2gQ Kurt Latte

aller Sühne, mit welcher der Mörder dem Groll des Toten die Rache abkaufen möchte, formuliert der Chor angesichts der Anstrengungen Klytaimestras, sich von den Folgen ihrer Tat durch Beschwichtigungsopfer' zu lösen: Gibt es denn Sühne für vergossenes Blut? (Choe. 48). Oft erreicht der Götter Ge- richt den Frevler, bevor es ihm gelungen ist, seine Schuld zu sühnen (tö ayog ix&vöaö&ca Hdt. VI 91). Die Angst vor der Strafe läßt den Sünder nicht los, trotz aller kultischen Zere- monien. So schrickt Klytaimestra aus wirren Träumen mit lautem Schrei empor (Aesch. Choe. 31. Stesich.ap. Plut. ser. num. vind. 555a), den König Pausanias treibt das an einem Mädchen aus Byzanz begangene Verbrechen ruhelos umher (Plut. Cim. 6, 4. ser. num. vind. 555c. Paus. III 17, 7). Kleidet sich in diesen Geschichten das Schuldbewußtsein in die mythische Form der Furcht vor dem Geist des Toten, so spricht Aischy- los schlechthin von dem qualvollen Gedanken an bevorstehende Leiden {i.ivr]6Lm'i{iCJv ^ovog Ag. 180) und nennt Pindar die Sünde (psQ£7iovog (Pyth. 2, 55). Das diü'erenziertere Seelen- leben dieser Zeit lernt in der Furcht vor der unausbleiblichen Strafe zuerst die schwere Bürde der eigenen Taten empfinden.* Man piag das Reue nennen, muß sich aber dabei vor Augen halten, daß weder von Zerknirschung noch von Sehnsucht nach Heiligung bei den Hellenen des 5. Jh. die Rede ist. Den Abstand zwischen Gott und Mensch empfindet diese Zeit dynamisch, nicht moralisch. Noch der greise Kephalos schildert dies Gefühl durchaus als Furcht, bereits im Hinblick auf die Vergeltung im Jenseits; einen Einfluß auf das weitere

' Vgl. Syll." 980 ui'T&i iv väi icGetrai,, woranf mich Weinreich auf- merkaam macht. Mit Hilfe ilhnlicher rJedanken erweist spilter die stoische Popularphiloflophie das Glück desSimders als scheinbar. Wendland I'hilos Schrift üb. d. Vorsehung 65, 2. Schon Theophrast (Porph. abst. II 29) sagt, das Bewußtsein der Schuld mache den Täter dvOKokog. In der Folgezeit wächst dieses Gefühl an Intensität: frigida mens est criminihus tficitaque sndnnt prnecordin culpa (.luv. I 16). Eine religiöse Beziehung braucht freilich nicht darin zu liegen.

Schuld uml Sünde in der griechischen Religion 281

Verhalten übt es liöchstens so weit aus, als man sich bestrebt, vor dem Hinscheiden „seine Rechnung zu begleichen'" (Plat. rep. 330d). Aus den letzten Worten des Sokrates spricht das- selbe Empfinden (v. Wilamowitz, Piaton I 176, 1)^

Seit der Glaube an die unbedingte Wirksamkeit der her- gebrachten Riten zu schwinden begann, lastete auf den Men- schen, zumal in Zeiten, da schwere Schicksalsschläge von dem Groll der Ewigen vor aller Augen zu zeugen schienen, der dumpfe Druck der Angst. Nicht Sühnzeremonien, nicht Frömmig- keit und unsträflicher Wandel vermochten vor dem Unheil zu sichern. Der Staatskult konnte ihnen die Gewißheit göttlicher Gnade nicht bringen, das religiöse Bedürfnis einer erregten Epoche suchte nach anderen Wegen. Aus solchen Stimmungen haben wir das Auftreten der orphischen Mystik im 6. Jh. zu verstehen gelernt (v. Wilamowitz, Hom. Unters. 215. Diels, Herakleitos ^ 2). Sie bringt den Menschen die furchtbare Lehre, daß drunten im Hades aller ein gerechtes Gericht wartet, daß die Frommen eingehen zu ewiger Seligkeit, die Frevler zu ewiger Verdammnis (Dieterich, Nekyia 163 ff.). Dieser Ge- danke, den wir zuerst im jüngsten Teile der homei-ischen Nekyia finden, hat das Denken der Hellenen fortan weit über die engen Kreise der Orphiker hinaus beherrscht; Pindar (frg. 133. Ol. 2, 105) und Aischylos (Suppl. 230. 414. Eum. 340) haben

* Auch bei (iEraii£lo(iai, (israiieXtiu denkt die klassische Zeit ledig- lich an den Wunsch, anders gehandelt zu haben. Bei Piaton, der dieses Gefühl zuerst als Milderungsgrund bei der Beurteilung gelten läßt {Phaed. 114 a. Leg. IX 866 e), taucht die Verwendung für eine das fernere Leben beherrschende Reue auf, die vor ähnlichen Taten zurück- hält (Gorg. 471b. Phaed. 114 a, vgl. Demoer. frg. 43 D.). Aber diese "Worte, ebenso wie [Lczävoiu behielten sehr lange eine intellektualistische Nuance. Noch Kaiser Marcus (VIII 10) sagt i] [ikzävoiä iönv STclXrjipi^ TIS Euvrov 03S %Qi]ani6v ti ÄaßiixoTog. Für eine dauernde Sinnes- änderung, wie im Neuen Testament, steht iiarccvostv m. W. zuerst in dem Brief Attalos IL an Amiada: QsoQmv ovv v^äg (inravsvorixörag xs inl rotg 7CQoriiiaQrrnievoi,g kuI tu sxiGrM.OLvtvu v<f>' rjumv Ttgod'v^cog inwc- lovvxag (Ditt. Or. Gr. 751, 9), Vgl. Norden Agn. Theos 134 flF. Jäger G.G.Ä7iZ. 1913, 589 £F.

2<^2 Kurt Latte

sich zu ihm bekannt. Damit war ein Ausweg aus dem Kon- flikt gegeben, in den das tatsächliche Glück des Sünders mit dem Vertrauen auf die gerechte Vergeltung der Götter geriet: Unerklärt blieb dagegen noch immer das plötzlich den Un- schuldigen treffende Unheil. Auch hier fand die Orphik eine Lösung in der Entstehung des Menschengeschlecbtes aus der Asche der wilden Titanen, die Dionysos Zagreus zerrissen haben. Daher haftet allen Menschen eine Schuld au, nicht mehr Sünde, sondern Reinheit ist ein Ausnahmezustand, der nur um besondere Anstrengungen feil ist. Die Auötg TiQoyovcjv dd-s^((jrcov^ ist die Aufgabe des Menschen geworden. Alle irdische Existenz ist Strafe für eine frühere Schuld, gleichviel worin diese besteht (Plat. Cratyl. 400 c). Zum ersten Male ist der Begriff der Erbsünde in die hellenische Welt hineingestellt, freilich, soweit unsere karge Überlieferung ein Urteil verstattet, als Resultat theologischer Spekulation, nicht aus spontanem religiösen Gefühl heraus. Alle Menschen sind nach dieser Lehre sündig, außerstande, sich aus eigener Kraft zu der ge- forderten Heiligkeit emporzuläutern. Die Gnade des Dionysos Lyseus gewährt die Erlösung denen, die ein „heiliges" Leben führen, den Geboten der Orphiker folgen (Kern a. ().). Die Forderungen, die dieser Glaube an seine Bekenner stellte, waren wesentlich äyrsua, Iieinheitsvorschriften, vor allem dau- ernde Enthaltung von aller Fleischnahnmg {(povav äniisöd^ai Ar. Wim. 1032); gilt es doch, alles zu meiden, was die Seele fester mit ihren irdischen Banden zu verknüpfen vermöchte. Mit Notwendigkeit werden deshalb fiir diese Kreise „sündig" und „fromm" im weiteren Sinne gleichbedeutend mit „geweiht" und „ungeweiht" (Dieterich, Nekyia G7), nur der Gläubige kennt ja d(^u Wt-g, auf dem er das Erl)teil sündiger Ahnen in sich abzutöten vermag. Das sind fremdartige Vorstellungen, die schlecht genug zu dem lebensfrohen hellenischen Volks-

' Orph. frg. 20« Abel bei Olynip. Phucd. \^. 87, U> Norvin, dazu Tannery Ret: 'de Phil. 23, 1899, 126ff 0. Kern Orpheus 46.

Schuld und Sünde in der griecbisclaen Religion . 283

glauben zu passen scheinen. Und doch weist die Auffassung der Sünde als etwas im Menschen vorhandenen Körperlichen auf die materielle Natur der Befleckung, verallgemeinert der Gedanke einer Erbsünde nur den Glauben an sich fortpflanzen- den Geschlechtsfluch. Schon um dieser Parallelen willen müßte man die ganze Lehre in das 6. Jh. hinaufrücken, auch wenn nicht ein bekanntes Fragment Anaxim anders (frg. 9 Diels) ihre Spiegelung in der philosophischen Spekulation zeigte. Jedoch blieb sie im allgemeinen auf die engen Kon- ventikel der Orphiker beschränkt, ohne Wirkung auf die Yolks- religion, bis Piaton sie aufgrifl" und ihr zu Ansehen verhalf.^ Im 5. Jh. vertritt Empedokles ähnliche, nur durch die Seelen- wanderuncfslehre modifizierte Gedanken. Ihm ist das Ein- gehen in die Körperlichkeit die Folge eines Sündenfalles seliger Geister: dreißigtausend Jahre aus dem Kreise der Himm-

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lischen verbannt, müssen sie zur Strafe eingehen in die mannig- fachsten Formen von allem, was da lebt auf der vergänglichen Erde (frg. 115 D., vgl. frg. 1.21, 125). Auch er fordert zur Er- lösung vor allem Enthaltsamkeit (frg. 136 ff.); damit die vom Leibe befreite Seele wieder aufsteigen kann zu den Göttern (frg. 146). Gebote, die anfänglich die animistische Dämonen- furcht eingegeben hatte, sind in diesen Kreisen in eine Abkehr von allem Irdischen umgedeutet worden.

Als diese Lehren in Sizilien vor der aufhorchenden j\Ienge verkündet wurden, war dem griechischen Sündbegriff bereits in der rationalistischen Philosophie des 5. Jh. ein furchtbarer Gegner erwachsen. An dem Widerstreben der Lyssa, die nach Heras Gebot Herakles heimsuchen muß, der doch sein Leben lang wider die Götterverächter gekämpft hat, bringt Euripides dem Hörer die bittere Ungerechtigkeit solchen nach Götterrat- schluß verhängten Leidens zum Bewußtsein (Herc. f. 846 if.). Dem ungezügelten Individualismus der Sophistik lag fromme Ergebung in ein unbegreifliches Verhängnis ebenso fern wie * Die orphisclie Erbsünde kehrt leg. IX 854 b wieder.

2g4 Kurt Latte

der Glaube an ererbte Schuld. Vor allem aber gegen die äußerliche Gebundenheit des uyog richtet sich nun die schärfste Kritik. Wie sollte Befleckung durch Menschenwerk an die unnahbare Hoheit der Götter heranreichen (Soph. Ant. 1044. Eur. Her. 1232), wie sollte des Freundes Unheil den hilfreichen Freund mit verderben können (Eur. Herc. 1234)? Warum unter- sagen die Götter dem Menschen, der ihnen naht, jede Berüh- rung mit dem Tode und verlangen doch blutige Opfer (Eur. I. T. 380;? Mit welchem Recht weisen sie die Gabe des Blut- befleckten zurück und nehmen sie von verruchten Heuchlern entgegen? Im Orestes hat Euripides diesen Gegensatz in einem Gespräch zwischen dem Helden und dem scheinheiligen Bieder- mann Menelaos herausgearbeitet. Auf des Menelaos Vorwurf, Orest könne keine Opfer bringen, da er durch Bluttat be- fleckt sei, fragt dieser zurück: Aber Du? Gewiß, lautet die Antwort, meine Hände sind rein. Aber nicht der Sinn, ent- gegnet Orestes (Eur. Or. 1602 ff.). Dieser Rückgriff von der Handlung auf die dahinterstehende Gesinnung war längst durch die EntwicklunfT einer verfeinerten Sittlichkeit vorbereitet. Jetzt trat ein ausschließlich rational gerichtetes Denken in offenen Gegensatz /u den überlieferten kultischen Begriffen.

Obwohl es sich nicht bündig beweisen läßt, werden wir der Wirkung dieser Polemik einen wesentlichen Anteil daran zu- schreiben müssen, daß nun die Rücksicht auf Absicht und Ge- danken des Täters auch in der offiziellen Religion sich geltend macht. Daß die Not in der zweiten Hälfte des Peloponnesi- schen Krieges neue=! intensiveres religiöses Leben erweckte (v. Wilaraowitz, Griech. Tragödien HI 293), mag dabei mit- gewirkt haben. Man ermißt den Absland von den Anschau- ungen noch der Aischjleischen Zeit, wenn es in dem Peephisma des Demophantos (Herbst 410) heißt, der Tyrannenmörder ööiog edTco xal (vayi'jg und die Bürger sich durch einen Eid verpflichteten, ihn für kultisch rein zu erachten (Andoc. 1, 96 f., vgl. die Inschrift von Kyme B. CIL 37, 1913, 157 mit ahn-

Schuld und Sünde in der griechischen Religion 285

lieber Formel). Bei Thukydides hören wir, im Gegensatz, zu der geläufigen Sitte (Eur. Ion 1314. Polyb. IV 35, 3), daß die Altäre nur für d%ov6ia aaaQxt)^ata Schutz gewähren (Thuk. IV, 98, 6). Die aus dem Ende des 5. Jh. stammende Laby- adeninschrift macht zu der herkömmlichen Formel der Selbst- verfluchung beim Eide den bezeichnenden Zusatz al d' ecptoQ- xeoiiiL [-Fslxchv (Solmsen, LG. adinl. diaL sel.^39 A 17 nach der Revision Bourguets Rev. Et. Gr. 26, 1913, 106); also nur der beabsichtigte, mit freiem Willen geleistete Meineid fällt unter den Flucb. „Verzeihlich ist, was im Kriege und im Zwange der Not gescbiebt, aucb vor Gott" (Thuk. IV, 98, 6). Bald treten solche Unterscheidungen sogar im Rahmen von Kulto"esetzen

O CD O

auf (A. Wilhelm, Ost. Jh. 14, 1911, 201 ff.)- Der Mystenchor der Fröscbe stellt den Ungeweihten und den, der unreinen Sinnes ist, nebeneinander (Ar. Ran. 355). Am Eingang des in der erste a Hälfte des 4. Jh. erbauten Heiligtums von Epi- dauros las Theopbrast die Inschrift ayvevsiv iövl cpQovalv oßiu (Theophr. ap. Porph. de abst. II 19)^, ein Thema, das die Epi- gram matik der Folgezeit nicht müde wird zu variieren (0. Wein- reich, Sber. Heidelb. Ak. 1919, no. 16, 64). Damit ist Sünde in erster Linie zu einem Febl der Gesinnung geworden und so die Kluft überbrückt, die den ethischen und kultischen Scbuldbegriff trennte, seit der erstere an Stelle der Erfolgs- haftung eine Wertung der Motive gesetzt hatte. Naturgemäß wirkten auch hier die alten Vorstellungen noch mannigfach nach, nicht nur in gedankenlos weitergefülirten sprachlichen Wendungen oder bei Leuten, wie dem dsiatdaCacov Theophrasts (Char. 16, 9). Ja, es bildete sich in den Kultgesetzen sogar eine peinlich genaue Kasuistik aus, die nach der Schwere der Befleckung die äyvEiai abstufte. Eine Anspielung des Aristo-

^ Urlichs Zeitschr. f. d. hayer. Gymnasialiv. 28, 1892, 582 hat gesehen, daß das von Theophrast gelesene Epigramm durch den Xeubau des Hieron von Epidauxos datiert wird. Über seine Zeit die Literatur bei Fränkel zu I. G. IV p. 338.

286 ^"^^ Latte

pliaues im Frieden (162 f.) berechtigt uns, derartige Vorschriften bereits für das 5. Jh. vorauszusetzen, obwohl inschriftlich er- haltene erst seit dem 2. Jh. vorliegen.^ Auch in ihnen macht sich bezeichnenderweise immer stärker eine Berücksichtigung des ethischen Momentes geltend, in der Unterscheidung zwi- schen ehelichem und außerehelichem Geschlechtsverkehr i^SylL' 982,4; Syll.=* 983, 14. Keil - Premerstein, 3. Reise n. 154, 4. 0. W.inreich, Sber. Heidelb. Ak. 1919, 16, 60 i? 92) und in dem liäufig vorangestellten Gebot, einzutreten x^^Q^S ^c^t- yvco(ii]v y.ad-agovs xccl vyislg xai ^rjÖev ccvrolg ösivbv öwsLÖÖtag (Sjll/983, 4, ähnlich LG. IP 1665, 26. Iü66, 12. Bull. Ac. Dan. 1914, 67, vgl. Lobeck, Aglaoph. 15).

II

Der alte Sündbegriff in allen seinen Formen war durch rationale Vorstellungen ersetzt, Sünde ein subjektives Ver- schulden geworden, für das der Täter die Verantwortung trug. Aber noch immer sah man darin wesentlich die Folge mangelnder Einsicht; jetzt eben machte die Philosophie, Demo- krit (frg. 93 D.) so gut wie Sokrates und seine Schüler, diese Auffassung zum Eckpfeiler ihrer wissenschaftlichen Ethik. Da- bei kam jedoch die für religiöses Schuldgefühl so wesentliche Erkenntnis zu kurz, daß Leidenschaft alle vernünftigen Er- wägungen überwältigt (Eur. Med. lOT'J. flipp. 380 ff.). Die Er- fahrung, daß Einsicht und Verstand doch nicht die siegreiche Kraft besaßen, den menschlichen Willen gegen Versuchung und Anfechtung zu stählen, machte sich in immer höherem Maße bei einem Geschlechte geltend, das mit der Erbschaft einer reichen Kultur auch die Verfeinerung des Seelenlebens überkommen hatte, die der Ausprägung starker Wiüensmen-

' Eine Liste Keil - Preraeratein Ber. üb. e. :J. Reise usw. (Denkschr. Wien. Ak. 54 [1911] 2) S. 83. Nachträge ds. Her. üb. r. 3. Reise (Denkschr. Wien. Ak. 57 [1915] 1) 103. Dazu noch Merlin CR. Ac. Inscr. 1916, 265 (mir nicht zugänglich).

Schuld und Sünde in der griechisclien Religion 287

sehen nicht günstig zu sein pflegt. So mußte Sünde aus einem Irrtum des Verstandes zu einer Schwäche des Willens werden. Mit voller Deutlichkeit zeigt sich diese Verschiebung des Akzentes an dem Wort a^ua^tCa. Noch in dem mann- haften Bekenntnis zur unterlegenen Politik, das die Athener den bei Chaironeia Gefallenen aufs Grab setzten, ist es in dem älteren Sinne (oben S. 272) gesagt: {irjösv anaQtsiv eötl Q^s&v xal Tccivxa naroQd-ovv (Dem. 18, 200). Aber wenn die helle- nistische Zeit das hier zugrunde liegende Sprichwort avd-QOTtog hv i]}iaQrov zur Entschuldigung erotischer „Fehltritte" im Munde führt (Herond. 5, 27. Petron. 130, 1, vgl. 49, 6, ähnlich vielleicht schon Men, frg. 493 K.), so spricht daraus die läß- lichere Auffassung einer Zeit, die nicht mehr den Mut und die Kraft hatte, unbedingt zu den eigenen Taten zu stehen und sich deshalb gern hinter der allgemeinen Schwäche der Menschennatur verschanzte. In welchem Grade die intellek- tuelle Färbung dem Wort cciiUQtdvsiv verloren ging, zeigt die „Friedenskundgebung" Euergetes II, die, um eine umfassende Wendung für alle Delikte zu gewinnen, ayvo}]^ara gerade durch äiiuQTri^aTd, ergänzt.^ Freilich, der ethische Intellek-

1 P. Teb. I 5, 3. zuletzt P. M. Meyer Jur. Pap. 69, wo Parallel- stellen und Literatur zusammengestellt sind. Ob man freilich nach diesem Erlaß eine Einteilung der Delikte des Ptolemäiachen Strafrechts in ayvorniaTu und änaQxrjfiara vornehmen darf j wie R. Taubenschlag Straf)-, im Rechte d. Pap. 7 nach Vorgang Wengers Arch. Pap. II 484 versucht hat, läßt das seit Wengers Aufsatz vermehrte Material über ayvostv, das Taubenschlag nicht berücksichtigt hat, als sehr fraglich erscheinen. ccyvosZv ist zivilrechtlich durchweg Unkenntnis der die Rechtswidrigkeit bedingenden Tatsache, sowohl bei Privaten (P. Ox. II 25 col. 8, 36. P. Ox. VII 1027, 11) wie bei Behörden (P. Ox. IX 1188. B. G. U. n 619, 4). Die Unkenntnis kann fahrlässig sein, aber in dem Wort liegt an sich viel eher eine Milderung und Enfschuldigung; so ist es an der m. W. einzigen Stelle außer dem Amnestieerlaß gebraucht , die es in Gegensatz zu äaaQrUc stellt: P. Ox. VIII 1119, wo ein a^icpoSoyQu^' ILccTsvg unberechtigt Antinoiten zu einer Liturgie hat heranziehen wollen und sich nun entschuldigt ärrl r^g äuajprt'a? äyvoiag TtQOffaoiv vtcotsi- (i7}6d(isvog. Als technische Deliktsbezeichnung begegnet es nirgends. Des-

288 K\iit Latte

tualismus lag zu tief im Charakter des hellenischen Denkens begründet, als daß die alte Bedeutung gänzlich hätte schwinden können (vgl. z. B. Polyb. II 7, 2); noch bei dem Valentiniauer Heiakleon ist die Natur des Teufels Irrtum und Nichtwissen (frg. 44 Brooke).

Die Götter des ^'olksglaubens rücken in hellenistischer Zeit in unendliche Ferne und verblassen. Nicht nur, daß strengere, vernunftgemäß Iconstruierte Yorstellunj^en vom Wesen des Göttlichen ihren Gestalten die naive Bestimmtheit nahmen, die sie früheren Jahrhunderten vertraut gemacht hatten, die Menschen verlernten es, ihr persönliches AVirken in allem Ge- schehen sinnfällig zu erleben, seit die Fortschritte der Wi.ssen- schaft dazu geführt hatten, dem natürlichen Zusammenhang der Erscheinungen nachzugehen. Es ist mehr als die Redens- art feiler Schmeichler, wenn es in dem Liede auf Demetrios Poliorketes heißt: Die anderen Götter weilen fern oder hören uns nicht, vielleicht auch gibt es sie gar nicht oder sie küm- mern sich nimmer um uns (carni. pop. 46, 15 Bgk., Athen. VJ, 253 e, vgl. den verwandten Ausspruch des Demokies, Athen.

h;ilb wird man in dem Erlaß des Enf^rfjrete.s eher einen möpflichst umfassend frewilhlteu Ausdruck für alle strafljaren ITandlunfren als eine dem materiellen Recht entsprechende J^inteilunj^ erblicken müsBcn. Sehr charakteristisch ist eine lydische Inschrift Keil -Premerstein JJenkschr. Wien. Ak. 54, 1911, 2 nr. "JOS; Stoinleitner U. Beicht, DisH. München 1913 nr. 3: Hermofifenes hat eine Garantie für Schafe übernommon {■/Ev6(itvog tixavodÖTi]g, zur IJedeutunfj v^l, Mitteis zu /'. Leipz. 32, 16 = P. Sfraßh. 41, 51, sowie B.G. U. IV 11H9). Offenbar bei einem Prozeß, ob er zur Leistunj? aus diesem Rechtsverhältnis verpflichtet ist, wird er vernrteilt, einen Kid zu leisten, (li) nnodsdcoKcvs TTgößara . . . &yvo- i)r,ag ovv ö 'Epfioytir/g Mitoasv toi- 9<6v (Z. 5). llermorrcnes mußte wissen, ob er sich etwas hatte zuschulden kommen lassen, was als Nichterfüllung seiner Pflicht, sich um die Schafe zu kümmern, anzu- sehen war. F^in fahrlässiger Falscheid kommt also nach der Sachlage nicht in Frage; in äyro-qöug li<^gt lediglich ein psychologisch begreif- liches, aber unberechtigtes Bestreben, die Schwere seiner Schuld in dem Augenbücke, du er sie renig bekennt, herabzumindern, genau wie bei dem Distriktsschreiber der Oxyrrbynchos-Papyri.

Schuld und Sünde in der griechischen Religion 289

YI 250a). Bei Menander (Epitrepontes 544, vgl. frg. 759 K.) und, freilich etwas anders gewandt, bei Kerkidas^ kommen ganz ähnliche Stimmungen zu Wort, und die Götterlehre Epi- kurs findet dafür den philosophischen Ausdruck. Selbst die Durchschnittsmenschen der neuen Komödie weisen gelegentlich die Berufung der Ratlosigkeit auf himmlische Hilfe mit einem kurzen „Torheit" ab (Plaut. Bacch. 638a. Ter. Heaut. 1038), ohne daß sie dadurch besonders als Gottesleugner charakteri- siert werden sollen. Der blinde Zufall, die Tyche, regiert alles Geschehen auf Erden (Wendland, Hell.-röm. Kultur» 104, 2). Unberechenbar und sinnlos wie ein Würfelspiel erscheint den Menschen das Geschick, das heute erhöht und morgen stürzt. Die Aufgabe des Mannes kann gegenüber den Ereignissen des Lebens nur sein, sich die innere Unabhängigkeit zu wahren; im Unglück eine Strafe der Götter zu erblicken, fällt niemand bei. Eine Abgrenzung der Macht, die Tyche im Dasein ein- nimmt, so gut wie eine Ablehnung der alten Gleichung von Unheil und Schuld klingt aus den Worten des aufgeklärten Dichters: d' atvx^lv r) ^ij dsbg dCdcoöiv, ov tqoxov VO"' ^ciiaQtCa (Men. IV 197, 1 M., 425 K., vgl. IV 189, 2 M., 187 K.). Der Rausch der ersten Diadochenzeit, der kräftigen Naturen unbegrenzte Wirkungsmöglichkeiten zu geben schien, verflog; immer fühlbarer wurde der wirtschaftliche und politische Nieder- gang. Der einzelne rang vergebens, von neuem in enge Kreise gebannt, wider die Not des täglichen Daseins, und hoffnungs- lose Resignation bemächtigte sich der Herzen. So war der Boden für die Aufnahme der von Babylon her siegreich vor- dringenden astrologischen Religion bereitet. Die launische Tyche wandelt sich zur unerbittlichen sl^aQiisvrj, zu einem ehernen Gesetz, nach dem das Geschick der Menschen so gut

^ 1, 13 V. Wilamowitz Berl. Sber. 1918, 1154 [i^noT' ovv 6 rag JUag' öqpO-aXftog aTt£6Tialäv.(otai, . . . xai ©e/iig a Intaga. -Kaxuxlvatai; n&g Icxi dai(iovsg ovv toi fiTjr' axovav fiT^r' OTCav Ttsna^dvoi; 32 Xmiov (is&ensv tcsqI rovrcov totg (isrewQoöocpiaralg. Vgl. Pasquali Orazio lirico 219f.

Archiv f. BeligionawiSBenBchaft XX. 3/4 19

290 *^^^* J'-^tte

wie der Gang der Gestirne abrollt. Nicht Opfer noch Gebet ■vermögen das Verhängte /u wenden (Sen. JN7f/. quaest II 36. Yett. Val. V 9 p. 220, 28 Kroll). Als Dienerinnen der sl^aQ^i^vrj walten zwei Mächte im Leben, ^ElTcCg und TvxV-^ Während die eine trüglich jedem lacht und doch bei niemand verweilt, erhebt und vernichtet die andere in jähem Wechsel; betrogen und enttäuscht von beidem müssen sich die Menschen dein Schicksal fügen; aussichtslos ist jeder Versuch, ihm zu ent- rinnen. In blindem Gehorsam, wie ein Soldat, die Befehle des Schicksals hinzunehmen, ist das einzige, was uns bleibt (Vett. Val. a. 0. 219, 26ff.Kr.). Mit grausamer Folgerichtigkeit läßt dieser Glaube auch die Sünde, wie überhaupt den Charakter, determiniert sein. Das Zusammenwirken von Saturn, Mars und Merkur macht, daß die Menschen elg dsovg ßXaöipmiovöiv tJ enioQxoi xal ä&aoi y.ad-Cötavtat (Vett. Val. I 22 p. 44, 4 Kr.). Von den Planeten kommen überhaupt die ihrem Wesen ent- sprechenden Laster (Serv. Aen. VI 714, vgl. Reitzenstein, Poim. 53. 77, 2. 231. J. Kroll, D. Lehren d. Hermes Trismegistos IBeitr. z. Gesch. d. Phil. d. Mittelalters 12, 1914J 297 fl'.). Die durch das rjanze Mittelalter herrschende Auswahl der 7 Tod- Sünden und ihre Verbindung mit den Gestiruen geht auf diese Anschauungen zurück (M. Gothein, Arch. Rel.-Wiss. 10, 1907, 416). Wollte man eine Begründung dafür, daß trotzdem alle Schuld ihre Strafe fand, so blieb nur die Rückkehr zu dem objektiven Sündenbegriff in seiner schroffsten Form : non rcfert, scdus unäe radit, scelns osse fatendum est formuliei-t es Mani- lius (JV 117) nach stoischer Lehre. Aber dieser Glaube war überhaupt der Entwicklung eines starken Schuldgefühls nicht günstig; in dem unfiiitrinnbaren Zwange lag eine Entschuldi- gung, die mit der Freudigkeit zum Entschluß auch das Be-

' 'Einig und Tvxt] als die betörenden Mächte des äußeren Lebens auch in der Epipratnmatik A. P. IX 49. Si^cs tu)d Necessitas begleiten die Fortuna des Horaz c. I 35, 17 ff. Vettius V.alens führt also einen der hellenistischen Zeit geläufigen roTtog ans.

Schuld und Sünde in der griechischen Religion 291

wußtsein der Verantwortung ertötete. Der Ruf nach Erlösung von der Heimärmene, der fortan die treibende Kraft der helle- nistischen Religiousentwicklung ist, gilt viel mehr der Befrei- ung von Übeln der Umwelt als von der eigenen Sünde. Nicht die Menschen, sondern die Elemente klagen in der Köqtj xöö^ov vor dem höchsten Gott über Verunreinigung durch das sündige Treiben der Welt und fordern Entsühnung (Stob, I p.403, 15 W., vgLBousset, Arch. Kel.-Wiss. 18, 1915, 166f.). Wenn diese Epoche dennoch von einem steigenden Gefühl der eigenen Sündhaftigkeit durchdrungen ist, so liegt der Grund dafür in der veränderten Stellung zu Gott uiid Welt, welche die Menschen gewonnen haben.

Ein starker Intellektualismus, verbunden mit der aus- gesprocheneu Diesseitigkeit der hellenischen Volksreligion, hatte die Sündenvorstellung, wie wir sahen, voEstäudig auf das ethische Gebiet hinübergedrängt. In den Beziehungen zu den Mitmenschen, nicht in der unmittelbaren Beleidigung Gottes, sieht mau in erster Linie die Auswirkung irreligiösen Sinnes. Sehr bezeichnend für diese Richtung sind die kürzlich ge- fundenen Satzungen eines Privatheiligtums in Philadelphia (Svll.3 985. 0. Weinreich, Sber. Heidelb. Ak. 1919, 16). Die neuen Gebote, die der Stifter von Zeus selbst empfangen hat, und denen gegenüber die bisherigen Opfer und Reinheitsvor- schriften kurz abgetan werden (Z. 12), sind ausschließlich sitt- licher Natur: vor dem Eintritt in das Heiligtum schwören die Kultgenossen, weder Giftmord noch Zauberei, weder Totschlag noch Raub begangen zu haben. Dazu kommen sehr strenge Keuschheitsgebote, die dem Mann sogar den Umgang mit der verheirateten Sklavin untersagen (16 ff.}. Gewiß ist die Ethik hier in die religiöse Sphäre gerückt ; nicht ein autonomes Sittengesetz, sondern der ausgesprochene Wille Gottes drückt der Tat ihren Stempel auf: 6 dsbg yccQ'] tavxa ov ßovXerat, yivsöd-ai ß^jd^a^ag (Z. 45 . Aber im Grunde kam doch das eigentlich religiöse Leben bei solchen Anschauungen zu kurz,

o 19 =

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Religion erscheint fast zu einem bloßen Antrieb irdischer Sitt- lichkeit herabgedrückt.

In Philadelphia haben einmal griechische Gedanken eine orientalische Gemeinde hellenisiert; der Kult gehörte ursprüng- lich der Agdistis (Z. 50. Keil-Premerstein, Deukschr. Wien. Ak. 57, 1, 19). In der Regel waren es jedoch umgekehrt die orientalischen Religionen, die den hellenischen Kultformen neuen Inhalt gaben. Hatte in Griechenland der ethische Schuld- begriff den kultischen zu sich herübergezogen, indem die schuld- lose Tat auch kultisch rein geworden war (S. 284), so fehlte dem Orient eine selbständige Ethik überhaupt. Vergehen aus ganz verschiedenen Stufen der religiösen Entwicklung waren hier zu einer Einheit zusammengefaßt, Verstöße gegen Tabu- vorschriften und sittliche Verbrechen machten in gleicher Weise unfähig, Gott recht zu dienen, und riefen seine Strafen auf die Schuldigen herab. Eine kasuistische Scheidung zwischen un- sühnbarer und läßlicher Sünde, von der wir gelegentlich hören (z. B. Porph. abst. IV 10 p. 244, 24 N.-), war wohl unter grie- chischem Einfluß von den Priestern vollzogen und auf die breite Masse ohne Wirkung. Vor allem aber war die Auffas- sung der Sünde als einer körperlichen Befleckung in ihnen niemals entschieden überwunden worden, entsprechend der viel geringeren Vergeistigung, welche diese Kulturen erfahren hatten. Völlig unberührt von epekulativen Elementen begegnen uns solche Anschauungen bei den wegen ihres Köhlerglaubens be- rufenen Kleinasiaten (Dio Prus. 34, 5 p. 317, 16 Arn.) noch im 2. Jh. der Kaiserzeit auf den sogenannten „Beichtinschriften". ^ In ihnen legt der Sünder reumütig ein öffentliches Geständnis seiner Schuld ab, um dadurch der Gnade der Gottheit wieder teilhaftig zu werden. Ein ganz primitiver, „objektiver" Sünd- begrifi" liegt hier vor. Selbst die erzwungene Tat heischt ihre

' rfegammelt bei St>-inleitner Die Beicht im Zuaammenhavge mit der sakralen Rechtspflege der Antike. Diss. Münclien 1913. Nachträge 0. Weinreicb L.Z. 19U, 2Gf. Latte Heiliges Hecht 82,57.

Schuld und Sünde in der griechischen Religion 293

Sühne (Steinleitner a. a. 0. n, 22), so gut wie die unabsichtlicli (xttT äyvoiccv n. 14) oder unbewußt (^| sid6r(ov xal fiij sldörcov n. 11) begangene, Meineid (n. 3, vgl. oben S. 288A., n. 6. 8) oder Schmähung eines Menschen (n. 10) und Gewalttat (n. 9) rufen die göttliche Strafe ebenso herab wie bloße kultische Ver- gehen (n. 13. 26. 29). Ungesühnte Schuld vererbt sich auf die kommenden Geschlechter (n. 6. 7). Jeglicher Wertunter- schied zwischen den einzelnen Vergehen ist unbekannt; der in Unglück und Krankheit sich offenbarende Götterzom stempelt sie alle gleichermaßen zu religiöser Schuld. Darin liegt bei aller Verwandtschaft mit dem ältesten griechischen Sünden- begriff ein fundamentaler Unterschied; der Abstand zwischen Mensch und Gott ist kein Machtunterschied, wie bei den Hel- lenen, sondern wird als Gegensatz zwischen der Heiligkeit der Ewigen und dem sündhaften Sterblichen erlebt. Demgemäß bringt die Sünde nicht mehr vermöge ihrer Natur als be- fleckende schädliche Substanz Verderben, sondern weil sie die reinen Götter beleidigt. Animistische Denkformen wirken wohl in den einzelnen Reinheitsvorschriften nach, aber das Bewußt- sein bezieht alle Schuld durchaus auf eine persönliche Gott- heit. Nicht zufälliff geht von Kleinasien in hellenistischer Zeit auch der Wandel der Fluchformeln aus, der die alten magischen Wendungen endgültig durch ein „er soll sündig sein vor den Göttern" (anuQraXbs eöxco) und ähnliches ersetzt (Latte, Heiliges Recht 77). Die Institution der Beichte, die durchaus unhellenisch ist^, lehrt ferner, daß man ein starkes

^ In Griechenland kennt man den Zwang zum Geständnis der Schuld nur als Demütigung unter den Höllenstrafen (Plut. Ser. num. vind. 566 f.), ähnlich in dem Ordal, dem der tote Arespriester einer un- bekannten Gegend bei dem Paradoxographen P. Ox. II 218 col. 2 unter- worfen wird. Hierher gehört auch der rachsüchtige Wunsch auf kni- dischen FluchtafeLn, der Schuldige möge nsTtQTjuevog it,ayoQtvzi,v (Au- doUent Bef. tob. no. 2. 4. 14), den Steinleitner a. 0, 61 f. irrtümlich hier- her gezogen hat. Beichtinschriften treffen wir dagegen in Ägypten (G. Röder Urk. z. ägypt. Bei [Rel. Stimmen d. Völker IV] 67 f.), Sünden- bekenntnisse bei den Babyloniern {Jastrow Bei. Bab. II 71 ff.), Mandäen.

294 Kurt Latte

Gefühl der eigenen Schuld hat. Mißwachs und Seuchen wer- den in diesen Kreisen schlechthin als ti^coqCu bezeichnet', jedes Unheil ist göttliche Züchtigung, xolaöis (Steinleitner a. a. 0. passim ), wie man in allem Unerwarteten das Wirken der Götter erblickt (Artem. onir. I 6 p. 13, 17 H.). Darum quält den Un- glücklichen, abgesehen von allem körperlichen Schmerz, das Gefühl seiner Sünde. „Laß mich'', so spricht bei Plutarch (superst. 168c) der in solchem Glauben Befangene, „meine Strafe erleiden, ich bin gottlos, verflucht, allen Göttern und Dämonen verhaßt," Das durch die Strafe geschärfte Gefühl des eigenen sittlichen Unwerts tritt in Gegensatz zu der gött- lichen Heiligkeit und wird als Hindernis empfunden, der Gott- heit überhaupt zu nahen. Neue Formeln stellen sich neben die althergebrachten für religiöse Schuld, um diese veränderte Einstellung zum Ausdruck zu bringen. Man erkennt die Mischung beider Elemente, wenn die Ehebrecherin bezeichnet wird als ^ivöuiyg ifKpvUov TthJQrjs y^l ävu^la ösßaöd-aL tbv &sbv tovzov [ßyW 985,36).^ Auf dem Boden solcher An- schauungen mußte ein Sündonbewußtsein von ganz anderer Kraft erwachsen, als es der fivriöinri^cov Tcövog der Hellenen

(Brand Mavd. Schriften 106), Manichäern (Le Coq Chnastiianift , Abb. Herl. Ak, 1911, 4, 11) n. s, Sie mögen ursprünglich aus dem Glauljen entstanden sein, daß Aussprechen vor dem reinigenden, Unheil bannen- den Licht des Tages von dorn Bösen befreit, wie man in Hellas schlimme Träume der Sonne erzählt (Soph. El. 425. Knr. I. T. 43 u. s.). So beichtete niiin in Peru der Sonne zugewandt (Molina Falles and liitrs ofihe Incas 22. Später wurde die Selbsterniedrigung vor (iott als ihr Zweck empfunden und durch das äußere Auftreten der Bei< htenden ge- steigert (Men. IV 102, 4 M. 544 K.). Die in Samothrake üidiche Beichte (Plut. apnpth. Lac. 217 d. 229 d) wird nicht griechischen Ursprungs sein.

' B.C.II. 11 (1H87) 381, ao Kuirot tov xaipov Ttigl tovs nagnovs yiüvrag xal ntgl tu &).la temo^giav f;i;oi'Tos (Stratonikeia in Karien, unter Marc Aurel). Der Gedanke ist auch stoisch; vgl, Hierokles b. Stob. I p. 64 W. Trächter lUerohJes d. Stoiler 27, Wendkiul Jliilos. Schrift üb. d. Vorsehung 56,

5 Man vergleiche, wie [Dem.] ö9, 86 den Ausschluß der Ehebrecherin von den Tempeln im wesentlichen mit ihrer Befleckung begründet.

Schuld und Sünde in der griechischen Religion 295

(oben S. 280) gewesen, eine Reue, die nicht mehr Furcht vor der Strafe, sondern Trauer über den Verlust der göttlicheu Gnade ist. Demgemäß gilt es als erste Pflicht des Sünders, die Gottheit zu preisen (evXoysiv), wenn ihre freie Güte seine Buße annimmt (Steinleitner a. a. 0. n. 2. 3. 5. 10. 19 u. s.); eine mechanisch wirkende Reinigung existiert nicht mehr.

Beinahe sämtliche Gedanken, aus denen der griechische Sündenbegriff seine Nahrung zog, erscheinen in der helleni- stischen Mystik zu einer in sich widerspruchsvollen Synthese zusammengefaßt. Die alte Vorstellung, daß Sünde etwas Frem- des, durch irgendwelche äußeren Kräfte Veranlaßtes sei, wird von einem ausgeprägten Dämonenglauben ins Kosmische ge- steigert; sie ist zu einer widergöttlichen Macht geworden, von der .das Böse im einzelnen nur ein Teil ist. Gott allein ist gut (Corp. herm. 6, 3 p. 50, 11 Parthey. Stob. I 275, 22 W.), der natürliche Mensch aber durch seinen irdischen Ursprung den Lastern verfallen, mögen diese nun ganz sinnlich als Glie- der gefaßt werden (Reitzenstein, Hell. Mysterienrel.- 121, 37), als Anhängsel (^tQoaagrrj^uta, Basileides bei Giern. Alex. Strom. II 20 p. 174, 6 St.\ oder mehr vergeistigt als ein von Dämonen in die Seele gelegter Keim (z. B. Corp. herm. 9,3 p. 62, 1 P.). Die Gottlosigkeit gibt diesen unreinen Geistern Gewalt über die Seele; sie verstricken sie rächend in stets neue und schwere Schuld (Corp. herm. 1,23. 10,21. J. Kroll, Lehren d. Herm. Trism. 83 ff.'. Auch das ist altüberkommene mystische Vor- stellung 'Z.B. Polyb. XXIII lOff.), aber dieselbe .Stelle des hermetischen Corpus (10, 20^ lehrt, daß sie in diesen Kreisen lediglich ein Bild dafür war, daß die Qual und Unruhe des Schuldbewußtseins ihre Strafe in sich trägt (vgl. oben S. 280, 1). Jedoch der Mensch unterliegt diesem Zwange wehrlos. Nicht die eigene Kraft, sondern die Gnade der Gottheit erweckt die Auserlesenen zu wahrem Leben und läßt sie das eine, was not tut, erschauen. Ein Mangel an religiöser und sittlicher Ini- tiative haftet diesen Vorstellungen einer alt gewordenen Welt

296 Kurt Latte

an, die den echt hellenischen Glauben an die eigene Tatkraft verloren hatte. Der Mensch erscheint durchaus als der weib- liche empfangende Teil. „Entweder Götter oder Dämonen faßt die Seele in sich" (Porph. ad Marc. 21), sie ist wie ein Wirts- haus am Wege, in dem rücksichtslose Bewohner ihre Spuren hinterlassen (^Valentinos b. Clem. Alex. Str. II 20 p. 175, 3 St.). „Aufnehmen, in sich Raum geben" (xagelv), sagt die helleni- stische Mvstik besonders gern von der Vereinigung mit Gott (Reitzenstein, Poim. Index s. v. ;^£D()£i>). Auch wo der Ver- gleich mit dem Soldaten begegnet (Reitzenstein, Hell. Mysterien- rel.^ 71), denkt man wohl mehr an den blinden Gehorsam als an die tätige Mitarbeit des „Streiters Gottes", aus der das Gleichnis ursprünglich empfunden war; das beweist der Soldat der Heimarmene bei Vettius Valens (oben S. 290). Sich vor- bereiten ist das einzige, was der Mensch tun kann; wonach Tausende in heißem Ringen vergeblich streben, das wirft die Gottheit dem Erwählten mühelos in den Schoß: in der Gnosis, der religiösen Gewißheit, die unmittelbar erlebt wird und eben darum jedem logischen Beweise überlegen ist, empfängt der Mensch auch die Befreiung von der Gewalt des Schicksals und des Bösen (Herrn, b. Cyrill in lul. IV p. 701b). Damit hat über ihn die Sünde ihre Macht verloren (Corp. herm. 13, 8 p. 342, 16 Reitz., vgl. J. Kroll a. a. 0. 82 ff. 362). Ein Strahl des göttlichen Lichtes vernichtet alle Dämonen in der Seele (Corp. herm. 16, 16 p. 853, 10 Reitz.). Selbst wenn er im irdischen Dasein noch der Verfehlung unterworfen bleibt, berührt all das doch sein wahres Wesen nicht (Corp. herm. 12, 7 p, 103, 6 Parthey, vgl. Valentinos Epiph. Pan. XXXI 7, 8 p. 397, 10 HoU, vgl. z. d. St. De Faye, Gnostiqxrs et Gnosticisme 45, 2. Iren. I 6, 2 u. s.). Es ist nur folgerichtig, wenn in den her- metischen Schriften gelehrt wird, es gebe überhaupt nur eine Sünde, die Gottlosigkeit. „Denn alles andere, was die Men- schen unternehmen, aus Irrtum oder Übermut, aus Zwang, den man Schicksal nennt, oder Unwissenheii sehen die Götter

Schuld und Sünde in der griechischen Religion 297

nicht an, nur die Gottlosigkeit erhält ihre Strafe" (Corp, herm. 16, 11 p. 352, l2iF. Reitz.). Wie allein das mystische Erlebnis der Vereinigung mit Grott genügt, den Menschen von aller Schuld zu reinigen, so kennt diese Religion im Grunde nur eine einzige Sünde, die Abkehr von ihm, den Unglauben: xaxCa ilfvx7}s äyvcoöCa (Herrn, ap. Stob. I 417, 8 W., vgl. Corp. herm. XI 21\*

Aber der Gott, den es zu erfassen gilt, steht außerhalb der sichtbaren Welt und im Gegensatz zu ihr; er fordert die Ab- kehr von allem Irdischen. Die Erdgebundenheit des natür- lichen Menschen an sich ist die Sünde, die das Erleben der göttlichen Gnade hindert (Corp. herm. 10, 8. G. P. Wetter, «Jög, e. Untersuchung üb. heUen. Frömmigkeit [Skrift. utg. af. hum. vetensk. samfundet 17, 1, Upsala 1917] 31); in der Askese sucht man sich von der Sinnenwelt zu lösen. So gilt nicht mehr die Verletzung ethischer oder religiöser Normen, sondern schlechthin jede Bejahung des Lebens als Sünde. Solche Strö- mungen werden immer mächtiger, je mehr aus dieser Zeit die Freude an der Umwelt entschwand. Gewinnt doch jetzt die orphische Lehre wieder Kraft, daß der Mensch überhaupt als Strafauf- enthalt der Seele für einen früheren Sündenfall geschaiffen ist (Stob. I p. 379. 398, 7 W.). Die Materie an sich ist das Schlechte, die individuell moralische Schuld verschmilzt mit ihr zu einer großen Einheit, die der übersinnlichen Welt des Guten und Heiligen gegenübersteht. Die Gleichung von vli^ und xaxov ist in der Philosophie zuerst von den Neupythagoreern aus- gesprochen (E. Schröder, Plotins Abh. nö&sv xaxd, Diss. Rost. 1916, 50). Wie wir sahen, gelangte auch die religiöse Entwicklung zu einer ähnlichen Ausweitung des Begriffs; beide trafen sich in der Geringschätzung des Diesseits und damit auch aller tätigen Moral, djiixov aal Kvxiypv ist das Leit-

Nur gelegentlich wird daneben auch das eigene sittliche Handeln betont: Corp. herm. 10, 19 ccywv tvaeßsiag rb yv&vai &e6v xal fn^deva

298 ivnrt Latte öcbukl und Sünde in der griechischen Religion

motiv dieser Jahrhunderte, mag auch die alte hellenische Lebens- freudiirkeit unter dem Einfluß des Poseidonios oder bei Plotin noch selecjentlich anklingen. Gerade Plotin wird durch seinen Glauben an die alleinige Existenz des Guten in der Welt da- zu gedrängt, die Materie, die 7Aigleich auch das Schlechte ist, zu einer bloßen Negation herabzudrücken (Ennead. J 8, 3). Diese weltflüchtige Stimmung mußte mit aller Freude au ak- tivem Handeln auch den Antrieb zu einem selbständigen Kampf mit der allgewaltigen Macht des Bösen ersticken. Das Christen- tum übernimmt zunächst die Stellung zu der Welt und in seiner Theologie auch die dogmatischen Folgerungen für den Sündenbegriff. Aber indem vor allem bei Paulus eine aus- schließlich moralische Sündenvorstelluug sich klar von allem übrigen Unheil sondert und der göttliche Gnadenakt, der die menschliche Schuld und Schwäche bedeckt, in den Vorder- grund rückt, wird die Erlösung von dem Übel in erster Linie zur Vergebung der Sünde. In diesem Sinne ist sie bei den meisten Gnostikern so gut wie in der Großkirche das zentrale Problem. Trotz aller Ansätze hatte das Heidentum eine klare Ausprägung dieses Gedankens nicht erreicht. Die neue Reli- gion verdankte ihm einen wesentlichen Teil ihrer werbenden Kraft.

Der Krieg in der griecliisclieii Keligioii

Von Friedrich Sehweiin in Grüstro^

I Der heilige Speer

Von den Gewalten übersinnlicher Art, die im Kriege auf das Schlacbtenlos von Einfluß sein können, gibt uns eine un- scheinbare Notiz bei Plutarch Kunde: die thebanischeu höch- sten Beamten hätten stets ein ööqv bei sich geführt,^ Man könnte das für eine Übertragung aus der Kriegszeit in den Friedenszustand halten, als Ausdruck dessen, daß der büro-er- liehe ccQxcov bei dem „Volk in Waffen'' zugleich Heerführer war. Erinnert man sich indessen, daß der Stab, den Könio-e und Herolde trugen, einst religiöse Bedeutung hatte ^, so wird man geneigt sein, auch in dem heiligen Speer der Thebaner einen ähnlichen Sinn zu suchen. Wie ist das möglich?

Der religiöse Wert einer Waffe kann nur auf ihrer Menschen vernichtenden Kraft beruhen. Damit wird sie zu- nächst von einem Einzelnen magischen Zwecken dienstbar gemacht: bei seiner Waffe legt der griechische Krieger gleich

^ Freilich ist bei dem Wort Söqv Vorsicht anzuwenden, da es in einem anderen von Tümpel PTFII 6J8 angezogenen Falle und bei Paus. IX 40, 11 allem Anschein nach nur „Balken" bedeutet. Wenn öoqv ursprünglich „Baum", „Balken" bedeutet (vgl. i/. II 135; III 61; OdVI167; VIII 507 u. a., verwandt mit dgvg und ögyrö^iog = Holzhacker), so braucht das 6y.T]ixrQov des Zeus durchaus nicht als Waffe aufgefaßt zu werden. Vgl, Diels Die Scepter der Universität Berl. Rektoratsrede 1905 S. 11. Doch wird Plutarch a. a. 0 bei dem thebanischen 66qv ent- sprechend der damals all gemein üblichen Bedeutung des Wortes wirk- lich an eine Waffe gedacht haben. Über den ganzen Gedankenkreis vgl. H. Usener Götternamen 285; de Visser Die nicht menschengestaltigen Götter d. Grüxhm, 1903; Deubner, d. Archiv VIII 1905 Beiheft 72 ff. Auch K. Tb. Preuß Die geistige Kultur d. Naturvölker 1911, S. 26.

2 Diels a.a.O. S 6 ff.

300 Friedrich Schwenn

dem barbarischen den Eid ab. Durch eine bedingte Selbst- verfluchung* wird die Lanze, die wohl für unser Gefühl, aber nicht für das des Primitiven nur ein Werkzeug in der Hand ihres Trägers ist, magisch genötigt, in einem bestimmten Fall ohne oder gar gegen den Willen ihres Besitzers einem Menschen den Tod zu bringen. „Was wird beim Eide zum Pfände ge- setzt? Nicht die Waffen selbst, so daß sie nun etwa ver- fallen wären sondern der Dienst der Waffen. Sie ver- bleiben dem Besitzer, aber als sein Verhängnis."* Hier be- kommt die Lanze also durch den Fluch dämonische Kraft.

Anders liegt der Fall, wenn noch in historischer Zeit Alexander von Pherä die Lanze, mit der er seinen Oheim ge- tötet hatte, aufrichtete, um ihr göttliche Ehren zu erweisen.' Psychologisch ist seine Handlungsweise wohl klar: er er- wartete von dem verderblichen Gerät, das ihm einmal den Erfolg verschafft hatte, in Zukunft weitere Siege."* Solch Denken ist doch heute noch lebendig. Mancher Schriftsteller glaubt mehr oder weniger heimlich, nur mit dem bisher er- folgreich benutzten Federhalter auch ferner gute Gedanken auf das Papier zu bringen: weil der Gegenstand mir bis jetzt nützlich war, wird er es auch künftig sein. Was ursprüng- lich falsche Erkenntnis der Kausalzusammenhänge war, wurde später, als das Denken reifer sich entwickelte, aber alte An-

> 0. Schrader Beallex. 1 167f.; Deubner a.a.O. 72.

» R. M. Meyer, d. Archiv XV 1912, 441.

' Plutarch Feh 29; mythisches Beispiel: Schol. Apoll. Rhod. I 67; Schol. A II. I 264. Vt,']. ferner Tacitus Germ. 14: exigunt enim principis sui WieraUtate Hlum hdlatorem equum, illnm cruenlam victricemque fra- meam, also eine schon bewährte Waffe. Vgl. noch Plin. XXVIII 33.

Marett Folk-Lore XV 1904, 140 ff. (abgedruckt in dem mir nicht zagänglichen The Threshold of Behgion* 1914, 42ff.) erklärt die Hei- ligkeit der Waffe anders: der primitive Mensch wirft im Zorn einmal den Speer, dessen Wirkung ihm bekannt ist, in der Richtung, in der ein Feind steht; stirbt dieser bald darauf, so schreibt der An- greifer dem Speer als solchem, also auch ohne Berührung des Gegners, tödliche Wirkung zu. Kommt es aber so häufig vor, daß ein Mensch stirbt, gegen den man eine Waffe geschlendert hat, ohne zu treffen?

Der Krieg in der griechisclien Religion 301

achauungen und Gewohnheiten noch nicht überwinden konnte, als übersinnlich, d. h. als magisch oder nach dem Vergleich mit anderen Geistern als dämonisch angesehen.

Die Handlung des Alexandros hat selbstverständlich nicht vereinzelt dagestanden; so wie er konnte jeder Stadtkönig denken. Die ererbte Lanze, die sein Vater und Großvater mit Erfolg im Streite geführt hatten, nahm an Ansehen zu, je älter sie wurde; denn das Jahr übt eine heiligende Kraft. Nicht allein er verehrte sie, auch seine Krieger beugten sich ihr und setzten sie den mächtigen Geistern gleich, deren Hilfe sie sonst im Kampf anriefen. Schon der Umgang mit der Waffe erhöhte ihren Besitzer, und er trug sie nun immer bei sich so übernahm in Theben ein Beamter von seinem Vorgänger den Speer, den er als Zeichen der Würde stets bei sich führte.^

Diese Entwicklung mag bei den Indogermanen schon in proethnischer Zeit sich vollzogen haben, da wir bei Römern und Germanen ähnliche religiöse Vorstellungen finden. In der Regia zu Rom wurde die heilige Lanze aufbewahrt, die nach Varros Zeugnis^ eine Verkörperung des Mars war Andere Schriftsteller^ erwähnen die Sitte der Fetialen, beim Kriegsausbruch als Kampfansage eine in Blut getauchte, eiserne oder im Feuer gehärtete Lanze über die Grenze zu werfen. Beidemal ist es die alte Wunderwaffe, die uns aus Boiotien bekannt ist, nur daß zwei andere Phasen aus ihrer Geschichte zu festen Bräuchen erstarrt sind. Die Lanze, die der Fetiale zur Kriegserklärung benutzt, soll dem Gegner Verderben bringen, weil sie es bisher immer getan hat. Sie

^ Die Wunderwaffen sind auch in die Sage übergegangen; der Bogen des Philoktetes, der in Herakles' Hand seine Kraft gezeigt hat, ist allein imstande, den Untergang Trojas zu veranlassen. Auch die Individualisierung der Waffe (Schwert des AchilleB oder Siegfried, Aias- schild) gehört hierher.

» Bei Clem. Alex. Protr. IV 46 p. 35 Stähl. Arnob. adv. nat VI 11 Plut. Ro7n. 29. Trogi epit. 43.

ä Bei Wissowa Rel.^ 564.

3Q2 Friedrich Schwenn

braucht unmittelbar niemand zu verletzen, sie wird schon durch ihre ,,Kraft" nachher im Kampfe die Macht der Feinde vernichten. Geht sie einmal verloren, so kann sie durch eine neue ersetzt werden; dann naturgemäß verliert sich allmählich der Glaube, daß nur die bestimmte Lanze, die ihr „Glück" gezeigt hat* magisch wirksam sein kann; statt dessen rückt die Tatsache in den Vordergrund, daß überhaupt ein Geschoß seo-en den Feiud sreworfeu wird.^ Die neue Waffe, die man benutzt, muß wenigstens äußerlich der alten Lanze gleichen; darum wird sie in Blut getaucht, um der früheren Lanze, die vom FeindL'sblut gefärbt war, im Aussehen zu gleichen. Als der Ritus erstarrte, waren Metalle noch selten; die Lanze des Fetialen konnte deslialb noch eine im Feuer gehärtete Spitze haben.- Weiter fortgeschritten sind die religiösen Ideen, aus denen die Lanze des Mars hervorgegangen ist. Diese ist nicht identisch mit der eben besprocheuen, aber sie hat einen ähnlichen Ursprung. Für gewöhnlich wird sie im Amtsge- bäude des Pontifex Maximus, der Regia, aufbewahrt, also nicht in einem besonderen Tempel, doch der Oberpriester nimmt sie auch mit ins Feld. Denn wenn es auch nicht ausdrücklich gesagt ist, so dürfen wir sie doch wohl dem telum gleich- setzen, auf das sich nach Befehl des Pontifex der römische Bürger oder Feldherr bei der Devotion stellte, und dessen Ver- lust durch Suovetaurilia gesühnt werden mußte.' Sie soll das Heer beschützen, wie auch andere Völker'* ja heilige Gegen- stände, die von göttlicher Kraft erfüllt sind, zum Schutz der

' Liv. I .32, 16 hastam fcrratam mit praeustnm: es gab also keine bestimmte Lanze, flie immer -wieder zu diesem Zwecke benutzt wurde (was ja vor allem bei dem fingierten Stück Feindesland in Rom Wis- sowa a.a.O. sehr gut möglich gewesen wäre); darum kann sie natürlich der Lanze in der Regia nicht gleichgesetzt werden.

» WisRo^va a.a.O. 654; Holbig AGG N. F. X 3, 40.

••' Liv. VIII y. 5; 10, 14.

* Schwally Semit. Kiiegsnlteiiümer I 16. Für die (Jermanen vgl. besonders Tac. Girm. 1 (dazu Scliweizer - Sidlor); /(!«<. IV 2-_', für die Römer noch (Adler des .luppiterl) Marquardt Staatsvcrw . 11425.

Der Krieg in der griechischen Religion 303

Kriegsmannschaft bei sich haben. Xoch später wird die hasta dem KrieQfgcpott Mars angeschlossen, und die manischen Eigenschaften, die sie bisher an sich besessen hat, gelten nun als das Wirken des Gottes. Der römische Antiquar^ aber er- zählt, die Alten hätten Mars unter dem Bilde einer Lanze verehrt.^ Ahnlich wird die Entwicklung bei den Germanen verlaufen sein. Auch diese kannten den Speerwurf beim Be- ginne eines Kampfes ' und gaben deshalb eine solche Waffe dem Kriegsgott Wodan in die Faust.^

Entsprechende Bräuche finden wir nun auch bei nichtindo- germanischen Völkern, so daß die zugrunde liegende Vorstel- lung in den Kreis jener von Bastian so genannten „Mensch- heitsgedauken" zu gehören scheint. Bei den Israeliten schießt Joas einen Pfeil gegen die Syrer"*; das Instrument ist hier ein anderes, die beherrschende religiöse Idee dieselbe wie bei den vorhin genannten Bräuchen. Es wird ursprünglich ähnliche Bedeutung gehabt haben^ wenn Josua seinen Speer gegen die Stadt Ai so laiige ausgestreckt hielt, bis sie erobert war,^ Eine besondere Gottheit ist aus diesen in der Sage als ein- malige Handlung überlieferten Riten nicht entstanden, der jüdische Monotheismus nahm sie in sein System auf, indem er sie mit Befehlen Jahves begründete. Ein mexikanischer König ließ vor dem Angriff nach allen Seiten Pfeile entsenden.®

^ S. 0, S. 301 A 2.

^ Nun wird sie auch ein^elügt in einen Ritus, durch den die Feinde mit aller ihrer Habe dem Untergang geweiht werden. Die von mir RGW XIV 3 S. 142 ff. gemachten Darlegungen bedürfen hiernach einer kleinen Änderung.

* Weinhold Sitz.-Ber. Beil. 1891, 560 fi. u. a. Als es ehrenvoll ge- worden war, zu Wodans Gefolge zu gehören, ritzte man sich zur Weib 11 ng mit dem Symbol des Gottes, dem Speer, ,,um dem Strohtod zu entgehen".

* Reg. II 13, U— 17; Schwally a. a. 0. 22. " Ex. 17, 9.

^ S. Schwally a. a. 0. 23. Bei der letzten Königski önung in Un- garn berichteten die Zeitungen von Schwerthieben, die der neue Herr- scher nach den vier Himmelsrichtungen austeilte; vielleicht hat sich

3Q^ Friedrich Schwena

So sind aus einfachen, aber falsch aufgefaßten Tatsachen magische Bräuche, dann bei einigen Völkern, darunter den Griechen, Sonderdämonen nach psychologisch verständlichen Vorgängen aufgekommen.^

II Die Eideshelfer im Kriege

Neben diesen übersinnlichen Gewalten, die ausschließlich den Bedürfnissen des Krieges dienen, steht nun die große Menge der Dämonen und Geister, die, ursprünglich mit allge- meiner Wirksamkeit begabt, in die Verhältnisse des Krieges mehr oder weniger künstlich hineingezogen wurden und unter Umstünden zu Hütern der Kämpfer im besonderen wurden.

So konnten etwa die Mächte, unter deren Schutz der Eid- Bchwur stand, für den Ausgang eines Waffenstreites von Be- deutung werden. Ganz kurz sei dabei zunächst Bekanntes wiederholt.'

Homer ^ erzählt, um einen Fall für viele zu nennen, wie beim Vertrag der Troer und Achäer die schwörenden Fürsten die Opfertiere töten, Wein ausgießen und unter Anrufung des Zeus, der Sonne, der Erde, der Ströme und der Unter- weltsgeister den Meineidigen verfluchen: gleichwie der Wein zur Erde rinnt, soll das Gehirn des Frevlers herabrinnen. Deutlich sind hier Zauberspruch und Zauberhandlung zu er-

aucb darin eine magische Handlung, ähnlich der oben besprochenen, erhalten. Über PfcilscliüBee (in anderem Sinne"» s. Samter (lehxirt, Hoch- zeit und Tod 41 f. Vielleicht ist manches davon in firiechenland auf den bogenai)annenden ApoUon Alexikakos (Weinreich Athen. Mi't. XXXVIII 62fiF.), der ja auch die Feinde abwehrt, übergegangen.

' Eine I'arallele zu der DämonenentMtelmng aus Zaubergegenstän- den findet sich z. H. in dem oben angeführten Auf.«atz von R. M. Meyer 446: ,,Au9 den angelöteten Schwurringen wuchs ein Dämon hervor, der weibliche Dämon Unn, Welle, der männliche Ullr, der Herrliche".

» Über den Eid s. allgemein Ziebarth l'WW 2076 ff.; Hirzel Der Eid 1902; Lasch Der Eid 1908; R. M. Meyer a. a. 0. über die an- gerufenen Gottheiten vgl. A. Dieterich Mutter Erde* bi; Lasch a.a.O. 30; R. M. Meyer a.a.O.

' II. III 103 fi., 246 ff.

Der Krieg in der griechischen Relif,^ion 305

kennen. Was mit dem Wein geschieht, soll mit der Sicher- heit, welche die Magie geben kann, das eidbrüchige Volk er- leiden. Dies Unheil kann an sich zu einer beliebigen Zeit unter einer beliebigen Verkettung der Umstände eintreten, aber im Krieg nimmt man natürlich an, daß die Strafe in der Niederlage besteht und durch das feindliche Volk nach dem Willen der Götter vollzogen wird. Tatsächlich wollte ja auch in unserem Falle der Dichter mit dem hinterlistigen Bruch des Vertrags den Unter;2ang Trojas ethisch recht- fertigen.^

Die Gewalten also, die beim Eid angerufen werden, helfen den Krieg entscheiden: neben den Unterweltsgeir-tern, die so gern den Lebendigen in iiir dunkles Eeich hinabziehen, die zunächst noch unpersönlichen Ströme, die durch Überschwem- mung Segen und Unheil bringen können, Sonne und Erde, und an erster Stelle Zeus, der alte Gott der Himmelserschei- nungen, Torab des Gewitters, Sie alle stehen dem Krieg ihrem eigentlichen Wesen nach fern, erst der Zauoer zwingt sie, im Falle eines Eidbruches, zur Parteinahme. Werden sie häufig dazu herangezogen, ein Versprechen zu verbürgen, spe- ziell einen Kriegsvertrag zu garantieren, so muß das notwen- dig Einfluß auf die Vorstellung von ihnen haben. Zeus z. B. war als Herr der Fruchtbarkeit spendenden Regenwolken schon von Anfang an sicherlich ein hoher Gott. Die Gewohnheit aber, ihn bei Staatsverträgen anzurufen, von seinen Donner- keilen einen Bund sichern zu lassen, stellte ihn über die mächtigen noXiov^oi der Kontrahenten und trug viel zu seiner Würde als Götterkönig bei.^

In Rom geht die Beziehung eines alten Schwurdämons auf den Krieg sogar- noch weiter. Im Tempel des Juppiter Feretrius oder Juppiter Lapis wurden beim Staatsvertrag die

> Finder Hermes XLI 1906, 243; Bethe Homer I 216 flF. ' Ein weiteres Motiv für das Emporsteigen des Zeus zum obersten der Götter bei 0. Kern Av fange d. hellen. Eeligion 231

ArchiT f. Beligionswitsenschaft XX. 3/4 20

306 Friedrich Schwerin

Opfertiere vou den Fetialen mit einem alten heiligen silex ge- schlachtet; der Stein wurde nach der Tötung der Tiere weit weggeworfen.^ An dieser Stätte aber stand auch das ferdrum, auf das die spolia opima, das Beste der Siegesbeute, gehängt wurden. Der silex, dessen Funken beim Schlagen als Abbilder des Blitzes aufgefaßt werden, deutet, wenn wir Useuer^ folgen wollen, auf einen alten Gewitterdümon^ hin. So verkörpert der Stein den Blitz; wird also ein Opfertier von ihm getötet, so bedeutet das: der Blitz soll mich treffen wie dies Gerät das Lamm, wenn ich meineidig werde. Eine gefährliche Kraft wohnt in dem Kultgerät, und selbst der Priester fühlt sich nicht stark genug, si6 zu ertragen; darum wirft er den Stein von sich. Mit diesem Zeremoniell wurden nun hauptsächlich oder gar ausschließlich Staatsverträge abgeschlossen; die erst all- mählich zum persönlichen Gott entwickelte Naturkraft des Blitzens, die in den lapis gebannt ist (daher später Juppiter Lapis), wurde so zur Beschirmerin der zwischenstaatlichen Verträge, und das Volk, das etwa von dem Bund abwich, oder wenigstens seine Führer waren dem rächenden Strahl aus des Himmels Höhen geweiht. Eigentlich mußte nun alles, was dem Blitzdämon verfallen war, in seinen Tempel gebracht

> Deubner Neue Jahrb. XXVII lull, 33.Sf.; Wissowa BeV 117 f. Ale zuverlässif^öte Quelle hat zu gelten Liv. I 24, 7. Die Zeremonie wurde ursprünglich wohl nur für Staatsvertriige angewandt; darauf weist bei den au8 späterer Zeit überlieferten privaten Eidschwüren in diesem Heili^'tum (riellius I 21, 4; Apuleius de dco Socr. 5; Festus Pauli p. tf-i und 112; Plut, Sulla 10; vgl. Polyb. III 25, 6) di.; Formel hin: ai seien.i fallo, tum me Diespiler salva urhe arceque (also Trennung des Schwörenden von der Stadt) bonis eiciat (auch das Wegwerfen de» Steines ist zum Zauberbrauch geworden) vt ego hunc lapidem (Paul. 112).

» Kl. Sehr. IV 4H6ff.

•Juppiter Elicius und Fnlgur (Wissowa 121 f.) sind Parallel- erscheinungeu des J. Lapis. Wenn die alte Überlieferung Elicius: ab eUciendi'< fulmivibus ableitet, so möchte ich gegen Wissowa a.a.O. daran festhalten. Das Hervorlocken der Blitze ist ein Regenzauber; es braucht übrigens nicht etruskisch zu sein, oder sollen wir etwa den Blitzgott J. Lapis auch für eiueu Etrusker halten?

Der Krieg in der griechischen Religion 307

"werden; man begnügte sich aber wenigstens später damit, nur die wertvollsten Stücke auf das feretruni zu hängen.^ Hatte man häufiger Gelegenheit gehabt, ihm die spolia zu über- bringen, so lag es nahe, in ihm den besonderen Schutzherrn der Römer zu sehen, im Krieg wie bei anderen Gelegenheiten ; man glich ihn dem alten Himmelsgott, den die Italiker aus ihrer indogermanischen Urheimat mitgebracht hatten, dem Yater^ Dieus, Juppiter, an und ehrte ihn mit Festspielen und anderen Zeremonien. Als sein Kult aus politischen Gründen^ höhere Bedeutung gewann, errichtete man ihm als dem Opti- mus Maximus auf dem Kapitol einen neuen Tempel. Der Adler aber, der am höchsten steigende Vogel, der dem Him- melsgott besonders nahe zu sein schien, wurde später wohl durch das Fortleben der kriegerischen Eigenschaften des Fere- trius das Feldzeichen, das die römischen Legionen zu Kampf und Sieg führte. Das Wesen des Schwurgottes jedoch ffino- über auf zwei neue, Ton dem alten Dämon loso-elöste Gottheiten, den Dius Fidius und die Fides, von denen die letztere in nächster Nähe des Juppitertempels hauste und ihren Kult durch den Priester des Juppiter, den flamen Dialis, erhielt. So weit wie in Rom können wir die Entwicklung des Eides- helfers bei den Griechen nicht verfolgen. Daß aber auch ihnen ähnliche Gedankengänge nicht ferngelegen haben, be- weist die häufig erwähnte Errichtung von sogenannten xQÖnuLu^: wertvolle Beutestücke wurden an einem Baum oder dgl. auf freiem Felde aufgehängt, niemand vergriff sich daran;

^ Vgl. S. Reinach Ciiltes, Mythes, ReUgions III 237 ff.; ferner RGW XIV 3, 145 ff.

* ,, Vater" ist ursprünglich die Anrede des (z. B. durch Regen) be- fruchtenden Gottes im Gegensatz zur „Mutter Erde", später auch auf andere Gottheiten übertragen.

- Wissowa a. a. 0. 125 ff.

* Woelcke Bf.iträge z. Gesch. des Tropaiovs, Diss. Bonn 1911 (Bon- ner Jahrb. 120). Später faßte man solche Tropaia als Weihgeschenke an Zeus und andere Götter auf und opferte vor ihnen (Woelcke a. a. 0. S, 23); mit altem Baumkult (Bötticher 71 ff.) haben sie nichts zu tun. Et-

20*

3Q3 Friedrich Schwenn

der Besitz des Feindes war durch irgendwelchen Zauber oder vielleicht auch wegen eines Eidbruches verflucht und den Göttern verfallen, aber begreiflicher Egoismus* ließ den Sieger bis auf einen kleinen Rest das Gewonnene behalten.^

ITT Die Götter als Partoi im Kriosre

Werden durch den Eideszauber Götter, die eigentlich dem Kriege fernstehen oder ihrem Wesen nach neutral sind, auf dio eine oder die andere Seite getrieben, so gibt es auch wieder Dämonen, die von vornherein geneigt sind, der einen Partei, und nur dieser, beizustehen.

Aus dem Alten Testament ist ja bekannt, wie Jahwe, so- langre er nicht erzürnt ist, seinem Volk unter allen Umständen hilft, selbst wenn Israels Sache, ethisch betra<hlet, die schlech- tere ist.' Ahnlich lagen die Verhältnisse im alten Griechenland.

Hier galten besonders die Geister der Ahnen und Heroen

was Besonderes ist es, wenn bei den Gormaneu erbeutete feindliche si ina, d. h. Güttersymbolc, in heüipfcn Hainen auff^eliiin.G:t wurden (Tac. *4nn. I 59) : die dämonische Kraft, die natürlich auch nach der Bezwingung ihrer Schützlinge noch in ihnen wirksam ist und den Sie- gern schaden könnte (vgl. die Bundeslade bei den Philistern I. Sam. 4 7), soll in die Hut der eigenen Götter gegeben werden, die sich im Kampfe als die stärkeren erwiesen haben; auch erhalten sie wohl an der neuen Stätte Verehrung.

' Vgl. z. B. bei dem entsprechenden jüdischen Cherem die Unter- schlagung Achans (Jusua 7) und Sauls ('. Sam. 15, 9).

' R. IJeinach meint a. a. 0., ur^prünulich habe man auch jeden fremden Menschen für heilig gehalten nnd sich gescheut, iliu zu töten; die Zeremonien beim Kriegabeginn (s. auch unten) hätten also in erster Linie Schädigungen, die von den Getüteten ausgiug'^n, fernhalten sollen. Gewiß hat solche Absicht auch bestanden, aber auf sie läßt sich durch- aus nicht alles zurückführen; gerade die I id< szeremonie verrät, «iaß man von den Göttern auch positives Eingreifen erwartete. Im allgemeinen gilt heute die Tötung eines Stamuiriemden bei den Primitiven für er- laubt; H. Weule Der Krieg »n d Tiefen d. Menschheit 1916, 34. Vgl. noch Robertson Smith Die Religion d. Semiten, übers, von Stube 1899, 2o8fiF.

» Schwally a. a. 0. 6 tf. Besonders lehrreich 1. lieg. 20, 23 und U. Reg. 3.

Der Krieg in der griechischen Religion 309

als Schützer ihres Volkes. Sie, die vielfach im Kampfe den Heldentod gefunden hatten, die als gewaffnete Krieger fort- lebend und wirkend gedacht wurden, mußten ihre Nachkom- men in Kriegsnot wie in jeder anderen Gefahr schirmen. Die Literatur führt genügend Beispiele dafür an: als die Perser gegen Griechenland heranzogen, standen ihnen zwei Hopliten von übermenschlicher Größe gegenüber, die von den Delphiern als die ^Qcosg kmxiOQioi Phylakos und Autonoos bezeichnet wurden^; vor der Schlacht bei Salamis riefen die griechischen Feldherren unter anderen Göttern auch die Heroen Aias und Tela- mon, die Heroen von Aigina, an und entsandten ein Schiff nach dieser Insel.^ Die Geister, die auf einem abgegrenzten Gebiet Verehrung finden und nach dem Glauben des Volkes dort einst gelebt und gestritten haben, sorgen für dies Stück Land. Right or wrong, my country.

Hauptsächlich aber ruft man natürlich die großen Götter zum Beistand im Krieg an Zum Dank für Opfergaben und Verehrung spenden sie Sieg über den Gegner, der sich weniger um sie gekümm.ert oder überhaupt nicht von ihrem Namen gewußt hat {Q-sol äyvcoöroil). Die älteste Auffas- sung ist darin freilich nicht ausgedrückt, oder wenigstens für sehr viele Fälle nicht. Eine frühere Zeit, die den Gott meistens nicht durch Bitten und 'Jeschenke überredete, hat ihn durch Zauberriten zur Hilfe gezwungen. Im Kommunions- opfer^, im Blutbund und ähnlichen religiösen Sitten machte man ihn wie einen sterblichen Menschen zum Teilhaber der

^ Lerodot VIII 38 f. Weniger, d. Archiv X 230ff.

* Plnt. Ärist. II, :^. Vgl. im ;)]1gemeinen Rohde P-^ydie I 182 ff. ; Szymanski Sncrificia Graeco tim in bellis militari'!, Diss. Marbnrg 1908; Kern Krieg und Kult b. d. Helle e:', Rektoratsrede Halle 1917, 16 f. Das Mo.iv vom Eingreifen himmlischer Helfer in den Streit findet sich in mittelalterlichen Kampfschilderungen (Schlacht auf dem Lechfelde, Eroberung Jerusalems) oft. Wie jeder andere erhält der Gott nun auch seinen Anteil an der Beute, den ,, Zehnten" ein Gedanke, der sich mit dem des Tropaions gekreuzt hat.

' Robertson Smith, a. a. 0. 243.

310 Friedrich Schwenn

Genossenschaft, der ebensowenig wie irgendein anderes Mit- glied von dem Bund zurücktreten konnte.^

Ein Abglanz dieser Zustände liegt über unserer ältesten literarischen Quelle, der Ilias. , Hier sind die Götter mit Leiden- schaftlichkeit in zwei Parteien gespalten, die den Angreifern oder Verteidigern kraftvoll beistehen. Die Dichter der Ilias freilich und mehr noch ihre Nachfolger, die sich an die Spuren jener Großen anschließen, haben dies Verhalten durch die bekannten Mythen von der Beleidigung ApoUons, dem Parisurteil usw. menschlich zu begründen versucht. Das darf uns nicht täuschen, wie es einst Niese* getäuscht hat, zu- mal doch, von Apollon abgesehen, der echte, alte Homer keinen Grund für die Parteinahme der übrigen Götter in dem Streit um Troja angibt. Diese muß vielmehr in den Tat- sachen des Kultus oder der Sage begründet sein.*

Von den sechs großen Gottheiten, die das Land des Pria- mos beschirmen, scheidet von vornherein Athena aus. In der Rolle als Helferin der Troer erscheint sie nur an einer einzigen Stelle, und diese ist von Bethe* mit über- zeugenden (Jründen als ein später Einschub nachgewiesen worden. Es ist eine Reminiszenz an einen anderen Ort, vielleicht Athen selbst, wenn sie als Burggöttin gedacht ist und von den troischen Frauen mit einem Peplos beschenkt wird.^

Aphrodite ist in demselben Augenblick zur Troerin ge- worden, in dem man ihren Sohn Aineias unter die Troer auf- nahm.^ Eine Aphrodite Aineias wurde im Westen der grie-

' Über flie (löfcter der liiBtorischen Zeit ah Kiiegshelfer s. Kern a.a.O. 8 ff.

' hnlvichlun'j d. Homer. Poesie, 104.

* lledun Homerische Götterstudie», Dias. Upsala, 1912, 34ff. ; Bethe Homer I 104.

* a. a. 0. 228 ff.

* Diiinmler PW II 1946; anders Gruppe ^'r. Myth. 26.

* So auch Bethe a a. 0. 364.

Der Krieg in der griechischen Religion 311

■chischen Welt verehrt^; wenn auch direkte Zeugnisse für ihre Yerehriing in Altgriechenland fehlen, so muß sie doch, schon weil sich aus dem Beinamen eine selbständige Persönlichkeit entwickelt hat, eine altachäische Göttin gewesen sein.* Wann und wo Aineias zum Kampfgenossen Hektors gemacht wurde "und mit ihm seine göttliche Mutter auf die Seite der Troer trat, muß allerdings dahingestellt bleiben. Mit Aphrodite ist im Epos der „Kriegsgott" Ares eng verbunden, ein Freund der Troer wie sie.' Auch in Wirklichkeit war er an ver- schiedenen Orten Griechenlands, besonders in dem achäischen Thessalien und Boiotien, ihr Kultgenosse.* Ein Dichter, der <3ie Beziehungen des Ares zu Aphrodite kannte, durfte beide nicht voneinander trennen und machte daher auch Ares zum Troer.

Der wichtigste Schützer Ilions ist Apollon, der Sohn der Leto, Bruder der Artemis, die ebenfalls der Stadt beistehen. Keinem Troerhelden persönlich verbunden^, beschirmt er das ganze Reich des Priamos und gebietet auch in den umliegen- den Ortschaften.^ Kein anderer der Himmlischen, beinahe der Vater der Götter und Menschen selbst nicht, ist innerlich so bedeutend aufgefaßt wie er; ohne viel Reden, aber mit unheim- licher Tatkraft, in etwas finsterer Männlichkeit, straft er Be- leidiger, steht er Schutzbefohlenen bei; mit vornehmer Geste, ohne sich irgend etwas zu vergeben, meidet er den aussichts-

^ Dion. Halic. ant. I 50 ; 53 ; Curtius Hermes X 243 ; Imhoof-Blumer Wiener Numismat. Zeitschr. X 133.

* Über Achäer in Unteritalien s. Hoffmann Gesch. d. griech. Sprache I, 36.

' JZ. V 354 ff. (Aphrodite, von Diomedes verscheucht, bittet ihren xaöiyvrirog Ares um seine Pferde, damit sie zum Olymp kommen kann). XXI 416 f. (der von Athena besiegte Ares wird von Aphrodite getröstet); über Od. VIII 266 ff. s. u. 320.

* S. u. S. 320.

* Betbe a. a. 0. 364; Bethes Folgerung daraus (nach Niese) lehne ich aber ab.

« Wernicke PTF II 81f.; v. Wilamowitz Hermes 38, 575 ff.

f^l2 Friedrich Schwerin

loseu Kampf gegen seine Genossen und verläßt die Stadt, als ihr Schicksal unabwendbar geworden ist. Der Dichter erspart ihm die Schmach der Niederlage; man möchte meinen, Homer hat noch den wahren Glauben an ihn gehabt, der ihm bei den anderen Himmlischen schon in beträchtlichem Maße ge- schwunden war. Es ist eine ähnliche, nur gewaltig gesteigerte Anschauung, wenn der Schöpfer des Homerischen Hymnus die übrigen Götter vor ihm erzittern läßt --- ein Versuch, den Gott, der auf der Inselwelt die erste Stelle einnahm, selbst dem Zeus gegenüber zu steigern, eine Art Opposition der Apol- londiener gegen den höchsten Gott des Epos. Wenn iliu die Dichtung zum Hauptgott der kleinasiatisch -äolischen Städte machte, so war das Lokalkolorit, mag er nun diese Rolle schon vor der Einwanderung der Griechen in Troja selbst ge- spielt haben ^ oder durch die Griechen oder gar erst durch Homer dorthin übertragen sein. War er dort heimisch ge- worden, so mußten ihm Artemis und Leto, die im Gebiet des Agäischen Meeres häufig seine 7t('Qsd{)0i waren, nachfolgen.

Daß noch der Skamandros und sein Nachbar Simoeis auf Seiten der Belagerten stehen^, bedarf keiner l)esonderen Be- gründung. Flußgötter erhielten ja auch in der Wirklichkeit des religiösen Lebens Verehrung^; warum sollten sie nicht auch in den Krieg, mit dem sie eigentlich ihrem Wesen nach nichts zu tun hatten, eingreifen können?

Der Götterapparat der ilias beruht also nicht insofern auf Kulttatsachen, daß etwa nur Götter, die im historischen Troja verehrt sein mögen, auch im Epos dorthin gestellt wurden. Vielmehr hat die dichterische Phantasie, deren Ausgangspunkte wir noch einigermaßen feststellen können, mit den gegebenen Kulten ziemlich frei geschaltet. Für die («riechen würde eine ähnliche Untersuchung entsprechende Resultate ergeben.

' V, Wilamowitz a. a. 0.

' IJ. XXI. » Stengel G riech. Kultusallertümcr' 136.

Der Krieg in der griechischen Religion 313

IV Palladion

Die kriegerischen Göttergestalteu und ihre Tätigkeit, die wir bisher kennen gelernt haben, sind den Griechen mit man- chen anJi ren Völkern gemeinsam. Der Welt des Agäischen Meeres eigentümlich aber sind, soweit ich sehe, die Dämonen, die durch die sogenanuten Palladien^ verkörpert werden.

Sie gehören schon der kretisch-mykenischen Kultur an und sind vieileit:ht, weun wir auf diesem unsicheren Gebiete Ver- mutungen wagen wuütif, den , .karischen" Ureinwohnern Grie- chenlands und der Inselwelt zuzuschreiben. Furtwängrler ^ zählt ihrer drei aus der kretisch mykenischen Zeit auf: auf einem Goldring aus Mykene^ steht neben einer Adorations- szene und relioriöseu Symbolen in der Luft eine Menschen- gestalt mit deutlich erkennbarem Kopf und Extremitäten, deren Leib durch einen großen Schild verdeckt wird, während die Hand eine Waffe trägt; ein „frühmykenischer" Pinax aus Mykena^ btelit ein ähnliches Idol dar, das auf beiden Seiten von je einer weiblichen Person angebetet wird; eia Goldring aus Knossos^ zeigt eine in der Luft schwebende Figur mit Lanze, aber ohne Schild, dahinter eine Säule und eine Ein- friedigung, die von Baumzweigen überragt wird. Solche „Palladien*', wie sie nun auch in der Literatur genannt werden, finden sich noch in späterer Zeit in Griechenland, in Argos, Athen und an mehreren Orten im Westen der griechischen Welt.6

Man darf vermuten, daß ihre älteste Form sehr einfach war: ein Pfahl, darauf ein lielm gesetzt, ein „mykenischer"

^ f. 'ardner JHS XUI 21flF.; Furtwängler Ähtike Gemmen IIT 38; Evans JHS XXi 170 EF.: Sieveking b. Röscher Lex. III 130 Itf. Vgl. Chavannes De Palladü r iptu Burl. Diss. 18^1.

* a. .^ 0. II; 38. •• Furtwängler a. . 0. Taf. II 20.

* 'Ecprifi. ccQx. 1887, Taf. X 2, Rodenwaldt Athen. Mut. 37, 129flF., Taf. VllJ.

^ Furtwängler a. a. 0. III 36 Fig. 13. « Chdvannes a.a.O. 34fF., 38ff., 57£F.

3J^^ Friedrich Schwenn

Scliild und eine Lanze angelehnt; dann wurden Gesicht und Gliedmaßen roh angedeutet. Der hochberühmte Gott von Amyklä, einst Hjakintlios\ später Apollon benannt, war noch in dieser Art aus Erz gebildet; der Schild freilich fehlte, zu der Lanze aber war noch, vermutlich um den aoyvQotö^og Apollon zu kennzeichnen, ein Bogen hinzugefügt, der Körper glich einer Säule. Die beiden zuerst genannten mykenischen Bilder könnten ebenfalls diesen Typus darstellen, was auch die steife aufrechte Haltung nahelegt. Natürlich aber geht die Entwicklung darauf hinaus, das alte ^öuvov immer mensch- licher darzustellen, und sie läuft bis zu dem Höhepunkt, den die Athena Parthenos des Phidias darstellt; denn die Bewaff- nung der Athena mit Helm, Schild und Lanze darf wohl wenigstens mittelbar auf das alte Palladion zurückgeführt werden*, um so mehr, als die Sage das angeblich troische Pal- ladium als Kultbild der Athena ausdrücklich bezeichnet.'

Man hat sich die Frage vorgelegt, ob der alte Palladion- dämon männlich oder weiblich gedacht war.* Mir scheint, die Fracrestellun<>; ist unrichtig. Männliche und weibliche Da- monen werden gewiß schon seit alter Zeit auf verschiedenen Gebieten, z. B. in der agrarischen Religion^, unterschieden, aber nicht überall. War der Speer, den wir oben kennen lernten, männlich oder weiblich? Sicherlich hat niemand dar- über nachgedacht. Von dem Speer ging eine göttliche „Kraft" aus, die man wenigstens in der Frühzeit nicht allzu anthroporaorph dachte. Und das dürfte auch für das älteste Palladium gelten. Erst der weiteren Entwicklung, bei der die Meuschen die

> Tff]. über das Kultbild usw. Tsuntas 'Ecpr,(i. änx- 1892, Iff.; Evnns a. a. 0. 120 f.

' Dümraler JMT II 1905 führt die ganze Gestalt der Athena auf den alten Palladiondämon zurück. Es könnte aber auch eine Typen- öbertragung vorliegen.

' Chavanne-t a. a. 0. 27.

* S. Evans a. a. 0. 170, dazu Sieveking a. a. 0.

* Z. B. durch Vergleichung des Säens mit dem Zeugen.

Der Krieg in der griechischen ßeligion 315

Dämonen immer mehr nach ihrem eigenen Bilde umwandel- ten, blieb es vorbehalten, den mit magischer Kraft begabten Pfahl ^ zum göttlichen Mann oder Weib fortzubilden. Wie das im einzelnen geschehen ist, entzieht sich unserer Kennt- nis; allgemein aber dürfen wir wohl sagen, daß das alte Palladion sich meistens an die Hauptgottheit eines Ortes, die männlich oder weiblich war, angelehnt und von ihr das Ge- schlecht angenommen haben oder ganz in sie aufgegangen sein wird. Auf dem Goldring aus Mvkene z. B. sehen wir das Palladion neben dem Doppelbeil und den noch unper- sönlichen Figuren von Sonne, Mond und Meer oberhalb einer Göttin, die durch die Blumen in der Hand und den heiligen Baum hinter ihr wohl als Yegetationsgottheit gekenn- zeichnet wird. Sollten hier nur die Hauptdämonen, die man verehrte, von der Hand des Künstlers zusammengestellt sein oder sollten diese nicht vielleicht auch an einem einzigen Ort gemeinsam ihren Kult gefunden haben? Im alten Tempel der Akropolis fand sich alles mögliche zusammen, das adog der Göttin, der heilige Ölbaum, die Schlange, später auch der Altar des Hephästos, und für die kretisch-mykeuische Epoche ist Ahnliches vorauszusetzen. Lokalisierte man das Palladion in der Nähe einer weiblichen Gottheit, so konnte die letztere leicht die Formen des Palladions annehmen, also als bewaff- netes Weib geschaut werden. Auf diese Weise kam ebenso- wohl die mit Helm, Schild und Lanze bewehrte Athena^ wie etwa eine gerüstete Aphrodite in Sparta^ auf. An anderen

^ Tb TlalXccdLov, also weder männlich noch weiblich, doch begann die Unterscheidung nach dem Geschlecht schon in mykenischer Zeit.

* Auch in Mykene scheint das als weiblich erkennbare Palladion in Athena aufgegangen zu sein, vgl. Roden wald a. a. 0. 136. Im übrigen vgl. Chavannes a. a. 0. Der Kult in Argos ist wohl tatsächlich, wie Kallimachos in seinem Hymnus (v. 5 12, 23 30) andeutet, eine Lustration des durch den Krieg befleckten ^öavov gewesen (Chavannes S. 40 f.).

' Paus. III 15, 10.

3 16 Friedrich Scbwenn

Orten wurden unter entsprechenden Umstünden die Palladien zu männlichen Göttern. Die so geschaffenen Typen konnten natürlich nun wieder wandern und auf die Vorstellung von anderen Gottheiten übertragen werden.

Von dem alten Pfahl, der sich gelegentlich zum Dionysos oder Kadnios entwickelte, ging eine übersinnliche Kraft aus, ohne daß iliese besonders ausgeprägt und individuell gewesen wäre.^ Gab mun ihm Wafi'en, so mag sein alter, allgemeiner Zweck noch geblieben sein, mit Notwendigkeit mußte er sich jedoch nun mehr und mehr spezialisieren, er mußte die Waf- fen gegen die Feinde seines Voliies verwenden. Ja, man mochte den Dämon dieses Idols für den einzigen Schützer seiner Stadt halten und Glück und Wohlergehen des Landes eng mit ihm verknüpfen. Diese Steigerung seines Wertes ist an sich psychologisch begreiflich; sie konnte mit verursacht ■werden durch ein aus dem Märchen oder der Sage bekanntes Motiv, wie etwa das lieben eines Menschen von einem bestimm- ten VOM ilinen getrennten Gegenstand abhängig sein kann, ein Motiv, das uns aus der Sage von Althaia und Meleager ^ ver- traut ist Eine Bedingung für sein Eingreifen war aller- dings selbstverstäudl eh: wenn es in der Stadt wirken sollte, so mußte es dort auch wirklich anwesend sein. Denn aus allzu großer Ferne konnten auch die griechischen Götter nicht handeln, und in der Schlacht mußten die Götter, die Hilfe ge- währen sollten, zugegen sein. Ahnlich anderen Völkern, den Itöniern^ z. B, welche die heilige Lanze und den Adler des Juppiter ins Feld führten, gaben deshalb z. B. die Spartaner*

' Wide b. riercko-Norrlen Einleitung i. d. Aller tum sie iss. II 196 (all- gemein).

' Oviü Met. Vil[ 270fr. n. a (Zugrunde liegt allerdings wohl ein Ana- logiezaultor, bei dem Meleager dem Scheit, gleichgesetzt ist; aus der Hand ung, die die Mutter unternimmt, ist die Verknüpfung des Scheites mit dem Helden n.icij rückwärts biuausgesponnen.)

» S. 0. S. 307.

Herod. V 76.

Der Krieg in der griechischen Religion 317

dem ausrückenden Heere Bilder der Tvndariden, die Äo-ineten^ solche der Aiakiden mit.

Doch auch dagegen wußten die gegnerischen Zauberpriester Rat. Sie werden gleich ihren römischen Kollegen magische Sprüche und Gebete gekannt haben, um durch eine evocaiio'^ die Götter der angegriiTenen Stadt herauszulocken' und wo- möglich gar auf ihre Seite zu bringen. Halfen die incanta- menta nicht, so suchte man das i,6avov, an das der Gott selbst ja gebunden ist, durch Raub in seine Gewalt zu brJo fen. Das mag in der Wirklichkeit öfter geschehen sein^, auch die ky- klische Dichtung bietet ein Beispiel dafür: auf Grund des Orakelspruchs, daß Troja nicht genommen werden kann, wenn ihm nicht das Palladion entrissen wird, gewinnen Diomedes und Odysseus die kostbare Beute.' ijie Sage^ dürfte in Ar- ges, der Heimat ties Diomedes, wo es ja auch ein Palladion gab, ihren Ursprung haben.

Gegen Raub wie gegf n magischen Zwang mußten die alten iöava natürlich gesichert werden, und gegen beides, auch gegen die zauberischen Einflüsse, gab es kein einfacheres Mittel als sie festzubinden; ist das Idol gefesselt, so kann auch die Gott- heit, die an ihr Bild gebannt ist, sich nicht fortbewegen. Daß sie logischerweise in diesem Falle auch ihren Anhängern nicht helfen kann, wird nicht überlegt. Tatsächlich finden

* Herod. V 80, Chavannes a. a. 0. 79 f. Noch im letzten Kampf der Antike mit dem Christentum, in der Schlacht au Friaridus wird dem Heer des Eugemus ein Heraklesbild, dem de^ Theodoaius das Kreuz vorgetragen, Weinreich, d. Archiv XVI ff, { A. 4.

2 Wis-owa Bei 38.3 f, Uümmler a.a.O. 1948, Anch die Ethnologie liefert Material: Waitz-Gerlaüd Anihropol. d. A'atur Völker VI 146 f. 342. Hethitische evocatio: Sommer Z. f Assyriol. 33, 11)21, 101.

^ Vielleicht bei lierod. V" 83. Ändere Beispiele s. o. S. 307 Anm. 4.

* Mitgespielt hat natürlich das bekannte Märchenmotiv, daß ein tohes Ziel nur durch besondere, meistens schwer zu erlangende Mittel zu erreichen ist Eine Parallele in demselben Kreis bietet die Herbei- schafFung von Philoktets Bogen.

* Material bei Chavannes 26 ff.

318 Friedrich Seh wenn

wir denn auch in verschiedenen Gegenden Griechenlands ge- fesselte Dämonen. Schon auf einem alten Elektronring üus Mykene^ sehen wir eine sitzende Göttin vor einem Baum mit Bändern um die Oberschenkel, möglicherweise Weidenruten oder etwas Ähnlichem '^, die ein nur mit der Lanze gerüsteter Mann an der Hand berührt. Der Sinn des Bildes ist unklar. War es ein Gott, der sich der Göttin nahte, oder ein sterb- licher Krieger, der sich ihr weihte oder sie vielleicht gar ent- führen wollte? Daß eine Beziehung auf den Kampf vorliegt, beweist jedenfalls die Lanze. Ahnlich war in Sparta die be- reits erwähnte Aphrodite in Waffen mit dem Beinamen Moq- (pG) gefesselt^, ebenso dort das alte ayaX^u des Ares Enya- lios.'* Gleiches wird uns berichtet von Dionysos auf Chios^, Artemis in Erythrai", Aktaion in Orchomenos^ und anderen Dämonen. Polemon und wohl nach ihm Pausanias geben die Erklärung, der also gebundene Gott könne die Stadt nicht verlassen, und der Verfasser der pseudoplutarchischen Quae- stiones Bomanae 61 drückt sich unter Hinweis auf ixxXijasLg xal yorixstca, d. h. Evokationsriten, mit Bezugnahme auf römische Gewährsmänner nocli deutlicher aus. Wir werden darin also die Meinung der antiken Religionswissenschaft zu sehen haben, und es besteht kein Grund, sie zu ver- nachlässigen. Der Gedanke der cvocatio, den wir nach der PaUad ionsage auch für Griechenland annehmen, verlangt bei dem Götterbild eine Ergänzung, eben die Fesseln.^ Neuere

* Furtwänglor a.a.O. III 36 Fig. 14.

' Das Bild der ßpartanischeu Artemis Orthia war mit Lygoszweigen umwickelt; sie hieß daher anch Avyodie^a: Paus. III 16, 11.

' Paus. III 16, 11. Schol. Lyk. 449. Vielleicht war sie sehr einfach dargestellt, wie der Ausdruck xt(5pou t^mdiov nahelegt; sie trug eine xalvnTQu. Vgl. noch Gruppe a. a. 0, 1362 A. 3.

Paus. III 15, 7.

' Polemon FUG III 146, DO. " Ehenda.

' III 15, 7; Polemon a. a. 0.

" So Loheck A'ßnoph. U76; Kohde Psyche I 1''0 A. 3; Radermacher Westdeutsche ZeiUch. XXIV 223.

Der Krieg in äer griechischen Religion 319

Forsclier^ haben die Ansiclit ausgesprochen, in dem Kriegsgott habe man den Krieg selbst bezwingen, d. h. für die Zukunft seinen Ausbruch verhindern wollen. Sollen wir aber wirklich die gefesselten Gottheiten, die uns begegnen, in diesem finsteren Sinne deuten? Konnte ein solches Wesen, wenn es einstmals Mogcpa hieß, in eine Aphrodite aufgehen, anderswo in Dionysos? Auch auf dem mykenischen Elektronring ist nichts derartiges wahrzunehmen. Freilich, nicht alle ^öava ii> dsöfiolg lassen sich auf Palladien zurückführen, und die iins bekannten Palla- dien sind nicht gefesselt. Aber die Palladien waren ja sicher nicht die einzig möglichen Beschützer der Stadt, und was allgemein für nützlich gehalten wurde, brauchte darum nicht in einem jeden Falle angewandt zu werden.

Wenn wir nun im Mythos Fesselungen von Göttern fin- den, so müssen diese auf gefesselte Götterbilder im Kalt zu- rückgehen.^ Das gilt von der auf einen Homerischen Hymnus zurückzuführenden Erzählung^, wie Hephaistos seine Mutter Hera mit einem Zauberstuhle überlistete, auf den sie durch unsichtbare Bande befestigt wurde; Ares versuchte vergeblich, durch Kampf den Schmiedegott zu zwingen, die Mutter zu lösen; erst dem Gott des Weines gelang dies. Irgendwo also wird ein ^öavov gestanden haben, und zwar ein Sitzbild, das Fesseln trug, wie wir es auf dem mykenischen Ring sehen; und der Mythos gab das cdtLOv dazu.

Auch Ares und Aphrodite sind außerhalb Spartas noch

* Z. B. Preller- Robert* 103. v. Wilamowitz GGA 1895, 234 fin- det die Erklärung, die Götter sollten am Fortlaufen gehindert werden, „rationalistisch" und meint, das Bild habe einfach gestützt werden sol- len; eine solche Bedeutung is^t aber z. B. bei dem Elektronring aus Mykene (Bänder um die Schenkel!) ausgeschlossen. Die bekannte Fesse- lung der Toten ist wirklich ein Fernhalten von den Stätten der Leben- den, um Schädigungen zu verhüten.

' Umgekehrt denkt sich das Wide Lak. Kulte 149 (Natursymbolik sieht er darin S. 141).

* V. Wilamowitz NGG 1895, -217ff., bes. 234f., wo die Sage auf das Kultbild der samischen Hera bezogen wird. Malten PTFVIII 344 f.

320 Friedrich Schwenn

an einem andcron Orte in cf/igie «^efessflt gewesen, und zwar nebeneinander, wenn wir die b' kannte Ballade des Demodokos in der Odyssee^ ricthlic^ versieben. Der Kavalirrston, der dem Sang eignet, ist natürlich die' Zutat eiii^s ganz späten ITome- rideuj der Kern ist älter: Hephaistos überrascht seine Gattin Aphrodite beim Ehebruch mit Ares und bindet sie beide nebeneinander im Be-tt mit unsichtbaren, unzerreißl)aren Ketten. Diese Wun-lerdinge sind natürlich Män-hengeräte; das übrige ist eine äliologiscbe Le'jjeude, der die zusanimengeljundenen i,6ccva (\or i>eiden Götter zugrunde liegen. Der weii»^re Gang der ausgestaltenden Phantasie ist leicht zu erkennen: Wie konnte 'Aphrodite, die doch nach dem Homerischen Hymnus Gattin des TTephaistos war, neben dem Krieger stehen? Wurde die Verbindung mit ibm erst einmal ins Menschliche übertrngen, so konnte das Verhältnis nur als Ebebruch aufge- faßt werden, die Fesselung aber als das Werk des llephaistos in Anlehnung an das volkstümliche Motiv vom betrogenen, Rache heischenden Ehemann.* v. Wilamowitz^ freilich ver- sucht, diese lockere Geschichte als eine Fortbildung des er- wähnten Ilephaistoshymnus zu erlilären. Nun war aber tat- sächlich an einigen Orten Ares der Parhedros der Liebes- göttin, beide wurden in demselben Tempel verehrt', und die Prif'ster werden diese Tatsache als Ehe der G(>tter ge- deutet haben. Sollte ein Dichter da selbständig auf denselben Gedanken gekommen sein?

Ilonifr kennt noch tinen zweiten Fesselnngsmythus von Ares, allerdings diesmal von Ares allein. Nach der llias^ haben die Aloaden Otos und Ephialtes, die an dieser Stelle als Menschrn, sonst als gewaltige Hiesen erscheinen, einst den Gott gebunden ujid drei/.ehn Monate lang in einem ;j^aAxot)s

' vnr «^ßßff.

' V^l. z. n. in den Gritrmflchen Märchen: Der alte Ilihlehrand.

' ji. ii. O. * Paus. I! *25, 1.

» V 386 ff.; Torpffer PW l 1591.

Der Krieg in der griechischen Religion 321

XEQU^og^ versteckt gehalten, bis der Gott der Diebe selbst sich bemühen mußte, ihn wieder herauszustehlen. Der allgemeine Rahmen, in den die Geschichte eingespannt ist, ist die Vor- stellung von einer zeitweisen Überlegenheit der Riesen über die Götter, wie sie auch der altgermanischen Mythologie ver- traut ist. Der wesentliche Bestandteil ist wieder die Fesse- lung des Ares, die an einem Kultbild beobachtet und vom Poeten in die Vorzeit als Erlebnis des Gottes verlegt wurde. Das Motiv wurde in burlesker Art erweitert, indem man den Gott, seiner Würde nun ganz beraubt, in eine kleine, mit Ge- walt nicht zu sprengende Tonne stecken ließ, in der er, der gewaltige Kriegsherr, in völliger Ohnmacht, mehr als ein langes Jahr schmachten muß^; Hermes, der von Kindesbeinen an im Stehlen Übung hat, holt ihn wieder heraus. Nur ganz Gewaltige konnten es gewesen sein, die dem streitbaren Kämp- fer die Schmach antaten: man wählte dazu zwei auch sonst bekannte Dämonen, die wertvoll für das Lokal der Sage! im nordöstlichen Griechenland, allenfalls auch auf Kreta, einst Verehrung gefunden haben.

Überall in Griechenland also hat es Gottheiten gegeben, die für die Existenz der Stadt unbedingt notwendig waren, wohl die Vorläufer der späteren d-sol noXiovioi, im besonderen der Athena UoX.ccg. Vielfach waren es die großen Gottheiten männlichen und weiblichen Geschlechtes, an die man sich auch mit anderen Wünschen gewandt haben mag, häufig aber auch die eigentlichen Palladien.

Noch ein Wort über diese letzteren. Sie waren natürlich, ihrer Bedeutung entsprechend, hochheilig, und wer sich zu ihnen flüchtete, war gegen irdische Feinde und Rachegeister

' Die Stadt Keramos in Kleinasien wollte davon ihren Namen er- halten haben. Schol. D II. V 385. Lokalisierung auf Kreta: Steph. Byz. u. d. W. Bievvog.

^ Das ist Steigerung des ersten Motivs; mythologisch hat es deuten wollen z. B. H. D. Müller Mythol. d. grtech. Stämme II 50.

ArchiT f . BeligionB\vi88eu8ch.aft XX. 3/4 21

322 Friedrich Scliwenn Der Krieg in der gi-iechisclien Religion

gesichert. Die Sage von Kassandra, die sich nach der Er- oberung Trojas an das Palladion retten wollte, dort aber von Aias geschändet wurde ^, ist ein Ausdruck dieser Stellung. Auch wer Blutschuld auf sich geladen hatte, brachte sich dort- hin in Sicherheit und fand dort eine Freistätte. Wer freilich vorsätzlich einen Mord begangen hatte, wurde von der Göttin, die in einer ethisch weiter entwickelten Zeit durch ungerecht vergossenes Blut befleckt wurde, oder ihren Priestern zurück- o-ewiesen. So kam allmählich in Athen die Gewohnheit auf,, daß die av-ovöiai ccTtoxTSLvccvteg am Palladion ^ zunächst ein Asyl, dann auch Urteil fanden. Damit kam dort das dLxa6rr]Qiov knl IJal/.adCG} für diesen Spezialfall der

Tötung auf. (Forteetanng folgt.)

' Chavannes a.a. 0. » Fans. I 28, 8.

Die Sage Yon der Taufe Jesu und die Yorderorientalisclie Taubengöttin

Von Hugo Greßmann in. Berlin-Schlachtensee.

(Fortsetztmg ub^ SobluB von S. 40)

11. Die Geschichte der Taubengöttin ist natürlich mit der Geschichte der Taubenzucht aufs engste verbunden; und darum darf man auch scheinbare Umwege nicht scheuen. So beginnen wir mit der noch immer heiß umstrittenen Frage^ ob und wieweit die Israeliten Taubenzucht getrieben haben.-' Nach dem gegenwärtigen Stand der Forschung kann man die Taubenzucht überhaupt an der Hand ägyptischer Zeugnisse^ bis in die V. Dynastie zurückrerfolgen, d. h. bis rund um 3000 V. Chr. Sie scheint, wie sich zeigen wird, in Assyrien nicht jüngeren Datums zu sein, und damit ist wenigstens die Möglichkeit gegeben, sie auch in Israel für alt zu halten. Folgende Tatsachen kommen in Betracht:

Erstens kennt der israelitische Kultus keine Opfer von wilden Tieren; von Vögeln werden nur Tauben und Turtel- tauben dargebracht.^ Schon dies spricht dafür, daß sie zahmes Geflügel, und zwar das einzig zahme Geflügel waren.

Zweitens gab es zur Zeit Christi, wie wir aus dem Neuen Testamente erfahren*, und gewiß schon vorher besondere

^ Die meisten Forscher denken an zahme. Tauben beim Opfer, anders, wie es scheint, Stade Biblische Theologie \ S. 163.

* Die Belege hat gesammelt von Bissing Die Mastaba des Gem-ni-kai Bd. 1 S. 38 Nr. 29. Er nennt dort aus dem Alten Reich: Lepsius D. II 70 (Vorführung des Viehhofes in der Grabkammer des Manofer V. Dyn., jetzt Berlin; neben Enten, Gänsen, Kranichen erscheinen dort Tauben); Ptahhetep ed. Research Account Taf. 31. 37; Ptahhetep II Taf, 13. 17 und aus dem Mittleren Reich: Beni Hassan II Taf. 6.

« Lev. l,4tf.; 5, 7fF.

* Mark. 11, 15; Matth. 21, 12; Joh. 2, 14. 16.

21*

324 Hugo Greßmann

Taubenhäiidler, die im äußeren Vorhof des Jerusalemisch f^n Tempels ihre Ware feilboten. Ilätte man ursprünglich wirk- lich wilde Tauben zum Opfern genommen, so mußten doch die starken Bedürfnisse des Kultus von selbst zur Zähmung führen.

Drittens wird wenigstens an einer Stelle des Alten Testa- mentes, die etwa aus der Zeit um 450 v. Chr. stammt, deut- lich^ Taubenzucht vorausgesetzt:

Wer sind die, die wie die Wolken daherfliegen, wie die Tauben zu ihren Dachluken?' Daraus folgt zugleich, daß man damals Nistplätze auf den Dächern der Häuser' anzubringen j>flegte. Genau dasselbe er- fahren wir aus den römischen Schriftstellern: die halbzahmen Feldtauben wohnten mei>t in Schlügen, die als Türme auf den Dächern der Landhäuser errichtet waren*; im übrigen suchten sie ihr Futter gewöhnlich auf dem Felde. Einen an- tiken Taubenschlag finden wir dargestellt auf einem Mosaik aus Falestrina.^

Viertens, ausdrücklich erwähnt werden zahme Tauben in Palästina /.uer.st von Josephus: in dem zur Köuigsburg von Jerusalem gehörigen Park gab es zahlreiche Wasser 'und um die Teiche herum viele Türme zahmer Tauben'.'' Danach wird man zwischen den Taubenschlägen der Armeren auf den

' Mit Unrecht schließt man aus der Sintflutsage, daß die zurück- kehrende Taube zahm gewesen sein müsse. Da Noah durch eine Probe feststellen will, ob die Erde trocken geworden ist, braucht er notwendig einen wilden Vogel. * Jes. 60, 8.

^ Das hebräische Wort m3^^< deutet nicht auf freistehende Türme, srindern auf Fenster oder Dachluken (des SöUfTs) hin, trotz des Tar- gnras z. St. Sonst unterscheidet der Talmud zwischen M">by "^21"* Söllertauben und *]aTC •>:T' Turmtauben B. bathra 1, 6. 6.

Varro HI 7,1; Columella VlII 8,1; Palladius I 24.

'' Daremberg-S.tglio iJirlioyinmre 1 1333 Fig. 1737; Becker-Göll Galluft I 112; Jahrbuch des arch. Instituts 1916 S. 16.

Josephus Jirll. Jnd. 5,4,4 181 Niese): xal noXXol Trepi. väfiara Ttvgyoi 7ttXiiäS(av Tifiigcov.

Die Sage Ton der Taufe Jesu u. die Torderorientalische Taubengöttin 325

Dächern der Wolighäuser und besonderen Taubentürmen der Vornebmeren unterscheiden müssen. Galen berichtet uns, daß man in seiner Heimat, zu Pergamon in Blleinasien, Türme auf dem Laude errichtete, um die halbzahmen FelJtauben anzu- locken und zu unterhalten.^ Im heutigen Palästina sind solche Türme unbekannt, wie überhaupt keine Taubenzucht mehr getrieben wird; wohl aber werden sie noch im Talmud viel- fach erwähnt.^ Wir kennen sie aus dem modernen Ägypten' und ebenso aus dem Hauräu, wo die Gemeindetaubenhäuser {■7CCQL6r£Q£äves) der griechischen Inschriften ihre Abbilder noch in der Gegenwart besitzen. Wetzstein schreibt: „Noch heutigentags hat man deren, und sie sind für Ortschaften, die in der Nähe großer Städte liegen, von großem Nutzen. Weiß man sie gegen Schlangen und Marder (nims) zu schützen, so gibt oft ein einziges Taubenhaus eine jährliche Rente von mehr als 1000 Talern. Es ist ein über 30 Ellen hoher, runder oder quadrater freistehender Turm, el hurg (Tauben- burg) genannt, von Bruchsteinen oder Ziegeln aufgebaut. Oben ist er offen, und seine inneren Wände sind mit Löchern für das Nisten und mit Treppen oder Leitern versehen. Unten hat der Turm eine Türe. Gefüttert werden die Tauben nie- mals. Die Jungen werden immer des Vormittags ausgenommen, wenn die Alten, um Futter zu holen, ausgeflogen sind"*

Fünftens kommen noch archäologische Funde in Palästina hinzu, deren Deutung freilich bisher noch umstritten ist; sie ■ind indessen noch nirgends gesammelt und eingehend unter-

' Galenus De compositione medicamcntarum per genera II iO tom. XIII 5U Kühn.

* Ygl. Samuel Kr»uß TalmudiscJie Archäologie. Leipzig 1911. II S.138f.

^ Abbildungen bei C. B. Klunzinger Bilder aus Oberägypten*. Stutt- gart 1878. Fig. 9 S. 117; Heinrich Schäfer Lieder eines ägyptischen Bauern. Leipzig 1903. S. 121.

* J. G. Wetzstein Beisel er icht über den Hauran vnd die Trachonen. Berlin 1860. S. 73 Anm.

326 Hugo Greßmauu

sucht. Selten in Gebäuden, meist in den »lebendigen Felsen gehauen, entweder über de^ Erde, sogar dreistöckig', oder in Höhlen und Grotten unter der Erde, bisweilen mit Zisternen oder Gräbern verbunden^, finden sich kleine Nischen in ver- schiedener Zahl, bald zu 10, bald zu 100, bald zu 1500 oder gar 2000. Bei dem geringen Umfang der Nischen und ihrem kleinen Abstand voneinander^ ist es unmöglich, daß sie mit oder ohne Urnen Aschen- oder Knochenreste geborgen und als Grabkolumbarien gedient haben sollten. Leicheuverbreu- nunof war überdies bei den Juden nicht üblich weder in der Heimat noch in der Fremde; sie wurde von ihnen sogar in Rom verschmäht/ Gegen die Annahme, daß hier Römer be- stattet seien, spricht schon die große Zahl der bisher in Pa- lästina nachweisbaren Anlagen. Ihre Deutung als Grabstätten ist vollends unwahrscheinlich da, wo diese Nischen mit Schiebe- gräbern verbunden sind, wenn mau nicht die Gleichzeitigkeit beider leugnen will. Dal man hat daher vermutlich recht, wenn er nicht an Grab-, sondern an Taubenkolumbarien denkt ^, sind

» Vgl. Gnstaf Dalman Petra I S. 230.

» Vgl. Palüstinn-Jahrbuch IX 1913; X 1914 S. 30.

' Zwei Beispiele mit genauen Maßangaben Cndet man bei Dalman Petra I S. 230. Die Niscben des Kolumbariums in Petra z. B. haben „sämtlich eine Öffnung von nur 0,25 m im Quadrat und eine Grund- fläche von 0,25 zu 0,19 m, wobei die Uinterwand nicht senkrecht, son- dern nach vorn gewölbt ist. Sie entsprechen nicht den Nischen römi- scher Kolumbariengräber, welche für eine in den Boden zu senkende Urne iJaum bieten, denn ihr Zwischenraum beträgt nach allen Seiten nur 9 cm." Wohl aber gibt es ein Kolumbariengrab in dem etrurischen Bieda, das ebenfalls sehr enge Zwischenräume hat, und dessen Nischen ebenfalls sehr klein sind (0,20 m hoch, 0,15 m breit und 0,29 m tief); vgl. H. Koch, E. V. Mercklin, G. Weickert Bieda (Mitt. des kais. deut- schen arch. Instituts zu Rom 1915 S. 292). Man beachte auch, daß die Nischen hier ebenso wie in Petra bis auf den Boden gehen und so eine bequeme Mögliclikeit für räuberische Katzen und Marder bieten würden.

* Vgl. Nikolaus Müller Die jüdische Katakombe am Montererde zu Born. Leipzig 1912. S. 16.

' Vgl. Dalman Petra I S. 230 und vereinzelt im Palästina- Jahrbuch, besonders IV 1908 S. 29; VIII 1912 S. 25.

Die Sage von der Taufe Jesu u, die vorderorientalische Taubengöttin 327

doch Felsspalten oder leere Zisternen während der heißen Tageszeit oder des Nachts ein bevorzugter Aufenthaltsort der wilden Tauben.

Die Taubengrotten, von denen es fünf allein bei Jerusalem gibt, sind nicht auf das jüdische Gebiet beschränkt; sie be- gegnen uns ebenso in Philistäa besonders berühmt ist eine dieser Anlagen mit 2000 Nischen bei het dschibrm^ , ferner in Ammou bei 'aräJc el-emär mit 1500 Nischen^, in Gilead beim wädi el-röle^ und anderswo. Ihr Bereich geht im Süden bis nach Petra, der nabatäischen Hauptstadt^, und im Norden bis nach Kara Hissar in Pontus^, man darf also sagen vom Roten bis zum Schwarzen Meere.

Die Zwecke, zu denen man die Tauben anlockte, werden yerschieden gewesen sein. Wirtschaftliche Gründe, an die der moderne Mensch zunächst denkt, haben vielleicht nicht ganz gefehlt, haben aber schwerlich den Ausschlag gegeben; sonst wäre nicht zu verstehen, warum die Taubenzucht aus dem heutigen Palästina gänzlich geschwunden ist, wenn man auch annehmen mag, daß sie durch die Hühnerzucht stark beein- trächtigt wurde. Dazu kommen zweitens kultische Beweg- gründe. Man brauchte Tauben als Opfer für Jahve in Jerusalem; außerhalb des jüdischen Gebiets pflegte man sie noch eifriger als die heiligen Yögel der Astarte. Beide Erklärungen sind

PEF Quart. Stat. 1901 S. 11 ff.

2 Greßmann Palästina- Jahrbuch IV 1908 S. 129; Dalman ebd. VII 1911 S. 29 und Petra 1 S. 230.

" Palästina-Jahrbuch VI 1910 S. 21.

* Dalman Petra I S. 230.

^ W. J. Hamilton Reisen in Kleinasien, Pontus und Armenien. Leipzig 1843. II, 278: „In mehreren (Höhlen), die ich betrat, fand ich viele Reihen kleiner Nischen oder Columbaria von 8 Zoll ins Geviert, die entweder als Taubennester oder zum Einstellen von Aschenkrügen benutzt worden sein mögen. Weiter unten waren die Klippen zur Linken bis zur Höhe von etwa 200 Fuß mit ähnlichen Öffnungen gleich- sam durchlöchert, von denen nur wenige mehr als zwei Fuß Durch-, messer zeigten."

Q9g Hugo Greßmann

aber wohl nur da erlaubt, wo man Tempel in der Nähe der Taubeugrotten voraussetzen darf, wie in Jerusalem, Petra oder 'arak d-emlr} Dann bleibt jedoch noch eine große Zahl von Anlagen übrig. Sie scheinen auf einen Zusammenhang der Tauben mit dem Totenglauben hinzudeuten. Diese Ver- mutuufT letren nicht nur die bereits erwähnten Beispiele nahe, in denen die Nischengruppen mit Gräbern verbunden sind, sondern auch mehrere griechische Inschriften aus Batanaea, Trachonitis, kurz aus der Gegend südlich von Damaskus. Danach pflegten die Syrer über ihren Grabmälern Taubentürme zu errichten. Die nicht vom Neuen Testamente, sondern von der homerischen Epik beeinflußten Epigramme' lehren, daß es sich um heidnische Syrer handelt. Ofienbar sah man in den Tauben Seelenvögel, ein Glaube, der ja im antiken wie im modernen Orient weit verbreitet ist, und der auch im Alten Testamente bezeugt wird.^ Damit hängt es gewiß zusammen, wenn uns auf den Bildwerken der jüdischen Katakomben in Rom auch Tauben begegnen, so nicht nur in der Katakombe der Vigna Randonini, in der sich starke fremde Einflüsse bemerkbar machen, sondern auch in der von Nikolaus Müller aus- gegrabenen Katakombe des Monteverde, die streng konservativ Ton Tierfiguren nur Tauben und vielleicht noch eine zweite Vogelart enthält.* Dieser Unterschied ist sehr bezeichnend,

' Daß dort kein Falaat, Bondern ein ammonitischeB Heiligtum lag, hatte schon de Saulcy Voyage en t>rre sninie S. '224 vermutet. Den Beweis dafür hat H. C. Butler erbracht: Ancient Architecture in Syria. Leiden 1907 S. 15 IF. (Publications of the Princeton University Archaeo- logical Expedition to Syria in 1904—6. Div. II).

* (;. Kaibel Kpigminmata Graeca. IJerün 1878. Nr. 441,9: xai icTiöt Tivffyov vnsQ9tv evnrtQvyBßOi jrtitiatg; 448, 3: ngög 3h TtEXBtaiOLv iöiLOV af^pO^irov; 450, 2: iezl 8' ifiov xaQ-vnBQQs neXBiccwv äo^og inig; 452,13: avzÜQ imeg^fp i\itlo nsliäoi xaior ^dE^/x8»' | xöonov r/jitqpaj;^ TixiQyov &()ijiQtnio(. Die Inschriften stammen aus dem 2. 3. Jahrh. n. Chr.

* .Jes. 2'J, 4. 7; Ps. 73, 20; 90, 10; Weilhausen Beste arabischen Heidentums * S. 186; Erman Ägyptische Religion * S. 103; Deverria Papyrus l^'ebd-Qed p. III; Kargo Rephaim S. 667 flF.

* Nikolaus Müller a. a. 0. S. 89.

Die Sage von der Taufe Jesu u. die vorderorientalische Taubengöttin 329

und man hat eben darum kein Recht, die Darstellung der Tauben mit dem Entdecker für ein nichtjüdisclies Element auszugeben.^ Gewiß war die Taube oder der Yogel überhaupt als Erscheinungsform der Seele den Griechen und Römern eine ebenso geläufige Idee wie später den Christen^, aber die Juden brauchten diese schon im Alten Testament bezeugte Anschauung nicht erst auf römischem Boden zu übernehmen. Nach alledem wird man sagen dürfen, daß dem ortho- doxen Judentum der Zeit Christi die Taube als Totenrogel galt, und daß eben darum vielfach Taubengrotten ausgehauen wurden; die Fürsorge für die Vögel bedeutete zugleich eine Fürsorge für die Seelen, oder umgekehrt. Man wird sich freilich hüten müssen, hier wie bei allem Volksglauben, die Begriffe allzu scharf zu pressen. Wenn noch heute die mos- limischen Gräber mit Vertiefungen versehen sind, in die man Wasser zu gießen pflegt, so wird das gewöhnlich als eine Wohltat für die Vögel erklärt^; da aber auch nach arabischem Glauben die Seelen der Toten ebenso durstig sind wie die Vögel*, so fällt das Interesse für beide zusammen, ohne daß zwischen beiden begrifflich klar geschieden werden könnte. Es ist auch nicht erlaubt, weitere Folgerungen daraus zu ziehen, als ob es deswegen etwa verboten sein müßte, Tauben zu essen; das volkstümliche Denken ist stets abrupt und be- ichränkt sich auf einzelne fragmentarische Ideen, ohne ihre Konsequenz8D zu verfolgen. Demnach gehören die Tauben-

> Ebd. S. 82.

' Georg Weicker Der Seelenvogel. Leipzig 1902 S. 26 f.; B. Lorentz Die Taube im Altertum (Schulprogramm) Würzen 1886. S. 38ff. ; Hein- rich Günter Die christliche Legende des Abendlandes. Heidelberg 1910. S. 13. 45. 86. U2. 148. 191; Nestle ZNTW. Vll 1906. S. 359; 0. Gruppe Griechische Mythologie und Eeligionsgesckichte S. 237 f.; 794*; 1344*; Eduard Hahn Die Haustiere S. 337f.

' Dalman Die Schalensteine Palästinas, Palästina -Jahrbuch IV 1908 S. 40.

* Alois Musü Arabia Petraea. III. Wien 1908 S. 451; Hugo Greßmann Dohnen, Masseben, Napflöeher ZATW. XXIX 1909 S. 115.

330 Hugo Gießmann

türme der Syrer und die Taubengrotteu der Juden, wenigstens teilweise, zu demselben Vorstellungskreis des Seelenglaubens. Der Unterschied ist zunächst rein technisch : die Juden haben neben ihren Grabtürmen oder -Masseben, die man sich, um ein Beispiel zu nennen, nach Art des Zacharias-Grabes im Kidron- tal vorstellen muß, ihre besonderen Taubengrotten gehabt, während die Syrer Grabtürme und Taubengrotteu miteinander verbanden zum Taubenturm, der sich über dem Grabe wölbt. AVesentlicher ist die gedankliche Differenz: den Juden gilt die Taube nur als Totenvogel, den Syrern dagegen zugleich als der heilige Vogel der Atargatis.

Beachtenswerterweise fällt dieser Unterschied der Auf- fassung, wie es scheint, im großen und ganzen mit einem Unterschied der Taubenarten zusammen. Die literarischen Nachrichten ebenso wie die archäologischen Funde zwingen zwar zu der Anerkennung der Taubenzucht bei den Juden als einer historischen Tat^sache. Vermutlich aber handelt es sich fast überall um die halbzahme, „schwarze" oder graue Feldtaube und um die zutrauliche Turteltaube. Nur eine Spur deutet auf die ganzzahme, weiße Haustaube hin: in der Mischna' wird die 'llerodes-Taube' als eine besonders zahme von anderen Arten unterschieden und deshalb mit eigenen Vorschriften bedacht. Wie der Name lehrt, wird sie zuerst von Ilerodes für die Taubentürme seines Schloßparkes be- zogen worden sein, die wir bereits aus der Schilderung des Josephus kennen, gelernt haben; vom Hof aus hat sie dann auch bei anderen vornehmen Juden Verbreitung gefunden, schwerlich aber jr'mals größere Bedeutung erlangt. Bei den engen Beziehungen des Ilerodes zur Stadt Askalon wird man kaum leugnen können, daß er seine Sj)eziaUauben von dort eingeführt hatte. Aus der Schrift des Juden l'hilon 'über die

Sdiabbath XXIV 3; Chullin XII 1 (nvD-nr; ^:t>); vgl. Schürer P S. 394 Anm. 79; Krauß Talm. ArcJuiol. II S. 138. Dazu TibuU I 7,17: alba Palaeslino .^ancta coluviba Syro.

Die Sage von der Taufe Jesu u. die vorderorientalische Taubengöttin 33 1

Vorsehung' erfahren wir zufällig Genaueres von den Tauben Askalons und entnehmen seiner Schilderung zusieich eine Bestäti- gung dafür, daß die Haustaube auf jüdischem Boden fehlte: 'Auf meiner Reise zum heimischen Tempel, um dort zu beten und zu opfern, weilte ich in dem am Meere gelegenen Askalon und sah dort eine unglaubliche Menge von Tauben auf den Wegen und bei jedem Hause. Auf meine Frage, wie das komme, ant- wortete man mir, es sei nicht erlaubt, sie zu fangen; denn den Einwohnern sei ihr Genuß seit alters untersagt. Infolgedessen waren die Tiere so zahm geworden, daß sie nicht nur mit den Men- schen unter demselben Dache wohnten, sondern auch an derselben Tafel saßen und ihre Freiheit genossen'.^

Das Ergebnis, das dieser Überblick über die Taubenzucht auf jüdischem Boden bringt, ist auch für die Vorgeschichte der Taufsage wichtig. Von Tauben und Taubengöttiu erzählt man naturgemäß mit Vorliebe da, wo es viele Tauben gibt, und wo eine Taubengöttin verehrt wird. Gelingt es nun, eine Wanderung der Göttin und ihres Kultes oder auch nur der sekundär vom Kultus losgelösten Taubenzucht nachzuweisen, dann ist damit zugleich auch der Weg gezeigt, den ihre Sagen gewandert sein müssen. Ist diese Erwägung richtig, dann war Askalon die letzte Station des Stoffes, bevor er nach Je- rusalem kam. Askalon war zwar niemals in jüdischem Besitz, aber Herodes, später seine Schwester Salome besaß dort einen Palast, und viele Juden wohnten dort, ehe sie durch den großen Krieg ausgemordet wurden. Es ist gewiß kein Zufall, daß die jüdische Parallele zum reichen Mann und armen La-

' Euseb. Praep. evang. VIII 14, 64 Gaisford: T^g Zvqltis stcI &aXdtTT] TTO/lis iövlv, 'AgxcxXcov ovoiia' yEvö^ivog iv ravT-fj, jcocö"' ov xqovov sig to TtatQ&ov ItQov iatsXl6^T]v sv^ö^svög rs v.cil Q'vecov, &^r]xccv6v rt, nslstccäcüv TtXfiitos ivtl x&v tQLoSav Kai v.ax olv.iav sxäazrjv i&eaad^riv. Ttvv&a- ro/xEVQj de (loi Trjv ultiav, ^qiaßocv ov Qs^irbv tivaiov?.XufißdvsLV ansiQiie&ai, yccQ ix TtaXaiov rotg oixTjro^et rfiv jjp^ötv. ovrag ij^sQcotat xb ^äov in' adsiag, &Gx' ov fiövov vnaQÖcpiov dXXcc Kai o^iotgäm^ov cccl yiviG^ai kuI rfjg iKE^siQLag ivxQvtpäv.

332 Hugo Greßinann

zarus gerade in Askalon spielt: Askalon liegt auf dem Wege von Ägypten nach Jerusalem, und wenn der Stoff zu diesem Gleichnis wirklich aus einem ägyptischen Märchen stammt \ dann mußte bei mündlicher Wanderung Askalon die Zwischen- station bilden. Aber Askalon stand durch seinen Handel ebenso wie mit Ägypten auch mit Griechenland und Babylonien in Verbindung, so daß sich dort Einflüsse aus allen Richtungen kreuzen konnten.

12. Die Taubengöttin ron Askalon kennen wir ge- nauer aus den Münzen der Stadt, auf denen uns zwei Typen begegnen. Erstens: auf Münzen von Augustus bis Geta^ steht die IStadtgöttin regelmäßig auf einem Schiffsvorderteil, hält Stan- darte und Aphlaston in Händen und ist stets von einer Taube und einem eigenartigen Altar begleitet, der mit seinen drei Spitzen einem Dreizack ähnelt. Die Standarte hat bisweilen nur ein Quer- holz, bisweilen aber sind Stäbe hinzugefügt, die dem Kopf dreieckige Gestalt geben. Zweitens: auf Münzen von Antoninus Pius an' erscheint eine Göttin, die auf dem Haupt nicht die Turmkrone, sondern den Halbmond trägt."* Sie steht nicht auf dem Schiffsvordörteil, sondern auf einem Triton, der ein Füllhorn emporhebt. In der Hand hält sie nicht eine Stan- darte, sondern ein Zepter, und die Taube befindet sich nicht auf dem Felde, sondern sitzt auf der Rechten der Göttin.

Die Münzen benennen die beiden (Göttinnen nicht, und darum müssen wir auf eine sichere Benennung verzichten. Beide sind ihrem Wesen nach verwandt; denn beide haben Beziehungen zum Meere wie zu den Tauben. So könnte man

' So Hugo Greßmann Vom reichen Mann und armen Lazarus (Abb. Berl. Akad. Phil. bist. Kl. 1918,7).

GeorgeB Francia Hill Catalogue of the Greek coins of Palestine. London 1914. S. LVHl PI. XIH 6 ff. Die Taubs obne Göttin eracbeint nocb bäufiger.

» Ebd. S. LVni PI. XIH 21fr.

* So Hill a. a. 0. gegen Kene Dussaud Notes de mythologie Syrienne. Paris 19Ü3. S. 99.

Die Sage von der Taufe Jesu u. die vorderorientalische Taubengöttin 333

sie identifizieren.^ Da aber die Münztypen wenigstens eine Zeitlang nebeneinander herlaufen, wird es sieb wahrscheinlicher um zwei verschiedene Gottheiten handeln; dann könnte man in der einen Astarte, in der anderen Atargatis sehen.^ Frei- lich wenn die literarischen Nachrichten zutreffen sollten, daß die Atargatis von Askalon halb in Menschen-, halb in Fisch- gestalt dargestellt worden sei, dann wäre uns kein Bild von ihr aufbewahrt worden.^

Ebensowenig wissen wir, unter welchem einheimischen Namen die Stadtgöttin von Askalon zur Zeit Herodots ver- ehrt worden ist; denn Herodots Aphrodite Uranie ist keine Übersetzung des philistäisch-semitischen Namens, sondern Er- setzung durch ein griechisches Äquivalent.* Ein halbes Jahr- hundert später spricht Ktesias von der Derketo^, deren voller Name Atargatis war. Aber während Atargatis = Derketo eine aramäische Göttin war, als deren Zentrum Hieropolis in Syrien gelten darf, betrachtet Herodot die Uranie als eine uralte Göttin von Askalon und hält sie für identisch mit der phönikischen Göttin. Daß in Askalon phönikischer Ein- fluß lauge Zeit geherrscht hat, wird niemand leugnen ; erzeigt sich auch in dem auf Münzen dieser Stadt bezeugten Namen der Gottheit ^ccvrjßdXog, der von dem immer noch rätselhaften Beinamen der punischen Göttin bya "j d rin nicht getrennt werden kann. ^ So werden wir als das Wahrscheinlichste an-

^ So Dussaud a. a. 0. und ebenso Baudissin Atargatis PRE ' II S. 176 Z. 45 ff. Aber während jener die Göttin mit Bestimmtheit Aatarte nennt, zieht dieser als das Wahrscheinlichere Derketo vor,

* So Hill a. a. 0., der geneigt ist, in dem ersten Typus die Meeres- göttin Astarte, in dem zweiten die lokale Form der Atargatis zu sehen.

' Wix kennen nur einen Gott mit Fischleib, im Typus des grie- chischen Triton, z. B. aus Münzen von Aradus und aus Gemmen; vgl. Furtwängler Antike Gemmen Bd. III S. 112. Über den Fischleib der Atargatis von Askalon vgl. Diodor II 4; Lukian Dea Syria c. 14.

* So muß man nach Analogie der übrigen Götternamen Herodots urteilen.

* Strabon XVI 785 C. Vgl. Hill a. a. 0.

ooi Hugo Greßmann

nehmen dürfen, daß seit etwa 400 v. Chr. die neu eingewan- derte aramäische Atargatis mit der älteren, schon länger in Askalon ansässigen phönikischen 'Astarte des Himmels' ver- schmolz,^

In merkwürdiger Weise spielt noch ein dritter Name hier hinein, der Name der Semiramis, und gerade ihr waren die Tauben von Askalon heilig. Die Sage berichtet Diodor^ nach Ktesias: Derketo wird von der erzürnten Aphrodite mit Liebe zu einem syrischen Jüngling erfüllt und gebiert ihm eine Tochter. Aus Scham setzt sie das Kind aus, stürzt sich selbst ins ^leer und wird in ein Fischweib verwandelt. Das Mäd- chen wird in der Einöde von Vögeln wunderbar ernährt: Tauben bedecken es mit ihren Flügeln, um es zu wärmen, flieo-en zu den Hütten der Hirten und bringen ihr in ihren Schnäbeln Milch, später auch Käse. Die Hirten, allmählich aufmerksam geworden, entdecken das Kind und führen es zu Simmas, dem Aufseher der königlichen Herden; der nimmt sie zur Tochter an und gibt ihr den Namen Semiramis. Als die Juno-frau erwachsen ist, kommt sie an den Hof des Ninus, wird seine Gemahlin und damit Königin von Assyrien. So weit ist die Sage verständlich als die Berufungssage einer assyrischen Königin. Ihren Hauptbestandteil bildet das Findelkiudmotiv, das für die babylonisch-assyrischen Sagen typisch ist und sich bis auf Sargon von Akkad (um 2850 v. Chr.) zurückführen läßt. 3

Obwohl die Semiramissage letzten Endes aus Assyrien stammen muß, weil Semiramis eine assyrische Königin war, kann sie doch in ihrer gegenwärtigen Form nicht ohne weiteres nach Assyrien übertragen werden; denn dorthin paßt nicht der Name der Derketo, geschweige denn derjenige der Aphro- dite. Eine Umgestaltung des Stolfes auf aramäischem Boden

» Ähnlich urteilt Baudissin PRE* 8. v. Atargatis II S. 176 2. IfiF.

» Diotlor II 4 ff.

» Vgl. 0. S. 40 Anra. 2.

Die Sage von der Taufe Jesu u, die vorderorientalische TauLengöttin 335

ist nicht zu leugnen. Aber wenn man nicht eine YÖllige Neuschöpfung annehmen will, muß man wenigstens für den Hauptbestandteil assyrischen Ursprung vermuten; die Frage, wie das Findelkind zur Königin wurde, stimmt ja überdies mit der Geburtssage Sargons genau überein, wenn auch die Ausführung des Themas eine andere ist. Träfe diese Vermutung zu, dann wären die Tauben die Vögel der assyrischen Istar, die über dem Leben der künftigen Königin wacht; für sie wäre dann die aramäische Derketo als Ersatz eingetreten. Aber ob diese Hypothese richtig ist, wird davon abhängen, ob sich die assyrische Göttin Istar als Tauben- und Königs- göttin erweisen läßt. Jedenfalls gelten in der Fassung des Diodor-Ktesias die Tauben als die Vögel der Derketo; die göttliche Mutter sorgt für das Leben ihres zur Königin be- stimmten Kindes.

So haben wir hier eine askalonitische, ursprünglich assyrische Königssage kennen gelernt, verwandt, aber nicht identisch mit der Königssage, die in der Taufgeschichte Jesu benutzt worden ist. Beide stimmen darin überein, daß sie eine Tauben- göttin als Königsgöttin voraussetzen; aber das eine Mal han- delt es sich um die Berufung eines Kindes, das andere Mal um die eines Erwachsenen. In dieser Hinsicht erinnert die Semiramissage eher an das Weihnachtsevangelium, dem ja wohl sicher auch das märchenhafte Motiv des Findelkindes zugrunde liegt ^; da in beiden Erzählungen die Hirten auf dem Felde das Kind finden, so mögen hier verborgene Be- ziehungen vorhanden sein, die sich nicht mehr aufhellen lassen. Immerhin macht die Annahme keine Schwierigkeit, daß da, wo eine Taubengeschichte bezeugt ist, noch mehr umliefen, die zufallig keiner Aufzeichnung gewürdigt worden sind. Überdies ist zwar nicht die Taubengöttin von Askalon, wohl aber die mit ihr identische Atargatis von Hieropolis gerade in derjenigen Darstellungsform nachweisbar, die wir ^ Ygl.Gve&m&nn Das Weihtiachtsevangelium. Göttingen 1914. S. 18ff.

336 Hngo Greßmann

für die Taufsage Jesu verlangen müssen. Tm Tempel der syrischen Göttin gab es das Standbild einer Göttin mit einer goldenen Taube auf dem Kopfe, das ebendeshalb nach Lukian auch für eine Statue der Semiramis gehalten wurde,' Ohne Zweifel spielt hier wie in zahlreichen anderen Fällen Semiramis die Rolle der Atargatis, und man muß fragen, wie diese Rollenvertauschung zu erklären ist.* In erster Linie ist an die historische Bedeutung der Semiramia zu erinnern; hätte sie nicht schon zu ihren Lebzeiten die Herzen der Erzähler gewonnen, dann hätte sich auch nicht nach ihrem Tode die Phantasie des Märchens und des Mythus um ihre Person gerankt und sie mit ihren Sagen geschmückt. Zweitens darf man darauf verweisen, daß sie als assyrische Königin schon durch ihren königlichen Rang in die Sphäre der Gottheit emporgehoben war; diese Auffassung konnte sich nach ihrem Tode noch vertiefen und immer stärker werden, je länger die geschichtliche Wirklichkeit verblaßte. Als Se- miramis gar zur Gemahlin des Ninus ward und damit zur Begründerin des assyrischen Reiches, mußte sie geradezu mit der Göttin Istar verschmelzen, die dann sekundär durch Der- keto ersetzt ward. An dritter Stelle kommen volksetymolo- gische Spielereien hinzu. Schon bei Diodor-Ktesias wird be-

' Lukian Dea Syria c. 33. Auf Münzen von Hieropolis findet sich die Tanbe nar einmal; vgl. die Münzen aus dem Wiener Kabinett; Neu- mann jSumt reteres inediti 1873 II S. 74— 80, 1 af. III 2; Eckhel Doc- trinn num. 1794. III S. 262; Mionnet V S. 141 Nr. .54; Lajard Culte de Venus S. 128 pl. III B Nr. 1; Six Monuaies d' Hieropolis en Syrie (Nnmismatic Clironirle NS. XVill 1878) S. 119; Strong and GarBtang The Syrian Goddess. London 1913 S. 23; Frontispiece Nr. 1; 8.70 Fig 7; ImhoofIilumer6'nec/a.scÄe Münzen. München 1890. S. 769 Nr. 772. In <ler Mitte »teht ein Tempel mit der Legions Standarte; aul dem Dach sitzt eine 1 auhe. Zur Linken thront der Gott auf zwei Stieren, zur Rechten die Göttin auf zwei Löwen. Im Vordergrund achreitet ein Löwe nach rechts.

' Diese Krage hat Lehmann-Haupt erscliöpfend beantwortet, zuletzt bei f?OBcher s. v. Semiramis. Ya\. ferner Renö Dussaud Notes de Mytho- logir Syrienne. Piiris 1903. 8.113.

Die Sage von der Taufe Jesu u. die vorderorientalische Taubengöttin 337

Rauptet, daß Semiramis so viel wie 'Taube' heiße, und daß dieser Vogel um ihretwillen den Syrern heilig sei. Darauf wird auch die Nachricht des Hesychios zurückgehen, wonach Semiramis auf griechisch "^die Bergtaube' bedeute. Denselben Unterschied zwischen Derketo und Semiramis wie Diodor- Ktesias macht Lukian: die Fische seien den Syrern heilig um der Derketo, die Tauben um der Semiramis willen. Nach ebendenselben Schriftstellern wurde Semiramis in eine Taube ver- wandelt,' Die historische Semiramis, die Frau Samsi-Adad V. (oder IV.), regierte nach den neuesten Forschungen^ von 810 805 als Alleinherrscherin und hieß sammurämat = '^sie hat lieb gewonnen den sammu\^ Die Bedeutung von sammu ist bisher unbekannt. Ktesias, der auf guten einheimischen Quellen fußt, wird noch gewußt haben, daß im Assyrischen in den anderen semitischen Sprachen fehlt das Wort summatu = '^die Taube' hieß, ein Wort, das ja stark an sammu anklingt und volksetymologisch leicht damit verquickt werden ionnte. Bei der Erklärung als 'Bergtaube' wird das zweite Element des Wortes nicht aus dem Assyrischen, sondern aus dem Phönikischen oder Aramäischen rämat = 'Höhe' abgeleitet. Mit der Verpflanzung des Namens auf ein fremdes Sprach- gebiet war etymologischen Spielereien Tür und Tor geöffnet; und vielleicht hat auch der nahe Anklang an das Wort für 'Himmel' die Gleichsetzung der Semiramis mit der 'Astarte -des Himmels' befördert oder erleichtert.^

^ Vgl. Diodor II 20; Lukian Dea Syria c. 14; Hesychios: Us^igafiig' ytSQterEQU öqelos 'EXXriviötL

* Ernst F. Weidner Neue Königslisten aus Assur MDOGr. Nr. 58 (Aug. 1917) S. 21; Otto Schroeder ZfAssyr. XXXIII, 1920. S. 59.

' Otto Schroeder verweist mich auf Tallqvist Ässyrian Personal Names S. 299, wo sa-am-mu zum Stamme D73D gestellt wird, und auf Klauber Texte der Sargonidenzeit Nr. 102 Rs. 9, wo ein aualoger Name Belit-sa-am-ma-ilat-a-a belegt ist.

* Diese Vermutung legt sich besonders dann nahe, wenn der mehr- fach in der Chronik für Männer belegte Eigenname niT^'li^cUJ mit dem Namen der Semiramis identisch ist (1 Chron. 15, 18. 20; 16, 5;

Axchiv f. KeligiODBwissenBohaft XX. 3/4 22

g^^g Hugo Greßmaun

Jedenfalls kann kein Zweifel daran sein, daß es ursprüng- lich nicht die Semiramis, sondern die Göttin von Askalon und Hieropolis war, die sich in eine Taube verwandelt hatte, die also selbst als Taube gedacht wurde. Wir besitzen noch den Geburtsmythus der Atargatis: ein großes Ei fiel vom Himmel in den Euphrat, Fische trugen es ans Ufer, Tauben brüteten es aus, und aus ihm ging die syrische Göttin hervor.^ Hier sind, wie es scheint, drei verschiedene Vorstellungen mit- einander kombiniert: von dem Stern, der vom Himmel in die Fluten fällt, von der Geburt als Fisoh im Wasser und von dein Schlüpfen der Taube aus dem Vogelei. Für uns kommt es in diesem Zusammenhange nur auf die letzte Idee an, die der Taubengöttin durchaus entspricht, obwohl es gewiß be- achtenswert ist, daß die syrische Göttin zugleich als Fisch- göttin und als Sterngöttin oder genauer als Göttin des Venusstems aufgefaßt wurde. Der Weg, den die Verehrung der Taubengöttin genommen hat, ist durch die Kulte und Mythen, wenn nicht alles täuscht, eindeutig bestimmt. Die Atargatis aus Askalon in Philistäa ist jedenfalls mit der Atargatis aus Hieropolis in Syrien identisch. Wenn die hei- ligen Tauben in Askalon nach der Schilderung Philons so zahm sind, daß sie in die Häuser dringen, so gilt genau dasselbe für Hieropolis nach der Schilderung Lukians.* Als Tauben- und Königsgöttin scheint Atargatis die Erbschaft der assyrischen Jstar angetreten zu haben; sicher ist das von der

II Cliron. 17,8), ist doch auch V'^'»^*'-*^ damals ein beliebter Eipennarue gewesen. Mau wird auch an den Nauieu CT:" D7:ü erinnert (Lidzbarski Ephemeris II 51 Z. 3 = Altsem. Texte I 8 S. 19) = i'aftrifipovfioc, der ebenfalls nach seiner (göttlichen) Mutter hieß (Philon Byblios bei Euseb. I 10,9 Gaisford [Var. D]).

HjK'in Fah. 197; Schol. German. Arat. v. 243; Ampelius Lih. mein. II S 8, 86 W.ilfflin.

' Lukian Den SyriaM: ögvlitcov xt ui}z£oioi ■jtsQi.cxBQfi x^ftiia ioötazov %ul ovök 'i'uvciv airiwv diKutivGi.- xal tjv äixovxig üipojvxai, fvayitg ixEivT]v rijv Tj^igriv tiei. xovvsku 8r] aixtoir,i 6vvvo(iol xi doi xal is o/x7)ta ^Ct'pxoiTai xc-i nolXä iv -/fj vi^ovrai.

Die Sage von der Taufe Jesu u. die vorderorientalische Taubengöttin 339

Sterngöttin. Die drei Stationen sind demnach: Assur, Hiero- polis und Askalon.

13. Ehe wir uns nach Assyrien wenden, ist es notwendig, die Taubengöttin der ägäischen Kulturwelt kennen zu lernen. Das erste, den Semiten benachbarte Kultzentrum findet sich in Ky^ros. Daß dort heilige Tauben gehalten wurden, lehrt nicht nur die Literatur^, sondern auch die Archäo- loo'ie Aus dem Weihgeschenkraum der Artemis von Kition stammt ein im Privatbesitz vorhandenes Tongefäß von 13 cm Höhe, das man am einfachsten als Taubenkegel bezeichnen wird. Eine Anzahl roh gebildeter Vögel fliegt oder sitzt um den hohlen Zylinder herum; kleine, runde Löcher führen in den oben offenen Taubenschlag hinein. In einer großen vier- eckigen Nische steht eine weibliche Figur, die man als die Taubengöttin ansprechen darf." Diese verkleinerten und zu- gleich durch bildlichen Schmuck verschönten Taubenkegel hat man der Taubengöttin als Votivgaben dargebracht.^

Schon Ohnefalsch-Richter vergleicht damit ein anderes Tono-erät in Form einer Säule, die sich im Berliner Museum befindet. Sie stammt aus Idalion auf Kypros, ist oben und unten abgebrochen und gegenwärtig 32 cm hoch. Vielleicht darf man sie als Nachbildung eines Taubenturms auffassen. Es fehlt zwar der bildliche Schmuck, der diese Deutung sicherer machen könnte; das einzige, was man sieht, sind unten zwei einander gegenüberstehende viereckige und oben drei dreieckige Öffnungen in gleichmäßigem Abstand voneinander.* Aber auch wenn man Zweifel hegen darf, bleibt doch eine Beobachtung des Ausgräbers wichtig: „Genau solche dreieckige Offnungen

1 Martial VIH 28,13.

- Max Ohnefalsch - Richter Kypros, die Bibel und Homer. Berlin 1893. Taf. 17,2 und 3 = 38,12 = Text S. 287 Fig. 187. 188.

3 Man hat daher nicht nötig, mit Ohnefalsch -Richter (Text S. 359) an Raucher- oder Kohlenbecken zu denken.

* Ohnefalsch - Richter a. a. 0. Taf. 17, 4 = 69, 78 = 185 , 3 = Text S. 287 Fig. 189.

22*

340 Hogo Greßmann

pflegen die Cyprioteu an ihren Häusern als Liiftlöclier und Flucrlöcher für die in ihren Häusern nistenden Tauben anzu- bringen. Der dreieckige Raum ergibt sich dadurch von selbst, daß drei Luftziegel der gewöhnlichen Größe und Form auf die bequemste Weise benutzt werden. Die beiden gegenein- ander gestellten bilden miteinander einen rechten Winkel und mit dem dritten wagerecht als Unterlage hingelegten Ziegel jederseits einen Winkel von etwa 45 Grad."^

Bekannter als diese vereinzelten Taubentürme und Tauben- kegel sind die Taubenhäuser, von denen drei Exemplare in Kypros gefunden worden sind. Ein oft abgebildetes vier- eckiges Terrakottahäuschen ohne Dach mit Tür und zwei Fen- stern hat neben dem Eingang zwei Pfeiler mit Lotuskapitäl. Die Wände sind oben mit einer Anzahl runder Löcher durch- brochen.* Aus der Tür und den beiden Fenstern schauep je eine Frau.' Die anderen Häuser* weichen nur in unwesent- lichen Einzelheiten ab; wichtig ist aber ein von Ohnefalsch- Richter gefundenes Bruchstück ; denn da sitzt an der Ecke des Hauses noch eine Taubo, wenngleich ihr der Kopf fehlt.^ Die Deutung als Taubenhaus ist daher nicht anzufechten, ob- wohl gewiß auch Weicker recht hat, wenn er es ein Seelen- haus nennt.

1 Ebd. Text S. 1G9 Anm. 1.

* Heuzey Les ßgurines rn terre-cuite du Musde du Louvrc Taf. 9,6 = Perrot-Cliipiex III S. 277 Fig. 208 -Ohnefalsch-Kichter Kypros Taf. 10, 3 (= 38, 13 - 109, 3 = 124, 6 =. Text S. 303 Fif,'. 218) = Guthe Jhbelirörter- buch S. 6.')."> Abb. 106 = Greßmann Altorientalische Texte und Bilder II S. 14 Abb. 17.

' Gewöhnlich denkt man an menechenköpfige Vögel; aber Weicker bat die primitiv auBgeführten Figuren genan imterflncht und gibt sie bestimmt für Frauen am. fieorg Weicker Der Seelenvogel. Leipzig 1902. S. 92.

* Ani Cypern bei Perrot-Chipiez III S. 897 Fig. 641 - Ohnefalsch- Richter Kypros Taf. 124,4 = 199,4.

* Jetzt im Berliner Mus^nm. Ohnefalsch-Richter A'j/j^ros Taf. 38, 11 = 126,1.

Die Sage von der Taufe Jesu u. die vorderorientalische Taubengöttin 341

Daß die kyprisclie Aphrodite Taubengöltin war, bestätigen die Münzen von Paphos; die Dächer der heiligen Schreine, über deren Konstruktion viel verhandelt worden ist, und die Höfe sind auf jüngeren kyprischen Münzen oft mit Tauben besetzt.^ Weibliche Figuren aus Kalkstein, die eine Taube an der Brust halten, sind auf Kypros zahlreich gefunden worden; gewiß ist es falsch, in allen diesen Fällen an eine Gottheit zu denken, aber wenn zu der Taube das Diadem auf dem Kopfe hinzukommt, ist der Idolcharakter der Statue schwerlich zu leugnen.^ Es fehlt bisher an Beispielen, daß die Göttin die Taube auch auf dem Kopfe getragen habe; doch hat Ohne- falsch-Richter darauf hingewiesen, daß die modernen Cyprio- tinnen ihren Haarschmuck Tteöovvia, ^Täubchen', zu nennen pflegen, obwohl er heute meist gar keine Taube darstellt. Es muß ai)er einst vielleicht, wie er scharfsinnig schließt, allgemeine Sitte gewesen sein, Täubchen auf dem Kopfe zu tragen, und das würde dann vielleicht von der Göttin ebenso gelten wie von ihren Verehrerinnen.^

Phönikischer Einfluß auf Kypros steht fest; die phönikischen Kolonien auf der Insel haben phönikische Inschriften hinter- lassen. Mau darf daher fragen, ob die kyprische Aphrodite aus Phönikien importiert sei, um so mehr, als schon Herodot behauptet, daß das Heiligtum in Kypros von Askalon aus ge- gründet wurde, und daß es Phöniker aus Syrien waren, die

* Vgl. George Francis Hill Catalogue of the Greek coins of Cyprus. London 1904. a) Tauben über den Seitenflügeln des Tempels von Paphos Taf. 17,4ff. (seit Septimius Severus); b) Tauben im Hof Taf. 17 8. 9 (Caracalla); c) auf sardiscben Münzen, die den Typus von Papbos über- nommen haben, Taf. 26, 6flF.; d) auf Gemmen Taf. 26, 16 = Furtwängler Antike Gemmen, Taf. 64, 81. Dagegen beruht der Typus Perrot und Chipiez III 270 = W. Robertson Smith-Stübe Religion der Semiten S. 348 (Taube auf dem Idol) wohl auf einem Irrtum.

^ Vgl. Farneil Cults II S. 673, der auf Kalksteinfiguren aus Idalion, jetzt im Britischen Museum exemplifiziert; ebenso Furtwängler bei Eoscher I 1 Sp. 408, der auf Berl. Cypr. 125 verweist.

ä Ohnefalsch-Richter a. a. 0. Text S. 288.

342 Hugo Greßmaun

das Heiligtum in Kythera einrichteten.' Da die Inseln Kypros, Kjtbera und Kreta die berühmtesten Mittelpunkte des Aphrodite- kultes waren, so gibt Herodot damit die Aphrodite überhaupt für eine phönikische Göttin aus. Der Streit um diese These ist bis heute nicht verstummt, und wenn er auch nur durch die klassischen Philologen entschieden werden kann, so kann doch der Semitist nicht ganz daran vorübergehen, weil es sich um eine auch ihn berührende Grenzfrage handelt. Während Engel* und Enmann^ mit besonderer Energie die leiu griechische Herkunft der Göttin verfochten, hat dagegen Far- nell* die Gründe am schärfsten zum Ausdruck gebracht, die einen fremden Ursprung der Aphrodite' nahelegen. Am wahr- scheinlichsten gilt das für die Gestalt der Urania, wie auch von anderen Forschern zugegeben wird. Anfänglich hatte Far- neil, wie es meist geschieht, an semitischen, speziell phöui- kischen Ursprung gedacht; später hat er diese Anschauung widerrufen und die Göttin von Kypros auf die altminoi.^che Religion zurückgeführt.^ Es ist unmöglich, das Problem hier in seinem ganzen Umfange aufzurollen; unser Augenmerk ist hauptsächlich auf die Taubengöttin gerichtet.

Neben der Aphrodite von Askalon und Kjpros ist als Tauben- göttin besonders die ^AfpiJodiTti 'EQvxCvtj zu nennen, die auf dem Berge Eryx im Nordwesten Siziliens verehrt wurde. Ihre Kult- feste hießen ävuycoyia und yMxayäyia, und der Kultray thus erzählt, daß die Göttin alljährlich über das Meer nach Libyen flog, von ihren Tauben begleitet. Während sonst eine große Menge von

' Heroflut I 106: xai yüg ro iv Kvtiqco iqov ^vd-tvTSv (acW. yla^üXav) fyivkXOy äg avrol Xeyovci KvjtQiof ^ul ro tv KvO-i'uxiir i 'PoiviK^g eloir oi idQvGÜfitroi ix Tuvtrii r^g Z'vpiTjb' iöiTEg. Vgl. Pausanias JII 23,1.

* Wilh. Heinrich Kugel Kyiiros I und II. Berlin 1841.

* Alexander Eniuann Kyiiros und der Ursprung des AphroditrJcuIlus (M^tnoiree de Tacaddinic de St. PeternbourfT Vlio Serie 34. 1886).

* Lewis Richard Farnoll The cuUs of fhe Greek strates. Vol. II. Ox- ford 1896. S. 618 ff.

* Lewis i;. Farnell Greece and Babylon. Edinburgh lyil, S. 97 f.

Die Sage von derTaufe Jesu n. die vorderorientalische Taubengöttin 343

Tauben auf dem Berge Eryx nistete, war dann keine einzige mehr zu sehen; sie waren, wie die Einwohner schlössen, mit der Gottheit als ihre Dienerinnen davongeflogen. Nach Verlauf von neun Tagen erfolgte die Rückkehr der Aphrodite; eine purpurrote Taube, die sich vor den anderen durch ihre Schön- heit auszeichnete, flog voran und die anderen folgten ihr. ^ Die Taube, von der dieser Mythus erzählt, ist zweifellos die rötlich- graue Turteltaube, die auch den Israeliten als Zugvogel be- kannt war.^ Die neuntägige Frist erklärt sich durch den Ab- stand der beiden Festtage oder, richtiger gesagt, durch die Dauer des Festes; die Normierung auf neun ist echt griechisch.* Wir wissen über den Ursprung des Eryxkultes nichts; aber die Möglichkeit karthagischer Herkunft ist nicht zu leugnen, da wir in ihm die IsQodovloi yvvaixss des Orients wieder- finden* und da eine phönikische Inschrift von der „erykinischen Astarte" redet. ^ Aphrodite erscheint in diesem Mythus als Zug- vogelo-öttin; verwandt sind die Vorstellungen, nach denen ihr Wagen von Tauben oder Schwänen gezogen wird.® Schwerlich wird Aphrodite hier als Frühlings- und Vegetationsgöttin auf- zufassen sein'' das käme höchstens als sekundäre Umdeutung

^ Aelian Nat. anini. IV 2: itBQiotsQwv %lfid-6s iotiv ivravQ-a nävv TcdimlELGTov. ovKOvv al ^hv ovx ögävtai' leyovGt öh 'EQvatioi rr}v &sov SoQvwoQovöag ccjcsXd'stv . . . dislQ'ovaäv 3h ijiifQäv ivvea iiiav ^hv 6ia- ■XQSitfj xr]v &Qav ?x ys zov -sldyovg tov y.o(iiSovTog H tfi? Ävßvr\g ogäaQ-at, elanEzofievriv, ovx ^^^'^ xara rag aysJ.aiag Tcelnädag rag Xomag tivai, TioQ(pvQäv 6h . . . hitbxaL 6h uvzfj r&v utEgiatsgcbv vi(pr\ r&v Xoinäv.

* Jer. 8,7; Cant. 2,12.

» Gruppe Griech. Mythol. und Beligionsgeschichte II S. 941. Anm. 2.

* Strabon 272; vgl. Farnell Cults 11 S. 641b.

^ eis. I 140 (auch I 135?). Merkwürdig ist, worauf mich Otto Schroeder aufmerksam macht, die Übereinstimmung- des nichtgriechischen Eryx (= ^-IN) mit dem bab. Stadtnamen Uruk (im AT. '^IN), der Haupt- stadt Istars. Sollte der Name, den man als den langen (Ort oder Berg) deuten könnte, auf eine Übertragung des Kultes hindeuten?

* Sappho/r. 1, 10; Ovid Metam. X708.XIV597; Claud. 31, 104 usw.; vgl. Gruppe a. a. 0. II S. 131 4.

^ So Farnell Cults II S. 644 Anm. 2.

344 Hugo Greßmann

in Betracht , sondern als Seelengöttin; Tauben und Schwäne sind Seelenvögel. Auf Münzen aus Eryx begegnet uns schon am Ende des 5. Jahrb. die sitzende Gottheit mit der Taube in der Hand; vor ihr steht Eros.^

In der Tat war die Taubengöttin in Phönikien ebenso bekannt wie in Karthago. Von dort stammen mehrere Terra- kottafiguren ^, von hier eine oft reproduzierte Votivstele : ganz oben die ausgestreckt segnende Haud, darunter in einem halb- kreisförmigen Baldachin, von ionisierenden Säulen flankiert, eine geflügelte Göttin, die Sonnenkugel und Halbmond trägt. Unter der Inschrift, die die „Herrin Tanit, das Antlitz Baals", an erster Stelle nennt, das kegelförmige Idol, das man der Tanit gleich- zusetzen pflegt, mit zwei antithetisch gegenübergestellten Tauben."

So ist die Existenz einer phönikisch-punischen Aphrodite Urania, der die Tauben heilig waren, nicht zu bezweifeln; ihre Spuren lassen sich vom Mutterland bis zu den Töchterstädten verfolgen, und sie hat gewiß auch über den Kreis der phöni- kischeu Kolonien hinaus bei Fremden Einfluß gewonnen. Aber das ist nur ganz vereinzelt geschehen, und Aphrodite als solche ist sicher keine phönikische und wahrscheinlich auch keine semitische Gottheit gewesen. Das letzte zusammenfassende Ur- teil über die Herkunft der Aphrodite stammt wohl von Wila-

* Greenwell On some rare Greek coins (Numismatic Chronicles NS. XX 1880. S. 2 Taf. 1,2). Über einen anderen Typus (Aphrodite mit der Tanbc, aber ohne Eros) vgl. Reginald Stuart Poole Caialogue of Greek coins, Sicily. London 1876. S. 62.

* l'errot et Chipiez ITistoire de l'arl. 111 S. 64 Fig. 20 (sitzende Göttin, i aube an der Brust) = Gnthe Bibehvörterhuch S. 64 Abb, 27. Femer Perrot et Cbipiez 111 S. 201 Fig. 142 (stehende Göttin); S. 698 Fig. 409 (nur zwei sich schnäbelnde Tauben oline Göttin).

' eis. \ IHH Taf. 45 - Ohnefalsch - Richter Kypros Taf. 85,9=1 Alfred Jeremias Handbuch der all orientalischen GeisteskuUur S. 231 Abb. 126.

* Die (schlecht gezeichnete) Münze ans Karthago mit einem Tempel, auf dessen (iiebel ein Vogel schwebt, bei Gesenius Monumenta Taf. 16c habe ich nicht identifizieren können.

Die Sage von der Taufe Jesu u. die vorderorientalische Taubengöttin 345

mowitz: „Gewiß ist sie in Hellas dem Wesen nach kein Im- port, sondern eine Erscheinungsform der yvvaixsCa Q'sog oder im Plural (denn es gibt ja 'AcpQodiTai) der yvvai^Elui d^saC, sorgend für das weibliche Leben, weiblichen Reiz, Gedeihen der Kinder und der Jugend. Aber der Name widerstrebt der griechi- schen Etymologie."^ Er widerstrebt ebenso auch der semiti- schen Etymologie. Wissenschaftliche Beachtung verdient nur trotz ihrer Kühnheit die TOn Hommel versuchte Ableitung-; aber sie scheitert daran, daß sie von einer Unform ausgeht, denn eine Astoret hat es ebensowenig gegeben wie einen Je- hovali'^. Die Hebräer sprachen Astcterei, eine Weiterentwick- lung des älteren Astart, das sich im Phönikischen erhielt, wie die griechische Umschreibung ^Aöxccqtti lehrt. Es kann sich demnach nur um die Frage handeln, wieweit orientalischer Einschlag im hellenischen Aphroditeglauben wahrzunehmen ist; und so hat gerade Wilamowitz überzeugend nachgewiesen, daß die Aphrodite der llias wie die des Homerischen Aphrodite- hymnus keine griechische, sondern eine asiatische Göttin ist. * Auch die kyprische Göttin ist keine Entlehnung aus Phöni- kien, obwohl sie später durch phönikische Religion und Kunst beeinflußt sein mag; denn sie ist, wie die Grabungen gelehrt haben, über 1000 Jahre älter als die phönikische Kultur und steht im Zusammenhang mit der ägäischen Göttin-Mutter, die bis ins neolithische Zeitalter zurückreicht. 2000 Jahre hin- durch oder noch länger kann man die Entwicklung dieses Typus von den ersten primitiven Anfängen an im ägäischen Becken

* U. v. Wilamowitz -MoellendorfF Die llias und Homer. Berlin 1916. S. 28ß.

^ Hommel in Fleckeisens Neue Jahrbücher f. Philol. 1882. S. 176; •weitere Literatur bei Gruppe Griechische Mythologie und Beligions- geschichte II 1348,3.

* Die falsche Aussprache beruht auf einer Verkennung der masso- retischen Vokalisation; die Massora verlangt die Aussprache b6set = Schand(götze).

* Wilamowitz Bias S. 284. 286.

346 Hugo Greßmann

verfolgen; dabei ist das Charakteristische, daß die Gottheit be- kleidet ist. Eine nackte Göttin taucht auf Kypros erst im zweiten Bronzezeitalter auf (^15;")" 1100), als sich schon my- kenischer Import und orientalische Zylinder geltend machen.' So mögen die Bilder der nackten Göttin durch die Phöniker oder Amoriter dorthin gebracht worden sein; denn daß dieser Typus tatsächlich aus dem Orient stammt, wird dem nicht zweifelhaft sein, der die kyprischen Idole mit den in den ältesten Fundschichten Nippurs (P». Jahrtausend) vorkommenden Bei- spielen vergleicht und ihre überraschende Ähnlichkeit feststellt.* Nackt war auch die semitisch -hethitische Göttin Kades, die wir aus ägyptischen Denkmälern seit der XIX. Dynastie (um 1350 V. Chr.) kennen. 3

In der mykenischon Kultur tritt die nackte Göttin nur ganz vereinzelt auf: sie begegnet uns auf den Goldblechen aus dem dritten mykenischen Schachtgrab in My kenae (um 1550 v. Chr.), die Hände an die Brust gelegt; das eine Mal ist sie von Tauben umflattert* man denkt unwillkürlich an die von dem Ko- miker Antiphaiies (um 385 v. Chr.) geschilderte Szene, wie dem Könige von Paphos während des Mittagessens durch die ihn umflatternden Taubon Kühlung zugefächelt wird"' das an-

' Rene Dussaud Les civUisations preheUäiiqucs dans le bassin de la mer Egee*. Paris 1914. S. 359tf. Vgl. die beiden nackten Idole aus Cypem. F. 370 Fig. 275 und S. 371 Fig. 276.

' V'orötfentiicht sind diese Funde Ililprochta (aus der Zeit Sargons I. um 2850 V Clir ) bei v. Fritze JHe nackU orietital tische Göttin (.Jahrb. des arch. Instit. XII 1897 S.199). Weiteres Material, aber auch nicht voll- ständiges, bei Gr. Contenau La deesse 7iue hahijlonienne. Paris 1914. S. 319 ff.

^ Die beste Zusammenstellnng der Fnnde bei Greßmann Altorien- talische Texte %oid Bilder U Abb. 128—130.

* Schnchhardt Schlicmfmns Ausgrabungetx'' S. 230 Fig. 189 = Ohne- falsch- Richter Kyi»ros Taf. 38,10 = 106,2 = Dassaud CivUisations pre- helWnques S. 873 Fig. 278.

' Atbeniius VI S. '.'57 f.: iQQinltero | vnb z&v 7ctQir,zfQ&v vn SlXXov i'oiStvoi ' demrmv 6 ßar,tXevs- Um die Tauben anzulocken, war er mit syrischem öl g^isalbt, desHen Geruch sie gern hatten; wenn fiie sich nahten, um sich auf seinem Kopfe niederzulassen, wehrten Diener sie ab.

Die Sage von der Taufe Jesu u. die vorderoriectalische Taubengöttin 347

dere Mal sitzt eine Taube auf ihrem Haupte.^ Zum Vergleich damit darf man auf eine etruskische Bronzefigur verweisen: sie hat zwar nur einen nackten Oberkörper, auch die Haltung der Hände ist freier, aber auf dem Kopfe trägt auch sie eine Taube; daß sie ursprünglich selbst eine Taube war, lehren ihre Flügel.^ Anderswo hat die etruskische Venus die Taube in der Hand.^ Beide Taubei>göttinnen, die etruskische wie die mykenische, gehen auf dieselbe kleinasiatische Göttin zurück. Die bekannten Taubenaltäre uuf mykenischen Goldblechen aus dem dritten und vierten Schachtgrab* führen uns nach Kreta hinüber.^ Im Palast von Knossos ist die Miniaturdarstellung eines Gebäudes gefunden worden, die in abgekürztem Verfahren den Tempel nur andeutet: drei Säulen aus Terrakotta, auf denen Tauben lagern. ' Die Idee ist, daß die Tauben unter ^ dem Tempeldach nisten (III. Mittelniin. Schicht, etwa 1800 1550). Die Taubengöttin von Knossos kennen wir aus einem Terra- kottaidol (HL Neumin. Schicht, etwa 1400 1100): aus einer zylindrischen Basis wächst der Oberkörper der Göttin heraus, die ihre Hände segnend erhoben hat, auf dem Kopfe eine Taube.^

^ Schuchhardt Schliemanns Ausgrabungen^ S. 2.30 Fig. 188 = Ohne- falsch-Richter Kypros Taf. ;-i8,9 = 105,;-5 = Text S. '299 Fig. 201.

* Gerhard Gesammelte (ikodemische Abhandlungen Taf. 28,2 = Ohne- falsch Richter Kypros T-.f. 105,4 = Tfxt S. 299 Fig. 202.

» Gerhard a. a. 0. Taf. '28,1; 30,4.

* Im dritten Schachtgrab sind zwei, im vierten Schachtgrab drei Taubenaltäre gefunden. Schucn.hardt Schliemanns Ausgrabungen S. 232 Fig. 191 = Karo Allkretische Kultstätten (d, Archiv VII 1904) S. 133 Fig. 13 = Dussaud Civ. prehellen. S. 3.36 Fig. 2 44. Milani, Karo u. a. denken an Adler, aber schwerlich mit Recht.

* Denn damit ist die Wandmalerei aus Knossos zu vergleichen, wie Dussaud S. 334 ff. zeigt.

« Evans British School Annual VII 29 Fig. 14 = Karo S. 137 Fig. 15 = Dnssaud S. 351 Fig. 258.

' Dussaud S. 354 denkt mit Unrecht an Tauben „sur la toitiire".

® Evans British School Annual Vlli 99 Fig. 5'j (2) = Karo S. 131 Fig. 11 = Dussaud S. 329 Fig. 239 ^h). Zum Gestos des Segnens vgl. Dns- saud S. 377. Man könnte auch an die Gebärende denken, die im mo- dernen Orient hockt und die Arme hochhält.

348 Hngo Greßmann

Neben Tontauben, wie sie auch auf Kypros häufig gefunden worden sind, sind noch die Vögel zu nennen, die bisweilen auf den Doppelilxten sitzen, z. B. auf dem Sarkophag von Hacria Triada.^ Wenn hiex wirklich Tauben gemeint sind^, dann handelt es sich zum Teil um die halbzahmen, schwarzen Tauben, zum Teil um eine andere Art, wie die verschiedenen Farben lehren. Doppelaxt und Taube würden zueinander passen als die Rangzeichen der männlichen und der weiblichen Gottheit, so wie etwa auf aramäischem Boden Stier und Fisch miteinander vereinigt werden, um Rimmon und Atargatis dar- zustellen. '

Die kretisch-mykenische Göttin, die an verschiedenen Orten wohl verschieden hieß, ist ihrem innersten, aus den Funden jetzt deutlich erkennbaren Wesen nach immer dieselbe. Die Formen ihres Leibes, das Kind, das sie trägt, oder die Brust, die sie auch ohne solches reicht, stellen sie als Mutter dar, sei es der Götter oder der Menschen. Neben den Tauben sind ihr die Schlangen heilig, beides Seelentiere jcar' i^ox^jv. Dazu gesellen sich in neuminoischer Zeit die Löwen, und schließlich gehören ihr die Tiere überhaupt. Da alle Fruchtbarkeit und Vegetation von ihr stammt, so ist sie nicht nur die Göttin der Tiere, sondern auch die der Bäume und Pflanzen. Wenn man alle ihre Funktionen in einen Begriff zusammenfassen wollte, müßte man sie wie Eva, die ja ursprünglich wahr- scheinlich auch eine Schlangengöttin war*, die Mutter alles Lebendigen nennen. Die bogenschießende Jägerin, die die Tiere tötet, rafft wie Artemis auch die Frauen mit ihren sanften

> DuHcanil Civilisations prclteUhiiques Taf. D hei S. 400.

» ?o von Dulin Snriophng ausllngia Triada (d.u4rcÄif VII 1904) S.269f. Gewöhnlich denkt man an Raben.

» Dalman ZDI'V. 1906 S. l'20ff. Die Abb. aus er-rummän im Oat- jordanland auch bei Greßmann Altorientalische Texte und Bilder II. Abb. 139,

* Gon. 3, 20. Vgl. dazu Greßmann Mt/thische Reste in der Paradies- crzählutig (d. Archiv X 1907) S. 358 ff.; Festgabe für Uarnack S. 35 ff.

Die Sage von der Taufe Jesu u, die vorderorientalische Taubengöttin 349

Todesgeschossen hinweg. Weil sie Herrin der abgeschiedenen Geister ist, darum schaut sie wie Aphrodite in den Spiegel, um die Seele, das Ebenbild des Körpers, zu sehen, darum gehört ihr der Mohn mit seiner betäubenden, schlafbringenden Kraft.^ So ist sie als Göttin des Lebens zugleich auch die des Todes. 14. Wie zuerst Hugo Prinz gezeigt hat, hängt diese kre- tisch-mykenische Gestalt mit der kleinasiatischen Göttermutter zusammen.* Als nächste Verwandte der mykenischen Tauben- göttin ist das vormykenische Bleiidol aus Troja H V (2000—1500 V. Chr.) zu nennen^; denn dieselbe Göttin kehrt auf einer Gußform aus Steatit wieder, die aus Kleinasien stammt und vor wenigen Jahren vom Louvre erworben wurde'': auf der einen Seite sieht man die nackte Göttin, neben ihr eine Blume und einen Spinnwirtel, auf der anderen Seite zwei mit Kreisen oder Spiralen geschmückte Ständer, auf denen sich je zwei einander zugekehrte Tauben schnäbeln. Vielleicht darf man in den beiden Ständern zwei stark stilisierte Bäume er- kennen; zur Herrin des Lebens würden sie so gut passen wie die Tauben.

Wenn wir uns der hethitischen Kultur speziell zuwenden, so ist kaum daran zu zweifeln, daß auch in ihr die Tauben- göttin eine Rolle spielte. Auf den hethitischen Siegelzylindern fehlt es nicht an Vögeln, die man mit Tauben identifizieren und zu einer weiblichen Gottheit in Beziehung setzen könnte; sie fliegen um sie herum oder ihr auf den Schoß. ^ Aber es ist schwer, in jedem Einzelfall zu entscheiden, wie weit diese

^ Adolf Furtwängler Die antiken Gemmen. Leipzig 1900. Taf. II 20. 21. 24; III S. 34 f.

2 Hugo Prinz Bemerkungen zur altkretischen Religion (Athen. Mit- teilungen 1910) S. 149 ff.

» A. Götze in Wilhelm Dörpfeld Troja und Bion I S. 362 ff. = Dus- saud S. 364 Fig. 269.

* DuBsaud S. 365 Fig. 270.

Vgl. außer den von Prinz a. a. 0. angeführten Beispielen noch W. H. Ward The sedl-cylinders of western Asia. Washington 1910. Nr. 898. 904. 908. 921. 943 und andere.

350 Hugo Greßmiinn

Deutung berechtigt ist; deuu oft scheinen die Vögel nur als Füllsel zu dienen. Anderseits begegnen uns auf den hcthi- tischen Denkmälern Vögel sehr selten. Am häufigsten treffen wir sie auf Grjtbstelen, wie auf der von Jarre oder vonMar'asch^: da liegen neben anderen Speisen auch Tauben, die von den Toten ebenso gern wie von den Lebenden gegessen werden. Hier fehlt jede Beziehung zum Kultus.

Wichtiger sind zwei andere Grabstelen aus Mar'asch, die nach der Schätzuug Eduard M"ey er s etwa dem 15. Jahrh. an- gehören: da sitzt an einem Tisch eine Mutter mit ihrem Kinde auf dem Knie. In der Rechten hält sie einen Granatapfel, in der Linken eine fünfsaitige Lyra, auf der ein Vogel sitzt.^ Das andere Mal hält eine sitzende Frau einen Spiegel; vor ihr steht ein Diener mit einer Taube^. Wie der Spiegel und der Granat- apfel, so verrät wahrscheinlich auch die Taube einen Zusammen- hang mit dem Seelenglauben.

Unter den Kultszeuen käme höchstens das Felsrelief von Fraktin in Betracht*: Links spendet der König vor einem Gotte, rechts die Königin vor einer Göttin. Der Altar der Göttin hat einen merkwürdigen Aufsatz, der bei dem Altar des Gottes fehlt. Man könnte an einen Vogel denken, der auf die Göttin zufliegt; die Göttin wird dadurch als Taubengöttin charakteri- siert. Aber leider ist das Relief unvollendet und überdies so stark verwittert, daß sich nichts Sicheres aussagen läßt. ^

' Crawfort Journal of hell. stud. XIX 1899 S. 41 Fig. 4 = Eduard Meyer Reich und Kultur der Chetiler. Berlin 1914. Fig. 33; ebd. Fig. 31.

' Humatin und Puchstein Beisen in Kleinasien und Nordsyrien. Berlin 1890 Taf. 47,2 = Eduard Meyer Chetiler Fig. 30.

* Humann und Puchstein /{eisen Taf. 47,4 = Kduard Meyer Chetiler Fig. 29.

* Hamsay und Hogarth im R<c. de trav. XIV S. 87 Taf. 6 = Chantro Mission en Cappadoce. Paris 1898. S. 126 Taf. 2S = Garstang The land of the liitiites. London 1910. Taf. 47 = Eduard Meyer Chetitcr Fig. 81.

* Vgl. Oarstang a. a. 0. S. 151 ; anders Eduard Me;,er Chetiler S. 106: ,,£in ganz seltsamer Aufsatz, der wie ein sitzendes Kind aussieht; dan ist aber doch wohl Täuschung."

Die Sage von der Taufe Jesu u. die vorderorientalische Taubengöttin 35 1

15. Aucli das, was wir aus dem baby loniscli-assy- ri sehen Kulturkreis über die Taube wissen, ist noch verhält- nismäßig dürftig; indessen scheint doch das Wenige hinreichend, um ein festes urteil zu ermöglichen. Bei den Ausgrabungen der Tempel von Babylon durch die Deutsche Orient - Gesell- schaft sind mehrfach in den aus Ziegeln gebildeten Kapseln, meist des Toreingangs, tönerne Vögel gefunden worden, die man in der Regel als Tauben zu bezeichnen pflegt.^ Da der eine Tempel der Göttin Ninmach, der andere ebenfalls einer Göttin gehörte, die als Frau mit Kind dargestellt wird, so liegt es nahe, die Taube für den Yogel der weiblichen Gottheit zu halten.^

Aber der Schluß ist nicht zwingend. In anderen Kapseln fanden sich Tonmilnncheu, die nach einer noch lesbaren In- schrift^ mit dem Götterboten Papsukal identifiziert werden müssen. Dementsprechend sind auch die Tontauben als Boten- vögel gedacht, die der Herrin melden sollen, wenn etwas Be- sonderes geschieht; ihr Platz ist darum auch naturgemäß der Toreingang. Diese Deutung ist um so sicherer, als auf den Grenzsteinbildern der dort dargestellte Yogel tatsächlich dem Papsukal gilt; als Symbol der Istar dagegen bieten sie aus- schließlich den Stern.^ Die Möglicbkeit, daß die Taube der Vogel der weiblichen Gottheit war, bleibt gewiß auch trotzdem bestehen, aber es fehlt jede Sicherheit. Man braucht nur auf Ägypten zu blicken. Dort pflegten die Priester am Minfest nach der Thronbesteigung eines neuen Königs vier Vögel nach den vier Himmelsgegenden auszusenden, um den Göttern einer

* Robert Koldewey Die Tempel von Babylon und Borsippa. Leipzig 1911. S. 7 Abb. 4 uud S. 19 Abb. 20 (hier ist das Wort „Taube" mit einem Fragezeichen versehen).

^ So Zimmern in Keilinschriften imd Altes Testament." Berlin 1903. S. 429.

^ Koldewey a. a. 0. S. 68 Nr. 3. Die auf oder bei den Tontauben gefundenen Inschriften sind nach Weißbach nicht lesbar.

* Scheil Memoires de la Delegation en Ferse 1 S. 181 f.; VII S. 151 ff.; X S. 95.

352 IlnpfO Greßmann

jeden zu melden, daß sieh der König die Krone aufgesetzt hat.^ Als Boten benutzten sie nach Ausweis der Denkmäler neben Enten oder Gänsen^ schon in der Zeit des Neuen Reiches auch Tauben ^ die älteste „Taubenpost", von der wir Kunde haben. Aber sonst haben in der ägyptischen Religion die Tauben sicher niemals irgendwelche Beziehungen zu den Göt- tern oder Göttinnen gehabt. Wir müssen uns darum nach weiteren Belegen umsehen.

Wenn neben dem Raben und der Schwalbe im babylonischen Sintflutmvthus die wilde* Taube erscheint, so beweist auch das nichts, da es sich nicht um das Zeichen einer Gottheit handelt; man wird viel eher an einen profanen Vogel denken, weil der lleld durch eigene Klugheit herausbringen will, ob sich die Wasser verlaufen haben. Aber daß die Taube ein Göttervogel war, ist trotzdem kaum zu bestreiten. Aus der eigentümlichen Schrift der Babylonier, nach der die Wörter für 'Taube' und * gebären' durch denselben Lautwert ausge- drückt werden, hat mau wohl mit Recht geschlossen, daß die Taube als Geburtsvogel galt^; sie spielte also für Babylonieu die Rolle des Seelenvogels, die bei uns der Storch hat. Auf einer Votivtafel aus Nippur*', die aus vorsargonischer Zeit stammt (um 3000 v. Chr.), ist eine Göttin dargestellt, die auf

' Adolf Erman Ägypten und ägyptisches Leben im Altertum. Tübingen 1885, S. 102.

* Vgl. Champollion Monuments Taf. 149 (bi8) = Ro8ellini Monumenti del cuUo Taf. 76. Neues Reich.

* Vgl. Lepsius Denkmäler III Taf. 213 a = Wilkinson See. series Taf. 76. Neuea Reich (XX. Dyn.). Lepsiua Denkmäler IV Taf. 57—68. i'tole- müische Zeit.

* Man denkt vielfach mit Unrecht an eine zahme Tanbe; dann wäre ja die Probe sinnloB, da der Vogel dann zurückkehren müßte.

' M. Jastrow Die Religion BahyUmiens und Assyriens. Bd. \i S. 810 Anm. 3: tn = alddu „gebären" und Tü^" = summatu „Taubo".

* Hilprecht Explorations in Bible Lands S. 476 = Eduard Meyer Sumerier und Semiten. Berlin 1906. S. 99 = King Uistory of Sumer arui Akkad S. 49 Fig. 14 = Handcock Mesopotamian Archaeology S. 182 Fig. D.

Die Sage von der Taufe Jesu u. die vorderorientalische Taubengöttin 353

einem Vogel sitzt; sie ist mit einer Krone geschmückt und hält in der Hand einen Becher. Vor ihr steht ein Gefäß mit vier Blumen. Die rechte Figur ist unklar und bisher nicht sicher gedeutet^; von links naht ein Opfernder mit einer Ziege, von einem Gotte eingeführt. Die Göttin von Nippur, die die Um- rißzeichnung verherrlichen will, war Belit-ile, die Götterherrin die Mutter der Menschen und Götter. An sie, als '^die Mutter der Gebärenden', wendet sich hilfesuchend die Schwangere am Tage, da die Wehen eintreten.^ Zu ihr paßt der Geburtsvogel ausgezeichnet, obwohl hier wahrscheinlich nicht an eine Taube zu denken ist.

Nach einer Mitteilung von Otto Schroeder findet sich aber in einer bisher unveröffentlichten Liste aus Assur, die die im Asurtempel aufgestellten und verehrten Götterbilder aufzählt, auch Mie göttliche Taube' genannt, als Vogel 'der Göttin Tasmetu'^, einer Nebenform der Istar. Damit ist die Taube als Geburtsvogel nicht nur für Babylonien, sondern auch für Assyrien sicher nachgewiesen.

Vielleicht darf man in diesen Zusammenhang noch einen archäologischen Fund einreihen, dessen Deutung freilich sehr schwierig ist. Die Ausgrabungen der Deutschen Orient- Gesell- schaft in Assur haben mehrere Terrakottahäuschen* zutage gefördert, die im Grundriß etwa 40 x 40 cm umfassen und 80 90 cm hoch sind. Sie scheinen alle zweistöckig zu sein; unten liegen zwei Breiträume hintereinander. Das zweite Stock- werk erhebt sich nur über dem hinteren Raum und ist von dem unteren durch keine Decke getrennt. Die oberen Wände sind durchbrochen von dreieckigen, die unteren von oblongen <)ffnun'gen; bei jenen könnte man an Fenster, bei diesen an Türen denken, doch ist dies deswegen nicht plausibel, weil sie

* Die Deutung auf eine gebärende Frau ist sicher falsch.

* ummu ulidäte K. 890 und K. 115 30; vgl. Zimmern KÄT* S.428 Anm. 4.

» dsummatu ä Tasmeti. * MDOG. Nr. 54 S. 32 ff. Abb. 7.

ArcMr f. BeligionawisBenachaft XX. s/4 . 23

354 Hugo Greßmann

nicht bis auf den Bodeu reichen. Die Fronten sind durch Stäbe und Holmen gegliedert, die wenigstens bei einzelnen Häusern über und über mit Vögeln bedeckt sind. Anderswo schlängeln sich Schlangen an den Schwellen und Pfosten oder strecken sich Löwen auf den Decken, Gefunden sind die Häuschen unter dem archaischen Istartempel in der ältesten Schicht, die bis in die Zeit um 3000 v. Chr. zurückreicht. Ein Zusammenhang mit dem I^tarkult ist darum von vornherein wahrscheinlich. Walter ReimpelP hat sie zuerst mit einer scheinbar identischen Altarform verglichen, die auf dem Richzylinder' und anderen altbabylonischen Siegelzyliudern vorkommt. Otto Weber^ hat dann betont, daß es sich zweifellos hier wie dort um ganz dieselben Gegenstände handle, lehnt es aber ab, sie als Altäre oder Opfertische zu bezeichnen, und sucht in größerem Zusammenhange die Terrakottahäuser als 'Berghäuser' zu deuten. Aber die Ähnlichkeit der Form ist noch kein Beweis für die Identität der Sache. Erst muß man genau wissen, was der stufenförmige Bau auf dem Richzylinder bedeutet, ehe man weiter fragen kann, ob man ihn mit den Terrakottahäusern aus Assur kombinieren darf Den ^^ eg zur Beantwortung dieser Frage hat Wolfgang Keichel* gewiesen, indem er den Richzylinder mit stufenförmigen Gebilden griechischer Denk- mäler zusammenstellte; seine Erklärung wird man freilich ab- lehnen müssen zugunsten einer anderen, die heute mit Recht allgemein anerkannt wird. Auf einer altattischen Schale mit dem Bild der Athene^, auf der Fran^oisvase'^ und sonst sieht

' Zeits'hr. f. Assyr. 30 S. 7 9 f.

* William Hayes Ward TTie seal-cylinders of Western Aaia. Washington lÜlO. Nr. 1233 = Weber (vgl. folg. Anm.; S. 371 Abb. 1.

* Altorientalischr KuUgeräte (OrientaliBtische Studien, Fritz Hommel gewidmet. Leipzig 1918) Bd. MS. 370ff.

* Über vorhellenisrhe OötterkuUe Wien 1897. S. 45 Fig. 16.

' Veröffentlicht Journal of Hell. Studies I Taf. 7 S. 202 =• Reichel a. a. 0. S. 41 Fig. 11.

' Wiener Vorhgehlättfr für arch. Übungen 1888. T. II; vgl. ferner Overbeck Heroengallerie XV ll.

Die Sage von der Taufe Jesu u. die vorderorientalische Taubengöttin ^55

man aufgemauerte Altäre aus Ziegel- oder Quadersteinen, die man nur als Brandopferaltäre auffassen kann, weil eine helle Flamme von iknen emporlodert. Die zinnenartige Erhöhung, die an einer oder an beiden Seiten emporragt, hat man ein- leuchtend als Schutzvorrichtung gegen den Wind gedeutet.^ Damit ist aber auch das Rätsel des Richzylinders und der anderen altbabylonischen Siegelzylinder gelöst, die denselben Altar darstellen; man erkennt den Bau aus Quadersteinen, die Opferüamme, die überragende Zinne zum Schutz des Feuers und, wenn die Zeichnung zuverlässig ist, den Kopf des Opfer- tieres als Abkürzung für das Ganzopfer, das auf dem Altar verbrannt wird. Daraus folgt zugleich, daß die Altar formen und die Terrakottahäuser aus Assur nichts miteinander zu tun haben.

Vielleicht empfiehlt es sich, die Terrakottahäuser als Tau- benhäuser zu betrachten, nicht als Votivgegenstände, sondern als wirkliche Nester, in denen Tempeltauben gehalten wurden, etwa ein Pärchen in jedem Haus. Dafür sprechen erstens die Fundumstände. Die Häuser steckten noch am Ort ihrer Ver- wendung im Lehmbeschlag des Fußbodens fest, wie es scheint, nebeneinander. Daß der Bau unter dem archaischen Istar- te mpel ebenfalls ein Istartempel war oder wenigstens irgend- wie mit ihrem Kulte zusammenhing, liegt nahe zu vermuten. Die zum Teil ungewöhnliche Größe der Räume würde gut da- zu passen. Auch das große, dickwandige Wassergefäß, das in der Nähe der einen Wand aufgestellt war, würde einem Auf- enthaltsraum für Vögel durchaus angemessen sein. Zweitens spricht für diese Deutung die Verzierung der Häuser mit un- zähligen Tauben, ähnlich wie bei den Taubenkegeln und Tauben- . häusern auf Kypros.''' Wenn daneben noch Schlaugen und Löwen als Dekoration verwandt worden sind, so steht das zwar im Widerspruch mit der vorgeschlagenen Auffassung;

^ Reisch bei Pauly-Wissowa - s. v. Altar S. 1672. * Vgl. 0. S. 339 f.

23*

356 Hugo Greßmann

uamentlich müssen die Schlangen als die geschworenen Feinde der Tauben gelten/' Aber wie in Kreta und Kleinasien, so sind auch in Assyrien, wie man nicht leugnen wird, Löwen, Tauben und Schlangen die charakteristischen Tiere der weib- lichen Gottheit. Von dem Löwen ist das längst anerkannt; so heißt die Istar von Uruk Mie da anschirrt die sieben Löwen'.* Der Mythus von der Höllenfahrt der Istar lehrt, daß sie auch Lebens- und Todesgöttin war; darum gehören ihr die Schlangen' und Tauben als Seelentiere. Drittens erklärt sich von hier aus auch die Form des Hauses. Als Niststätten für die Tauben wählte man tönerne Gefäße und gestaltete sie, wie auf Ky^iros, nach Analogie der menschlichen Wohnräume. Die kyprischen Parallelen sind insofern besonders interessant, als dort eben dieselbe dreieckige Form der Offnungen erscheint, die als Luft- oder Fluglöcher für die Tauben dienten'*, wie in Assyrien. Wenn sich die Hypothese von den Terrakottahäusern als Tauben- häusern bewährt, dann wäre damit bewiesen, daß in Assyrien schon um 3000 v. Chr. die Tauben als Vögel der Istar ge- zähmt wurden.

16. Zusammenfassend ergibt sich: Auf semitischem Boden sind uns drei Zentren des Taubenkultes begegnet: As- kalon, Hieropolia und Assur. Daß Aekalon von Hieropolis abhänj^ig ist, ergibt sich aus dem gleichen Namen der hier wie dort verehrten Göttin Atargatis, der allerdings in Askalou einen älteren verdrängt haben mag. Hieropolis am Euphrat aber liegt schon in so großer Nachbarschaft Assyriens, daß ein Einfluß der assyrischen Istar auf die aramäische Atargatis von vornherein wahrscheinlich ist. Gewiß hat die Atargatis

' VkI- 0. S. 325.

' Nabonid Nr. 8. Kol. III. Lanpdon Keuhah. Königsinschriften. Leipzig' 1912. S. 274f.; vgl. Zimmern KAT* S. 431 Anm. 6.

Vgl. aus Bpäferer Zeit die IJeBclireibung der babylonischen Hera, Diodor II 9; über Scblanpenkuit bei den t^emiteu vgl. BaudisHin Studien zur yeniitischen Jieligionsgeschkhte. Bd. I. Leipzig 1876. S. 257 ff.

* Vgl. 0. S. 340.

Die Sage von der Taufe Jesu u. die vorderorientalisclie Taubengöttin 357

ursprünglich ihr selbständiges Leben geführt vermutlich als Fischgöttin , aber gewiß verschmolz sie schon früh mit der weiblichen Gottheit der Assyrer oder Babylonier. Ob hinter der assyrischen Taubengöttin wieder die babylonisch-sumerische steht, läßt sich heute noch nicht mit Sicherheit sagen, zumal da die hethitische Religion noch zu wenig bekannt ist ; viel- leicht kamen die Sumerer gar aus Kleinasien. Man kann ebensogut Kleinasien wie Babylonien für das älteste Zentrum der Taubengöttin ausgeben, weil das eine so wenig zu beweisen ist wie das andere. Sicher ist nur die Wanderung ihres Kultes von Assur über Hieropolis in Syrien bis nach Askalon im südlichen Palästina. Sicher ist auch die Ausstrahlung ihres Kultes von Kleinasien nach den Inseln des Agäischen Meeres und dem hellenischen Festlande; überall wuchs die einheimische Gottheit mit der fremden zu einer unlösbaren Einheit zu- sammen. In Kreta ist die Taubengöttin schon um 2000 v.Chr. heimisch gewesen; und wenn babylonische Einflüsse bis dort- hin gereicht haben, so müssen sie schon in das dritte vor- christliche Jahrtausend gesetzt werden, was nicht unmöglich ist. Neben diesen babylonischen Einwirkungen, die sich fast bis in das Dunkel der prähistorischen Zeit verlieren, darf man die Assyrer als die Träger und Verbreiter des Istar- kultes nicht vergessen. Gewiß begegnet uns die Istar von Nineve schon in dem Amarnabriefe Tusrattas^ als 'Herrin des Himmels', aber lebhafter werden ihre Spuren erst, seit die Assyrer im 9. Jahrh. von neuem ihr Weltreich zu errichten be- gannen. Unter Manasse (um 700 v. Chr.) wurde die assyrische Istar in Jerusalem als 'Himmelskönigin'^ verehrt; auch die 'Aphrodite Urania'^ in Askalon, das ebenfalls lange Zeit den Assyrern tributpflichtig war, wird, ehe sie zur aramäischen Atargatis wurde, mit der assyrischen Istar eins gewesen sein.

^ bellt same Amarna-Briefe 23, 26 Knadtzon.

" malkat hassamajivi Jerem. 44, 17flF.; vgl. Zimmern KAT* S. 441.

« Vgl. 0. S. 3ö3.

358 Hugo Grcßmann

Es ist gewiß kein Zufall, wenn wir gleichzeitig eine atarsamain als Hauptgöttin der Kedarener in Nordwestarabieu trefiFen; auch dorthin waren die Assyrer unter Sanherib gekommen.' Wie der Name lehrt, handelt es sich zunächst um eine aramäische Gottheit, die 'Attar des Himmels', die aber wahrscheinlich auf die assyrische Istar zurückgeht. Dasselbe 'Attar' steckt in dem Namen der 'Atargatis', deren zweiter Bestandteil immer noch dunkel ist; wir haben gesehen-, wie eng Atargatis gerade mit einer assyrischen Königin, mit Semiramis, verbunden ist, so daß beide direkt miteinander vertauscht werden. Da Semi- ramis auch in der persischen Volkssage Eroberungen gemacht hat^, so mag die persische Anahita, die auch als Ableger der Istar gelten muß, wenigstens ihrem Wesen nach, gleichfalls in assyrischer Zeit durch semitische Vorstellungen stärker beein- flußt worden sein.

Nun haben wir Atargatis speziell als diejenige Göttin kennen gelernt, die durch eine Taube auf dem Kopfe charakterisiert wird* Weiter hat sich gezeigt, wie die Taubenmotive in den Semiramissagen mehrfach wiederkehren'', auch in der Sage, die ihre Berufung zur assyrischen Königin erzählt. Aus inneren Gründen ließ sich vermuten, daß hier Atargatis, die Tauben- und Königsgöttin, ein Ersatz für die ursprünglichere Istar sei. Da Istar in der Tat als Taubengöttin nachgewiesen ist, so darf die dort geäußerte Hypothese Wahrscheinlichkeit beanspruchen, um so mehr, als Istar auch die Königsgöttin der Baby- lon ier und Assyrer ist. Der Gedanke der Sohnschaft oder Adoptivsohnschaft des Königs ist aus der älteren wie aus der jüngeren Zeit häufig zu belegen.* Daneben wird der babylo- nische König von der Göttin zum Geliebten oder zum (iemahl

' Asurhmi. Itm. VITl 112 124 (Streck II S. 72); B VI! 92 (Streck II' 133); K 3405 (Streck II 'J-23).

» V^l. o. S. 334 ff. ' Vgl. 0. S. 334. 336.

* Vgl 0. S. 336. Vgl. 0. S. 334. 337.

" Zimtn«rn im Alten Orient XUI, 1. S. 20f.

Die Sage von der Taufe Jesu u. die vorderorientalische Taubengöttin 359

erwäUt und damit auf den Herrscherthron der Stadt oder des Landes erhoben. Als das Findelkind Sargon zum Gärtner ge- worden ist, gewinnt Istar ihn lieb, weil sie eine besondere Schwäche für Gärtnerburschen hat. Bei den Königen von Lagas und Tsin ist 'Gatte der Innina' der übliche Titel des Herrschers.^ Später haben die assyrischen Könige, wie Assur- nasirpal allgemeiner von der Istar gesprochen, die mit dem Blick ihrer Augen sie ausersehen. Verlangen getragen nach ihrer Herrschaft und sie hervorgeholt hätte aus den Bergen.' Es wird weder hier noch sonst genauer angegeben, wie die Wahl erfolgte. Aber wenn Istar wirklich Taubengöttin war, dann mag man auch erzählt haben, wie sie eine Taube auf das Haupt des Auserwählten sandte und ihn so aus der Mensch- heit ausmusterte. Daß man tatsächlich in Assyrien derartiges fabelte, ist zwar nirgends bezeugt; aber nach dem, was hier ausgeführt worden ist, darf man dies trotzdem mit hoher Wahr- scheinlichkeit behaupten. So erklärt sich am einfachsten, daß wir das Motiv der Königswahl durch einen Vogel in Persien und in Palästina wiedertreffen. Von Assur als demMittel- punkte aus ist es durch die Vermittlung der Aramäer bis an ^ie beiden Endpunkte des vorderen Orients gedrungen. Die Taube, die als heiliger Geist in unseren Kirchen schwebt, und der Königsvogel, der durch die Märchen flattert, sie sind beide zwei unverstandene Überlebsei der assyrischen Tauben göttin Istar. Ob sie zugleich auch die Taufgöttin war, hängt von der noch nicht zu beantwortenden Frage ab, woher die Taufe stammt.

^ Belege und Begründung vgl. bei Greßmann Das Gilgamesch-Epos S. 122.

* Vgl. Zeitschr. f. Ässyr. V S. 66 ff. 79 f.; Zimmern KAJ" S. 382.

tber Kalendae lauuariae und Martiae im Mittelalter

Von Fedor Schneider in Frankfurt am Main

(Fortsetzung und Schluß von 8. 134)

Der Kanon von 743 ist in der Form, in der ihn Atto auf- nahm, in eine ganze Reihe kanonischer Sammlungen gedrungen: in Burchard von Worms,' die Collectio XII partium (1024), das Dekret des Ivo von Chartres, den Polycarpus des Kardi- nals Gregor (1118), besonders aber durch Gratians Dekret in das offizielle kanonische Recht der römischen Kirche.*

Ehe wir den kritischen Rundgang durch die Quellen des frühen Mittelalters beenden, müssen wir noch kurz fest- stellen, was von fränkisch - deutschem Material für die Ge-

^ Decr. X c. Ifi und davon abhäDf:rif^ XIX c, 5 §3. Falsch ist die Behand- lung bei Nilsson S. 122 Anm. 3. Die Bruma ist von dieser ganzen Reihe ge- strichen; freilich hat Burchard lapidibus statt lampadih^is ; aber ich muß weitere Schlüsse aus dieser Variante ablehnen, ehe der Text feststeht. Die ganze Reihe der Kanonisten hat ebenso lampadihus wie cnntatoribus; hierher gehört auch Vat. Lat. 1354 (s. o. S. 132 Anm. 1): ob da nicht cantationi- bus falsche Auflösung Nürnbergers ist? Und selbst wenn lajjidibus bei Burchard mehr als falsche Lesart wäre, so würde man aus dieser einen Abweichung keine sachlichen Differenzen erschließen noch mit Nilsson S. 124 verallgemeinern dürfen: .,B.8 Zeugnisse lassen sich nicht auf an- dere Quellen zurückführen." Schmitz II 403 467 gibt Burchards XIX. Buch, den Corrector, nach 16 z.T. gleichzeitigen Hss.; dort S. 423 c. 62 die sonst als XIX c. 6 § 3 zitierte Stelle, alle Hss. haben lapidibus. Vgl. jetzt Radermacher S. 92 Anm. 1.

* Gratian C. 26 q. 7 c. 14; einer der drei gegen die Kaienden ge- richteten Kanones, s. o. S. 116 Anm. 2 und u. S. 361 f. Über die Vor- lagen genügt der Hinweis auf den Apparat in Friedbergs Ausgabe I 1046. Die z. B. in Böhmers Ausgabe nachgedruckte Editio Romana des Corpus iuria canonici interpoliert Gratians echten Text aus dem Konzil von 743 und verwirrt so die Textgeschichto des Kanons, wenn sie et brumam einfügt, lampadtbus in dapibus und cantatores in caniiones ändert.

über Kalendae lanuariae imd Martiae im Mittelalter 36 J

schichte der Kalendenfeier übriggeblieben ist. Zunächst der Kanon eines Konzils von Ronen, das Nilsson, irrig der älteren Ansicht folgend, ins Jahr 649 setzt, während er karolingisch ist^: Si quis in Kalendis lanuariis aliquid fecerit, quod a pa- ganis inventum est, et dies observat et lunam et menses, et Jiora- rum effectiva potentia aliquid sperat in melius aut deterius verti, anathema sit. Der auf die Kaienden bezügliche erste Teil ent- hält sachlich nichts, was nicht auch in den im IX. Jahrhun- dert allgemein verbreiteten fränkischen Büß büchern stünde, und hat quellenkritisch genau so viel und so wenig Wert wie diese. Die Verbindung mit der Zeitwählerei ist rein zufällig*; die Grundlage sind der Galaterkommentar des Ambrosius und der auch von Bonifatius zitierte Sermo 278 des Caesarius; mit ihm sind Stellen, wie sie sich in der humelia de sacrilegia finden, verschmolzen. Die literarische Tradition über die Zeitwahl, die auf Gal. 4, 10 11 zurückgeht, wäre ein Kapitel für sich, das hier nicht erledigt werden kann; daß sich an den Jahres- beginn besonders viel Augurienbrauch anschloß, ist bekannt, aber für dessen konkrete Form kann man aus solcher litera- rischer Tradition nichts schließen.^ Regino von Prüm über-

' Coyic. Eotomag. a. 650? c. 13, Bruna II 271. Nilsson S. 119; über die chronologischen Ansätze vgl. Hefele Konziliengesch. III ^ 96. Karolin- gisch: Hauck DKG. IP 660 Anm. 2; Zeit Ludwigs d. Fr.: A. Werming- hoff Akten fränJc. Konzile von 742 bis 843, Neues Archiv d. Ges. usw. XXIV (1899) 492. Wie Nilsson a. a. 0. richtig angibt, hat ßurchard von Worms Deer. X 17 den Kanon so gut wie wörtlich übernommen.

^ Wohl nach dem Vorgang der im folgenden benutzten Ambrosius- stelle.

' Allgemein bekannt ist die Stelle des Ambrosius im Galaterkom- mentar (vgl. Nilsson S. 108. 119), wörtlich abgeschrieben in Hrabans Galaterkommentar, Migne 112 col. 318, die auch Regino de syn. causis et disciplinis ecdesiast. II c. 372 p. 356 sq. Wass. aus der Sammlung der Vatic. Hs. c. 140 übernimmt; ebenso Burchard X 11. Von Ambrosius ist abhängig Martin von Braga de corr. rust. c. 10 p, 12 sq. Casp. gegen den error, Kai. lan. sei Jahresanfang, wie die Erwähnung der Vulca- nalia c. 16 p. 30 (b. o. S. 120 Anm. 2) beweist; doch hat er wohl noch anderes (orientalisches) Material: vgl. Capitida Mariini c. 72, Bruns II

362 Fedor Schneider

nimmt die Stelle aus Ambrosius' Galaterkommentar, die das dies ohservare erklärt und im Anschluß daran als onnos colere die Kaiendenfeier untersaort.^ Bnrchard von Worms (f 1025)* hat in seinem Decretum die Kaiendenverbote aus den Capiinla Mariini Bracarensis, dem römischen Konzil von 743 uud dem Konzil von Ronen ^; daß er dort, wo er Attos Version folgt, la77ipadibus in lajyidihus verändert, wurde schon besprochen und ist sachlich kaum bedeutsam. Freilich ist ein großer Teil der Textänderungen, die Burchard und seine Mit- arbeiter an ihren Vorlagen vornahmen, absichtlich und aus Rücksicht auf zeitgenössischen deutschen Volksbrauch zu er-

56 sq. nach unbekannter Vorlage. Augustin in Gal. c. 34, Migne 35 col. 2129 sq. CaesariuB s. 278 § 1 col. 2269 (s. o. S 127 Anm. 2) ist das Vorbild der karolingischen Predigten über Tagwählerei, so der Immelia de sacrilegia § 27; aber das. § 10. 12. 16 haben neben Caesarius s. 130 § 4. 266 § 6 noch eine unbekannte Quelle, über Atto vgl. o. S. 131 Anna. 2. In diesem Zusammenhang ist auch zu beachten die noch nicht fest- gestellte Vorlage von Gratian C. 26 q. 7 c. 16 (als Augustinus zitiert). Allgemein Reitzenstein Poimavdres S. 81 Anm. 10 über die astrologische Bedeutung von Gal. 4, 9 10. Ich beabsichtige hier nur unvollstän- dige Notizen zu geben. Nachträglich finde ich noch Augnetin. Ep. ad Januar c. 7 § 12 sq., Migne 33 col. 210. Zur Zeitwahl jetzt auch Rader- macher S. 100 ff.

' S. V. Anm. In der aus Ilalitgar entnommenen großen Bußord- nung 1. l c. 304 p. 145 hat er das in ccrvulo vel vegula, das in Burchard XIX c. 5 § 20 überging, s. o. S. 106 Anm. 2 (irrig als Buch X) u. u. S. 363 Anm. 2.

* H. Grosch Burchard I. Bischof von Worms (Jenenser Diss. 1890).

A. Uauck DKO. 1II'~*.S. 437 ff. und in den Berichten der Sachs. Ges. d. Wiss. Phii-hist. Kl. 1893 - 94 S. 69—86. Ed. Diederich Das Dekret des

B. Burchard v. Worms. Beiträge z. Gesch. e. Quellen. I. Teil (Breslauer Diss. 1908) S. 68—60 fdie Zusammenstellung ist, wie S. 16 ff. über Ps. leidor zeigt, wo S. 23 nr. 18 bei den Capituln Martini c. 73 = Bur- chard X c. 15 fehlt, oberflächlich; ebenso S. 39 ff. über Konzilien). Böse S. 63—66. Wattenbach DGQ I' 397 f. Helm I 90 f.

' Burchard Decr. X c. 16 e.r decretis Martialis jmpae s. o. S 119 Anm. 2; X c. 16 er decretis Zachariaepapae b. o.S.lii Anm. 2; hier wohl ans Atto wegen der Inscriptio, also folgt Atto auch mit lampadibus einer ihm und den jüngeren Kanonisten gemeinsamen Vorlage; X c, 17 ex conc. Botomag. s. o. S. 361 Anm. 1.

über Kalendae lanuariae und Martiae im Mittelalter 363

klären^; an diesen Umstand wird man aber weniger bei einer so geringfügigen, vielleicht auf Verlesung zurückgehenden Abwei- chung denken, wie bei der Erweiterung der Bestimmung von 743 im XIX. Buche, dem sogenannten Corredor Burchardi} Burchard verfolgt darin einen praktischen Zweck es ist ein Beicht- buch — und glossiert deshalb des öfteren die hergebrachte Terminologie seiner Quellen mit deutschen Ausdrücken. Hier ist Bezugnahme auf deutschen Brauch unbedingt sicher; er verbietet nun im Anschluß an die von Papst Zacharias ver- botenen Neujahrsriten drei bisher unbekannte: man sitzt mit dem Schwert gegürtet auf dem Dache des Hauses oder an Kreuzwegen auf einer Ochsenhaut; beide Male späht man nach Augurien; oder man weissagt aus Brot, das in der Neujahrs- nacht gebacken wird.^ An einer unabhängigen Stelle des Cor- redor ist dann von Spinnen, Weben, Nähen und jeglicher Art Anfangszauber in der Neujahrsnacht die Rede.* Es mag sein, daß keltischer Feenglaube die Neujahrsriten der Deut- schen beeinflußte, daß Personifikationen der Kaiendenfeier in der Art der Berchta oder Befana von dort aus bei uns

* Über solche Textänderungen vgl. Hauck a. a. 0. (Ber. d. Sachs. Ges. d. Wiss. S. 69 ff.) und Diederich S. 58.

* Auszug Grimm DM.* III 404 411, Separat edd. Wasserschieben Bußordn. S. 264 ff. und Friedberg S. 82 ff. (dessen bei Migne fehlender Zählung ich folge). Schmitz II 403 467 mit anderer Kapitelzählung, s. 0. S. 360 Anm. 1.

^ Burchard XIX c. 6 § 3. Daselbst § 20 aus den Bußbüchern in cervulo vel in vegula s. o. S. 105 Anm. 2. Radermacher S. I03f.

* Ib. XIX c. 5 § 24; Friedberg S. 93 bemerkt: „sonst (außer den be- kannten Stellen, die er S. 25 f. bespricht) keine Quellen nachweisbar"; doch omnes opus, quodcumque incipere possunt, . . propter novum an- num incipiunt, das den Preller-Jordan I 181 Anm. 2 belegten römischen Brauch betrifft, dürfte uohl eine literarische Vorlage haben; s. auch o. S. 112 über den Indiculus superstitionum. Nach 1270 steht in der Instruktion der Inquisitoren, zu fragen, si in Kai. lan. propter novum annum fecit aliqtiid augurio honi fati, dando ad invicem aliquid pro strenuis, Hansen Quelleyi u. Unters, z. Gesch. des Hexenuahns (1901) S. 43, vgl. Meyer S. 73. Bünger 8. 19- Die Berührung mit Caesarius ist klar.

364 Fedor Schneider

eindrangen'; sicher ist das nicht, sicher dagegen, daß der von Burchard ausdrücklich auf Neujahr bezogene germanische Volks- brauch im Grunde auf den römischen Kalenden/auber zurück- geht, aber im Laufe der Jahrliunderte in der mantischen Technik deutsche Züge angenommen hatte. Wir erinnern uns, daß es im VIII. Jahrhundert bei uns üblich war, zu Neujahr in freiem Felde Waffen zu zeigen.* Und das ist die beste Bestätigung, daß hier einmal die tatsächliche Entwicklung greifbar deutlich vor unseren Augen steht. Auch die Auguralpraxis geht mit der Zeit: von der Divination aus dem Fressen der Vögel bis zu der aus dem Kaffeesatz ist auch eine historische Entwick- lung durchmessen. Fassen wir zusammen: scheidet man die literarische Überlieferung aus, so bleibt an Zeugnissen für den Kaiendenbrauch in unseren frühmittelalterlichen Quellen blut- wenig übrig, und das ist entweder zwingend als römisch mit teilweise keltischen Einsprengungen zu erweisen, teils zeigt es eine zeitgemäße Fortbildung römischer Grundlagen.

* So viel könnte von Nilasons oben abgelehnter Hypothese, der „germanische Geiatertisch" sei den Matronae geweiht (S. 122 132), übrigbleiben.

* Uumelia de sacrilegia § 17, b. o. S. 110. Die Stelle muß mit don Augnrien bei Burchard zusammengestellt werden. Vgl. aber schon Maximus von Turin b. 6 de Kalendis lanuariis, Migne PL. 57 col. 643 Observavit diem, qui heftterna die non processit ad ecciesiam, processit ad camputn, dazu Caspari UomiJie S. 34. Burchard X c. 34, wo ver- schiedene schon von Caf'sarius bekämpfte Paganien verboten werden: das Schreien bei MondfinsterniH, Zauberer und Amulette (statt sucoa 1. succinon), Feier des dies lovis, schließt daran vel KaUn(das) lanua- (rias) secundum paganam cousuettidinem honorare praesuinpserit ; er hat die fnsrriptio: er cnncilio Arclalensi cap. 5, doch die wahre Quelle ist das Pöiiitentialc P^kberts von York (s. o. S. 114), vielleicht wie der voraus- gehende, aus Hegino I c. S'.'S p. ;i80 Wass. entnommene, der nach der hiscripiio ans gleicher Quelle stammt, aus einer karoiingischen Predigt, die stark mit Caesarius arbeitet. Burchards Kritik wird durch den Um- stand pr.-^rbwert, daß die von Diederich versprochene Berichtigung seiner Inskriptionen noch nicht erschienen ist.

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306 Fedor Schneider

Exkurs. Zum Euhemerismus unserer frühmittelalterliclien Quellen über die Kaiende u

Der Anlaß, über die Kaiendenfeier zu reden, war in der bisher be- handelten literarischen Gruppe fast stets die Polemik gegen den Paga- nismus. Die Begründung, sofern sie gegeben wird, ist euhemeristisch; sie wie ihr Gegenspiel, die dämonist ische Deutung der alten Mytholo- gie, war dem Christentum von der antiken Philosophie überkommen.*

In Rom wurde der Euhemerismus bekanntlich früh heimiscii: En- nius übersetzte den Euhemeros, ein auf Mittelalter und Reoaissance be- sonders wirkendes Beispiel sind dann die Erklärungen der römischen Stammsage im Livius, und wenn die Legende gerade bei lanus mit be- sonderer Vorliebe verweilte, so entsprach ihr neben der physikalischen Deutung die euhemeristische.* Hygin, Virgil*, besonders Varro, auf den Macrobius wie der Virgilkommentar des Servius zurückgeht, wurden die Vermittler der gelehrten Kenntnisse von Kirchenvätern wie Tertullian und Augustin.* Macrobius hat dann in Rom im hohen Mittelalter eine merkwürdige Stadtsage angeregt.* Die älteren kirchlichen Autoren benutzen andere Überlieferung; so folgt Arnobins in seiner Analyse des lanus nur

' Euhemerismus: Jacoby bei Pauly-Wissowa VI ' S. 952 961. Wend- land Die hellenistisch - röm. Kultur^ S. 119—122. Für die Spätzeit Caspari Martin von Braga S. XClXf. lanus euhemeristisch: Uüuger S. 21 23. Götter als Dämonen wie bei den Juden schon bei Paulus, in den apostolischen Konstitutionen, bei den Apologeten; die Vorstel- lung ist griechisch: (reffcken Zwei griech. Apologeten (1907) S. 210— 224. Wendland' S. 213—217. Am bekanntesten ist die Dämonologie in den Dialogen Gregors des Großen; doch auch Martin von Braga de corr. rust. c. 7 8 p. 7—10 Casp. führt sie breit aus; vgl. dazu die gelehrte Erklärung von Caspari S. XCVII C.

* Dieterich A7. Sehr. S. 458 f. Wissowa* S. 68 f. (Ennius). lanus und die Sage: Schwegler Röm. Gesch. I 212— 22:^. Wiseowa* S. 107.

* Macrob. Saturn. I 7, 19. Vgl. Lydus de mens. IV 2 p. 66 sq. Wünsch, Wissowa» S. 107. Verg. Äeyi. VII 177—181. VIII 366 - 368.

* Vgl. die Stellen bei Schwegler I 212 Anm. 2. 3. Bei den griechi- schen Apologeten tritt der Euhemerismus überhaupt zurück, Geffcken S. XVII, während im Abendland Varro Schule machte.

•' Die Graphia aureae urbis liomae ed. Ozanam Doc. incd p. 166 verschmilzt im Einleitungskapitel den Macrobius, der neben Varro über Hygin auf Protarch von Tralles zurückgeht, mit Servius und allerhand biblischer Fabelei (Saturn = Nimrod, lanus Sohn Noahs, ein anderer lanus dessen Neffe, Sohn Japhets) und anderer Grammatikerweisheit. Paulus Diaconus, dessen römische Geschichte im Mittelalter große Auto- rität besaß, gebt dagegen ganz auf Servius zurück.

über Kalendae lanuariae und Martiae im Mittelalter 3ß7

teilweise Varro\ und die patristische lanusmytliologie scheint sich über- haupt nicht restlos aus den bekannten Quellen ableiten zu lassen.

Maximus von Turin weiß noch, daß lanus Mensch war und die Stadt Janiculum gründete; ihm zu Ehren tragen die Kalendae lanuariae ihren Namen.* Er verwirft das Fest nur wegen der einem Menschen erwiesenen göttlichen Ehren und wegen des dies observare G-al. 4, 9 10, das ja an sich gegen die Unterwerfung unter die astrologischen Gottheiten ging, die die Herren über Zeit und Raum sein sollten, aber, wie wir aus späterer Zeit sahen, bald in verflachtem Sinn auf die Be- obachtung von Kaienden- und heidnischen Festtagen bezogen wurde.* Von dieser gleichmütigen, fast mit Augustins Wohlwollen gegen den Harmlosesten im römischen Olymp vergleichbaren Stimmung weicht Caesarius ungeheuer ab*: euhemeristisch erklärt er lanus für einen

^ Ärnobius ad nat. III c. 39 p. 131 Reiff.; vgl. Wisaowa« S. 108. Mit Ärnobius berührt sich Macrobius (gleiche Quelle?). Vgl. Seh wegler I 218. Wichtig Isidor Etym. VIII 11, 1—3.

'^ L. c. (o. S. 95 Anm. 1) Ja^ius enim homo fuü unius conäüor civitatis, quae laniculum nuncupatur, in cuius honorem a gentibus Ka- lendae sunt lanuariae nuncupatae. Vgl. Schwegler I 212 Anm. 2. Auch z. B. etwa bei Cyprian quod dii idola non sint % 4.

' Vgl. 0. S. 361 Anm. 3 ; über die Planetengötter handeln hermetisch Filastrius von Brescia haeres. Über p. 78 Marx, euhemeristisch Caesarius Ps. Augustin s. 130 § 4 col. 2004 (vgl. Maaß Tagesgötter S. 140 ; Augustin VII 15 und Filastrius, die Arnold S. 172 f. vergleicht, sind nicht Quelle), besonders aber richtet sich der 4. Traktat des Maximus contra paganos, Migne 57 col. 781—794 in erster Linie gegen Fatum und astrologische Götter (ab- weichend von Augustin VII 17. VIII 5. 26). Über Atto s. o. S. 131 Anm. 2.

* Ps. Augustin s. 129 § 1 col. 2001 Dies KaJendarum . . . a quodam lano homine perdito ac sacrilego nomen accepit; lanus autevi iste dux quidam et prineeps hominuin paganorum fuit, quem imperiti hominis et rustici dum quasi regem metuunt, colere velut deutn coeperunt . . . Eomi- nes quippe stulti et ignorantes deum illos tune maxime deos existimdbant , quos inter homines sublimiores esse cernebant . . . Et quia apud illos la- nuariae Kalendae unum annum implere et alterum incipere dicebantur, istum lanum quasi in principio et in termino posuerunt . . . ipsi lano duas facies figurarunt, unam ante ipsum, alteram post ipsum: unam, quae praeteritum annum videretur aspicere, alteram, quae futurum ; ac sie homines insipientes duas ei facies deputando, dum eum deum facere cupi- unt, monstncm esse fecerunt; voluerunt in deo suo esse praecipuum pagani homines, quod est etiam in ptcudibus monstruosum. Anklänge an Augustin de eiv. dei VII 8 (Doppelgesicht); VII 26 lani monstrositas ; VII 4 eum simulacri monstrosa deformitate ita turparunt; auch Cyprian 1. c. Euhe- merismus bei Caesarius: Arnold S. 172 f.; auch über das Furchtmotiv.

368 Fedor Schneider

Menschen, leitet aber seine Verehrung als Gott aus der Furcht ab, die man vor diesem ganz ruchlosen Heidenfiirsten gehabt habe. Hier wird er seine Vorlage tendenziös verdreht haben.' Diese Weisheit hat auf die dürre Folgezeit offenbar großen Eindruck gemacht: von Caesariua hängt der uns bekannte Kanon des 2. Konzils von Tours (567) ab', wie die humelia de sacrilegia.^ Ebenso unselbständig ist Isidor von Sevilla: auch er folgt wünlich mit einigen Auslassungen dem Caesarius; freilich fügt er aus einer echten Predigt Augustins etwas über die heidnische Feier der .lanuarkalenden hinzu.* Mit wenigen Ausnahmen läßt sich 60 der stehende Gebrauch des Euhemerismus in bezug auf lanns im Mittelalter direkt oder durch eines der Mittelglieder auf Caesarius zurück- führen; wenn schon dieser seine Kenntnisse auch aus gelehrten Kom- pendien vervollständigte, so wußte die Nachwelt nicbts mehr von dem doppelköpfigen Gotte and schrieb begeistert die selbstgefälligen Phrasen des Pseudo-Angustiu nach.

öfter wird des lunus hifrons gedacht, weil ihn Ambrosius in der berühmten Stelle seines Galaterkommentars über das dies observare er- wähnt: aus ihm ging die Erwähnung in Burchards von Worms Dekret und andere Kirchenrechtsquellen über, aber bei Regino fehlt der Satz.* Beda hat nur die Etymologie lanus = ianua anni^; eine ihm unter- geschobene Schrift berichtet die euhemeriatischo Sage von der Rettung Homs durch lanus hifrons, den König der Epiroten; dieser kommt da- bei durch Feuer um und wird zum Gott erhoben, die Römer bauen ihpi

' Doch kann die Tendenz der Vorlage angehört haben; lanus iro- nisch z. B. Sen. Apoc. c. 9 p. 232 Buech.

* C. 22, Bruns II 23ö cum Innus homo gentilis fuit, rex quidem, sed deus esse non potuit, s. o. S. 367 Anm. 4.

* C. 23 p. 16 Casp. wörtlich aus Caesarius, vgl. o. S. 110.

* Is. de rccX. off. c. i\ § 1 col. 774 (s. o, S. 122 Anm. 1) lavus enim quidam princeps pagunorum fuit, a quo nomen metms lanuarii nnvcupa- tur, quem impcrili homines velut in religione honoris posteris tradiderunt diemque ipsum scenis et lururiae tradiderunt (vgl. Auguatin s. 198 de Kai. Ion. II, Migne PL. 38 col. 1024— l(i26). Etym. VIII 11, 37. V 33, 3 4 ist mit einem Zusatz aus Cnesarius an erster Stelle von Placidus abliängig. Im allg. vgl. jetzt Schmekel S. 184 214. Wenn Gregor von Tours (s. Euhemerismus Bist. Franc. II 29 p. 90 sq. Arndt) tn glnria vinrt. p. 488, an einer aus V'irgil- und Ovidreminiszenzen zu.MHmmengC8topi)elten Stolle, sagt: non lani conßictJis, fugas rel ob'tum exitiile jroferam, so hat Krusch das schon aus Verwechslung mit Tur- nus erklärt.

* S 0. S. 361 f.

" I)e rat. temp. c. 12, Migne PL. 90 col. 351 au« Ov. Fast. I 124, ServiuB (Placidus-Isidor) oder Tertullian, vgl. Schwegler I 221 Anm. 19.

über Kalendae lanuariae und Martiae im Mittelalter 3ß9

«inen Tempel, das laniculum. ' Antik scheint die Sage in dieser Form nicht zu sein, doch stellt sie sich als stadtrömisch vor, was bei den innigen Beziehungen, die zwischen den Angelsachsen und Rom seit ihren großen Kulturbringern Theodor von Tharsus und Hadrian von Nisida •obwalteten, durchaus erklärlich ist.

Eine gesonderte Betrachtung verdient nur noch Atto von Vercelli, der in der uns bekannten Kaiendenpredigt mit dem Euhemerismus eine eigenartige Dämonologie verbindet.* Nachdem er im Anschluß an die Neujahrsfeier einige Mitteilungen, die uns gleich beschäftigen werden, über Märzkalendenbrauch gemacht hat, erklärt er, Mars und lanus seien zwei böse Menschen gewesen, der eine ein Mörder und Ehebrecher, der andere so eitel, daß er sich selbst verbrannte,* Nach ihrem Tode hätten ihnen die Menschen Statuen errichtet, die Dämonen, die sich ihre Namen aneigneten, zum Wohnsitz erkoren hätten; so habe es den Anschein gewonnen, als ob jene beiden Menschen zu Göttern geworden

^ Be div. temp. c. 15, Migne 1. c. col. 659; vgl. Arturo Graf Borna mella memoria e nelle immaginazioni del media evo I 219 seg. Beda ist die Grundlage, die sagenhaft ausgestaltet wird. Zu rege Epirotarum vgl. Plutarch g. Born. c. 22, der lanus einen Griechen aus Perrhaibia nennt, dazu W. F. Otto lanus, PW. Suppl. Bd. 111 1185; doch Perrhaibia liegt in Thessalien, und von Plutarch führt keine literarische Tradition ins Mittelalter. Eine Kompilation aus Caesarius, Isidorus und Beda steht in Ps. Alcuin de div. off,, Migne 101 col. 1177 sq. (um 1050) = Ps. Beda de div. off. ib. 94 col. 539 sq. (noch später).

2 L. c. (o. S. 131 Anm. 2) col. 836 Mars namque et lanus liomines perversi et infelices fuerunt, quorum unus homicida et adulter, alter in tantum fuit vanus et deinens, ut etiam se ipsum flammis cremaret. Post quorum interitum paganorum Ulis more fabricatae sunt statuae, in quihus oh eorum scelerum immensitatem daemonibus placuit habitare, et ut faci- Uus homines deciperent, praedictorum sibi nomina placuit fingere, sicque se vivere et deos esse iactabant duorumque mensium principia sibi sacranda dicebant atque suo nomine eosdem menses, scilicet Martium et lanuarium, a Harte et lano appellari iubebant et, qualiter per singulas ipsas Kalen- das sollemnia cojerent qualesque cultus peragerent, edocebant. Qui error in tantum frequentando crevit, ut paene ab Omnibus coleretur subversis, et inde esse existimo, quod hodieque durat in rusticis.

' W. Weber vermutet hier ein Nachwirken der Sage von Empe- dokles' Sprung in den Ätna, durch den er göttlich werden soll. Näher liegt vielleicht, wie 0. Weinreich annimmt, die Selbstverbrennung des Peregrinus Proteus in Olympia. Dieser Lukianische Dialog gehörte ja wegen seiner Christenkapitel zu den bekanntesten. Die Zusammenstel- lung von Mars und lanus erklärt sich aus Isidor. Verbrennung ebenso bei Ps. Beda, o. S. 368.

Archiv f. Keligionswissenschaft XX. 3/4 24

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seien, nnd darum seien ihnen die Monate Januar und März geweiht. Hier liegt nun eine selbstiindige Tradition vor, die wohl gewisse An- klänge an Augustin hat, aber keineswegs in der Grundlage auf diesen zurückgeführt werden kann.* Besonders die Erzählung von lanus mit ihrem Empedoklos- Motiv ist fast einzig in ihrer Art und verdient, daß man auf sie aufmerksam macht, selbst wenn es einem in den Traditio- nen der antiken Mythologie bewanderten Forscher gelingen sollte, ihre Vorlage ausfindig zu machen.

II Das Fortleben der Kalendae Tanunruie im ueueren Tolksbraucli. Märzkaleiideii und Terwandtes

Am Silvesterabend und Neujahrstage, in viel stärkerem Maße aber an benachbarten christlichen Festen haftet eine Fülle von Kaiendenbrauch,* Epiphanias, der altchristliche Jahres- anfang, besonders Weihnachten, der Andreas-, Martins- und Nikolaustag sogen die Kalendae lanuariae auf, und zwar nicht

* Anfang ans Caesarius, dem auch die folgende euhemeristische Er- klärung der Planetengötter ähnelt, ohne Quelle zu sein. Mars homici- da: Augustin de civ. dei V 1, XVIII 10; adulter: Jsidor Etym. VIII 11, 60. lanus vgl. Augustin 1. c. VII 4. Für die Dämonen liegt keine ein- zelne Augustinstelle als Parallele vor, und auch die Gesamttendenz des IX. Buches, das man vergleichen kann, weicht ab. Schultz S. 62 sagt, die Kntstehung des Mars- und lanusdienstes erkläre Atto nach Isidor; das ist 80 nicht richtig, bei Is. i7^m. VIII 11, 4 steht nur, daß die Menschen hervorragenden Gestorbenen Denkmäler errichteten, denen all- mählich prrsnadentihus daemonibiis göttliche Verehrung zuteil geworden sei; § ö, Bildsäulen seien verehrten Toten errichtet, iamquam in caelum rcceptis, pro quibus se in terris daemones cohndos supposucrunt, et sibi sncrificari a deceptis et perditis persuasernnt, vgl. Schmckel S. 200 ff. (wie Lactantius ans Sueton). Die Anwendung dieses allgemeinen Satzes auf Mars und lanus ist das Werk Attos oder seiner Vorlage. Identifikation der Bilder mit der Gottheit: E. v. Dobschütz Christushilder (TU. zur Gesch. d. altchr. Lit. XVIII, 1899) S. 1—39, bes. z. B. S. 88f. nr. 124. Friedländer Darst. a. d. SitUngesch. Borns IV'221 226. Geffcken, d. Archiv XIX 28t) ff. Daß in den Bildsäulen Dämonen wohnen, war bei den Christen seit dem IV. Jalirhundert weitverbreiteter Glaube. Auch Martin von Braga verbindet einen ähnlich (pessimistisch) begründeten Kuhtmerismus mit Dämonologie, doch zunächst für die Wochengötter (nach Caesarius; und ohne lanus zu nennen.

* Richtig erklärt von Nilnson S. 100 104; doch unterschätzt auch er die Bedeutung des 1. Januar als bürgerliches Neujahr, das keines- wegs 80 vollständig von Weihnachten verdriingt wurde.

über Kalendae lanuariae und Martiae im Mittelalter 371

etwa, weil diese Termine germanisclie oder neue Jahresan- fänge, sondern teils weil sie die nächsten christlichen Feste, teils weil sie germanische Orakeltage waren.-^ Ursprünglich ist aber das Fest der Januarkaienden bereits in heidnischer Zeit zu den Germanen credrungen^: erst im Lauf der Zeit wanderten seine Riten teilweise auf die anderen Feste ab. Die Frage, ob es ein altgermanisches Fest gab, das nicht von Weihnachten, wie man früher formulieren mußte, sondern von den Januarkaienden aufgenommen wurde, ist verschieden beantwortet worden. Während Bilfinger schloß, „daß bei ge- nauerer Betrachtung von dem germanischen Fest nichts Ur- germanisches übrigbleibt als der Name Jul"*, glaubt Nilsson beweisen zu können, „daß ein heidnisches Julfest existiert hat".* Bei der jungen nordischen Überlieferung scheint mir eine kritische Methode immer stark mit spätrömischen Einflüssen rechnen zu müssen; ich gestehe, von Nilssons Beweisführung in diesem Punkte durchaus nicht völlig überzeugt zu sein, muß aber darauf verzichten, den genannten Forschern auf dieses mir fremde Gebiet zu folgen. Falls es ein Julfest gegeben hat, muß es ein Seelenfest gewesen sein: das ist die einleuch- tendste Etymologie von Jul.^ In engem Zusammenhang da-

* Nilsson S. 133 zusammenfassend, dazu S. 117.

* Tille S. VIII f., dem ich wegen Epiphanias, dessen Bedeutung be- kanntlich im Abendland schnell durch den Natalis Invieti = "Weihnach- ten verdrängt wurde, beistimme, während Nilsson S. 117 Epiphanias einfach zu den Winterfesten zählt, die Orakeltage wurden. Die Kaien- den drangen also gleichzeitig mit der Planetenwoche und Laienastrolo- gie (Nilsson S. 118) zu uns.

3 II 132.

* S. 149, vgl. überhaupt S. 135—150. Auch Mogk, Tille, Helm I 295 f. und die Mehrzahl der Forscher nehmen ein germanisches Fest an.

* Helm I 295, vgl. S. 263. 444 Anm. 36. Über den Charakter als Totenfest auch Mogk in Pauls Grundriß III- 392 (mit anderer Etymolo- gie S. 391), Tille S. 23—36. 107, der in der jüngeren, mir nicht zu- gänglichen Schrift Tule and Christmas, iheir place in the german year (London 1899) die Herkunft von einem germanischen Totenfest bestrei-

24*

372 Fedor Schneider

mit steht das Umherziehen des wilden Heeres, des Zuges der Seelen mit ihrem Seelenführer Wodan, dem Sturmdämon. ^

AVir wollen nun mit aller von Nilsson S. 105 geforderten Vorsicht den wichtigsten Volksbrauch mit spätrömischen Ka- lendenriten vergleichen und sehen, ob wir auf diesem Wege zwingende Beweise für das Bestehen eines germanischen Festes finden, mit dem sich der fremde Eindringling verbunden haben müßte. Da wir bereits die von Nilsson erwogene Möglichkeit, unter den unrömischen Dingen, die sich im VI. Jahrhundert in der gallisch -spanischen Kaiendenfeier zeigen, sei Germa- nisches gewesen, widerlegt haben, genügt es, den Komplex der mit keltischem Ritual verknüpften römischen Kaiendenbräuche, wie ihn die Germanen kennen lernten, kurz als „römisch" oder „romanisch" zu bezeichnen. Ferner werden wir uns auf diesem oft durchmusterten Gebiete^ auf die Hervorhebung einzelner typischer Beispiele beschränken dürfen ; Vollständigkeit ist kaum erforderlich und nicht beabsichtigt.

Zu Neujahr muß das bleibt übrig, wenu man auch die festgestellten Abzüge literarischer Tradition macht im Mittel-

TD ö

alter mancherlei römischer Kaiendenbrauch bestehen ge])lieben sein."'' Allverbreitet bis zum heutigen Tage ist die Mantik der Omina und Anfangszauber, die natürlich allerlei zeitgemäße Entwicklungen durchgemacht hat und selbst mit der Nekro- niantik verbunden erscheint.* Die Umstände, unter denen

tot nnd alles auf die Kaleiidenbräuclie zurückführt. Vgl. auch Wuttke" S. 20. f)3. 66. 86. Tille S, 107 f. läßt die in Gallien übliche Kaienden- feier eich mit dentsch-keltischera Brauch verschmelzen; so viele andere. ' Mogk S. a.SSff. Helm I '262.

* Zuletzt, doch recht unkritisch, Bilßnger II 44 86, den Nilsson verschiedentlich korrigiert hat. Eine Richtigstellung im einzelnen würde den in einer Zeitschrift verfügbaren h'aum weit überschreiten.

» So Tille B. 13— l.ö. 3(f. 108f. A. Meyer S. 73.

* Viel bei Wuttke*, z. B. S. 65 f. 230—269. Totenbeschwörung in der Neujahrsnacht: S. 484. Mittelalter: Hurchard von Worms s. o. S. 363. Honorius Augustodun. Spec. cccl., Migne PL. 172 col. 482 sq., vgl. Bänger S. 18. Bilfinger II 62—62.

über Kalendae lanuariae xind Martiae im Mittelalter 373

das Jahr beginnt, lassen auf seinen Verlauf schließen. An solchen vorbedeutenden Tagen setzt die Zauberkunst ein, die den Willen der dunkeln Mächte des Geschehens beeinflussen kann: auguria, strenae und die Festspeise, die auf den gedeck- ten Tischen zum Seelenschmaus aufgestellt und von der Fa- milie selbst genossen wird, sind bereits frühromanisch, gehen aber in die germanische Volkssitte über.-^ Man macht einen kurzen Anfang mit seiner Hantierung ein Anfangszauber ist es, wenn der Konsul Norbanus seine Trompete bläst, aber auch, wenn die Kunkel abgesponnen sein muß.^ Das Herdfeuer darf an diesem Tage nicht ausgehen: es ist hyper- kritisch, wenn Xilsson die Herkunft des Kalendenklotzes für unbekannt erklärt: so haben wir ihn bei Martin von Braga kennen gelernt, und wenn er auch auf Weihnachten abge- wandert ist, so muß in diesem Zusammenhange sein Xame die ursprüngliche Bedeutung beweisen.^ Stellenweise personi- fiziert, ist er Symbol und Spender des Segens.* Kalenden- klotz heißt er nur in Südfraukreich, als Christblock findet er sich aber auch sonst in Frankreich, Westdeutschland und Ita- lien. Stärker, als man es nach den überlieferten Zügen der Januarkaienden vermuten sollte, tritt im Volksbrauch zu Neu- jahr der Seelenkult hervor. Ebenso wie zu Weihnachten, wo man es mit dem Julfest zusammengebracht hat, wird des Nachts Feuer auf dem Herd gebrannt, damit die Toten sich wärmen können, und Licht für sie stehen gelassen; auch

'Tille S. 43. Meyer S. 75. Wuttke' S. 1-29. 165. Bilfinger H 44 52. 57. Seelenmaiil bei den Litauern: Caland in dieser Ztschr. XVII 490f. 499.

2 Preller - Jordan I 181. Xorbanus: ßilfinger II 52, vgl. Sen. Ep. Xn 1, 5. Über den römischen Brauch, o. S. 86 und Bilfinger II 52. Handarbeit: Indic. superstit. o. S. 113 und Barchard von Worms o. S. 363. Heutiger Brauch: Wnttke' S. 402.

» Mlsson S. 134, vgl. S. 103 f. Tille S. 11 f. hält den Kaiendenblock für urgermanisch, was die quellenkritische Untersuchung hoffentlich widerlegt hat. In Thüringen und im Vogtland darf das Feuer nicht verlöschen: Wuttke» S. 68. Bilfinger II 35. * S. o. S. 120 Anm, 1.

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andere Vorbereituugen für den Besuch der Toten trifft mau.' Eigenartig ist auch die Bedeutung gewisser Speisen, wie des Hirsebreies, zu Neujahr wie zu Fasching: nach dem Urteil eines treulichen Kenners wirkt er geradezu als Amulett. Der auch auf Weihnachten übertragene Genuß von Nüssen ist ein bekannter Fruchtbarkeitsritus.'

Mit Neujahr streitet sich der Andreastag um die Mantik; diese beherrscht in weiterem Sinne den ganzen Zeitraum der Zwölfnächte als die wichtigste Schicksalszeit, weil den Seelen eigen.' Neben Weihnachten trägt Epiphanias Züge, die den angeführten verwandt sind: der „Perchtentag" ist der Percht, die als Seelenführerin den Schwärm der „Perchten" oder „Holden" leitet und verkörpert, geweiht, oder vielmehr Percht selbst, die Leuchtende, ist eine Personifikation des Festes der (para wie die Befana oder das Christkind. Sie wird mit Mas- kenlauf und Perchtenspringen gefeiert, Spuren von Seelenopfern bieten die Speisen, die man ihr stehen läßt: aus Mehl, Wasser und Milch, wie sie auch bei den Griechen und Kömern das Verlangen der Chthonischen sind; der „Frauberchtentisch" zeigt seine sakrale Bedeutung, indem er der Liebesmantik dient.**

' Wuttke' S. 65. 471. Moderne rationalistische Erklärung: geht das Feuer im Ofen aus, geht das Geld im Jahr aus, d. h. doch, weil dann die erzürnten Seelen keinen Segen spenden.

» Wuttke« S. HO. 307 309. 108.

" Tille S. 148 IT)!, der irrig urgermanischeu Urfljjrung des Andreas- festes und Abwanderung auf Neujahr annimmt (s. o.). Meyer S. 73—75. Wuttke^ S. 63. 230 259. Auch Epiphanias und Weihnachten (Blei- gießen): Tille 8. 151.

* IVrcht: Rilfinger II 104. 108f.; aber der italienische Ursprung ist nicht plausibel, es muß eine Farallelbildung zur Befana (Usener Weih- nachtsfest* S. 218f.) sein. Nilssons Widerspruch S. 127 ist nicht durch- schlagend gegen die Annahme der Personifikation des Festtages, wohl aber gegen Bilfingers schiefe Erklärung der Neujahrsfee aus den Neu- jahrstischen. Der Empfänger des Opfers existierte freilich vorher: die Seelen, als deren ReprüHentantin Percht erscheint. Opfer: Mogk S. 278—281, bes. S. 2:iO. Rohde Psyche I '"• S. 230—245. Wissowa» S. 411 (im Agrarkult). Preller-Jordan II 31 f. Das tertium comparationis

über Kalendae lanuariae und Martiae im Mittelalter 375

Aber es würde zu weit führen, die vielfachen Übereinstim- mungen des Festbrauchs in dieser heiligen Winterzeit im einzelnen zu belegen; wie die Mantik dem Silvesterabend und Neujahrstage mit Andreas, Weihnachten und Epiphanias gemein- sam ist, so bestimmte Speisen dem Weihnachtsfest, Silvester und Epiphanias: wer sie genießt, wird das ganze Jahr glück- lich.^ Mag die Gestalt des Weihnachtsgebäcks germanischen Ursprungs sein: daß sein Wesen ungermanisch ist, daran läßt der am meisten verbreitete Gebrauch des Honigkuchens ebenso- wenig Zweifel wie die Entsprechung des Neujahrsgebäcks; gar die sieben- oder neunerlei Speisen, die man am Christabend zu essen hat, erinnern an antiken Opferbrauch ^. Mit dem Backwerk stehen die Geschenke in Verbindung, der bekann- teste Teil des Weihnachtsfestes: sie sind noch heut vielfach Neujahrsgeschenke, strenae, und treten, ehe der Christbaum Kollektivsymbol wird, mit Backwerk und Lichtern (Lichter- kuchen wie am Geburtstag) wie mit Baumgrün auf.^ Die Arbeit ruht, Umzüge sind üblich.*

In unserer Winterfestzeit wie bei den Romanen, für die das Material leider nicht ebenso zugänglich ist, steckt also eine Menge römischen Januarkalendenbrauches in deutlichster Ver- knüpfung mit einem Seelenfest. Also dem altgermanischen Julfest? Doch sonderbar: sooft wir eine Einzelheit des Kultes unserer Ahnen in der Überlieferung greifen wollen, zeigt sie ein römisches Antlitz. Nichts hat der Geschichte der „deut-

bei der Festspeise ist das Unblutige, die „Fastenspeise". In Kärnten und Steier bleiben die Percbtelnacht Brot und gefüllte Nudeln auf dem. Küchentisch: Wuttke' S. 298. Frauberchtentisch: Tille S. 48 f. 151 ff. 1 Wuttke" S. 66. Bilfinger II 48 f. (schlagende Analogien).

* Wuttke^ S. 66f. Tille S. 43. über Ttayuagnia ^lEXirtovra u. ä. s. u. ^ A. Meyer S. 75 f., die Forschungen Mannhardts und Tilles zu- sammenfassend. Bilfinger II 62—67.

* Tille S. 46 f. 107—147, mit teilweise gewagten Schlüssen. Wuttke * S. 64. Bilfinger II 67 74, der die oben behandelten Maskenbräuche z. T. recht dilettantisch behandelt : Nilsson hat ihn darin stark korrigiert, s. 0. S. 88 Anm. 1.

376 Fedor Schneider

sehen Weihnacht" solche Mühe gemacht wie dies Dilemma; darum half man sich wohl, wie der verdiente Alexander Tille, indem mau die Fusion germanischer und römischer Züge für unauflöslich erklärte; andere ließen vom Julfest nur den Namen als germanisch übrig, und wer bestimmte Einzelheiten für germanisch erklärte, der konnte noch stets widerlegt werden. Chthonisch ist das Totenopfer in seiner ganzen Art, die NfQTSQOt. beherrschen die Zeit und können vielleicht, besser wie die Länge der Wintertage, erklären, warum die Mantik gerade an den KaUndae lanuariae durch die Jahr- tausende so fest haftet. Nun Aväre es an sich gar nicht unwahr- scheinlich, daß die Januarkaienden mit dem germanischen Seelenfest eine Verbindung eingingen, weil vielleicht in- folge uralter Verwandtschaft beide Feste gewisse innere Übereinstimmuncren zeigten: denn das müssen wir fest- halten nicht aller Festritus ist germanisch. Die Seelen- tische und das Totenopfer sind altrömisch, wie wir sahen, und auch nicht keltisch, und das Feuer, wenn es auch der Germane für seine Seelen brennen läßt, muß zugleich als römisch in Anspruch genommen werden. Sind im übrigen Dinge von ganz anderem Charakter auf dies germanische Seelenfest, das so gar keinen germanischen Charakter hat, übertragen, so ist merkwürdig, wie gut sie zusammenpassen. Vielleicht wer- den wir den Grund auf einem Umwege sehen.

Zunächst noch ein Wort über den liesonders seit Usener* vielberufenen böhmischen Festbrauch. Durch dessen glänzende Entdeckung kennen wir schon für etwa 1400 das largum sero: Neujahrsbrauch, der schon größtenteils auf Weihnachten abge- wandert ist, und den damals die Kirche zii klerikalisieren strebte.^

' Christi Fextbraudi, s. o. S. 86 Anra. 1. Vgl. Tille S. 46f. 191 f. 204. A.Meyer S, 75. Bün^jer S. -JOf.

* Das ergibt der Name Colrfnjda: Bilfinger II 86 ff.; nicht die Übertra- gimg an sich, sondern den Jahrenanfung als wirkBamen Faktor bestreitetNils- BOii S. 103 f. Die call tidisatio am 24, Dezember und 1. Januar: Usener S.61.63.

über Kalendae lanuariae und Martiae im Mittelalter 377

Man sclienkt viel das bedeutet eben das largiün sero , und wer nicht schenkt, hat im Jahr Unglück, die Geld- spenden bannen den Reichtum ins Haus. Wie sagt doch Augustins heidnischer Apologet des Kaiendenfestes? Quic- quid do, mihi accipio} Und wie eifern die Kirchenväter gegen die Verschwendung der strenael Auf Tischen stellt man Geld und Kostbarkeiten zur Schau, legt aber auch Brote für die Götter aus.^ Die Opferspeisen sollen wohlschmeckend und süß duftend sein^ wie die strenae in Ovids Zeit. Man denkt an Martin von Braga und Caesarius. Bei der Be- scherung steht ein großes Licht in der stuha^ Man scheut sich, glühende Kohlen, wie die rustici des Caesarius und die Römer von 742 das Herdfeuer, aus dem Hause zu geben um das Glück nicht zu verscheuchen.^ Man will nicht an Schulden gemahnt werden, um nicht unglücklich zu werden^ ähnlich ist doch wohl der uns bekannte Gedanke, daß man. nichts ausleihen darf. Den Neujahrsumzug will unser Gewährs- mann Alsso auf Weihnachten übertragen sehen diese calendisatio'' , der Festbettel, trat uns, ganz abgesehen vom Morgenlande, ja schon in der Bretagne im VH. Jahrhundert ent- gegen, er und die dabei üblichen Lieder, die ^koleda% sind bei allen Slawen und Balkanvölkern verbreitet und zeigen Alter, Bedeutung und Ursprung der slawischen Neujahrssitten.

Man hat den böhmischen Kaiendenbrauch wohl kurzer- hand an die „deutsche Weihnacht" angeschlossen; dem wider-

^ Sermo WS de Kai lan. II § 3, Migne 38 col. 1025. Usener S. 48. 51 : ut sint per totum annum fortunati . . .; miser efficieris hoc anno, quia non muneras isto sero; wer gezwungen gibt, hat Unglück; auch S. 47f. Üppige Festfeier: S. 44.

* Usener S. 46. 47 f. (das largum sero). 57 f. (Brote mit Messern auf den Tischen, ut in noctibus veniant dii et eomedant). 60 (Obst).

' Usener S. 50: res ioeundas et delicatas et precipue odoriferas ; vgl. Ov. Fast. I 186. * Usener S. 46.

^ Usener S. 65: ne omnis fortuna anni sequentis exeat de dornt- bi(s suis. ® Usener S. 51: ne sint infortunati.

'' Usener S. 61 ff., dabei sortilegia mit Weihrauch S. 65,

378 Fedor Schneider

spricht zunächst der geographische Befund über die ^koleda\ dann der Umstand, daß sich so ausgeprägte Übereinstimmung des Kaiendenbrauches in allen Einzelheiten in Deutschland überhaupt nicht nachweisen läßt, selbst dann nicht, wenn man gegen jede Methode rein literarische Tradition von Quellen- zeuguissen aus dem spätrömischen Kulturkreise für echten germanischen Volksbrauch späterer Zeit nähme. Im Gegenteil: Burchard von^ Worms bewies uns, daß zu seiner Zeit die in deutsche Sitte übergegangenen römischen Kaiendenriten bereits in weitem Ausmaß deutsche Wesensart angenommen hatten vergleichbar den lateinischen Lehnworten der altgermanischen Sprache, die das Deutsche als dauernden Besitz mit seinem ererbten Sprachgut etwa gleichzeitig verschmolz. Ja, schon in Karolingerzeit läßt sich diese eigentümliche Ausgestaltung des fremden Einflusses mit deutschen Zügen, besonders der Früh- jahrsfeier, spüren, wie wir noch sehen werden. Vergleichen wir die schlagendsten Analogien der böhmischen Kaienden- feier mit neueren deutschen Volksbräuchen auf deren geogra- phische Verbreitung hin. Im Erzgebirge und Vogtland läßt man von allen Speisen des Festmahls in der Christnacht etwas auf dem Tisch, so wird es das ganze Jahr nicht mangeln.' Ebendort muß man sich am Weihnachtsabend recht satt essen, 80 hungert man das ganze Jahr nicht.^ In Mecklenburg soll man zu Weihnachten nichts ausleihen und das Verliehene zurückfordern.' Was will es dagegen besagen, wenn der nicht bloß an den Neujahrstag gebundene Aberglaube, daß kein Fremder Feuer oder Licht im Hause anzünden darf, weil er das Glück hinaustragen würde, in verschiedenen Gegenden Deutschlands verbreitet erscheint? Es ist doch wohl kein Zufall, daß uns jene genauen P^ntsprechuugen gerade auf altslawischem Boden begegnen. Wäre der böhmische Kaiendenbrauch von den Deutschen entlehnt, so müßte seine Verbreitung gerade

' Wuttke' S. 68. 296. ' Ebenda S. 311.

Tille S. 306, Anm. zu S. 46.

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umgekehrt sein: am stärksten an der Grenzscheide zwischen Germanen und Romanen, nicht zwischen Germanen und Slawen. So bleibt nichts anderes übrig, als zwei Einströmungen der Kalen- dae lanuariae anzunehmen: eine von Gallien nach Nordosten zu den Germanen, eine auch von der oströmischen Reichshälfte aus- gehende nach Norden und Nordwesten zu den Slawen. Und daß sich hier der entlehnte Brauch erstaunlich lange nahezu unverändert er- hielt, erklärt sich durch die Kulturverhältnisse der Slawen, die sich noch durch eine Reihe von Jahrhunderten auf primitiver Stufe erhielten, als die Germanen längst in lebhafte Entwicklung eingetreten waren. An den Einfluß des Tschechen Woytiech, des heiligen Adalbert, würde man mit Alsso nur denken dürfen, wenn die Koleda nicht ein gemeinsamer Zug aller oder der meisten slawischen Völker und ihrer Nachbarn auf dem Balkan wäre.

An dem alten Jahresanfang der Kalendae Martiae ist auch nach der Verlegung auf den 1. Januar mancher der ursprüng- lichen Bräuche dieses Festes haften geblieben \ die in der gleichen Weise dem neuen Jahresbeginn zukamen: ja, die Identität der Riten zeigt, daß sie nichts mit lanus zu tun haben, teilweise freilich auch, wie Nilsson^ erwiesen hat, nichts mit dem Jahresanfang. Das Fest der Märzkaienden war ein Frühlings-, d. h. Vegetationsfest, das mindestens später mit Mars zusammenhingt; dahin gehört der Tanz der Salier. Das

^ Preller-Jordan 1362 f. Wissowa^ S. 144. 436. Nilsson S. 67 Anm.2 handelt nur von der Bedeutung der besonderen Riten der Matronalien, die auf die Märzkaienden fielen. Mit Deubner NJh. f. d. klass. Altert. XXVII 327 läßt auch Radermacher S. 112 die Kaiendenfeier ursprünglich zum 1. März gehören. * S. 66—70.

* Man hat in den Flurprozessionen den Beweis erblickt, daß Mars von Haus aus ein ^egetations- und Ackergott sei, Ygl. A. v. Domaszewski in dieser Ztschr, X 338 f.; wenn Wissowa^ S. 143 betont, Mars sei nach der Überlieferung nie etwas anderes als ein Kriegsgott gewesen, so be- weist die Überlieferung doch nicht seine ursprüngliche Bedeutung, und ob ein Kriegsgott begrifflich der Ausgangspunkt sein kann, mag immer- hin bezweifelt werden. Etymologisch: Preller-Jordan I 334 ,,die männ- liche Kraft eines zeugenden und aufregenden Gottes".

380 Fedor Schneidor

Feuer auf dem Herd der Vesta wurde neu entzündet, Regia und Vestatem})el, die Kurien und die Häuser der Flamines mit Lorbeer bekränzt, es ist das staatliche Sacrum, das dem uns bekannten Gebrauch des Feuers und Lorbeers bei den privaten Riten der Kalendae lanuariae entspricht. Wie hier der Bürger seine Hantierung durch einen kurzen symbolischen Anfang weiht, so beginnen Senat und Bürgerschaft am I.März symbolisch die Staatsgeschäfte durch kurze Sitzungen. Ein Rest des staatlichen Neujahrs liegt vor, wenn die Märzkaienden Termin der Verpachtung der vecti(jalia geblieben sind und die Lehrer (später?) ihr Jahresgehalt an diesem Tage bekommen. Der Charakter als Staatsfest bewirkte das Fortbestehen der Märzkalendenfeier in Byzanz, wo das TruUanum als Zeitpunkt des Kaiendentreibens die Kaienden Jtar' ii,o%Yiv, also die des Januars, nebst Vota und Bnimalia, daneben aber xriv iv xfj %od)xr] xov MaoxCov ^irjubg rj^sQa xeXov^evtjv navijyvQLV nennt und dann erst in die Besprechung der verpönten Einzel- bräuche, besonders des Maskeuumzugs, eintritt.^ Ganz das- selbe Bihl gibt uns aus dem X. Jahrhundert für Oberitalien Atto von Vercelli: nachdem er die lanusriten am 1. Januar skizziert und verboten hat, fährt er fort: similitcr eiiam Kalen- dis Martüs Imiusmodi homines muUis solent debacchare pracsti- (jiis\ dann führt er, wie Avir sahen, den Aberglauben, der zu- grunde liegt, durch gemeinsame euhemeristische Aufklärung über Mars und lanus ad absurdum,^

Nun hat sich bei den Lombarden und ihren Grenznach- barn, den Rhätern, offenbar die römische Feier der März-

' ('. 62, 8. 0. S. 124 Anm. 1. Nilssou S. 'JO sagt richtig, die Rri'uiche würden nicht nach don verschiedenen KpHten geschieden; sie gehörten eben zu der Kaiendenzeit im weiteren Sinne ebenso wie zum 1. März.

* Sernio III in fcsto octavae domini, Aligne 134 col. 836, s. o. S. 131 Anm. 2. I)aß das heidnische Treiben nur an diesen beiden Tagen haftete, sagt er, indem er die euhemeristische Abhandlung mit den Worten eröffnet prnc CKtictis autem anni dicbus in his diabolus adhuc suam exer- cet coloniam.

über Kalendae lanuariae und Martiae im Mittelalter 381

kaienden besonders dadurcli erhalten, daß sich ein germa- nisches Frühlingsfest mit ihr verband. Leider ist der italie- nische Yolksbrauch mit den Resten lancrobardischer Kultus- Übung, die in ihm erhalten sind, wie schon Mannhardt' klagt, bei weitem nicht so gut bekannt wie der deutsche. Mannio- fache Gewohnheiten, die am 1. März haften, gehören in das weite Gebiet, das sich sowohl geographisch wie materiell lücken- los an analoge deutsche Übung anschließt. Der Charakter des Agrarkults ist klar erkennbar und mag überwiegend germa- nischen Ursprungs sein. In Umbrien werden Brände ge- schwungen, in Welschtirol, das sich nördlich bis zur Grenze der langobardischen Besiedlung gegen die bajuwarische erstreckt, Märzfeuer angezündet und dem deutschen Ausrufen der Mai- bräute entsprechende Vegetationszauber geübt; im Bergell leitet das Schellenläuten den Auszug der Herden auf die Sömmer- weide ein, ein Kinderumzug heischt Gaben und singt in Er- innerung an die Märzkaienden: "Calonda Mars, CalmicV Avril\^ Auf gleichem Kulturgebiet in Südtirol, Yenetien, der Lom- bardei und Piemont ist aber auch das Verbrennen der Jahresalten ("hrusar la veccia') üblich, das schon Usener^ mit dem altrömischen Fest der Anna Perenna* zusammengestellt hat: dies fand an den Iden des März statt, Ovid schildert uns das frische Idyll im Freien, in den Laubhütten am Tiber, bei dem Sang und Tanz so wenig wie bei den Januarkaienden fehlen und auch Reste eines Festmahls von sakraler Bedeu- tung als Anfangszauber bezeugt sind; denn man trinkt viele

^ Antike Wald- u. Feldhdte^ S. 127, dazu erschwert der von üsener Ital. Mythen (KI. Sehr. IV 93 f.) beklaofte Umstand, daß die römische Religion durch Hellenisiernng in verzerrter Form überlielert ist, die Ausscheidung der autochthonen Grundlagen, vgl. Mannhardt S. 347 350.

* r\rannhardt Baumkultus * S. 541. Deubner Glotta III 43 Anm. » Italische 3Iythen S. 182—201 (= Kl. Sehr. IV 93—114).

* Ov. Fast. III 533 sqq. Macrob. Saturn. 1 12, 6. Lydus De viens. IV 49 p. 105 sq. Wünsch. Preller- Jordan I 343—346. üsener a. a. 0. 115—136. Wissowa^ 147f. 241f.

Qg9 Fedor Schneider

Becher, um viele Jahre zu leben, und durch Macrobius wissen wir, daß man der Anna Perenna im Monat März opferte, ut annare pcrennareqiie commode liceat} Ja, selbst öffentliche Gebete wurden an diesem Tage für ein gesundes neues Jahr dargebracht*: er „trägt durchaus den Charakter einer fröh- lichen und oft ausgelassenen Neujahrsfeier".' Daß ursprünglich ein Mann und ein Weib ausgetrieben wurden, daß der in Felle gehüllte Mann der Mamuralien am vorhergehenden Tage, der Mamurius Veturius, der Partner der Anna Perenna war, wie in Welschtirol 'il vcccio" und 'la veccia% hat Usener^ gezeigt. Der März ist der alte Jahresanfang; seine Feste sind Agrar-, und zwar Frühlingsfeste, ihnen entspricht der Festzyklus des Februars, des iMonats der alten Seelenfeste und Eutsühnungsriten, die das alte Jahr schließen und auf das neue vorbereiten.^

Wenn sich nun germanische Jahranfangsbräuche, die den ältesten römischen so genau entsprochen haben müssen, auf roma- nischem Boden an den 1. März hefteten, so müssen sie, die in Rom noch in nachklassischer Zeit immer mehr von ihrem Ab- leger, den Januarkaleuden, verdrängt wurden, in der Provinz denn auch Frankreich und Nordspanien kennen die Ver- brennung der Jahresalten in einer der Urform entsprechen- deren Gestalt bewahrt worden sein. Freilich muß man bei der Jugend unserer germanischen Überlieferung auch die Mög- lichkeit ins Auge fassen, daß der entsprechende germanische Festbrauch überhaupt nicht Eigengut, sondern in sehr früher Zeit von den Bömern entlehnt ist. Er ist ja in der Form der VVinteraustreibung wie des Vegetationszaubors (Maifeste) un- gemein verbreitet', ohne daß man einen bestimmten Termin

' Macrob. 1. c. ' Lydus 1. c. WiRsowa » S. 241.

a. a. 0. 121—134 und in dieser Ztschr. VII 309 Sl.S (= Kl. Sehr. IV 444—447).

•• V^l. V. Domaszewski in dieser Ztsclir. X 337—339. 343.

üsener Kl. Sehr. IV 93—113. Wuttke» S. 76 78. Mogk S. 367 f. Mannhardt Baumlultus* S. 161 218. Antike Wald- u. Feldkulte* S. 212— 263 und an vielen Stellen seines Werkes. Daß als Grund-

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als ursprünglicii annehmen dürfte; neben Mai und März oder dessen Varianten wie Fasching oder Mittfasten haftet Anfangs- glaube bei uns vielfach am Gründonnerstag. Da ruht ganz wie am römischen Neujahr Segen auf allem Beginn ländlicher Tätigkeit; Eier, die an diesem Tage gelegt sind, bringen Glück, das Ei ist ja als altes Fruchtbarkeitssymbol bekannt. Viel- fach entsprechen die germanischen Grundauffassungen den römischen so genau, daß man, will man durchaus einer ein- heitlichen Grundlage ausweichen, die urgermanischen Vorstel- lungen bis ins einzelne den römischen verwandt, ja, gleich konstruieren muß. Aber hier liegt es uns fern, diese Frage der germanischen Frühlingsriten zu lösen; es ist nur metho- disch unabweisbar, sie aufzurollen.

Nach dem Gesagten wird es nicht weiter verwundern, daß wir in sehr früher Zeit die Winteraustreibung in engster Ver- bindung mit den Neujahrsvermummungen finden. In der humelia de sacrüegia^ wird an der ersten, nicht lediglich den Caesarius ausschreibenden Stelle gegen die Kaiendenfeier, die schon in den Worten vel arma in campo ostendit echten Volks- brauch berücksichtigt, an das Kaiendenverbot das einer Früh- lingsfeier angeschlossen: vel qui in mense Fehruario hibernum credit expellere, vel qui in ipso mense dies spurcos ostendit, et

bedeutung des germanischen Vegetationsfestes ein Seelenfest (Wal- purgisnacht!) hervorschimmert, braucht hier nur angedeutet zu werden^ vgl. Mogk S. 277. Ein näheres Eingehen auf diese Bräuche und entsprechende Häufung der Literatur sind hier nicht beabsichtigt. Ein übersehenes Zeugnis für das Maifest, mit dem besprochenen Ka- lendenkanon der Bußbücher (s. o. S. 104) verbunden, steht im Poen. Vindoh. 8. IX c. 35 p. 358 Schm. II: Si quis in Kdlendas lanuarias vadit in cer- vulo aut in Kalendas Maias quecunique potionem acciperit aut ante die pro ipsam Kahndas comederit aut alias inlicitas causas fecerit, . . . que adhoc demonium est et a paganis relictum. Der Tag vor den Maikalen- den ist die Walpurgisnacht. Über Mala und den 1. Mai s. o. S. 12ä Anm. 2,

^ § 17 p. 10 sq. Casp. anschließend an die o. S. 110 angeführten Worte. Vgl. auch Pirmin 1. c. p. 175, wo die Tiermasken in Kalendas vel aliud tempus untersagt werden.

3g^ Fedor Schneider

qui Inimas colct, aliquid auguriatur, quod in ipso anno futurum Sit. Gernianistisclie Ivoniantiker haben viel Mühe und Scharf- sinn darauf verwendet, diese Stelle einer fräukisclien Predigt auf urcrermanischen Religionsbrauch zurückzuführen, der frei- lieh sonst unbekannt wäre; auch an die verständnislose Über- nahme romanischer Vorlage innerhalb von lauter germanischen Bräuchen ist nicht zu denken.' Aber man muß nur die un- o-eheure Verbreitung des alten Frühlingsfestes mit der Stelle zusammenhalten, und eine Etappe auf seinem Marsch wird deutlich. Einerseits wird die Anfangsmantik hier wie dort ge- übt, anderseits erhält sieh manches, was nie auf den jüngeren Jahresbeginn übergegangen war, an diesem uralten Jahresfest. Fehrua Bomani dixere piamina patres-: das dies spurcos osten- dere ist eine Erinnerung an die sakrale Bedeutung des Monats der fehrua, die in Maria Lichtmeß fortlebt. Der indiculus super stitionum, den wir als die Überschriften der Kapitel eines Paralleltextes zu der humelia de sacrilegia kennen lernten^ hat de spurcalibus in Februar io, und Aldhelm, der heidnische Opfer als fanaticae lustrationis spurcalia bezeichnet, muß von solchem Lustrationsritus (im Februar?) literarische Kunde haben.' Die Bezeichnung des Februars als Sporkelmond ist

' Caflpari Ilomilie S. 71 73, vgl. S. 'M^ führt im Gegensatz zum Rest das Winteraustreiben, weil im Februar, auf eine südliche Quelle zurück.

' Ov. Fast. II 19; Usonor Weihnacht s fest' S. 313.

' S. o. S. 112. Lichtmeß: ( senor Weihnachisfest^ S. .SlO, dazu be- sonders schön Beda De tcmp. rat. c. 12, Migne 90 col. 351 sq.

« Itidic. mperst. c. 3, vgl. Hauck DKG. 11»-* S. 405 Anm. 7. Ald- helm De rirginiUtte c. 26 p. 258 Ehw. (Silvester draconem), cui paganonim drcepta gentUitas ad sedatnlatn furoris rrsaviam fanaticae lustrationis spurcalia turi/icabat. Wenn Caspari S. 72 f. die nahe Verwandtschaft zwischen Indiculus und Humelia einerseits, den literarischen Charakter von Aldhelraa Latinität anderseits methodisch beachtet hätte, würde er nicht ein germanisches Fest erschlossen haben, das mit Bomana inter- pretati» in den Quellen Spurcalia hieße. Wegen spurats-porcus will er ein germanisches (!) Schweineopfer annehmen. Über fanutitus o. S. 122 Anm. 1.

über Kalendae lanuariae und Martiae im Mittelalter 385

schon laugst ruit dem lustralen Charakter, den er in Rom hatte, in Zusammenhang gebracht worden. Es war ja der Abschluß des alten Jahres bei den Römern; den Toten geweiht, enthielt er neben anderen chtlionischen Kulten die dies parentdles, neun Seelentage, deren Abschluß die Feralia des 21. Februar mit dem Grrabesopfer an die Manen bildeten, und auf die eine häusliche Totenfeier folgte, die Caristia oder Cava cognatio des 22. Februar. Zu ihr gehören wie zu dem jüngeren Neujahr Seelenschmäuse in Gestalt eines fröhlichen Festmahls und Geschenke.^ Ein populärer Festtag, den die Kirche nicht verdrängen konnte und in den christlichen Kult übernahm: sie wandelte ihn in die Cathedra Petn'^, über deren

' Placidus bei Goetz Thes. gloss. I 535, vgl. Corp. gloss. V 26. Macrob. Satitrn. 1 13, ö secuvchtm (mensem) dicavit Februo deo, qui hcstrattonum potens creditur; lustrari autem eo mense civitatem necesse erat, quo statuit, ut iusta dis manibu>; soloerentur. Festus Pauli p. 75 Lindsay. Beda De tevxp. rat. c. 12 (aus Macrobius und Placidus) und die anderen Stellen bei Wissowa ^ S. 436 Anm. 1. Vgl. Preller - Jordan I 158. 388 391. II 98—101. Wissowa- S. 232 ff.

- Zur Orientierung vgl. üsener Weihnachtsfest- S. 273 f. Wissowa^ S. 233. Kellner JSeortol.- S. 216 220. Duchesne Ongines du culte chretien* p. 283 286. Lucius Anfänge des HeiUgenluUs S. 29. H. Achelia Die Mm-tyrologien, ihre Geschichte und ihr Wert (Abb. d. Ges. d. Wiss. z. Göttingen. Phil.-bist. Kl. iS". F. III nr. 3, 1900) S. 10 f. Überbolt ist die von Grisar Gesch. Roms u. d. Päpste im 3IA. I 228 Anm. 3 gesammelte Literatur. Augustin kennt die Caristia (die berühmte Stelle Conf. VI c. 2, de mor. eccl. c. 34, contra Faustum XX c. 21, epist. 22 § 6 usw. Lucius a. a. 0. Anm. 1), doch nicht das christliche Fest. Über die Ge- schichte des Festes in Rom, -wo es abkam und in Karolingerzeit aus Gallien wieder eingeführt wurde, und über die gallikanische Verlegung auf den 18. Januar jetzt Lietzmann Petrus und Paulus in Born (1915) S. 3-5. 13. 70—76, der die Angabe des Filocal. Kalenders von 354 natale Petri de cathedra als 'Gedächtnistag der Cathedra des Petrus', also als Ordination stag, interpretiert (S. 3); nach S. 13 habe man ihren Termin, den man wie den der meisten früheren Papstordinationen nicht mehr kannte, auf das Fest der Caristia gelegt. Natale faßt er nach Usener als Ordination. Das mag iür Filocalus zutreffen; ursprünglich muß der Tag als Totenfest Petri, des Eponymos der römischen Gemeinde, christia- nisiert worden sein. Polemius Silvius bezeichnet die Cara cognatio als depositio s. Petri et Pauli.

Archiv f. KelinioiiBwissenschaft XX. 3/A 25

386 Fedor Schneiiler

Bedeutung sich die Heortologen, alte wie neue, die Köpfe zer- brochen haben. ^lan sprach von dtpositio Petri et Pauli, als Ciithrdra Petri in Antiochien steht das Fest noch iin Missalc Iioninnum] und noch De' Kossi dachte an Zusammenhang mit einem römischen Bischof'sstuhl. Seit Usener ist die Abstam- mung dieses Petrusfestes von den Caristia allgpmein /ugestandeu, doch der Name lockte aut falsche Fährte und blieb unerklärt, um so merkwürdiger, als wir durch Photius wissen, daß xu#- iÖQu 'Totenmahr bedeutet.^ Der Brauch der Cariüia muß wie die KaJmdae lanuaria£ auch in die östliche Keichshälfte ffedrunjjen sein, da ihn Duchesne noch gegenwärtig dort bei Orthodoxen und selbst Muhamedauern getroffen hat; die Grie- chen, deren Sprache in der römischen Christengemeinde in be- sonderen Ehren stand', werden von dem römischen Seelen- schmaus den bei ihnen üblichen Ausdruck xa^feÖQu gebraucht haben, und so wurde der Tag zur y.a&sÖQU des I'etrus; das christliche Totenfest wurde als das des Repräsentanten der römischen (iemeinde, Petrus, geleiert, von dem man kein Datum der dcpositio hatte, der heidnische Name des Festes Caristia, Cara cognatio war unbrauchbar, xa^iÖQu^ von dem Sessel für den Verstorbenen abgeleitet, der beim Totenmahl aufgestellt wurd»', um so brauchbarer, als der Vorsteher der römischen <^emeinde beim Abendmahl gesessen zu haben scheint.^ So konnte xu^tdga die Bedeutung von cpulae an- nehmen. An xa&edga = Bischofsstuhl kann für die Ursprünge dieses Petrusfestes in keiner Weise gedacht werden.' Trotz

p

' Rohde Psyche ~^ i 233 Anna, i; dazu jetzt die Breslauer DisB, von Alfon-* Nehring Seele u. Seelenkuit bei Griechen, Italikrni u. (iermamv (1917) S. 7 9.

' A. V. liarnack Misxiou und Ausbrdtung des Christentums U* S.2iS{.

= Wendland' Tafel XIII 3, y^l. S. 434 (Hinweis von W.Weber). Achelia S. 17 f. zei>^t, daß es erat im III. Jahrh. üblich wurde, die Tage der Märtyrer an ihren Gräbern zu feiern, und daß Kilocalus deshalb keine älteren Märtyrerdaten hat.

■* Das gibt gegen De"lio8«i auch Duchesne p. 286 Anm. 1 zu.

über Kalendae lanuariae und Martiae im Mittelalter 387

der Christianisiernng erhielten sich au ihm iu Italien und Gallien die ihm eigenen chthouischen Riten ^, ja selbst die Zweiteilung in das Grabesopfer der Feralia und das Gedächt- nismahl der Caristia ist noch deutlich. Ä.ls Totenopfer werden intrita oder c'tbi et vina (pocida) genannt, wie Monica „nach afrikanischer Sitte'*' an den Verehrungsstätten der Heiligen pidtes et panem et merum darbrachte^; daheim schloß sich ein Totenmahl an. Xoch der gelehrte Heortologe des XII. Jahr- hunderts, John Beleth, der wie kein anderer Zeitgenosse eine klare Erkenntnis von der religionsgeschichtlichen Bedeutung der christlichen Feste hatte, wußte, daß das Stuhlfest Petri auch festum heati Petri epularum hieß.^ So ist für Gallien und das VI, Jahrhundert an dem Fortbestehen der Parental/a und Caristia

* üsener* S. 274 Anm. 3. Dachesnea. a. 0. p. 288 flf. Yacandard L'idö- latrie en Gaule 1. c. p. 447 449. Neben dem Conc. Turon. a. 567 c. 22 p. 133 Maaßen intrita mortuis offerunt et post missas redeuntes ad domos proprias cid gentiUmn revertuntur errores et post corpus domhii sacratas daemonibus escas accipiunt (vgl. Hauck i)Ä'(r. is— i g. i25) sind besonders wichtig zwei Predigten in Cathedra Petri, Ps. Augustinus s. 190. 191, Migne 39 col. 2100 2101, die Vacandard dem Caesarius zuschreibt, während sie Arnold nicht als cäsarianisch berücksichtigt. Dort s. 190 § 2 col. 2102 ut super tumulos defunctorum cibos et vina conf tränt, quasi egressae de corporihus animae carnales cibos requirant; s. IQl § 3 col. 2102 Cibi autem et pocula, quae sepulcris stiperponuntur. V. EUgii II c. 20 p. 711 Krusch kennt daemonum ludos et nefandas saUationes omnesque inaties . . . superstitiones an dies nataUcius beatissimi Petri apostoli: das wäre nach Krusch der 29. Juni; Irrtum? Anderes, auch ans Italien, Lucius S. 18f. 26 f. 29.

■■' Augustin Conf. VI 2 vergleicht dies Opfer ad memorias sanctorum mit den Seelenfesten des Februars: quin illa quasi Parentalia supei- stttioni gentiUum essent simillima.

" üsener- S. 274 Anm. 3; ich lasse die wichtige Stelle, deren litera- rische Vorlage unbekannt zu sein scheint, folgen. Rationale div. off. c. 83, Migne PL. 202 col. 87 : fuit enim consuetxido ceterum ethnicorum, ut singulis annis mense Februarii certo qvopiam die epulas ad parentum suorum tumulos appanerent, quas nocte daemones consumebant, cum inde non minus fal^o quam ridicule animae refici credebantur ; putabant enim huiusmodi epulas ab animabus circa tumulos errantibus absumi. Haec autem consuetudo atque huiusmodi falsae opinionis error a Christianis via: exstirpari potuit. Quod quidem cum viri sancti animadvertissent acpenilus il-

25*

3>JS Fedor Schneider

nicüi /u zweifeln. Bedenkt man ferner, daß os im römischen Februar volle 20 dies nefasti gab, so wird mau geneigt sein, die dies S])Hrcos, die gewisse Leute anzugeben (ostendere) ptiegten, mit ihnen oder den dies parentahs in Beziehung zu bringen. Es sieht so au«, als sei Spurcalia eine provinziale, gallische Bezeichnung für die Caristia gewesen. Jedenfalls erhielt sich in ihnen ein Nachhall ursprünglicher römischer Jahrschluß- und Jahranfangsriten in einer Verbindung, die {»rimitiv sein kann. Der Beziehung des Februarzyklus zu den Märzfesten ent- spricht es, daß dem jüngeren Neujahr der Kalendne Januariar auch ein Totenfest vorhercjinor, die Staatssacra der Lorcntalia (23. Dezember) mit einer dem Februar ganz entsprechenden parcniatio. Von der Totengöttin iSeelenführerin?) Larenta sind noch Spuren in dem chthonischen Opfer an die Manen nach- weisbar, das an einem mundus, einer Öffnung der Unterwelt, stattgefunden haben muß. Als Staatsfest und bei der genauen Analogie zu den Parentaliti wird man es kaum für älter wie diese halten dürfen.^ Für ein Frühliugsfest im Februar oder am 1. März ist ferner an die Liiptrcrdia- des 15. Februai- zu

lam consuetudineiit erstirpav rohtisscut. nisutuernid festum de caihediu>. Petri . . . idqtu eodemdie, quo abominaiidailla ab ethuicis fiebant , utsullemvi ho". festo pravae illius coTisuetudinis festum ovinino exstiiigueretur. Unde etiam ab iHis epulis festum hoc apieUatnm est beati Petri epularum. Mehr hat kein Neuerer gewußt, und daß Duchesne' p. 267 daraus schließt ' // dura en Occideul jui^qu' nu douxieme sircle au moivs\ ist offenbar zu- viel gesagt und sieht wie ein Mißverstand uis der Worte Useners aus; bei diesem a. a. 0. weitere Zeugnisse, daß man sich lange an die Ur- bedeutung des 22. Februar erinnerte. Die Quellen für „germanische" Totenopfer (vgl. Mogk S. 263. 384 f.) müssen auf literarische Vorlagen nachgeprüft werden: es steckt viel Caesarius darin.

' Wissowa* S. 283 f. Mommsen St.R. P 60i» Anm. 1. Daß der Kon- sul Brutus von 138 v. Chr. die häusliche Totenfeier nicht im Februar, sondern im Dezember beging, beweist, daß er auch die Privatsacra am modernen Staata-AUerseelentage feierte, womit er freilich nicht durch- drang, während beim Neujahr dem Staat die volle Übertragung im ganzen gelangen ist.

» Ov. Fast. II 267 474. I'reller - .lordan 1 386 3'.i2. Wissowa - S. 209 f. Deubner in dieser Ztschr. XII 1 480—508.

über Kalendae lanuariae und Martiae im Mittelalter 389

erinnern, deren Fruchtbarkeitsritus der Schlag mit der Lebensrute sich einmal den entsprechenden Frühliiigs- bränchen der Germanen als euo[ verwandt an die Seite stellen läßt, anderseits aber auch den römischen Kalendae lanuariae wesensäbnlich ist, soweit der Antangszauber dem AgTarkultus dient.

Finden wir somit mancherlei den römischen Neujahrsriten ähnlichen Brauch mit einem Frühlingsfest des Februar, März oder Mai verbunden, so braucht weder von einer durchaus germanischen Grundlaoe die Rede zu sein, noch von einer Abwanderung ursprünglich zu den Kalendae lanuariae ge- höriger Züge, sondern eher das Gegenteil ist der Fall: Reste des alten Neujahrs der Märzkaienden und des diesen unmittel- bar vorausgehenden Zyklus der Seelentage mögen sich in der Provinz stärker wie zu Rom erhalten haben. Aber auch Ab- wanderung ist nicht auszuschließen. Nun wenden wir uns wieder zur TJrbs, die uns, genau vier Jahrhunderte, nachdem wir sie unter Papst Zacharias verlassen haben, abermals die klarste Antwort auf unsere weiteren Fragen gibt.

III Römischer Festbraueh von 1142

Vor dem Jahre 1000 bot uns Alto um das Jahr 925 einen Beleg für die Feier der Januar- und Märzkaienden in Obev- italien; nach dem Jahre 1000 bietet uns Petrus Damiaui (j 1072) den Beweis für das Fortleben des Jauuarfestes in ünteritalien, und zwar in Salerno,^ Ein Bürger dieser Stadt hat sieb,

* Petrus Damiani opusc. 40, De frenanda ira et simuUatibus exstir- pandis, c. 7, Migae 145 col. 656 sq. Illud etiam nunc ad memoriani re- dit, qiiod praefatufi (c. 6, Alfanus) Salernitamts arcliiepiscopus cuidam ex suis civibus evenisse perhihuit. In maris denique tempestate deprehensxs futurum se wonachuni affectuosa sponsioiie devovit; sed nai(frag>o erutits Votum solcere vitne huiu» amore contempsii. JExphto vero unno, ipso die quo Votum domino suae conservationis ohtulerat, Kalendis scilieet lanuarii, dum hinc inde discnrreret , cum ludentibus et cachinnantibus piieris choros duceret et frirola quaedam ac scurrilia verba noaret (der erste Heraus- geber des Pier Damiani, Const. Caietanus, bessert boaret, vielleichr

gf)() Fedor Scbueider

oftenbar weil es Sitte war, au dem Tanz und den Scherzworten (wohl Gesängen) der Knaben beteiligt. Wie in Gallien schon im VII. Jahrhundert zu beobachten war^ ist auch hier das Kaleudentreiben hauptsächlich zu einem Kinderurazug geworden, das bekannte letzte Los der kultischen Bräuche, das wir noch verfolgen werden.

Denn nur eine kurze Zeitspauue trennt das Zeugnis in Salerno von dem wichtigsten Texte über romanischen Kalen- denbrauch, der bisher noch nie in religionsgeschichtlichem Zusammenhang erläutert wurde, obwohl er es verdient: ich meine die Aufzeichnungen, die sich Benedikt, der Chor- herr von St. Peter in Rom und Verfasser der Miräbilia Urhis, im .Jahre 1142 über stadtrömischen Festbrauch seiner Zeit und der nächsten Vergangenheit anlegte." Es handelt sich» um vier Feste: die Cornomania am Samstag nach Ostern, die wir auch in einem früheren Stadium aus dem Jahre 876

richtifT), mhüo lapis dr Iccio mipcr cum cecidit et ohtnvü. Die Stelle war seit Üucange, der sie aua der Pariaer Ed. des Cajetan von 1610 p. 384 zitiert, verloreu <jef,'angei) : so zuletzt Nilssou S. 72.

' S. 0. S. 101 Aum. 3. Allj/emein Alb. Dietericb Sommertag, Kl. Sehr. S. 324-352. Usener in dieser Ztscbr. VII 286 f. (= ÜC/. ScÄr. IV 426). Zauberkraft der Kinder: VVuttke* S. 132.

- Mit Mirabilieu, einem Ordo Romanns und dem iiltesteu l.iber ceusHum gehört der Text über die Feste zu Benedikts Liber politicu!^ (= pohjplicus), jetzt abschließend ediert von Duchesne Le Liber cens. de lEgl. liom. II (1905) 141 183, die Feste p. 171 174; zuerst hatte i sie Paul Fahre, der Herausgeber des I, Bd. des Liber cens., in Travavx et inemoirex rles Faciilles de LiUr I (Lille 1889) nr. 'A bekanntgemacht, Tgl. dens. in Mrl. darch. rt d'hist. X (1890) 384—388. Einen Kommentar \ gibt Dnchesne in der 1910 erschienenen Introductiov zu Bd. I des Libn cens. p. 105—113; derselbe hat Benedikt auch als Verfasser der Mira- j bilien festgestellt und die Entstehungszeit bestimmt: Mel. d'arvh. et j dhist. XXIV (1904) 479-489. Liber cens. 1 Intmd. p. 97—104 und Text | p. 278 notc 54. Über den Ordo Romanm XI genügt es, auf Jordan ' Topogr. d. St. liom im AU. II 473 und Gregorovius Gesch. d. St. Rom »»( AfA. IV* 620 zu verweisen.

» Unter Ausschaltung von § 3 p. 174, der griechischen Ostersequenz | Iläaxa igQov r,fiiv öj'^ncqor, vp'. Fahre 7V. lAUe p. 24. ,

rber Kalendae lanuariae nnd Martiae im Mittelalter 391

keaneu^, die ludi liomani communes in Kaleiidis lanuariP, den ludus Carndemru^, die landes imerornm in medio Quadragesimae} Nim sind aber zur Cornomania die zugehörigen Gesänge, eben die laudcs, griechische^ wie lateinische, mit den Anfängen nach Art einer abgekürzten Liturgie beigefügt, und dieselben machen m vollständigem Text den Schluß der ganzen Aufzeichnung.- Hier werden sie als zu Mittfasten gehörig eingeführt: doch ursprünglich gehören sie zu keinem der beiden beweglichen Kirchenfeste, sondern zu einer bürgerlichen Frühlingsfeier, ge- nauer zu den Märzkaienden ^:

Martius instat mensis ubique. quo deus audor cuncta creavit,

quo nemus omne fundit odores, praebct et alfis niontibus umhram

(Pvye (pvys OsßQod^i,' 6 MuQTLg ö£ dnaxsi.

' YnsQßa, VTtBQßa, 0£ßQOccQr xcuQS fiera nävxav, co MaQxt. Das Frühlingsfest ist zugleich Jahresbeginn:

jVfOi/ ixoq eiGoqS) ' £l6oqg) ctg t6 fiekXov. Cornomania und Mittfastenbrauch, wie sie Benedikt beschreibt» waren zu seiner Zeit bereits aus der Übung gekommen; jene seit der stürmischen Katastrophe Gregors Yll. (also wohl seit den Ereignissen von 1084), dieser seit unbestimmter Zeit, aber,

' § 1 2 p. 171 sq. Dachesne Introd. p. 107 sq. Fabre Tr. Lille p. 18—23, dazu vgl. die Einleitung der von Johannes Hymonides diaconxis, dem Autor der Vita Gregorn I., in rhythmischen trochäischen Tetrametern bearbeiteten Cena Cypriani, s. Francesco Novati Studi cri- iici e letterari p. 266—288. Lapötre in Mel. d'arch. et d'hist. XXI (1901) p. 305—383; allgemein Manitiiis I 691 695; jetzt ed. Strecker MGH Foctae Lat. med. aev. IV 870 sq.

2 § 4 p. 172. Duchesne Introd. p. 109. Fabre Tr. Lille p. 24 suiv.

* § 5 p. 172. Duchesne 1. c. Fabre 1. c. p. 25 suiv.

^ § 6 p. 172 sq. Duchesne 1. c. Fabre 1. c. p. 26 suiv.

" In lateinischer Transkription überliefert; den Text stellte zuerst Fabre Tr. Lille p.28— 36 her, dann V. Tommasini SwHe landi greche conser- vate nel libro x^olitico del canonico Bcnedetlo (in der Festschrift Ad Ernesto Monaci, Roma 1901) p. 377— 388, vgl. K. K(rumbacher) in Byz. Ztschr.Xl (1902) S. 586—588, zuletzt Duchesne in Introd. p. 109 suiv., dem ich folge, ebenso für die lateinischen Verse, die bei Benedikt nicht abgeteilt sind.

^ Diichesue 1. c. p. 113 geht wohl zu weit, wenn er die Beziehung auf die beiden Feste für einen Irrtum des Benedikt erklärt.

3Q2 ' Fedor Schneider

da sich Benedikt noch au ihn erinnert, wohl kaum allzu lange.^ Die Abwanderung vom Mär/fest liegt aber weit 7,urück, die Lieder tragen in ihrtn- Prosodie, die nur geringe Spuren von Rhythmik aufweist, wie in; ganzen Wesen deutliche Zeichen hohen Alters. Wie sie mag noch mancher Einzelzug der Riten auf jene Märzfeier zurückgehen; wie sie gehören die Lorbeer- blätter, die bei der häuslichen Feier der Conioniania auf den Herd geworfen werden, die I']ier, die die singenden Knaben vm Mittfasten erhalten, zusammen zu einem und demselben Fest. Betrachten wir die einzelnen Bräuche.

Zu Karneval wird ein Turnier der römischen Ritter beim Monte Testaccio beschrieben und apotropäisch gedeutet, lU nulla lis intcr eos oriatur. Dabei werden ein Bär, Stiere und ein Hahn getötet; wenn Benedikt dies allegorisch -moralisch erklärt, folgt er dem kirchlichen Zeitgeschmack. Ein Tielage geht voraus. Im ganzen Spiel liesj,t doch keine rechte Be- ziehung auf alte (insbesondere Jahranfangs-) Bräuche vor; der echt mittelalterliche Charakter überwiegt durchaus. Nur für das Fortleben der antiken Tierhetzen hat man diesen römischen Karneval herangezogen.^ Das einzige religionsgeschichtliche

' Fabre Tr. Lille p. 7 12 weist nacli. daß Benedikt die Liti.rjjie iu der Form für einen Papst Alexander, also AI. 11. (,1062— 107:5) kennt, die Überarbeitunj; aber noch Spuren aufweist, daß die Vorlage im grie- chischen Text den l'apstnamen K'rtnedikt, im lateiniHclien .Johannes hatte, und will diene in die zweite Hälfte des X. .lahrh. oder die erste des XI. setzen, am wahrscheinlichsten unter die l'äpste Benedikt VIII., Johann XIX., Benedikt IX. (iur2— 1016). Doch zeigt Duchenne Jntrod. p. 112 notft '2, daß Benedikts Name in einem den Zusammenhang stören- den Einschob des griechischen Textes steht: er will p.ll." bis ins VII. .Jahrli. hinaufgehen. Die Lieder sind erst später za päpstlichen Imiden um- gearbeitet worden, also entsprechend älter, s. u.

' Graf I 154 mit ungedruckten Stellen aus dem Liber imperialis und .Toliannes Cavallinus Pnlisloria VT 41 für das Fortleben dieser Spiele. Fabre Tr. Lille p. 26 notel. Gregorovius VI ' 685—688 (das Stier- gefecht von 1332 apokryph: da». S. 686 Anm. J und Ottokar Lorenz f)GQ. 11* 28r, Anm. 3). Bricht von Rnsticncci von 1450: Pastor Gennh. d. Päpste I 435 Anm. 5. Vielleicht kann man an den ludu.s Troiae denken: Friedliinder ir 326. Preller-.Tordan 11 332. Wissowa^ S. 460. 461.

über Kalendae lanuariae und Martiae im Mittelalter 393

Element, das wir positiv zu buchen haben, ist die Schlachtung des Hahns: sollte die Allegorie mehr als willkürliche Inter- pretation sein, sondern Grundlage und Zweck der ÖQa^eva^ dann ist eben der Hahn luxuria Iwnborum nostrorum, wie der Bär der Versucher, die Stiere superiia nostre delectationis. Daran ist doch ernsthaft nicht zu denken^, und dann wohnte dem altgewohnten Schauspiel ein laugst vergessener, erhaltend wirkender sakraler Sinn inne, die chthonische Bedeutung des Hahnenopters.- Wichtig ist, daß der Karneval, ludus Cartiele- rariij als öfientliches Volksfest unter Beteiligung des Papstes bereits besteht. Da Dur der Festzug der equites und pedites zum Testaccio erwähnt wird^, so ist damals Mummenschanz und Straßentreiben der Kaienden in der Hauptsache noch nicht mit ihm verbunden

Davon haftet nach Benedikt noch mindestens ein großer Teil an den Kcdendae lanuariae, nun aber, wie in Salerno, in Gestalt des Kinderumzugs, der so oft als letztes Rudiment von kultischen Riten zurückbleibt.^ Wie es altrömische Sitte war

' Dnchesne 1. c: ' Xotre auteur s'ahandonne ici ä des considerations mystiques et perd un peu de vue la description des rejouissances publiques.' Marie 'lothein Die Todsünden, in dieser Ztscbr. X 461 stellt eine Reihe anderer Tieisymbole der Laster zusammen.

■■* Ov. Fast 1 455 Xocte Deae Nocti cristalus caediiur ales. Asklepios- opfer: Preller-Robert I 525. Preller- Jordan II 242. Wissowa- S.420 Anm.3. Beziehung zu Pluto: Prelier-Robert I 803. Chthoniscbes Opfer: Rohde Psyche^— ^ 1 241 Anm. '^. Bes. Dieterich Papyrus magica, Kl. Sehr. S. 40 Anm. 5. Im deutschen VolksglaubeD deutliche Züge des Hahns als Seelenvogel: stirbt der Haushahn, so folgt der Hausvater, Wuttke^ S. 202 f.; der schwarze Hahn dem Donar oder Teufel heilig, das. S. 112. All- gemein: V. Hehn KuUurpßanzen und Haustiere^ S. 325—327. Auf den babylonisch-hebräischen Sühn- (Kappores-) Hahn gehe ich nicht ein.

' Wenn Ben. vom Testaccio behauptet sicut ibi hahuit civitas prin- apium, könnte er sich auf die Bezeichnung der Cestiuspyramide in seinen Mirabilien p. 262 üuch. als sepiilchnim Pemi beziehen, vgl. Gre- gorovius LV ^ 57 Anm. 2. Grisar 1 215 Anm. 1. Fahre Tr. Lille p. 25sq. Graf I 153 seg. bietet nur die späte Sage des Libro imperiale, die die Scherben des Testaccio von den Gefäßen der tributa ableitet, vgl. auch Jordan II 393. * Vgl. o. S. 390.

394 Fedor Schneider

und iiuch uüter Papst Zachariiis gehalten wurde, beginnt daa fröhliche Treiben schon am Silvesterabend'; einer der Knaben ist maskiert-, einen Schikl tragend /iehen sie von Haus zu Haus, jener Antiihrer pfeift auf einem Instrument, da/u wird ein Becken geschlagen. Und wo sie ankh)pfen. empfangen sie vom Hausherrn eine Gabe, wie es bei den Kinderumzügen überall üblich ist. Es ist überhaupt der bei solchen gewohnte Vorgang: mir daß wir ihn in uuserem Fall historisch ableiten können. Wir sehen Keste der alten Kalendenum/üge vor uns, geblieben sind der Umzug selbst, die Maske, der liäriii. die sfrenae.

Am Silvestertage essen die Knaben von jeglichem Gemüse': ein feiner Zug, der unserem Chorherrn als scharfem Beobachter alle Ehre macht, und /war ein neuer Zug des Kaienden- schmauses, trotz der späten Zeit von hohem Alter. Wir wissen so wenig über dessen ursprüngliche Bestandteile'; kann sich nicht, was bei den kleinen Leuten allzeit üblich gewesen, aber als '/u lianulos und nebensächlich unseren teils das Auffallende, teils das Anst(')ßige suchenden Gewährsmännern nicht der Rede wert erschienen war, erhalten liaben wie so viel anderer Volks- brauch, auf den oft erst das XIX. .lahrhundert geachtet hat? In dieser einfachsten Gestalt glaulit man etwas vom Urcharakter

' In rtgllia Auletidarum (Ja».) lu scro suryunt jiuen et porlaut scutum ; qiiidam eonini est htirnttis cum mazn in cnlfo. Sibilando .sovant timpavum, cuvt per domos, drcumdmit scuttnn, limpamnu sonaf, larvn sibilnt. Quo ludo /ivito accipiutd muwt/,s- a domivn domus, tteaivdvvi qw)d placft r.i ; sie f'iiciuyil per ntiunuiuntiique damuin.

' W as die maza sei, die er in (oHo trägt, bleibt unklar. Nach dem damaligen italieniHchen Sjjrachgebraucli (vgl. Muratori Aviiq. Hai. m. r. II 124C 1248; kann es niir ein Knotonstock (eine Keule) sein; wozu wird sie um den HalH getragouV Als Analogie des Hchildcs scheint dan anrilc der Salier, trotzdem deren Tan/ mit dem alten .lahreBanf'ang zu sammenliängt, zu weit hergeliolt.

* Ko die pvcri de Omnibus Icguwinihufi contediinl.

' Mit Nilaacn aus dem argvinenhou ex silentio weitgehende Schlüsse zu ziehen, besonders für Übertragiing vfn anderen FeHten, ist methodisch wohl niclit erforderlich. Soll das Jiihranfangsfest kein Opfermahl ge- ■labt haben? Upfer wird doch hänfij: erwähnt.

über Kalendae lanuariae und Martiae im Mittelalter 395

des Kaiendenfestmahles zu spüren und denkt an die nicht seltenen Parallelen vom Essen mancherlei Gemüses. Zu der Panspermie der Chytren ^ hat W. Mannhardt ^ deutsche, lettische, litauische Analogien gesammelt. Dazu der xegvog des Attis^ und besonders die xayxuQjtCa ^eXitovrra^-^ auch auf die athe- nische Sitte, den Toten jede Art Samen aufs Grab zu streuen'', sei einstweilen von fern hingedeutet. Daß das Festmahl mit seinen zäh festgehaltenen „Fastenspeisen" in alten Opfern wur- zelt, müssen wir annehmen; dürfen wir aber über entsprechende Opferspeisen einfacher Vegetationsfeste wie der Palilien mit ihren Hirsekuchen und Hirsekörbchen ^ hinausgehen bis zu ihrer Vorstufe, den Festen der Chthonischen, deren Grund- charakter ja der Vegetationszauber war? Chthonisch sind unsere griechischen Beispiele; Dieterich'' hat gezeigt, wie Erde und Tote im Ritus zusammengehören. Auf Fasching liegt ganz verwandte Sitte, wenn im Vogtland, in Norddeutschland und Hessen die Hausfrau sieben- oder neunerlei Speisen, darunter Hirse und Honig, zusammenkochen muß^; auch die Pfann- kuchen sind ja Opferkuchen, und bei ihnen ist die Verlcnüpfung von Kaiendenbrauch und Fasching deutlich.

^ Rohde Fsyche^-^ I 238 Anm. 2.

- Antike Wald- u. Feldkulte^ S. 226 f. 248—253. Reuterskiöld Ent- steh, d. Speisesahramente (1912) S. 124, über den Götzen der Hanifäb ans Teig „von allem, was der Pflug schafft und die Mühle mahlt" (Datteln, Milch, Butter). " Dieterich Kl. Sehr. S. 500.

* Rohde 5-Ö I 304 Anm. 2, vgl. die il7.vtoLi das. S. 250 Anm. 1.

* Rohde5-6 I 247 Anm. 1. Dieterich 3Iutter Erde" S. 48f.

•* Preller -Jordan I 417. Wissowa- S. 200. Palilien Hirtenneujahr: Deabner NJb. f. d. Jclass. Altert. XXVII 322 ff.

' Mutter Erde* S. 11. 77 f., vgl. den Bohnenbrei der Kalendae fa- hariae, Wissowa^ S. 190; doch die Bohne, die eigentliche Totenpflanze (Dieterich Kl. Sehr. S. 39 Anm. 4. Rieß in PW.l- 53), tritt in unserer Überlieferung von den Januarkaienden nicht hervor.

8 Wuttke^ S. 83, vgl. o. S. 375. Man wird für das Vogtland slawi- schen Ursprung voraussetzen und vielleicht beide Hauptübertragungs- gebiete des Kaiendenbrauches, das germanische und slawische, als an diesem Zuge beteiligt betrachten.

396 Fedor Schneider

Weiter führt *die FortsetzuDg.' Am Neujalirsmorgen ziehen die Knaben zu je zwei und zwei" mit Salz und Olivenzweigen von Haus zu Ilaus; in jedem entbieten sie Gruß und guten Wunsch, ins Herdfeuer werfen sie eine Handvoll Salz und OlivenbUltter; ^so viel Söhne, so viel Ferkel, so viel Lämmer' und überhaupt allen Segen wünschen sie. Das geschieht schou vor Sonnenaufgang; denn darauf heißt es, daß sie schon vor diesem Zeitpunkt eine Honigwabe oder sonst etwas Süßes essen, damit das ganze Jahr süß (angeuehm) verlaufe, ohne Streit und große Mühe.'' Der Kinderunizug ist eine jüngere Entwicklung; aber sonst spüren wir viel alten Kaiendenbrauch. Das Opfer am Herd entspricht der südfranzösischen Spende an den Kaiendenklotz, der Libation von W ein und Ol, bei der vom Hausvater der Jahranfangs wünsch in ähnlicher Beziehung auf deu Agrarkult gefaßt wird, wenn er Frucntbarkeit für Frauen, für Schafe und Ziegen und reiche Fülle für Küche und Keller erfleht; wir konnten diesen Brauch schon bei Martin von Braga nachweisen. Der Ölbaum war den Chtho- nischen heilig; was von ihm kommt, ist kathartisch.' Mit ihm

' Mane aiitem sargiiyit dno pueri ex Ulis, accipmnl raiiios olive et snl et intrant per domos. Salutnnt domum: 'Gaudium et Itticia sit in hac domo' ; de Ulis frotidibua rt sah ploiam »lavum iiroiciunt in igncm et dicunt: 'Tot (Uii, toi porcfUi. tot agni' ; et de nmnihiis bonis optavt. Et antequam sol oriatiir, comedunt vel faxmm mcUis vcl aliquid dnlce, %(t totua annus procedat eis du/eis, sine Ute et labore magno.

* So muß doch wohl die Stelle intfrpretiert werden; nur zwei wären selbst für das Rom von 1142 nicht ausreichend.

" Die letzten Worte sine Labore magno, die wohl die subjektive Meinung Benedikts widerspietfeln, sind für das Lebeusideal des Romano di Roma ent/.äckend charakteristisch; nicht nur nach Moramsens bekanntem Wort war der colonus unter Könit,' Nunia wie unter König Humbert der- selbe, sondern auch der stadtiömische Spießbürger: z. B. Ov. Fast. I l»6tf,

S. 0. S. 120 Anm. 1. Biltiuger II öl nach Cheruel. Vgl. Dieterich Sommertag, Kl. Sehr, S. 338— .S4;{; das. S. 317 f. (')|l)aura: Rohde l'syche 15-0 S 226 Anm. 3. II ^-« S. 72 Anm. 1. Gruppe Griech. Mythol.u. Reli- gionsgr.'ch. S. 80;^. Ks ist eben die tiQi6iwvr\ slrena (über diese: Deul)- ner Glotta 111 34 43). Herd auch in unserem Volksbrauch wichtige Zanlerstelle: Wuttke " S. 89. Radermacher S. 100.

über Kalendae lanuariae und Martiae im Mittelalter 397

gehören die laudes zusammen; wir werden weiterhin sehen, daß sie an eine bekannte Reihe alter Frühlingslieder anklingen. Zuletzt die süße Festspeise, wie sie von altersher den Kaienden eignet^ und hier spezifiziert wird: Honig ist die Speise der Chthonischen.^ Auf den kultischen Ursprung dieser ganzen Reihe von Riten weist auch vielleicht die Tageszeit, vom Abend bis vor Sonnen- aufgang: sie gilt auch im deutschen Volksbrauch als Zauberzeit. ^ Bei der Verwandtschaft der Januar- und Märzkalendenfeier wird es kaum wundernehmen, wenn 1142 zu Rom die Mitt- fastenbräuche dem Neujahrstreiben recht ähnlich sehen.* Wieder findet ein Umzug der Kinder, der scolares, wie Benedikt hier sagt^, statt. Ob man bei der Fahne, die sie tragen, gleich mit der Erklärung als Lebensrute bei der Hand sein darf, mag dahingestellt bleiben, wenn diese auch gerade in den Rahmen der Märzkaienden mit ihrem Vegetationsritus sich gut ein- fügen würde. Direkt ist sie uns für die Kaienden nicht be- zeugt. Die laudes werden erst vor der Kirche, dann im Haus gesungen^, sie richten sich an den Hausvater und sagen es

' S. 0. R. 375; 377. Ov, Fast. I 186. Das Salz, noch heute im Brauch als Bestandteil der Herdriten fortlebend, hat ein Analogon z.B. in der mola Salsa Serv. Ed. VlII 82, vgl. Gruppe S. 883 Anm. 3.

* Rohde Fsyche5—^ I 304 Anm. 2, dazu S. 16 Anm. 1. 238 Anm. 3. Verwendung zur Lustration: Samter Familienfeste der Griechen und Römer S. 84 86,

Wuttke^ S. 57. 167 (ganz früh und nach Sonnenuntergang). Nahen der Unterweltsdämonen vor Sonnenaufgang: Verg. Aen. VI 255 sq., dazu Norden Kommentar- S. 204.

* In media qiiadragesima scolares nccipiunt lanceas cum vexülis et tintinnahuUs. Prius faciunt laudes ante ecclesiam, deinde eunt per domos cantando et accipiunt ova pro beneflcio illitis laudis. Sic antiquitus facie- bant. Hier läßt Benedikt (s. 0. S. 391) die vollständigen laudes folgen.

^ Doch in der Überschrift und der des laudes-Textes: laudes puero- rum, wie sie im Neujahrparagraphen (0. S. 396 Anm. 2) pueri heißen.

® Denn auf das cantando geht doch illius laudis. Daß der Haus- gesang das Ursprüngliche ist, braucht nicht hervorgehoben zu werden; in der Verknüpfung mit der Kirche tritt die allmähliche Klerikalisierung hervor, die wir bei den Januarkaienden schon kennen lernten und hier nicht besonders behandeln. Bemerkt sei, daß in der Stadt Rom die

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selbst, daß sie ursprünglich zum Jahrautung au deu Mär/-- kalenden gehörten*; für ihre Wünsche erhalten die Schüler eine Gabe: Eier, das alte chthonische Fruchtbarkeitssymbol/*

Es ist verständlich, daß die Mittfastenfeier von den nahen ^ Kalendac Martiac, zu denen ihre Bestandteile gehören, her- irekommen ist. Um deren Überreste zu erkennen, müssen wir uns zunächst den laudes zuwenden, die ja auch an der Corno- mania gesungen werden, aber, wie wir sahen, ursprünglich keinem der beiden Feste eigen sind, sondern den Märzkaienden. Von den Begrüßungsversen, die in der überlieferten Textgestalt die Schuljugend an die Gottheit und an Heilige, ;in den I'apst und den Lehrer richtet und die dem Ganzen den Namen laudes eintrugen die BegrüBungsverse sind echte laudes , mögen wir hier absehen: es sind spätere Zusätze, die das alte Volkslied für christlich - kirchliche Anwendung zustutzten. Im lateinischen Texte, wo bereits ähnliche Ansprachen in Prosa und Rhythmus vorausgegangen sind, unterbrechen diese laudes nachher den Sinn und Zusammenhang der Lieder; im griechi- schen folgen die laudes auf das Frühiingslied, zu dem sie innerlich ebensowenig passen.'* Denn alles übrige gehört und

Kalendae lanuariae ganz vom Kirchenritus verHchlungen worden sind : ihr letzter Rest sind die „Kinderinedigten" zwischen Weihnachten und Neujahr in S. Maria in Araceli, d. h. keine Predigten, sondern Aufforde- rung zur Freude über die Geburt des Erlösers, die in ' augun' auaklingt.

' S. 0. S. H'Jl und weiter unten über ihren Inhalt.

' Mannhanit nauinkullits' S. 158 u. ö. Wuttke"' .S. 71. 118 f. (vgl. o.S.383.397 Anm.4). üietorich So»/ mcria^^, Kl. Sehr. S.:H36 f. Ei mit Lichter- knchen beim Hekatemahl, bei dem die üblichen Opfer für die x'^öpioi dargebracht werden: llohde Ps;/chc^-^ II 84 Anni. 1; Nabrnng und Opfer der xi>6vtoi: »las. S. 126 Anm. 1; kathartisch: das. S. 407. Nilsson Dax J'A tili ToUnkull der Alttu, in dieser Ztschr. XI 530 tf., bes. S. 544—546.

' (jtenze von Mittfasten (Lätare): 1. Miirz (wenn Oßtern 22. März) bis 4. April (wenn Ostern 2.'). April); wenn Oetem am 22. März gefeiert wurde, fiel Lätare auf den 1. März.

* Die griechischen laudes hat Duclieene Intiod. p. lll suiv. aus- geschaltet ( Suivent des chansotis d'ecole'); aber auch mitten darin Verse der Märzfeicr: >;|m ^'tßgoÜQi, l^m (1. ii'ßcu) » Mapt». 'JviniXfv to Jap, »oä>o«ct rravra. -Auf den Preis des Lehrers, in den diese Bruchstücke

über Kalendae lanuariae und Martiae im Mittelalter 399

stimmt zusammen \, beide Lieder feiern Früliling und März- kalenden. Mag der christliche Jahresanfang am 1. März^ in den Jahrhunderten byzantinischen Einflusses auf Rom den äußeren Anlaß für die griechische Ümdichtuno: greofeben und überhaupt die öö'entliehe Feier aufrechterhalten haben, nach dem, was wir von den lateinischen Märzkaienden wissen, wird

hineingeraten sind, folgen laudes auf Gott und Christus (p. 112), ein ' cathechisme en vers alphabetiques\ d. h. Hymnus ABCdarius, von A bis 0 erhalten. 'Enfin les ecoliers expriment leiir joie d'avoir ete mis ai vncan- ees pour chonter le jyrintemps', d. h. es folgt eine alte, noch deutlich dtm wirklichen Anlaß verratende Umarbeitung des 'Sommerliedes' der Kinder zu laudes an Papst Benedikt; der Schluß weist auf die Verknüpfung des Kirchlichen mit dem Volksmäßigen hin: 'Ano Tijg avccroliig tb iag uvixEilB xal (pariaii. avciOrug -x-ogilov rtdvta it 6oiti]q. Den mangelnden inneren Zusammenhang zeigt die Reihenfolge: Haussegen, Schwalben- lied, Preis des Lehrers, Hymnus, laudes an den Papst und Christus. Zu der Winteraustreibung ^vys tpvys ^eßgodgi- 6 Mdgrig 6e Sico'au macht mich Weinreich auf Amulettbannsprüche wie ^uyt rcödayQu, JJtQCsvs OS fhwxEt. oder ^svys us (iioovusvt}' 'Aolucp 6 ayyslos <J£ diäy-et oder ^>eö)'f qpaö*/', ioii xoX/i, 6 '^ogvÖaXog as Jjjrsr u. ä. bei Heim in Fleckeisetis JaJirb. f. klass. Phil. Suppl. Bd. XIX 480 f. aufmerksam.

' Duchesne 1. c. p. 110 suiv. hat die Beziehung auf die Neujahrs- feier am 1. März nicht erkannt, wenn er das erste griechische Stück, dessen Ähnlichkeit mit den ' voeux exprimes par les ecoliers au premier jnur de Van' ihm aufiiel, zu den Kalendae lanuariae, das folgende 'au reeeil de mars' stellt; lateinische Begrüßungen des Papstes trennen da- von das griechische Schwalbenlied, das sich inhaltlich gut anschließt.

* Der offizielle byzantinische Jahresbeginn ist der 1. September; doch der 1. März, bis Julius Caesar Anfang des bürgerlichen Jahres war auch in christlicher Zeit wenn auch der Zusammenhang mit dem alten römischen Neujahr abgelehnt wird (Grotefend) ein ver- breiteter Jahresanfang, so bei den Päpsten des V. Jahrb., Gregor von Tours, und in Rußland bis ins XHI. Jahrh. Nach Ideler Handbuch d. maihem. u. techn. Chronologie (1826) 11 55 galt er bei den Römern als altherkömm- lich (Lydus: nargiov); das. S. 326 f. Noch in der Kaiserzeit besteht die Vorstellung, das Jahr fange im Frühling an. Damit hängt die Fest- setzung des Weltschöpfnngsdatums auf den 22. März zusammen : Martin von Braga De corr. rust. c. 10 p. 13 Casp., der das in seiner Schrift De pascha ausführt, wesentlich ebenso Beda De temp. rat. c. 6. Galli- kanisch ist nicht der dem Gründonnerstag entsprechende 22. März, son-. dem das Osterdatum, der 25. März, das der Schöpfung. Vgl. Pervi^j , Veneris v. 2 vere naitis orbis est. Verg. Georg. II 336ff.

400 Fedor Schneider

man nicht den ganzen Komplex auf hypothetischen griechischen Festbrauch zurückführen können.

Zu diesem Frühlings- und Jahresanfang des 1. März nun begrüßt das griechische Kinderlied Hausvater und Haus; mehr- fach wird betont, daß das neue Jahr, daß der März gekommen, der böse Februar mit ihm der Winter vorüber ist. Leben ^, Kinder, Vieh TtQoßarcc^ %t)]vu. %ov).(i genau wie an den Januarkaienden wünschen sie. Und die Weise geht über in das wunderschöne Schvvalbenlied, eine i*erle italie- nischer Volkspoesie des Mittelalters. Wem sind nun noch die Fäden verborgen, die von diesem Mitttasten- und Weißensamstag- brauch des Jahres 1142 und seinen deutscheu und neugriechi- schen Parallelen am 1. März wird die hölzerne Schwalbe mit dem Liede 'Hq&sv. i]q&s ys/.idovcc herumgetragen zur Eiresione und zum rhodischen Schwalbenliede zurückführen?' Freilich klingt in Rom christlicher Ton aus den Wünschen an den öcdttjq ä&dvurog: doch die Wünsche selbst gehören zu den Kalenden.^ Und wenn das Schwalbenlied mit jener Be- grüßung den gleichen Geist atmet, erhöht sich die Wahrschein- lichkeit, daß das Christliche spätere Zutat zu der ursprünglichen volksmäßigeu Grundlage i.st. Wieder heben die Sänger mit dem Gruß an alle Hausgenossen an: yaCQSze Ttävrsg oads: dann singen sie von ihrer Freude über die erste Schwalbe, die sofort den

' Darauf folgt nach J)uchesneH 'IVxtherstellunp^ ovyytrtiay xu'i rtyva Gute Verwandtschaft? oder et-vra av^yorov? zu emondieren? überliefert singiviivta tegua.

» Dioterich Sommertag, Kl. Sehr. S. «38—346. Mannhardt Antifce Wufd- u. Fehü-ulte* S. 243—248. Wuttke^ S. 62. rO 73. Schwalbe Frühlings- HYmbol : das. S. 120 f. Das Buch von AnitHchkotf JJas rihiel/f Früldings- lied im Weden u. b. d. Slaiien kenne ich nur aus Deubners ausführ- licher Inhaltsangabe in dieser Ztschr. IX277tf. 446ff. X. 318f Jetz» liadermacher S. 114 ff

' Von Dnchesne Intmd. \k 1^'* toi. '1 note ti ist der Zu8an3uienhan<,' mit dem tot filii, tot jorccUt. tot agni des .lanuarkaleudenwunsches be- merkt und der falsche Schluß daraus gezogen, das betreffende erste i^riechiBche Stück gehöre zu diesem Fest, o. S. 399 Anm. 1.

über Kalendae lannariae und Martiae im Mittelalter 401

Oedanken an den Beginn der Feldarbeit auslöst. Das mittelalter- 'liche Rom, zur Ackerbürgerstadt geworden, hat den Sinn des alten Yegetationsfestes am Frühlings- und Jahresanfang treu bewahrt. Und das gilt auch vom lateinischen Liede, von dem die Strophen 2 4 und 14 20 ursprünglich scheinen,^ Auf den Preis des Frühlings und der blühenden Flur (Str. 2 4) folgt die genaue Angabe des Zeitpunktes und Anlasses der Feier (Str. 14 sq.) :

Martius mensis instat ubiqua, quo deus auctor cuncta creavit^.

quo netnurS omne fundit odores, prehet et altis montibus umbram. Dann schildern begeisterte Strophen die Blütenpracht der Frühlingsnatur, die Freude des Landmanns an ihr, seine Hoff- nung, der blühende Apfelbaum, die sprossende Saat werde reiche Frucht bringen. Dabei wird die Erntezeit lebhaft ver- gegenwärtigt; ist sie doch das Ziel des Vegetationsfestes. Das darf keine kritischen Bedenken erregen; Herbst verse, die sich auf ein Erntefest beziehen, sind nicht in das Lied der Lenz-

' Ducliesne Introd. p. 113 hat den Einschnitt bemerkt, nur will er ihn nach Str. 11 statt 13 setzen. Und Hyperkritik ist es, eine ganze Reihe ursprünglich selbständiger Liedfragmente anzunehmen. Die Be- ziehungen auf Herbst und Ernte erfordern diese Erklärung nicht, sie sind aus inneren Gründen verständlich, s. u. Auszuschalten sind Str. 1. 5 12. 21 23, die lateinischen laudes, entsprechend den griechischen, nur viel ausführlicher. Mit dem Anfang, von dem sie durch das grie- chische Stück getrennt sind, mit dem aber die lateinische Enklave zu- sammengehört, bilden sie dieselbe Einheit wie die griechischen Zusätze. Zu Beginn des Ganzen Duch. p. 110 Eya preces de loco (was Duchesnes Konjektur ioco für einen Sinn ergeben soll, weiß ich nicht) mit Gebeten; dann Wechselgesang zwischen Lehrer und Schülern, die Papst, Lehrer und Rom preisen-, dabei Octo octobria, papa cum gloria: Duchesne er- innert an das heutige Volksfest der Ottobrate, wodurch das Wort octobria nicht erklärt wird. Da wir vom Alter der Ottobrate nichts wissen, wollen wir das Problem nicht künstlich verdecken. Dann p. 111 Aperite nobis portas, ad domnum papam venimus usw. (Enklave im Grie- chischen); dies büdet die Brücke zum Beginn des großen lateinischen Sjiedes p. 113 Enge benigne papa Innocenti. Also keine 'morceaux Sans rapport les uns avec les autres' oder Reste eines 'cahier de chansons' ■der Jugend, sondern ein sehr volkstümlicher alter Liedertext in der Überarbeitung für ein christlich - populäres Fest unter Beteiligung des Papstes. 2 S. 0. S. 399 Anm. 2.

Archiv f. Eeligionswissenschaft XX. 8/4 26

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feier vermengt/' Wir haben ein gutes Beisi^iel der Ansage des^ Frühlings, des „Sommersingens" vor uns, den Frühlingseinzug, den bei uns in Deutschland, landschaftlich mannigfach wechselnd, irgendein vorhandener Festtag angezogen hat: in Rom zeigt aber das Lied, abgesehen von seinen starken Analogien zu anderen antiken Frühlingsliedern und den Kaiendenbräuchen, noch selbst den Festtag, zu dem es gehört: die Kalendae MaHiae.

Das vierte der von Benedikt beschriebenen römischen Volks- feste, die Cornomania am Samstag nach Ostern, ist wohl der eigenartigste aller klerikalisierten Volksbräuche und zugleich das älteste der Narrenfeste ^, da es vor dem Papst auf dem Lateransplatz begangen wird.'' Hier kommt es nicht auf seine mehrfach geschilderten Einzelheiten an*, sondern auf den boden- ständigen Grundcharakter, der von der Geistliclikeit^ durch Zutaten und Umwandlungen verfälscht wurde und nachweisbar im Lauf der Jahrhunderte eine Veränderun<j erfuhr. Klerus und Volk von Rom, in Benedikts Schilderung nach den 18 Dia- konien geordnet, bildet Publikum und Chor zugleich. Nach

' So Duchesne Introd. p. 113: so beanstandet er Str. 16 gignit et arbor dulcia poma: nur das gignere bezielit sich auf die Zeit dos Festes, wie Str. 19 gandct arator carpcre fmctum nur das gauderc anf künftige Ernte; warum man, wenn Str. 17 früh die Wiesen bereift sind, noch keinen Vogelsang hinter den Hecken hören könne, der Str. 20 geschildert wird, ist für Italien nicht einzuselien. Und daß gar (Str. 15) im Frühling der Wiild nicht dufte noch schatte, ist erst recht unrichtig. Das kleine Lenzlied hält richtig interpretiert allen Angritfen der Kritik gegenüber stand.

* Über diese, die sieb besonders in Frankreich aus der Feier der Januarkaienden entwickeln, handelt IJünger S. 86 102.

' L. c. II 171 omvrs expertant dovinuiv jxipam in campo ante pala- tium suh FftUouica. Cum (tutrm )iovrrit doninus papa onnies i-enisse, dc- ■icendit de palatio ad destinatuni locuvi, itbi accipic)\de sunt landes Corno- tnanie. Später gibt der Papst für die von einzelnen Diakonien gespen- deten Tiere Gegengaben, s. n.

* Für diese verweise ich besonders auf Fahre Tr. Lille p. 18 23 in den Noten zu seinem Abdruck, Duchesne Introd. p. 107-109 und LapAtre 1. c. p. 345—349.

* Johannes Diaconus MG. Poet IV p 870 Str. :< nennt da» Fest ira Prolog V, 12 sacerdotalis ludus.

über Kalendae lauuariae und Martiae im Mittelalter 403

der einfacheren Form des IX. Jahrhunderts singt die scola can- formn, geführt von ihrem Prior, Lieder, wohl dieselben, die uns von der Märzfeier bekannt sind; dieser Prior, der mit einem hörnerartigen, aus Blumen gewundenen Kopfputz auf- tritt und das phinoholum, eine Art Schellenbaum, schwingt, führt einen Tanz auf. Bei Benedikt tritt an die Stelle de« einheitlichen Gesangs der scola cantorum und der Festleitung durch ihren Prior eine crleichzeitio-e und gleichartige Feier durch jede der Diakonien, die Leitung der laudes ist auf deren Erzpriester übergegangen, die scherzhaften Funktionen und Attribute auf ihre mansionarü. Nachher werden mit allerlei komischen Riten von einem Erzpriester, der rittlings auf einem Esel reitet, Geschenke eingesammelt^, in einzelnen Diakonien haben sich dabei offenbar Reste alter Sitte erhalten, sie geben ein Füchslein, das davonläuft, einen Hahn-, einen Damhirsch (damulam) und empfangen vom Papst byzantinische Gold- stücke, wie sie damals in Rom kursierten. Alle Diakonien legen vor dem Esel, auf dem der sammelnde Erzpriester ritt- lings sitzt, Kränze nieder.

Masken und Kränze, Tanz und Scherz, Gabe und Gegen- gabe erinnern an die Kaiendenfeier, zu der die laudes mit ihrem Frühlingsanfangsgesang und Schwalbenlied ursprünglich gehören. Man weiß nichts über das Alter der Cornomania; doch die zentrale Stellung, die in ihrer wesentlich einfacheren, aus dem IX. Jahrhundert bekannten Gestalt die päpstliche scola cantorum, die von Gregor dem Großen gegründete Pflanzschule

* Ursprünglich (bei Job. Diac.) gehörte offenbar auch das Einsam- meln zu den Funktionen des prior scolae cantortim , der auf einem Esel reitend auftrat; der damalige Vertreter wird deshalb scurra Crescentius genannt und mit Silen verglichen. Über die Corona cornuta: Fahre Tr. Lille p. 19 note 4. Bonitho ad amic. 1. VII p. 84 sq. Jaffe über die mebr als 60 mansionarü in St. Peter (d. h. mans. scholae confessionis b. Petri: Kehr IP. I 140 n. 24), laici coniugati et plerique concubinarü, die barba rasati et mitras in capite portantes sich für Priester und

Kardinäle ausgaben. * Vgl. o. S. 393 Anm. 2.

•26 =

404 Fedor Schneider

des römischen Klerus, eirmimmt, vermag die Überarbeitung der laudcs, ihre gleichzeitige Übertragung auf verschiedene Feste und zugleich vielleicht den Übergang des alten Festliedes in ein Kinderlied ^ einigermaßen zu erklären. Nun wissen wir, warum die Zusätze zugleich mit den der Klerikalisieruug ent- sprechenden laudes auf die Gottheit, den Papst und Rom auch den Preis des Lehrers enthalten: das ist der Festleiter, der Prior der Sängerschule, und deshalb ist auch von dieser, vom Lernen und von Ferien so viel die Rede. Und da das um- gearbeitete Lied so recht Eigentum und Wahrzeichen der scola cantorum geworden war, die auch den griechischen Text tradi- tionell bewahrte, wurde es ursprünglich neben den März- kalenden, deren Feier bald mit Mittfasten zusammenfiel oder auf dieses verlegt wurde auch an der Cornomania gesungen. Alter Volksbrauch, der Nachklang antiker sacra, lebte in christ- licher Vermummung fort, weil sein wahres Wesen längst un- kenntlich geworden war.^

Wichtiger noch ist, daß dieser öffentlichen, wegen der Be- teiligung des Papstes und der Kurie kann man sagen staat- lichen Feier der Cornomania ein häusliches Privatfest entsprach, wie die Kaloulae lanuariae und andere antik römische Feste ** die gleiche Zweiteilung gezeigt hatten. Wenn alles Volk nach Hause gegangen ist, macht sich der mansionarius jeder Dia- konie, ohne seine scherzhafte Festvermummung abzulegen, mit einem Priester und zwei Gefährten auf, allen Familien Gruß und Haussegen zu entbieten, iocando sicid priiis et sonando

' Doch brauchen die beiden anderen Zeugnisse für Übergang de» Kalendenfeates in eine Kinderprozesflion aus Döle und Salerno nicht notwendig von Hom iibhängig zu sein, obwohl das chronologisch möglich wilre; dort wird ähnlich wie hier die streyxa klerikaliaiert. Man kann auch, zumal da es sich in beiden Fällen ura die Januarkaienden handelt, jedesmal an BelbHtiindige Entwicklung denken.

« Als Zweck gibt .Tob. Oiac. (s. o. S. 402 Aura. 5) an: qxio sacerdotalis Indus üesignet misternim.

' Besonders die Palilien (vgl. o. S. 396 Anm. 6), über deren Beziehung zu dem Märzfest zu bandeln jenseits unserer Aufgabe liegt.

über Kalendae lanuariae und Martiae im Mittelalter 405

phinoholmii; sie bringen Weihwasser, nebulas = Waffeln und Lor- beerblätter. Der Priester grüßt das Haus und besprengt den Boden mit Weibwasser, er wirft Lorbeerblätter auf den Herd und spendet den Kindern de nehulis. Damit auch mystiscb- dunkle Formelworte, Reste alten Zauberspruches, nicht fehlen, singt der mansionarius:

laritan, laritan, iarariasti; Raplimjn, lercoin, iarariasti} und zum Schluß empfangen die Begrüßer vom Hausvater eine Geldgabe.

Hier ist nun alles klar, die wesentlichen Riten sind uns ganz entsprechend alle begegnet: es ist die lustrat io, die wir von den Kalendae lanuariae und Martiae kennen. Daß sie ursprünglich zu diesen, bei denen sie in unserer antiken Über- lieferung zurücktritt, gehörte, beweist das in den laudes er- haltene Festlied. Vielleicht liegt hier die Lösung des Rätsels, wie die Märzkalendenbräuche auf die Cornomania übertragen sind; wollte man sie durch eine Osterlustration ersetzen? Auf- fallend bleibt dann die Wahl des Samstags nach Ostern, und wenn der letzte Rest der Cornomania, wie jedem, der Ostern in Rom verbracht hat, bekannt, auf dem Ostersamstag ver- blieben ist^, so hat man das wohl gefühlt und korrigiert. Hier tritt denn auch der kathartische Lorbeer hervor, der zu Neu- jahr durch die gleichbedeutende Olive ersetzt war, aber recht

* Benedikt sagt: mansionarius barbarice cantat metros. Über das Eindringen der Magie vgl. Dieterich Abraxas * S. 150, doch ist es mir nicht gelungen, eines dieser hebräisch anklingenden Worte vielleicht zu Baphayn die D"'iQD'"i zu vergleichen, Grundbedeutung s. Wellhausen

Isr. u. jiid. Gesch. S. 103 in Zaubertexten za finden. Vielleicht ist ein Kenner glücklicher. Vgl. jetzt P. Karge Rephaim. Die vorgeschichtl. Kultur Palästinas u. Phöniziens (1918).

^ Auf diese Häuserlustration mit Weihwasser, bei der der parroco, begleitet von seinem mansionarius (sagrestano), auch den Festkuchen und die Eier segnet und seine Gabe erhält, wies Duchesne Inirod. p. 108 suiv. hin; ich fand den Brauch z. B. auch in Acquapendente. Der Weih- wasserwedel hat die 1142 noch vorhandene slgsGiwvri ersetzt.

406 Fedor Schneider

eigentlich zu den Kalenden gehört; und daß dem Gruß und Segen, den der Priester entbietet, die Begrüßung des Hauslierrn in den laudes mit ihren uralten Formeln und Anschauunccen zugrunde liegt, ist wohl augenscheinlich. Gelungen aber ist die Übertragung nicht völlig; auf dem alten wie dem neuen römischen Neujahr blieben unausrottbar große Stücke der Kalendenriteu. Auch der Dreikönigsabend mit der Betana ge- hört teilweise, mit Lärm und Straßentreiben als öffentlicher, mit den streune hier hat sich, wie im französischen etrennes, der Name noch erhalten als privater Feier in den Kalendeu- festkreis; und auch die Verschmelzung des personifizierten Fest- \ datums der Befana mit der Jahresalten, der Anna Perenna, | vermag bei deren nahen Beziehungen zum Jahr anfangs fest i nicht zu verwundern. Epiphanias als das ältere Geburtsfest j Christi (vor 354) zog die Kaiendensitten nach denselben Ge- j setzen an wie das jüngere VN'eihnachtsfest. \

I

Und auch der Ursprung eines anderen Festes erhält durch | den römischen Volksbrauch von 1142 etwas Licht: der Käme- j val. Der Name geht etymologisch nicht, wie noch A. Diete- rich' wollte, auf den carms navnlis der Isis zurück; der Tag heißt wirklich so, weil die Fasten anfangen und der Fleisch- genuß aufhört: rnrnelevare, ((tmdeiamin, carnelasciare, cnrnis- 2))iiinM im Mittelalter. Dagegen ist viel Germanisches im deut- schen Karneval nachzuweisen: die Austreibung Balders scheint

n

' Abnixn^* S. 104. Kl. Sehr. S. 466. 486 f. 499. Unenev Sint(lui.<iagn> (1899) S. 119 f. 126; dazti Körting' Ktinnol. laf.-romav. Wörterhuch nr. 1974. Dagegen V. MicbelH Stuclien über die älteren deuUcheu Fastnachtspiele (Quellen n. For.-ch. z. Sprach- \i. Knlturgesch. von Brandt, .Martin, Schmidt, Heft 67, 1896; S. 94 f. W. Meyer-Lübke Roman. -etymol Wörterbuch (1911) S. 134 nr. 1706. ( '. C'lemen Der Urspi-xing des Karnevals in dieser Ztschr. XVII 147—150. Fehrlc J)eut.-che Fe-^te u. Vollsbräwhe des Mittelalters (1917) S. 31 £F. Über ^chitTsumzüge (Chronik von St. Trond zu 1133, Mon. Germ. SS. X 309 sq.) nnd ihre röuiische Grundlage: Helm I 388f.; dagegen Giemen S. 149 Anm. 1.

über Kalendae lanuariae und Martiae im Mittelalter 407

die Grundlage.^ Wirklich die letzte? Wir sehen die Austrei- bung des alten Jahres in den römischen Märzkaienden weithin in die Ferne wirken und germanische Yegetationsriten an sich ziehen oder entwickeln. So hat man auch für die Fastnachts- bräuche auf das „germanische" Totenfest zur Wintersonnen- Tvende verwiesen.' Die Parallele der von den Januar- und Märzkaienden ausgehenden Reihen der Festbräuche, wie sie oben in der Tradition verfolsrt sind, erklärt wohl dies Ver- hältnis. Nicht durchaus Abwanderung der Kalendae lamiariae auf Fasching ist erfolgt, sondern die parallele Feier der März- kalenden bildet den Ausgangspunkt, an den sich Januar- kalendensitte leicht anschließen konnte. Und die Züge der Saturnalien im Faschingstreiben, von denen früher dessen Inter- pretation ausgingt erläutert nun Nilssons Nachweis, daß sie von den spätrömischen Januarkaienden aufgenommen worden sind: mittelbar von diesen her kamen sie in den Karneval. Aus römischem Jahranfangsbrauch stammen im Fasching, wenn auch auf deutschem Boden vielfach in eigentümlicher, religions- geschichtlich interessanter Weise ausgestaltet*, das Austreiben des Todes, d. h. Vegetationsgeistes ^ oder alten Jahres mit dem Einholen des neuen, der Kampf zwischen Sommer und Winter^

4

' So Friedrich Kauifmann Balder. Mythus u. Sage nach ihren dich- terischen u. reh'g. Elementen untersucht (Texte n. Unters, z. altgerm. Reli- gionsgesch. I, 1902) S. 292. Giemen S. 139 158 weiat die Grundlage des Karnevals in primitiven Fruchtbarkeitszaubern mit reichem ver- gleichenden Material nach, vgl. auch Kauffmann.

^ Michels S. 96; über Fastnachtsspiele u. Todaustreiben im Februar das. S. 93—107; Kauffmann S. 281—292.

' Gegen KauiFmann S. 282 u. a. sucht Giemen S. 139 143 die'ßatur- nalienparallele zu entkräften.

* Dafür kann auf die grundlegenden Ausführungen von Giemen ver- wiesen werden, die trotz der abweichenden Ansicht von der Entstehung des Karnevals ihre Bedeutung behalten ; ich schließe mich seiner Klassi- fikation der Einzelzüge an, nur ohne auf deren Teilung in solche, die auf primitiven Brauch zurückgehen, und andere, bei denen das nicht unmittelbar erweislich ist, zurückzukommen.

5 Giemen S. 144 f. Ebd. S. 146 t.

4Qg Fedor Schueider

Umzug, Verkleidung Tiermasken, teilweise unsittliche Frauen- trachten — , Tanz und L;irm\ ebenso wie Gelage und Fest- speisen.* Der Karneval ist ursprünglich Fruchtbarkeitszauber*, weil er ursprünglich Kaiendenfeier ist.

So wenig ich zuständig bin, über die Bedeutung der Ka- lendae lanuariae (und Martiae) in der römischen Religions- o-eschichte zu handeln, muß ich doch mit allem Vorbehalt die Ero^ebnisse zusammenfassen, die unser Verfahren, die metho- dische Scheidung realer und literarischer Tradition und der Vergleich der tatsächlichen Überlieferung über die Ausläufer der Januar- und Märzkaienden, gebracht hat. Von Unrömischem, das in der Kaiserzeit mit der nationalen Feier verschmolzen ist, kommt die Tiermaskerade in Betracht; sie bedeutet die Attribute einer keltischen und einer orientalischen Gottheit und konnte sich organisch einfügen, weil überhaupt bei den Kaienden dämonische Mächte hervortreten. Im übrigen können wir von den fremden Zutaten, orientalischen und germanischen, absehen und uns auf die Frage beschränken, welcher ursprüng- liche Grundgedanke die Einzelbräuche, die sich abzweigen und verselbständigen, erklärt und zusammenhält. Manchmal tritt

' Giemen S. 154—158; Belege für Tierfelle am besten bei Du Meril Eist, de la comcdie anciemft I 76 in den Noten. Wenn Giemen S. 148 es für fraglich hält, ob der Festzug an sich schon ein Problem bilde, 80 ist die Frage im Zusammenhantj mit den Kalendenritcn und in An- betracht des Altera dieses Brauches nicherlich zu bejahen (St. Trond 1133!). Halbnackte Frauen St. Trond : ('lernen S. 162f. Vgl. auch den spanischen, nicht einem bestimmten Termin zugeschriebenen Masken- brauch 0. S. 123 f.

* S. o. S. 396, vgl. Michels S. 96; auch Kauffmann S. 291 nimmt ein ursprüngliches Opferfest an. Auch daß man die Fostspeise vor Sonnen- aufgang eHKcn muß (Wuttke* S. 8:^), zeigt ihre kultische Bedeutung, die aber nicht aui-schlietlich gormanisch sein kann. Auf den von Giemen S. 147 besprochenen Fruchtbarkeitszauber mit der I.ebensrute weise ich hier nur hin, da er zu den germanischen Amalgamen gehören kann; der Sonderzug der ^chiffHprozeBsion hat wohl keine so grundsätzliche Bedeutung (o. S. 406 Anm. 1), daß er besonders zu erörtern wäre. Hier wird man allerdings an Isisfeste denken. ' Giemen S. 164.

über Kalendae lanuariae und Martiae im Mittelalter 409''

der Gedanke des Vegetationsfestes schärfer hervor, manchmal der des Totenfestes, meist gehen beide ineinander über. Sie sind ja untrennbar: die chthonischen Mächte sind die Seelen,. die in der Erde leben und aus ihr ans Tageslicht steigen: „die Toten drunten, die Geister oder Seelen, wenn man will, be- fördern das Emporkommen der Frucht; man betet zu ihnen, sie heraufzusenden ".^ Aus der Volksreligion ist der tiefsinnige Gedanke von der Einheit des Todes und des Lebens in die Spekulation der Weisen aller Zeiten übergegangen: der Orkus ist der Xa^ßuvcov xal didovs, ein Gedanke, den noch Schopen- hauer aufnahm.^ So ist der Grundgedanke des Jahranfangs- festes nicht von vornherein bloß ein Vegetationszauber ^, son- dern es gehört zu den chthonischen Februarlustrationen, wie die positive Seite zur negativen. Das Ursprüngliche ist die häusliche Feier: Lustration des Herdes mit Feuer und Lorbeer, die gerade hier doch wohl nicht so nebensächlich und selbst- verständlich sein dürften, wie Nilsson* will; Begütigung der Seelendämonen durch die Speise, die ihnen als den Spendern der Fruchtbarkeit lieb ist: Süßes, Eier und Feldfrüchte, aus denen die Festkuchen gebacken werden, und die man die Nacht hindurch stehen läßt daher die „Fastenspeise" dieses Fest- zyklus; Begütigung durch Tanz und Masken, welche die Dä- monen darstellen^; auch die vermummten Gestalten, die Alter

1 Dieterich Mutter Erde S. 48, vgl. Rohde Psyche^-^ I 246 fi". zu S. 204 ff.

* Fr. Boll Die Lebensalter (1913) S. 48 f.; vgl. über das ewige Empor- dringen des Volksglaubens aus den Tiefen in die höchsten Regionen des Geisteslebens Dieterich Kl. Sehr. S. 320.

* K. Breysig Die Entstehung des Gottesgedankens und der Heilbringer (1805) S. 176 f. macht einen Unterschied zwischen Geist (Seelengeist) und Tierdämon; s. dagegen Dieterich Kl. Sehr. S. 420.

* S. 61 ff., s, 0. S. 118. Über Feuer im altrömischen Neujahrsfest vgl. Deubner NJb. f. d. Mass. Altert. XXVII 327 f., der in dieser Ztschr. XIII 490 mit Recht betont, daß sich zuerst der Ritus bildet und erst spät an bestimmte Gottheiten anschließt.

^ Dieterich Kl. Sehr. S. 317 f. 420, vgl. S. 336 f.

410 Fedor Schneider Über Kalendae lanuariae u. Martiae im Mittelalter

(Tod) und Jugend, Winter und Frühling, altes und neues Jalir^ symbolisieren, sind Fruclitbarkeitsdämonen*, und der Lärm soll sie auch hier scheuchen. Sie sind die Segenspender: deshalb und nicht aus sentimentalem Naturgefühl feiert man das Frühlingsfest, deswegen schweifen im Festlied die Ge- danken von der Blüte zur Ernte. Den chthonischen Mächten gilt der Segenswunsch in uralten, wunderbar lebenskräftigen Formeln und poetischen Motiven, und dem Wunsch oder Ge- bet entspricht an magischer Kraft die Gabe an die Verkörpe- rung der heiligen Mächte der Tiefe, aus denen schließlich Ver-

OD '

mummte und Kinder geworden sind. Der Symbolik von Natur und Menschenleben entspricht es, daß dies Vegetationsfest be- sonders als Jahresanfang fortbestand^ und allen Anfangszauber auf sich konzentrierte, soweit er nicht schon gegeben war. Manches hat sich vielleicht schon in Rom vom alten Ritus abgelöst, wie das Fest der Anna Perenna und des Mamurius Veturius, anderes mag dort zeitig zurückgetreten sein, was der provinziale Römer, besonders wenn er enger mit dem Land- bau verbunden blieb, getreuer bewahrte; daß der Sinn des chthonischen Fruchtbarkeitsfestes noch 1142 in Rom aus allen Verunstaltungen hervorscheint, beweist, daß die Kaiendenfeier eine feste Grundlage im Volksempfinden hatte.

Auf solche Parallelen weist BoU Leben.salter S. 5 f. hin.

* Dieterich S. 337. Der ParalleliBmus von Januar- und März- kalendenbrauch ergibt, daß Maskierung zum ursprünglichen Ritus gehört bat, obwohl .Xilsson die historischen Typen der Januarkaienden als spätere Zutaten erwies. Verwandtes Wesen zeigen die Compitaha, die nach Nilsaon stark auf die Januarkalenden gewirkt haben: vgl. v. Domas- zewski in dieser Ztschr. X 336 f. Dieses Verhältnis zu entscheiden, muß ich den römischen Religionshistorikern überlassen.

' Auch in Athen fiel das Anthesterienfest, an dem die Toten in das Reich der Lebendigen heraufkamen, in das Frühjahr: Rohde Psyche 1 5—6 S. 218. Das Bild des indogermanischen Jahranfangsfestes mit seinen Waffentänzen, wie ea Usener Eh. Mus. S. 464 471 (= Kl. Sehr. IV 189—194); Sintßutsagni S. 74f. erkannte, tritt in der Kaienden tradition aach für die Römer mit dentlichen Zügen hervor.

II Berichte

1 Griechische und römische Religion 1911—1914

Von LudAvig Deubner in Freiburg i. Br.

(Schluß von S. 204.1

Für den letzten Hauptabschnitt dieses Berichts, dem wir uns nunmehr zuwenden, habe ich diejenigen Arbeiten zurück- gestellt, die allgemein religionsgeschichtlich orientiert sind und mehr oder weniger imter dem Gesichtspunkt einer Formeu- lehre des volkstümlichen religiösen Denkens betrachtet werden wollen, Sie sind einmal dazu bestimmt, als Bausteine einer Geschichte der religiösen Vorstellungen und Handlungen über- haupt zu dienen und den letzten Sinn aller religiösen Phäno- mene enträtseln zu helfen, zum anderen aber beabsichtigen sie, die Tatsachen der antiken Religion durch weiteren Umblick verständlich zu machen. Einige allgemeinere Werke, die sich mit dem antiken Material nur im Rahmen der universalen Religionswissenschaft befassen, sind hier mit aufgenommen.

Dieter ichs 'Mutter Erde' ist in neuer Auflage erschieneu, die R. Wünsch besorgt hat^ (15 S. Nachträge). Ein Pro- gramm W. Gundels"^ gibt nicht nur für die volkstümlichen Anschauungen von den Sternen als leblosen Körpern, Tieren und Menschen aus allen Teilen der Erde reiche Belege, sondern verfolgt auch mit nachfühlendem Verständnis die mannigfachen Wege, auf denen das primitive Nachdenken zu den aufgezeigten Vorstellungen gelangte, und beleuchtet die Verwendung dieser Vorstellungen im Märchen.

^ A. Dietei-ich Mutter Erde. 2. Aufl., Leipzig u. Berlin 1913.

- W. Gundel Die naiven, religiösen und 'philosophischen Anschauungen vam Wesen tmd Wirken der Sterne. I. Teil, Progr. des Landgraf-Ludwigs- Gymn., Gießen 1912.

412 Ludwig Deubner

Eine ganz ausgezeichnete Leistung ist Chr. Blinkenbergs Buch über den Donnerkeil.^ Hier werden die zwei Formen, unter denen der Donnerkeil angeschaut wird, Stein (Axt) und Blitzbündel, auf ihren Ursprung und ihre geographische Verbreitung untersucht, wobei ihre Entwicklung, Kreuzung und Verbindung in der einleuchtendsten Weise behandelt werden. Die Vorstellung vom Donnerstein wird aus der Steinzeit her- geleitet, wo der den Baum zersplitternde Blitz das Bild der Steinaxt hervorrufen mußte, während auf den baumlosen Ebenen Mesopotamiens das feurige Zickzack den Eindruck bestimmte und im Blitzbündel festgehalten wurde. Der Verfasser rech- net durchaus mit einer Verbreitung der in Betracht kommen- den Vorstellungsformen von Volk zu Volk, wie mir scheint mit Recht. Von besonderem Interesse ist die von ihm nach- gewiesene Tatsache, daß die von den Griechen ausgebildete Form des Blitzes sich in der buddhistischen Kultur Tibets und Japans wiederfindet, eine Tatsache, die an<j;esichts der Turfanfunde und der durch sie gewonnenen Erkenntnisse nicht befremdet. Von Einzelheiten hebe ich hervor, daß in der Szene vor den Doppeläxten auf dem Sarkophag von Hagia Triada eine Anrufung des Blitzgottes ei"kannt wird, und daß für die schon von Usener und anderen ausgesprochene Erklärung des Poseidondreizacks als Donnerkeil durchschlagende Belege beigebracht werden. Den luppiter Lapis muß man, wie ich glaube, vom Donnerkeil trennen.^ Bemerkenswert ist von all- gemein religionsgeschichtlichem Gesichtspunkte aus die Art und Weise, wie der zunäclist nur gegen d»'n Blitz schützende Donner- stein den Charakter eines universalen Apotropaions und Talis- mans annimmt. Mit großer (ielehrsamkeit, aber ohne wirk- lich zwingende Gründe verficht W. H. Koscher' die These, daß

* Chr. Blinkenberg The Thundenveapon in Religion and Folklore, Cambridge l'Jll. * Vgl. Neue Jahrb. XXVII 1911, 333 ff.

* W, H. Röscher Omphalos, eine philologisch-archüologisch-volkskund- liche Abhandlung über die VorsteUungcn der Griechen und anderer Völker vom ' Nabel der Erde', Abb. d. Sachs. Ues. d. Wibs. XXIX 9, Leipzig 1913.

Griechisclie und römische Religion 1911—1914 413

im BrancMdenheiligtum von Milet und an anderen Stätten des apollinischen Kultes Omphaloi wie der delphische, aber un- abhängig von diesem, existiert hätten zum Zeichen, daß minde- stens einige der betreffenden Örtlichkeiten wie Delphi als Mittelpunkt der Erde betrachtet worden wären. Diese Vor- stellung von der Erdmitte sucht R. in einem besonderen Ab- schnitt im Gegensatz gegen J. Harrison als die mit dem del- phischen Omphalos ursprünglich verbundene nachzuweisen, in- dem er die von der englischen Archäologin vorgetragene Deu- tung des Omphalos auf das Grab des Python bekämpft. Die Frage scheint mir nicht endgültig gelöst.^ Dankenswert und lehrreich ist die Zusammenstellung der gesamten Zeugnisse für die Vorstellung einer Erdmitte, besonders soweit die nicht- klassischen Völker in Betracht kommen. Zwei weitere Ab- handlungen des unermüdlichen Gelehrten bringen zu der Om- phalosfrage eine Fülle von Nachträgen.^ Die erste bezieht sich bereits auf den von Courby im 'Adyton' des delphischen Heiligtums aufgefundenen archaischen, vielleicht ursprünglichen Omphalos aus Porös (Höhe 27V2 cm).^ Von der zweiten seien besonders die Ausführungen über Jerusalem und Golgatha als Mittelpunkt der Erde hervorgehoben. Die Beziehung des auf Pinakes und Vasenbildern erscheinenden eleusinischen Omphalos auf Athen als Mittelpunkt der Erde (63 ff.) kann ich nicht für richtig halten. Die Erklärung muß methodischerweise davon ausgehen, daß der Omphalos auf der Mehrzahl der Darstel- lungen in enge Verbindung mit Dionysos gesetzt ist; daher

» Vgl. Nüsson BLZ 1914, 332 ff. [S. auch unten Miszelle Schwende- mann. W.]

' W. H. Röscher Neue Omphalossiudien, ein archäologischer Beitrag zur vergleichejxden Beligionsicissenschaft, Abb. d. Sachs. Ges. d. Wiss. XXXI 1, Leipzig 1915. Ders. Der OmphaJosgedanke hei verschiedenen Völkern, bes. den semitischen, ein Beitrag zur vergl. Beligionswiss., Volks- kunde u. Archäol., Sachs. Sitzungsber. LXX 1918, 2, Leipzig 1918.

' Vgl. F. Courby L'Omphalos JDelphiqiie, Campt, rendus de l'acad. des inscr. 1914, 257 ff., Abbildung auf S, 268.

414 Ludwig Deubner

wird J. Harrisou das Kichtige treffen, wenn sie annimmt, daß dieser Gott den delphischen Omplialos mit nach Eieusis gebracht habe. Auch der Auffassung des etruskisch-römischen tnioxlus als Mittelpunkt der Erde (88 tf.) vermag ich nicht /.u/ustimmen.'

Zwei Arbeiten beschäftigen sieh mit dem Gebrauch und der Bedeutung des Kranzes.* Das Kleinsche Programm ist wegen des gesammelten Denkmälermaterials brauchbar, i^ 1 behandelt den Kranz beim Gottesdienste, >j 2 beim Symposion. s? 3 bei der Hochzeit, i? -j im Totenkult, i? 5 bei den Agonen, Vorausgeschickt ist ein einleitendes Kapitel über Zweck und Trsprung des Kranzes, in dem seine kathartische und apotro- päische Bedeutung zwar stellenweise richtig fixiert, aber nicht scharf und tief genug entwickelt wird. Besser ist die glück- bringende und deswegen apotropäische Kraft des Kranzes von Köchling ins Licht gesetzt worden. Sie ist unbeilingt die primäre, und es bedarf einer nochmaligen, eindringenden Unter- suchung, wie weit daneben die bindende in Betracht kommt, von der dann ebenfalls die apotropäische abgeleitet werden kann. Es hätte der Arbeit zum Vorteil gereicht, wenn der Gebrauch des Kranzes von seiner Bedeutung und anderseits die Kulthand- lungen von den Zauberriten nicht getrennt worden wären. Jetzt findet man das Hochzeitsritual im Kultkapitel, die Geburtsbräuche dagegen im Zauberkapitel, und erstaunt fragt man sich, wes- wegen die römischen Feste zum Zauber gesetzt sind. Überhaupt hätte nur bei anderer Anordnung eine gewisse Geschlossenheit der Linienführung erzielt werden können. Die vorliegende Dar- stellung ist zerhackt, und es fehlt auch an der nötigen Klarheit und Feinfühligkeit in der Einordnung des einzelnen.

E. Küster gibt im zweiten Teile seiner Erstlingsschrift "^

' Vgl. auch NÜHson JJLZ 1916, 76f.

' .1. Klein Der Kranz hei den aUen (kriechen, Progr. des Kgl. huma- niBtisclien tiymn. (uimhviT^ 1912. J. Köchling /)'' coronarnm apnd antifjuos vi (itqiie nsii, Religionsgesch. Vers. u. Vorarb. XIV 2, Gießen 1914.

' E. Küster Die Schlange in dtr griech. Kunst u. licligion, Religion«- gCBch. Vera. u. Vorarb. XIII 2, Gießen 1913.

Griechische und römische Religion 1911—1914 415

einen Überblick über die manniorfachen Funktionen und Eiffen- Schäften der Schlange in der griechischen Religion. Be- handelt wird ihr chthonischer Charakter (Seelen, Heroen, Erd- dämonen), ihre Beziehung zur griechischen Götterwelt, ihre mantisch-medizinische Bedeutung, ihre befruchtende ¥/irkuDg und ihre Beziehung zum Wasser. Das Verdienst der Arbeit liegt in der Zusammenfassung unseres Wissens und besonders in der ausgiebigen Verwertung des archäologischen Materials. Die sexualsymbolische Bedeutung des Fisches hatR. Eis- 1er nachzuweisen und ^psychoanalytisch' zu erklären ver- sucht. Die Zeugnisse für das griechische Altertum sind nicht durchschlagend. Zu den erbaulichen Belegen aus neuerer Zeit füge ich das hochmoderne dadaistische Gedicht von Kurt Schwitters 'Nächte' in dem Heft 39/40 der 'Silbergäule', Han- nover 1919, S. 9f. Die Rolle, die das Pferd im griechi- schen Totenglauben spielt, hat L. Malten einer erschöpfenden Bearbeitung unterzogen.^ Etwas zu abstrakt scheint mir seine Formulierung, wonach Todesdämon und Toter, 'weil sie be- grifflich zusammengehören', beide in Gestalt des Pferdes auf- treten^ 'wir kommen in eine Periode hinauf, deren primitives Denken zwischen dem Töter und dem Toten noch nicht ver- standesscharf differenziert, darum nicht, weil beide einem glei- chen Wesenszustande angehören, dem alles Lebende als eine geschlossene Einheit gegenübersteht' (S. 248). Ich würde lieber sagen, daß der Tote selbst ein Todesdämon ist und vielleicht der älteste.

Den Gebrauch der Milch im antiken Kultus erörtert K. Wyß^ in besonnener Weise und erklärt ihn zutreffend als den Überrest einer frühen Kulturstufe. Ebenso ist die Ver-

' Robert Eisler Der Fisch als Sexualsymhol, Separatabdruck aus Imago III 1914, 165 tf.

* L. Malten Das Pferd im Totenglaube a , Arch. Jahrb. XXIX 1914, 179 ff.

' K. Wyß Die Milch im Kulttis der Griechen u. Römer, Religions- gesch. Vers. u. Vorarb. XV 2, Gießen 1914.

41(5 Ludwig Deubner

Wendung der Milch in den Mysterien richtig als Trank der Neugeborenen gedeutet. Die Polemik gegen Useners bekannte Auffassung bedurfte kaum solcher Ausführlichkeit. Eine Abhandlung wie die von J. Pley über den rituellen Gebrauch der Wolle^ ist als Materialsammlung willkommen, leistet aber keineswegs das, was bereits heute für die Einordnung und genetische Erklärung des einzelnen geleistet werden kann, wenn die zugrunde liegenden Vorstellungen in ihrer Gesamtheit über- schaut werden.

Das breit angelegte Buch von W. Klinger über das Ti^r im Aberglauben^ gibt in der Einleitung eine Kritik der mytho- logischen Forschung von Creuzer bis auf unsere Zeit und be- spricht dann die Fähigkeiten und Wirkungen, die den Toten im Volksglauben beigelegt werden. In vier Kapiteln werden sodann die Tiere der Luft, der Erde, der Nacht und des Feuers unter dem einseitigen Gesichtspunkte behandelt, daß sie Er- scheinungsformen der menschlichen Seele wären. Jedes Tier, das prophetischen oder apotropäischen Charakter hat, steht mindestens in starkem Verdacht, ein Seelentier zu sein, weil diese Eigenschaften auch bei den Toten vorkommen. Es er- hellt, zu welchen Übertreibungen dieses Prinzip führen muß, besonders da das Resultat durch eine Theorie vorgezeichnet ist, nicht durch Erörterung gewonnen wird. Sogar die Vogelschau wird im Anschluß an Wundt auf den Seeleuvogel zurückgeführt (S. 97. 99). Prometheus soll das Feuer eigentlich entwendet haben, um damit die zu schaffenden Menschen zu beseelen (S. 295 f.): eine auf Verquickung verschiedener Mythen be- ruhende Auffassung, die in den vom Verfasser angeführten späten Zeugnissen keine Stütze finden kann, 'da ihr die Genesis des Promotheusniythos widerspricht. Den Stoff der

* J. Pley De lanae in antiquonim ritibus iif^u, Religionegeech. Vers, u. Vorarb. XI 2, (iießen 1911.

W. Klinger Das Tier im nvtikr» uvd modernen Aberglauben, Kiew 1911 (ruasiscb).

Griechisclie und römische Religion 1911 1914 4 [7

Arbeit wird man mit Vorteil benutzen, besonders soweit es sich um slawische Vorstellungen handelt. Eine brauchbare Übersicht über die im alten Griechenland verehrten Fetische, Pflanzen und Tiere, sowie die Formen dieser Verehrung gibt ein Buch des Charkower Gelehrten E. Kagaroff,*

Eine 'Rachepuppe' aus Blei von der bekannten Art ver- offeutlichte Fr. Cumont.* Ihre Hände sind auf dem Rücken ge- bunden. Neu ist, daß sie sich in einem Bleikästchen befand, das der Herausgeber einleuchtend als Sarg deutet. Es sollte eben auch der Feind bald im Sarge liegen. Wünsch er- wähnt dazu S. 10 (421), 1 eine interessante Parallele aus dem Stettiner Stadtmuseum: 'ein Bleikästchen, auf dessen innerem Boden . . . eine gefesselte menschliche Figur gezeichnet ist'. Die Arbeit L. Sommers über das Haar^ behandelt im ersten Abschnitt die Fälle, in denen das Haar als Sitz der Lebens- kraft gedacht ist, im zweiten die, in denen es als pars pro toto, in Stellvertretung für den ganzen Körper, eine Rolle spielt. Die Zusammenstellung der Zeugnisse ist dankenswert. Die Analyse der betrachteten Vorstellungen könnte eindringender und syste- matischer gestaltet werden. Insonderheit verlangt die Frage eine Beantwortung, wieweit eine Verbindung zwischen den beiden angegebenen Gesichtspunkten hergestellt werden kann. Gut sind die Bemerkungen über den von Petron erwähnten Brauch, auf einem Schiffe weder Haar noch Nägel abzuschnei- den (81 f.). Dem gleichen Gegenstand gilt die trotz einzelner Mißgriffe umsichtige Dissertation von P. Schredelseker.'* Auch hier wird das Haar vor allem als Sitz der Lebenskraft er-

' E Kagaroff Der Fetisch-, Pflanzen- und Tierkult im alten Griechen- land, Petersburg 1913 (russisch).

Fr. Cumont Une ftgurine grecque d'envoütennent, extrait des Coniptes rendus de l'acad. des inscr. 1913, 412 ff.

* L. Sommer Das Haar in Religion und Aberglauben der Griechen, Diss. Münster 1912,

* P. Schredelseker De superstitionibus Graecorum quae ad crines pertinent, Diss. Heidelberg 1913,

Archiv i.KeligionBwissenschaft XX. 3/4 27

418 Ludwig Deubnor

Tviesen. Daraus wird dauu aber u. a. wenig überzeugend die Schur der Sklaven abgeleitet: sie sollten gegenüber ihren Herren geschwächt werden - (26). Dem widerspricht doch wohl, daß man die Körperkräfte der Sklaven gewiß nach Mög- lichkeit ausnutzen wollte. Man wird sich also lieber an den sozialen Gesichtspunkt halten. Auch die Berührung des Hartes durch den Bittfleheuden möchte ich nicht mit der Absicht erklären, sich durch h assen des Bartes des ganzen Menschen zu bemächtigen (31), sondern hierin vielmehr einen höchst natürlichen Gestus erblicken, den man bei Kindern jeden Au<''enblick beobachten kann: und so wäre noch manches andere zu beanstanden. Einleuchtend hingegen wird das Abschneiden der Stirnhaare der Opfertiere sowie das Haar- opfer an Tote und Götter als Stellvertretung eines vollen Tier- oder Menschenopfers erklärt.' Bei manchen Dar- brincmnffen, wie nach der Geburt durch die Wöchnerin, scheint der Gedanke der Reinigung hereinzuspielen oder vor- zuwiegen (56). Offenes Haar bei rituellen Handlungen gehört in das Kapitel von der Vermeidung des Knotens (63). Mannigfaltige Anwendung findet das Haar auch in der Magie (65ff.). Für die Arbeit J. Heckenbacbs über die sakrale Nacktheit^ gilt dasselbe, was oben S. 416 über Pley bemerkt wurde.

Die bekannten Vorstellungen von der Bedeutung des Namens, seine Gleichsetzung mit dem Wesen des Benannten, die aus der Kenntnis des Namens entspringende Macht über das Benannte usw. behandelt W. Schmidt' unter Anführung zahlreicher, auch nichtklassischer Beispiele.

' Für das Haarab-clineiden bei Todesrällen ist stplU-nweiae vielleicht auch der Keinigungr'geclanke maßgebend gewesen, v^l. Frazer Golden Bough* IF 285 f.

' J. Hecl<enbach De iniditaie Sacra sacrisque vinculis, Keligionsgescb. Vers. u. Vorarb. IX 3, Gießen 1911.

^ W. Schmidt Die Btrleutung des Namens im Kult u. Aberglauben, Progr. des Ludwig-Gtorgs-Gjmn. Darmetadt 1912.

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Griechisclie und römische Religion 1911 1914 419

Die Arbeit von M. B, Ogle über die Haustür^ ist als Materialsammlung nützlicb. Docb leidet sie unter dem ein- seitigen Streben, das nirgends bezeugte Begraben des Toten unter der Schwelle des Hauses und die daraus entspringende Yorstellung vom Weilen der Toten geister an jenem Orte als Ausgangspunkt aller jener religiones anzusehen, die sich an Tür und Schwelle ansetzen. Die allzu raschen Assoziationen des Verfassers werden nicht durch die notwendige Analyse des Einzelnen gezügelt. Besonders charakteristisch ist, daß die apotrop'äischen Riten, die sich an die Tür heften, als ursprüng- liche Totenopfer aufgefaßt werden (S. 268), während doch ge- rade diese simplen Riten höchstwahrscheinlich die älteste religio der Haustür darstellen (vgl. u. S. 420).

E. Samters Buch über Geburt, Hochzeit und Tod^ trägt eine dankenswerte Fülle volkskundlichen Materials zusammen und versucht ähnlich wie die Familienfeste desselben Ver- fassers — eine Erklärung der behandelten Riten unter dem Gesichtspunkte der Abwehr oder Versöhnung von bösen oder guten Geistern, Die Apotropaia spielen bei den im Titel be- zeichneten Gelegenheiten in der Tat eine außerordentlich wich- tige Rolle, und ein Teil der neuen Samterschen Deutungen mao" das Richtige treffen. Doch scheinen mir manche Schlüsse zu schnell gezogen zu sein. Größere Skepsis und schärfere Ana- lyse wird zuweilen zu abweichender Auffassung führen. Daß die kniende Stellung der Gebärenden das Emporsteigen der Kindesseele aus der Erde in den Schoß der Mutter befördern solle (19 f.), ist nicht glaublich. Die Tatsache, daß bei manchen Völkern die Gebärende auf den Fußboden des Zimmers gelegt wird, den man mit Stroh oder Heu bedeckt, hat gewiß nichts mit dem Emporsteigen der Seele zu tun, sondern erklärt sich wahrscheinlich aus Gründen der Sauberkeit man will das

1 M. B. Ogle The House-Boor in Greek and Eoman Religion and Folklore, Am. Journ. of Philol. XXXII 1911, 251flF.

* E. Samter Gehurt, Hochzeit und Tod, Leipzig u. Berlin 1911.

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Bett nicht verunreinigeu. Das Niederlegen des Kindes aber auf die Erde bat den Zweck, das Kind mit der Zauberkraft der Erde zu erfüllen, damit es stark und gesund werde. ^ Die Wöchnerin ist nicht deswegen gefahrvoll, weil sie selbst von Geistern bedroht ist (24. 37), sondern man fürchtet sich vor der ihr anhaftenden physischen Unreinheit, von der allerhand Schaden ausgehend gedacht wird. Wasser und Feuer werden, nicht überall, wo man durch sie hindurchgeht, den Sinn haben, das Nachfolgen des Toten zu verhindern (85), sondern häufig einem Reiniguugsakte dienen. Für die Bedeutung der Schwelle (136 if.) ist vor allem daran festzuhalten, daß den Ausgangs- punkt aller an ihr haftenden religio wahrscheinlich die Apo- tropaia bilden, die man zum Schutze des Hausinnern an der Tür anbi achte, denn diese bietet wie dem Menschen so auch allem Unheil Einlaß. Dann mag man in späterer Entwicklung gedacht haben, daß sich die Geister, die hineinwollen und nicht können, draußen ansammeln, und so mögen sie in engere Ver- bindung mit der Schwelle gelangt sein. Die Weihrauchstück- chen, die in Rom an den Feralia unter die Schwelle gdegt werden, und ähnliches sind mindestens ursprünglich nicht als Opfer, sondern als Apotropaion aufzufassen. Wieweit eine Be- stattung unter der Schwelle eingewirkt hat, ist sehr fraglich (s.o. S. 419), und die Beerdigung im Hause ist durchüus von der Schwelle zu trf-nnen. Die y.aTaxvöfiatu (171 If., die schon in den Fami- lienfesten als Geisterabwehr erklärt wurden, sind kein Opfer, sondern ein Segensritus und als solcher dann auch apotro- päisch. Die.sen apotroj);iischen Sinn muß auch das Ausstreuen der schwar/en Bohnen au den Lemuria gehabt haben. Der Deutung auf ein Abfindeopfer widerspricht, worauf Samter selbst S. 172 hinweist, das gleichzeitige Lärmen. Volksglaube ist gewiß nicht imnier konsequent, aber man darf schwerlich annehmen, daß im selben Augenblicke zwei Riten vollzogen

' V^I. Hastiiigs Encycl. of Rcl. u. Birth; Goldmann Ztschr. U. Ver. f. Volksk. XXI 1911 S. 410.

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werden, die einen entgegengesetzten Zweck haben. Das Indie- hühewerfen des Kindes in Indien (17 1 f.) ist wahrscheinlicli eine purgatio aere}

Erich Krüger sammelt die römischen Sakralvorschrif- ten^ und bespricht ihren Inhalt, ohne zu neuen Resul- taten zu gelangen. Einige Tabuvorschriften aus dem griechisch-römischen Altertum behandelt W. Kroll.' R. Wünsch erörtert die Formen der magischen Apopompe*, durch die man sich bedrohliche Dämonen vom Leibe hält, in- dem man sie wegbannt, sei es ganz allgemein, sei es an einen bestimmten Ort. Die antiken Seligpreisungen, ihre Form und ihren Inhalt, hat in einer tüchtigen Arbeit G. Dirichlet besprochen.^ Den Einfluß des Hymnenstils auf die Poesie des Horaz untersucht die fleißige Dissertation von K. Buch- holz^ in der Weise, daß die Gedichte und Gedichtpartien hyranenartigen Charakters genau analysiert und die einzelnen Motive der Hymnensprache fortlaufend aufgewiesen werden. Für die Formen religiöser Rede bringt das umfang- reiche und gelehrte Buch von E. Norden'' reichhaltige und förderliche Materialien bei. Insbesondere vertieft es den Ein- blick in die Verschiedenheit griechischer und orientalischer Stilisierung. Als orientalisch stellen sich vor allen Dingen heraus die auf die Gottheit sich beziehenden Wendungen 6v e?, iya eliiC, ovrog iöiiv und die Aufreihung substantivierter Partizipien. Von griechischen Formen wird besonders die Häufung von Partizipien, von Relativsätzen, von anaphorischem

' Vgl. Neue Jahrb. XXVII 1911 S. 326,2.

2 Ericus Kraegei De Romanorum legibus sacris commentationes selectae, Diss. Königsberg 1912.

» W. Kroll Heilig, Festschr. f. Breslau (s. o. S. 140, 6) 479 ff.

* R. Wünsch Zur Geisierbannung im Altertum, ebd. 9 ff.

" G. L. Dirichlet De veterum macarismis , Religionsgesch. Vers. u. Vorarb. XIV 4, Gießen 1914.

' K. Buchholz De Horatio hymnographo, Diss. Königsberg 1912.

' E, Norden Agnostos Theos, Untersuchungen zur Formengeschichte religiöser Rede, Leipzig u. Berlin 1913.

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'du' besprochen, und zwar in Anleimung an eine Behandlung der Horazode III 21 (0 nata tnecmn conside Manlio), deren Aufbau Norden sehr hübsch aus der Nachbildung des Hymnen- st.ils erklärt. Der erste Hauptteil des Buches versucht nach- zuweisen, daß die berühmte Areopagrede des Paulus über den äyvcoötos ^sog abhängig sei von einer athenischen Rede des Apollouios von Tyana, der ebenfalls (aber im Plural) auf die Altäre der äyvoöroL öaf^ovsg Bezug genommen habe. Doch die zugrunde liegende Kombination der athenischen Rede des Apollonios mit Philostratos vita Apoll. VIS hält nicht stand \ und mit ihr fallen alle darauf gebauten Folgerungen. Von Wert sind auch in diesem ersten Teile sprachliche Unter- suchungen über das Vorkommen der Bezeichnungen ayvcoerog &£6g, yväGig und fisravota, die zum mindesten so viel ergeben, daß die betreffenden Begriffe in weit überwiegendem Maße orientalischem Denken und Empfinden angehören und von hier aus in das Christentum gelangt sind. Freilich muß man sich hier vor zu scharfer Ausschließung alles Helleni- schen ebensosehr hüten wie vor einer Überschätzung paralleler Ausdrucksweise im Sinne gegenseitiger oder gemeinsamer Ab- häncrigkeit.^ Sonst laufen wir Gefahr, der Schablone zu ver-

DO '

fallen.

Seine Forschungen über Ursprung und Verbreitung heiliger Zahlen setzt W. H. Röscher mit einer Untersuchung über

' Völlig zutreffend beurteilt von Ilarnack Texte u. Unters. XXXI.K 1, 30tF. tlbenso ablehnend verbalten sich Dobscbütz Sokrates I 1913, 626 ff.; Pbiß Wochenschr. f. klass. Fhilol. 1213, 5Ö3 ff.; 1914,852ff.; Lowther Clarkc Class. Rev. X.WII 1913 S, 199; Birt Rhein. Mus. LXIX 1914, 342 fr.; Ed. Meyer Herrn. LH 1917, 3991'.; W. Scbmid Wochen.^chr. f. kla.<<s. Piniol. 1918, 266 tr. Zugestimmt haben Heitzcnstein iS'cwe Jahrb. XXXI 1913, 146 tr.; W. W. Jaeger Gott, (jel Änz. 1913, ö69tf.; VVeinreich DLZ 1913, 2949 tf.; Archiv XVIII 1915, 4 f. [Lietzmann Rh. Mus. LXXI 1916, 2«of. W.] Vgl. auch Corßen Zt-^chr. f. neutest. Wiss. XIV 1913, 309 fF. [Letzte Erörterung (ablehnend) bei A. VVikenhauser Die Apostelgesch. u. ihr Gfschichtsuert. (Neutest. Abhandl. VIII 3/5, Münster 1921; 369— 394. W.]

' 6. dazu auch Harnack a. a. O.

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die Hippokratische Schrift von der Siebenzahl fort ^, in der man wiederum reiches Material für die Bedeutung der Sieben findet. Dagegen kann der Versuch, den Verfasser der Schrift in archaische Zeit hinaufzurücken, nicht als gelungen bezeich- net werden.^ . Die heilige Rundzahl Zwölf und den über eine Gruppe von zwölf Göttern hinauswachsenden und dadurch besonders betonten Dreizehnten behandelt 0. Weinreich in einer sehr lehrreichen Arbeit.^ A, Lud wich hat seine zahlensvmbolischea Studien weitergreführt* und auch auf sa- krale Bauten ausgedehnt.^ Ich muß leider bekennen, daß ich meine Zweifel an dieser Betrachtungsweise nicht unterdrücken

o

kann. Die Bedeutung der Zahl für die Zerlegung des menschlichen Lebens in bestimmte Altersstufen untersucht eine wertvolle Abhandlung Fr. Bolls.^ In der Antike, deren Be- trachtung im Vordergrunde steht, hat man im wesentlichen drei, vier und insbesondere sieben Lebensalter unterschieden und diese sieben Stufen der Herrschaft der sieben Planeten unterstellt. Die Lehre von der Siebenzahl ist durch das Mittel- alter in die neuere Zeit gedrungen: die DarsteUuncr mündet

^ W. H. Röscher Über Älter, Ursprung u. Bedeutung der HippoJcra- tischen Schrift von der SiebenzaM, ein Beitrag zur Gesch. d. ältesten griech. Philosophie u. Prosaliteratur, Abb. d. Sachs. Ges. d. Wiss. XXVIII 5, Leip- zig 1911.

* Vgl. Diela DLZ 1911, 186lfF.; Helmreich Hermes XLVI 1911 S, 437, 1; Boll Neue Jahrb. XXXI 1913, 137ff. Röscher verteidigt seinen Standpunkt gegen Diels im Memnon Y Heft 3/4 S. 23 ff. des Sonderabdrucks sowie in -weiteren, im nächsten Bericht anzuzeigenden Arbeiten. S. auch H. Philipp Wochenschr. f. Mass. Philol. 1913, 666 ff.

' 0. Weinreich Lykische Zirölfgötier-Beliefs, Untersuchungen zur Gesch. d. dreizehnten Gottes, Heidelb. Sitz.-Ber. 1913 Abh. 5. Ygl. dazu des- selben Verfassers Triskaidekadische Studien, Beiträge zur Gesch. der Zahleyi, Religionsgesch. Vers. u. Vorarb. XVI 1, Gießen 1916, wo die Bedeutung der Dreizehn weiter verf dgt wird.

* A. Ludwich Aeschylea et Aristophanea, Progr. Königsberg 1912.

^ Ders. Zahlensymbolik in griech. Sacralbauten, Progr. Königsberg 1914.

^ Fr. Boll Die Lebensalter, ein Beitrag zur antiktn Ethologie u. zur Geschichte der Zahlen, Separatabdruck aus den Neuen Jahrbb, f. d. klass. Alt. XXXI, Leipzig u. Berlin 1913.

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aus in die Interpretation einer Stelle aus Shakespeares Äs you liJce it und einen Hinweis auf Schopenhauer.

Ein fesselndes, gedankenreiches Buch W, R. Hallidays^ geht den Wurzeln und der Entwicklung der griechischen M an- tik nach, dabei weit über diesen ethnischen Rahmen hinaus- greifend. Insbesondere werden die Beziehungen der Mantik zur Magie ins Licht gesetzt. Es gibt Prophezeiungen, die ebensogut als Zaubersprüche aufgefaßt werden könnten; es kann an sich harmlosen Worten durch die Gegenäußerung einer zweiten Person ein ganz besonderer Inhalt aufgezwungen werden, der dann notwendig in Erfüllung gehen muß, so daß die betreffenden Worte den Charakter eines Omens erhalten; wir hören von sorgfältig aufbewahrten staatlichen Orakeln, die sozusagen potentielle Zaubersprüche darstellen, die jeden Augen- blick durch einen Unbefugten aktualisiert werden könnten; die Gestalt des Sehers selbst erscheint mit dem alten Zauber- könig verwandt und muß von ihm abgeleitet werden; das Gottesurteil, bei dem die Berührung mit einer Zauberkraft der einen Partei Unheil bringt, geht auf die Grundvorstellung un- gewöhnlich potenzierter und darum für jeden Uneingeweihten höchst getährlicher Kräfte zurück. Die Entwicklung der Vor- stellungen ist besonders hübsch an den magischen Brunnen aufgezeigt, die ursprünglich in ihrem Wasser eine eigentüm- liche Zauberkraft besitzen. Sie werden allmählich zu einer Stätte von Geistern, es bilden sich immer persönlichere Ge- stalten von Nymphen heraus, bis schließlich ein regelrechter

' W. R. Halliday Greek Divinatinn, a Study of its Methods and Principle.i, London 191H. 'Den belehrten der Kyl. Friedrich -WilhelmB- Universitiit 7,11 Berlin hocliaclitun^svoll znyrei^net.' Dazu S. XII: To the many learned nien of the L'niversity of Berlin I have ventured to dedi- cate this book as an unuorthy token of my appreciation of their grcat hospitality nud kindncss. No one uho has becn a foreign student at a German unirersity can forget the generostty vith uhich are heaped upon him erery possible assistance in his work and erery attention calculated to mähe his sojnurn in a foreign land enjvyal'lc. In Berlin University the stranger meets with an Ilovteric welcome.

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Gott als Träger jener Kraft erscheint und der Brunnen zu einem bloßen Instrument dieses Gottes herabsinkt. Die eigent- liche mantische Technik, Systematik und Kasuistik erwächst im Laufe der Zeit induktiv aus dem Beobachten insbesondere abnormer Erscheinungen in kritischen Augenblicken, wie das z. B. für die Eingeweideschau gezeigt wird. Babylonischer Ein- fluß wird für die griechische Eingeweideschau nur in einem ent- wickelteren Stadium zugegeben (188 ff.). Bedenken habe ich gegen die Ablehnung vogelgestaltiger Götter der Griechen (yAavxöcrtg !d%^rivri usw., 252 ff.), sowie gegen die Auffassung, als sei das Hineinwerfen von Münzen und anderen Dingen in Heilquellen ursprünglich nicht eine Darbringung gewesen, sondern ein Mittel, den Patienten durch irgendeinen ihn vertretenden Gegen- stand in Kontakt mit dem heilkräftigen Wasser zu setzen (135).

Die anregende Schrift von 0. Berthold über die Unver- wundbarkeit griechischer Sagengestalten' macht es wahr- scheinlich, daß das sagenhafte Motiv der Unverletzlichkeit auf griechischem Gebiete überall sekundär ist und ätiologischen Charakter trägt, Rückschlüsse aus jener Eigenschaft eines Helden auf dessen ursprünglich göttliche Natur, wie sie noch in unserer Zeit gemacht wurden, sind also unzulässig. In einem Anhang sind Belege für den Unverwundbarkeits glauben bei anderen Völkern, besonders den Germanen, gesammelt. Ebenda wird gut betont, daß das Motiv der Unvei^letzlichkeit deswegen so beliebt ist, weil es der künstlerischen Absicht entspringt, die Tragik des untergehenden Helden zu steigern.

In die öden Gefilde der Astralmvtholo2rie führt ein Buch von C. Fries^, das seinem Tite! zufolge nur den grie- chischen Göttern und Heroen gewidmet ist, in Wahrheit je- doch die astralmythologischen Prinzipien auf die gesamte

^ 0. Berthold Die Utivenvundbarkeit in Sage u. Aberglauben der Grieche)^, Religionsgesch. Vers. u. Vorarb. XI 1, Gießen 1911.

' Carl Fries Die griechischen Götter und Heroen vom astralmytho- logischen StandputiJct aus betrachtet, Berlin 1911.

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Mythologie aller Völker anwendet. „So darf man denn das Vertrauen haben/* lesen wir hier S. 209 unten, „daß tatsäch- lich der Kern aller griechischen Göttergestalten schließlich auf die Hauptgestirne, besonders Sonne und Mond zurückzuführen sei." „Man darf eben nicht an der Oberfläche haften, man muß eben historisch denken", heißt es S. 288 unten. Dazu paßt dann besonders hübsch, daß im Gegensatze zu armen modernen Religionshistorikern als wiederholt gerühmter Kron- zeuge Macrobius mit seinen Deutungen auftritt (z. B. S. 225). S. 1 erklärt der Verfasser, daß ihm die astralmythologische Deutung der Götter- und Heldensage im Laufe der Jahre immer mehr zum Glaubensbekenntnis geworden sei. Wer die * Methode' des Verfassers kennen lernen will, lese z. B. die Ausführungen über Janus S. 228 f. Auch die Partie über das Atridenhaus S. 161 oder die über Odysseus und den Kyklopen S, 186 ist sehr zu empfehlen. Ein paar Proben stelle ich in einer Anmerkung zusammen.^ Auch die von Ernst Kuhn

' S. 16 (im Zusammenhang mit der astralen Bedeutung der Sieben) 'An die Sieben gegen Theben ist natürlich auch zu denken, denen allerlei Astrales anhaftet. Denn die Sieben ist ijyefiav xal ag-^cov ünäv- rcov, •9'EOS, il?, &tl wf, fi6vi(iog, dcKivritog, avtu? kccvrä) ouoios, f'repos twv äXXav (Philolaos '20 Diels)'. S. 38 'Prometheus ist der Liclitgott, Kpi- metlieiis der Mond, hier beides auf das Geistige übertragen'. S. 126 'An das Tiämatmotiv erinnert allenfalls noch die aischyleische Klytai- mestra, die die Erinyen zum Kampf antreibt, wie Tiamat oder Gaia ihre Scharen'. S. 169 'Oie griechischen Kyklopen sind gleichen Ur- sprungs, ob man nun Polyphem auf Sonne, Mond oder Orion zurück- führt, sein Auge deutet auf astralen Mythos hin und stellt ein Ilanpt- gestirn dar'. S. 162 'Die Geschichten mythischer Heldengeschlechter sind nichts als Sonnenläufe'. S. 167, wo das Beil als Attribut des Licht- gottes behandelt wird, 'Rutenbündel mit Beilen werden dem römischen Imperator vorausgetrugen, wir werden lehen, daß sein Triumph nur eine Nachahmung des einziehenden Lichtgottes ist'. S. 207 '(Dio- □ysos) schwärmt bukolisch (so!) mit seinen b' gloiterinnen umher, deren Rausch nicht etwa den Folgen des ihm heiligen Weins zuzuschreiben ist, sondern auf der (irundideR aller Chor- und Tanzpoesie besjpht (be- ruht?), dem Reigentanz der Sphären oder Sterne'. Nach S. 231 bedeutet die ümführung der suovdaurilia den Kreislauf der Gestirne, nach S. 235

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herausgegebenen nachgelassenen Abhandlungen Adalbert Kuhns^ haben für die antike Religionswissenschaft keinerlei Wert. Die Auffassung der Argonauten als der zu Sternen gewordenen Seelen von Verstorbenen, des Jason als Mondes, des Polyphem als Sonnenrieseu, seiner Höhle als einer Vorstellung, die aus den Abendnebelü hervorgegangen sei, in die die Sonnenscheibe versinkt, des Labyrinths als des gestirnten Himmels lehrt zur Genüge, daß mit jener veralteten Himmelsmythologie eine Verständigung nicht möglich ist, wenn auch Einzelheiten, wie die besondere Beziehung mythischer Rinderherden zum Sonnengotte, keinem Zweifei unterliegen. Im gleichen Fahr- wasser wie Fries und Kuhn segelt Wolfgang Schultz, der sich darum bemüht, nachzuweisen, daß bei einer großen An- zahl von bildlichen Darstellungen aller Völker das Bild des Mondes (Lichtmond und Schwarzmond) und seiner Phasen zugrunde liege.* Welche Überraschungen wir von dieser Me- thode noch erwarten dürfen, zeigt das Beispiel der Eos (24), die „nicht die Morgenröte, sondern eine Verkörperung des Schwarzmondes und ihrer mythischen Geltung nach nur eine andere Ausprägung der Gorgo ist'^ Das Mondmotiv ist bei ihr sogar doppelt vorhanden: in Gestalt ihrer sichelartigen Flügel und des von ihr getragenen Kephalos, der auch sichel- förmig angeordnet werden kann. Daß auf eine Verständi- gung zwischen der 'philologischen' und der astralmytholo-

ist das Oktoberroß der Römer das SonneBroß: 'um sein Haupt als Sonne wird gekämpft' usw. tisw. Den gleichen Gedankengängen be- gegnen wir in einer kleineren Schrift desselben Verfassers : Kleine Bei- träge zur griechischen und altorientalischen Mythologie, Leipzig 1911. Vgl. z. B. S. 54f. : 'die Ebene von Troia, über der alle Götter lagern, stellt die ganze Erde oder den Himmel dar, an dem die Hauptgestirne mit wechselndem Erfolg um die Oberherrschaft ringen.'

^ Adalbeit Kuhn Mythologische Studien, herausgeg. v. Ernst Kuhn. Band H: Hinterlassene mythologische Abhandlungen, Gütersloh 1912.

^ Wolfgang Schultz Die Anschauung vom Monde u. seinen Gestalten in Mythos und Kunst der Völker, Vorträge und Abhandlungen, her- ausgeg. V. der Zeitschrift „Das Weltall", Heft 26, Berlin-Treptow 1912.

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gischen Richtung der Mythenforschung nicht gehofft werden kann, davon wird auch die prinzipielle Auseinandersetzung über die Mondmythologie zwischen E. Bethe und E. S lecke im Memnon* einen jeden überzeugt hal)en.

Die Entstehung und Entwicklung des Mythos sucht A. Ferrabino^ an einigen Beispielen zu veranschaulichen, eine im wesentlichen schriftstellerisch -rhetorische Leistung, unter deren überwältigendem Wortschwall der nach neuen Ge- danken verlangende Leser gebrochen zusammensinkt. Man fragt sich erstaunt, welches Publikum ein derartiges Buch lesen mag: denn für den Laien läßt es sich viel zu weit auf Einzelheiten ein. Der wissenschaftliche Benutzer sei von vorn- herein von der üppigen Stuckfassade weg auf das ojms incer- ium der indagine (319 ff) verwiesen, obwohl auch hier nicht allzuviel Belehrung winkt. Einige Beachtung verdient viel- leicht, was über ein ältestes thessalisches Stratum der Perseus- sage ausgeführt wird (328 ff.). Völlig in der Luft schwebt die Annahme einer vorgriechischen Demeter-Kore-Sage in Sizi- lien, und die solare Bedeutung der Cacus-Sage bin auch ich 80 'nüchtern' abzulehnen, wie mir denn überhaupt der 'solaren' Mythenerklärung gegenüber eine größere Zurückhaltung ange- zeigt erscheint, als sie vom Verfasser geübt wird. Was gegen Maltens Auffassung von Einzelheiten der Kyrene-Sage vor- gebracht wird, hat mich im allgemeinen nicht überzeugt und ist meist recht oberflächlich.

Die von W. Schultz begründete neue Zeitschrift Mitra, Monatsschrift für vergleicliende Mythenforschung ^, brachte vor

' E. Hethe u. Vj, Siecke in 3Ii/thn1ngische Abhandlungen (Sonderabdrnck ans Memnon II 1, 1912) 7 ff. u. 13 tf.

* Aldo Ferrabino Kah/psit, Siiggio d'una storia del mito, Turin 1914.

* Mitra, Monatsschrift für rergleichende Mgthen/orschung, unter Mit- wirkung von Anderson - Kasan, Geyer -Wien, Hüeing-Wien, Leßmann- IJerlin, Polites-Athen, Roscher-Dresden, Leopold v. Schröder-Wien, Wob- sidlo-Waren u.a. horausgeg. v. Wolfgang Schultz, Wien u. Leipzig, 1. Jahrgang 1914 1920.

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dem Krieg 7 Hefte heraus (8 12 erschienen 1920, mir noch nicht zugänglich). Den im Geleitwort entwickelten Grundsätzen kann man nur zustimmen. Soll diese Disziplin wissenschaftlich betrieben werden, so ist der Weg zweifellos der bezeichnete: möglichst vollständige Sammlung des Stoffes, Aufstellung einer Genealogie der Einzelerzählungen, Trennung der mythenhaltigen von unmythischen Erzählungen, Feststel- lung des Archetypus und endlich dessen Deutung. Fruchtbar allerdings wird diese Arbeit in der Regel vermutlich nur dort werden, wo die geographischen Verhältnisse und Beziehungen «ine Wanderung des Stoffes wahrscheinlich machen. Ein Zu- sammenstellen nur teilweise ähnlicher Erzählungen völlig ge- trennter Völker ohne sorgfältige Berücksichtigung der jeweiligen besonderen Kulturbedingungen des betreffenden Volkes würde dagegen nur Verwirrung stiften.

Über J. E. Harrisons 'Themis'^ muß ich ein im wesent- lichen negatives Urteil abgeben. Begeistert von den Lehren der französischen Philosophen Bergson und Durkheim, denen gegenüber sie sich im Vorwort zu tiefstem Danke verpflichtet bekennt, erblickt die Verfasserin die Tatsachen der antiken Religion in einem, wie sie glaubt, neuen Lichte. In einer Reihe ziemlich lose zusammenhängender Abschnitte werden einige wichtige Kapitel der antiken Religion in diesem neuen Lichte dargestellt. Die leitenden Ideen der Verfasserin sind, wie sie in der Vorrede- S. IX ausführt, einmal, daß tke mystery- god and the Olympian express respedively, the one duree, life, and the other the action of conscious intelligence which refleds on and analyses life, und zweitens, daß among primitive peoples, religion reflects coUective feeling and coUedive thinking. Soweit an diesen Ideen etwas Richtiges ist, sind sie, wie ich glaube, nicht un- bedingt neu. Die Art aber, wie sie nun auf dem Gebiete der antiken Religion zur Anwendung gebracht werden, ist m. E.

^ Jane Ellen Harrison Themis, a Study of the Social Origins of Greek Religion, Cambridge 1912.

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nicht von Vorteil für die Wissenschaft. Wir gleiten in einem bewecften AUejrro über eine Fülle von Tatsachen hin, die keines- wegs immer in ihrem richtigen wissenschaftlichen Zusammenhang stehen. Was wir von einem wissenschaftlichen Werke verlangen müssen und dürfen, ist dies, daß jedes Zeugnis zunächst an seinen richtigen Platz gestellt werde, ohne Rücksicht auf eine Theorie, daß weder Zusammengehöriges voneinander getrennt, noch Verschiedenartiges auf Grund einer äußerlichen Analogie ver- bunden werde. Auch die Chronologie der Zeugnisse kann nicht umgongen werden. Bei jedem späteren Kunstwerk oder Schrift- steller ist mit der größten Sorgfalt und Vorsicht zu unter- suchen, wie weit altertümliche Vorstellungen in ihm bewahrt sein könnten. Mit einem Worte, wir verlangen recensio, und diese läßt das Buch fast ganz vermissen. Der Terminus des Kapitolinischen Tempels wird als ein alter Donnerstein erklärt, weil sich über ihm im Dach eine Öffnung befindet (S. 92). Der Genius der Römer soll eigentlich ein Gruppengenius sein, dann erst individueller Natur (S. 303), eine sichtliche Umkehrung des richtigen Verhältnisses, bedingt durch den soziologischen Grund- gedanken. Das Triukhorn in der Hand eines Teilnehmers auf einem Totenmahlrelief wird als Füllhorn gedeutet und damit, wie die Verf. glaubt, der Beweis erbracht, daß der Tote als aj'aO-ög öa{^Giv aufgefaßt sei (S. 311). Die Schlange des Toten oder Heros ist nach J. Harrison ein Sinnbild der Fruchtbarkeit. Warum? Plutarch Oleom. 39 erzählt, daß nach Kleomenes' Tode eine große Schlange sich um sein Haupt geringelt habe. Man entsetzt sich hg avdgbg avr^^i]n6vov &iO(pilovg xal xqsCt- rovog tyv (pvOLv. Die Alexandriner verehren den Toten als Heros und Göttersohn. The word xQiixrav^ heiter, stronger, used hij Flidarch is instruetive. xQtlrtovsg, Ilesychius teils us, is a fieticral tcrm for herocs and for gods, but not all dcad men were XQBCrzovig. This reminds us iltat the nieaning of tlie word liero* is actnnlbj wA \lead man'', but, if wc may irust Hesychius (^'pcjg* 6vvax6g^ löxvQÖg^ ysvvulog, aeiivög), it mcans simply, '^power-

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fuV, 'sfrong', 'noble', 'venerahW. The snake ilien Stands for life and mana, not for death (S.269f.). In Wahrheit wird Kleomenes von den Alexandrinern als Heros verehrt, weil die Schlange Abzeichen des Heros war, ohne daß damit über Heros oder Schlange Wesenbestimmendes ausgesagt würde. S. 14f. werden ohne Grund Zeus Kuros und Dionysos Zagreus gleichgesetzt und hierauf als Kardinalelemente ihres gemeinsamen Mythos drei Punkte aufgestellt, von denen sich der erste auf Zeus^, die beiden anderen auf Dionysos Zagreus beziehen; dann wird konstatiert, daß nur der erste Punkt im kretischen Hymnos auf Zeus Kuros vertreten sei, und der Fortfall von Punkt 2 und 3 (Tod und Auferstehung) in diesem Hymnus damit er- klärt, -daß die Literatur die Tendenz hätte to expurgate savage material, während doch Zeus Kuros überhaupt nie mit Punkt 2 und 3 zu tun gehabt hat. Nach Hesiod Theog. 383 ff. sind Zelos, Nike, Kratos und Bia die Kinder von Styx und Pallas. J. Harrison sieht in ihnen keinerlei Abstraktionen. Eather his (Hesiods) verse is fidl of reminiscences , resurgences of earhj pre-anihropomorpJüc faith; he is haunted hy ilie spirits of ghostly mana and orenda and Wa-Jcoh-da and hrähman. Styx, Gold Shudder, Petrifadioti, is married to Pallas, who, as we shall later find, hegan life as a timnderbolt. Cold Shudder, Fear of the Uncanny, almost Tabu, brings forth Eager Effoii (Z-^lög [so!]j and Achievement. Dominance (Nike) and Power and Force are added to the stränge pJiantom crew. We seem to have the confused, half forgotten psychology of a thunderstorm (S. 73). S. 204 wird der Dithyrambos als zli-^OQ-apißog 'Zeus-spring- lied' erklärt. Wenn Helios in Soph. Trach. 94 ff. gebeten wird, den Aufenthalt des Herakles zu verkünden, so geschieht das

^ Es handelt sich um den Tanz der Knreten, durch den das Zens- kind vor den Nachstellungen des Kronos geschützt wird. Das Um- tanzen des neugeborenen Dionysos ist natürlich erst später vom Zens- mythos übertragen, vgl. Neue Jahrb. XLIII 1919 S. 399, 2. S. auch K. Latte De saltationibus Graecorum, Religionsgesch. Vers. u. Vorarb. XntS, 53f.

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nicht, weil er alles sieht, sondern weil Herakles der Dämon des Sonneujahres ist (S. 369). Herakles ist, wie sein Füllhorn zeigt, gleich Agathos Daimon, aber ihm fehlt die für diesen charakteristische Schlange. Olympos did not gladly siiffer snakes, and Hernides, aiming at Olympos, wisely sloughrd off his snahe-nature (S 381). Der Hermes des Praxiteles irritiert die Verf., weil die den Vorrang gewinnende pairiarcliy ein falsches Motiv erzeugt. Hermes the young tnale usurps the fundion of the mother, he poses as Brephotrophos. He is really Kurotrophos. The man doing womans worJc has all the inherent fiddity and somdhing of the iigly dissonance of the man mas- querading in ivoman's cloihes (S. 495). Auch in dem von F. M. Cornford geschriebenen Kapitel über den Urspruug der Olympischen Spiele (S. 2 12 ff.) und dem Exkurs über rituelle Formen in der griechischen Tragödie von G. Murray (S. 341 ff.) vermag ich eine ernsthafte Förderung nicht zu erblicken. Der, wie mir scheint, nicht richtige Gedanke Dieterichs, daß die Peripetie des Dramas an die Peripetie der Mysterien anknüpfe, wird S. 343 f. dahin gewendet, daß die in den Mysterien vor- handene Peripetie zum Guten in dem Übergang von der Tra- gödie zum Satyrspiel wiederkehre, was ich nicht für glücklich halten kann. Die Pithoigia (S. 253, vgl. 276. 288) haben mit dem <irabpitho8 ganz gewiß nichts zu schaffen, sondern können nur auf das Weinfest bezogen werden. Ich mußte an ein- zelnen Beispielen zu zeigen versuchen, wo die Schwächen dieses Buches liegen. Eine Vorstellung vom ganzen zu geben ist nicht leicht, da bei der übergroßen Fülle des Nebenein- ander die Struktur der Gedanken fast gar nicht sichtbar wird. Die Wrf. hat das selbst empfunden und daher in der Ein- leitung eine Zusammenfassung ihrer Kesultate gegeben. Diese Einleitung ist eigentlich eine covclusio. Im Mittelpunkt der Darstellung steht der Begriff des Eniautos-Daimon, eine neue Bezeichnung für den seit Mannhardt l)ekannten Vegetations- dämon. Dieser Eniautos-Daimon ist der Repräsentant .des

Griechische und römische Religion 1911 1914 433

Lebens des Stammes (group), wie des Lebens der Natur. Er liegt dem Zeus Kuros, Dionysos, Herakles, Asklepios, Teles- phoros, Apollo zugrunde, und auch die Heroen üben die Funk- tionen eines Eniautos-Dairaon aus. Kampfund Sieg, Tod und Wiedergeburt sind die wichtigsten Elemente des rituellen Früh- lingsdromenon, das durch die Erneuerung des Euiautos-Daimon auch die Erneuerung alles Lebens für das kommende Jahr ver- bürgen soll. Agone und Drama sind ein Nachklang jenes Dro- menon. Der Eniautos-Daimon entwickelt sich allmählich zum Gott. Des Menschen Blick wendet sich von der Erde zum Himmel. Mond und Sonne bestimmen die Vorstellunffen von der Gottheit. Das letzte Stadium bieten die olympischen Götter dar, intellectual conceptions merely, things of thouglit bearing but sliglit relation to life lived . . . the Olymjnans stand for articu- late consciousness , the Eniaiitos - Daimon for the suhconscious. Über allem aber thront Themis: she is social ordinance, the colledive conscience projectcd (S. XVll). Es soll nicht geleug- net werden, daß diese und jene prinzipielle Bemerkung des Harrisonschen Buches das Richtige trifft (in welchem Falle das Richtige freilich meist nicht neu ist;, noch daß einige Einzelheiten, wie die offenbar auf Nilsson^ zurückgehende Parallelisierung der als Dioskurensymbole auftretenden Vasen mit den Kadiskoi •des Zeus Ktesios S.305\ die Erörterung über Panspermie undPan- karpie (S 291 f.), die Ausführungen über sakramentale Stieropfer (S. 140 ff, wo allerdings eine Auseinandersetzung mit Stengels lesenswertem Aufsatz Opferbräuche S. 203 ff. vermißt wird) manches Beachtenswerte enthalten, im ganzen aber ist dringend zu wün- schen, daß sich diesem Buche gegenüber der Satz der Verfasserin nicht bewähre: scholars are a race strangely credulous (S. 33). Keinen Vorteil zieht die antike Religrionswissenscbaft (und. wie mich dünkt, auch die allgemeine nicht^ aus M. Schle- singers Versuch über das Symbol.- Was der Verfasser vor-

1 Atlien. Miit. XXXTII 1908 S. 282, vgl. Themis S. 297,2.

* M. Schlesinger Geschichte des Symbols, ein Versuch, Berlin 1912.

Archiv f. ReligiouswissenBcliaft XX. 3/4 28

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legt, ist soweit ich urteilen kann eine zwar fleißige,, aber dilettantisch zusammeugestoppelte K< mpÜation. Von w rk- licher Durchdringung des Stoöes, von klarer Linienführung ist keine Rede. Die historische Anordnung des Materials mochte für das Ausbreiten eines großen Zettelkastens Vorteile bieten, ein Verständnis der unter den Begriff des Symbols zu sub- summierenden Phänomene kann nur durch genet seh- morpho- logische Betrachtung erreicht werden.

M. P. Nilssons 'Primitive Religion'^ bedeutet eine ganz ausgezeichnete Zusammenfassung unseres Wissens, gleich schätzenswert durch ausgebreitete Kenntnis der Tatsachen wie durch zurückhaltende Formulierung in den Schlüssen. Die Dar- stellung, auf einen weiteren Leserkreis berechnet, ist ebenso klar wie präzise. Auch der Fachgelehrte findet reiche Anregung. Die etwas aus dem Rahmen fallende juristische Betrachtungs- weise gegenüber der römischen Religion erklärt sich aus dem starken Einfluß des Wissowaschen Buches (s. o. S. 181 ff.). Über- schätzt scheint mir die Bedeutung des Seelenglaubens für die Personifizierung der Götter. Hingewiesen sei auf S. 72, wo das Fasten damit erklärt wird, daß eine Aufnahme schädlicher Stoffe verhindert werden soll, und auf S. 77 f., wo N. die Ver- mutung äußert, daß man ursprünglich Abbilder von kranken Gliedmaßen deswegen geweiht habe, weil man diese dadurch dem Schutze des Heilgottes befehlen wollte. Ein vortreff- liches Gesamtbild der primitiven li'eligion hat auch E. Leh- mann in dem o. S. 202, 2 erwähnten Bande der Kultur der Gegenwart entworfen: psychologische und soziologische Be- trachtung kommen gleichermaßen zu ihrem Rechte. Voran geht eine instruktive Übersicht über die auf die Anfänge der Religion sich beziehenden Theorien und Forschungen.

Als imposanteste Leistung der Berichtsperiode präsentiert sich die dritte Auflage von Frazers Golden Bough, die von

' M. P. NÜBson Primitive lidigion, Rtligionsgcsch. VoJksbüchrr, her- ausgeg. v. Schiele, III 13/14, Tübingen 1911. Vgl. Archiv XVII 1914, 651 f.

Griechische und römische Religion 1911 1914 435

den zwei Bänden der ersten Auflage auf nicht weniger als elf Bände angewachsen ist.^ Der Verfasser nahm seinen Aus- gang von den Tatsachen des Kultes der Diana von Aricia, die unsere Überlieferung aufbewahrt hat. Insbesondere war ihm daran gelegen, die merkwürdige Gestalt des Priesters dieser Diana, des sogenannten RexNemorensis, verständlich zu machen, der einen Überrest alter barbarischer Kultur darstellt. Es be- stand nämlich die Sitte, daß die Nachfolge in diesem Priester- tum an einen Zweikampf gebunden war, in dem der neue Be- werber den bisherigen Inhaber mit einem Zweige von einem bestimmten Baume des heiligen Haines der Diana erschlagen mußte. Frazer zog nun zur Aufhellung dieses und anderer Punkte ein großes Material von primitiven Vorstellungen und Bräuchen aller Völker der Erde heran, und seine Forschungen gewannen eine so ungeheure Ausdehnung, daß sein Werk heute geradezu als eine Enzyklopädie der primitiven Religion be- zeichnet werden kann. Der alte Ausgangspunkt ist zwar fest- gehalten und mit einem poetischen Lebewohl an Nemi wird der Leser der letzten Zeilen entlassen, aber das antike Band, das diese riesigen Stoffmassen zusammenhalten soll, ist in Wahrheit gerissen, und eine Fülle besonderen Lebens hat sich entfaltet. Und dabei ist klar geworden und auch der Ver- fasser selbst teilt dieses Empfinden , daß der Hauptwert des

^ J. G. Frazer The Golden Bough, a Study in Magic and Iteligion, 3. Aufl. in 7 Teilen (11 Bänden), London 1911/14: I 1. 2 The Magic Art and the Evolution of Kings, 11 Taboo and the Perils of the Soul, III The Dying God, IV 1. 2 Ädonis, Attis, Osiris, Studies in the Hi.^tory of Oriental Iteligion (3. Auflage dieses ursprünglich selbständig erschienenen Teiles, dessen 2. Auflage bereits der 3. Auflage des Golden Bough eingegliedert war) , V 1 . 2 Spirits of the Com and of the Wild, VI The Scopegoat, YII 1. 2 Balder the Beautiful, the Fire - Festivals of Europe and the Doctrine of the External Soul. Dazu stelle ich gleich den ersten Band eines größeren Werkes über den Unsterbüchkeiisglaaben von demselben Verfasser T7ie Btlief in Immortality and the Worship of the Bead, Band I The Belief among the Aborigines of Aitetralia, the Torres Straits Islands, New Guinea and Melanesia, London 1913.

28*

436 . Ludwig Denbner

gewaltigen Werkes in seiner Stoffsammlung liegt, obwohl keineswegs geleugnet werden soll, daß eine große Anzahl der gezogenen Schlüsse sich bewähren, eine Menge der in ihm ent- haltenen Gedanken fruchtbare Anregungen bieten wird. Aber gerade das Altertum, das den Anstoß gab, kommt am wenig- sten gut weg, da das Schiff, dem wir uns anvertrauen sollen, des kritischen Steuers nur allzu oft entbehrt und von den wogenden Fluten der Yergleichung an seltsame Gestade ge- trieben wird. Und diese Unsicherheit, der wir preisgegeben werden, wird erhöht durch eine fast hemmungslose Bereit- willigkeit, die Lücken unserer Überlieferung mit Hypothesen zu überbrücken. Auch bleibt es nicht bei einer Hypothese, sondern auf diese wird eine zweite und dritte gebaut und so fort, bis ein ganzer Wolkenkratzer von Hypothesen dasteht, den der leiseste Luftzug umzuwehen droht. Dem Verfasser ist das Bedenkliche dieser Methode mehr und mehr zum Bewußt- sein gekommen. In der Vorrede zum 7. Teil S. XI erklärt er selbst, daß er seine Theorien hauptsächlich als bequeme Pflöcke zum Aufhängen seiner Stotfsammlungen betrachte, und seine letzton Äußerungen in der Vorrede zur dritten Auflage des 4. Teiles sind von geradezu tragischer Skepsis gegenüber dem Werte der eigenen Aufstellungen. In der Tat: wenn uns zu- gemutet wird, zu glauben, daß der im Haine der Diana von Aricia verehrte Virbius der Gatte der Diana und mit dem Hex Nemorensis identisch sei (12,129), daß dieser eigentlich den Himnielsgott luppiter oder (ursprünglich) den lanus vorstelle (ebd. 38G), daß der römische liex sacrificulus und der Flamen Dialis beide N'erkörperungen des luppiter seien (ebd. l'.)2), der Rex außerdem bald ein Vertreter des Saturn, bald der Hirten- gottheit Pales, bald eines Feigenbaumgottes (ebd. 322 348\ die Vestalin eine Verkörperung der Mutter Vesta ebd. 268) und Gattin des Feuergottes (ebd. 198), daß luppiter und luno eigentlich dasselbe seien wie lanus und Diana (ebd. ."82), daß der Hieros Gamos von luppiter und Inno alljährlich im Juni

Griechische und römische Religion 1911 1914 437

von den Latinern gefeiert worden sei, um das Gedeihen des pflanzlichen und tierischen Wachstums sicherzustellen (ebd. 190), daß die Sage von Numa und Egeria auf einen Hieros Gamos der römischen Könige mit einer Vegetationsgöttin zurückgehe (ebJ. 172j, daß der Rex sacrificulus sogar mehrmals im Jahre einen Hieros Gamos vollzogen habe (ebd. 319), daß die Sieger an den pythischen Spielen eigentlich den delphi- schen Gott vorstellten und daß dieser Gott vor Apollon Zeus gewesej] sei (ill 81), daß ebenso in Olympia die im Wagen- rennen siechenden Männer und die in dem zu Ehren der Hera veranstalteten Wettlauf siegenden Mädchen Zeus und Hera, d.h. Sonne und Mond verkörperten (ebd. 90 f.) - wenn wir dies alles glauben sollen, so greifen wir uns an den Kopf und schließen die Augen, um nicht dem Schwindel zu verfallen angesichts des wilden Tanzes, den die Dinge um uns herum aufzuführen beginnen. Wie kann man Varro als Zeugen für die Ehen römischer Götter anrufen (IV 2, 230 f.), wie kann man das für die altrömischen Götter übliche Beiwort pater, das auch lanus zukommt, für die Identität dieses Gottes mit luppiter geltend machen (I 2, 382), wie kann man gegen Wis- sowa und andere die Ansicht vertreten, ianua wäre von lanus abgeleitet und hätte eigentlich ianua foris geheißen, was die lanustür = Haupttür des Hauses bedeutet hätte, so genannt nach einem Bilde oder Symbol des lanus, das an dieser Tür gestanden habe (ebd. 383 f.)? Ebenso ist das Matriarchat für Rom abzulehnen (12, 271 ff.), desgleichen die Erklärung des Regifugium als Nachklang eines alten rituellen Wettlaufes (ebd. 309), die Beziehung des Trojaspiels auf die Himmelsbahn der Sonne (HI 77), die Folgerungen aus dem modernen thrakischen Karneval für die altattischen Anthesterien (V 1, 30 ff.), die Identi- fizierung der Demeter mit dem Korn (ebd. 90. 2 10 ff.), die Annahme eines Entwicklungsstadiums, wo Persephone als Schwein ge- dacht war (V 2, 19), die Auffassung des Saliertanzes als einer Be- gehung zum Schutze der Vegetation gegen schädliche Dämonen

^gc; Ludwig Deubner

(VI 234). Eigentümlich berührt es angesichts einer so profunden Gelehrsamkeit, wenn wir V 2, 1 lesen, daß Silen in der Kunst mit einem Ziegenfell bekleidet dargestellt wird, und die zugehörige Anmerkung auf Mannliardts Wald- und Feldkulte verweist.

Im Zentrum des ganzen Werkes steht der Gedanke, daß die Primitiven ihre Götter durch Menschen verkörpert dachten und daß sie der Gottheit, wenn die körperliche Kraft des be- treffenden Gott-Menschen abnahm, ein neues- Gefäß bereiteten, während der frühere Vertreter der Gottheit auf irgendeine Weise beseitigt wurde. Dies geschah auf Grund der Vorstel- lung, daß die Wirkungskraft des Gottes an die physische Kraft des ihn verkörpernden Gott-Menschen gebunden war. Erlahmte der Träger des göttlichen Numen, so war zu befürchten, daß der Gott nicht mehr in der Lage sein würde, für das Gedeihen seiner Verehrer zu sorgen. Daher war ein neuer Vertreter nötig. Es bleibe hier dahingestellt, in weK-hem Umfange diese Vorstellung bei den verschiedenen Völkern der Erde tatsäch- lich zutrifft. Den Rei Nemoreusis als einen derartigen Gott- Menschen zu erklären (III 205) ist völlig überflüssig.* Richtig dagegen ist der Gesichtspunkt der Erneuerung der Kraft dieses Priesters. Er ist ein Exemplar des alten Zauberpriesters, der dank seiner übernatürli<-heu Fähigkeiten gleichzeiti<r die füh- rende Rolle eines Häuptlings oder Königs in seinem Stamm spielte. Er herrschte solange, wie seine Kräfte vorhielten. Kam ein Stärkerer, der ihn besiegte und tötete, so hatte natür- lich nach primitivt'in Glauben dieser die größere Zauberkraft, und ihm fiel demzufolge die Herrschaft zu.

In zwei wesentlichen Punkten hat der Verfasser seine Auf- fassung im Lauf der Jahre geändert. Er glaubt nicht mehr an den solaren Charakter der europäischen Feuerfeste, sondern betrachtet sie als kathartisrhe (Vll 1 S. Vllf.). Vermutlich liegt die Sache so, daß eine einheitliche Erklärung nicht durch- zuführen ist; für die Mittsommerfeste ist zweifellos an der Er- Vgl. Ürnppe Berl. philol. Wochenschr. l'J12, 742fT.

Griechische und römische Religion 1911 1914 439

Idärung als Sonnenzauber festzuhalten. Der zweite Punkt be- trifft das gegenseitige Verhältnis des Himmelsgottes luppiter "und des Eidgottes luppiter. Früher wollte Frazer den ersten vom zweiten ableiten. Jetzt vertritt er mit Recht wie ich glaube die umgekehrte Anschauung (ebd. S. IXf.).

Ich möchte nicht unterlassen zu betonen, daß auch die antike Religionswissenschaft im einzelnen durch das Werk Frazers mannigfache glückliche Anregung erhält: es sei hin- gewiesen auf die prägnante Erläuteiung des rhodischen Opfers von Wagen und Viergespann an Helios. Wagen und Pferde des Gottes verbrauchen sich im Lauf der Zeit; darum bekommt er neue, um seine segenbringende Fahrt über den Himmel ohne Störungen fortsetzen zu können (I 1, 315f.). V 1,49 wird das erst im Herbst der Demeter dargebrachte Opfer an Feldfrüchten einleuchtend mit der in jene Zeit fallenden Aussaat in Ver- bindung gesetzt. Es war kein Dankopfer für die eingeholte Ernte, sondern ein Bittopfer für die neue Saat. Ebd. 161 f. ■wird der Kykeon, der rituelle Mehltrank der eleusinischen Mysterien, sehr ansprechend auf eine alte Herbstmahlzeit der eleusinischen Bauern zurückgeführt. Ganz besonders aber möchte ich auf die allgemeinen Ausführungen über Magie und Religion aufmerksam mai-hen, die sich im ersten Bande finden (1 1, 234ff. 373 f). Was hier über die Magie als eine* Vorstufe der Religion, über den Übergang von der Magie zur Religion und seine Gründe, über die Entwicklung der Religion und der Götter und das gleichzeitige Zurücktreten der Magie ge- sagt ist, verdient ernste Beacbtung. Auf die ungeheure Fülle des ethnographischen Materials kann an dieser Stelle gar nicht eingegangen werden. Nur das sei zum Schlüsse bemerkt, daß trotz aller Verstiegenheiten Frazers auf dem Gebiete der klassischen Religionen niemand, der auf diesem Gebiete arbeitet, an den reichen Schätzen vorbeigehen darf, die Frazer in dieser ungeheuren Rüstkammer mit titanischem Fleiße zusammen- gebracht und zu bequemster Benutzung ausgebreitet hat.

440 Lndwig Deubner

Knowledge comes, hut ivisdom lingers: diese Worte Tenny- sons ließen sich als Motto wie über gar manchen anderen, so auch über diesen Bericht setzen. Wohl ist die Forschung an allen Ecken und Enden lebendig gewesen, aber die Wissen- schaft als Ganzes ptlegt nur bedächtigen Schrittes vorwärts zu schreiten. Blicken wir auf die Wege zurück, die begangen wurden, so fällt deutlich ins Auge, wie stark die allgemein relisionsoreschichtliche, veriijleichende, volkskundliche Orientie- runtr gewesen ist. Über Donnerkeil und Nahelstein, über den Kranz, über Schlange und Pferd, über Milch und Wolle, über das Tier im allgemeinen, über das Haar des Menschen, über Geburt, Hochzeit und Tod, über religiöse Rede und heilige Zahlen, über die letzten Geheimnisse der Entwicklung des Orakelwesens ist von jenem Standpunkte aus mit mannigfachstem Nutzen gehandelt worden, uu'l so hat denn die antike Religions- wissenschaft zur Lösung der großen Grund [»robleme von der Entstehung, Entwicklung und Ausgestaltung des religiösen Denkens der Menschheit einen nicht unwichtigen Beitrag ge- leistet Den Gefahren falscher Analogieschlüsse und vorschneller Verallgemeinerungen, die bei Anwendung der vergleichenden Methode drohen, ist freilich so mancher zum Opfer gefallen. Ein besonders warneniles Beispiel ist der \'ersuch i'irillis (o S. 17ö); aber auch das Riesenwerk Frazers (o.S. 434 tf. ) schien uns unter dem gleichen Gesic^litspunkte das Verständnis der antiken Religion mehr zu hemmen als zu fördern, und mit den soziologischen Konstruktionen Jane Harrisons (o. S. 429ff.) stellt es nicht besser. Unter den Arbeiten, die sich mit den Problemen der antiken Religionen im engeren Sinne befassen, ist eine besondere Vorliebe für dies oder jenes Gebiet nicht zu bemerken. Doch verfolgt die Schule O. Kerns mit Stetig- keit den dankenswerten F'lan, die Kulte der einzelnen griechi- schen Landschaften monographisch aufzuarbeiten, indem teils sämtliche Kulte einer Landschaft zusammengefaßt, teile einzelne bedeutendere, wie der karische Zeus (o. S. 153f.) und der klein-

Griechische und römische Religion 1911 1914 441

asiatische Dionysos (o. S. 151), für sich isoliert werden; auch die Abhandlungen über die Kureten und Korybanten (o. S. 154) sowie die über die großen Götter (o. S. 155) sind nach dem gleichen Schema von Materialsammlung und Erörterung an- gelegt; auf dem Gebiete der römischen Religion lieferte L.Ross Taylor [O. S. 173 f.) eine verdienstvolle Analogie, Neuen Pfaden wandte sich Pettazzoni (o. S. 190 f.) zu, der den Versuch machte, in das Dunkel Bardischer Vorzeit einzudringen. Getrennt von den übriffen Forschern drehten sich die Astralmvtholoo;en weiter im Kreise. Sollen wir endlieh diejenigen Werke herausheben, die nach unserem Uj-teil Höhepunkte der Forschung und Dar- stellung bedeuten, so möchten wir nochmals nennen: Haltens lichtvolle Untersuchung der verwickelten kyreneischen Sagen- überlieferung (o. S. 162 f.), Fowlers nachfühlende Erfassung der römischen Religiüsität (o. S. 177ff.), Wissowas imponierende Ge- samtrekonstruktiou der römischen Religion (<>, S. 181 ff.), Bolls glänzenden Nachweis der ungeheuren Wirkung des antiken Himmelsbildes '^o. S. 201), Blinkenbergs erschöpfende Analyse der volkstümlichen Anschauungsformen des Donnerkeils (o. S. 412).

Die Arbeit der Jahre 1911—1914 stand von den letzten Monaten abgesehen noch im Zeichen internationalen Ein- vernehmens. Den sichtbaren Ausdruck dafür bildete der 4. internationale Kongreß für Religionsgeschichte, der vom 9. 13. September 1912 in der ehrwürdigen Stadt Leiden ver- sammelt war.^ Damals wurde als Ort der nächsten Tagung Heidelberg in Aussicht genommen. Seitdem hat sich vieles verändert. Nicht verändert hat sich das ruhige Selbstvertrauen der deutschen Wissenschaft. Wir können warten.

' Vgl. Actes du IV' congres international d'histoire des religions, Leiden 1913.

3 Gescliiclite der Christ liehen Kirche

Von Hans Lietzmann in Jena

Seit meinem letzten Bericht im Jahre 1912 in Band XV 260—298 hat sich eine Fülle von Stoff angehäuft, ohne daß die Möglichkeit sich geboten hätte, den Lesern dieser Zeitschrift Rechenschaft abzulegen. So muß die jetzt gegebene Übersicht das Einzelne kürzer behandeln, als es der Gegenstand zumeist erfordern würde und dem Referenten lieb ist, wenn anders die gewaltige mir vorliegende Menge fleißigster Arbeit, die zum Besten der Wissenschaft selbst in den schweren Kriega- jahren bei uns geleistet ist, auch nur durch Nennung des Wichtigsten und wenige charakterisierende Worte dem Leser vor Augen geführt werden soll.

Von den großen Quellenunternehmungen muß zuerst des Wiener Kirchenvätercorpus gedacht werden, das mit sechs Bänden seine schon so stattliche Reihe erweitert hat. Die 1911 von Hilberg* begonnene Ausgabe der Hieronymus- briefe ist erstaunlich schnell zu Ende geführt worden. In zwei weiteren Bänden sind Epist. 71 120 und 121-150 im Texte vollendet und die von Bruyne in der Revue Benedictine von 1910 edierten vier weiteren Briefe als Epist. 151 154 dem alten Stamm angefügt worden. Die Überlieferung ist wie üb- lich bei jedem Brief besonders angegeben, sie geht im großen und ganzen auf Handschriften der Karolingerzeit zurück, doch haben wir eine Reihe von Bruchstücken, die dem sechsten Jahrhundert angehören Der mannigfaltige Inhalt dieser ge- lehrten und wohlötilisierten Schreiben, die doch manchmal, wie die Urkunden zum origenistischen Streit, Epist. 8G 100, kräf-

S. Eusebii Ilieronymi tpistulae rec. leid. Hilberg, pars II (1912). Lpz. Freytag.

Geschichte der christlichen Kirche 443

tig in den Gang der Kirchengeschichte eingreifen, oder wie Epist, 106 an die beiden Goten Sunja und Frithila grundlegend für die Bibelkritik sind, macht sie zu einer äußerst reizvollen Lektüre, Den noch ausstehenden Prolegomena sehen wir für die Briefe des Hieronymus mit nicht geringerer Spannung ent- gegen wie bei Goldbachers Augustinbriefen. Das Vorwort Hil- bergs berichtet unter dem 1. März 1918, daß seine ganze Habe in Czernowitz feindlicher Plünderung anheimgefallen, aber sein wissenschaftliches Rüstzeug anscheinend gerettet sei. So dürfen wir die Veröffentlichung von Einleitung und Registern in Kürze erwarten.

Aus den Werken des Ambrosius beschert uns Petsche- nig^ die Auslegungen von Psalmen, und zwar zunächst die 22 Traktate über den 118. (119.) Psalm, der akrostichisch angelegt nach den 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets jeweils 8 Verse mit demselben Buchstaben beginnt und so mit seinen 8 x 22 = 176 Versen der längste Psalm geworden ist. Mit seiner spät gelernten, aber hier doch schon weniger unaus- geglichen wie in den Patriarchenpredigten vorgetragenen Ge- lehrsamkeit, die er auf griechischen Quellen aufbaut, aber nun doch im stärksten Maße aus eigenem Geiste nährt, gibt der Mai- länder Kirehenfürst eine moralische und allegorische Auslegung des Psalms, die nicht für die Gemeinde schlechthin, sondern für Kleriker und gebildete Laien bestimmt ist. Die lang- erwartete Ausgabe des Apokalypsenkommentars des Victorinus von Pettau durch Haußleiter* ist 1916 erschienen. Der Reiz des Werkes besteht in seiner altertümlichen Theologie, die auch einen derben Chiliasmus aus den Worten des heilio-en Buches zu gestalten weiß: der Verfasser ist 304, also in der Diokletianischen Verfolgung, als Märtyrer gestorben. Hierony- mus hat eine Ausgabe dieses Apokalypsenkommentars veran-

^ S. Anibrosii opera pars V: Expositio Psalmi CXVIII rec. M. Pet- schenig. ebd. 19 IS.

^ Victorini episc. Petavonensis opera rec. J. Haiißleiter ebd. 1916.

4_j;4 Hans Lietzmann

staltotj in der er die theologischen Anstöße korrigiert, insbe- Bondere die chiliastischen Stellen gestrichen und anderes ihm nützlich Erscheinende hinzugefiigt hat: darüber gibt Hauß- leiter S. XXXVIff. eingehend. Rechenschaft. Diese „gereinigte" Ausgabe des iV./V. Jahrhunderts war uns bekannt und ist uns in zahlreichen Haudsithriften erhalten: den ursprünglichen Text fand Haußleiter 1895 in einem Ottobonianus des XV. Jahr- hunderts, von dessen höchst unerquicklichen Schrif't/ügen sechs Tafeln nach Weiß -schwarz -Photos ein gutes Bild liefern. In seiner Ausgat^e gibt Haußleiter in einer eingehenden Vorrede auch über die sonstige Schriftstellerei des Victorinus aus- reichend Rechenschaft und druckt sodann nebeneinander links den emendierten Text des Ottobonianus und rechts die Rezen- sion des Hieronymus. Ausfülirliche Register sind beigegeben. Jülieher h;it in den (jöttinger Gel. Anz. IM 19, 44fiF. eine wert- volle Anzeige der Ausgabe veröfientlicht. Grundlegende Ur- kunden zum Arianischen Streit des IV. Jahrhunderts legt uns der Jesuit Alfred Feder^ im 4. Bande der Hilariusausgabe vor. Zum ersten Male erscheinen die sogenannten historischen Fragmente des Hilarius in ihrem überlieferten Zusammenhang nach der einzigen Handschrift, dem Pariser Codex des Arse- nals 483 saec. JX. Als Einleitung gehen nicht nur sorgfältige Prolegomena voran, es sind auch drei Hefte Studien zu Hila- rius in den Wiener Sitzungsberichten von PJlO, 1911, 1912 erschienen, in denen die einschlägigen Fragen aufs gründlichste abgehandelt werden. Den Urkunden iit auch die Parallelüber- lieferuug beigedruckt, derart, daß wir das sardicenische Syn- odalschreiben S. 10311". in zwei lateinischen und der griechischen, das Symbol von Sardica S. 68 ff. gar in fünf Fassungen neben- einander lesen. Der Hand euthült ferner die von Gamurrini entdeckten Texte, den Tractatua m;/sleriorum, einen ziemlich dürf- tigen allegorisch - typologischen Aufsatz, und die drei vermut- lich echten Hymnen, als Anhang den höchst zweifelhaften ' 6'. Ililarii episc. I'ictaviensis opera pars IV rec. A. Fedei ebd. 1916.

Geschichte der christlichen Kirche 445

hymnus de Christo und andere unechte Texte. Auch hier er- halten wir ziemlich reichhaltige Register. Die Augustin- ausgabe des Wiener Corpus bringt nach Abschluß der Dona- tistischen Streitschriften nunmehr den 1. Band der Schriften gegen die Pelagianer, von Vrba und Zycha^ bearbeitet. Er enthält die ersten Schriften dieses Kampfes aus dem Jahre 412, aber auch de natura et gratia vom Jahre 415, de natura et origine animae vom Jahre 419 und contra duas episiidas Pela- gianorum. Da der r.'02 bereits erschienene 2. Band die zeit- lich dazwischen liegenden Schriften enthält, so i leiben noch die ^oßen Schriften der letzten Periode übrig. Einen ge- wissen Abschluß bringt der vorliegende Band insofern, als er Namen-, Sach- und Wortregister für das bisher Erschienene enthält.

Eine unerwartete Gabe bescherte der längst als Meister auf dem Gebiet der lateinischen Patristik bekannte Benediktiner G. Morin^ durch die glanzvoll gedruckte Ausgabe von 42 bis- her unbekannten Predigten Augustins und seiner Schule. Er hat sie in einem Wolfenbütteler Codex des IX. Jahrhunderts entdeckt und legt sie in sorgfältiger philologischer Behand- lung mit Vorwort und ausführlichen Registern vor. Den An- fang macht eine Erklärung des Symbols. Es folgen Passions- und Osterpredigten, Himmelfahrt, Johannis der Täufer, Petrus und Paulus, Laurentius werden bedacht. Dem heiligen Cyprian werden drei Predigten gewidmet. Hier sowohl wie in der Predigt über die scillitanischen Märtyrer werden die uns be- kannten Akten zitiert; das Prunkstück bildet eine kurz nach 411 gehaltene Weiherede zur Ordination eines Bischofs, die Morin schon 1913 in der Revue Benedictine ediert hatte. Die neun angehäugten Traktate aus Augustins Schule gipfeln in

^ S. Aureli Augustini o^jera sect. VIII pars I: de peccat. meritia etc. rec. Vrba et Zycha ebd. 1913.

* S. Aureli Augustini tractatus sive sermoyies inediti ex codice Guel- ferbytano 4096 detexit ed. Germanus Morin 0. S. B. Kempten u. München, Koesel 1917.

44G Hans Lietzmann

der höchst anziehenden Predigt de tempore harharico, einer schmerzbewegten Klagepredigt über den Fall Karthagos durch die vatidalische Eroberung. Morin will diesen ebenso wie drei andere der Anhangstraktate (4, 7, 8) dem Bischof Quodvult- deus von Karthago zuschreiben. Das ganze Buch ist ein köstlicher Gewinn für die Augustinforschung, den uns der belgische Gelehrte mitten im Kriege beschert hat.

Eine andere höchst wertvolle Veröffentlichung kommt für die griechische Patristik, darüber hinaus aber für die Geschichte der spätgriechischen Poesie, aus Italien. Silvio Mercati^^ der Bruder des jetzigen Präfekten der Bibliotheca Vatlcana, ein Schüler von Krumbacher und Wilhelm Meyer, hat im Jahre 1915 mit einer Ausgabe der Werke des Ephraem Syr- rus begonnen, die wieder gutzumachen verspricht, was die gelehrte Welt bisher an diesem Heiligen gesündigt hat: und das ist ungewöhnlich viel. Das Altertum hat ibn verehrt und gelesen sowohl in seiner originalen syrischen Zunge, in der er noch heute das Brevier der syrischen Christen beherrscht, als auch in gleichzeitigen griechischen Übersetzungen, ja sogar ins Lateinische sind manche Predigten im Altertum übertra- gen. Die Bibliotheken wimmeln von Ephraem -Handschriften. Aber die Wissenschaft der Neuzeit liest und behandelt ihn nicht. Da hat Wilhelm Meyer aus Speyer, einem Hinweis Studeraunds folgend, die erstaunliche Tatsache ans Licht ge- stellt, daß nicht wenige von den gedruckten griechischen Über- setzungen der syrischen Kphraera-Predigten metrisch sind, und zwar völlige Nachbildungen der syrischen, Silben zählenden Poesie. Damit war für ihn der Schlüssel zum Verständnis der griechischen und lateinischen rhythmischen Poesie gefunden. Um PO notwendiger ist aber eine kritische Ausgabe der Schriften Ephraeras, da die Vjiriantenwirrnis der Handschriften jedes Maß übersteigt und die sogenannte beste Ausgabe Assemanis

' S. Ephraem Syri opera rec S. J. Mercati tom. I. Rom, Instit. Pontific. Biblic. 1916.

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in Band 1 und 2 nur ein Nachdruck der Oxforder höchst un- kritischen Ausgab.e von 1709 ist. Mercati entwickelt in dem vorliegenden Bande "seinen Plan und legt zunächst drei grie- chische Texte, eine Rede auf Abraham und Isaac, auf den hei- ligen Basilius und auf den Propheten Elias in schlechthin musterhafter Behandlung vor. Der Text selbst, in Verszeilen abgesetzt, darunter ein kritischer Apparat, der sich auf eine Auswahl der besten Handschriften aufbaut, darunter gegebenen- falls Paralleltexte der Benutzer und eine Fülle von erläutern- den sprachlichen und sachlichen Anmerkungen. Jeder Predigt geht eine ausgiebige praefatio voraus, welche bei der ersten besonders lehrreich ist, da sie unter vielen anderen wertvollen Bemerkungen den strikten Nachweis enthält, daß bereits Grregor von Nyssa im Jahre 383 die vorliegende metrische Übersetzung in einer eigenen Predigt reichlich benutzt hat. Bei der Fülle des griechischen und des syrischen Materials ist es verwunder- lich, daß relativ selten uns das syrische Original samt der griechischen Übersetzung erhalten ist. Mit um so größerer Spannung sehen wir dem nächsten Bande entgegen, welcher die Rede auf Jonas und die Buße der Niniviten syrisch und griechisch vorzulegen verspricht. Möge die, wie es scheint, in Deutschland bisher ziemlich unbekannte Ausgabe Mercatis bald die ihr gebührende Beachtung und fleißige Benutzung finden. In die Theorie der Askese führt uns das umfangreiche Buch Frankenbergs', das die Hauptmasse der uns im griechi- schen Original verlorenen Werke des ägyptischen Asketen und Schülers der großen Kappadozier, desEuagrios Pontikos (f vor 400) in syrischer Übersetzung und griechischer Rückübersetzung auf 635 Seiten vorlegt. Für das Hauptwerk, die sogenannten Centurien oder ^Qoßh]iiccta 7tQoyv(o6tixd wird auch der sehr umfangreiche Kommentar des Archimandriten Babai in deut- scher Übersetzung beigegeben. Über die Bedeutung des Eua-

■* Euagrius Ponticus von W. Frankenberg, Berlin, Weidmann 1912 (= Abh. Götting. Ges., phil. hißt. Kl. N. F. XllI 2).

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grios und den Parallelismus zwischen den Mönohserzählungen und den Darlegungen der asketischen Theorie hat Reitzenstein in seiner ,,Historia Monachorum und Uistoria Lamiaca" 124ff. eingehend gehandelt und dadurch dem philologischen Leser den Weg zum Verständnis dieser eigenartigen Literatur ge- ebnet. Die Übersetzungen lesen sich glatt und schließen sich, soweit ich geprüft habe, sorgfältig dem syrischen Text an. Die Vorrede läßt manche wichtige Angabe vermissen. Auch bei der griechischen Uücküberset/ung würde es sich gehören, die im griechischen Original überlieferten Stellen keimtlich zu machen, also zum gnosticus 146 150 zu notieren, daß der Text bei Sokrates IV, 23, 61—71 überliefert ist. Auch ein Inhaltsverzeichnis vermißt man schmerzlich. Von weit gerin- gerer Bedeutung, aber doch auch nicht unerheblichem Interesse für die Theorie vom „Wahren Gnostiker" ist das Schriftchen des Bischofs Diadochos von Photike in lüyrieii (f 450), welches Reitzenstein am gleichen Orte S. I33if. gewürdigt und auch bezüg- lich der philologischen Unzulänglichkeiten der durch Weis-Lie- bersdorf^ besorgten Erstausgabe des griechischen Originals nebst Beigabe der lateinischen Übersetzung des Tarrianus aus- reichend kritisiert hat.

Als Hilfsmittel zum Verständnis des von ihm edierten alt- slawischen Psaltcrkomnientars gibt Jagic^ eine anonyme Er- klärung der Psalmen in griechischem Original heraus, die auch für die l'atristik von Wert ist, da sie in mehreren Psal- terkaten»-n reichlich benut/,t wird, z. B. in Typ XIV und XV meines Katenenkatalogs. Die alte Kateiie meines Typus I nennt den Verfasser llesychios, und es scheint, als ob wir tatsächlich eine erweiterte Arbeit des llesychkommentars vor uns haben. Unter des Didymos Namen f vor 400) geht

' S. Diddochi ep. rhoticensis de perfectione sptrituali ed. J. E. Weis- Liebersdorf. Lpz. Teubner 11)12.

* Siq>)>lfmcntum PsdUcni Jiononiensis. Incerti auctoris explanatio Paalmorum Graeca ed. V. Jagic. Wien, Holzhausen 1917.

Geschichte der christlichen Kirche 449

eine lateinische Erklärung der sieben katholischen Briefe, die wie so manches andere wertvolle Stück uns durch die Ver- mittelung der Bibliothek Cassiodors erhalten ist. Bereits Erich Klostermann hatte darauf hingewiesen, daß in Cramers Ka- tenenausgabe große Stücke des griechischen Originals erhalten seien, die meist namenlos sind, von denen einige aber dem Origenes, Johannes Chrysostomos und Severus zugeschrieben werden. Eine recht sorgfältige Ausgabe dieses Kommentars unter Einfügung der griechischen Fragmente mit ausführlichem lateinischen und griechischen Wortregister bietet ZoepfP, der sich mit einiger Zurückhaltung doch der Meinung Kloster- manns anschließt, daß bereits der lateinische Übersetzer eine mannigfach überarbeitete Gestalt des echten Didymos-Kom- mentars vor sich hatte. Die unter dem Namen „historia ace- phala'' bekannte wertvolle Quelle der Geschichte des Athanasius hat in einer Münsterer Dissertation durch H. Fr omen^ eine brauch- bare Ausgabe erfahren. Eine Ausgabe der neuentdeckten Schrift des Ireuaeus „Erweis der apostolischen Verkündigung" liefert in lateinischer Übertragung aus dem Armenischen S, Weber.^

An ÜbersetzuDgeu altkirchlicher Quellen ist in erster Linie die Neubearbeitung der einst Thalhoferschen „Bi- bliothek der Kirchenväter"^ zu nennen, die unter Leitung

^ Didymi Alexandrini in epistulas canonicas brevis ejplanatio von Friedr. Zoepfl. Münster i. W., Aschendortf 1914. (= Neutest. Abh. hrsg. V. Meinertz IV 1.)

^ Äthanasii historia acephala von Heinz Fromen. Münster 1914.

' S. Irenaei Demonstratio Äpostolicae praedicationis ex armeno vertit Simon Weber, Freiburg i. B. Herder 1917.

* Bibliothek der Kirchenväter: eine Auswahl patristischer Werke in deutscher Übersetzung, herausgegeben von 0. Bardenhe-wer, Th. Schermann, K. Weymann. Kempten, Kösel. [Bd. 1, 8, 11, 16, 18, 19, 28, 29, 30:] Augustinus Bd. 1—3 Gottesstaat, übers, v. A. Schröder. Bd. 4 6 Vorträge über d. Evang. des hl. Johannes, übers, v. Tb. Specht. Bd. 7 Bekenntnisse, übers, v. A. HoflPmann. Bd. 9 10 Ausgew. Briefe, übers, v. A. Hoffmann. [Bd. 2:J Dionysius Areopagita, übers, v. Stigl- mayr, Gregorios Thaumaturgos, übers, v. Boririer, Methodius' Gastmahi, übers, v. Fendt. [Bd. 3, 4:] Irenaeus, 5 Bücher gegen die Häresien,

Archiv f. Religionswissenschaft XX. 3/4 29

450 Hans Lietzmann

von Bardenliewer, Weymann und Scliermann erscheint. Bis- her liegen 32 Bände vor, die als Ganzes eine wohlgelungene Leistung darstellen. Besondere Hervorhebung verdient um ihrer formellen Geschicklichkeit willen die Übersetzung des Johannes Chrysostomus durch J. C. Bauer; auch in Dombart und Schröders Übersetzung der Augustinischen civitas dei ist angesichts der Schwierigkeit der Aufgabe höchst respektable Arbeit geleistet. Recht erwünscht und auch von wissenschaft- licher Bedeutung ist Schermanns Einleitung in Storfs Über- setzungen griechischer Liturgien. Die jüngsten Bände bringen eine freilich recht knappe Auswahl aus den Briefen Augustins, ferner Ambrosius' de ofßciis, de mysteriis, de virginitate und

übers. V. Klebba, Erweis d. apost. Verkündigung, übers, v. S. Weber. [Bd. 5:] Griech. Liturgien, übers, v. Storf mit Einl. v, Schermann, Palla- dius, Leiien der bll. Väter, übers, v. Krottenthaler, Gerontius, Leben d. hl. Melania, übers, v. Krottenthaler. [Bd. 6 :] Ausgew. Schriften d. sy- rischen Dichter Cyrillonas, Balaeug, Isaak v. Antiochien u. Jakob v. Sa- rug, übers, v. Landersdorfer. [Bd. 7, 24:] Tertullians ausgew. Schriften, übers, v. Kellner u. Esser. [Bd. 9:] Eusebius ausgew. Schriften I: Leben Konstantins etc., übers, v. Pfilttisch m. EinL v. Bigelmair. [Bd. 10:] Makarins d. Ägypters 50 geietl. Homilien, übers, v. Stiefenhofer. [I?d. 12 u. 14:] Frühchristliche Apologeten u. Märtyrerakten: Aristides, Justin, Brief an Diognet. Tatian, Athenagoras, Tlieophilus Antioch., Hermias, Minucius Felix, Firmicns Maternus. Echte alte Märtyrerakten. [Bd. 13, 31:] Athanasius' ausgew. Schriften: I., IL Vier Reden gegen die Ari- aner, vier Briefe an Serapion, Brief an Epiktet, gegen die Heiden, über die Menschwerdung, übers, v. A. Stegmann. Leben des hl. Antonius (und Anhang: Leben d. hl. Pachomius), übers, v. H. Mertol. [Bd. 15:] Hiero- nymus I: Mönchsbiographien, Nekrologe, Homilet Schriften, dogmatische Schriften (gegen Hclvidius, \'igilantius, Pelagianer), übers, v. L. Schade. [Bd. 17, 21, 32:] Ambrosius: I. Exameron, H, Lukaskommentar, IIL von d. Pflichten, über die Mysterien, über d. Jungfrauen, Rede auf Theodo- siuH, ül)er.H. v. J. E. Niederhubrr. [Bd. 20:] Sulpicius Severus über d. hl. Martin, übers, v. P. Bihlmeyer, Vinzenz v. Leriu Commonitorium, übers, v. G. Rauschen, S. Benedikt, Regel, übers, v. P. Bihlmeyer. [Bd. 22:] Ausg. Akten persischer Märtyrer, ans d. Syrifichen übers, v. 0. Braun. [Bd. 23, 25, 26, 27:] Joliannes Chrysostomus I IV, Matthäuskommen- tar, über.-<. V. J. Ch. Baur; über d. Priestertum, übers, v. A. Naegle. Vgl. meine ausführlichen Anzeigen in Theol. Lit.-Ztg. l'J14, 487 If. und 1917, J60ff.

Geschiclite der christlichen Kirche 451

seine Leichenrede auf Theodosius, schließlich des Athanasius apologetische Schriften, die Antoniusvita und als Anhang dazu eine anonyme Vita des hl. Pachomius aus dem noch unedier- ten Codex Vatic. gr. 819 saec. XI/XII, übersetzt von H. Mertel. Von der Peregrinatio Aetheriae hat H. Richter' eine für weitere Kreise bestimmte anspruchslose Übersetzung angefertigt. Von Rauschens^ „Florilegium patristicum" sind in zweiter Auflage erschienen Bd. 3 (kleinere Urkunden des II. Jh.), und Bd. 7 (Monumenta eucliaristica et lüurgica vetustissima), neu ist Bd. 11, der Tertullian de laptismo und Ps. Cjprian de rebaptismate enthält. Um Rauschens gleichfalls in zweiter Auflage erschienene Ausgabe des Apologeticum TertuUians (Bd. 6 des Florü. patr.) hat sich eine heftige literarische Fehde entsponnen. Schrörs^ wendet sich gegen die dort ge- übte eklektische Methode der recensio mit der These, daß der sog. Vulgattext des Apologeticum den von Tertullian secundis airis hergestellten Wortlaut biete, während der stark ab- weichende Fuldensis nur den ersten Entwurf erhalten habe. Rauschen* verteidigt dagegen seine Methode geschickt, nicht ohne eine erhebliche Liste von Verbesserungen und Ergän- zungen zu seiner Textausgabe zu liefern. Beide kritisiert ein- gehend und gelehrt der schwedische Philolog Löfstedt^, der mit Nachdruck für den grundlegenden Wert des Fuldensis ein-

' Pilgerreise der Aetheria (Silvia), übers, v. Herrn. Richter. Essen, Baedeker 1919.

* Florilegium patristicum ed. G. Rauschen. III. Monum. minora saec. II ed. 2. 1914. VII Monum. eucliaristica et liturgica vetustissima ed. 2. 1914. XI Tertulliani de baptismo et Ps.-Cypriani de rebaptismate recensio nova. 1916.

* Heinr. Schrörs Zur Textgeschichte u. Erklärung v. TertuUians Apologeticum. Texte u. Unters. 40, 4.

* G. Rauschen Prof. H. Schrörs und meine Ausgabe von TertuUians Apologeticum. Bonn, Hanstein 1914. 2. M.

^ Einar Löfstedt TertuUians Apologeticum, textkritisch untersucht. Lunds Universitets ärsskrift N. F. Afd. 1. Bd. 11. Nr. 6. Leipzig, Har- xassowitz.

29*

452 Hans Lietzmann

tritt. Der nützliche und billige Grundriß der Patrologie Rauschens^ hat eine neue Doppelauflage erzielt. Es sollte die letzte von des Verfassers Hand bearbeitete sein: im Jahre 1916 ist er einer Krankheit erlegen.

Unter den Hilfsmitteln kirchenhistorischer Forschung ist an erster Stelle das gewaltige Werk Otto Seecks „Regesteu der Kaiser und Päpste für die Jahre 311 bis 476 n. Chr."* zu nennen. Die Einleitung gibt eine einschneidende kritische Untersuchung über die Quellen und die Datierungen des Codex Theodosianus. Das Regesteuwerk selbst bucht von Jahr zu Jahr alle auf den Tag oder wenigstens den Monat feststellbaren Daten der Handlungen und Erlasse von Kaisern und Päpsten, gelegentlich auch anderen Kirchenmännern, Konzilien u. dgl, mit Quellenangabe. Die Indices bringen ein Daten Ver- zeichnis der Gesetze des Codex Theodosianus und Jtistinianus, ein Personenverzeichnis, eine Liste der weltlichen und kirch- lichen Ämter und ein Ortsregister. Das ganze Buch ist ein stolzes Denkmal deutschen Gelehrtentieißes und kritischen Scharfsinns, das den nächsten Generationen die Wege zu tätigem eigenen Schaffen bahnt.

Bardenhewers'' Geschichte der altkirchlichen Literatui- darf sich des Erfolges freuen, daß in relativ kurzer Zeit nach 11 Jahren die beiden ersten Bände neu aufgelegt werden mußten. Es versteht sich von selbst, daß dabei der neueren Literatur in allem Rechnung getragen ist, ebenso, daß Anlage und Inhalt im wesentlichen unverändert geblieben

' G. RauBchen Grundriß der Patrologie. 4. u. 5. Aufl. Freiburg i. B., Herder.

' Otto Seeck Regesten der Kaiser und Päpste für die Jahre 311 bis 470 n. Chr. Vorarbeit zu einer Prosopofjrapbie der chriatlicben Kaiaer- zeit. Stuttgart, Metzler. 1919.

» Otto Bardenhewer Geschichte der altkirchlichen Literatur. Frei- burg i. B., Herder. Bd. I, 2. Aufl. 1913. Bd. H, 2. Aufl. 1914. Bd. HI. 1912. Zu vgl. die inbaltreicbe Rezension Jülichers in Götting. Gel. Am. 1913, Nr. 12.

Geschichte der christlichen Kirche 453

sind. Aber in gelegentlichen Umstellungen, Einfügung neuer Paragraphen und im II. Bande auch breiterer Behandlung der allgemeinen literarischen Erörterungen (§§ 46, 47 statt § 44 in 1. Auflage) zeigt sich die „Umarbeitung" im großen, deren Spuren im kleinen wohl jede einzelne Seite trägt. Der Um- fang des I. Bandes ist von 592 auf 633, der des II. von 665 auf 729 Seiten gewachsen. Im Jahre 1912 ist nun auch der langerwartete Band III erschienen, der die klassische Periode des IV. Jahrhunderts (mit Ausschluß der syrischen Literatur) behandelt: er ist den beiden ersten gleich an peinlichster Sorg- falt und Ausführlichkeit der Berichterstattung:. Die Schrift- steiler werden nach ihrer Heimat disponiert : Orientalen : Alexandriner und Ägypter, Kleinasiaten, Antiochener und Syrer, Spanier; Okzidentalen : Spanier und Gallier, Italiker und Westafrikaner, lUyrier. Ich habe im vorigen Bericht (S. 270 ff.) Jordans Disposition nach Literaturformen bemängelt, weil sie Zusammengehöriges auseinanderreißt. Das wäre bei Barden- hewers Anordnung gleichfalls zu beanstanden, wenn auch nicht in ebenso peinlicher Weise, und noch hinzuzufügen, daß ganz Divergentes zusammengelegt wird: denn Cyrill von Jerusalem, Apollinaris von Laodicea, Epiphanius von Salamis und Diodor von Tarsus in einem Kapitel bilden ein sonderbares Viergespann. Aber das wäre bei aller theoretischen Berechtigung; eine un- T^illige Beurteilung, weil die Zusammenstellung eine rein äußer- liche ist: eine innere Beziehung der einzelnen Paragraphen des- selben Kapitels zueinander besteht nicht. Jeder Paragraph ist ein in sich geschlossener Artikel, und eine Geschichte in dem historisch - pragmatischen Sinne, in dem wir das Wort ver- stehen, etwa gar eine Entwicklungsgeschichte, will Barden- hewer grundsätzlich nicht geben: das betont er im Vorwort des II. Bandes mit ziemlicher Schärfe. Aber innerhalb der selbstgesteckten Grenzen ist Bardenhewers Arbeit auch bei diesem III. Bande vorzüglich, besonnen im Urteil, vollständig und zuverlässig in Benennung und Verwertung der Literatur.

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Zu wünsclien bleibt etwa, daß die Orientierung über das hand- schriftliche Material noch mehr ausgebaut würde und die Grundlagen der jeweiligen Chronologie genauer zur quellen- mäßigen Darstellung kämen: das läßt sich bei zweckmäßiger Beschränkung auf die Hauptpunkte erreichen.

Eine meisterhafte Studie des nun so früh dahingeschiede- nen Führers auf urchristlichem Gebiet liegt in Boussets* ,, jüdisch-christlichem Schulbetrieb in Alexandria und Rom" vor. In Verfolgung einer These Brehiers zeigt Bousset, daß sich Philo in erstaunlich weitem Umfang der in Kollegheften ihm vorliegenden Lehrtraditiou einer ziemlich „liberalen" jü- disch-hellenistischen Exegetenschule bedient, die er tradiert, ergänzt, korrigiert, gegen die er polemisiert aber doch so, daß er sich selbst als einen im Strom dieser Gelehrsamkeit Schwimmenden weiß, der nichts untergehen läßt, was der Schule wertvoll erscheint. So erklärt sich das Widersprechende, Sprunghafte, Weitschweifige und Dispositionslose seiner ganzen Schriftstellerei. So erklärt sich aber auch mit einem Schlage das Schrifttum des Clemens Alexandrinus : die Excerpta ex Theodoto so gut wie die Eclogae propheticae und das viel- behandelte achte Buch der Stromata, ja selbst die Hypoty- posen erweisen sich als Zusammenstellungen von Kollegheften aus der alexandrinischen Katechetenschule, vor allem aus den Vorlesungen des Pantänos. Bousset führt hier mit Glück die von CoUomp und Ernst begonnene Arbeit weiter. Von da aus begreift sich aber auch die Entstehungsgeschichte der Stromata überhaupt als ein Ringen mit dem tradierten Stoff, der in den ersten fünf Buchern ursprünglich noch leidlich be- herrscht wurde, dann sich in Einschüben der cura posterior stärker zur Geltung brachte, um vom sechsten Buch an den alternden Clemens sich ganz zu unterwerfen. Die nahe Ver-

' W. Bougset Jüdisch-christlicher Schidbctricb in Alexandria und Rom. 'iüttingen, Vandenhoeck Sc Ruprecht. 1915. (= Forschungen z. Rel. n. Lit., hisg. V. ßouaaet u. Gankel. II. 23.)

Geschichte der christlichen Kirche 455

Tvandtschaft der Gnosis des Pantänos mit der Valentinianisclien wird von Bousset mit Recht betont und die Linie Valentin Pantänos Clemens— Origenes in ihrer historischen Bedeutung gewürdigt. Harnack hat das in seiner Besprechung^ mit Nach- druck aufgenommen. Das dritte Buch wendet die gefundenen Gesichtspunkte auf Irenaeus, Justins Dialog, den I. Clemens- brief, Hebräerbrief und Barnabasbrief in äußerst ertragreicher Weise an und schafft damit ein wirklich lebendiges Bild von altchristlichem Schulbetrieb und dem freien, pneumatischen ÖLddöy.aXog der alten Zeit, ehe das bischöfliche Lehramt ihm seine Freiheit und seine Tätigkeit nahm. Dieser Prozeß hat sich in den einzelnen Gegenden zu sehr verschiedener Zeit ab- gespielt, in Alexandria hat der diddöxalos Origenes erst gegen 240 endgültig dem Bischof weichen müssen.

In seinen „Hauptproblemen der Gnosis" hatte Bousset 1907 den großzügig angelegten Versuch gemacht, die gnostische Be- wegung als eine in gewissem Sinne einheitliche Erscheinung der allgemeinen Religionsgeschichte zu begreifen. In scharfem Gegensatz dazu hatte Harnack betont, daß die geschichtliche Bedeutung der Gnosis in den Schulen und Persönlichkeiten der christlichen Gnostiker liege und der orientalisierende Synkretis- mus nur als mehr oder weniger ornamentales Beiwerk zu bewer- ten sei. Mit Nachdruck stellt sich der durch seine Clemensstudien und seine IntroducUon ä Ve'tude du gnosticisme als ausgezeich- neter Forscher bekannte Pariser Gelehrte Eugene deFaye^ auf Harnacks Seite. Er bemängelt an Boussets Werk die unzu- reichende Quellenkritik, welche alte und junge Nachrichten, authentische Äußerungen der unmittelbar Beteiligten und phan- tastische Kompilationsarbeit auf die gleiche Stufe stellt. Was im IL Jahrhundert sich mit Stolz Gnosis nannte, war theolo-

1 Theol Lit. Ztg. 1915, 537.

* Eugene de Faye Gnostiques et Gnosticisme. Etüde critique des documents du gnosticisme chretien aus II et III siecles. Paris, Leroux 1913. (= Bibl. de l'ecole des hautes etudes. scieuces religieuses. vol. 27.)

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gisch-kosraologisch bestimmtes spekulatives Denken: im Wesen nicht verschieden von dem Werk eines Plotin oder Origenes. Basilides, Valentin, Marcion sind solche groß angelegten wahr- haft originalen „Gnostiker" gewesen. Erst allmählich drängen sich daneben inferiore Sekten mannigfaltigen und unklaren Ursprungs ans Licht, die um 200 in Rom große Bedeutung gewinnen Hippolyt weiß viel von ihnen zu erzählen und nun ihrerseits die Lehren der alten Schulen zu trüben und buntscheckig zu gestalten beginnen. Bei ihnen tritt an die Stelle der philosophischen Gnosis die Heilswirkung des Sakraments. Die koptischen Quellen, Pistis Sophia und die Bücher Jeu geben ein Bild der wilden Entartung und geist- losen Phantastik dieser minderwertigen Gnosis des 111. Jahr- hunderts. Die Vorzüge des glänzend geschriebenen Buches zeigen sich am reinsten in der feinen Analyse der großen gnostischen Systeme man lese etwa die Zeichnung Marcions. Seine Schwäche ist aber unweigerlich die runde Ablehnunor des religionsgeschichtlichen Gesichtspunktes, durch den allein ein volles Verständnis nicht nur für die Einzelzüge der „in- ferioren" Gnosis, sondern gerade erst recht für den ganzen gewaltigen Strom ermöglicht .wird, der um die Zeitenwende aus dem Orient hervorbricht und das ganze Mittelmeerbecken überschwemmt. So viel aucli de Fayes Kritik im einzelnen fördern mag, sein Buch wird nicht an die Stelle, sondern als wertvolle Korrektur an die Seite des Boussetschen Werkes treten, das die entscheidenden Gesichtspunkte auch für die künftige Forschung geben wird. Eine hübsche Übersicht über die Geschichte der Gnosis bietet ^V. Köhlers' kleines Heft. Zur Kenntnis der Bardesanischen Gnosis liefert F. Haase^ einen nützlichen Beitrag durch eine sorgfältige Quellenstudie über

* Walther Köhler Die Gnosis. Tübingen, Mohr. (Rel.gesch. Volks- bücher IV, 16).

' Felix Haase Zur liardesanischm Gnosis. Literarkritische und dog- mengeschichtliche Untersuchungen. Leipzig, Hinrichs 1910. (Texte u. Unters. 34, 4.)

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das Verhältnis des gegen den Sternglauben gerichteten syri- schen Dialogs „Das Buch der Gesetze der Länder" (von Nau in der Fatrologia syriaca I 2. 1907 neu ediert) zu den grie- chischen Zitaten Eusebs und den Parallelstellen der Klemen- tinischen Rekognitionen, der weitere Untersuchungen, insbe- sondere über die Hymnen der Thomasakten beigefügt sind. Eine vortreffliche Darstellung der literarischen und theolo- gischen Persönlichkeiten der Apologeten bietet Aime Puech.' Sein Buch ist in manchen Beziehungen der Gnostikerstudie seines Pariser Kollegen de Faye verwandt: auch hier das liebe- volle Eingehen auf die Denkweise des einzelnen Schriftstellers, das Bestreben, seine Problemstellung und Argumentation psy- chologisch zu verstehen, dazu eine vorsichtige, ja, ängstliche Zurückhaltung in der Annahme äußerer Einflüsse etwa der griechischen Philosophie oder jüdischer Apologetik, von der kaum gesprochen wird. Die Fußnoten geben kurze Ausein- andersetzungen mit anderen Forschern, eine Anzahl Anhänge behandelt einige Einzelprobleme genauer.

Eine umfancrreiche Studie über das Wort, sacramentum legt de Bäcker^ vor: TertuUians Sprachgebrauch ist der Angel- punkt. Bei ihm finden wir zuerst ein Hinübergehen über das übliche (= Fahneneid) zu der Bedeutung, die das Wort bis heute vornehmlich hat, und daneben noch mancherlei andere Verwendung. Das wird in ausführlicher Interpretation der einschlägigen Stellen vorgetragen und sodann die These auf- gestellt, daß Tertullian diesen neuen und mannigfaltigen Sprach- gebrauch von nirgendwoher, am wenigsten aus heidnischer Kultsprache, entlehnt, sondern selbst geschaffen hat. Sodann wird die Sakramentstheologie TertuUians breit dargestellt, die „Sakramente" der heidnischen Mysterien untersucht, um auf

^ Aime Puech Les apologistes grecs du II« siede de notre ere. Paris, Hachette 1912.

' Emile de Backer Sacramentum, le mot et Videe repre'sente'e par lui dans les oeum'es de TertuUien. Louvain, 1911. (= Recueil de travaux, N. 30.)

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diese Weise auch den materiellen Inhalt des Wortes klarzu- stellen, und dann jede Beeinflussung des Christentums von außen her abgelehnt. Eine Vermahnung an die Religions- historiker zur „Rückkehr auf den historischen, durch strenge philologische Arbeit vorbereiteten Boden" schließt das Buch. In den „Scrij)ta pontificii institiiti hihlici'' ist der erste Teil einer groß angelegten Arbeit H. Schumachers^ über „Christus in seiner Präexistenz und Kenose" erschienen, der eine ein- gehende Geschichte der Auslegung von Philipper 2, 5 8 ent- hält. Der Franziskaner Eleazar Schulte^ stellt die Meinungen der Kirchenväter über das menschliche Wissen Jesu zusammen. E. Weigl' widmet der Christologie des Athanasius eine sorg- fältige Studie, in der er auch die zwei Bücher gegen Apol- linaris nebst anderen dubia für seinen Autor zu retten versucht; mir doch nicht überzeugend. Dem vielgequälten Begriff dysvvtjtog widmet P. Stiegele^ ^ine dogmeuhistorische UntersuchuDg, die freilich als Hauptresultat feststellen muß, daß erstaunlicher- weise erst seit Epiphanius um 375, dann im V. Jahrhundert mehrfach mit Betonung ein scharfer Unterschied zwischen dyivrjros und dyivvrjxog festgelegt wird. F. Hünermann^ untersucht die Bußlehre des hl. Augustinus und sucht sie in die Dogmengeschichte einzureihen, freilich ohne eine ernst- hafte Wandlung oder Entwicklung dieser Lehre anzuer-

" Heinrich Scliumacher Christus in seiner Fräexistenz und Eenose nach riiil. 2, .5 8. Rom, Verlag des päpstl. Bibelinstituts 1914. (Scripta Pontificii Instituti Biblici.)

* Eleazar Schulte Die Entuicklung der Lehre vom menschlichen Wissen Christi bis zum Beginn der Scholastik. Paderborn, Schöningh, 1914. (Forschungen /,. chriatl. Lit. u. Dogmengesch., hrsg. v. Ehrbard u. Kirsch, XII '1.)

^ Eduard Weigl Untersuchungen zur Christologie des hl. Athana- «u«. 1914. (ebd. XII 4.)

* Paul Stiegele IJcr Agennesiebegrif}' in der griechischen Theologie desIV.Jli. Frcil/urg i. B., Herder 1913. (Freiburger Theol. Studien, hrsg. V. Hoberg u. Pfeilschifter, Nr. 12.)

* Friedrich Hünermanu Die Bußlehre des hl. Augustinus. 1914. <ebd. ^Lil 1.)

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kennen: was uns als historisclie Unmöglichkeit erscheint. Der Frage nach Alter und Bedeutung des Meßopferbegrififs bis auf Irenaeus geht J. Briuktrine^ nach, wobei er sich insbesondere mit Wieland auseinandersetzt, fleißig und mit so viel Vorsicht, daß in dem patristischen Teil auch der Nichtkatholik ihm viel- fach zustimmen kann. Ganz nützlich ist die quellenmäßige Übersicht über die theologischen Schulen der morgenländischen Kirchen bis zum VII. Jahrhundert, welche R. Nelz^ in seiner Bonner Dissertation gibt. Den Barnabasbrief erläutert Ph. Haeuser^ fleißig, aber nicht immer glücklich. Eine zwar keines- wegs erschöpfende, aber doch fördernde Studie über die Legenden von der Auffindung des hl. Kreuzes gibt J. Straubinger.* Eine sehr sorgfältige dogmengeschichtliche Studie mit literarischen Ergebnissen, die sich mit Morins Arbeiten vielfach berühren, liefert H. Kayser^ über den jüngeren Arnobius (um 450).

Unter dem Namen des Nilus vom Sinai geht ein umfang- reiches Briefkorpus nebst einer nicht geringen Zahl asketischer Werke: K. Heussi'' hat diesem ganzen Schrifttum eine kriti- sche Untersuchung gewidmet, die dem vertrauenden Benutzer der Migneausgabe bös die Augen öffnet. Was bisher überall vom Leben des hl. Nilus zu lesen war, ist aus einer roman- haft fingierten und weiter ausgeschmückten Legende der Sinai- märtyrer entnommen; für Nilus historisch wertlos. Das umfang- reiche Brief korpus enthält einige wenige Briefe, welche sicher in

1 Johannes Brinktrine Der Meßopferlegriff in den ersten ztcei Jahr- hunderten. Freiburg i. B. 1918. (Freiburger Theol. Studien, Nr. 21.)

* Robert Xelz Die theologischen Schulen der morgenländischen Kir- chen während der sieben ersten christlichen Jahrhunderte in ihrer Bedeu- tung für die Ausbildung des Klerus. Bonn 1916.

ä Philipp Haeuser Der Barnabasbrief neu untersucht und neu erllärt. Paderborn, Schöningh 1912. (Forschungen, hrsg. v.Ehrhardu. Kirsch, XI 2.)

■* J. Straubinger Die Kreuzauffindungslegende, (ebd. XI 3). 1912.

^ Heinrich Kayser Die Schriften des sog. Arnobius junior dogmen- geschichtUch und literarisch untersucht. Gütersloh, Bertelsmann 1912.

« Karl Heussi Untersuchungen zu Nilus dem Asketen. Lpz., Hin- lichs 1917. (Texte u. Unters. 42, 2.)

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die Zeit um 400 weisen: aber sonst nichts Persönliches. Ja. die Behauptung Heussis, daß diese Briefe alle -wirklich abge- sandte Briefe, keine fingierte Korrespondenz seien, ist wenig glaub haft. Möglich, daß ein kleiner Grundstock echter Briefe vor banden ist: die Masse macht den Eindruck literarischer Mache nach berühmten Mustern und unter Ausnutzung älterer Auto ren. Aber ohne handschriftliche Prüfung der Überlieferung kommen wir hier nicht vorwärts; wir stehen noch tiefer im Nichts drin, als Heussi zugeben möchte. A. Glas^ führt der Gelasius von Caesarea, den 395 gestorbenen Neffen des Kyrill von Jerusalem, eigentlich erstmalig in die Literaturgeschichte ein. Er galt bisher auf Grund einer Notiz des Photios cod. als Übersetzer der Kirchengeschichte Rufins» ins Griechische. Glas weist überzeugend nach, daß vielmehr umgekehrt Rufins Kirchengeschichte eine Übersetzung des Originalwerkes dei Gelasios von Caesarea ins Lateinische ist. Den griechischen Ur- text haben uns zum Teil Gelasios von Kyzikos und Georgios Monachas erhalten. Eine fleißige und übersichtlich angeord- nete, wenn auch nicht alle Probleme ausschöpfende Unter- STjchung der Quellen des Kirchenhistorikers Sozomenos gibt G. Seh 0 0." Eine Biographie des Synesios von Kyrene biete' G. Grützmacher', die wir als Kommentar zu der von ihn angekündigten Ausgabe der Synesiosbriefe ansehen dürfen. Der gelehrte Unterbau ist in knappe Anmerkungen verwiesen; der Text selbst bietet eine flott geschriebene Schilderung der Zeit und der Lebensumstände, der politischen und literarischen, philosophischen, theologischen und der besonders reizvoller.

' Anton Glas Die Kirchengeschichte des Gelasios von Kaisareia, dit Vorlage für die beiden letzten Bücher der Kirchengeschichte Rufins. Lpz. Teubnei: 1914. (Byzant. Archiv, Nr. 6.)

* Georg Schoo Die Quellen des Kirchenhistorikers Sozomenos. Berlin, Trowitzsch 1911. (Nene Studien, hrsg. v. Bonwetsch u. Seeberg, Nr. II. Vgl. dazu G. Loeicheke in der Theol. Lit.-Ztg., 1912, 560.

' Georg Grützmacher Synesios von Kyrene, ein Charakterbild am dem Untergang des Hellenentums. Lpz., Deichert 1913.

Geschichte der christlichen Kirche i^ß\

menschlichen Persönlichkeit dieses feinen, tapferen Mannes. Unter dem Titel „Eusebiana" hat H. J. Lawlor^ einige Auf- sätze zusammengestellt, die schon früher in der Hermathena oder dem Journal of Theologicdl Studies erschienen waren: Über Hegesipps Hypomnemata (nebst Fragmentsammlung), die Montanisten, die kleineren Sammlungen von Aktenstücken, Brie- fen oder Schriften, die in Eusebs Kirchengeschichte benutzt sind, aber die Chronologie der palästinensischen Märtyrer. Neu hinzuge- treten ist eine Abhandlung, welche die im IX. Buch der Kirchen- geschichte behandelten Ereignisse der Jahre 311 314 genauer zxL datieren unternimmt. In seiner letzten Studie kritisiert er B. Schwartz' Ansicht über die vier Ausgaben der Kirchen- Geschichte und stellt eine andere Theorie dagegen: beim Er- scheinen des Toleranzediktes hatte Euseb die ersten sieben Bücher vollendet (erste Ausgabe) : er fügte Buch 8 nebst einem Auszug aus dem eben entstandenen Werk über die palästinen- sischen Märtyrer hinzu (zweite Ausgabe: vor Nov. 311). Dann wurde Buch 8, teilweise auch 7 und die Märtyrerschrift neu revidiert. Buch 9 hinzugefügt (dritte Ausgabe Ende 313). Schließlich Buch 9 leicht überarbeitet und Buch 10 geschrie- ben (vierte Ausgabe 324/325), Die Teubnersche Sammlung ^,Aus Natur und Geistes weit" bringt eine bisher zwei Hefte umfassende „Geschichte der christlichen Kirche" von H, v, Soden^, die bis zur Konstantinischen Zeit reicht, und von M. Cornill' eine „Theologie", d. h. eine für Laien bestimmte recht anschauliche Einführung in die theologische wissen- schaftliche Arbeit. Franks^ Vademecum für angehende Theo-

^ Hugh Jackson Lawlor Eusebiana, JEssays on the ecelesiastical nstory of Eusebius. Oxford, Clarendon Press. 1912,

'^ Hans Freiherr v. Soden Geschichte der christl. Kirche. I. II. Lpz., Teubner 1919. (Aus Natur u. Geisteswelt, 690, 691.)

* Martin Cornill Theologie, Einführung in ihre Geschichte, ihre Er- gehnisse und Probleme. Teubner 1911. (ebd. 347.)

* Fr. H. R. V. Frank Vademecum für angehende Theologen 2. Aufl. 7. H. Grützmacher. Lpz., Deichert 1918.

462 Hans Lietzmann

logen hat H. Grützmacher neu bearbeitet, die alte Erlanger Theologie in modern-positivem Sinne weiterführend. Die beiden kleinen Grundrisse der Dogmengeschichte von N. Bonwetsch^ und R. Seeberg^ haben neue Auflagen erlebt. Ein umfang- reiches Werk über den römischen Staat und das Christentum bringt A. Mauaresi.^ In elf Kapiteln werden die verschie- denen durch die Individualitäten der Kaiser oder den Geist der Zeit bestimmten Perioden behandelt. Etwas mager ist das einleitende Kapitel über die Quellen. Hier und in den späte- ren Kapiteln des Textes vermißt man die Wirkung von E. Schwartz' zahlreichen Arbeiten; auch kritische Auseinander- setzungen finden sich selten, meist nur Verweise auf die Kon- troversliteratur. Diese selbst wie überhaupt die Literatur wird dagegen reichlich in den Anmerkungen zitiert, desgleichen die Quellen, deren Wortlaut sogar öfter mitgeteilt wird. Der Hauptnachdruck liegt auf der breit erzählenden Darstellung, die sich denn auch recht gut liest. Über die Nerouische Christen- verfolgung speziell handelt G. Schoenaich*, über die „syri- schen" Kaiser (Caracalla, Elagabal, Severus Alexander) und das Christentum bringt K. Bihlmeyer^ eine sorgfältige Studie. Die äußere Lage und innere Entwicklung des Christentums bis auf Konstantin skizziert A. Ehrhard^ in einer Straßburger Rektoratsrede. D.ts tausendjährige Jubiläum des Mailänder Toleranzediktes von 313 hat eine nicht unerhebliche Litera-

* N. Bonwetach Grundriß der Dogmengeschichte. 2. Aufl. Gütersloh, Bertelsmann 1919.

* R. Reeberg Grundriß der Dogmengeschichte. 4. Aufl. Lpz., Deichert 1919.

' Alfonso Manaresi L'impcro Romano e il cristiancsimo. Torino, Bocca 1914.

* Gustav Schoenaich Die Neronische Christenverfolgung. Breslau, Trewendt & Granicr 1911.

* Karl Hihlraeyer Die „syrischen" Kaiser zu Rom (211 35) und das Christentum. Kritische Studie. Rotteuburg a. N., Bader 1916.

* Albert Ehrhard Das Christentum im römischen Reiche bis Kon- stantin. Straßburg, Heitz (Straßburger Rektoratsreden) 1911.

Geschichte der christlichen Kirche 463

tur hervorgerufen. Hier sei genannt H. Koch^, der „Kon- stantin den Großen und das Christentum" nicht ohne Seiten- blicke auf die Gegenwart charakterisiert. Die Quellen über Konstantins Kreuzesvision hat J. B. Aufhauser' bequem zu- sammengestellt: eine kritische Abhandlung, welche das Er- eignis als eine psychologisch begreifliche Illusion auffaßt, liefert der Bonner katholische Kirchenhistoriker H. Schrörs.' Ein Sammelwerk unter dem Titel „Konstantin der Große und seine Zeit" hat F. J. Dölger* herausgegeben. Darin schildert E. Krebs zunächst „die Religionen im Römerreich zu Beginn des vierten Jahrhunderts" ein zu großes Unterfangen für den engen Raum. J. Wittig verteidigt gegen 0. Seeck die Exi- stenz eines Mailänder Toleranzreskriptes. A. Müller würdigt des Lactanz Schrift de mortibus persecidorum als Quelle für die Stimmung der damaligen Christenheit. Über die Bei- Setzungsstätte des diokletianischen Märtyrers Felix von Salona handelt F. Bulic. Den Gedankengang der Rede Konstantins an die Versammlung der Heiligen, deren Echtheit er verteidigt, legt J. M. Pf attisch dar. Durch eine höchst nützliche Zu- sammenstellung der Nachrichten über Stenogramme von Syn- oden bis cresen 400 macht A. Wikenhauser die Existenz auch nizänischer Synodalprotokolle wahrscheinlich. Konstan- tin als Feldherr wird von Generalleutnant z. D. v. Land- mann gewürdigt. Ausführlich und lehrreich untersucht J. Dölger die nicht wenigen Probleme, die sich an die Taufe Konstantins knüpfen. Die übrigen Beiträge gehören dem

* Hugo Koch Konstantin der Große und das Christentum. München, Mörike 1913.

* J. B. Aufhauser Konstantins Kreuzesvision in ausgewählten Texten vorgelegt. Bonn, Marcus u. Weber 1912. (Kleine Texte 108.)

^ Heinrich Schrörs Konstantins des Großen Kreuzeserscheinung, Bonn, Hanstein 1913.

* Franz Joseph Dölger Konstantin der Große und seine Zeit. Ge- sammelte Studien. Festgabe zum Konstantinsjubiläum 1913 und zum goldenen Priester Jubiläum von Mgr. Dr. A. de Waal. XX. Supplement- heft der Römischen Quartalschrift. Freiburg i. B., Herder 1913.

464 Hans Lietzmann

archäologischen Gebiet au und werden später zur Sprache kommen. An patristischen Monographien liegen weiter vor eine treffliche Studie von E. Dubowy^ über die Reise Pauli nach Spanien, eine fleißige Arbeit E. Bayers" über Isidors von Pelusium klassische Bildung und eine wenig ergiebige Untersuchung von H. Doergens^ über Euseb als Darsteller der phönizischeu Religion. Die Erkenntnistheorie des hl. Augustin hat J. Hessen^ neu untersucht mit dem Ergebnis, daß bei ihm zu unterscheiden sei zwischen dem Gebiet der Erkenntnis a priori, der sapientia, die ihre Quelle in göttlicher Erleuchtung hat, und den auf Erfahrung beruhenden niederen Erkenntnissen der scientiae. Eine tiefgreifende Würdigung Augustins unternimmt E. Troeltsch^ durch die Prüfung der Frage, ob er wesentlich als Herold einer neuen Zeit, des abendländischen Mittelalters oder als abschließender Höhe- punkt der Antike zu begreifen sei. Troeltsch nimmt ihn mit Recht ausschließlich für die Antike in Anspruch und zeigt mit seiner bereits an anderen Problemen bewiesenen Meister- schaft im Herausarbeiten der Kontraste, wie fern das klas- sische Mittelalter mit seinen Idealen dem echten Augustiu steht. Aber die Grundlage dieser Beweisführung bildet eine glanzvolle positive Darlegung der augustiuischen Gedanken- welt an der Hand der gerade für dies Problem ohnehin stets

* Ernst Dubowy KJemens von Rom über die Reise Pauli nach Spa- nien. Freiburg i. B., Herder 1914. (= Bibl. Studien, hrag. v. Barden- hewer, XIX 3.)

* Leo Bayer Isidors von Pehisium Idassische JSildung. Paderborn, Schöningh 1915. (= Forschungen, hrsg. v. Kbrhard u. Kirsch, XJII 2.)

' Heinrich Doergens Eusebius von Caesarea als Darsteller der phöni- zischen lielujion. Eine Studie zur Geschichte der Apologetik. 1915. (ebd. XH 6.)

* Johannes Hessen Die Jiegrvndutig der Erkenntnis nach dem hl. Augitstinus. Münster i. W., Aschendorff 191(',. (Beiträge z. Qeschichttj d. Philosophie d. Mittelalters, hrsg. v. C. Biiumker, XIX 2.)

* Ern.st Troeltsch Augustin, die christliche Antike und das Mittel- alter, im Anschluß an die Schrift „De Civitate Dei". München u. Ber- lin, Oldenbourg 1915. (Histor. Bibliothek Bd. 36.)

Geschichte der christlichen Kirche 465

am Mittelpunkt stehenden Schrift de civitate dei\ Augustin wird als Schöpfer einer neuen Kulturethik gezeichnet. Die Oottheit als unendlich wirkende Liebe ist das höchste Gut, Ton dem aus alles gewertet wird: so wird die Erfassung Got- tes in Liebe, der amor der, das sittlich Gute, die Eigenliebe ■das Wesen des Bösen: damit sind die Prinzipien der civitas 4ei und der civitas ierrena bestimmt. Hieraus ergibt sich eine aktive Ethik der Liebesbetätigung, welche auch die Askese nur in der Bekämpfung der Selbstsucht begründet, Christi Menschwerdung als Offenbarung der Gottesliebe und somit als Vorbild wertet, und in eine positive Einschätzung der Dinge dieser Welt als der von Gott begründeten Mittel zur Übung der Nächstenliebe und Erreichung des höchsten Gutes ausmündet. Somit kann und soll den Kulturwerten eine Be- ziehung auf Gott gegeben werden uud sie ordnen sich in eine Stufenreihe nach Maßgabe ihrer Eignung für diesen höchsten Zweck. Daneben steht aber die wie Troeltsch mit Recht hetont im letzten Grunde auf gnostischem Boden gewach- sene und durch eigene Lebenserfahi*ung bestärkte Lehre Augu- fltins von der Sünde als der im Fleisch und besonders im Sexuellen sich aaswirkenden Macht des Bösen, die zu morti- fikatorischer Askese und Weltflucht führt. Aus der einen "Gedankenreihe erwächst die Hoffnung auf eine Durchdringung der antiken Kultur mit christlichen Gedanken, aus der anderen •die pessimistische Stimmung, die sich aus dem allgemeinen Zusammenbruch dieser dem Ende zuneigenden Welt ins Kloster rettet, wo allein wahres Christentum betätigt werden kann. Hier wie dort hat das Mittelalter Augustins Gedanken als Gefäße benutzt, in die es einen anderen, derberen Inhalt ^oß. Nahe mit diesen Gedankengängen berührt sich ein fein durchdachter Aufsatz E. Bickels^ über das asketische Ideal

* Ernst Bickel Das asketische Ideal bei Ambrosüis, Hieronymtis und Augustin. Eine kulturgeschichtliche Studie, Lpz., Teubner 1916. (S.-A. aus IlbergB Neuen Jahrbüchern, 1916. I.)

ArolÜT f. Beligiouswisaengchaft XX. S/i 30

4ßg Hans Lietzmann

bei Ambrosius, llieronymus und Augustin, der aber zugleich die These von Troeltsch als zu eng bekämpft und neue Ge- sichtspunkte beibringt. Nicht bloß Augustin, sondern alle die drei großen Abendländer zeigen im Gegensatz zum Morgen- land, welches nur die negative Mönchsaskese kenut, eine Ver- ein! o-uug der älteren asketischen Ideale: des evangelischen der Entsao-ung um der Brüder willen, des gnostisch-mönchischeu der Abtötung der Sinnlichkeit und des philosophischen der völlisen Hingabe an Wissenschaft und Kunst. Dadurch geben sie der Askese einen sozialen, kulturellen Wert und befähigen sie zu der zeitgemäßen Aufgabe „rein geistiges Leben unter der PlüUe robusten Selbsterhaltungstriebes den Nächsten der Zukunft zu übermitteln": und so sind diese drei Großen die Mittler zwischen Antike und Mittelalter geworden. Der Gegen- satz gegen Troeltsch ist hier doch nicht so groß, wie er scheint. Dem Geist des ältesten orientalischen Mönchturas hat R. Reit- zenstein' eine große Studie gewidmet, in der er die an der athanasianischen Antoniusvita begonnene Arbeit fortsetzt. Die Sammelwerke der Palladius zugeschriebenen Historia Lau- siaca und der Historia monacJtoriwi , deren griechischer Text anonym ist, während der lateinische von Rufin stammt, werden auf Quellen und Vorstellungsgehalt eingehend geprüft. Ein Referat, und wäre es auch sehr ausführlich, kann von der Fülle der behandelten Themata kein rechtes Bild geben. Ein- zelnovellen liegen vor uns, mit mannigfaltiger Tendenz, in mehrfach geänderter Form, schließlich in die Rahmenerzählung eines Keiseberichts durch die ägyptischen Klöster eingespannt. In der Historia monachorum^ ist die Tendenz des Sammlers,

' Richard Reitzenstein Historia MonacJiorum und Historia Lausiaca, eine Studie zur Geschichte des Mönchtums und der frühchristlichen Be- griffe Gnostiker und l'neumadker. Göttingen, Vandenhoek & Ruprecht 1916. (Forschungen etc., hrsg. v. BouBset u Gnnkel, H. 24.)

* Ich halte doch Ratin nur für den Übersetzer, was er ja immßr ist. Der lateinische Text ist überall, wo er unserem griechischen par allel läuft, rhetorisch erweiternde Paraphrase, Al<er er hat eine vielfach

Geschichte der christlichen Kirche 467

den wunderkräftigen Übermenschen, den Vollkommenen , za schildern: den Pneumatiker, der den altkirchlichen Märtyrer ab löst. Dieser wird aber in den Farben des Grnostikers, des d-stog avd-QC37Cog der hellenistischen und neupythagoreisch eu Mystik geschildert: das führt Reitzenstein im einzelnen durch, wobei auch Euagrius und Diadochos von Photike als Theore- tiker der mönchischen yvcböig gewürdigt werden: der Gnosti- ker als der Vollkommene sondert sich von dem Asketen niederer Gattung. In der Historia Lausiaca ergehen sich deut- liche Beziehungen zu Euagrius. dessen Schüler der Verfasser sein muß: aber der „ägyptische" Teil c. 5 24 stellt sich als eine Einlage dar, welche pneumatische Ansprüche der Asketen ablehnt im vollen Gegensatz zum Kontext des Haupt- werkes. Es folgen sehr feine Beobachtungen über häretisches Mönchtum, das im Besitz des tcvsv^u der kirchlichen Gnaden - mittel entraten zu können glaubt und schließlich eine ins- besondere mit Harnack sich auseinandersetzende Darlegung des hellenistischen und mystischen Charakters der Gnosis und des Idealbildes des Pneumatikers. Als ersten Band einer Ge- schichte der frühchristlichen Askese legt H. Strathmann^ eine Darstellung der Askese in der Umgebung des werdenden Christentums vor: d.h. er schildert eingehend die Askese im palästinensischen und hellenistischen Judentum, in der römi- schen und griechischen Religion, in der Stoa, dem Neupytha- goreismus und dem Neupiatonis mus. Sorgfältig werden alle Nachrichten zusammengetragen, Quellen und Literatur ständig angegeben und auf diese Weise ein wertvolles Nachschlage- abweichende und oft bessere griechische Vorlage gehabt, als es der uns erhaltene griechische Text ist. Das erklärt die zutreffenden Beob- achtungen Reitzensteins besser als die Annahme , der Grieche habe Rufins Latein übersetzt.

* H. Strathmann Geschichte der frühchristlichen Askese bis zur Ent- stehung des Mönchtums im religionsgeschichtlichen Zusammenhang e. Bd. I: Die Askese in der Umgebung des werdenden Christentums . Leipzig, Deichert 1914.

468 Hans LietzmanD Geschichte der christlichen Kirche

werk geliefert, das viele mit Dank benutzen werden. Eine die Probleme in ihrer Tiefe packende wirkliche Geschichte der Askese erhalten wir freilich nicht: können es auch bei dieser Art der Behandlung nicht erwarten. Die älteste Periode der Verfassungsgeschichte sucht E. Metzner^ im Gegensatz zu Hamack in katholischem Sinn zu erfassen, ganz scharfsinnig und unter eingehender Quelleninterpretation, aber schließlich doch mit Annahmen, die uns historisch unmöglich erscheinen. Zwischen Hamack und E. Schwartz war eine lebhaft ge- führte Kontroverse ausgebrochen über die Echtheit eines von diesem publizierten syrischen Synodalbriefes, der eine höchst bedeutsame Antiochenische Synode vor der Nicänischen er- schließen ließ, Erich Seeberg^ untersucht die ganze Frage eingehend und mit hervorragendem historischen Ge- schick und entscheidet den Prozeß im Sinne von E. Schwartz, d. h. zugunsten der Echtheit der Urkunde.

* Emil Metzner Die Verfassung der Kirche in den ersten zwei Jahr- hunderten, unter besonderer Berücksichtigioig der Schriften Harnacks. Danzig, Westpreußischer Verlag 1920.

' Erich Seeberg Die Synode von Antiochien im Jahre 324/25. Ein Beitrag zur Geschichte des Konzils von Nicäa. Berlin, Trowitzach 1913. (Neue Studien z. Gesch. d. Theol. u. Kirche, hrsg. v. Bonwetsch u. See- berg, Bd. 16..

4 Kleine Anzeigen': Zur Volkskunde

Von Otto Weinreieh in Tübingen

Volkskundliche Bibliographie für das Jahr 1918 im Auftrage d. Verbandes Deutscher Vereine f. Volkskunde hrsg. v. E. Hoffmann -Krayer (Berlin u. Leipzig 1920, Vereinig, wissensch. Verleger. XVII u, 126 S.). Es liegt nicht am Herausgeber, wenn diese Bibliographie trotz ihrer 1391 Nummern noch nicht alle volkskundlichen Aufsätze registriert, sondern an der mangelnden Zugänglichkeit vieler, namentlich ausländischer Publikationen. Daß aber das Erreichbare von H.-Kr. ebenso fleißig vn.e tadellos sauber verarbeitet wurde, braucht nicht erst betont zu werden. Diese Bibliographie bildet die notwendige Ergänzung zu der Clemens : Religionsgeschichtliche Bibliographie hrsg. v. C. Giemen V/VI 1918/19 (Kommissionsverlag von B. G.Teubner, Leipzig-Berlin 1920 IV u. 40 S.), die nach den schon im Archiv 19,558 dar- gelegten Grundsätzen gearbeitet ist. Ein Vorzug der volkskund- lichen Bibliographie liegt in dem Sachregister. Vielleicht läßt sich das künftig auch der anderen beigeben!

Festschrift für Ed. Hoffmann -Krayer hrsg. v. H. Bächtold (= Schweizerisches Archiv f. Volkskunde Bd. XX 1916. Schweiz. Gesellschaft für Volkskunde Basel. 542 S.). Zahlreiche Ge- lehrte des Li- und Auslandes haben dem hochverdienten Gründer der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde und Herausgeber des Schweiz. Archivs, den ja auch unser Archiv unter seine Mit- arbeiter zählen darf, diese stattliche, reich illustrierte Festschrift dargebracht. Die Raumknappheit verbietet es, die Beiträge alle einzeln aufzuführen. So greife ich nur einiges heraus. An Albrecht Dieterichs nachgelassenen Aufsatz über den Ritus der verhüllten Hände knüpfen Bächtold und Fehrle an (zum Problem der Ver- hüllung s. jetzt auch Pehr Lugn, Die magische Bedeutung der weibl. Kopfbedeckung im schwedischen Volksglauben, Wien, Anthropol. Gesellschaft 1920); beide lassen sich, wie auch Dieterich, entgehen, daß ^ie drei flamines im Dienste der Fides mit verhüllter r. Hand opfern und die Göttin selbst mit verhüllter Hand dargestellt wird (Otto, P.W. VI 2282; Wien. Stud. 34,320). Von methodischem

* Die unvermindert herrschende Raumnot zwingt zu dieser, zunächst nur vorläufigen Neuerung. Ich habe nur zur Besprechung eingereichte Schriften berücksichtigt.

470 ö**o Weinreich

Juteresse ist der Beitrag von Helm, Häufung der Zauberuiittel, und Bertholet, Landbau und AT. Mit gewohnter Gelehrsamkeit behandelt Bolte eine Versnovelle des 15. Jhds., Meier ein Volks- lied, Singer alte Schweizer Sijrichwörter. Stoffreich ist Sartoris Aufsatz Diebstahl als Zauber. Geiger, über die blaue Farbe bei den Totenbräuchen, zeigt, daß neben Schwarz und Weiß auch diese Farbe wichtig ist, wozu man die unten augezeigten Aufsätze von Borinski über Braun (Violett) stelle. Der gehaltvolle Beitrag von Becker über Gebetsparodien ist zu bereichern durch Ilvonen Fu- rodies de themes pieiix (Helsingfors 1914). Liebhabern von Baueru- kunst spendet Delacheux Un arüste paysan ausgezeichnete Proben. Die Aufschneidereien des Lugitrittli wären wichtiger, wenn Zahler sie durch Parallelmaterial aus anderen Lügendichtungen kommen- tiert hätte (Nachträge gibt Küffer, Schweiz. Archiv f. Volksk. 2l?. 1918, 115). Zu Feilbergs schönem Aufsatz über das Meer (zu S. 128) sei augemerkt, daß sich auch im Altertum der Glaube schon findet, bei (steigender) Flut stürben die Kranken nicht, Phi- lostrat, v. Apoll. V 2. Der umfangreichste Beitrag: Volkskunde und griechisch-römisches Altertum (auch separat erschienen) wird Was er verdankt, der das von Hoffmaun-Kraj^er selbst entworfene und in seinen volkskundlichen Bibliographien bewährte Dispositions- schema auf die Antike anwendet. Nach einer allgemeinen Einfüh- rung, in der Albrecht Dieterichs Verdienste begeistert gefeiert werden, behandelt Waser 1. Sachliche Volkskunde (Urgeschichte. Wirtschaft und Verkehr, Haus, Tracht, Volkskunst, Nahrung, Volks- glauben, Sitten und Gebräuche, Feste und Spiele, Volksmusik- und -tanze, Gebärden) und 2. Volksdichtung und Volksmund (wieder in einzelnen Gruppen). Mag bei solch weitausgreifendem Gerüst auch nicht Jodes Feld gleich dauerhaft ausgefüllt sein, der eine hier, der andere da etwas vermissen und einfügen können, so verdient dieser energische Versuch einer Zusammenfassung doch die ent- schiedenste Beachtung. Er wird z. B. für Vorlesungen über antike Volkskunde (aber wer hält solche?) willkommene Dienste leisten können. Ich sehe davon ab, die Literaturangaben zu ergänzen oder auf den Stand von 1'.'21 zu bringen hoffen wir, daß bald eine erweiterte Auflage nötig ist! Vom übrigen Inhalt der P'est- schrift kann ich nur noch sagen, daß er jedem etwas bringen wird imd besonders viel, wie natürlicli, für die Schweizerische Volks- kunde ausgibt.

Tll. Zacluiriae Kleine Schriften zur indischen Philo- logie, zur vergleichenden Literaturgeschichte, zur ver- gleichenden Volkskunde (Schroeder, Bonn u. Leipzig 1920 VIII u. 400 S.). Mit dem Verfasser können sich vor allem die Literarhistoriker und Volkskundler freuen, daß ein mutiger Verleger

Kleine Anzeigen: Zur Volkskunde 471

in heutiger Zeit diese Sammlung herausbrachte. Z.s Aufsätze zur indischen Philologie sind allerdings nur in einer kleinen Auswahl vertreten, Aufnahme davon fand lediglich, was sich an einen größeren Leserkreis wendet, die übrigen werden im Vorwort ver- zeichnet. Da es sich um schon veröffentlichte Arbeiten handelt, die unverändert abgedruckt, aber am Schluß mit Nachträgen und Berichtigungen versehen sind, kann die Anzeige kurz sein.

Die Benutzung der Sammlung hätte wesentlich erleichtert wer- den können, wenn Z. im Inhaltsverzeichnis den Ort der ersten Publikation, am Rand deren Seitenzahlen und im Text (meinet- wegen in spitzen Klammern) bei Zusammengehörigem und er kommt ja oft auf gleiche Dinge zurück, häuft Nachtrag auf Nach- trag — die Nummer des Aufsatzes oder Seite des Buches hinzu- gefügt hätte. So muß man hin und her blättern oder mit dem Index suchen, was unnötig Zeit kostet. Den reichen Inhalt des Buches kann ich nicht im einzelnen andeuten; die Archivleser fin- den manche alten Bekannten, auch der klassische Philologe geht nicht leer aus (no. 14. 35. 36 und sonst zerstreute Bemerkungen). Z.s Vielseitigkeit, seine ausgebreitete Belesenheit, sein Sammel- eifer und Spürsinn, der auch kleinsten Dingen mit Liebe nach- geht, treten in helles Licht.

Alltti Aarue Vergleichende Rätselforschungen I— IIl {F.F.Commuidcatmisl^r. 26 28, Helsinki 1918/19, Hamina 1920, Suomalaisen Tiedeakatemian Kustentama, Finnish Academy of Science. 178, 216. 59 S.). Im 1. Abschnitt „Wie Rätsel untersucht werden ■sollen" gibt der bekannte Märchenforscher einen Überblick über "den internationalen Rätselstoff und methodologische Vorbemerkungen. Die beim Märchenmaterial bewährte geographisch -historische und vergleichende Forschungsmethode gelangt dann in Einzeluntersuchungen zur praktischen Anwendung. ' Für jedes Rätsel wird zunächst das älteste erreichbare literarische Material aus den verschiedenen Kul- turkreisen vorgelegt (bei den altgriechischen leider nicht in der Ursprache), dann folgen die im Volke noch lebendigen Fassungen in der bei Aufzählung von Märchenvarianten eingebürgerten geo- graphischen Anordnung, und danach setzt die eigentliche Unter- suchung ein, atomistisch Zug für Zug prüfend, Schicht für Schicht abtragend, bis die Urform herauspräpariert ist. Denn eine der wesentlichsten Veränderungen eines alten Rätsels ist seine Erwei- terung, die jedoch in charakteristischem Gegensatz zum Märchen nicht von dem Gesetz der Dreizahl beherrscht wird (I 23), sondern meist in Analogie- oder Parallelbildungen verläuft. Analysiert werden: 2. Schrift oder Buch („weißer Acker, schwarzer Samen"), 3. Das Jahr (ich mache aufmerksam auf die schwankende Monats- .zahl, meist 12, aber gexade in altertümlichen Fassungen auch 13,

472 Otto Weinreich

vgl. I S. 76. 118. 124), 4. Der Mensch ' (das alte SphinxrätselV Mit diesem Typus hängt zusammen: 5. Zwei- Drei- Vierbein, 6. Die Kuh (mit den verwandten Tierrätseln. Katze, Hund, Pferd usw.), 7. Reiter und Pferd. Wie in 3. und 4. reicht auch in 8. „Vogel federlos" die Tradition in die Antike zurück, wichtig sind da die Zusammenhänge mit den spätantiken Zauberformeln (111 8 f. 43 tf.). Die Methode ist gut, das Material sehr vollständig (zumal für den Norden, dank der Ausnützung der großen hss. Schätze in den dortigen Archiven), das Verzeichnis der gedruckten und ungedruckten Rätselsammlungen willkommen. Ich vermisse darin Hepdings Hes- sische Hausinschriften und byzantische Rätsel (Hess. Blätter f. Volksk. 12, 161), eine ausgezeichnete „vergleichende" Rätselstudie, die auch im 1. Abschnitt Berücksichtigung verdiente. Ebenda hätte zu den Achikar- und Aesoprätseln Hausraths trefflicher Aufsatz beachtet werden können, denn was H. (Sitz. Ber. Akad. Heidelberg 1918 II) für die Fabeln im Achikar erweist, darf wohl auch für die Rätsel angenommen werden. Daß sich A., der beim antiken Material offenbar auf Schöpfen aus zweiter Hand angewiesen ist, gegenüber den Konstruktionen von Wolfgang Schultz skeptisch ver- hält (I 176 f. u. sonst), sei besonders anerkannt, wie überhaupt seine besonnene Kntik und Umsicht alles Lob verdient.

L. Radermaclier Beiträge z. Volkskunde aus d. Gebiet d. Antike (Sitz.-Ber. Akad. Wien, Phil. Hist. Kl. 187, 3. Abh. 1918 Holder 145 S.). Diese Untersuchungen bringen wertvolle Förderung unseres Wissens von antiker Volkskunde und hellen manche Äußerungen antiker Autoren auf. I. Nachbarn (Meta- geitnia, Nachbarrecht, „Nachbarschaften" als kleinste politische Ver- bände). 11. Menschen und Tiere (zur Ethologie von Mensch und Tier, mit näherer Behandlung des testamenium porceUi und des Pa- pyrus-;ra/yvtov über die Liebe des Hahns zur &ciy.u%uXnuq). III. Aller- lei Götter (darin wird KoviöccXog gedeutet, Philoktet 533 TtQoaKvauvzs rr}v i'ö(o auf die Nymphe; der Höhle einleuchtend bezogen, ye^OKaQy.dkyjg gut erklärt und auf den Dionysos der Volksposse bezogen, auf dem Ephesischen Untervveltssarkophag der Pförtner der Unterwelt vielleicht Aiakos erkannt, zu ' Ju^ißi] ein männlicher Partner "luußog vermutet, gewiß mit Recht, s. jetzt v. Wilamowitz, Griech. Verskunst 61, 2) Der umfangreichste Aufsatz IV, Aus altchrist- licher Predigt, behandelt in der Liift liegende Probleme, die gleich- zeitig Nilsson und Schneider in diesem Archiv 19 und 20 auf- griffen. Mag dadurch auch manche Einzelheit ergänzt oder be- richtigt sein, so behalten R.s volk.skundliclie Erläuterungen der Festbräuche vom 1. Januar und 1. März doch ihren Wert. Der letzte Beitrag, V Claudia Quinta, gibt eine mir einleuchtende Er- klärung der Zeremonie bei der Einführung des pessinuntischen.

Kleine Anzeigen: Zar Volkskunde 473

Meteorsteines in Rom. Auf die förderliche Anzeige von R.s Studien durch Waser, Schweiz. Arch. f. Volksk. 23, 50 54 sei verwiesen.^

E. F. Knuchel Die Umwandlung in Kult, Magie und Rechtsbrauch (Schriften d. Schweizerischen Gesellsch. f. Volksk. XY, K. F. Trübner, Berlin - Straßburg 1919) VIII u. 116 S. Von einem Satze Albrecht Dieterichs ausgehend, behandelt K. den Ritus der ümwaadlung bei Geburt, Hochzeit, Dienstantritt und Viehein- stellung, Tod, Krankheit, bei Gebräuchen zu Segen und Schutz des Familienbesitzes , kultischen und rechtlichen Kollektivbegehungen. Das überaus reiche Material ist vorwiegend aus dem Bereich der neueren Kulturvölker geschöpft, aber auch Naturvölker, Orient und Antike sind nicht vernachlässigt, so daß auch der Altphilologe Nutzen von der Arbeit hat. Schade, daß sich K. Eitrems Opferritus und Voropfer entgehen ließ, dessen I.Kap, den Rundgang behandelt (Ergänzungen dazu in Eitrems Beitr. z. griech. Rel.-Gesch. 11 und EU [Kristiania 1917 und 1920]). So arbeiten beide vielfach mit dem gleichen Material, ergänzen sich aber auch, insofern bei Eitrem Antikes, beiK. allgemein Volkskundliches überwiegt. Auf Einzelheiten will ich jetzt nicht eingehen, verweise dafür auf meine in den Gott. gel. Anz. erscheinende Rezension von Eitrems Buch. K. führt den Brauch der Umwandlung auf zwei Grundformen zurück: in der einen wird eine „Bindung", in der anderen, dem Schutzkreis, eine ,. Trennung" bezweckt. Daneben ist aber auch Eitrems Scheidung berechtigt: Umkreisen eines Kraftzentrums (Altar, Kirche, Heiligtum usw.) oder Umkreistwerden einer Person oder eines Dinges mit der ki-afthaltigen Substanz. Apotropäische oder kathartische Zwecke lassen sich nicht immer scharf scheiden.

Die Richtung des Umlaufens (meist nach rechts hin) haben beide Forscher verfolgt, E. eindringender als K. Bei beiden ver- misse ich ein systematisches Eingehen auf die Anzahl der Um- wandlungen. E. hat wenigstens im Register Zahlen notiert, K. macht nur beiläufig S. 29 u. 50 einen Hinweis auf die heilige 3. Wenn ich recht gesehen habe, läßt sich aus K.s Stoff folgendem lehrreiche Ergebnis gewinnen:

2malige Umwandlung: S. 53 (England), 81 (Württemberg),

3 .. : siehe unten,

5 : S. 69f. (Schweiz),

7 ., : S. 26, 30, 30 A. 7 (Indien), 61 (Prank-

reich), 85 (Tirol),

9 V : S. 56f., 60, 76 (nur Frankreich).

72 V : S. 54 (Esthland).

* Zwei andere Abhandlungen Radermachers werden in meinem Be- richt über griechische Religion angezeigt.

474 Otto Weinreich

Dem gegenüber steht, wahrhaft international und überzeitlich, die 3 malige Umwandlung, für die ich über 200 Stellen gezählt habe. Auf der 3 beruht auch die französische Vorschrift, 3, 6, !) oder 12 Runden zu machen. Dazu gesellen sich triadisch bestimmte Verstärkungen des Umlaufs: 3 Personen müssen ihn vornehmen (S 10), 3 Kathrinen (3 Mädchen dieses Namens, S. 67), 3 mal muß der 3 malige Umlauf wiederholt werden, nämlich zu Beginn, um die Mitte und Ende der Nacht (S. 42), 3 Vaterunser (S. 34, 61), 3 Rosenkränze (S. 85) sind dabei zu beten, die 3 höchsten Namen anzurufen (S. 58, 62, 81), 3 mal zu pusten (S. 70 A. 4). Triadisch bestimmte Gegenstände werden umwandelt: 3 Maibäume (S. 92), 3 Steinhaufen (S. 55), ein Feld mit 3 Ecken (S. 55).

Nützlich schiene mir auch ein systematischer Hinweis auf Ver- stärkungen der Umwandlung. Ihre Kraft wird gehoben durch Nackt- heit, geöffnete Kleider, Schweigen, Gebet, Anruf hl. Namen, Pfeifen, Pflügen mit umgekehrter Egge u. dgl. m. Endlich wäre ein kurzer Überblick über zeitliche und örtliche Verbreitung der behandelten Riten nützlich gewesen. So hätten sich in dieser tüchtigen Arbeit, die dem Lehrer K.s, HofFmann-Krayer, Ehre macht, einige all gemeinere Gesichtspunkte und Entwicklungslinien herausheben lassen.

Einige Ergänzungen zu Knuchels Arbeit gibt die feinsinnige Ab- handlung von E. Frll. V. Künssberg Rechtsbrauch und Kinder- spiel (Sitz. Ber. Akad. Heidelberg 1920, 7. Abhdl., Verl. Winter, 64 S.), in der die Beteiligung der Kinder am Rechtsleben und dif Kinderspiele, die Nachklänge alter Rechtsbräuche enthalten oder Parallelen dazu bieten, sorgsam untersucht werden. Bei diesem selten und in solcher Reichhaltigkeit bisher noch nicht behandelten Thema fällt für Rechtsgeschichte wie für Volkskunde reicher Ge- winn ab, den ein ausführliches Register leicht nutzbar macht.

G. Kalil(> Die Verse in den Sagen und Märchen (Berlin, Hutten-Verlag 1919, 122 S.). Aus fleißig gesammeltem und gut durchdachtem Stoff erwächst dem Vf. dieser Jenenser Dissertation folgendes Hauptergebnis: „Die Verse in den außereuropäischen Märchen sind willkürliche und bedeutungslose Einschiebsel des Er- zählers. In Europa dagegen haben die Verse stets eine feststehende Bedeutung: sie sind animistischer Natur, d. h. sie dienen als Ver- kehrssprache zwischen fJoistem und Menschen." Diese Formulierung mag nicht ganz glücklich sein, aber die Scheidung der beiden Kom- plexe ist begründet. Auf der einen Seite steht die „indische Form'", der Wechsel zwischen Prosa und Vers, im Altindischen am reinsten belegbar, aber auch bei „Naturvölkern" nicht selten, auf der anderen das gesamte heutige Europa, wo die Verse überwiegend unerlösten •Seelen, bösen Geistern, Zwergen, Wechselbälgen in den Mund ge-

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legt -werden, geisterhafte Warnungen und Ansagen enthalten. Hier hat der Eintritt der Verse also mehr als rein stilistische Bedeutung, ist sachlich motiviert, führt mit dem Eintritt des Geisterhaften so- zusagen aus der Prosa des Alltags heraus. Beim „indischen" Typus wäre m. E. zu erwägen, ob er nicht in den weiten Zusammenhang volkstümlicher Erzählungsweise einzureihen wäre, der uns z. B. im antiken Volksbuch (von Homer, Alexanderroman, Apollonius Tyrius, gewissen Zweigen der Satura Menippeai entgegentritt. Dann würde sich vielleicht auch eine schärfere Charakteristik ergeben, als die vom Vf. crewählte es ist.

K. Boriliski Braun als Trauerfarbe (Sitz.-Ber. Bayer. Akad. Phü. hast Kl. 1918. 10. Abh. 18 S.). Nochmals die Farbe Braun (ebenda 1920. 1. Abh. 20 S.'. In Komm. d. Franzschen Verlags (J. Roth). Die braune Farbe, zwischen Rot und Schwarz, Hell und Dunkel, Licht und Finsternis, Tod und Leben stehend, schien schon dem Altertum zur Trauersymbolik geeignet und hat sich in der Renaissance und Neuzeit vielerorten im Gebrauch er- halten. B.s Skizzen erschöpfen das Problem noch nicht.- Die zweite bringt auch manches, was zur Trauerbedeutung der braunen Farbe nicht gehört, aber für andere Gebiete der Volkskunde in Betracht kommt (Kröte, Krötenstein, Gebänuuttervotive).

R. Stube Der Himmelsbrief. Ein Beitrag zur allge- meinen Religionsgeschichte (Tübingen, Mohr-Siebeck 1918 IV u. 55 S.). In einem ergiebigen Vortrag, dem gute Literaturnach- weise angehängt sind, behandelt St. die Literatur- und Religions- geschichte des Himmelsbriefs Der Gedanke einer göttlichen Offen- ' barung in Gestalt eines himmlischen Buches oder Briefes (St. über- sah Boll, Aus d. Offenbarung Johannis 7 ff.) begegnet zu allen Zeiten, tritt in religiöser wie superstitiöser Sphäre auf, fromme Fiktion und frecher Schwindel tvgl. z. B. meinen Trug des Nekta- nebos, Register unter Himmelsbrief, ferner N. Jahrb. 47, 1921, 139 f.) greift zu dieser Einkleidungsform. Bis in neueste Zeit wuchern im Volksaberglauben die alten Himmelsbrieftypen weiter, und ein lehrreiches Beispiel eines modernen Offenbarungsbuches ist das Buch Mormon (wozu auf Ed. Meyers Ursprung u. Geschichte d. Mormonen zu verweisen war). Der von St. gegebene Überblick erweckt gute Erwartungen auf das von ihm vorbereitete große Ur- kundenwerk über dieses Thema.

E. Bischoff Die Mystik und Magie der Zahlen, Arith- metische Kabbalah (Geheime Wissenschaften hrsg. v. Linden, Bd. XX, Berlin, Barsdorf 1920, 2-18 S.). Der 2. Teil des Buches (magische Zahlenfiguren, Datumsmystik, figurierte Zahlen, Zahlen-Salonmagie) wird die Interessenten der „geheimen Wissenschaften" eher an- ziehen als den gelehrten Leser, der vom 1. Teil (Mystik der Zah-

476 Otto Weinreich

len, Zahl am Himmel, in organischer, unorganischer Natur, im Geistesleben) und dem Schlußabschnitt (systematische Symbolik der Zahlen von 1 100) einigen Nutzen haben kann, wenn er über Kritik verfügt (z. B. den Etymologien S. 20 gegenüber) und über historisch-philologische Kenntnisse, um den Verfasser kontrollieren zu können, der allzuoft aus 2. oder 3. Hand schöpft und andrerseits bequem Bereitgestelltes übersieht. ^Man sollte nicht über 7 schreiben, ohne Boll, Hehn, Graf (s. u.), von naturwissenschaftlicher Seite Fließ und Swoboda, über 7, 9, 40, 50, ohne Röscher, über 3, ohne Usener, über 12/13, ohne Böklen, Weinreich, Wilke, über Lebens- alter, ohne Boll zu kennen.^ Als Anhang wird nach Augustis alter Übersetzung ein Stück aus Epiphanius „über die Geheimnisse der Zahlen'* mitgeteilt, ohne Angabe der Originalpublikation und ohne zu notieren, daß es sich um Ps. Epiphanius handelt. Ein Hinweis auf Ahnliches, wie etwa des Ausonius griphus nameri ternarii oder ma. Triadensammlungen fehlt natürlich. Im systematischen Teil^ der z. T. überaus dürftig ist und systematische Erörterungen über Rundzahl, typische Zahl, heilige Zahl, Rundzahl mit Überschuß^ Rundzahl minus 1 u. dgl. vermissen läßt, fehlt u. a. die volkskund- üch wichtige Zahl 77.

Befriedigender als dies Buch ist der bescheidener auftretende Vortrag von .T. H. Graf Die Zahl „Sieben" (Bern, Wyss 1917, 48 S.). Natürlich kann ein so reicher Stoff im Rahmen eines Vortrags nicht erschöpft werden, aber G. bringt Vieles und Hüb- sches vor. Er ist auch in der Literatur mehr zu Hause als Bischoff. Bedenkliche Schönheitsfehler sind allerdings Pythakos aus Mytilene (18) und Hyppokrates (20).

P, Riedel Aberglaube und Zauberwahn im heutigen Deutschland (Wen^t u. Klauwell, Langensalza 1920, 173 S.). Cui bono? Wissenschaftliche Förderung soll das überall an der Oberfläche bleibende Buch wohl nicht bringen. Populäre Dar- stellung im guten Sinn kann es nicht sein, weil dem flach ratio- nalistischen Verfasser historischer Blick ebenso fehlt wie psychische Einfühlung in das Wesentliche der Erscheinungen, und mit billigen Expektorationen wie z. B. über Reliquienkult (8 ff.) ist nichts ge- tan. Bleibt also: nicht sonderlich geistvolles Aufkläricht. Literatur wird hier und da angegeben, z. T. auch schlampig (S. lOG richtig Boll, 111 als Vorf. des gleichen Buches aber Scholz). 96 Oncero- mantie mag nur Druckfehler sein, aber vulgair, kontrair 99 und ficctere si nequeo etc. 12 als Horazzitat (I) schmeckt nach Halbbil- dung. 155A. wird behauptet, die Hausinschrift G. M. H. bedeute

' RoBcher Zalil 50 und meine Trif^laideJindischen Studien zeige ich im Bericht über griechische Keligion an.

Kleine Anzeigen: Zur Volkskunde 477

„Gott behüte mein Haus". Das ist bestenfalls Volksetymologie, in Wirklichkeit liegt natürlich umgestelltes X M T vor.

0. Meisinger Bilder aus der Volkskunde (Frankf. a. M., Diesterweg 1920 (VIII + 288 S.). Um den Sinn für deutsches Volkstum zu wecken, auch in der Schule schon, hat M. einen guten Weg eingeschlagen: er gibt ein Lesebuch von volkskundlichen Auf- sätzen verschiedensten Inhalts, verschiedenster Verfasser. Von Her- der, Goethe (Anzeige von Hebels Gedichten), Uhland, Grimm führt er über Riehl, Mannhardt, Dieterich (schade, daß Usener fehlt) zu den Lebenden, überall mit glücklicher Hand auswählend. Man spürt, daß der Herausgeber selbst mitten in der Forschung steht. Volkskunde, mag sie auch vom wärmsten vaterländischen Gefühl ge- tragen sein, weist immer über die Landes- und Zeitgrenzen hinaus, weil ein volles Verständnis der völkerpsychologischen Erscheinungen nur auf vei-gleichendem Weg gefunden werden kann. Darum ist es doppelt zu begrüßen, daß gerade die so wichtigen Zusammen- hänge mit der Antike ausreichend zu Wort kommen. Eine mit Wehmut gemischte Freude war mir, daß der jung gestorbene Die- terich- und Boll-Schüler K. Nagel mit einem Aufsatz über die Neun- zahl vertreten ist; hätte er doch seine Arbeit über die Zwölfzahl noch abschließen können! M.s Buch verdient weite Verbreitung.

Zur neugriechischen Volkskunde liegen, außer dem hüb- schen Aufsatz F. V, Duhns Altes und neues Griechentum auf den ägäischen Inseln (Deutsche Revue XLIV, 67ff. 154fif.), zwei Neuerscheinungen zur Besprechung vor. IV. r. noXCt7]g AaoyQacpiKcc Gv^^siura I (Athen 1920 Paraskevas Leones 304 S.). Der Meister griechischer Volkskunde inauguriert damit die Ver- öffentlichungen des 1918 vom Staat ins Leben gemienen AaoyQUipiKbv 'Aqxsiov. Der erste Band, dem hoffentlich bald weitere folgen^, ent- hält die mehr populär gehaltenen Arbeiten von Polites, 38 Num- mern, aus dem Zeitraum von 45 Jahren. Am Anfang steht der programmatische Aufsatz AaoyQcccpta, mit dem P. 1909 seine gleich- namige Zeitschrift eröffnet hatte ein würdiges Gegenstück zu Dieterichs Wesen und Ziele der Volkskunde. Aktuell wirkt heute wieder der zweite, der die volkstümlichen Anschauungen über die Wiederherstellung der griechischen Nation behandelt man ver- gleiche dazu auch E. Schmidt, Hess. Blätter f. Volksk. XII 21 9 ff. Aus dem reichen Inhalt seien noch hervorgehoben: TsXiöfiata, 'O rovXiik^og J^sXX TtQoßcoTtov (iv&mov, Aufsätze über St. Georg, Johannes, Elias, Nikolaus, über Volksbücher und Volksmärchen (An-

* Bei der Korrektur erhalte ich Kenntnis von Polites' Tod. Ein unersetzlicher Verlust für die wissenschaftliche Volkskunde. Hoffentlich gelingt es, die von ihm gesammelten Schätze der gelehrten Welt zu- gänglich zu machen.

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zeige von Hahns NsoElXtjviKa TcaQcc^v^icc). Das leite über zu dem zweiten hier anzuzeigenden Werk:

Neugriechische Märchen hrsg. v. l\ Kretschmer (Jena, Diederichs 1917 XII u. 340 S) In den „Märchen der Weltliteratur", einer der prächtigsten Unternehmungen des Diederichsschen Verlags, die V. d. Leyen und Zaunert -leiten, bildet dieser Band ein köst- liches Glied. Von den 60, geographisch geordneten Märchen stammen nur wenige aus gedruckten Quellen, die Mehrzahl haben Kr. und seine griechischen Freunde aus dem Volksmund selbst gesammelt. Eine gute Einleitung und reichhaltige Anmerkungen machen die Einordnung in das internationale Märchengut leicht. Antikes Erbe steckt nicht so viel darin, wie man zunächst erwartet. Orientali- sches, Slawisches, Westeuropäisches hat sich darüber gelagert im Märchenschatz spiegelt sich die Schichtung des neugriechischen Volks. Es sind glänzend erzählte Sachen darunter, z. B 42, das in der Fülle seiner Motive, ihrer kunstvollen Verschlingung und spannendem Aufbau den Zauber des Märchens mit dem Reiz ro- manischer Novellistik verbindet. Merkwürdig darin das Gewölbe über der Quelle, auf dem die Heldin ihre abenteuerreiche Lebens- geschichte aufzeichnet, die da von den wesentlichsten personac dramatis gelesen wird, was dann die Lösung des Knotens herbei- führt iS. 182 ff) Ist das ein irgendwie nachwirkendes Erbe des antiken Romaus? Man denkt an die Inscbriftstelen des Euemeros, die Zjpressentafeln des Deinias bei Antonius Diogenes, die Dictys- annalen, die seidene Binde d'-r Chariklea bei Heliodor, in die ihre Aussetzungsgeschichte eingewebt ist, also ein Requisit, das die Wiedererkennung der Heldin gestattet. Die Paschatochter läßt die Quelle erst fassen, ein Gewölbe darüber errichten, den Text auf- zeichnen, stellt einen Wächter davor, die Leute kommen und lesen, was da aufgemalt ist das von inschriftenbedeckten Bauten her- genommen? Wirken l^omanüberlebsel und Umwelt zusammen ein? Jedenfalls ein merkwürdiger Zug, zu dem ich aus Märchen nichts Ähnliches kenne. Die wegweisenden Inschriften (Nr. 59 S, 268, vcrl. dazu Le.skien, Balkanmärchen S 37 u. 229) sind etwas ganz anderes; aber auch sie haben ihre Parallelen im antiken Aloxander- roman (II 31). Zu »3, in dorn Lüge und Wahrheit personifiziert auftreten, Lüge triumphiert, durfte auf das so echt griechische, aber überhaupt volkstümliche 'Aycov-motiv verwiesen werden, Xoyog öUaiog und üSiKog bei Aristophanes, Aoyog und Aoylva bei Epicharm, Mors und Vita bei Ennius, Dod und Lewen im Niederdeutschen usw. Im Märchen jedoch scheint derartiges selten zu sein. Es paßt aber zu den sonstigen Spuren moralisierender Betrachtung, die Hausrath in seiner fördernden Besprechung von K.s Buch notiert (B. ph. W. 1920, 727). Die Übersetzung wirkt bei aller Treue äußerst lebendig.

III MitteilunA'en und Hinweise

Endyinion als Sternbild

In meiner Sphaera S. 5 7 f. habe ich Auszüge aus dem Astrologen Antiochos von Athen herausgegeben, die in einer Vatikanischen und abgekürzt in einer Münchener Hs. stehen. Wie mir der im Welt- krieg gefallene wackere Pierre Boudreaux in Paris am 23. XII. 12 mitteilte, ist das Kapitelchen auch im Paris. 2425 (s. XV) f. 162 enthalten. Die Pariser Hs (P) bietet wesentliche Textverbesserungen: die wichtigsten zu den Zodiakalzeichen des Stiers und der Wage, weiterhin noch zu Jungfrau, Schütze, Steinbock. Der Text der gleichzeitig mit dem Stier aufgehenden Sternbilder heißt hier so: rjVLO'/^og, KScpaXal ^, dsKavov ßxVt^^ ^»"^ VTtoKccrco avrov xfgpaAat xal ciofiu 6VV tvr\6'/p{\] y.al oöLQLg V7tEog{l} Kai y.vcov iTtdvco rmv noö&v avrov Y,al Ttkolov ETtdvco ti]v{l) oipecog' ävovßig nal aXkcog (1. akkog) ißrojg naqa xovg TtoSug rrjv ^ev aQLOrsQav eKtsivag, rf] 6s öe^tä xovg nodag rov Kvvbg '/.are^cov. Damit fällt „die Gestalt der sieben Dekane" fort, die mir einst Mühe machte (Sphaera S. 280): es sind vielmehr die sieben Köpfe = Pleiaden gemeint (als sieben Mädchenköpfe wurden ja die Pleiaden dargestellt, vgl. z. B. Thiele, Ant. Himmelsb. S. 112), und es bleibt nur die Gestalt eines Dekans. Weiterhin ist wohl schwerlich xEgjaAat, wie P liest, sondern wohl ■/,Eq)ccXaiov mit dem Vatic, also der Stierkopf zu verstehen. Das Exzerpt in der Münch. Hs. A wird nun auch völlig klar: njvioy^og Y,al vTiondrco '/.eq)ah] (Stierkopf)' <^K£(paXaVy t, . öey.avov öyr^^a. Sodann fällt der nur im V(atic.) vorkommende „Strudel" {^cclog), der, wie ich Sphaera S. 166 f. dargelegt habe, hier unmöglich an der richtigen Stelle stehen könnte, weg; und wenn statt dessen v.ai uXXog (kkI aXXoag P) zu lesen ist, so wird der Anubis wie sonst auch (s. Sphaera S. 179 f.) zum Hundsgestirn, und eine andere Gestalt steht ,,um seine Füße", d. h. am Platze des Hasen. Zum Krebs steht statt x^tog in P kqvol^ was freilich die verdorbene Stelle (vgl. Sphaera S. 1211 auch nicht aufhellt. Zur Jungfrau ist im Paris. yvi'Tj iv axQim naidiov ßa6rä^ov6a genannt: damit bestätigt sich die Überlieferung bei Teukros-Rhetorios (vgl. Sphaera S. 210), wor- nach diese thronende und stillende Göttin riveg Xeyovöi, rrjv iv aTQuo Oeuv 'Iölv xi^ecpovQuv xbv 'Sloov. Den Sinn der Worte iv ccxqlo) habe

480 Mitteiluugea uud Hinweise

ich ebd. S. 211f. aus ägyptischen Denkmälern von Dendera usw. erläutert.^) Recht erfreulieh war mir, meine Konjektur TaXcog (S. 58, 23: rcdog Vatic. r«cd? Mon. vgl, ebd. S. 279) durch den Paris, bestätigt zu linden; damit ist der kretische Gott für die Sphaera barbarica endgültig gesichert, vermutlich als eine Deutung des Engonasin. Nui- durch die mir früher bekannten zwei Anti- ochoshandschriften (V A) war der Sternbilduame NrjQSvg bezeugt; ich habe daher Sphaera S. 27 7 statt dessen mit Teukros-Rhetorios NrjQEig eingesetzt. Auch das wird durch die neue Hs. bestätigt {vtjQsig).

Der hübscheste Fund ist aber der zu den Sternbildern, die mit der Wage aufgehen. Da werden u. a. verzeichnet: "Adcovig Kai ^AcpQodizr] xal iv dt)" noifito^eva (so die hier bisher einzige Hs. V). Ich hatte seinerzeit (Sphaera S. 277) an einen Verderb aus 'AQiudvtj KOtficoi-iivt) gedacht, da die ruhende Ariadne unter den mit der Wage heraufkommenden Sternbildern auch sonst vor- kommt. Aber nun gibt P die einfache und einleuchtende Lösung: ivöv^iäv (!) xoifico^Evog. Also hat man außer und jedenfalls erst nach Ariadne, die ihrem Kranz an dem Himmel nachfolgte und wohl in den Sternen der Wage selbst vorgestellt wurde . dargestellt als Schlummernde, genau wie in der berühmten Neapler Statue), auch Endymion als Schlummernden am Himmel unter- gebracht. Dieser Katasterismus ist hier zum erstenmal bezeugt. Vermutlich ist der schlummernde Endymion am Sternhimmel nur eine Variante zur schlummernden Ariadne; sie kann durch das Bestreben veranlaßt sein, dem Kreis des Arkas am Himmel auch seinen Eidam (Paus. V 1, 4) hinzuzufügen. Nach den großen Eöen (Fr. 148 Hz. = Schol. Apoll. Rh. IV 57) war er von Zeus in den Himmel erhoben worden, begehrte aber Hera und wurde gleich Ixion mit einem Wolkengebilde getäuscht und dann in den Hades ver- stoßen. Das konnte einem alexandrinischen Dichter oder auch einem

' Es ist bedauerlich, daß die Ägyptoloffie seit Bnigsch sich so wenig mit den einheimischen Himmelsbildern beschäftigt hat; es wird hier gewiß noch viel Neues und Wichtiges zu finden sein. Die Art freilich wie IUI 7 im „Sirius" über „Die Himmelabeobaclitung der alten Ägypter" ge- handelt ist, Hißt selbst in der einfachsten Beschreibung der Denkmäler alles zu wfinschen übrig: einen Stier von einer Kuh unterscheiden zu können, ist wohl keine unbillige Forderung. Daß der Verf. über diese Dinge schreibt, ohne die auf neuen handschriftlichen Quellen beruhenden etwa 100 Seiten über die ägyptischen Himmelsbilder, die meine ein halbes Menachenaltor vorher erschienene „Spltnern^^ enthält, auch nur zu nennen, geschweige denn zu verwerten, kann ich durch den bedauerlichen Mangel an literarischen Hilfsmitteln in des Verfs Aufenthaltsort nicht ausreichend entschuldigt finden. Ka ist gerade für jede populäre Darstellung eine doppelt unerläßliche Forderung, daß sie auf der Höhe der wissenschaft- lichen Forschung steht.

Mitteilungen und Hinweise 481

Mythographeu wohl den Anlaß gegeben haben, ihn wie Ixion und andere Götterfeinde an den Himmel gefesselt zu denken. Andere sprachen ihm die Vergötterung und ewigen Schlaf als Gabe des Zeus für seine Gerechtigkeit zu: hätte man darin die Ursache der Yer- sternung zu suchen, so wäre es einer der zahlreichen Katasterismen gewesen, welche die Anerkennung der Götter für menschliche Tugend dartuu sollten. Aus dem kurzen Katalog des Antiochos läßt sich nicht entscheiden, welches Motiv das leitende war: immerhin ist daran zu erinnern, daß sich in der Wage, wo Endymion versternt gedacht wui'de, der Hades am Himmel befand (Sphaera S. 246ff.); danach liegt die erste Version hier näher. Bekanntlich ist Endymion auch als erster Astronom gedeutet worden: das teilt er mit andern unter die Sterne versetzten Gestalten wie Atlas, Herakles, Kepheus, Prometheus, Chiron usf. Nach Schol. Apoll. Rh. IV 264 hat Endymion zag iieQLodovg ymI zovg äqL&^ovg rfjg asXi]vt}g gefunden (vgl. zur Stelle Broecker, De Timachida Rhod. Diss. Berl. 1919 S. 33). Bei Serv. Georg. III 391 verschmäht Selene zuerst den Endymion, er gewinnt sie aber dadurch, daß er „die weißesten Schafe" weidet: cuius rei mystici volunt quandam secretam esse rationem. Bethe (R. E. V 2559) bemerkt, das „könnte wohl auf einen alexandrinischen Dichter zurückgehen, wenn nicht Konfusion vorliegt'". Die „weißesten Schafe" aber sind g^wiß nichts anderes als die Sterne': in dem „Naassenerhymnos" bei Hippel. V 9 (Wilamowitz, Hermes 37, 330) wird Attis dem 7Coi(xr]v kevnav äöTQCou, dem Hirten der weißen Sterne, verglichen, wie Selene bei Synesios hymn. 9, 47 als 7toi(ii]v vv'fiuiv ^mv bezeichnet wird: dieser „Hirte der weißen Sterne" wird wohl eben Endymion sein oder auch Men. In der Naassenerpredigt sind Adonis, Endymion, Attis nebeneinandergestellt (Reitzenstein, Poim. S. 85), Adonis, Attis und Men auch im Hymnos: da Adonis (mit Aphrodite) bei Antiochos dem Endymion unmittelbar voraus- geht, so ist es nach der Art dieser Sternlisten sehr wohl möglich, daß es sich bei Adonis und Endymion nur um zweierlei Bezeich- nungen für ein und dasselbe Sternbild handelt.

Heidelberg F. Bell

Oniphalos, Pythougrab nnd Drachenkampi'

Rohde (Psyche S. 133) hielt den Python für einen alten Orakel- gott „wie Amphiaraos, wie Trophonios, wie Zeus auf dem Ida". „Der delphische 8qv.v.viv ist ohne Zweifel eigentlich eine Verkörperung des alten Orakeldämons." Diese Auffassung beruht auf Nachrichten, die vom Grab des Python unter dem Omphalos sprechen. Ist der Omphalos aber nicht ursprünglich ein xvfißog, sondern Erdnabel, so fällt Rohdes These. Die Ti'ft|3og -Theorie vertritt ausführlieh Miß Harrison JHS

Archiv f. Religionswisaenschaft XX. 3/i 31

482 Mitteiluugeu nnd Hinweise

XLX 225 flf. B C H XXIV 254flF. und fand Zustimmung bei Karo (Dar. Saglio VI litT tV.) und Svoronos (Jmirn.Int. d'arch.uumism.XIir 313f.), Jedocli Rosciier (^Omphalos, Neue ()mi)halosstudien und Der Ompbalos- gedanke bei verscbiedeiien Völkern, besonders den semitiscben) ver- tritt, ebenso wie mit anderen Perspektiven Mehringer (Wörter und Sachen V. 47 ff.) die Erdnabeltheorie, wie es scheint, mit durch- schlagenden Gründen. Harrisons wichtigster Beweis, die Ähnlichkeit der Omphaloi mit den Tymboi, ist nicht zwingend, da Grab, Altar und Ümphalos zwar nicht gleichen Vorstellungen ihre Existenz ver- danken, aber demselben Zweck dienen, nämlich der Markierung eines bestimmten Punktes, die in primitivster Dauerform eben immer eine Anschüttung von Erde oder Steinen oder ein Stein sein muß. Die Ähnlichkeit sagt deshalb gar nichts über die Wesensgleichheit. Ferner hat Röscher die ältere und bessere Überlieferung für sich. Varro be- richtet zuerst vom Pythongrab unterm Omphalos, während zahlreiche frühere Zeugnisse, besonders bei Pindar und den Tragikern (Röscher, Omphalos 54ff.) nur immer vom Erdnabel reden. Das allein müßte ausschlaggebend sein. Außerdem findet sich der Erdnabelgedanke bei den verschiedensten Völkern (Röscher a. a. 0. 20 ff.. Neue Omph. St. S. 12 ff., Omphalosgedanke passim). Wenn aber der Omphalos nicht Pythongrab war, sondern oQog am Erdmittelpunkt, so istRohdes These vom alten Orakeldämon P^'thon und den Folgerungen von Küster (Schlange 1210'.) der Boden entzogen. Das kann aber auch noch von einer anderen Seite her geschehen. Ähnlich wie die literarische Über- lieferung über das Pjthongrab erst mit Varro beginnt, bekommt der Drache, den Apoll in Delphi ei-legt, erst bei Ephoros fr. 46 (Strabo I.\ 422) einen Namen, vorher ist er namenlos (PWII 23), im del- phischen Apollohyninus (122) sogar eine dQÜy.cava. Wenn der Drache jahrhundertelang namenlos ist, an einem Ort haust, der schon bei Homer Pytho heißt und dann später Python genannt wird, so ist klai-, daß er nach dem Ort seines Aufenthalts benannt wurde; also war er kein alter degradierter Gott und kann der Omphalos nicht sein Grab sein. Ein namenloser Drache hat kein Grab. Zur ursprünglichen Namenlosigkeit des Python paßt es gut, daß er keine Verwandten hat, keine Geschwister oder Kinder, wie Typhon, Echidna, Kerberos und Hydra, die anderen schlangengestaltigen Fal)elweseu, sondern nur eine Mutter, die Go. Da die G(> als Vorgängerin Apolls und älteste Inhaberin des Orakels galt, mußte der Drache, sobald er unter dem Namen Python Besitzer des Orakels wurde ursprünglich hat er mit dem Orakel nichts zu tun, z. B. im delphischen Apollohymnus, erst seit Euripidos tritt er als Hüter des Orakels auf (Rascher, Lex. III 3403) , natürlich der Sohn der Ge werden.

Apolls Kamj)f mit dem Drachen ist aber nicht einmal an das del- phische Lokal gebunden, sondern das bei allen Völkern vorkommende

Mitteilungen und Hinweise 483

Märchen vom Kampf eines Helden mit einem Drachen knüpfte sich auch an Apollos Gestalt und wurde an seiner Hauptkultstätte lokali- siert. Dort ist er noch im delphischen Apollobymnus das Ungeheuer, das an der Quelle liegt', Mensch und Vieh umbringt und den Zugang zum Heiligtum erschwert, was der Besitzer des Heiligtums doch keines- wegs tun würde (Röscher, Lex. a. a 0 ). Daß die Lokalisierung des Drachenkampfes in Delphi nicht ursprünglich ist, sondern der Drachen- kampf an Apollos Figur schon haftete, als dieser nach Delphi kam, kann man schon aus der ursprünglichen Zusammenhangslosigkeit von Drache und Orakel folgern. Zwei so wichtige, im späteren Kult (Pythien) gemeinsam gefeierte Tatsachen können unmöglich ursprüng- lich am gleichen Orte fixiert sein, ohne auch innerlich zusammen- zugehören. Zudem war der Kampf Apolls mit dem Drachen auch anderwärts lokalisiert. Schreiber, Apollon Pythokt. 44. hat eine Lokali- sierung in Sikyon aus Paus. II 7, 7 und S erschlossen, und auch in Gryneion in der Aiolis sollte Apollon den Drachen erlegt haben (Schreiber 39 ff.).

Sind das alte Lokalisierungen oder Analogiebildungen nach dem delphischen Drachenkampf? Ich glaube das erstere. Den Schlüssel zur sikyonischen Version gibtHesych: To'giov ßovvöq. Tov 'Anökkcovog^ tov SV SiKv&vL, ßiXTiov 6e cckovslv rrjv h JsXcpotg Nün\]v ?.syo^ei'rjv. 'Eksl yciQ neu 6 öga-KCDv -/.areto^evO-r] r.cd 6 öa(paXbg tjJj y?]? TU(pog ißti ToO nvd'oovog. Li Sikyon gab es also einen „Bogenschützen- hügel", an dem, wie aus der Hesychglosse und Paus 117, 7 und 8 hervorgeht, Apollon den Drachen erlegt baben sollte, was Hesych lieber nach Delphi verlegen möchte. Aber der „Bogenschützenhügel" existierte in Sikyon. Das Wort To^lov kommt nur hier vor, so daß Meineke (PhiloL XII 625) vlo^Cov hatte schreiben wollen, aber {Diatrihe in Callim. Hymn. 155) zu Tollov zurückkehrte: nihU tarnen causae esse video, cur a to^ov rede voi,ucg formari negeinr. Änti- quum et ohsoletum nomen fuerit, sed, ut fit, haesit loco inäe ab antinuissimis temporihus celelrato. To'^lov ßowög ist zweifellos ein alter Ortsname, den Hesych in irgendeinem Lexikon fand, und zwar in Beziehung mit Apoll und dem Drachenkampf, d. h. am Bogen- schützenhügel in Sikyon war der Drachenkampf lokalisiert, und zwar seit alters, wie der Name ausweist. Daß die Beziehung zu Delphi später hergestellt wurde, geht daraus hervor, daß Apoll und Artemis bei Paus. II 7, 7 und 8 gemeinsam auftreten, während der Name To^LOv ßowög auf die Einzahl deutet und nur Apollon in Sikyon einen Tempel hatte, nicht auch Artemis, oder beide Geschwister

* Auch der Drache, den Kadmos erschlägt, lag an der Quelle, auch die lernäische Hydra ist eine Quellschlange, Zenob. Epitoine, Miller Me- langes d- TJt. grecqxe 383.

434 -Milteiluiigeu uud Hinweise

(Hitzig -Bliimner, Paus. I 2, 523). Mit anderen Worten: die Beziehung zu Delphi wurde hergestellt, als Apoll und Artemis schon das Ge- schwisterpaar in engster Verbindung waren. Die Hcsjchglosse sagt jedoch noch mehr. Sie gibt einen sonst nirgends vorkommenden und zweifellos uralten Beinamen Apollos, To^ia<: oder To^iog der Schütze, P W II 70. Für sein Alter sprich c die Tatsache, daß bei Homer der Gott keinen Beinamen so häufig führt wie eben den des Schützen in verschiedenen Formen wie xA.vroTo§oc,', aQyvgÖTO^og. eK}]ß6).o^ (Aufzählung PWIi 17). Der Bogen ist Apolls ursprünglichstes Attribut, er ist in der frühesten Überlieferung der Schütze. Wenn der To'^iag in Sikyon am Hügel, der seinen Namen trägt, den Drachen erlegt hat, so ist diese Lokalisierung alt und von Delphi unabhängig, sonst hätte Apoll dort nicht den Xamen To^iag, sondern einen auch sonst geläufigen.

Haftet der Drachenkampf nicht am delphischen Lokal, hat er keine Beziehungen zum dortigen Orakel und ist eine alte Lokalisie- rung auch in Sikyon erschlossen, dann hat mau keinen Grund, die Nachricht, in Grjneion habe Apoll den Drachen erlegt, für unwahr schei)ilich zu halten bzw. a priori an spätere Übertragung von Delphi zu glauben. Buresch, Klaros 70 ff., hat zwar die Bedeutung Gryneions möglichst herabdrücken wollen. Aber Strabo spricht von einem (.Kxvraov ccQ-/^aiov, Herodot rechnet 1149 die Stadt zu den 11 alteii äolischen Städten, und Hokataios fand sie (Fr. H. Gr I 14 frg 211) der Erwähnung wert. Serv. Aen. ]V 345 nennt eine Amazone Gryne. die ein Liebesverhältnis mit Apoll gehabt haben sollte. Solche apolli- nische Liebes verbin düngen bedeuten aber gewöhnlich, daß Apoll durch eine derartige genealogische Verbindung sich eine alte, ursprünglich ihm fremde Kultstätte assimilierte (cfr. llyakinthos. JVanchos, Mopso- u. a.). Der Gr3-neische Apoll kann also sehr wohl vorgriechisch sein. und dann wäre eine Lokalisierung der Drachensage in Grjneion. unabhängig von Delphi, sehr wahrscheinlich.*

' Die von 1.. Weber (i'Ai7r)/. 69, 184tr.j behandelte „l'ythoktonie" ge hört nicht hierher, weil es sich im phi-ygischen Hierapolisi um eine an. Lokal haftende schlaiigengeataltige Guttheit handelt.

Haag K. Sehwendemann

(Abgeic-hlot«eii «di IK. September 1!)21.)

iberkios lo8

Lbnndantia 221 f.

idler 199

Ldonis 480 f.

'.ya&bs Sai^cot 430. 432

^.gdistis 292

'.yivvriroi 458

'./voiijiLUTa 287

igronmotiv 478

üakos 472

Llexandria 454 f.

'.Xirstv -bl

dpheios 72

Lltäre in Olympia 72

mit Windschutz 354 f. Amazonen 197 f. Lmbrosius 443. 466 ^mor u. Psyche 165 f. ^.mphiaraos 154 'HLTtlay.iai 273 ^.mulette 138.171 Vmyuos 1.Ö4

Lnahita 358

Lnanke 160

bina Perenna 381 f. 410

ivÖGLo? 279

^Dthesterien 410,3. 437

^nthropogonie u. Kosmo-

gonie 167 f. ^ntichristmotiv 210 ^ntinoos 19a Aphrodite 144. 310 f. 333 f.

341 ff. 357

Etymologie 345

gerüstet 315

^[oQ(f6) 318 Apokalypse 201 ipolinarios 138 ipollon 72. 149 f. 162. 171

187. 196. 263f. 269. 271.

274. 310 ff. 481 ff. Ä.pollonios V. Tyana 137 Ä.pologeten 457 Apopompe 421 Ä-potbeose 148 A.puleius 139. 165 f. Ares 149 191. 311. 318ff.

u. Aphrodite 320 Argei 179 Aristaios 163

Eegister

Aristides, Ael. 155

Arnobius d. j. 459

Artemis 72. 74

Askese 448. 459. 465 f. 467 f.

Asklepios 147. 150. 154. 433

Astarte 327. 333f. 337.345

Astralmythologie 425 ff. 437

Astrologie 86. 132. 201 f. 290. 457. 479 ff.

Atargatis 330. 333 ff. 338. 356 ff.

arr] 255 ff.

j Athanasius 449. 458 ! Athena 72. 310. 314f. \ Lindia 138 i Polias 321

a9£05 264

Atto V. Vercelli 131 ff. 360 ff. 369. 380. 389 I Augnstin 445f. 4r)8. 464ff.

i Babylon und Griechenland I 170

Bakchos 149

Barnabasbricf 459 \ Baubo 144 I Beicht 196. 292 ff. 1 Berchta 221 ■■■ Blitz 412 i ßonifatius 126 ff.

Braun als Trauerfarbe 475

Burchar i v. Wonns 360 362 f. 368

Bnßbiicher 102 ff. 123

CacTis 177.428

Oaesariusv. Alles 87 ff. 367 ff. 377

Cara cognatio 385 f.

Caristia 385 ff. I Carneval 391 ff. 406 ff. 437 i cari US navalis 406

Cathedra Petri 385 ff.

Cernunnus 93. 144

Chariten 72 f.

Chiliasmus 443 f.

Christentum 442 ff.

u. Mysterien 204 Staat 462

syrische Kaiser 462

I Christen Verfolgung 462

j Christus 458

I Claudia Quinta 472

1 Clemens Alex 454

1 Compitalia 87

! Cornomania 390 ff. 402 ff

' Cornutus 142

' Cyprian d. Magier 236 f.

I Daimon 141 I Dea Syria 137 i Delphi 77 f. 481 ff. Demeter 196. 437

Chamyne 70 Derketo 333 ff. Diadochos v. Photike 448 Diana v. Aricia 435 f. Didymos 448 Diebstahl 470

Dionysos 43.72. 74. 144. 149. löl. 188. 282. 413f. 431. 433. 472

Lyseus 282 Dioskurensymbol 433 Dithyrambus 431 Dius Fidius 307 Divination 225. 364 Donnerkeil 412 Doppelaxt 153. 169. 348. 412 SoQv 299,1

' do ut des 241 ff.

Drachenkampf 481 ff.

Dracontius 140

Dreizahl 23. 212. 471. 474. i 476

Dreizehn 423. 471. 476

lEdda 205 ff.

! Egeria 177.437

': Ei 383. 398 P]ide8helfer im Krieg 304 ff. slgsGiävii 396,4 Elementargeister 227 Eligius V. Noyon 99 ff. Elpis 290 Elysion 148

Empedokles 167f. 369,3,370 ivayrjg, ivayi^Biv, kvuyog 26ltf

: Endymion 480 f.

486

Register

Eügellehre »1. Apologeten

203 Kniautofl-Dainion 4:^2 1. Ephraem 44ijt'. fjpiphanias 370 tf. Erbsünde 28'^ Erde 232

auf E. legen 22ß,3 EroB 16öt.

Eryx 191. 342. 343,5

Etiiik 170 f.

Etruskische Keli^non 189

Euagrios Pontikos447f. -!(>7

Euheiuerismus 366 tf.

Eusebios 461 464

evocatio 317 f.

examen in mensuris 237 tf.

Februar 384 f.

Fenrir 211

Feralia 385. 387

feretrum 3ü6f.

Festbrauch (römischei-, von

1142, 389 tf. Festus 139 Fetische 417 Feuertaufe •_'4 Fides 307.4 69 Firmicus Matermis 140 Fische als Sexualsymbol 415 Fluchtafelu 139. 171 Flußgötter 312 Flutsagen 196 Frühlingsgöttcr 183 Fußspur 2;i6 3

Gallisch-römische Kulte 189 Gf'bete 140. 203 (ieljetsparodien 470 Geburt 4l9t. Gelasius 460 Gelübde 242 Genius 180

Gespenstergeschichten 141 Gnosis 296 ) 65 ff. 467 Götter als l'artei im Krieg

308 ff. Götterbilder 317 369. 370,i

gefesselt 318. 320 Götterdämmerung 207 f. 210

213 Gorgoneion 189 Gräber 146f 192

Haar 41 7 f.

c'tyvefai 282. 285 f.

äyisvsiy = qpporsrr oCia

285 f. ccyvög 260

ü/oi 260 ff. 278. 280. Halm 392 f. 403 äßaQtavsLv -87 cciiu^ToXiii; 293 Harpyieii 141 Haustür 419 Heilgötter 154 Heilig 21 7 f.

Heimaruieue 1(50. 289 f. 296 Hei 223 Helena 168

Helios 81. 154 199.439 Hephaistos 149 152 Hera 72 ff. 149 152 Heraia 73. 77 Herakles 431 tf. Hermaphroditen 144 Hermes 72. 144

Trismegistos 160 f. Hermetik 1(10 f. 295 f. Heroen 430 t

im Kami)t helfend 309 HeroH latros 154

Hesiod 136 f. 145. 264. 272 Hexenpro'/.i'ß 226 Hieronj'mus 442 f. 466 Hilarius 444 f. Himmelfahrt 183 Hinimelsbrief 475 hinnicula 92. 94, i Historin Lausiaca u. H.

Monacliorum 466 f. Hochzeit 157. 4l9f. Hockerlage 192 f. Hohla, Holle 221 f Homer 254 tf

Ileligioii Ulf. 310ff. Honig 3'.i7

Öc/t], offtos 259 f. 284 Humelia de sacrilegia 110 ff. Hun<l 191 vßgiS 268 f 271 Hymnenstil •_'75,i. 421

Iciußri, "laiijhi^ 472 lamiden 75 ianus 86. 366 ti. 436 f. Jenseitsvorstellungen 148 Indiculus superstitionum

112 ff. Inkubation 154 f. 190 Jobannes d. Iiiiirer2ff. 30 ff.

Johannes v. Gaza 144 iottici 100,3 Iphitos 44. 51,2 52 Irenaeus 449. 4 50 Isidor V. Sevilla 121 ff, I8i8 90,2. 174.201.226,4. 231

406. 408,2. Istar 355 f. 357 tf. Isthraien 78 Jul 371. 375 f. Juno 179. 182 Juppiter 436. 439

Elicius 306,3

Feretrius 305 ff.

Fulgur 306,3

Lapis 305 f. 412

Opt. Max. 307

Kabireu 173. 197 Kaiserkult 173 tf. 187 Kalendae lanuariae 82 ff 360tf. 370ff.

Martiae 379 ff. 402 ff. Kaiendenklotz 120. 37.'*

396 Kalypso 428 Karkinos 236 KazuxvOfiaTu 420 xaro/oi 200

Keltische Religion 91. 93 Kenosis 458 Keraunos 145 Keren 141. 197 Kerykeion 152 Kinder im l?echtsleben 4 74 Kinderumzug 390 ff. Kirchenväter 44 3 ff. Klytiaden 76 König.-iidee, orientalische

10. 12 ff. 27.34. 334 Königswahl durch Tiere

35 ff. 334. 358 Koleda 85 ff. 377 f. Komödie u. Volksreligion

162 KoviaaXos 472 Konstantin 203. 462 ff. Köre 164 f. Koroibos 44 f. 61. 76 xopos 268. 270 Korybanten 164 Kosmogonie 167 ff. Kranz 118. 414 Kreta, Kulte 169 f. Kreuzauffindung 459

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^^

Kreuzesvision 463 Krieg u. Religion 299 £F. Kron08 41. 72 Kultschriftsteller, griech.

136 Kureten 154. 175.431 Kybele 155 Kyllene 165 Kyreae 162 f. 233

Labarum 203 Labrys 153. 203 f. Lappen 213 f. Laren 188 Larentalia 388 1 arg 11711 sero 376 f. Lebensalter 423 Lebensrate 397. 408,2 Legenden 145 Lemuria 179 Lenäen 151 Libanios 138 Licht 23 ff. Losorakel 225. 238 ff. Luperealien 126. 388 Luther 227 f.

tnacte esto 244

Märchen 1. 35 ff. 226,6. 229. 33-2. 359. 474 f. 478 483

Mala 123,2. 124

Makarismen 421

mana 243 f.

Manes 173

Mantik 86. 424

Mars 301ff. 369. 379

Martin v. Braga llöff. 377

Maskerade 87. 90,2. 91. 408

maza 394,2

Meer im Volksglauben 470

Men 149

Menschenopfer 179.418

Meßopfer 459 ' iiixa^sleia 281,1

Metamorphosen 164

asravostv 281, i

Metonymie 174

uiu6y,u 261 f.

Milch 415 f.

Minotauros 80 f.

-Minucius Felix 140

Missionspredigten 106 ff. 120,2 ! Mithras 198 f. 236 Mönchtum 466 f.

Register

Monatsnamen 73. 149 Mond 230. 4-26 f. Monotheismus 275, i Mordreinigung 157 MoQCpcb 318 f. Musen 173

Mutter Erde 411. 41 9 f. (IV60S 261. 278 Mysterien 159 f. 204. 457 Mystik 245 ff. 281. 295 f. 475 Mythologie 186. 205tf.42off.

Nachbarn 472

Nackte Göttin 346 f. 349

Nacktheit 418

Namen 418

Naturmythologie 1H8

Neid der Götter 270

Nekyia 148

Nemeen 78

Neujahr 86 f. 361 ff. 370 ff.

?83. 396ff. Neunzahl 46 f. 343. 395 Nike 152

Nilus d. Asket 459 f. Numa 177. 437

Odysseus 183 Ölbaum 396 Olrik 205 ff. Olympia 41 ff. 432.437

Doppelaltäre 72

Kulte 41 ff. 71 ff.

Siegerbilder 60 f.

Siegerlisten 52 ff. Olympiaden 41 ff. 46 ff. 76 ff: Omina 86. 372 ff. Omphalos 413. 481 f. Opfer 264f. 417f. 439 Opferfleisch 156 Opfevtbeorie 241 ff. Orakel 158. 172.194 Orco 123,2. 124

Ordal 190. 237 ff.

orenda 247 f.

Orphik 167f. 28lff. 297

Orphische Hymnen 143

Osiris 199,5

Ostia, Kulte 173

Oxylos 43. 49

'Pales 194.436 Palilien 395 Palladion 313 ff. Palladius 466

487

I Panathenäen 78

Panspermie 395. 433

Parcae 221

Parentalia 388 pater 437

Patristik 443 ff. 453 ff.

Paulus, span. Heise 464

pedem observare 119,6

Perchta 374

Peregrinus Proteus 369,3

Persephone 437

Pferd im Totenglauben 415

^ccvTjßdlog 333 ! Philo 454

; Philosophie u. Religion 162 I Philostratos 137 I Philumenos 137 I Phobos 191

cpvye ^eßgodgi 391. 398,4

Pirmin lOSff. 121

Pisatenkriege 65 ff.

Pithoigia 432

Planeten 231. 290. 367,s

Plotiu 297 f.

Plutarcb, superstit. 137

Plutos 153

Poseidon 72

Poseidonios 142

Prodigien 159

Prometheus 416

Prometheusmotiv 210

Psyche 105 f.

Pythagoras 157. 177. 481 ff.

Python 413 ^

Rachepuppe 417

Rätsel 229,2. 471 f.

Recht 185

und Kinderspiel 474

K einheitsvorschriften 285 f.

291 Reiter, thrakischer 195 Rex Nemorensis 435 f. 438 Rex sacrificulus 437 Rhea 72.115 Riese, gefesselter 211 Rundgang 47 3 f. Runen 225f.

sacrametitum 457

Sagen 229

Sakralinschriften, römische 140

Sakralrecht, altgermani- sches 217

488

Koäfister

Sakralvorschrif'ten, römi- sche 421 Sakrameut Ü4.S. 250.1. -251.

407 Salier 175. 379. 437 Sarapis 14 8. 107. 199 f. Sardische Religion 190 Sardns pater 19üf'. Saturn 436

Satarualien 81. 87. 407 Satyrnanien 151 Schiüskarren 406. 408,2 Öclilauge 415. 430 Schlangfugöttin 348. 356 Schul betrieb, jüdiscli-christ-

liclier 454 f. Schuldbegritf in griechi.sch.

|{eligion 254 ff. Schwalijenlioder 400 Seelenglaubo 224. 228 Seelenkult 373 f. 409 Seeleuticr 416 Seelentische 128. 130. 364, i.

376 Seelenvogel 147. 328 ff. 340.

352 Seligpreisungen 421 Selloi 154

Semiramis 3.S4ff. 358 Shakojieare 228 Sibylle 192

Siebenzahl 395. 423. 476 Siegerlisten, olympische

52 ff. Silen 438 .silex 306 Sinioeis 312 Sizilische Kulte 191 Skamandros 312 Sol HO

invic^tuK 203 Sonne 230. 4 20 f. Sothia 231 SozomenoH 460 Speer 299 IF. 314 Sphragia 201 spolia opimn 306 f. Spiircalia 384. 388 Staat lind Christentum 462 Sternbilder 231 f. 479 ff ^ternglauben 230ff. 411

Stier 392 f.

Stiftungen, religiöse 183 f.

Stoa 171

strenae 89 ff. 373 ff. 394. 406

Strigae 221

Sünde 196. 254 ö'.

Symbole 433 f.

, pythagoreische 157

Synagoge 203

Synesios "460

Tabu 421 Tätowierung 201 Talos 480 Tauit 80. 344 Tanz 156

Taube als Seelenvogel 328tf. 340

bei Taufe Jesu 2 ff. Taubengöttin 35. 40. 323.

331 ff. 339 ff. Taubenzucht 323ff. Taufe 359

Jesu 1 ff. Terminus 182. 430 Tertullian 176. 4511'. 457 f. Teukios 163 f. Thanatos 148. 165 Themis 4>29ti". Theodorus Trisc. 140 9-Eol ayicoOTOi 156. 309. 422

'■ i7n]xooi 155

tioIlovj^oi 321 d-eoi, &SIIS 141 'l'heophore Namen 149. 215

: d^aOi,' ^eyas 155 ! 9toleviu 157

d-hovdT]^ 259

Tholos 156

Ticro im Aberglauben 416

und MenHolu-n 472 Tiermaskerade 87. 91 tr. Tod 419 f. Todesgötter 183

logu practexta 178 Tolerauzedikt v. Mailand

•162 f. Tntenkult 146 ff. 173. 184.

192 ff. 224 4 16 ff. Totenrecht 224 f. ToteiT^rlilange 146

44 3f. |i

i Toxios 483 f.

\ traditio per terra tn 232 ff ..^

; Tragödie '432 ' ;

Traum 168

TQizonäxQQBq 146 !

XQU'xaLa 307 f. ;

Tyche 289 f. j

Umwandlung 472 f. '

Unverwundbarkeit 426 I

Vergil 4. ecl. 176f Verhüllung 469 r

Verse in Sagen u. Mäi'chen^

474 f. Vesta 436 Victorinus v. Pettau Virbius 436 Volcaualia 79 fl'. 119. I2(i.2

121,S Volcanus 80 f. 120,i. 123,2

174 Volkskunde 228. 469 ff. Voisi 221 Votivohren 144. 155

Walhall 222 f. Waluburg 225 Weihnachtsbaum 118. 1341 Weihnachtsfest 83, 86. 203^»

378 Weihnachtsgebäck 375 Will.insfreiheit 275 WintcrauHtroibung 382 ('. Wolle 416 Würfelorakel 168 Wundi-rgeschichteu 141.

164

Ygg<lrabil 207. 209

, Zagreus 282. 431 Zahlcnsymbolik 423. 473tf/.?' ' Zauber 138. 140. 220 f. 470 *' I Zeitrechnung 4 6 if. j Zeus42f. 71 ff. 141.149.15»^

173.260.271.275,2.291 1 Kuros 431. 433 i Zwerge 227 ! Zwergaagen 212, i ! Zwölfzahl 423

rAhgeKrhIorccti nm 94 September 1H91 )

1

BL Archiv für Religionswissen- 4- Schaft vereint mit den Bei

A8 trägen zur Religionsvissen

Bd. 20 scheftlichen Gesellschaft in Stockholm

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UNIVERSITY OF TORONTO LIBRARY

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