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ARCHIV

FÜR

SOZIALE HYGIENE

MIT BESONDERER BERÜCKSICHTIGUNG DER

GEWERBEHYGIENE UND MEDIZINALSTATISTIK.

NEUE FOLGE DER ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALE MEDIZIN.

IN VERBINDUNG MIT

Gewerberat Dr. BENDER Stadtrat Dr. GOTTSTEIN

CHARLOTTENBURG CHARLOTTENBURG

Ober-Med.-Rat Prof. Dr. v. GRUBER Prof. Dr. HAHN Gewerbeinspektor HAUCK MÜNCHEN FREIBURG WIEN

Prof. Dr. LEHMANN San.-Rat Dr. PRINZING Prof. Dr. PRAUSNITZ

WÜRZBURG ULM GRAZ

Privatdozent Dr. TELEKY San.-Rat Dr. WEINBERG

WIEN STUTTGART

HERAUSGEGEBEN VON

Geh. Ober-Medizinalrat Prof. Dr. DIETRICH Priv.-Doz. Dr. med. A. GROTJAHN Prof. Dr. med. J. KAUP

Stadtrat Dr. phil. F. KRIEGEL

SIEBENTER BAND.

LEIPZIG.

VERLAG VON F. C. W. VOGEL.

1912.

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Inhaltsverzeichnis des siebenten

Bandes.

Erstes Heft.

Seite

Kölsch, Entwicklung’, Wege und Ziele des ge werbeärztlichen Dienstes . . 1

Prinzing, Krebs und Beruf . 32

Hanssen, Über die Säuglingssterblichkeit in einer Landgemeinde beim Über¬ gang in einen Industrieort . 46

Schultze, Beitrag zur Vergiftung durch nitrose Gase . 66

Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinal¬

statistik in Berlin ( Sommer , Die Psychiatrie in den Vorentwürfen d neuen Strafgesetzbücher in Deutschland und Österreich. S. 84. Heller Vergleichende Morbiditätsstatistik der weiblichen kaufmännischen An gestellten und der Dienstboten. S. 103.)

Zweites Heft.

Peiper, Die körperliche Entwicklung der Schuljugend in Pommern . . . 109

Simon, Untersuchungen an wehrpflichtigen jungen Badnern nach dem

Pignet’schen Verfahren . 138

Kaup, Der Einfluß der Gesetzgebung auf gewerbliche Erkrankungen . . 191

Kadestock, Die internationale Hygieneausstellung Dresden 1911 und die in sozialhygienischer Hinsicht bemerkenswerten statistischen Darstellungen auf derselben . 237

Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinal¬ statistik in Berlin ( Flesch , Hygienische Ergebnisse der Aktienbau¬ gesellschaft für kleine Wohnungen in Frankfurt a. M. S. 247.)

y.io

Inhaltsverzeichnis.

IV

Drittes Heft.

Seite

Meinshausen, Weitere Beiträge zur Wertung des Pignet’schen Verfahrens 253

Scliultze, Zunahme des Alkoholverbrauchs in Indien . 276

Schnitze, Ein amerikanischer Kulturfortschritt . 279

Liehe, Der Alkohol in Krankenhäusern, Irrenanstalten und Lungenheil¬ stätten . 281

Fischer, Der Frauenüberschuß . 301

Aus (1er Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinal¬ statistik in Berlin ( Flesch , Hygienische Ergebnisse der Aktienbau¬

gesellschaft für kleine Wohnungen in Frankfurt a. M. S. 329. Buttermilch , Über den Wert einer zentralisierten kommunalen Säuglings¬ fürsorge. S. 335. Gottstein, Beeinflussung von Volksseuchen durch die Therapie, zugleich ein Beitrag zur Epidemiologie der Krätze. S. 345. Schaeffer , Das statistische Erhebungsformular der Heilanstalten in Preußen. S. 354.)

Viertes Heft.

Haussen, Die Abnahme der Geburtenzahlen in den verschiedenen Be¬ völkerungsklassen und ihre Ursachen. Nachuntersuchungen in Schleswig- Holstein . 365

Fehlinger, Die Erwerbsunfähigenversicherung in Großbritannien und Irland 400

Unger, Die Entwicklung der Stadt Perleberg in bevölkerungsstatistischer

und sanitärer Beziehung (Mit 10 Kurven) . 419

Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinal¬ statistik in Berlin ( Guradze Statistik und Kausalität. S. 443. Crzellitzer , Die Berliner städtischen Familien-Stammbücher und ihre Ausgestaltung für die Zwecke der Vererbungsforschung und der sozialen Hygiene. S. 448. Juliusburger , Die soziale Bedeutung der Psychiatrie. S. 456. Biesalski Die Entwicklung der neueren Krüppelfürsorge. S. 466.)

Entwicklung, Wege und Ziele des gewerbeärztlichen

Dienstes.

Von Dr. Feanz Koelsch, K. bayr. Landesgewerbearzt.

Vortrag, gehalten beim Kurs für Unfallheilung und Gewerbekrankheiten in Frankfurt a. M. am 3. und 4. Oktober 1911.

Meine Herren! Dem Thema, welches ich vor Ihnen zu be¬ sprechen die Ehre habe, dürfte ein aktuelles Interesse wohl nicht abzusprechen sein. Sind doch gerade in den letzten Jahren fast in allen Kulturstaaten die Beziehungen des ärztlichen Standes zur praktischen Gewerbehygiene, zum Gewerbeaufsichtsdienste, Gegenstand vielfacher Diskussionen und z. T. auch legislatorischer Maßnahmen geworden, nicht zuletzt in unserem deutschen Vaterlande, wo die Erwägungen für und wider nicht mehr zur Buhe kommen wollen, voraussichtlich auch nicht mehr sich beruhigen werden bis zu einer den modernen sozialhygienischen Erkenntnissen ent¬ sprechenden Regelung. Nach dieser Richtung hin dürften sich begreiflicherweise meine Ausführungen von einer gewissen Tendenz nicht ganz freihalten. Andererseits glaubte ich mich auf Grund einer nunmehr fast 3 jährigen Tätigkeit als „Gewerbearzt“ berech¬ tigt und verpflichtet, mit meinen Erfahrungen nicht zurückzuhalten und meine darauf basierenden Anschauungen vor ihrem kompe¬ tenten Kreise zu entwickeln.

Die Beziehungen zwischen Arzt und Gewerbehygiene sind uralt. Von den frühen Zeiten ab, als die einzelnen Berufe begannen sich zu differenzieren und so charakteristische krankhafte Störungen bei den Berufszugehörigen hervorzurufen, bis auf den heutigen Tag verdankt die Gewerbepathologie und Berufshygiene der ärzt-

i

liehen Wissenschaft ihre Existenz und Weiterentwicklung. Die

Archiv für Soziale Hygiene. VII. 1

2

Franz Koelsch,

von den römischen Satyrikern Martial, Juvenal, Plautus u. a. scherz¬ haftgebrauchten Termini vom „triefäugigen Schmied“, vom „hinkenden Schneider“, vom „engbrüstigen Bäcker“, vom „varicosus haruspex“ u. dgl. waren den griechischen und römischen Heilkünstlern ebenso geläufig wie die Berufshygiene der Ringkämpfer, der Boten oder der Schifter. Und Hippokrates bemerkt u. a.: „Es gibt viele Handwerke und Künste, die denjenigen, welche sie ausüben, manche Plagen und Leiden verursachen“. Er berichtet weiterhin von ver¬ schiedenen spezifischen Erkrankungen, so der Bergleute, Lastträger, Tuchwalker, Gärtner, Reiter, Schiffer usw. Ähnliche Beobachtungen überlieferte auch Galen.

Ebenso liegen uns von mittelalterlichen Ärzten eine Reihe kasuistischer Mitteilungen, später (etwa von der Zeit der Renaissance ab) auch monographische Arbeiten über gewerbliche Gesundheits¬ schädigungen und deren Bekämpfung vor. Die Staubarbeit war bereits in ihrer unheilvollen Wirkung bekannt, nicht minder die Beschäftigung mit Blei, Quecksilber, Arsen und anderen Stoffen berüchtigt. Die Berufshygiene der Bergleute und Hüttenarbeiter, der Schiffer und Drogenhändler, der Alchymisten und Chemiker wurde eingehend erörtert. Andere Ärzte schrieben über die Berufs¬ krankheiten der Soldaten (Morbi castrenses), der Gelehrten und Studierenden, der Ratsherren, sogar der Hof beamten.

Im Jahre 1700 erschien sodann das berühmte Werk „De morbis artificum diatribe“ des Professors der Medizin zu Padua B er nar- dino Ramazzini, des „Vaters der Gewerbehygiene“ Ramazzini darf das Verdienst in Anspruch nehmen, die bisher überall zer¬ streuten Daten gesammelt und gesichtet zu haben ; er hat dieselben durch zahlreiche eigene Beobachtungen ergänzt und so erstmals systematisch die Berufskrankheiten dargestellt, gleichzeitig aber auch kulturhistorische und therapeutische Gesichtspunkte ausgiebig berücksichtigt.

Er schildert unter anderen die berufliche Blei- und Queck¬ silbervergiftung, die Wirkung des Arsens und anderer chemischer Stoffe, die Folge des Staubes für die Atmungsorgane, des Sitzens und Stehens auf die Blutzirkulation; bei Behandlung der Fein¬ arbeiter finden wir eine treffliche Darstellung der physiologischen Optik u. dgl.

Ramazzinis Werk fand eine außergewöhnliche Beachtung und durfte sich einer stattlichen Reihe von Auflagen, Übersetzungen und Umarbeitungen erfreuen; gleichzeitig aber gab es, begünstigt durch die um die Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzende mechanisch-

Entwicklung, Wege und Ziele des gewerbeärztlichen Dienstes.

3

industrielle Betätigung , besonders bei den englischen und fran- - zösischen Ärzten Anlaß zur Entwicklung einer bodenständigen : gewerbehygienischen Forschung und Literatur.

In Deutschland beschränkte sich allerdings die wissenschaft¬ liche Gewerbehygiene dieser Zeitperiode bis gegen Mitte des

19. Jahrhunderts im wesentlichen auf Überarbeitungen des Ramazzinischen Werkes, ohne wesentlich Neues, Selbständiges hervorzubringen. Erst mit dem 1845 in Berlin erschienenen Werke des Arztes Haifort: „Entstehung, Verlauf und Behandlung der Krankheiten der Künstler und Gewerbetreibenden“ wurde auch im deutschen Sprachgebiete eine neue Ära eingeleitet. 1872/78 er¬ schien das groß angelegte Werk von Dr. Hirt- Breslau, welcher damit die moderne wissenschaftliche Gewerbehygiene be¬ gründete. Die jüngste, mächtig aufstrebende Fortbildung unserer Wissenschaft dürfte Ihnen wohl selbst genügend bekannt sein.. Ebenso bekannt ist es aber auch, daß es wie es ja in der Natur der Materie liegt fast ausschließlich ärztliche Forschungen und Beobachtungen gewesen sind, welchen die gewerbehygienische Wissenschaft ihre heutige stolze Entwicklung verdankt. Ich möchte jedoch nicht anstehen, auch die mannigfachen wertvollen Anregungen und Berichte der Gewerbeaufsichtsbeamten aus der jüngsten Zeit rühmend hervorzuheben.

Gleichzeitig mit der Entwicklung der wissenschaftlichen Gewerbehygiene wandte sich auch das Augenmerk der öffent¬ lichen Organe auf die im Gefolge der industriellen Entwick¬ lung auftretenden gesundheitlichen Mißstände und Körperschädi¬ gungen. Besonders seitdem die „Arbeitsmaschine“ ihren Sieges¬ lauf begonnen hatte (Mitte bis Ende des 18. Jahrhunderts), drängten sich die Probleme des Arbeiterschutzes immer aufdringlicher in den Vordergrund des allgemeinen Interesses. Wurde doch in dem Geburtslande der modernen Großindustrie, in England, zu Anfang des 19. Jahrhunderts die Arbeitszeit auf 14, 16, selbst 18. Stunden ausgedehnt, in vielen Fabriken wurde ununterbrochener Betrieb mit Tag- und Nachtschichten eingerichtet, nicht selten mußten die Arbeiter 30 und 40 Stunden hintereinander die Maschinen bedienen. Frauen und Kinder bis zum zartesten Alter herab wurden herangezogen , um die Maschine nicht stillestehen lassen zu müssen; im Jahre 1839 wurden unter 419560 Fabrik¬ arbeitern nur 96569 Männer über 18 Jahre, hingegen 192 887 männlicher Arbeiter unter 18 Jahren und 242 296 weib¬ liche Arbeitskräfte gezählt. Und ähnlich standen damals .die

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4 Franz Koelsch,

Verhältnisse auch in den benachbarten französischen und deutschen Industriebezirken. Die Folgen dieser Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft und der Auflösung der Familie durch die Frauen- und Kinderarbeit zeigten sich gar bald in grauenvoller Weise. In England starben (etwa in den 30 er Jahren des 19. Jahrhunderts) in den Fabrikdistrikten ebensoviele Menschen vor dem 20. Lebens¬ jahre wie anderswo vor dem 40. Lebensjahre. Während bei der übrigen Bevölkerung Englands 3 Generationen kamen und gingen, schwanden in der gleichen Zeit bei den Textilarbeitern 9 Gene¬ rationen (n. Zadek).

Die weitere industrielle Entwicklung brachte durch Einfüh¬ rung der Dampfkraft und Elektrizität, durch Herstellung und Ver¬ wendung zahlreicher giftiger oder explosibler Stoffe, durch die zwecks Lohneinsparungen immer wieder versuchte Bevorzugung der Frauen- und Kinderarbeit, durch die im internationalen Kon¬ kurrenzkämpfe so intensiv gesteigerte Produktionstätigkeit eine große Keihe neuer Gesundheitsschädigungen mit sich.

So wurden alle Kulturstaaten genötigt zum Erlasse von Ver¬ ordnungen, durch welche nach Möglichkeit die gewerblichen Schädigungen hintangehalten und die Existenzbedingungen der arbeitenden Bevölkerung gehoben werden sollten. Den ersten dies¬ bezüglichen Schritt machte England im Jahre 1802. Bezeich¬ nend ist übrigens, daß die gewerbehygienischen Mißstände in Eng¬ land den Anstoß zu „öffentlicher Hygiene“ überhaupt abgaben; denn die Schädigungen der Arbeiter selbst wie die Belästigungen dar Nachbarschaft, das kolossale Zusammenströmen der Arbeiter in die Fabrikstädte, die ungesunden Wohnungs- und Ernährungs¬ bedingungen, die Gefahren der Seuchen Verschleppung und Ähnliches veranlaßten die dortigen Behörden zu eingreifenden Sanierungs¬ maßnahmen. Auf dem Kontinent folgte als erster Staat P r e u ß e n 1824, dann Bayern 1825. In der Folgezeit, etwa von der Mitte des 19. Jahrhunderts ab, treffen wir bereits bei den meisten Kulturstaaten mehr oder minder weitgehende gesetzliche Be¬ stimmungen über Arbeitsvertrag, Regelung der Arbeitszeit, Sonn¬ tagsarbeit, Beschränkung der Frauen- und Kinderarbeit, Unfall¬ schutz und hygienische Maßnahmen, dann Sonderverfügungen für besonders gefährliche Betriebe u. dgl.

Es würde zu weit gehen, an dieser Stelle Entwicklung und Inhalt der internationalen Arbeiterschutzgesetzgebnng zu skizzieren; nur in aller Kürze sollen die einschlägigen Deutschen Verord¬ nungen gestreift werden. In der Entwicklung der deutschen

Entwicklung, Wege und Ziele des gewerbeärztlichen Dienstes.

5

Arbeiterschutzbestrebungen bildet einen Markstein das Jahr 1869, in welchem der Norddeutsche Bund eine Gewerbeordnung aufstellte, die dann nach der Reichsgründung in allen Bundesstaaten zur Ein¬ führung gelangte. Im Jahre 1878 wurde unter anderen die Ge¬ werbeaufsicht an bestimmte, von den Landesregierungen zu er¬ nennende Beamte übertragen. Eine Reihe von Nachträgen sollten dazu dienen, die Gewerbeordnung den Fortschritten der Industrie und der sozialen Erkenntnis anzupassen ; die letzte dieser Novellen ist bekanntlich am 1. Januar 1910 in Kraft getreten.

Die Hauptziele der Gewerbeordnung sind, wie be¬ reits angedeutet: Schutz des Arbeitsvertrages und der Ent¬ lohnung dann Schutz für Leben, Gesundheit und Sittlich¬ keit. Diesen letztgenannten, wichtigsten Teil der Gewerbe¬

ordnung behandeln die einschneidenden Bestimmungen der §§ 135 139 gesetzliche Regelung der Arbeitszeit,

§ 137 V. Wöchnerinnenschutz,

§ 105 a h Sonntagsruhe,

§ 120 a e Unfallverhütung und Gewerbehygiene.

Auf Grund des § 120 e und 139 a ergingen weiterhin seitens

des Bundesrates und verschiedener oberer Verwaltungsbehörden

spezielle Verordnungen, von denen bes. die Bundesrats Verordnungen

über verschiedene gesundheitsgefährliche Betriebe ärztliches

Interesse verdienen. Für Betriebe unter Tag (Bergwerke und.

unterirdische Gruben) bestehen besondere landespolizeiliche Sicher-

heits- und Fürsorgegesetze. Liber die Durchführung der gewerb¬ lichen Schutzgesetze wachen in Deutschland rund 500 Beamte, darunter etwa 20 weibliche während ca. 120 Aufsichtspersonen den Gesetzesvollzug in unterirdischen Betrieben beaufsichtigen.

Nun, meine Herren, läge es doch recht nahe, anzunehmen, daß beim Vollzüge der Arbeiterschutzgesetze, dieser eminent prak¬ tischen sozialhygienischen Betätigung, überall der berufene Hygie¬ niker, derArzt, in erster Linie, beigezogen worden wäre. Dreht sich doch die ganze Arbeiterschutzgesetzgebung in ihrer Haupt¬ sache um Schutz vor Krankheit und Unfall, um Erhaltung und Förderung der Gesundheit des Einzelindividuums wie des arbei¬ tenden Volkes im ganzen, lauter Probleme, zu deren Überwachung und Lösung der Arzt als der berufenste Vertreter erscheint.

Leider sind um dies gleich vorweg zu sagen die Ver¬ hältnisse in der Praxis anders gelagert; wir finden als Aufsichts¬ beamte Männer aus den verschiedensten Berufen vertreten, vor¬ wiegend Techniker und Chemiker; nur in ganz geringem

6

Franz Koelsch,

Umfange wurde von der ärztlichen Mitarbeit Gebrauch gemacht; teilweise wurde letztere sogar direkt refüsiertals unnötig und unzweckmäßig.

Ich möchte mir erlauben, in kurzen Zügen die diesbezüglichen Verhältnisse bei den einzelnen Kulturstaaten anzuführen, soweit mir Material zugängig war. Ganz ohne Arzt ist kein Staat bisher durchgekommen; Umfaug und Art der ärztlichen Mitwirkung bewegen sich jedoch in außerordentlich weiten Grenzen.

Einer besonderen Bevorzugung erfreut sich die ärztliche Mit¬ arbeit in England. Vielleicht mag die geschichtliche Entwick¬ lung zu dieser intensiven Inanspruchnahme mit beigetragen haben;

*

denn da durch ein Gesetz des Jahres 1833 für Kinder und Jugend¬ liche eine verkürzte Arbeitszeit festgesetzt worden war, Geburts¬ register jedoch damals noch nicht geführt wurden, aus welchen das Alter der Betreffenden hätte festgestellt werden können, wurden eben die Ärzte benötigt, um durch persönliche Unter¬ suchung die erforderlichen Alterszeugnisse auszustellen. Hieraus entwickelte sich das Institut der Untersuchungsärzte, welches heute in ausgedehntem Umfange noch besteht.

Zunächst finden wir an der Zentrale der Gewerbeinspektion 2 Medizinalinspektoren, einen 1. Beamten (Dr. Legge) und dessen Stellvertreter, die beide in London wohnen und deren Tätigkeit sich über das ganze Königreich erstreckt. Sie haben die erforderlichen Untersuchungen anzustellen, nach Ermessen den ge¬ meldeten Vergiftungsfällen nachzugehen, die Gewerbeinspektoren zu beraten, ferner besonders jene Orte und Spitäler zu besuchen, wo Gewerbekrankheiten häufig Vorkommen. Dem ersten Medizinal¬ inspektor untersteht auch die Anstellung oder Absetzung der er¬ wähnten Untersuchungsärzte, praktische Ärzte mit be¬ stimmten amtlichen Funktionen. Zurzeit sind über 2000 derartiger .*

Arzte angestellt. Ihnen obliegt innerhalb des ihnen zugeteilten Amtsbezirkes :

1. die Untersuchung der Jugendlichen unter 16 Jahren und Kinder und Ausfertigung der Tauglichkeitszeugnisse für bestimmte Betriebe,

2. die Unfallanzeige und -Untersuchung nach bestimmten Nor¬ men (Formular),

3. die Meldung gewerblicher Vergiftungen durch Blei, Phosphor, Quecksilber, Arsen und Milzbrand,

4. die Beaufsichtigung der Arbeiten in gefährlichen Be-

Entwicklung, Wege und Ziele des gewerbeärztlicken Dienstes. 7

trieben, periodische Untersuchung bestimmter Arbeitergruppen, Beratung über Schutzeinrichtungen usw.,

5. auf Anordnung : Ausführung von Sondererhebungen und Be¬ richten, dann regelmäßiger Jahresbericht u. a.

Innerhalb des Amtsbezirkes steht dem Untersuchungsarzt das Recht des Gewerbeinspektors zu, insofern als er jederzeit jeden Betrieb besuchen kann; Strafanträge sind an den zuständigen Ge¬ werbeinspektor zu stellen. Die Honorierung erfolgt nach Tarif, teils vom Unternehmer (für Tauglichkeitsatteste), teils vom Staate (für die sonstigen Amtshandlungen). Außerdem ist auch jeder Arzt in England insofern zur gewerbehygienischen Mitarbeit an¬ gehalten, als er nach § 73 des englischen Fabrik- und Werk¬ stättengesetzes zur Anzeige verpflichtet ist, wenn er glaubt, daß sein Patient an Milzbrand leidet oder sich bei der Arbeit eine Blei-, Quecksilber-, Phosphor- oder Arsenvergiftung zugezogen hat. Er erhält für jede dieser Anzeigen eine Prämie von 2,50 M., hat jedoch bei schuldhafter Unterlassung bis 40 M. Strafe zu zahlen,

Einige Funktionen gewerbehygienischen Charakters fallen auch dem ordentlichen, von der Sanitätsbehörde angestellten Medi¬ zinalbeamten zu, so die baulichen Einrichtungen der Fabriken und Werkstätten, Einfluß der Beschäftigung auf die Volksgesund¬ heit, Arbeiterwohnungen, Kontrolle der Heimarbeit, Bäckereien usw.

Endlich bestehen zwecks Vorbereitung neuer Verordnungen gemischte Kommissionen, denen auch der Medizinalinspektor angehört, so eine zum Studium der Ventilationsverhältnisse und Luftfeuchtigkeit eine andere zur Untersuchung der Glasurfrage der Frauen- und Kinderarbeit (Bericht 1909).

In Holland wurde 1903 ein medizinischer Berater ernannt: „m edical adviseu r“ (Dr. W i n t g e n s). Seine Tätigkeit umfaßt das ganze Land, er steht in direktem Verkehr mit dem Ministerium und berichtet diesem jedes Halbjahr über seine Tätigkeit. Seine wichtigsten Obliegenheiten sind : Ausfertigung von Gesundheits¬ zeugnissen für bestimmte Arbeiter (Heringsräuchereien, Ziegeleien), 2 monatliche Untersuchung der Frauen und Jugendlichen in den Kerambetrieben, soweit sie mit Bleiglasuren arbeiten, die Über¬ wachung des Caissongesetzes; außerdem obliegt ihm neben den Gewerbeinspektoren auch die Aufsicht über die Durchführung der einschlägigen Arbeiterschutzgesetze. Dr. Wintgens hat über die Bleivergiftung , besonders über Blutveränderung bei den Keram- arbeitern und Diamantschleifern Untersuchungen veröffentlicht.

3 Franz Koelsch,

Außerdem finden wir auch in Holland Privatärzte für be¬ stimmte gewerbehygienische Zwecke zeitweilig autorisiert.

Belgien hat seit 22. Oktober 1895 einen Arzt in die Zentralverwaltung aufgenommen, dem noch 4Kollegen in der Provinz zur Seite stehen. Das Königreich ist in 4 Arzt¬ distrikte geteilt. Die Tätigkeit beschränkte sich anfangs nur auf Untersuchungen über gewerbliche Gesundheitsschädigungen.

Eine Königl. Verordnung vom 31. Januar 1898 überwies diesen Ärzten außerdem die Hygiene der Arbeitsräume, die bisher den Technikern überlassen war; ein Dekret vom 3. Oktober 1898 weiterhin die Überwachung der gefährlichen , ungesunden und lästigen Betriebe (Zündholz-, Bleiweißfabriken, Lumpensortierereien)

sowie die Sicherung der ersten Hilfe bei Unfällen.

Uber die Revision genannter Betriebe werden entsprechende 'Formblätter geführt, die der Zentrale eingesandt werden müssen; die Zahl dieser eingesandten Protokolle betrug im Jahre 1908 1108. Die Gewerbeinspektoren sind gehalten, besondere Beob¬ achtungen über neue Formen von Giftarbeit, verdächtige Er¬ krankungen, Mängel der Wasserversorgung usw. den betreffenden Gewerbeärzten mitzuteilen.

Außerdem sind zur Unterstützung der Gewerbeärzte Mede- cins aggrees vorgesehen, d. h. prakt. Ärzte, die von der Re¬ gierung zur Vornahme bestimmter Amtshandlungen, im vorliegenden Falle zu periodischen Untersuchungen der Arbeiter, autorisiert sind. Sie haben dritter Seite gegenüber ihre dienstlichen Wahrnehmungen streng geheim zu halten; wissenschaftliche Veröffentlichungen hierüber sind nur mit ministerieller Erlaubnis zulässig. Ihre Tätigkeit ist durch Dekret vom 17. Juni 1902 geregelt.

Die Untersuchungsgebühr beträgt für das erste Dutzend der Arbeiter 5 Fr., für jedes folgende Dutzend 1 Fr.; bei Bleiwei߬ fabrikarbeitern 2 Fr.

Sie sind außerdem verpflichtet, alle wissenswerten Beob¬ achtungen gewerbehygienischen Inhalts zu melden. Besonders ein¬ gehend ist die periodische Untersuchung der Bleiarbeiter. Mit Rücksicht darauf, daß die Symptomatologie der chronischen Blei¬ vergiftung z. T. schwierig, z. T. variabel ist, wurde nur eine Ein¬ tragung der einzelnen Symptome in die Formblätter vorgesehen, welch letztere dem Chefarzt einzusenden sind (Portofreiheit!). Die Untersuchung beschränkt sich nicht nur auf die üblichen Merk¬ male des Saturnismus, umfaßt vielmehr eine sehr genaue Blut-

Entwicklung, Wege und Ziele des gewerbeärztlichen Dienstes.

9

analyse mit Hämoglobinbestimmung, Feststellung basophiler Granu-^ lationen, der Leukocytose, Polychromasie usw.

Derartigen Untersuchungen auf Saturnismus wurden z. B. im Jahre 1908 903 Arbeiter unterworfen an 3348 monatlichen Ter¬ minen; hierbei wurden bei 94 Arbeitern Bleisymptome gefunden. Die Zahl der Bleikranken hat sich als Folge dieser Prophylaxe naturgemäß im Laufe der Jahre wesentlich vermindert; im Jahre 1903 wurden unter 1030 Arbeitern noch 332 Bleikranke festge¬ stellt, während 493 Arbeiter geringere Symptome zeigten. In ähn¬ licher Weise ist auch die Beaufsichtigung der Phosphorbetriebe geregelt, in welchen z. B. im Jahre 1908 1521 Arbeiter in 11024 Untersuchungen ärztlich kontrolliert wurden; 73 Arbeiter wurden wegen Zahndefekte oder Anämie beanstandet (im Jahre 1903 noch 387 Arbeiter).

Wir verdanken den belgischen Gewerbeärzten eine ganze Reihe größerer wissenschaftlicher Arbeiten. So wurden seitens der Zentrale bemerkenswerte Erhebungen in Gerbereien und Fellzurichtereien, über die Spiegelfabrikation, Mühlen, Leinenindustrie, Lumpenhandel angestellt. Deffernez arbeitete über Katarakt und Lues bei Glasmachern, über die Quecksilbervergiftung bei Spiegelbelegern, über die Arbeitsbedingungen in der keramischen Industrie B u y s e über Chlorvergiftung u. a.

Neuerdings wurden von Glibert wertvolle Untersuchungen über die chronische Blei- und Schwefelkohlenstoffvergiftung ver¬ öffentlicht, weiterhin über die Leinenindustrie sowie über die bei den dortigen Arbeiterinnen beobachtete Kindersterblichkeit, ebenso über die Woll- und Lumpenindustrie; andere Spezialerhebungen beschäftigten sich mit den gesundheitlichen Verhältnissen in Zünd¬ holzfabriken, Bierbrauereien, Blei weiß und Gummiwarenfabriken, Mühlen usw. und gaben die Grundlagen für diesbezügliche gesetz¬ liche Arbeiterschutzmaßnahmen. Die Anchylostomiasis, die Milz¬ brandfrage, die hygienischen Verhältnisse in Zinkhütten, Glas¬ hütten, Parfümfabriken, bei Caissonarbeiten wurden untersucht, Studien über die Kohlenoxyd- und Quecksilbervergiftung angestellt, Blutbilder, Hämoglobingehalt und Blutdruckverhältnisse bei ver¬ schiedenen Arbeitergruppen studiert. *) Wiederholte Auslandsreisen nach England, Holland, Frankreich, Deutschland und Italien gaben

9 Wir verdanken Gli b e rt auch einige technische Neuerungen, so bezüglich der Kohlenoxydbestimmung in Arbeitsräumen, bezüglich der mikroskopischen und bakteriologischen Luftanalyse , bezüglich eines Kraftmessers zum Messen der Muskelkraft der Hand bei Bleiarbeitern.

10 Franz Koelsch,

dem Chefarzt Gelegenheit, die dortigen Arbeitsverhältnisse und Schutzmaßnahmen persönlich kennen zu lernen.

Neuerdings finden eingehende Erhebungen über die hygienischen

Verhältnisse der Bergbaubetriebe (unter Tag) statt, umfassend die

Arbeitszeiten, Luft und Feuchtigkeit, Krankheit, Invalidität und

Sterblichkeit u. a., wozu von der Kammer (19. Januar 1910) eine

Spezialkommission eingesetzt wurde, bestehend aus 4 Ärzten (3 Universitätsdozenten und 1 prakt. Arzt) und 2 Technikern mit konsultativen Stimmen, unter dem Vorsitze des Gewerbechefarztes.

Was die einschlägigen Verhältnisse in Frankreich betrifft,

so finden sich dort unter 128 Gewerbeaufsichtsbeamten zurzeit

2 Arzte, die jedoch ohne besondere Absicht eingestellt wurden und mit keiner spezifischen Aufgabe betraut sind; es sind eben reine Aufsichtsbeamte. Für gewerbehygienische Fragen war die gelegentliche Mitwirkung von Ärzten vorgesehen. Die Anstellung eigentlicher Gewerbeärzte wurde seit dem Jahre 1874 wiederholt gefordert und diskutiert; aber erst am 22. Juli 1907 wurde auf Antrag des Direktors des Arbeitsbureaus ein Arzt (Di*. Heim) vom Arbeitsminister mit der ständigen wissen¬ schaftlichen Mitarbeit betraut und ihm ein Kollegium von Fachleuten zugestanden. Heim wählte sich 5 Mitarbeiter für klinische Medizin, Blutuntersuchungen, Physiologie und Pathologie, Hautkrankheiten und Chemie.

Bisher wurden auf diese Weise die Gipsfabrikation, die Borsten- und Haarindustrie, das graphische Gewerbe, die Wirkung der Ofen¬ gase, der Schwaden in Färbereien, die gewerbliche Schwefelkohlen¬ stoff- und Quecksilbervergiftung studiert.

Dieser ständige ärztliche Beirat zum Studium der Gewerbepathologie wurde kürzlich (1911) gesetzlich festgelegt.

Daneben finden wir wiederum für bestimmte gefährliche Be¬ rufe (Blei- und Caissonarbeit) beauftragte Untersuchungs¬ ärzte. Bei den Bleiarbeitern ist gefordert ein Zeugnis über Fehlen von Saturnismus beim Eintritt in die Beschäftigung, eine weitere Untersuchung zunächst nach 1 Monat, dann periodische Nachunter¬ suchungen alle 3 Monate. Der ärztliche Überwachungsdienst bei den Caissonarbeitern umfaßt die Aufnahmeuntersuchung, dann die Kontrolluntersuchung zunächst nach 14 Tagen, von da ab ein¬ monatlich. Unfälle der Caissonarbeiter und Erkrankungen, von letzteren auch die leichtesten, müssen registriert werden.

Spanien führte 1906 lokale Korporationen ein, die „Juntas locales de reformas sociales“, die unter dem Präsidium des

Entwicklung, Wege und Ziele des gewerbeärztlichen Dienstes.

11

Bürgermeisters (alcade) stehen und vom Institut für Sozialreform beim Ministerium des Innern abhängen. Diesen „Juntas“ obliegt unter anderen auch die Besichtigung und Begutachtung der hygie¬ nischen Verhältnisse in den Fabriken und sonstigen Gewerbe¬ betrieben; sie setzen sich zusammen aus je 6 Arbeitgebern und Arbeitern. 1 Kurator und 1 Arzt. Allerdings soll dieser gut¬ gemeinten sozialhygienischen Institution ein durchgreifender Erfolg bisher noch nicht beschieden worden sein. Außerdem ist den Aufsichtsbeamten die gelegentliche Beiziehung von Ärzten in besonderen Fällen gestattet.

Bei Italien müssen wir von vorneherein hervorheben, daß die bisherigen Arbeiterschutzgesetze nur einen provisorischen Cha¬ rakter tragen und erst in der Entwicklung begriffen sind. Ein Gesetz des Jahres 1888 überwies den Gesundheitsschutz in unge¬ sunden Betrieben den Gemeinden. Demzufolge übertrug z. B. die Stadt Turin die hygienische Überwachung der Minderjährigen und der betreffenden Betriebe den Armenärzten; nachdem dies zu Unzuträglichkeiten führte, stellte die Stadt einen eigenen „Medico ispettore degli opifici industriali“ auf, dessen Tätigkeit 1908 durch ein mustergültiges Regulativ geregelt wurde. Dieser Arzt nahm (1908) 455 Inspektionen vor, untersuchte 4894 Frauen und Jugendliche, erließ 110 Anordnungen betreffs Betriebs¬ einrichtungen usw. Im Jahre 1909 folgte auch Mailand mit einem ärztlichen Überwachungsdienst, Aufnahme- und periodischer Untersuchung für Giftbetriebe, obligatorischer Anzeige der Syphilis und Tuberkulose. Von den übrigen italienischen Städten liegen allerdings keinerlei Mitteilungen vor.

Bei Besetzung von Fabrikinspektoren in der Schweiz wird in der Regel technische oder medizinische Vorbildung ver¬ langt; wurde doch gerade durch einen Arzt, Dr. Fridolin Schüler, welcher im Jahre 1878 in den Inspektionsdienst eintrat, die erste mustergültige Organisation des Gewerbeaufsichtsdienstes auf dem Kontinent geschaffen. Wie nachhaltig Schuler’s Wirken in der Schweiz gewürdigt wird, mag daraus hervorgehen, daß dessen „Gesammelte Schriften“ im Schweizer Haus der Internationalen Hygieneausstellung ausgelegt wurden. Seither waren noch 2 Arzte (Weg mann und Vogelsänger) tätig. Für besondere Fälle ist zurzeit die Mitwirkung des Professors der Hygiene am Polytechnikum in Zürich (Roth) vorgesehen. Für bestimmte peri¬ odische Untersuchungen (z. B. in Phosphorbetrieben) sind Unter¬ such u n g s ä r z t e aufgestellt, welche vom Staate honoriert werden,

12 Franz Koelsch,

der seinerseits von den Unternehmern entsprechende Gebühren einhebt.

In Österreich wurde bisher nur gelegentlich die ärztliche Mitarbeit in Anspruch genommen. Zwar war 1870 für bestimmte gefährliche Industrien eine ärztliche Aufsicht vorgesehen, jedoch erst 1889 tatsächlich durch Aufstellung bestimmter (nicht¬ amtlicher) Ärzte durchgeführt worden. Das Jahr 1910 brachte die Aufstellung eines k. k. Sanitätskonsulenten für den Gewerbeinspektionsdienst im k. k. Handelsministerium (Dr. vonWunschheim). Derselbe ist aktiver Staatsbeamter und zur Dienstleistung dem Zentral- Gewerbeinspektorat zugeteilt. Die Dienst¬ obliegenheiten des Sanitätskonsulenten erstrecken sich auf ganz Österreich und bestehen in Erledigung der Akten gewerbehygienischer Natur, Erstattung von Referaten, Revision von Betrieben. Er fun¬ giert als fachwissenschaftlicher Berater der Zentralstelle. Eine definitive Dienstinstruktion ist noch nicht erlassen.

Ungarn hat unter seinen (zurzeit 64) Gewerbeaufsichtsorganen 1 Arzt angestellt, dessen Obliegenheiten zwar nicht speziell sta¬ tuiert sind, dem jedoch hauptsächlich hygienische Aufgaben zuge¬ wiesen werden. Insbesondere ist er gehalten, den von den anderen Gewerbeinspektoren beobachteten hygienischen Mißständen nach¬ zugehen. Außerdem steht den Inspektoren die gelegentliche Beiziehung der Amtsärzte zu.

In Dänemark finden wir nur gelegentliche Inan¬ spruchnahme bestimmter Ärzte zur Ausstellung der erforder¬ lichen Zeugnisse für Kinder und Wöchnerinnen, eventuell auch zur sachverständigen Beratung der Inspektoren.

In Schweden ist zunächst fallweise die Inanspruch¬ nahme der Amtsärzte vorgesehen. Außerdem befindet sich seit ca. 4 Jahren 1 Arzt unter den Gewerbeinspektoren, dem besonders hygienische Aufgaben anvertraut sind. Neuerdings wurde den Landeshauptmännern nahegelegt, für alle größeren industriellen Betriebe die Aufstellung besonderer Fabrikinspektionsärzte durchzusetzen, welche die Beachtung der gesetzlichen Vorschriften über die Beschäftigung der Minderjährigen und Frauen zu kon¬ trollieren und bei ihren Besichtigungen etwa vorhandene Kassen-

ärzte zur Teilnahme einzuladen haben. Uber die Revisionstätigkeit ist regelmäßiger Bericht an den Landeshauptmann zu erstatten.

Norwegen sieht nur eine gelegentliche ärztliche Mitwirkung vor ; außerdem bestehen lokale Sanitätskommis-: s i o n e n (deren Tätigkeit auch auf die Arbeiterhygiene sich erstreckt),

Entwicklung, Wege und Ziele des gewerbeärztlichen Dienstes.

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welche von den Kommunen gewählt sind und aus 4 Mitgliedern, darunter 1 Arzt, bestehen.

In Rußland gehen die bisherigen Institutionen auf dem Ge¬ biete des Arbeiterschutzes kaum über die primitivsten Anfänge

hinaus. Ärztliche Inspektoren fehlen, doch sind die Fabrikanten, falls eine gewisse Arbeiterzahl erreicht ist, gesetzlich verpflichtet, auf eigene Kosten „Fabrikärzte“ anzustellen, denen auch die gesundheitliche Beaufsichtigung des Betriebes obliegt. Allerdings ist bei der Abhängigkeit dieser Fabrikärzte vom Unternehmer eine gedeihliche prophylaktische Tätigkeit von vornherein in Frage gestellt. Außerdem sind die Semstwo-Medizinalbeamten mit der hygienischen Überwachung der Fabriken und Werkstätten betraut.

In Finnland sind die Provinzial-, Stadt- und Kommunalärzte gehalten, den Fabrikinspektoren auf Verlangen sachverstän¬ digen Beirat zu geben.

Von den Vereinigten Staaten von Nordamerika hat lediglich der Staat New York seit 1907 einen ärztlichen In¬ spektor (Dr. C. T. Graham Rogers) aufgestellt, welcher seither eine sehr umfassende Tätigkeit entwickelte. So wurden untersucht die hygienischen Verhältnisse in der Damenkonfektion und Hand- schuhfabrikation, bei der Herstellung von Kunstblumen, Federn, Strohhüten, in Wäschereien und Zeugdruckereien, in der Tabak-, keramischen und graphischen Industrie, in Knopfdrehereien und Kürschnereien, in Alkali-, Ultramarin-, Blei weiß-, Gummifabriken usw. Besonders Temperatur, Feuchtigkeit, Beleuchtung, Staubbelästigung wurden teilweise mit Unterstützung von Spezialtechnikern ein¬ gehend untersucht. Anläßlich der Erhebung in Zeugdruckereien wurden in 136 Lokalen 430 Kohlensäurebestimmungen ausgeführt. Weiterhin dürfte dem ärztlichen Inspektor auch die im neuen Caissongesetz vorgesehene ärztliche Überwachung zukommen.

Unter Mitwirkung mehrerer Sachverständiger wurden Form¬ blätter ausgearbeitet, die den Untersuchungen, bzw. Revisionen zur Unterlage dienen sollen, so für die Betriebsrevision im allge¬ meinen, für Luftuntersuchungen, ferner Gesundheitsbögen für die eintretenden Kinder.

In Australien war 1896 bereits ein Arzt im Gewerbe¬ aufsichtsdienst beschäftigt. Neuerdings wurde seitens des Ministeriums eine (in Sydney approbierte) Ärztin der Gewerbe¬ inspektion beigegeben.

In Deutschland besteht zwar als Reichsgesetz die „Gewerbe-

14 Franz Koelsch,

Ordnung“, der Aufsichtsdienst, die Ernennung und Honorierung der Beamten, deren Zahl, Vorbildung und Dienstanweisung isVjedoch den einzelnen Bundesstaaten überlassen. Wir finden daher diese Materie nicht einheitlich geregelt, ebensowenig einheit- * lieh aber auch die ärztliche Mitwirkung beim Gewerbe¬ aufsichtsdienst. . Die Frage an sich ist ja in Deutschland seit Jahren vielfach diskutiert worden, sowohl in ärztlichen wie in parlamentarischen und Arbeiterkreisen. Bereits im Jahre 1896 beschäftigte sich der Verein für öffentliche Gesundheitspflege auf seiner Tagung in Kiel mit diesem Probleme, und hier stellte der Referent, Obermedizinalrat von M er kel- Nürnberg, bekanntlich einer der Vorkämpfer auf gewerbehygienischem Gebiete, die 1. These auf: „Eine gedeihliche Entwicklung der Gewerbehygiene ist ohne Mitwirkung der Ärzte undenkbar.“ Und weiterhin bemerkte Referent treffend: „In unserer Gewerbeordnung stand bisher die ärztliche Mitwirkung fast zwischen jeder Zeile; sie muß aber auf die Zeile kommen.“

Leider mußten noch viele Jahre vergehen, bis diese an sich

selbstverständliche Forderung wenn auch nur teilweise reali-

siert wurde; ja es mag uns deutsche Arzte eine gewisse Resignation überkommen, wenn wir hören, . daß in unserem fortgeschrittenen deutschen Industriestaate versucht wurde, den Arzt bei der prak¬ tischen Arbeiterhygiene, also beim Gewerbeaufsichtsdienste, unter geradezu unglaublichen Motivierungen als unnötig und unzweck¬ mäßig auszuschalten. Allerdings blieben diese Bestrebungen auf die Territorien nördlich der Mainlinie beschränkt. In Preußen, Sachsen und den kleineren Bundesstaaten obliegt dem Kreisarzt neben seinen sonstigen zahlreichen Dienstgeschäften die ärztliche Überwachung der gewerblichen Betriebe und der Heimarbeit sowie die gelegentliche Beratung der Gewerberäte.

Ein wesentlich intensiverer Einfluß wurde dem Arzt in den süddeutschen Bundesstaaten eingeräumt. Hier machte den ersten Schritt Württemberg, indem im Jahre 1905 der bis¬ herige gewerbehygienische Referent des Medizinalkollegiums (Prof. Dr. Scheurlen) den Gewerbeaufsichtsbeamten als ständiger Berater beigeordnet wurde. Die Inspektoren können jederzeit direkt mit ihm verkehren; derselbe nimmt nach Bedarf an den Revisionen teil (ca. 40—50 im Jahr), kann in besonderen Fällen auch die Mitwirkung anderer Spezialisten (z. B. Chemiker usw.) in Anspruch nehmen. Ein Bericht über seine Tätigkeit ist nicht verlangt.

Entwicklung, Wege und Ziele des gewerbeärztlichen Dienstes.

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In Baden wurde 1906 ein Arzt (Dr. Holtzmann) als Gewerbeinspektor angestellt, der zunächst den allgemeinen Revisionsdienst wie die übrigen Beamten zu besorgen hat, daneben als medizinischer Berater der Badischen Fabrikinspektion waltet. Wir verdanken dem badischen Kollegen u. a. Untersuchungen über die Borstendesinfektion, Vergiftungen durch nitrose Gase und durch Benzolverbindungen.

In Elsaß - Lothringen bestand seit 1905 ein Landes¬ gesundheitsinspektor, der dem Ministerium als hygienischer Be¬ amter zugeteilt war und mit Aufgaben aus dem Gesamtgebiete der Hygiene, besonders mit der Seuchenbekämpfung (organisierte Typhusbekämpfung im Südwesten des Reiches) betraut war. Seit Anfang 1906 wurde seine Dienstanweisung dahin geändert, daß ihm hauptsächlich die Gewerbehygiene zugewiesen wurde. Es ob¬ liegt ihm (Dr. Holtzmann) die Begutachtung über die nach § 16 GO. konzessionspflichtigen Betriebe, die Vornahme von Betriebsrevisionen, die medizinische Beratung der Gewerbeaufsichtsbeamten. Er hat auf Anordnung des Ministeriums oder auf Ersuchen der Aufsichts¬ beamten bestimmte Erhebungen zu pflegen, er bearbeitet das bei den Revisionen gesammelte Beobachtungsmaterial. Daneben kann er allerdings noch zu andersartigen sanitätspolizeilichen Aufgaben seitens des Ministeriums mit herangezogen werden. Zur Erfüllung genannter gewerbehygienischer Aufgaben waren z. B. im Vorjahre etwa 120 Reisetage nötig.

In Bayern wurde am 1. Januar 1909 ein „Landes¬ gewerbearzt“ im Hauptamte angestellt, dessen Wirkungskreis sich auf das ganze Land und alle Betriebe erstreckt, welche den Gewerbeaufsichtsbeamten und Berginspektoren unterstehen. Er ist sachverständiger Beirat der Zentrale und gehört als solcher dem Ministerium des Äußern an, dann Berater der Aufsichtsbeamten und des K. Arbeitermuseums. Ihm obliegen gewerbehygienische Untersuchungen, Sammlung und Verarbeitung des anfallenden Materials über gewerbliche Gesundheitsschädigungen, x4ufklärung in Ärzte- und Arbeiterkreisen usw.

Über die Tätigkeit mögen einige Daten aus dem letzten Jahresbericht Auskunft geben: Gutachten 48, Sprechstunden¬ beratungen 11, Vorträge 22, Führungen durch das Arbeiter¬ museum 8, Revisionen 135, Reisetage 91. Größere Abhand¬ lungen wurden bisher publiziert: Über die Perlmutterknopfindustrie über Arbeit- und Tuberkulose-Erhebungen im Malergewerbe auf Grund von 5000 Untersuchungen über Milzbrandtherapie

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Franz Koelsch,

über Augenschutz in Glashütten, über Ramazzini, den Vater der Gewerbehygiene usw. Populäre Presseartikel erschienen über die Berufswahl, über giftige Hölzer, über die Bleivergiftung. Hierzu kommen noch Arbeiten im Laboratorium (Farb-Glasuranalysen, Ver¬ suche mit Häutedesinfektion, Blutuntersuchungen, Tierversuche mit Amylacetatdämpfen u. dgl.).

Meine Herren! Wir können demnach verschiedene Systeme der ärztlichen Mitwirkung im Gewerbeaufsichtsdienste unterscheiden : Zunächst a) die nur nebenamtliche Mitwirkung und gelegent¬ liche Inanspruchnahme der Amtsärzte oder sonstiger Ärzte für besondere Fragen: Norddeutsche Bundesstaaten, Ru߬ land, Dänemark, Norwegen, Spanien, z. T. Italien, oder in engerer Verbindung stehende ständige wissenschaftliche Berater und Kommissionen: Württemberg, Frankreich; dann b) die Einstellung von Ärzten als reguläre Gewerbeaufsichts¬ beamte (ärztliche Inspektoren, z. T. als Berater der übrigen Be¬ amten): Baden, Schweiz, Ungarn, Schweden, Australien; c) endlich die Aufstellung eigener Gewerbeärzte im Hauptamte mit rein ärztlich - hygienischer Betätigung, für das ganze Land oder größere Bezirke: England, Holland, Belgien, Bayern, Elsaß, Österreich, im Staate New York.

Daneben sind in fast allen Industriestaaten noch sog. Unter¬ suchungsärzte aufgestellt zur Vornahme der für gefährliche Betriebe gesetzlich vorgeschriebenen Aufnahme- und Zwischen¬ untersuchungon.

Welches System verdient nun den Vorzug?

Bevor wir in die Kritik dieser 3 Systeme eintreten, dürfte es zweckmäßig erscheinen, zunächst die Aufgaben des Gewerbe¬ arztes und dessen Arbeitsgebiet näher zu besprechen; denn nur auf diese Weise werden wir beurteilen können, inwieweit die bis¬ herigen Verhältnisse den zu stellenden Anforderungen entsprechen.

Über die Art der Betätigung mögen die Anschauungen geteilt sein, je nachdem die Grenzen enger oder weiter gezogen werden. Unserer bisherigen Erfahrung nach dürfte das nach¬ stehende Programm den gewerbeärztlichen Dienst ziemlich er¬ schöpfend umfassen. Selbstredend sei nicht gesagt, daß jeder Ge¬ werbearzt das ganze große Programm gleichzeitig in Angriff nehmen und erledigen muß. Es soll vielmehr nur gezeigt werden, in welcher Weise etwa sich der Gewerbearzt betätigen kann.

Die Programm punkte sind:

Entwicklung, Wege und Ziele des gewerbeärztlichen Dienstes.

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1. Sachverständigentätigkeit für die Zentralstelle und für die Außenbeamten.

2. Durchführung der Arbeiter schutzgesetze:

a) Revisionen, Sammlung und Bearbeitung des anfallenden Materials,

b) Organisation und Kontrolle der TJntersuchungsärzte,

c) Fürsorge für 1. Hilfe,

d) hygienische Untersuchungen als Basis für das Vorgehen der Aufsichtsbeamten.

3. Selbständige wissenschaftliche Arbeiten:

a) Statistik,

b) Serienuntersuchungen,

c) experimentelle Arbeiten im Laboratorium,

d) klinische Beobachtungen.

4. Aufklärende Tätigkeit (Referate, Vorträge) für Auf-

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sichtsbeamte, Arzte, Arbeiter usw.; in Fortbildungsschulen und Sprechstunden.

5. Förderung verschiedener sozial hygienisch er Bestrebungen und Probleme.

Hierzu einige aufklärende Bemerkungen! Beim ersten Pro¬ grammpunkte, die Gutachtertätigkeit betreffend, dürfte zur Erläuterung wenig zu sagen sein.

Zu Punkt 2 seien einige Bemerkungen gestattet:

a) Die Revisionen, besonders in gesundheitsgefährlichen Betrie¬ ben, werden am besten in Begleitung der zuständigen Aufsichtsbeamten vorgenommen. Letzteren werden eventuelle Beanstandungen zwecks Abstellung mitgeteilt. Das Augenmerk richtet sich auf alle in gesundheitlicher Beziehung maßgebende Einrichtungen und Vor¬ gänge. Um über die vorkommenden Gesundheitschädigungen nach Art und Ort orientiert zu sein, muß die Mitwirkung der praktizierenden Kollegen gesichert werden; denn diese sind in der Lage, durch vertrauliche Mitteilungen auf manche sonst

verborgen bleibende Erkrankungen oder Mißstände hinzuweisen.

„Die Arzte müssen die Gesandten sein, korrespondierende Mit¬ glieder, Lieferanten von Fällen, von Beobachtungen und Problemen für das Studium“, wie Professor Devoto-Mailand anläßlich der Grundsteinlegung seiner Klinik für Arbeiterkrankheiten richtig be¬ merkte.

Besonders muß auch auf die Mitwirkung der Kranken¬ kassen und Krankenanstalten, dann aber auch der Ar¬ beiterorganisationen Wert gelegt werden ; diese müssen ver-

Archiv für Soziale Hygiene. VII. 2

18 ' Franz Koelscli,

anlaßt werden, ihre Erfahrungen über gewerbliche Erkrankungen und hygienische Mißstände umgehend- dem Gewerbearzt zu be¬ richten.

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Radikaler wirkt natürlich die gesetzliche A n z e i g e p f 1 i c h t für gewerbliche Erkrankungen, bzw. Vergiftungen. Die¬ selbe wurde seit einet Reihe von Jahren schon von namhaften Ge¬ werbehygienikern gefordert (S ommerfeld, «Sternberg, Le -w in, Kaup u. a.), seitens der Internationalen Vereinigung für gesetz¬ lichen Arbeiterschutz in Basel durch Eingabe bei allen Kultur¬ staaten (Mai 1906) offiziell in Anregung gebracht ,.als der einzige Weg zur sicheren Feststellung der Quelle und der Größe der ge¬ werblichen Vergiftungsgefahren“. Wie oben angedeutet, besteht eine derartige Anzeigepflicht bereits in England, indem jeder Arzt zur Anzeige verpflichtet ist, „sofern er zu einem Kranken gerufen wurde, von dem er glaubt, daß er an Blei-, Phosphor-, Arsenik- oder Quecksilbervergiftung oder an Milzbrand leidet und daß er sich diese Krankheit in einer Fabrik oder Werkstätte

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zugezogen hat.“ Der Staatssekretär ist befugt, diese Anzeigepflicht ev. auch auf andere Berufskrankheiten auszudehnen. Weiterhin ist auch der Zivilstandsbeamte verpflichtet, dem Chefinspektors eine Kopie des Sterbezettels zu übersenden, falls der Tod durch der¬ artige Erkrankungen erfolgt war.

Eine Anzeigepflicht finden wir ferner in der Schweiz, aller¬ dings auf anderer Basis; dort besteht nämlich die Haftpflicht des Unternehmers für Schäden, welche die Arbeiter durch bestimmte gefährliche Arbeiten erleiden. Derzeitig sind 34 Gifte inkl. Er¬ krankung an Milzbrand, Rotz und Pocken in die Liste dieser ent¬ schädigungspflichtigen Gewerbekrankheiten aufgenommen. Die An¬ zeige erfolgt durch den Unternehmer. Sonst besteht eine An¬ zeigepflicht meines Wissens nur in Sachsen insofern, als seitens der Kreishauptmannschaft die Krankenkassen zur Anzeige gewerb¬ licher Erkrankungen binnen 3 Tagen nach Beginn der Erkrankung angehalten werden können. Der Erfolg dieser Verfügung war eklatant: Während 1903 der Gewerbeinspektor keine ernsteren Erkrankungen an Bleivergiftung verzeichnen konnte, kamen im folgenden Jahre, also nach Inkrafttreten der Anzeigepflicht, im Stadtbezirke Leipzig allein nicht weniger als 293 Fälle zur amt¬ lichen Kenntnis, i. J. 1907 in ganz Sachsen 491 Fälle.

Meine Herren! Auch ich selbst- habe nicht versäumt, gleich nach meinem- Dienstantritte meiner Vorgesetzten Stelle eine kurze

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Denkschrift über die Notwendigkeit der Anzeigepflicht

Entwicklung', Wege und Ziele des gewerbeärztlichen Dienstes. 19

in Bayern nebst entsprechendem Antrag vorzulegen, derart, daß etwa 10, in ihrer Wirkungsweise gut charakterisierte, praktisch- wuchtige Gifte unter die Anzeigepflicht fallen sollen, natürlich auch Milzbrand, Kotz und Pocken. Durch äußere Umstände wurde die Normierung dieser Anzeigepflicht im Polizeistrafgesetzbuche bisher hinausgeschoben, kommt aber noch in dieser Landtagssession zur Vorlage. Vielleicht dürfte in absehbarer Zeit diese für Bayern seit einigen Jahren vorbereitete Anzeigepflicht durch Reichsgesetz über¬ holt werden; denn im März heurigen Jahres wurde im Reichs¬ tage eine Resolution Albrecht und Genossen eingebracht des In- , halts, es möchten alle gewerblichen Vergiftungen, insbesondere solche, die bei Gewinnung und Verarbeitung von Teerabkömm¬ lingen, Arsen, Blei, Chlor, Chrom, Schwefel, Stickstoffverbindungen, Quecksilber und Phosphor Vorkommen, einer ärztlichen Anmelde¬ pflicht unterstellt werden. Über den weiteren Verlauf dieser An¬ gelegenheit wird also die nächste Zukunft entscheiden.

Die Voraussetzung für einen Erfolg der Anzeigepflicht w7äre natür¬ lich die völligeUnabhängigkeitderbetr. Ärzte vom Unter¬ nehmer, die Ausschaltung von Kollisionen zwischen Pflicht und Privat¬ rücksichten. Es hat nicht an Stimmen gefehlt, welche mit Rücksicht auf diese schwer ausschaltbaren Momente der Anzeigepflicht wenig Vertrauen entgegenbrachten. Richtig ist ja, w7ie Teleky hervor¬ hebt, daß eine mangelhaft durchgeführte Anzeigepflicht eher schäd¬ lich wirken kann insofern, als durch die geringe Zahl gemeldeter Fälle den Gegnern der Arbeiterschutzgebung eine gewichtige Waffe in die Hand gegeben wird.

Ich möchte aber gleichwohl an der Notwendigkeit der An¬ zeigepflicht unbedingt festhalten, da wir nur auf diese Weise ein annähernd richtiges Bild bekommen von Umfang, Art und Ort der wuchtigsten gewerblichen Erkrankungen und damit auch eine Hauptgrundlage für die weitere gewerbeärztliche Tätigkeit.

b) Ein sehr wichtiger Teil des gewerbeärztlichen Dienstes besteht in der Organisation und Kontrolle der Tätig¬ keit der sog. Untersuchungsärzte. Wie bereits angedeutet, sind durch verschiedene Verordnungen Untersuchungen der Arbeiter vorgesehen teils vor Eintritt in den Betrieb, teils peri¬ odisch während derArbeit. Zu ersteren zählen : die Arbeiter in Quecksilber-Spiegelbelegereien, Bleifarben- und Bleizuckerfabriken, Alkalichromat- und Akkumulatorenfabriken, Zinkhütten und Thomas¬ schlackenmühlen, die Arbeiterinnen in Steinkohlenbergwerken, Zink-

und BleierzbergwTerken und Kokereien im Regierungsbezirke Oppeln,

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Franz Koelsch,

die Arbeiterinnen und Jugendlichen in Glashütten, Walz- und Hammerwerken, die Jugendlichen in Steinkohlenbergwerken. Zu letzteren zählen die Spiegelbelegeanstalten, Bleifarben- und Blei¬ zuckerfabriken, Alkalichromat-, Akkumulatorenfabriken, Thomas¬ schlackenmühlen, Vulkanisierungsanlagen, Blei-Zinkhütten, Maler und Lackierer auch die Caissonarbeiter bei höherem Druck.

Nach dieser Richtung liegt nach vielfachen Erfahrungen noch manches im argen, sei es daß die Untersuchungen nicht zur vor¬ geschriebenen Zeit oder nicht in entsprechender Weise oder mit der nötigen Genauigkeit vorgenommen werden. Es dürfte daher durchaus empfehlenswert sein, den Untersuchungsärzten ähnlich wie in Belgien, ein einheitliches Formblatt hinauszugeben, um sie an der Hand des Vordrucks auf die im vorliegenden Falle in Be¬ tracht kommenden Symptome und Details hinzuweisen. Von Zeit zu Zeit wird der Gewerbearzt selbst den Untersuchungen anwohnen und die Tätigkeit der Untersuchungsärzte kontrollieren. Überhaupt muß die periodische Untersuchung mehr vertieft werden; wir dürfen uns z. B. bei der Bleiarbeiteruntersuchung nicht auf Saum und Obstipation, ev. Kolik beschränken, müssen vielmehr versuchen, auf Grund genauer Blutbild-, Blutdruck-, Hämoglobinbestimmungen und minutiöser persönlicher Unter¬ suchung möglichst frühzeitig die Fälle von Saturnismus zu eruieren. Ähnliche Verhältnisse gelten für die Schwefelkohlenstoff-, Chromatbetriebe u. a. Gleichzeitig soll eine entsprechende kurze Belehrung der betr. Arbeiter stattfinden.

Begreiflicherweise müssen wir darauf bedacht sein, die er¬ krankten Arbeiter möglichst frühzeitig zu entdecken und von der gefährlichen Arbeit zu entfernen, bei einer anderen, harm¬ loseren Arbeit unterzubringen oder krank zu melden. Allerdings setzt diese wohltätige Prophylaxe voraus, daß dem Arbeiter hier¬ durch eine finanzielle Einbuße nicht erwächst; es müssen seitens der Kranken- oder Wohlfahrtskassen Mittel bereitgestellt werden, welche den bei der Kontrolluntersuchung suspendierten Arbeitern die Lohndifferenz vergütet.

Natürlich muß auch die Unabhängigkeit dieserUnter-

suchungsärzte gewahrt bleiben ; zweckmäßig sollen daher nicht

die betreffenden Kassenärzte, der Hausarzt des Fabrikanten usw.

hierfür anerkannt werden, vielmehr möglichst der heimischen

Privatpraxis entrückte Arzte, Amts- oder Militärärzte, Arzte aus dem Nachbarorte oder einem anderen Stadtteil usw. Die Auf¬ stellung und Absetzung dieser Untersuchungsärzte muß offiziell

Entwicklung, Wege und Ziele des gewerbeärztlicken Dienstes.

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durch die zuständige Behörde erfolgen (Regierung, Zentralstelle im Ministerium) nach Rücksprache mit dem Gewerbearzt. Die Hono¬ rierung soll nach bestimmtem Tarif erfolgen; die Taxen sind vom Steueramte oder von der Gemeinde einzuziehen und vom Amte an den Arzt hinauszuzahlen.

Auf diese Weise wird es sich ermöglichen lassen, der bisher vielfach nur formalen Untersuchung die Bedeutung zu geben, welche ihr zukommen soll, die Autorität und Unabhängigkeit des Unter¬ suchungsarztes zu wahren, die Arbeitgeber und -nehmer periodisch auf die große Bedeutung der gesundheitlichen Prophylaxe hinzu¬ weisen.

Die Resultate der Untersuchung werden umgehend dem Ge¬ werbearzt übersandt, der seinerseits das Weitere veranlaßt und die Ergebnisse verarbeitet.

c) Dem Gewerbearzt obliegt weiterhin die Fürsorge für das Rettungswesen, für Bereitstellung von Verbandsmitteln und deren richtige Anwendung durch eingeübte Personen, für Bereit¬ stellung von Sauerstoffapparaten, Tragbahren usw.

d) Endlich muß der Gewerbearzt als Amtshygieniker in der Lage sein, die experimentellen Grundlagen zu geben, auf die sich die oft ziemlich eingreifenden Sanierungsmaßnahmen der Aufsichtsbeamten stützen können. Bisher war der Aufsichts¬ beamte in den meisten Fällen auf die Spekulation und auf die Güte seiner Sinnesorgane angewiesen, um z. B. den Grad der Luft¬ verunreinigung durch Gase, durch Staub usw., die Giftigkeit eines Stoffes, die Lichtreize und Beleuchtungsmängel festzustellen. Und doch wäre es in vielen Fällen notwendig, exakte Begriffe vom Grade der in Betracht kommenden Luftverunreinigung oder der Giftwirkung eines Stoffes zu bekommen, besonders um eventuell den Reklamationen des renitenten Unternehmers mit Nachdruck entgegentreten zu können. Denn nichts schädigt die Autorität des Aufsichtsbeamten mehr, als wenn seine Auflage in höherer Instanz zurückgewiesen oder eingeschränkt werden muß. Liegt aber eine vorherige exakte Untersuchung vor, so vermag kein Gegengutachten mehr den Unternehmer von der manchmal finanziell ziemlich be¬ lastenden Auflage zu befreien.

Hier wären also anzuführen: Analysen verdächtiger Farben und Glasuren, quantitative und morphologische Untersuchungen über die Gefährlichkeit einer Staubart, über die Menge eines Gift¬ stoffes in der Atmungsluft oder im Staube der Räume, Kontrolle der Desinfektion milzbrandverdächtigen Materials (Probeentnahme,

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Franz Koelsch,

Einlegen von Sporen und Maximalthermometern) , Helligkeits¬ prüfungen, eventuell sogar Trinkwasser- und Abwässeruntersuchung, dann ärztliche Untersuchung einzelner Arbeiter wegen verdächtiger Symptome, Blutarmut, Hautausschläge u. dgl. m.

Voraussetzung für die Vornahme der genannten Untersuchungen ist natürlich die entsprechende ins t rum enteile Ausrüstung. Abgesehen von ärztlich-diagnostischen Hilfsmitteln sind Ohren-, Nasen-, Kehlkopfspiegel, Apparate zur Hämoglobin- und Blutdruck¬ bestimmung, Mikroskop, Thermometer, Hygrometer, Helligkeits¬ prüfer, Apparate zur Luftanalyse auf gas- und staubförmige Ver¬ unreinigungen, photographischer Apparat usw., das für jeden Ge¬ werbearzt unbedingt notwendige Handwerkszeug, das je nach Arbeitsgebiet noch durch andere Apparate ergänzt werden muß. Notwendigerweise ist zur Aufbewahrung der Apparate und Reagen- tien, zur Vornahme verschiedener Analysen, eventuell von Tier¬ versuchen ein Arbeitsraum, einLaboratorium erforderlich, ln London, Brüssel, München, meines Wissens auch im Haag sind derartige gewerbeärztliche Laboratorien bereits eingerichtet, in Straßburg für die nächste Zeit geplant; auch für Österreich wurde die Errichtung einer gewerbehygienischen Versuchsstation bereits mehrfach gefordert. Zum Teile verdankt ja auch unsere Gastgeberin, das Institut für Gewerbehygiene in Frankfurt, diesen Überlegungen und Bedürfnissen seine Entstehung.

3. Ein unerschöpfliches Arbeitsgebiet erschließt sich dem Ge¬ werbearzt in der selbständigen wissenschaftlichen Untersuchung der zahllosen gewerbehygienischen Fragen. Die Statistik, Serienuntersuchungen in einzelnen Berufsklassen und deren Arbeitsstätten, experimentelle Arbeiten im Laboratorium, klinische Beobachtung interessanter gewerblicher Krankheitsbilder alle diese Methoden bieten so reiche Ausbeutungsmöglichkeiten, daß sie in einer Lebensarbeit kaum erschöpft werden.

Gestatten Sie mir, meine Herren, daß ich in aller Kürze noch auf die genannten Arbeitsmethoden näher eingehe. In welch ansehn¬ lichem Umfange dieselben von den wenigen, bis jetzt existierenden Gewerbeärzten bereits geübt wurden, zeigen die bereits oben mit¬ geteilten Arbeiten der genannten Herren.

a) Zunächst einige Worte über die Statistik. Der hohe Wert einer zuverlässigen beruflichen Morbiditäts- und Mortalitäts¬ statistik ist unbestritten. Die richtig durchgeführte Statistik allein gibt den wahren Maßstab dafür, wo Verbesserungen nötig sind, ob etwas, was und wieviel erreicht wurde und wo die Hebel zu neuer

Entwicklung, Wege und Ziele des gewerbeärztlichen Dienstes.

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Tätigkeit angesetzt werden müssen. „Eine richtige Methodik der Berufsstatistik ist das Fundament der Gewerbehygiene“, sagt Rosen feld. Es ist hier nicht der Ort, über diese Methodik, über die Schwierigkeiten, Fehlerquellen und Fehlschlüsse der beruf¬ lichen Morbiditäts- und Mortalitätsstatistik Ausführliches zu sagen. Jedenfalls darf sich der Gewerbearzt statistischen Arbeiten nicht entziehen, da sie die Grundlage gewerbehygienischen Wissens und Handelns abgeben.

b) Ebenso kommt den Serienuntersuchungen in den ver¬ schiedensten Berufsarten wesentliche praktische Bedeutung zu, einerseits um über die gesundheitlichen Verhältnisse einzelner Be¬ rufe und Betriebe einwandfreie Kenntnis zu bekommen, andererseits um die grundlegenden Normal zahlen zu eruieren, die für die hygienischen Verhältnisse der einzelnen Berufsarten maßgebend sein müssen. Bisher basierten unsere Normen für die Temperaturen,

Feuchtigkeit, Belichtung, Staub- und Gasbelästigung usw. eigentlich

mehr oder minder nur auf theoretischen Überlegungen und Labora¬ toriumserfahrungen, Leider ist in der gewerbeärztlichen Praxis mit diesen Normalzahlen oft relativ wenig anzufangen; wir werden diese Zahlen gelegentlich merklich überschritten finden, ohne daß wir in der Lage sind, irgendwelche Gesundheitsschädigungen wahr¬ zunehmen. Viel richtiger ist es daher, diese Normalzahlen aus der betreffenden Industriegruppe selbst zu entnehmen. Wir stellen dabei in einer Reihe von Betrieben der gleichen Gruppe mit normalen Gesundheitsverhältnissen die eben in Betracht kommenden Zahlen (Temperaturen, Feuchtigkeit, Helligkeit, Luft¬ verunreinigungen usw., eventuell Fälle von Vergiftungen) fest und nehmen hiervon den Durchschnitt; bleibt ein Betrieb erheblich über diesem „Betriebsgruppen- Index“, so haben wir das Recht und die Pflicht, mit allen Mitteln die baldige Sanierung zu fordern. Das Bedürfnis nach einem bestimmten, zahlenmäßig festzulegenden Maßstabe hat bei verschiedenen Staaten bereits zur Aufstellung derartiger Standardzahlen geführt (England, Frankreich), die dem revidierenden Beamten einen Anhalt bei seiner Dienstestätig¬ keit geben. AVenn auch das persönliche Ermessen des Beamten hierdurch durchaus nicht ausgeschaltet werden soll, so dürften doch besonders bei Beanstandungen derartige der Praxis ent¬ nommene Grundsätze eine wertvolle Unterstützung abgeben und in strittigen Fällen kaum entbehrt werden können.

Außerordentlich begrüßenswert würde ich es erachten, wenn in den verschiedenen Staaten nach dieser Richtung gleich-

24 Franz Koelsch,

mäßig, nach gleichen, vorher besprochenen Gesichtspunkten und mit gleichen Methoden vorgegangen würde. Der sogenannte „Be- triebsgruppen-Index“ würde bei derartigem internationalem Vor¬ gehen außerordentlich an Wert gewinnen.

c) Zu dem Punkte „experimentelle Arbeiten“ dürften sich weitere Ausführungen erübrigen. Noch harren Dutzende der be¬ deutungsvollsten Fragen der wissenschaftlichen Forschung und Er¬ klärung: das Problem der Ermüdung, die Physiologie der Arbeit überhaupt, die Wirkung zahlreicher Giftstoffe, die Resorptions- und Toleranzgrenzen für gewisse Stoffe von zahlreichen kasuistischen Themen ganz zu schweigen. Hierin den Weg gewiesen zu haben ist unvergängliches Verdienst Lehmann ’s (Wiirzburg) und seiner Schule; gleichwohl bleibt für jeden Gewerbearzt noch für unabsehbare Zeit Material genug zu eigener exakter Forschung übrig.

d) Schließlich dürfte sich jedem Gewerbearzt auch das klinische Studium gewerbepathologischer Symptome von selbst aufdrängen. Es ist durchaus kein Zufall, daß neuerdings Spezi al- kliniken für Ar beit er kr ankh eiten geschaffen wurden; die Errichtung der Mailänder Klinik, das Projekt der Bndapester Anstalt, das Teleky’sche Ambulatorium in Wien stellen nur eine neue Phase in der Entwicklung unserer Materie dar, die von selbst zur Beobachtung und Therapie des Berufskranken hin¬ überleitet. Die Erfolge dieser neuen Form gewerbeärztlicher Tätig¬ keit liegen bereits vor uns in Gestalt der vielseitigen Arbeiten aus dem Mailänder Institut sowie der Wiener Mitteilungen aus dem Gebiete der Sozialen Medizin von Teleky.

Wenn auch aus naheliegenden Gründen nicht allerorts der¬ artige Kliniken oder Ambulatorien entstehen können, so dürfte das Bedürfnis nach ärztlicher Beobachtung gewerbepathologischer Er¬ scheinungen sich mit Hilfe der Krankenkassen und Kassenärzte überall leicht befriedigen lassen, etwa derart, daß ambulante Patienten seitens der Kassenverwaltungen usw. regelmäßig zu einem Termin vorgeladen werden, interessante bettlägerige Patienten in den betreffenden Krankenanstalten besucht werden. Im übrigen dürften die weiteren Erfahrungen besonders der Mailänder Klinik abzu warten sein.

4. Ein weiteres Arbeitsgebiet betrifft die Aufklärung. Nachdem eine Gefahr nur dann wirksam vermieden werden kann, wenn sie nach Art und Wirkungsweise genau bekannt ist, ist die Aufklärung über die wichtigsten gewerblichen Schäd-

Entwicklung, Wege und Ziele des gewerbeärztlichen Dienstes.

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liclikeiten und ihre Verhütung eine zwingende Notwendig¬ keit. Tatsächlich dürften Sie, meine Herren, kaum ein dankbareres Publikum linden als die Arbeiterschaft bei Besprechung gewerbe¬ hygienischer Fragen, bes wenn der Vortrag was eigentlich selbstverständlich sein soll mit Demonstrationen, Lichtbildern usw. wirksam aufgeputzt ist. Auch populäre Artikel in der Tagespresse vermögen hierbei viel Nutzen zu stiften. Aber auch die Ärzte, Gewerbeaufsichtsbeamten, die Verwaltungsbeamten und andere Interessentengruppen bedürfen gelegentlicher Aufklä¬ rung über aktuelle Fragen, sei es in Form von Vorträgen, oder von Referaten in der einschlägigen Literatur.

Vielleicht dürfte es nicht indiskutabel erscheinen, wenn der Gewerbearzt auch den gewerbehygienischen Unterricht in den Fortbildungsschulen selbst übernimmt, soweit seine übrigen Dienstesaufgaben dies zulassen.

Endlich wäre die Beratung des Publikums in bekanntgegebenen Sprechstunden nicht zu vergessen; jedermann soll sich vom Gewerbearzte Rat erholen können, sei es über Berufswahl und Be¬ rufswechsel, Schutzmaßnahmen (Brillen, Respiratoren usw.), ver¬ dächtige Krankheitssymptome, Verbesserung von Betriebseinrich¬ tungen usw. Besonders die Beratung bei der Berufswahl ist bekanntlich eine Betätigung von weittragender sozialer Bedeutung, der sich der Gewerbearzt nicht entziehen darf.

5. Unter dem letzten Punkte müssen wir die Förderung der Arbeiterwohlfahrt .im weitesten Sinne des Wortes subsumieren , sei es nun Alkohol- und Tuberkuloseprophylaxe, Säuglingsschutz , Errichtung von Stillstuben, Konsumanstalten, Arbeiterwohnungen u. dgl. Eine wenn auch flüchtige Kenntnis der hierbei in Betracht kommenden Grundsätze ist für den Ge¬ werbearzt unerläßlich; je nach Zeit und Vorliebe bleibt ein ge¬ naueres Studium dieser sozialhygienischen Einrichtungen dem ein¬ zelnen Vorbehalten. Ganz besonders bedürfen, wie dies Kaup hervorgehoben hat, die Probleme der Jugendlichen- und Frauenarbeit eingehenden Studiums im Hinblick auf die tiefgreifende Rück¬ wirkung dieser Erscheinungen auf das Volkswohl, auf Wehrfähig¬ keit und Erzeugung lebentüchtiger Nachkommenschaft. Mehr wie bisher müßten künftig unsere Schutzbestrebungen von derartigen großen Gesichtspunkten geleitet werden.

Meine Herren! Ich habe versucht, Ihnen mit meinen Ausfüh¬ rungen ein Bild zu zeichnen von den vielseitigen und wich¬ tigen Aufgaben, welche des „Gewerbearztes“ harren. Ich

26

Franz Koelsch,

habe bewußt den Kreis seiner Tätigkeit möglichst weit um¬ schrieben ; das Gebiet ist aber auch tatsächlich so vielseitig, durch so viele gesetzliche, technische und sozialhygienische Momente kompliziert, daß eine engherzige Auffassung das Institut des Ge¬ werbearztes nur diskreditieren könnte.

Wenn wir nun, nachdem wir über die vielseitigen Aufgaben orientiert sind, welche des Gewerbearztes harren, uns in eine Kritik der oben erwähnten, bisher bei den einzelnen Industrie¬ staaten geübten ärztlichen Mitwirkung einlassen, so mag es zu¬ nächst jedermann einleuchtend erscheinen, daß die nur gelegentliche Beiziehung der beamteten Ärzte oder die nebenamtliche Tätigkeit einzelner Medizinalpersonen doch kaum derartigen Anforderungen entsprechen kann. Zunächst sind die Amtsärzte mit Arbeiten aller Art so reichlich versehen, daß sie kaum Zeit finden dürften, mit entsprechendem Eifer detaillierten gewerbehygienischen Fragen nachzugehen. Andererseits aber ist es den Amtsärzten bei nur gelegentlicher Inanspruchnahme kaum möglich, das umfang¬ reiche Gebiet der Arbeiterhygiene vollkommen zu beherrschen, die Wechsel vollen technischen Neuerungen und die große Literatur ständig zu verfolgen, sich mit den einschlägigen Untersuchungs¬ methoden und deren Technik vertraut zu machen. Die Materie hat eben bereits einen Umfang angenommen, der eine Speziali¬ sierung notwendig macht. Außerdem sei darauf hingewiesen, daß dem Amtsärzte nicht einmal der Zutritt zu einem Betriebe jederzeit so frei steht, wie dies zu einer ersprießlichen Tätigkeit notwendig wäre.

Etwas zweckmäßiger erscheint die Ans t e 1 1 u n g v o n Ä r z t en als Fabrikinspektoren, nachdem hierdurch wenigstens die Möglichkeit gegeben ist, sowohl innerhalb des Dienstbezirkes als auch durch Beratung der Kollegen das ärztlich- hygienische Moment mehr zur Geltung zu bringen. Als Mißstand dürfte wohl der durch die übrigen Amtsgeschäfte bedingte Zeitaufwand anzusprechen sein, der für die rein hygienischen Arbeiten verloren geht. Zweifel¬ los lassen sich aber auch auf diesem Wege, bes. bei entsprechender Organisation, doch schon Erfolge erzielen.

Die beste Lösung erscheint die Beiziehung von Ärzten nach dem Beispiele, das zunächst England, dann in noch glück¬ licherer Ausbildung Belgien gegeben hat, ähnlich der Stellung, welche der Landesgewerbearzt in Bayern, der Gewerbearzt in Elsaß, der Sanitätskonsulent in Österreich bekleidet. Denn das große Arbeitsgebiet verlangt eine, durch die formellen Arbeiten

Entwicklung, Wege und Ziele des gewerbeärztlicken Dienstes.

27

des regulären Gewerbeaufsichtsdienstes nicht beeinträchtigte Kon¬ zentration auf die hygienisch-sozialen Fragen ganz abgesehen davon, daß die über das ganze Land und über alle Betriebe gleich¬ mäßig ausgedehnte Tätigkeit ein mehr abgerundetes, dabei doch wieder vielseitigeres Bild abgibt als die Tätigkeit im umgrenzten kleinen Dienstbezirke. Ich möchte daher diesen grundsätzlichen Unter¬ schied zwischen „ä r z 1 1 i c h e m I n s p e k t o r“ und „Gewerbearz t“ ausdrücklich betonen und meine Ausführungen lediglich auf letzteren, den eigentlichen Gewerbearzt, bezogen wissen.

Selbstredend muß der Gewerbearzt die Berechtigung zur jederzeitigen Revision eines jeden Betriebes besitzen, weiter¬ hin auch das Recht mit den Aufsichtsbeamten, Unternehmern und Arbeitern, Ärzten und ^Krankenkassen, kurz mit allen in Betracht kommenden Faktoren in direkten Verkehr zu treten. Eine derartige Bewegungsfreiheit ist m. E. für eine ersprießliche Tätig¬ keit des Gewerbearztes unerläßliche Vorbedingung.

Natürlich ist selbst für einen kleinen Staat ein einziger Arzt zu w e n i g. Die vielseitige Tätigkeit, z. T. auf auswärtigen Dienst¬ reisen, insbesondere der für alle experimentellen Arbeiten erforder¬ liche große Zeitaufwand, erfordert m. E. selbst für kleinere Ge¬ biete die Anstellung mehrerer Ärzte, mindestens von 2, die sich gegenseitig unterstützen und vertreten können.

Die Mitwirkung der Amtsärzte soll jedoch nicht völlig aus¬ geschaltet werden ; sie soll sich erstrecken auf die gewerbehygienischen Beobachtungen im Rahmen der allgemeinen Hygiene, auf einfache, lokale Mißstände, Schutz der Umgebung der Arbeitsstätten, Kon- zessionierung u. dgl.

Meine Herren ! Die Nützlichkeit des gewerbeärzt¬ lichen Dienstes, die Bedeutung für die weitestenBe- völke rungsschichten glaube ich durch meine Ausführungen in extenso dargetan zu haben Daraus resultiert aber auch der Schluß, in den noch ausständigen Industriestaaten dem Institut der Gewerbeärzte sich nicht länger zu verschließen. Ersprießliches ist aber nur vom eigentlichen Gewerbearzte zu erwarten, in dem von mir ver¬ tretenen Sinne, nicht in der verwässerten Form, welche vor einiger Zeit von Kähler (Soz. Praxis XIX. Nr. li/13) für die Norddeutschen Bundesstaaten in Vorschlag gebracht wurde. Kähler wollte For¬ schung und Gewerbeaufsichtsdienst getrennt wissen, indem das Institut f. Gewerbehygiene in Frankfurt entsprechend ausgebaut und durch Zuteilung ärztlicher Kräfte zu gewerbehygienischen Forschungen in großem Umfange befähigt würde; durch Kurse für

28 Franz Koelsch,

Kreisärzte und Aufsichtsbeamte sollen diese Ergebnisse dann für die Praxis verwertet werden. Meine Herren! Auch ich würde lebhaft dafür plaidieren, das Frankfurter Institut zu einer deut¬ schen wissenschaftlichen Zentrale für gewerbehygienische For¬ schung mit Laboratorien usw. auszubauen, ev. sogar in Verbindung mit einer kleinen Klinik für Gewerbekrankheiten. Ein derartiges Zentralinstitut würde für das ganze Reich von weittragender Be¬ deutung werden. Hingegen möchte ich den übrigen Vorschlägen Kählers entschieden entgegentreten , da sie nur Halbheiten bleiben, welche den an eine ersprießliche gewerbeärztliche Tätig¬ keit zu stellenden Anforderungen in keiner Weise entsprechen und insbesondere den größten Vorteil des Gewerbearztes, nämlich die Zugehörigkeit zum Aufsichtsdienste und die jederzeitige Voll¬ macht zu Betriebsrevisionen, überhaupt den Konnex mit der täg¬ lichen Praxis, von vorneherein preisgeben. Wir benötigen viel¬ mehr Gewerbeärzte im Hauptamte, wie ich bereits oben aus¬ geführt habe und der Ruf nach derartigen gewerbehygienischen Beamten und Spezialisten entspringt nicht nur wohlbegründeten Erwägungen, sondern auch sittlichen Pflichten. Denn stetig wächst die Bevölkerungsmasse, deren Wohl und Wehe von ihrer Hände Arbeit abhängt, deren Gesundheit täglich von viel¬ fachen beruflichen Schädigungen bedroht ist. Warum sollten die Ärzte, die berufenen Vertreter der Hygiene und Wächter der Volksgesundheit, gerade bei diesen eminent sozialen Aufgaben im Hintergründe bleiben müssen? Prägnant nimmt hiergegen Professor D e v o t o , der verdienstvolle Leiter der Mailänder Klinik für Arbeiterkrankheiten, Stellung, indem' er sagt : „Das Recht der Medizin, sich (um den Gewerbeaufsichtsdienst) zu bewerben, entsteht in dem Augenblicke, in welchem die Arbeit eine Ursache der Erkrankung bildet; die Pflicht der ärztlichen Mitbeteilung entspringt aus der Notwendigkeit der Abwehr, der Prophylaxe und der Krankenfürsorge.“

Ich darf vielleicht daran erinnern, daß Arzte sogar mit an¬ erkanntem Erfolg die Oberleitung der Gewerbeinspektion inne hatten; Namen wie Baker, Hawer, Schüler, Redgrafe u. a. haben heute noch in der Gewerbehygiene einen guten Klang.

Es liegt uns jedoch völlig ferne, den Techniker aus dem Gewerbeaufsichtsdienste irgendwie verdrängen zu wollen; ich möchte auch nicht, wenigstens nicht verallgemeinert, unserm verdienst¬ vollen Kollegen Caro zzi- Mailand beipflichten, wenn er vom Ban¬ krott des bisherigen Systems spricht, welches die Techniker nur

Entwicklung, Wege und Ziele des gewerbeärztlichen Dienstes.

29

mit einem dünnen Firnis hygienischen Wissens herausputze! Ich habe im Gegenteile vielfach gefunden, daß sich die betreffenden Herren mit großem Eifer und Verständnisse der ihnen etwas ferne liegenden Materie annehmen. Gleichwohl muß das bis¬ herige einseitige System der nichtärztlichen Beamten eine

Änderung erfahren.

Denn daß für die im Vorgehenden skizzierten vielseitigen, im Interesse einer gedeihlichen Gewerbehygiene aber unerläßlichen Arbeiten der reguläre Gewerbeaufsichtsbeamte nicht ganz die geeignete Persönlichkeit ist, dürfte unbestritten sein. Zunächst fehlt ihm für derartige Aufgaben die reichlich notwendige Zeit. Schon bisher konnte im Laufe eines Jahres nur ein Teil der vor¬ handenen Betriebe revidiert werden; ohne entsprechende Personal¬ vermehrung ist selbst bei intensivster Tätigkeit die wünschens¬ werte Revisionszahl kaum zu erreichen. Weiterhin können der¬ artige ärztlich-hygienische Arbeiten von den Aufsichtsbeamten auch wegen des in der Vorbildung begründeten Mangels an medizinischen Kenntnissen nicht erwartet werden; die Aufsichts¬ beamten sind eben nach dieser Richtung Laien, bei denen medi¬ zinisches Denken und Wissen nicht vorausgesetzt werden kann. Wie soll z. B. um ein ganz aktuelles Beispiel zu wrählen eine Erhebung über die hygienischen Verhältnisse in den Zement¬ fabriken mit besonderer Berücksichtigung der Beziehungen zwischen Zementindustrie und Tuberkulose gepflogen werden von technisch- vorgebildeten Aufsichtsbeamten ohne ärztliche Mitwirkung? Jeder¬ mann, der die komplizierten Verbreitungsbedingungen der Tuber¬ kulose kennt, muß einer derartigen Laienarbeit von vorneherein recht gewichtige Bedenken entgegenbringen. Solche Fragen lassen sich eben nur lösen nach persönlicher ärztlicher Untersuchung der in Betracht kommenden Arbeiter, nach eingehenden, auf Jahre sich zurück erstreckenden Erhebungen über die Tuberkulose unter der übrigen Bevölkerung der Gegend, unter Berücksichtigung aller einschlägigen medizinalstatistischen Erfahrungen. Die Lösung sol¬ cher Fragen muß lediglich ärztlichem Wissen Vorbehalten bleiben, wrenn wirklich ein brauchbares Resultat erwartet werden soll.

Dem Techniker (Chemiker us w.), also der Haupt¬ sache nach die formelle Aufsichtstätigkeit und der Unfallschutz, dem Gewerbearzte die spezifische Gewerbehygiene in dem bezeichneten Umfange! Nicht rivalisieren wollen wir miteinander, sondern gemeinsam Zusammenarbeiten und Schulter an Schulter das Ganze fördern.

30

Franz Koelsch,

„Das Gebäude der Gewerbehygiene wird eben auf dem Grenz¬ gebiete zwischen medizinischer und technischer Wissenschaft er¬ richtet; wenn der Bau gefördert werden soll, müssen die Bausteine auf getrennten Wegen, von Ärzten und Technikern, herbeigeschafft werden.“ Daß dies der richtige Weg ist, dafür spricht die Er¬ fahrung der Staaten, in denen bisher Ärzte beigezogen wurden, wo nicht nur die vorurteilsfreien technischen Beamten selbst die ärztliche Mitwirkung schätzen gelernt haben, sondern auch das Publikum. Und gerade letzteres ist bei dieser Frage durchaus nicht uninteressiert. Ist es doch psychologisch sehr naheliegend, daß Arbeiter wie Unternehmer in hygienischen Fragen einem Arzte mehr Glauben schenken und größeres Vertrauen entgegen¬ bringen als einem andersartig vorgebildeten Aufsichtsbeamten. Und auch von den Kassenärzten dürfte der Gewerbearzt dank seiner kollegialen Beziehungen manchmal viel mehr erfahren als der nichtärztliche Aufsichtsbeamte.

Zum Schlüsse noch einige W orte über die Vorbildung des Gewerbearztes.

Abgesehen von der Prüfung für den ärztlichen Staatsdienst würde ich zunächst eine mehrjährige praktische Tätigkeit, besonders in der Kassenpraxis, für erforderlich erachten. Die hierbei gewonnenen Eindrücke, das Eindringen in Ideenkreis und Denkweise des Arbeiters, die Einblicke in die Arbeitsbedingungen, Ernährungs- und Unterkunftsverhältnisse, dies alles dürfte für die spätere gewerbeärztliche Tätigkeit nicht ohne Bedeutung sein. Nach der Anstellung erscheint zunächst eine mehrmonatliche Be¬ schäftigung im gewöhnlichen Aufsichtsdienste zweck¬ mäßig, um sich mit den gesetzlichen, formalen, z. T. auch tech¬ nischen Details vertraut zu machen. Außerdem ist, vorher oder nachher, die experimentelle Schulung nicht zu übersehen durch Arbeiten in einem klinischen, toxikologischen oder hygie¬ nischen Laboratorium. Zur späteren Weiterbildung käme vielleicht auch einmal ein längerer Aufenthalt an einer Klinik für Arbeiter¬ krankheiten in Betracht.

Meine Herren! Vielleicht ist es mir gelungen, die nicht un¬ wichtige Frage des Gewerbearztes Ihnen näher zu bringen und Ihr Interesse hierfür wachzurufen. Gerade bei uns in Deutsch¬ land ist in dieser Richtung noch manches gut zu machen. Die Propaganda für den „Gewerbearzt“ kommt ja in erster Linie der arbeitenden Bevölkerung zugute, für welche die Ge¬ sundheit das einzige Kapital bedeutet, das ihnen im schweren

Entwicklung', Wege und Ziele des gewerbeärztliclien Dienstes.

31

wirtschaftlichen Kampfe zur Verfügung- steht. Schließlich stehen aber auch noch höhere nationale Interessen im Spiele. Be¬ völkerungszunahme und Militärtauglichkeit gestalten sich mit der steigenden Industrialisierung Deutschlands zusehends ungünstiger. Diese Tatsache allein schon berechtigt zur Forderung, daß der Arzt als hygienischer Berater nicht vor den Fabrik toren Halt machen darf, hinter denen die Mehrzahl unserer Volks¬ genossen oft unter recht unhygienischen Bedingungen sein Leben dahinbringt. Das Problem der Arbeit ist heute nicht mehr ein kleines Ding für sich, sondern hat sich zu einem der kompli¬ ziertesten Themen entwickelt, an dessen Lösung die verschiedensten Disziplinen sich beteiligen müssen; ich nenne nur die Beziehungen: Arbeit und Technik, Arbeit und Lohn, Arbeit und Volkswirtschaft, ganz besonders wichtig „Arbeit und Volksgesund hei t“. Die medizinische Wissenschaft, die Pfadfinderin und Führerin auf dem Gebiete der wissenschaftlichen Gewerbehygiene, darf und muß fordern, daß ihre Vertreter auch bei der praktischen

Gewerbehygiene, d. h. beim Gewerbeaufsichtsdienste, nicht beiseite

gesetzt werden daß den Ärzten auch offiziell die Ge¬ legenheit geboten wird, Schulter an Schulter mit den Technikern an diesem großen Probleme mitzu- ar beiten.

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Krebs und Beruf.

Von Dr. F. Pbinzing, Ulm.

In jüngster Zeit sind verschiedene Arbeiten über den Einfluß des Berufs auf die Häufigkeit des Krebses erschienen, in denen einige Schlußfolgerungen mit ziemlicher Sicherheit gezogen worden sind; eine nähere Prüfung derselben erscheint angezeigt.

Daß alle diejenigen Arbeiten ausscheiden müssen, die sich nur auf die Prozentsätze der Krebsfälle unter den Gestorbenen beziehen, bedarf an dieser Stelle keiner weiteren Ausführung. Erfreulicher¬ weise trifft man nur noch selten auf diese fehlerhafte statistische Methode, wenn sie auch dann und wann immer wieder, manchmal in naivem Tone fester Überzeugung, in Anwendung .gebracht wird.

Viel weniger dagegen wird der weitere Grundsatz beachtet, daß alle Morbiditäts- und Mortalitätsziffern für Berufsarten nahezu wertlos sind, wenn sie sich nur auf die Gesamtheit der Berufsange¬ hörigen beziehen, ohne daß eine Trennung nach Altersklassen statt¬ findet. In jedem statistischen Handbuch, in jeder guten Arbeit über Berufsmorbidität und -mortalität findet man diesen Satz; noch kürzlich hat Mayet in dem großen Werke „Die Krankheits- und Sterblichkeitsverhältnisse in der Ortskrankenkasse für Leipzig und Umgegend“ energisch darauf hingewiesen aber immer wieder findet man einen Rückfall in den alten Fehler.

Man ist sich anscheinend oft nicht bewußt, wie bedeutend die Altersunterschiede bei den einzelnen Berufsarten sind. Beim Militär und bei den Dienstboten, bei den Rentiers und Privatiers ist die Höhe der Sterblichkeit so ersichtlich nur durch die Altersbesetzung bedingt, daß es jedem einleuchtet, daß Sterbeziffern für die Gesamt¬ heit dieser Berufe berechnet kein Ausdruck der Lebensgefährdung durch dieselben sein können.

Krebs und Beruf.

33

Aber auch bei anderen Berufen, bei denen es nicht so sehr in die Augen fällt, findet man die Bedingtheit der Sterbeziffer durch die Altersgliederung. Nach der deutschen Berufszählung von 1907 hatten z. B. von 100 männlichen Erwerbstätigen über 60 Jahre

alte Personen

Landwirtschaft, Gärtnerei und Tierzucht 12,0 Proz.

Industrie der Holz- und Schnitzstoffe 6,2

Baugewerbe 5,0

Industrie der Steine und Erden 3,6

Metallverarbeitung 3,2

polygraphisches Gewerbe 2,4

Bergbau, Hütten- und Salinenwesen 1,7

Daß schon allein aus diesem Grunde bei der Landwirtschaft und bei der Industrie der Holz- und Schnitzstoffe eine ganz erheb¬ lich höhere allgemeine Sterblichkeit herauszurechnen ist, ist natür¬ lich. Da für Deutschland die nötigen Ziffern nicht zu Gebote stehen, mag ein Beispiel aus der Schweiz gewählt werden. Dort standen im Mittel der Jahre 1888 und 1890 von 100 Berufstätigen

im Alter von

Landwirtschaft

Lehrer

15—20 Jahren

13,9

2,9

20-30

20,5

32,0

30—40

16,7

26,7

40 50

17,0

18,4

50-60

15,8

12,2

60—70

11,2

6,5

70 u. mehr

4,9

1,3

Die starke Besetzung der höheren Altersklassen bei der Land¬ wirtschaft bringt es mit sich, daß die Gesamtsterblichkeit bei derselben höher ist als bei den Lehrern. Sie war 1879 1890 in der Schweiz bei ersterer 21,2, beim Lehrerstand 18,9. Es wäre aber ganz ver¬ fehlt, aus diesen Zahlen zu schließen, daß die Lebensbedrohung bei der Landwirtschaft größer wTäre als bei den Lehrern. Tatsächlich ist in allen Altersklassen das Umgekehrte der Fall. Auf 1000 Lebende jeden Alters starben

beim Alter von

Landwirtschaft

Lehrer

15—20

Jahren

3,4

5,4

20—30

5,5

7,0

30—40

7,6

8J

40—50

r, )

12,1

12,7

50—60

V)

21,6

24,9

60—70

46,0

64,7

70—80

n

126,3

275,0

Archiv für Soziale Hygiene. VIT.

3

F. Prinzing,

Werden so schon bei der Mortalität überhaupt durch die Alters¬ gliederung die Sterbeziffern ungemein stark beeinflußt, so muß dies noch viel mehr geschehen, wenn Krankheiten in Frage kommen, die gewisse Altersklassen fast ausschließlich befallen wie der Krebs. Leider ist dem fast nirgends in den neueren krebsstatistischen Arbeiten Rechnung getragen.

In einer großen Arbeit hat kürzlich Behla1) die Frage nach dem preußischen Material behandelt. Die preußische Statistik eignet sich wenig zu Untersuchungen über die Berufsmortalität, wie Behla (a. a. 0. S. 123) selbst anführt. Die Sterbefälle werden nach einer großen Anzahl von Berufsarten ausgezählt, doch fehlt die Trennung nach Altersklassen. Ungemein störend wirkt die bei den Sterbe¬ fällen so große Gruppe „Lohnarbeit wechselnder Art“, in welche bei der Berufszählung nur wenige Personen eingereiht werden; 1907 waren bei der Zählung von den erwerbstätigen Männern 0,7, bei der Erhebung der Sterbefälle dagegen 4,7 Proz. zu dieser Gruppe gezogen. Die Personen derselben gehörten vorher größtenteils zu Industrie, Gewerbe und Handel. Außerdem sind der Gruppe „ohne Beruf und Berufsangabe“ sehr viele Sterbefälle zugeteilt; 1907 ge¬ hörten hierzu unter den erwerbstätigen Männern bei der Zählung 8,1 Proz., bei den Gestorbenen dagegen 28 Proz. Dies hängt damit zu¬ sammen, daß viele Gestorbenen infolge ihrer Erkrankung den Beruf aufgeben mußten und daher beim Tode ohne Beruf waren. Von den 11329 Krebstodesfällen erwerbstätiger Männer im Jahre 1907 kamen allein auf diese zwei unbestimmten Gruppen:

Lohnarbeit wechselnder Art 669

Ohne Beruf und Berufsangabe 2684

zusammen 3353 = 29,6 Proz.

Bei der Berufszählung waren nur 8,8 Proz. zu den beiden Gruppen gezogen, es fehlt also für etwa ein Fünftel aller Krebs¬ todesfälle der erwerbstätigen Männer die richtige Berufsangabe. Nimmt man die ganze Bevölkerung, so wird das Mißverhältnis zwischen Berufszählung und Statistik der Sterbefälle noch viel krasser.

Trotz der Schwierigkeiten, die in dem der Untersuchung zu Gebote stehenden Material liegen und die nicht beseitigt werden können, hat es Behla unternommen Zahlen der Krebssterblichkeit

9 B. Behla, Krebs und Tuberkulose in beruflicher Beziehung, vom Stand¬ punkt der vergleichenden internationalen Statistik. Med.-stat. Nachr. 1910, Bd. 2r S. 114.

Krebs und Beruf.

35

nach dem Beruf in Preußen für die Jahre 1907 und 1908 zu be¬ rechnen und dabei sehr bestimmte Schlußfolgerungen gezogen. „Die Tatsache, daß die Landwirtschaft mehr Krebs hat als die Industrie, sagt er, ist unbestreitbar. Als krebsarme Berufsgruppen und -arten treten immer wieder hervor: Bergbau, Steine und Erden, Chemie, Metallindustrie, polygraphische Gewerbe, Versicherungsgewerbe, Militär und Marine, Buchdrucker, Graveure, Schriftsetzer, Glaser, Steinmetze usw., dagegen als krebsreiche: Landwirte, Gärtner, Bau¬ gewerbe, Holz-, Textil-, Bekleidungs-, Reinigungsindustrie, Gast¬ un d Schankwirte, Maurer, Tischler, Zimmerer, Schmiede, Schorn¬ steinfeger, Gasarbeiter, Heizer, Kohlenträger, Wirte, Tapezierer usw. Der Einwand, daß für diese Unterschiede nur das in der Krebs¬ ätiologie so wichtige Alter verantwortlich gemacht werden kann, ist nicht zutreffend.“

Daß dieser Einwand doch zutreffend ist, beweist die Arbeit Kolbs, der dasselbe Thema für Bayern methodisch richtig be¬ handelt1). Kolb hat die Krebssterbefälle der Jahre 1905— 1908 in Bayern nach Berufen ermittelt und die Ziffern auf die Berufszäh¬ lung von 1907 bezogen, mit Unterscheidung von zehnjährigen Alters¬ klassen. Wie in der preußischen Statistik decken sich auch in Bayern verschiedene Berufspositionen bei der Berufszählung und bei den Sterbefällen nicht. So kommen auf 1362 „Fabrikarbeiter ohne nähere Bezeichnung“ 374 und auf 10569 im „Hausdienst und Lohnarbeit wechselnder Art“ beschäftigte Personen 395 Sterbefälle an Krebs. Kolb hat sich nun in der Weise geholfen, daß er die in den Leichenscheinen als Fabrikarbeiter bezeichneten Gestorbenen auf die Berufsgruppen, die vorwiegend Fabrikbetrieb haben, im Verhältnis zur Zahl der männlichen Erwerbstätigen verteilte. Von der Gruppe „Hausdienst und Lohnarbeit wechselnder Art“ wurden die als Taglöhner und Arbeiter bezeichneten 342 Gestorbenen ab¬ getrennt und auf die Berufsgruppen der Gärtnerei, der Industrie, des Handels und der Gastwirtschaft verteilt. Mögen dabei auch einigen Berufsgruppen zu wenig oder zu viel Krebssterbefälle zu¬ fallen, darin muß man Kolb sicher recht geben, daß diese un¬ sicheren Berufspositionen der Industrie und dem Handel zugerechnet werden müssen. Kolb kommt dann zu folgenden Ziffern; auf 10000 erwerbstätige Männer kommen Sterbefälle an Krebs beim Alter von

9 K. Kolb, Der Einfluß des Berufs auf die Häufigkeit des Krebses. Zeit¬ schrift f. Krebsforschung. Bd. 9, 1910, S. 445.

3*

36

F. Prinzing,

30—40 J.

40-50 J.

50—60 J.

über 60 J.

überhaupt

Landwirtschaft 2,0

7,7

26,5

83,6

15,2

Industrie 2,1

10,3

35,1

124,7

11,2

Handel 3,1

10,7

34,2

84,6

15,2

Gastwirtschaft 3,6

17,5

57,1

188,4

21,3

Freie Berufe 1,7

10,2

34,8

137,8

11,8

Alle Erwerbstätigen 2,1

9,4

32,2

108,2

14,2

Daraus geht hervor, daß die Landwirtschaft die kleinste Krebs¬ sterblichkeit hat. Man darf nun nicht annehmen, daß sich hierbei Bayern anders verhält als Preußen; denn die Gesamtsterbeziffer an Krebs war auch in Bayern bei der Landwirtschaft größer als bei der Industrie. Die Ziffern Kolb’s zeigen jedoch, daß dies einzig und allein durch die stärkere Besetzung der höheren Altersklassen bei der Landwirtschaft bedingt ist. Dies gilt zweifellos auch für alle die Länder, in denen bei der letzteren eine höhere Krebssterb¬ lichkeit als bei anderen Berufen gefunden wurde. Eine Trennung nach Altersklassen gibt nur noch die englische Statistik der Berufs¬ sterblichkeit.1) In England wird seit 50 Jahren im Anschluß an die Volkszählungen, die alle 10 Jahre stattfinden, für die anliegen¬ den Jahre die Sterblichkeit nach dem Beruf berechnet, bis 1891 nur für die Berufstätigen, 1900—02 erstmals auch mit Einschluß derer, die sich vom Berufe zurückgezogen haben. Auf 10000 Be¬ rufsangehörige kommen 1900 02 Sterbefälle an bösartiger Neu-

bildung

beim Alter von

Landwirtschaft

alle Männer

25 35 Jahren

0.8

1,0

3o 4o

3,2

4,0

45 55

10,4

14,5

55-65

27,5

36,2

über 65

62,9

63,8

Die Tatsache ist demnach sicher, daß bei der Landwirtschaft der Krebs nicht häufiger ist als bei anderen Berufen; man wird ja

*) Supplement to the 65. Annual Report of births, deaths and marriages. Part. II, London 1908. Bei der von Dollinger geleiteten Zählung der Krebs¬ kranken in Ungarn wird ebenfalls eine Trennung nach Beruf und Alter für die 1901 04 an Krebs Gestorbeneu vorgenommen. Daraus lassen sich aber keine brauchbaren Verhältnisziffern berechnen, da bei einem großen Teil der Gestorbenen von über 7 Jahren (1901 04 bei 39,7 Proz.) die Todesursache nicht ärztlich be¬ zeugt ist. Die Gestorbenen, bei denen dies nicht der Fall ist, wurden nicht mit einbezogen, die einzelnen Berufsarten verhalten sich dabei natürlich ganz ver¬ schieden (J. Dollinger, Statistik der Krebskranken in den Ländern der ungar. h. Krone. Budapest 1908).

Krebs und Beruf.

37

zugeben, daß auf dem Lande mehr Krebssterbefälle der Beobach¬ tung entgehen als in den Städten, aber die Unterschiede sind so bedeutend, daß die kleinen Zahlen bei der Landwirtschaft durch diese übersehenen Fälle kaum ausgeglichen werden. Daß anderer¬ seits die Landwirtschaft keinen Schutz gegen Erkrankung an Krebs abgibt, geht daraus hervor, daß das Gebiet hoher Krebssterblichkeit, das das südliche Deutschland und die angrenzenden schweizerischen und österreichischen Bezirke umfaßt, zum großen Teil eine agrarische Bevölkerung hat. Stadt und Land weisen in diesen Gebieten hohe Zahlen auf.

Auch der Holzindustrie schreibt B e h 1 a eine hohe Krebs¬ sterblichkeit zu. Nach Kolb kamen in Bayern auf 10000 erwerbs¬ tätige Männer Sterbefälle an Krebs

beim Alter von

Holzindustrie

Industrie überhaupt alle

Erwerb

30 40 J ahren

2,7

2,1

2,1

40—50

13,2

10,3

9,4

50—60

44,8

35,1

32,2

über 60

107,5

124,7

108,2

Nach der englischen Statistik ist die Krebssterblichkeit nur bei einem Teil der in der Holzindustrie Beschäftigten höher, bei den Kunstschreinern, bei den Drechslern und Küfern, bei welch letzteren zugleich der Alkoholismus eine Rolle spielt. Auf 10000 männliche Berufsangehörige kamen in England 1900—02 Sterbefälle an bösartiger Neubildung

02

1 .

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beim Alter von

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25

-35

Jahren

1,2

35

—45

99

3,9

45

—55

99

13,5

55

-65

99

35,4

über 65

99

69,7

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1,1

1,7

0,9

2,8

2,9

3,6

18,8

8,4

22,0

40,5

31,6

44,9

79,9

68,3

73,0

02

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Wagner

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02 S

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02 Ö •rS N

alle

Männer

1,8

1,2

1,0

1,2

3,4

4,0

9,7

14,6

14,5

21,5

34,4

36,2

63,7

71,0

63,8

Die englischen Grundzahlen sind nur für die Zimmerleute und Schreiner groß genug; bei diesen hat die Berechnung für 1890—92 das gleiche Ergebnis, daß die Krebssterblichkeit kleiner ist als bei der Gesamtheit. Bei den übrigen Berufen sind die Erfahrungen von 1890 92 zum Teil andere : so war sie bei den Sägern 1890 92 über dem Mittel, während sie jetzt unter demselben ist; bei den Kunstschreinern ist sie jetzt hoch, 1890—92 war sie niedrig. Da

38

F. Prinzing,

für die letztere Periode die Ziffern nur für die erwerbstätigen Männer mitgeteilt sind, so müssen auch 1900—02 die Zahlen der letzteren allein zum Vergleich genommen werden; die amtliche Ver¬ öffentlichung enthält dieselben. Nimmt man die fünf Berufsarten alle zusammen, so erhält man große Zahlen, mit denen sich ver¬ trauenswerte Verhältnisziffern berechnen lassen; nach diesen sind die Holzarbeiter bis zum 65. Lebensjahre etwas weniger belastet, als die übrigen Männer. Daß die Krebssterblichkeit der Gesamt¬ heit der Altersklassen bei der Holzindustrie groß sein muß. geht aus dem hohen Prozentsatz der betagten Personen in derselben hervor.

Weiter soll nach Belila der Krebs bei den Gärtnern häufig sein. Nach Kolb ist er in Bayern bei ihnen etwas häufiger, die Zahlen sind aber sehr klein (im ganzen 53 Sterbefälle), so daß Kolb selbst in seinen weiteren Ausführungen nicht näher darauf eingeht. In England ist der Krebs bei den Gärtnern selten. Auf 10000 männliche Berufsangehörige kamen Sterbefälle an bösartiger Neubildung

beim Alter von

Gärtner

alle Männer

25 35 Jahren

1,3

1,0

35—45

3,8

4,0

45 55

9,6

14,5

55 65

25,8

36,2

über 65

62,5

63,8

Auch für die Jahre 1890—92 ergibt sich in England eine sehr geringe Krebssterblichkeit der Gärtner. Nach Lotli1) ist der Krebs in Erfurt mit seinem ausgedehnten Gartenbau nicht häufig; seit Jahren sei dort in der Betriebskrankenkasse der Gärtner und in den beiden Erfurter Krankenhäusern bei Gärtnern oder Garten¬ arbeitern kein Krebs beobachtet worden.

Für eine Anzahl von Berufen nimmt Behla eine kleine Krebs¬ sterblichkeit an. Bei den Bergleuten ist nach ihm der Krebs selten, eine Angabe, die auch andererseits gemacht wird. Nach Kolb kamen in Bayern auf 10000 erwerbstätige Männer Sterbefälle an Krebs

beim Alter von

Bergbau

alle Erwerbstätigen

30 40 Jahren

1,8

2J

40—50

7,3

9,4

50—60

28,8

32,2

über 60

315,9

108,2

l) Die Krankheiten der Gärtner in Th. Weyl’s Handb. d. Arbeiterkrank¬ heiten. Jena 1908, S. 625 f.

Krebs und Beruf.

39

Danach ist der Krebs anscheinend nicht häufig bis znm 60. Jahre. Nach diesem ist die Zahl sehr hoch; es handelt sich dabei um 41, bzw. (nach der Korrektur) um 47 Sterbefälle. Kolb ist der An¬ sicht, daß hierbei Unstimmigkeiten bestehen, insofern die pensio¬ nierten Bergleute zu der Gruppe „Ohne Beruf“ hätten gerechnet werden müssen. Aus der englischen Statistik ergibt sich ebenfalls eine kleine Krebsterblichkeit bei den Bergleuten; wie bei den anderen Berufen gelten hier die Zahlen auch für diejenigen, welche nicht mehr erwerbstätig sind. Auf 10000 Berufsangehörige kamen Sterbefälle an bösartiger Neubildung

beim Alter von

Kohlenbergleute d. and. Bergleute alle Bergleute

alle Männer

25 35 Jahren

1,1

0,9

1,1

1,0

35 45

3,3

3,6

3,3

4,0

45 55

10,4

9,6

10,4

14,5

55 65

28,5

33,8

28,9

36,2

über 65

54,8

74,4

56,4

63,8

In den Jahren 1890 92 war die Krebssterblichkeit bei den Bergleuten ebenfalls sehr klein.

Behla und Kolb finden eine niedere Krebssterblichkeit bei der Industrie der Steine und Erden. Nach Kolb starben in Bayern auf 10000 erwerbstätige Männer an Krebs

beim Alter von

Industrie d. Steine u. Erden

alle Erwerbstätigen

30 40 Jahren

1,3

2,1

40—50

8,1

9,4

50—60

27,6

32,2

über 60

101,7

108,2

Demnach ist allerdings der Krebs bei der Industrie der Steine und Erden weniger häufig. Nun sind aber bei dieser ganz ver¬ schiedenartige Gewerbebetriebe vereinigt: Steinhauer, Steinbruch¬ arbeiter, Gewinnung von Kies und Sand, Zement- und Kalkfabriken, Ziegeleien, Tonwarenfabriken, Töpfereien, Glasindustrie usw. In England sind die Grundziffern für einige dieser Berufsarten gegeben. Auf 10000 männliche Berufsangehörige starben dasselbst 1900 02 an bösartiger Neubildung

Schiefer-,

Ziege¬

Töpferei,

Glas¬

Diese

alle

beim Alter von

Steinbruch¬

leien

Tonwaren¬

fabri¬

Berufe

Männer

arbeiter

fabriken

ken

zusammen

25 35 Jahren

0,4

1,2

1,0

2,0

1,0

1,0

35 45

3,7

3,6

4,0

2,3

3,5

4,0

45 55

10,6

15,7

16,0

15,3

13,5

14,5

55—65

34,0

22,0

41,2

40,4

32,4

36,2

über 65

66,0

63,9

48,1

75,0

63,8

63,8

40

F. Prinzing,

Die Unterschiede zwischen Industrie der Steine und Erden und zwischen allen Männern sind hier nur gering; die einzelnen Berufs¬ zweige verhalten sich verschieden, bei der Kleinheit der Zahlen läßt sich zunächst nichts Endgültiges über dieselben feststellen. Bei der am zahlreichsten besetzten Gruppe, den Steinbrucharbeitern, die 1900—02 eine ziemlich unter dem Mittel liegende Krebssterb¬ lichkeit haben, war sie 1890 92 sehr über dem Mittel ; die Ziegeleien und Töpfereien usw. verhalten sich in beiden Beobachtungsperioden gleich. Nimmt man alle Berufe zusammen, so erhält man genügend große Zahlen; aus diesen geht hervor, daß in England der Krebs in der Industrie der Steine und Erden etwas weniger häufig ist, aber nicht in dem Maße, daß man von einem besonderen Schutz vor Krebs in dieser Berufsgruppe reden könnte.

Aus der englischen Statistik sollen noch einige Ziffern mit¬ geteilt werden. Auf 10000 Berufszugehörige kamen 1900—02 Sterbe¬ fälle an bösartiger Neubildung

: - - ; ■,

25—35

35 45

45 55

55 65

über 65

Geistliche, Lehrer, Richter, Ärzte

0,3

2,9

11,8

32,3

60,6

Ladeninhaber

0,8

3,2

14,1

31,0

61,2

Maurer

0,7

3,8

12,3 .

32,9

79,1

Eisen- und Stahlindustrie

0,7

4,4

14,6

36,3

83,2

Schmiede

1,3

3,7

15,3

37,2

68,7

Handelsgehilfen, Versicherung

0,7

3,7

15,9

41,3

71,9

Textilindustrie

1J

4,7

14,8

39,3

84,7

Schuhmacher

1,1

3,9

15,7

38,1

68,0

Bäcker

1,1

4,7

14,4

41,4

65,7

Metzger

0,7

3,3

15,2

45,0

79,0

Schneider

0,8

4,4

15,5

44,5

71,9

Alle Männer

1,0

4,0

14,5

36,2

63,8

Die Krebssterblichkeit ist danach bei den gelehrten Berufen, Ladeninhabern und Maurern unter dem Mittel, bei der Eisen- und Stahlindustrie und bei den Schmieden in der Mitte, bei den Handels¬ gehilfen und bei der Textilindustrie etwas über derselben, auffallend ist es, daß dies für die vier angeführten Gewerbe Schuhmacher, Bäcker, Metzger und Schneider ebenfalls gilt. Da die Beobach¬ tungszeit nur drei Jahre beträgt, so darf darauf, daß die Zahlen der einzelnen Altersklassen bei diesen Berufsarten nicht ganz gleichmäßig über oder unter dem Mittel sind, kein besonderer Wert gelegt werden.

Eines geht aus der englischen Statistik und aus derjenigen Kolb’s mit Sicherheit hervor, daß die Gewerbe, die mit der Her¬ stellung und dem Verkauf alkoholischer Getränke sich befassen,

Krebs und Beruf.

41

sehr viel Krebs aufweisen, aus der englischen Statistik außerdem, daß dies auch für alle die Berufe, bei denen der Alkoholismus häufig ist, gilt. Die Zitfern Kolb’s für das Wirtsgewerbe sind oben an¬ geführt. Die Berufszweige, die in England höhere Krebsziffern auf¬ weisen und zugleich so viele Berufszugehörige haben, daß die Zahlen hinreichende Sicherheit gewähren, sind in der folgenden Tabelle angeführt. Die beigesetzten Standardziffern geben an, wie hoch die Krebssterblichkeit der einzelnen Berufe wäre, wenn sie die gleiche Altersbesetzung hätten wie die ganze männliche Bevölkerung, und wenn die Krebssterblichkeit der letzteren = 100 wäre.

Gastwirte

110

Privatkutscher, Pferdeknechte

149

Musiker

119

Matrosen, Bootsleute usw.

154

Ausgänger, Dienstmänner

119

Bierbrauer

175

Gummiindustrie

124

Tagelöhner

182

Hausierer

137

Schornsteinfeger

224

Außer bei den Privatkutschern und Arbeitern in Gummiwaren- fabriken sind bei allen diesen Berufen sehr zahlreiche Sterbefälle an Alkoholismus vorgekommen. Wir geben die Ziffern der Krebs¬ sterblichkeit nach Altersklassen, sehen dabei aber von den Hau¬ sierern und Tagelöhnern ab, die zwar sehr hohe Krebsziffern haben, bei denen es aber doch zweifelhaft ist, ob nicht bezüglich der Zu¬ teilung bei der Zählung und bei den Sterbefällen Ungleichheiten herrschen. Auf 10000 männliche Berufszugehörige starben in Eng¬ land 1900 02 an bösartiger Neubildung

25—35

35—45

45—55

55—65

über 65

Musiker

0,5

7,1

16,8

42,1

71,0

Ausgänger, Dienstmänner

1,6

4,3

20,8

38,8

62,9

Matrosen, Bootsleute usw.

2,0

7,5

24,0

51,0

90,7

Bierbrauer

8,4

28,4

62,2

91,4

Gastwirtschaft

0,9

4,2

15,0

44,0

98,3

Schornsteinfeger

2,4

11,7

28,3

83,6

174,2

Alle Männer

1,0

4,0

14,5

36,2

63,8

Wird die Sterblichkeit aller Männer an Alkoholismus = 100 gesetzt, so war sie unter Berücksichtigung der Altersverschieden¬ heiten bei den Matrosen usw. 163, bei den Ausgängern und Dienst¬ männern 213, bei den Musikern 244, bei den Bierbrauern 294, bei den Schornsteinfegern 300, beim Gastwirtsgewerbe 700.

Von den genannten sechs Berufen hatten die Musiker, Aus¬ gänger und Dienstmänner 1890 92 eine mittlere, die anderen eben¬ falls eine hohe Krebssterblichkeit, so daß von einem Zufallsergebnis hier nicht die Kede sein kann. Die Grundziffern sind mit Aus-

42

F. Prinzing,

nähme der Schornsteinfeger bei diesen Berufen zu Verhältnisbe¬ rechnungen groß genug. Bei den letzteren war die Krebssterblich¬ keit 1890 92 (unter Beschränkung auf die Berufstätigen) auf 10000 Lebende beim Alter von

35 45 Jahren 12,4 55 65 Jahren 79,1

45 55 53,2 über 65 141,6

Die Ziffern der ganzen männlichen Bevölkerung waren damals für die vier Altersklassen 8,7, 11,8, 27,65, 45,2. Inwieweit hier der Schornsteinfegerkrebs mit in Frage kommt, muß bei dem Mangel speziell hierauf gerichteter Untersuchungen zweifelhaft bleiben.

Das muß man nach den vorliegenden Zahlen als sicher an¬ nehmen, daß der Alkoholismus die Entstehung des Krebses be¬ günstigt, selbstverständlich nur in der Weise, daß er in den ver¬ schiedensten Organen, vor allem im Magendarmkanal, chronische Reizzustände schafft. Bedauerlicherweise fehlen bei dem großen und guten englischen Material Untersuchungen über die Lokalisation des Krebses bei den einzelnen Berufs arten.

Kolb hat mit dem bayrischen Material für 1905—08 die 236 Sterbefälle der Wirte nach den befallenen Organen ausgezählt; die Zahlen sind für endgültige Schlußfolgerungen nicht groß genug. Bei der Krebszählung in Ungarn sind die Sterbefälle der Jahre 1901 bis 1904 in der Kombination von Beruf und Sitz des Krebses aus¬ gezählt, es starben in diesen Jahren 176 Wirte an Krebs.1) Bei je 100 an Krebs gestorbenen Personen waren die folgenden Organe befallen:

Bayern Ungarn

Wirtsgewerbe

alle Männer

Wirtsgewerbe

alle Männer

Magen, Leber, Pankreas

58,9

65,7

63,1

62,1

Darm

17,8

11,4

9,7

8,4

Speiseröhre

6,4

2,8

2,6

Bauchfell

0,8

2J

0,1

andere Organe

16,1

16,1

24,4

26,8

F. A. Theilhaber2) hat aus dem Jahre 1909 die Sterbefälle an Krebs des Magens und Mastdarms in Bayern ausgezählt; er gibt nur die ganzen Zahlen ohne Beziehung auf die Lebenden. Damit ist nicht viel anzufangen. Er fand viel Mastdarmkrebs bei den Beamten, viel Magenkrebs bei der bäuerlichen Bevölkerung.

1) Dollinger, a. a. 0. S. 138 ff.

2) Ergebnisse der Krebsstatistik des Kgr. Bayerns. Münch, med. Wocli. 1911, S. 409.

m'eos und Beruf.

43

Abgesehen von dem genannten Mangel sind die Zahlen eines Jahres viel zu klein, so daß man keine weittragenden Schlüsse daraus ziehen darf. Die ungarische Statistik scheint allerdings die An¬ nahme Theilhaber’s zu bestätigen. In den Jahren 1901—04 war dort unter 100 Krebstodesfällen der Sitz des Krebses

Öffentlicher Dienst,

alle

*

freie Berufe

Männer

Kehlkopf

6,9

3,3

Lippen

0,8

1,5

Mundhöhle

2,5

1,9

Zunge

5,4

3,0

Speiseröhre

3,5

2,6

Bauchfell

0,4

0,1

Magen

34,9

51,0

Dickdarm

0,6

0,3

Mastdarm

4,2

1,9

Darm im allgemeinen

9,6

6,2

Leber

13,6

10,4

Gallenblase, Pankreas, Milz

1,0

0,7

Blase

4,2

3,7

Kopfhaut

2,5

3,7

übrige Haut

0,6

0,7

anderer Sitz

4,9

3.2

Sitz nicht angegeben

4,4

5,8

Beim Vergleich der beiden Reihen muß man sich daran erinnern, daß in Ungarn nur die Sterbefälle gezählt sind, bei welchen die Todesursache ärztlich beglaubigt ist. Bei den Beamten usw. ist anzunehmen, daß sie alle in ärztlicher Behandlung waren; die Krebs¬ sterblichkeit ist daher bei ihnen scheinbar viel größer (11,5 gegen 5,2).

Noch wären die eigentlichen Berufskrebse zu erwähnen. Hierher gehört der Schorn stein fege r krebs, ein Epithelial¬ krebs des Skrotums, der infolge der chronischen Reizung durch Steinkohlenruß und der darin enthaltenen ätzenden Stoffe auftritt. Jedes Lebensalter wird von ihm in gleicher Weise bedroht. Schon Hirt1) erwähnt, daß er früher in England häufiger gewesen sei, in den 70 er Jahren aber nur noch selten beobachtet wurde. J. Wolf gibt ebenfalls an, daß er heute kaum mehr gesehen werde.2) Nach der englischen Statistik ist der Krebs bei den Schornstein¬ fegern noch sehr häufig, auch ist er bei jugendlichen Individuen zahlreicher als bei irgendeinem anderen Beruf. Es wäre von

9 Die Krankheiten der Arbeiter. 2. Abt. Leipzig’ 1878, S. 48.

2) Die Lehre von der Krebskrankbeit. Bd. II, 1911, S. 145.

44

F. Prinzing,

Wert hierüber aus England nähere Aufklärung zu bekommen. Ähnliche Krebse werden bei Petroleumraffineuren, bei Teer- und Paraffinarbeitern auch an den Händen, Armen und Beinen beo¬ bachtet. Der Krebs entsteht hier auf dem Boden vernacfiläßigter, durch Unreinlichkeit verschlimmerter Ekzeme.

Neuerdings wurde mehrfach der Röntgen krebs beobachtet. Bei längerer Bestrahlung entsteht zunächst eine Dermatitis ; aus dieser entwickeln sich Geschwüre, die allmählich einen krebsartigen Charakter annehmen.

Ob diese durch äußere Veranlassung entstandenen bösartigen Geschwürsbildungen tatsächlich Krebse sind, ist doch fraglich. Dem histologischen Bau nach sind sie dies allerdings, aber sie unterscheiden sich dadurch, daß sie keine Metastasen machen. Man hat daraus, daß Röntgenbestrahlung unter Umständen Veranlassung zur Krebs¬ bildung geben kann, den Schluß ziehen wollen, daß der Krebs keine parasitäre Erkrankung sein könne, da die Röntgenstrahlen direkt antiparasitär wirken. Dem ist entgegenzuhalten, daß die Röntgen¬ bestrahlung nur die Dermatitis hervorruft und daß die Krebs¬ bildung erst lange nach der Geschwürsbildung beginnt. Außer¬ dem ist es, wie eben erwähnt wurde, immerhin noch fraglich, ob es sich dabei um echtes Karzinom handelt.

Endlich wäre noch der bösartigen Blasentumoren, die bei Anilin¬ arbeitern beobachtet werden, zu gedenken.

Sieht man von den letztgenannten Krebsen ab, die als eigent¬ liche Berufskrebse zu bezeichnen sind, so ist wenig über den Ein¬ fluß des Berufs auf die Erkrankung an Krebs bekannt. Das geht aus unserer Untersuchung mit Sicherheit hervor, daß die Krebs¬ sterblichkeit bei der Landwirtschaft nicht höher ist als bei der übrigen Bevölkerung, wahrscheinlich niederer. Die Bergleute und die Arbeiter in Steinbrüchen haben eine kleine Krebssterblichkeit. Die Erwerbstätigen bei der Herstellung und dem Verkauf alkoholischer Getränke, überhaupt bei den Berufen, bei denen der Alkoholismus häufig ist, haben hohe Krebszahlen. Einen näheren Einblick in diese Verhältnisse können wir nur erhalten, wenn auch die Lokali¬ sationen des Krebses mit zur Untersuchung kommen. Dabei sprechen wir den Wunsch aus, daß die Veröffentlichung aller Arbeiten, die dem Verhältnis von Krebshäufigkeit und Beruf gewidmet sind, unter¬ bleiben möchte, wenn nicht zugleich die Beziehung zu den ver¬ schiedenen Altersklassen der Lebenden möglich ist.

Aus dem Vorherrschen eines bestimmten Berufs in einem Gebiet darf auf eine Beeinflussung der Krebshäufigkeit desselben durch

Krebs und Beruf.

45

diesen Beruf nicht geschlossen werden. Da, wo der Krebs häufig ist, sind alle Berufe der erhöhten Gefahr an Krebs zu erkranken ausgesetzt. Ist in einem solchen Bezirk ein Beruf stark vertreten und wird der letztere mit einem anderen Beruf verglichen, der zu¬ fällig in einem Gebiet kleiner Krebssterblichkeit ausgeübt wird, so wäre es ein grober Fehlschluß, diese Verschiedenheiten der Krebshäufigkeit einem Einfluß des Berufs zuzuschreiben; nicht dieser ist hier Ursache; sie liegt vielmehr in jenen Bedingungen, die an gewissen Örtlichkeiten die Entstehung des Krebses befördern, die uns aber bisher nahezu vollständig unbekannt sind.

Uber die Säuglingssterblichkeit in einer Land¬ gemeinde beim Übergang in einen Industrieort.

Von Dr. Hanssen, Kiel.

Über die Säuglingssterblichkeit in den größeren Städten be¬ richten eine große Zahl von Autoren. Über die Verhältnisse in

Berlin z. B. Finkeistein, Neumann und Tugendreich. Uber Frankfurt kürzlich Hanaue r. Die Säuglingssterblichkeit in Dresden ist durch die Aufsehen erregenden Untersuchungen von Mein er t ausführlich behandelt worden. Meinert’s Untersuchungen haben noch kürzlich durch Rietschel eine Würdigung erfahren. Die Säuglingssterblichkeit in Hamburg erfuhr eine genaue Bearbeitung in der Festgabe zur Naturforscherversammlung (1901).

Soweit mir bekannt ist, hat kaum jemand die Säuglingssterb¬ lichkeit in einer ländlichen Gemeinde untersucht. Nur Marie Baum untersuchte die Lebensbedingungen und Sterblichkeit der Säuglinge in den Kreisen Mors und Geldern. Untersuchungen, die sich in gewisser Weise mit den meinigen vergleichen lassen, zumal von den beiden Kreisen der eine Geldern fast völlig in der alten Art verharrt ist, während der andere Mörs durch Aus¬ breitung der linksrheinischen Kohlengruben und die in deren Ge¬ folge einwandernden Industrien in seiner südlichen Hälfte sehr wesentliche Umgestaltungen erfahren hat. Landwirtschaft und Vieh¬ zucht ernähren in Geldern die größere Hälfte der Bevölkerung, während in Mörs, wo 1895 noch die gleiche Verteilung herrschte, sich diese Verhältnisse außerordentlich stark verschoben haben. Dementsprechend fand Marie Baum auch die Säuglingssterblich¬ keit in Mörs etwas größer und stellte in den letzten Jahren ein leises, aber anhaltendes Steigen fest. Auch zeigte sich im Kreise Geldern durchweg größere Gleichmäßigkeit als im Kreise Mörs.

Über die Säuglingssterblichkeit in einer Landgemeinde usw. 47

Ich hielt es für keine undankbare Aufgabe in einer ländlichen Gemeinde die Säuglingssterblichkeit festzustellen in einem Ort, dessen Verhältnisse mir sehr genau bekannt waren, da ich 16 Jahre dort als Arzt tätig war. Es handelt sich um den Fabrikort Läger¬ dorf in Schleswig-Holstein, gelegen in der ländlichen Gemeinde Münsterdorf bei Itzehoe. Die Aufgabe erschien mir um so lohnen¬ der, als ich aus den Kirchenbüchern die Sterblichkeitsverhältnisse der Gemeinde bis zum Jahre 1764 zurückverfolgen konnte. Auch solche Untersuchungen der Säuglingssterblichkeit in früheren Jahr¬ hunderten liegen nur sehr wenige vor. Soweit mir bekannt, nur aus Breslau. In dieser Stadt sind nach Rietschel die Sterbe¬ register seit 1585 fortlaufend geführt. In Hamburg gehen die Register nur bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts zurück. Trotz¬ dem manche Angaben fehlten, ergab sich doch über die Verhält¬ nisse in der Gemeinde Münsterdorf ein ziemlich übersichtliches Bild, da die Angaben sich über einen sehr großen Zeitraum erstrecken. Besonders interessant wurden die Verhältnisse dadurch, daß in der rein ländlichen Gemeinde durch das Auffinden von Kreide in dem in der Gemeinde belegenen Orte Lägerdorf eine ausgesprochen in¬ dustrielle Bevölkerung geschaffen wurde und zwar in sehr kurzer Zeit. Durch das Aufblühen der Zementindustrie in Lägerdorf er- erfuhr dieser vorher ländliche Ort eine fast an amerikanische Ver¬ hältnisse erinnernde Entwicklung. Die Bevölkerung wuchs bei dem Fortschreiten der Industrie sehr schnell an und versechsfachte sich im Laufe von 30 Jahren. Das schnelle Wachsen der Bevölkerung kennzeichnen am besten folgende Zahlen. Nach den Volkszählungs¬ ergebnissen betrug die Einwohnerzahl Lägerdorfs:

1871

696

1875

798

1880

906

1885

1308

1890

2543

1895

2908

1900

3797

1905

3866

Dieses Anwachsen der Bevölkerung beruht natürlich zum aller¬ größten Teil auf Einwanderung. Die ursprüngliche ländliche ein¬ heimische Bevölkerung blieb im Orte wohnen, wandte sich aber zum größten Teil ebenfalls der Industrie zu oder übte Gewerbe aus im Dienste der Zugewanderten, wie Handel, Wirtschaftsgewerbe und die verschiedenen Handwerke. Die große Zahl der Zuge¬ wanderten verschaffte dem Orte bald eine internationale Bevölke¬ rung. Nicht nur wurden in dem Orte Arbeiter aus ganz Deutsch¬ land, besonders aus dem Osten ansässig, auch Italiener, Russen und

48

Haussen,

Galizier ließen sich dort nieder. So entstand eine gemischte In¬ dustriebevölkerung mit allen Fehlern und Nachteilen einer solchen. Besonders wurde in den Zeiten des glänzenden Geschäftsganges bei sehr hohen Löhnen der Arbeiter in hohem Maße dem Alkohol ge¬ huldigt. Daß diese Verhältnisse nicht ohne Einfluß auf die Säug¬ lingssterblichkeit der Gemeinde blieben, will ich unten näher aus¬ einandersetzen.

Um nicht durch lange Zahlenreihen zu ermüden, habe ich die Säuglingssterblichkeit von 10 zu 10 Jahren zusammengefaßt und habe dabei gefunden, daß sich ein sehr gleichmäßiges Bild bietet in dem Zeitraum von 1764—1869. Die Säuglingssterblichkeit ist in diesen Jahren eine sehr geringe und dabei sehr gleichmäßige.

Zusammengefaßt sind die Zahlen folgende: Vom Jahre 1764 1869.

Jan.

Febr.

März

April

Mai

Juni

Juli

Aug.

Sept.

Okt.

Nov.

Dez

50

64

53

64

61

42

50

34

35

41

31

36

Vo

n 1870

—1908.

86

96

76

76

74

81

99

135

86

83

60

74

Auf die einzelnen Dezennien verteilt sich die Säuglingssterb¬ lichkeit folgendermaßen :

Jahr-Dezennien

Januar

Februar

März

April

Mai

Juni

Juli

August

PU

CL >

CO

Oktober

Nov.

Dez.

1764—1769

4

7

8

0

5

0

2

1

4

4

5

3

1770-1779

4

8

4

6

5

5

5

4

4

6

5

4

1780—1789

9

4

4

10

8

2

3

6

4

4

4

1

1790-1799

1

5

10

11

2

8

5

2

2

5

2

2

1800—1809

1

10

7

3

8

7

10

4

3

4

0

3

1810—1819

10

4

2

12

2

4

6

3

2

5

3

3

1820-1829

2

4

5

3

8

5

6

2

3

2

4

3

1830-1839

5

6

5

o

8

2

0

2

4

3

3

2

1840—1849

1850—1859

5

6

3

6

5

7

6

5

2

4

4

5

1860—1869

9

10

5

8

10

2

7

5

7

4

1

10

1870—1879

8

16

8

10

12

10

8

17

12

15

5

8

1880—1889

16

25

24

14

6

20

18

22

15

11

11

13

1890-1899

27

22

25

18

23

17

36

51

32

29

18

25

1900-1908

35

33

19

24

33

34

37

45

27

28

26

28

Über die Säuglingssterblichkeit in einer Landgemeinde usw.

49

Das ändert sich nach dem Jahre 1870, wo die Säuglingssterblich¬ keit relativ und absolut stark ansteigt. Es liegt nahe an einen Zusammenhang dieser Zunahme mit der Entwicklung Lägerdorfs zum Industrieorte zu denken. Außerdem zeigt sich aber eine sehr auffallende Tatsache. Während nämlich in den Jahren bis zum Jahre 1870 die Säuglingssterblichkeit am höchsten in den 5 ersten Monaten des Jahres war (anscheinend sind unter den ländlichen Verhältnissen in den Winter- und Frühlingsmonaten die meisten Säuglinge an Erkältungskrankheiten zugrunde gegangen), tritt nach dem Jahre 1870 die Säuglingssterblichkeit im Winter sehr zurück gegen das Sterben in den Sommermonaten, besonders der August zeichnet sich jetzt durch eine enorm hohe Sterblichkeit aus, die doppelt so hoch ist, wie im Winter und Frühling. Wohnungsver¬ hältnisse können dabei keine Rolle spielen, denn der Ort Läger- dorf behielt trotz der Ausdehnung durch die wachsende Bevölke¬ rung durchaus seinen ländlichen Charakter, die Arbeiter wohnten in Häusern mit höchstens einem Stockwerk, unter durchaus günstigen Verhältnissen. Von einem Zusammendrängen in ungünstigen heißen Wohnungen im Sommer konnte keine Rede sein, zumal die größte Zahl der Arbeiter in von den Fabriken zur Verfügung gestellten teilweise sehr freundlichen und geräumigen Behausungen unterge¬ bracht war. Bei der Ausschaltung von ungünstigen Wohnungsver¬ hältnissen können nur Gewohnheiten, wie sie einer Industriebevöl¬ kerung eigentümlich sind, für die Steigerung der Säuglingssterb¬ lichkeit herangezogen werden. Unter diesen neuen Verhältnissen spielt ganz besonders, das kann nicht genug betont werden, der Ersatz der natürlichen Ernährung durch die künstliche eine Rolle. Unter dem Einfluß der künstlichen Ernährung konnten dann alle ungünstigen Faktoren, wie z. B. Steigerung der Geburtenzahl und die damit verbundene geringere Aufmerksamkeit, welche dem ein¬ zelnen Kinde gewidmet werden kann, erst zur Wirkung kommen. Weiterhin Nachlässigkeit und Vergnügungssucht sowie das Ent¬ stehen ungünstiger Lebensbedingungen unter dem Einfluß über¬ mäßigen Alkoholgenusses von seiten des Ernährers oder wie es mir in polnischen Familien nicht selten begegnet ist, beider Eltern. Daß diese ungünstigen Verhältnisse auf natürlich ernährte Kinder von geringem oder gar keinem Einflüsse sind, hat erst Tugend¬ reich nachgewiesen, während man früher annahm, daß alle Säug¬ linge durch diese Ungunst der Verhältnisse in Mitleidenschaft ge¬ zogen würden, was sicher nicht richtig ist.

In dem Zeiträume bis 1870 hat der November die geringste

Archiv für Soziale Hygiene. VII. 4

50

Hanssen,

Sterblichkeit mit Bl Todesfällen in 105 Jahren, die zweitniedrigste der August. Die höchste Februar und April mit je 64. In der Zeit nach 1870 steht der August mit 135 Todesfällen bei weitem oben an, dann folgt der Juli mit 99. Am niedrigsten ist der November mit 60 Todesfällen. Es tritt also in dieser Statistik der Einfluß der Sommermonate auf die Säuglingssterblichkeit deutlich hervor, genau wie in den Großstädten, ohne daß in einem länd¬ lichen Bezirk, wie hier die übermäßige Erhitzung der Wohnung und ungünstige Wohnungsverhältnisse als Ursache beschuldigt werden können. Ich habe nun zum Vergleich mit der Säuglings¬ sterblichkeit in der ländlichen Gemeinde Lägerdorf die Verhältnisse herangezogen, wie sie die Großstadt Hamburg bietet. Die Säug¬ lingssterblichkeit in Hamburg ist sehr eingehend behandelt in „Die Gesundheits Verhältnisse Hamburgs im 19. Jahrhundert“, Festgabe der 73. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte. Hamburg eignet sich wegen der Nähe und der Ähnlichkeit des Klimas, sowie auch deshalb, weil die Statistik bis zum Jahre 1820 zurückgeht, ganz besonders zum Vergleiche.

Wenn ich zunächst mit der Kurve der Säuglingssterblichkeit bis zum Jahre 1870 die mittlere Jahreskurve der Sterblichkeit an entzündlichen Brustkrankheiten auf Seite 150 vergleiche, so stimmt diese mit meiner Kurve ziemlich gut überein, wenn auch in Ham¬ burg die größte Zahl der Todesfälle auf die Monate April und Mai fällt. Aber auch in Hamburg sterben sehr viele Säuglinge im Februar an entzündlichen Brustkrankheiten, am wenigsten sterben an diesen Krankheiten in den Sommermonaten und damit stimmt meine Kurve vollkommen überein. Ich glaube dadurch den Beweis erbracht zu haben, daß vor dem Jahre 1870 in Lägerdorf die größte Zahl der Säuglinge an entzündlichen Brustkrankheiten in den rauhen Wintermonaten starben, während die Darmkrankheiten an Häufig¬ keit und Gefährlichkeit sehr zurücktraten. Nach dem Jahre 1870 war das Verhältnis gerade umgekehrt. Da fiel das Maximum auf den August und ich gehe wohl nicht fehl, wenn ich diese Steige¬ rung auf Rechnung der Magen- und Darmkrankheiten setze, die nach der Umwandlung der Bevölkerung in eine industrielle aus den oben angegebenen Gründen sehr viel häufiger geworden waren. Die Kurve der Säuglingssterblichkeit nach dem Jahre 1870 zeigt nur zwei Gipfel, einen im Februar und einen im August. Das ent¬ spricht durchaus der Regel. Die winterliche Hochflut akuter Er¬ krankungen der Atmungsorgane ist in hervorragendem Maße mit¬ bedingt durch die Beteiligung der Kinder an diesen Erkrankungen.

51

Über die Säuglingssterblichkeit in einer Landgemeinde usw.

i

Die Jahreskürve der Säuglingssterblichkeit zeigt dementsprechend einen energischen Anstieg in der rauhen Jahreszeit und wenn dieser auch hinter dem durch die Darmkatarrhe erzeugten Sommergipfel sichtlich zurückbleibt, so ist er doch hoch genug, um den Respira¬ tionskrankheiten den zweiten Platz in der Liste der Todesursachen zu sichern (vgl. Finkeistein, Säuglingskrankheiten, S. 1). Die Kurve der Säuglingssterblichkeit nach einzelnen Monaten vor dem Jahre 1870 zeigt den Gipfel der Säuglingssterblichkeit für den Winter für den Monat Februar ebenfalls; dann einen zweiten Gipfel für April, dann fällt sie langsam, außer zwei geringen Erhebungen im Juli und Oktober bis Ende des Jahres ab. Dieses Fehlen des Sommergipfels finden wir noch jetzt in England, z. B. Manchester. Keller (Säuglingsfürsorge und Kinderschutz in England und Schott¬ land) führt dies auf einen Einfluß des Klimas zurück. Nach Hanauer (Säuglingssterblichkeit in Frankfurt a. M.) waren um das Jahr 1850 herum auch in Frankfurt die Monate April und Mai die ungesundesten Monate des Jahres, einen Sommergipfel kannte man auch damals in Frankfurt nicht, dieser findet sich aber nach Gottstein (Beiträge zur Geschichte der Kindersterblichkeit, Medi¬ zinische Reform 1906 Nr. 5) bereits im 17. Jahrhundert in Breslau er schließt daraus, daß schon damals die künstliche Ernährung sehr floriert haben muß.

Eine tiefe Senkung zeigt jetzt der November, fast ebenso günstig stehen März und Januar dar. Nach dem Jahre 1870 ist bis 1900 die Säuglingssterblichkeit stets ungünstiger geworden, be¬ sonders im Monat August. Nach 1900 ist dann eine geringe Besse¬ rung eingetreten, wie sie auch an anderen Orten in Deutsch¬ land beobachtet wurde. Nach 1870 ist bis 1900 der Augustgipfel immer steiler geworden. Von 1900 an ist dagegen der Wintergipfel wieder gestiegen, der 1890 1899 niedrig war. Vor dem Jahre 1870 sind dann unter den ländlichen Verhältnissen im Orte ganz andere Bedingungen eingetreten tür die Sterblichkeit der Säuglinge, wie zu der Zeit der industriellen Blüte. Dieses Verhalten stellt die Kurve I dar in der unteren Reihe. Würde ich für die einzelnen Jahrzehnte vor 1870 ebenfalls Einzelkurven angelegt haben, so würde man den allmählichen Abfall des Augustgipfels und dement¬ sprechend das Steigen des Wintergipfels ebensogut verfolgen können, wie in der Tafel II das umgekehrte Verhalten nach 1870.

In einer zweiten Kurve habe ich die vier Jahrzehnte von 1870 an noch gesondert dargestellt. Aus diesen vier Kurven er¬ gibt sich, daß die Jahre 1890—1899, die Jahre der Hochkonjunktur

4*

52 Hanssen,

der Zementindustrie , fast allein den hohen Augustgipfel bewirkt

haben ( - gezeichnet). Der Wintergipfel in diesem Jahrzehnte fällt

auf den Monat Januar, ein weniger hoher auf März und Dezember.

In den Jahren 1900 1908 ist der Augustgipfel ebenfalls noch vor¬ handen, aber lange nicht so steil, wie in dem Jahrzehnt vorher. Der Wintergipfel im Januar ist fast ebenso hoch; der März ist der günstigste Monat in bezug auf die Säuglingssterblichkeit. Die Jahre 1880 1889 zeigen schon eine recht gleichmäßige Kurve. Ein Augustgipfel ist zwar noch vorhanden, doch ist schon der Winter¬ gipfel im Februar höher. Am günstigten ist die Mortalität im Monat Mai. Die Kurve des Jahrzehnts 1870 1879 hat einen sehr gleichmäßigen Verlauf. (Durch einen dicken Strich bezeichnet,

Über die Säuglingssterblichkeit in einer Landgemeinde usw.

53

während die Kurve von 1880—1889 durch einen dünnen Strich angegeben wird.) Der Augustgipfel ist deutlich und der höchste von allen Monaten, dann erfolgt der Höhe nach eine Erhebung im Februar, Mai und Oktober. Diese Monate stehen ungefähr gleich

hoch. Betrachtet man die umstehende Tabelle (Nr. III) der Geburten und Sterbefälle, so ergeben sich manche auffallende Tat¬ sachen. In den Jahren von 1764—1779 ist auffallend die große Zahl der Totgeborenen. Es steht auch im Kirchenbuch bemerkt bei dem Jahr 1772 : unter den 30 Toten sind wieder 4 totgeborene Kinder. Bis zum Jahr 1820 ist die Zahl der Sterbefälle meist so groß wie die der Geborenen ; das hatte verschiedene Ur¬ sachen, so war das Jahr 1773 ein Masernjahr. Von 1780—1789 war die Zahl der Sterbefälle höher als die Zahl der Geburten, denn das Jahr 1785 war ein Blatternjahr. 1788 herrschten die Frieseln (daher die große Sterblichkeit von 72 Säuglingen in diesem Jahrzehnt. Im Jahr 1799 herrschten anscheinend viele Darmkatarrhe). Das Jahr 1800 war wieder ein Blattern jahr, es starben an dieser Krankheit allein 7 Personen. Auch 1801 hielten die Blattern noch an; von 1800 1809 war die Zahl der Gestorbenen fast so groß wie die der Geborenen. Von 1810—1819 war die Zahl

Hanssen

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Uber die Säuglingssterblichkeit in einer Landgemeinde usw.

55

der Sterbefälle sogar wieder größer, als die Zahl der Geburten. Von da an übertrifft die Zahl der Geburten die der Gestorbenen. Von 1850—1859 übertrifft die Zahl der Geburten die der Gestor¬ benen annähernd um das Doppelte. Von 1870—1879 steigt die Zahl der Todesfälle wieder an, besonders unter dem Einfluß des Jahres 1873, das ein Keuchlmstenjahr war. Es starben einmal 7 Kinder innerhalb 3 Monaten an dieser Krankheit. Auch 1880— 1889 war die Sterblichkeit wieder ziemlich hoch, denn 1884 herrschte eine Masernepidemie. 1885 wieder Keuchhusten. Wie mörderisch die Masern in Lägerdorf auftreten können, habe ich selber noch be-

2400

2000

1600

1200

800

400

Fälle

Kurve über die Zahl der Sterbefälle (erste Reihe).

Darunter Säuglinge (zweite Reihe). Darunter Totgeborene (dritte Reihe). Zahl der Geburten (vierte Reihe) in den einzelnen Jahrzehnten.

Kurve III.

Q

obachtet, da in einer Epidemie über 40 Kinder, an den Komplika¬ tionen der Masern zugrunde gingen. Die meisten an einem sehr akut verlaufenden Croup, der sich an eine Stomatitis aphthosa an¬ schloß, daneben starben auch viele Kinder an Lungenentzündung, so allein in einer Familie 3 vorher ganz gesunde und kräftige Kinder, teilweise schon im schulpflichtigen Alter. Diese Epidemie war von Essen aus eingeschleppt. Vom Jahre 1890 an steigt die Zahl der Geburten sehr beträchtlich an und: übertrifft in den letzten Jahren die Zahl der Gestorbenen um das Doppelte. Als besonders

56

Hanssen,

interessant erwähne ich noch die im Jahre 1878 erfolgte Geburt von Fünflingen bei dem Schuhmacher Kay ich kann diese Tat¬ sache auf Grund der urkundlichen Eintragung in das Kirchenbuch bestätigen. Die Kinder starben alle kurze Zeit nach der Geburt. 1889 wurden Vierlinge angezeigt, die alle totgeboren waren. Eine Übersicht der Zahl der Todesfälle in der ganzen Gemeinde Münster¬ dorf, die Totgeborenen, die Todesfälle der Säuglinge, die Zahl der Geburten, darunter der Unehelichen ergibt Tabelle V. Von 1901 an, sind die Zahlen auch für den Industrieort Lägerdorf allein an¬ gegeben. Die Säuglingssterblichkeit in Läger dorf ist beständig etwas höher, als in der ganzen übrigen Gemeinde. Daß sie in der zum größten Teil ländlichen Gemeinde nicht erheblich geringer war, als in dem Industrieort Lägerdorf, kommt daher, daß in den Zeiten der Blüte der Zementindustrie die Industriearbeiter sich auch in den umliegenden Dörfern (Münsterdorf und Dägeling) an¬ siedelten und die Säuglingssterblichkeit dadurch auch in diesen Orten ungünstig beeinflußt wurde.

Die Zahl der unehelichen Geburten war in dem Industrieorte größer als in der Gemeinde als ganzer, z. B. 1908 11 auf 168 in Lägerdorf. In der ganzen Gemeinde nur 14 auf 233 Geburten.

Was die Zahl der unehelichen Geburten betrifft, so ist dieselbe nach der Festschrift des König!, preußischen statistischen Bureaus (1905 S. 29) für unsere Provinz folgende: unter 1000 Geborenen waren unehelich

1875 1900 in den Städten 110 auf dem Lande 81

Von 1000 Lebendgeborenen bei den ehelichen 141 Mortalität

bei den unehelichen 298

Meine Zahlen sind folgende:

Die unehelichen Geburten waren unter den ländlichen Verhält- nissen ziemlich niedrige. In den ersten sechs Jahren (1764 1769) nur 3 auf 276 Geburten. Um 1800 etwa 25 auf 380. Später sogar nur 1860 1869 39 auf 722. In den Zeiten der Hochkonjunktur der Industrie dagegen 105 uneheliche Geburten auf 2452 Geburten überhaupt. Vergleicht man damit die Kieler Verhältnisse, so be¬ trug in Kiel der Prozentsatz der unehelichen Geburten

1906 15,51

1907 14,51

1908 14,92

Die unehelichen Geburten haben also in Kiel in geringem Grade abgenommen.

Übersicht über die Zahl der unehelichen Geburten, Totgeborenen und die Säuglingssterblichkeit in der Gemeinde Münsterdorf überhaupt und in dem Industrieort Lägerdorf gesondert.

Über die Säuglingssterblichkeit in einer Landgemeinde usw. 57

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58 Haussen,

Was den Einfluß der Lolmverhältnisse auf die Säuglingssterb¬ lichkeit anbetrifft, so gelang es mir, einen Einfluß derselben auf die Sterblichkeit festzustellen. Die Lolmverhältnisse der Arbeiter ergeben sich in den einzelnen Jahren aus der beifolgenden Liste, der durchschnittliche Tagelohn war mit 2,956 M. im Jahre 1894 am niedrigsten. Im Jahre 1895 war die Säuglingssterblichkeit mit

47 Fällen im Jahr hoch und zeigte eine Kurve nach oben; sie fiel 1896, als die Lohnverhältnisse bessere wurden. Von 1895—1899 besserten sich die Lohnverhältnisse langsam, indem der durchschnitt¬ liche Tagelohn auf 3,457 anstieg. Die Säuglingssterblichkeit stieg langsam vom Jahre 1896 an, hielt sich aber in mäßigen Grenzen.

Über die Säuglingssterblichkeit in einer Landgemeinde usw. 59

Vom Jahre 1899 fiel der Tagelohn bis 1902 auf 3,123 M. Die Säuglingssterblichkeit stieg sehr steil an bis auf 72 Fälle im Jahr 1901, fiel dann langsam ab bis 1907 wo sie niedriger war, als 1895. Der Lohn stieg dann bis 1907, sehr schnell an auf 3,907 M. In diesem Jahre des höchsten Tagelohnes war die Säuglingssterblich¬ keit seit 1898 mit 45 Fällen im Jahr am niedrigsten.

Der Tagelohn fiel dann bis zum Jahre 1909 auf 3,669 M. Die Kurve der Säuglingssterblichkeit machte einen leichten Anstieg.

Auf 100 Lebendgeborene starben in der Gemeinde Säuglinge

Totgeborene

Uneheliche

Geburten

darunter

Geburten in der Gemeinde

Jahr

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Durch¬

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25,0

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15

184

1893

3,208

18,94

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17

227

94

2,956

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95

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14,65

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3,176

13,17

43

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213

97

3,265

14,01

49

11

214

98

3,339

15,57

46

9

204

99

3,457

25,47

83

8

263

1900

3,241

27,48

63

9

272

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3,207

17,80

62

11

267

02

3,123

20,57

53

16

277

03

3,183

19,80

63

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248

04

3,225

23,20

54

7

237

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3,326

23,52

45

14

221

06

3,523

19,82

58

17

227

07

3,907

21,03

42

14

233

08

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09

3,669

10

Was den Einfluß der Lohnverhältnisse auf den Alkoholver¬ brauch der Bevölkerung betrifft, so konnte ich mit größter Sicher¬ heit nach weisen, daß er am höchsten war im Jahre des höchsten Lohnes. Er betrug 84000 Liter Branntwein bei einer Bevölkerungs¬ zahl von etwa 4000 Einwohnern, dazu kamen noch 2570 hl Bier.

Als der Lohn im Jahr 1910 niedriger geworden war, fiel der Alkoholverbrauch auf 74000 1, der Bierkonsum auf 2410 hl. Im Vergleich dazu betrug 1899 der Alkoholkonsum bei einem Lohn von 3,457 M. 65000 1, der Bierkonsum 2330 hl. Die Bevölkerungs¬ zahl betrug ungefähr 3800 Einwohner. Der Einfluß der Lohnver¬ hältnisse auf die Säuglingssterblichkeit ist natürlich schwer fest¬ zustellen und auch in meiner Statistik vielleicht ein zufälliger, da schlechte Lohnverhältnisse doch oft erst nach 1—2 Jahren ihren

60 Hanssen,

Einfluß auf die Lebenshaltung geltend machen. Ein gewisser Zu¬ sammenhang scheint aber doch zu bestehen.

Jahr

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Bier¬

konsum

1

Brannt¬

wein

darunter

Eigen¬

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vergehen

davon

gericht¬

liche

Be¬

strafung

darunter

wegen

Eigentums¬

vergehen

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80

1893

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65 000

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1900

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46

127

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1907

2570

84 000

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106

80

128

08

30

88

52

136

09

1910

2410

74 000

22

70

70

141

10

Marie Baum konnte den Einfluß günstiger wirtschaftlicher Lage sowohl bei Brust- wie bei Flaschenkindern beobachten, bei letzteren jedoch in unverhältnismäßig größerem Maße. Im Kreise Geldern zeigte sich für die ehelichen künstlich genährten Kinder, deren Väter ein Einkommen von weniger als 1500 M. besaßen, eine Sterblichkeit von 16,7 Proz., bei denen, deren Väter mehr als 1500 M. versteuerten von 5,7 Proz. Im Kreise Mors dagegen waren die Sterblichkeitsziffern der künstlich genährten fast die gleichen, ob der Vater ein höheres oder niedriges Einkommen aufzuweisen hatte, und zwar fand sich das gleiche Verhältnis, sowohl bei den Kindern des ersten wie des zweiten, dritten und vierten Vierteljahres. Marie Baum gibt im allgemeinen an, daß mit dem wachsenden Wohlstand immer häufiger zur unnatürlichen Ernährung gegriffen wird.

Meiner Ansicht nach wirkt die Lohnhöhe nur dann auf die Säuglingssterblichkeit günstig ein, wenn es sich um Eltern von moralischem Hochstande handelt, wenn es sich aber um Eltern handelt, die moralisch tief stehen, wird oft gerade der hohe Lohn zum Alkoholmißbrauch auffordern und anstatt nützlich zu wirken, der günstigen Lebenshaltung einer Arbeiterfamilie im Wege stehen.

Uber die Säuglingssterblichkeit in einer Landgemeinde usw.

61

Dagegen gelang es mir einen deutlichen Zusammenhang der Zahl der Bestrafungen und der Säuglingssterblichkeit festzustellen. Die Säuglingssterblichkeit stieg vom Jahre 1896—1900 sehr steil an, ebenso die Zahl der Bestrafungen vom Jahre 1894 mit 66 Fällen auf 161 und 155 Fälle in den Jahren 1899 und 1900. Von da an nahm die Zahl der Betrafungen bis 1904 ab; in diesem Jahre war die Zahl derjenigen der Bestraften nur 90. In demselben Jahr war auch die Zahl der gestorbenen Säuglinge mit 49 Todesfällen ziemlich niedrig. Vom Jahre 1905 an nahm die Kriminalität der Bevölkerung wieder zu und auch die Säuglingssterblichkeit zeigte wieder leichte Zacken nach oben. Die Kriminalität stieg übrigens auffallend der Höhe der Löhne entsprechend. Im Jahre 1894, in welchem der niedrigste Tagelohn gezahlt wurde, war die Krimi¬ nalität mit 90 Fällen bei weitem am niedrigsten. 1899, als der Lohn einen Anstieg auf 3,457 M. zeigte, war die Kriminalität mit 161 Fällen am höchsten. Als 1907 der Tageslohn auf fast 4 M. gestiegen war, zeigte auch die Kriminalität einen steilen Anstieg, der allerdings nicht die Höhe des Gipfels von 1899 erreichte. Dieses Ansteigen und Fallen der Kriminalität entsprechend dem Ansteigen und Fallen des durchschnittlichen Tagelohnes hängt mit ziemlicher Sicherheit mit der großen Zahl der Vergehen zusammen, die unter dem Einfluß des Alkohols begangen werden, besonders also Be¬ drohung und Körperverletzung. Je mehr also die Höhe des Tage¬ lohnes zum Mißbrauch des Alkohols auffordert, um so mehr solcher Vergehen werden verübt werden.

Vielleicht spielt auch das Verhalten des Milchverkehrs eine Ko Ile. Unter den rein ländlichen Verhältnissen wurde die Milch meist direkt von der Kuh an die Konsumenten abgegeben. Nach dem Anwachsen der Bevölkerung kamen auch Milchwagen in den Verkehr, welche die Milch erst nach einem längeren Trans¬ port von auswärts an die Konsumenten verabfolgen konnten.

Flügge (Aufgaben und Leistungen der Milchsterilisierung, Zeitschrift für Hygiene Bd. 17 S. 262) betont diesen Unterschied in der Milchversorgung zwischen Dörfern und Städten sehr und mißt ihm große Bedeutung bei. In einer saub er en Ar b eit er- wohnungwird auch nicht ganz einwandfreie Milch bei zweckmäßiger Behandlung nicht schlechter, während auch gute Milch in den Händen einer unsauberen und nachlässigen Mutter für das Kind gefährlich werden kann.

Mir ist es nicht gelungen, einen Unterschied in der Milchver-

62>

Hanssen,

sorgung, ob Milchwagen oder direkte Abgabe von der Kuh an die Familien, in bezug auf die Säuglingssterblichkeit festzustellen.

Es erübrigt sich noch, den Einfluß der Wärme der Sommer¬ monate auf die Säuglingssterblichkeit festzustellen. Wenn Meiner t für Dresden (Säuglingssterblichkeit und Wohnungsfrage) angibt, daß während der heißen Jahreszeit gegenüber der Cholera infantum sich auch die minderwertigen Wohnungen gefahrenfrei erwiesen, wenn sie in freistehende Häuser eingebaut waren (Haus’mann’s Wohnungen), so kann ich diese Ansicht nicht bestätigen, denn in Lägerdorf war auch kein einziges Wohnhaus der Arbeiter nicht freistehend. Keine geschlossene Straße war vorhanden, auch nicht, als sich die Industriearbeiter in dem Ort angesiedelt hatten. Trotz der Industrialisierung der Bevölkerung des Ortes war die Bebauung eine durchaus ländliche geblieben, da genügend Bauland vorhanden war, um auch für die größer gewordene Bevölkerung genügend ländlich freistehende Wohnhäuser zu schaffen. Trotzdem in dieser Beziehung der ländliche Charakter des Ortes gewahrt blieb, starben unter den industriellen Verhältnissen eine sehr große Zahl von Kindern und zwar genau wie in den Großstädten im August, nicht wie vor¬ her unter den ländlichen Verhältnissen die meisten Säuglinge an Erkältungskrankheiten im Winter.

Die Monate der größten Säuglingssterblichkeit in den ver¬ schiedenen Sommern der letzten 20 Jahre ergeben sich aus folgen¬ der Tabelle.

Jahr

Juli

August

.

September

1891

9

1893

- .

8

1894

9

1900

8

1901

7

10

8

1903

12

5

Es hatte also die höchste Säuglingssterblichkeit der Juli 1903. Dabei hatte er nur ein Monatsmittel der Temperatur von 16,5 0 C (nach Mitteilung der Kaiserl. Seewarte in Hamburg) und gehörte nicht zu den acht heißesten Monaten Juli in diesen 20 Jahren. Der wärmste Monat war der Juli 1901 mit einer mittleren Tem¬ peratur von 19,3 °. Die Säuglingssterblichkeit war mit 7 Fällen im Monat wohl hoch, aber doch nicht so hoch wie 1903. Der zweitheißeste Juli war im Jahre 1900. Die Säuglingssterblichkeit

Über die Säuglingssterblichkeit in einer Landgemeinde usw.

63

mit vier Fällen niedrig-. 1894 und 1899 .stellt der Juli mit 18,3° an dritter Stelle. Die Säuglingssterblichkeit betrug in beiden Jahren sechs Fälle, war zwar mittelhoch, aber niedriger, als in anderen Jahren. Der wärmste August mit 18,2 0 im Mittel war der des Jahres 1897. Die Säuglingssterblichkeit war mit 4 Fällen niedrig. Der zweitwärmste August im Jahr 1898 (17,9 0 C). Die Säuglingssterblichkeit mit 5 Fällen nur mittelgroß. Der wärmste September. 1895 (15,5 °) , die Säuglingssterblichkeit betrug nur 3 Fälle. Der zweitwärmste September war der des Jahres 1891 (14,9°), die Säuglingssterblichkeit war mit 4 Fällen kaum mittel¬ hoch. Dagegen starben im September 1893 und 1901 je acht Säuglinge. Daüei war die Temperatur des September 1901 die dritte in der Reihe der September mit 14,6°. Der September 1893 aber mit 12,4° unter dem Mittel.

Die wärmsten Monate. 1891—1910.

In Celsius.

1901

1900

1894

1899

1905

1908

1896

1904

! Juli 19,3°

1897 S August 18,2 0

1895 ;

Juli 18,4°

1898

August 17,9 0

1891

Juli 18,3° Juli 18,3°

1892

August 17,4 0

1901

Juli 18,1°

1893

August 17,2 0

1898

Juli 17,9°

1906

August 17,1 0

1900

Juli 17,5°

1895

August 17,0°

1903

Juli 17,5°

1901

August 17,0°

September 15,5 9 September 14,9°

September 14,6°

September 14,5° September 14,8°

September 14,2 0

Ich kann auf Grund meiner Untersuchung keinen Einfluß der Temperatur im Sommer nachweisen, soweit sie aus dem Monats¬ mittel berechnet ist und ich kann den Rat Finkeistein ’s ver¬ stehen, die Tageskurve anstatt dessen in Betracht zu ziehen. Ich bezweifle allerdings, daß ich auch bei diesem Vorgehen greifbare Resultate erzielt hätte.

Ich fasse die Resultate meiner Untersuchungen zusammen:

In einer vorher ländlichen Gemeinde sind nach dem Entstehen einer Industriebevölkerung die vor - her normalen Sterblichkeitsverhältnisse der Säug¬ linge, mit einem geringenWintergipfel, ganz andere geworden: Es ist ein typischer hoher Sommergipfel entstanden, dieser ist weder durch Witterungs-, noch durch Wohnungsverhältnisse bedingt. Die Wohnungs¬ verhältnisse waren vor 1868 wie nachher genau dieselben; keine Reihenhäuser, sondern Hausmannswohnungen. Dieser Sommergipfel der Säuglingssterblichkeit ist an erster Stelle durch das Aufgeben der natürlichen Ernährung entstanden, dann durch die Nachlässig-

64

Hanssen,

keit und Gleichgültigkeit, mit welcher in Industriearbeiterkreisen Kinder erzeugt und aufgezogen werden.. Oft fehlen unseren jung¬ heiratenden Arbeitern und Arbeiterinnen die Mittel und Erfahrung, für ihre Nachkommen zu sorgen. Je kinderreicher eine Familie ist, desto mehr Kinder sterben in derselben. Ich habe diese Er¬ fahrung oft gemacht; so könnte ich verschiedene solcher Familien angeben, in welchen der Reihe nach Säuglinge starben. (Vgl. St ölte, Jahrbuch für Kinderheilkunde, Februar 1911.) Meist konnte ich in solchen Fällen den Alkoholmißbrauch des Ernährers als Ursache nachweisen. Eine heredi¬ täre Belastung war nach meinen Erfahrungen als Hausarzt nicht vorhanden. Die Trunksucht des Ernährers und die dadurch bedingte mangelhafte Lebenshaltung bewirkte oft bei der Ehefrau eine gewisse Nachlässigkeit und Gleichgültigkeit. Oft war das Verhalten aber auch umgekehrt, indem eine schmutzige, untüchtige Hausfrau den vorher ordentlichen Mann ins Wirtshaus trieb. In solchen Fällen würde die Statistik versagen. Die Statistik würde (vgl. Li efm an n) einen hohen Lohn des Ernährers ergeben, wo tatsächlich durch das Potatorium desselben die Ernährungsver¬ hältnisse seiner Familie mangelhafte waren. Vergleiche auch die Tabellen XII und XI bei Dr. Marie Baum, (Ernährungsstand der ehelichen Säuglinge nach dem Einkommen des Vaters, Zeit¬ schrift für Säuglingsfürsorge, Bd. IV, 1910).

Ein Einfluß der Lohnverhältnisse auf die Säuglingssterblichkeit scheint vorhanden zu sein, je höherderLohn,destoge ringer die Säuglingssterblichkeit. Leider gilt aber auch die Regel : Je höher der Lohn, desto größer der Alkoholver¬ brauch. Für die arbeitende Klasse und das Gedeihen ihrer Familie scheint ein mittelhoher Lohn der günstigste zu sein.

Die mehr oder minder große Vergnügungssucht der Mütter scheint ohne Einfluß auf die Säuglingssterblichkeit zu sein.

Die Kriminalität der arbeitenden Bevölkerung scheint in einem Zusammenhang mit der Säuglingssterblichkeit zu stehen: je mehr Bestrafungen, desto höher dieSäuglingssterblichkeit.

Die Wärme des Sommers hat nach meiner Statistik keinen Einfluß auf die Säuglingssterblichkeit in einem länd¬ lichen Orte.

Zum Schlüsse meiner Arbeit kann ich es mir nicht versagen,

»

folgenden Herren für ihre Unterstützung und Überlassung von Material meinen Dank auszusprechen: Dem Königl. Landrate des

Über die Säuglingssterblichkeit in einer Landgemeinde usw.

65

Kreises Steinburg, Herrn Pahlke zu Itzehoe, Herrn Pastor Herrn b erg in Münsterdorf, Herrn Hauptlehrer Hansen, Herrn Gemeindevorsteher Schilling und Herrn Prokurist Lange in Lägerdorf. Der Kaiserl. Seewarte und dem physikalischen Institut in Kiel bin ich ebenfalls zu Dank verpflichtet.

Herrn Dr. Eff ler in Danzig danke ich ganz besonders für die zahlreichen Ratschläge bei der Fertigstellung meiner Arbeit.

Literaturangabe.

Baum, Marie. Lebensbedingungen und Sterblichkeit der Säuglinge in den Kreisen Mörs und Geldern. Zeitschr. f. Säuglingsfürsorge. Bd. IV, 1910. Dieselbe. Ernährungszustand der ehelichen Säuglinge nach dem Einkommen des Vaters. Zeitschr. f. Säuglingsfürsorge. Bd. IV, 1910.

Einkelstein. Lehrbuch der Säuglingskrankheiten. S. 1.

Flügge. Aufgaben und Leistungen der Milchsterilisierung. Zeitschr. f. Hygiene. Bd. 17, S. 262.

Gesundheitsverhältnisse. Die G. Hamburgs im 19. Jahrhundert. Hamburg 1901. Gottstein. Beiträge zur Geschichte der Kindersterblichkeit. Medizinische Reform 1906, Nr. 5.

Hanauer. Säuglingssterblichkeit in Frankfurt a. M. Ergebnisse der Säuglings¬ fürsorge. Heft VII.

Keller. Säuglingsfürsorge und Kinderschutz in England und Schottland. Er¬ gebnisse der Säuglingsfürsorge. Heft XI.

Lief mann. Die Bedeutung sozialer Momente für die Säuglingssterblichkeit. Zeitschr. f. Hygiene. Bd. LXII, 1908.

Meinert. Säuglingssterblichkeit und Wohnungsfrage. Archiv f. Kinderheil¬ kunde. XLIV, Heft 1/3.

Reich , das Deutsche in gesundheitlicher und demographischer Beziehung.

Festschr. des K. Gesundheitsamts und K. statistischen Amts. Berlin 1907. Rietschel. Sommersterblichkeit der Säuglinge. Ergebnisse der inneren Medizin und Kinderheilkunde. Bd. VI, S. 375.

Stolze. Über das frühzeitige Sterben zahlreicher Kinder einer Familie. Jahr¬ buch für Kinderheilkunde. Februar 1911, S. 164.

Tagendreich. Mutter- und Säuglingsfürsorge, Handbuch der .

Archiv für Soziale Hygiene. VII.

5

Beitrag zur Vergiftung durch nitrose Gase.

Von Gewerbeinspektor ScHULTZE-Fulda.

(Mit 6 Abbildungen.)

Einen Überblick über die Gefährdungen durch nitrose Gase geben die Jahresberichte der Königlich Preußischen Regierungs¬ und Gewerberäte. Besondere Mitteilungen über Erkrankungen sind in folgenden Berichten enthalten: 1897 S. 352; 1899 S. 124; 1901 S. 54; 1909 S. 81; zahlreiche Todesfälle sind mitgeteilt: 1895 S. 106, 122 und 136; 1896 S. 81; 1897 S. 114; 1899 S. 161; 1901 S. 54; 1903 S. 67, 433; 1906 S. 200 und 375; 1907 S. 100; 1908 S. 94.

Der in dem Jahresbericht 1897 S. 114 mitgeteilte Unfall hat, wie später gezeigt wird, ein besonderes Interesse. Die Mitteilung darüber lautet: Leider ist über Unfälle zu berichten, welche zwar nicht Fabrikarbeiter, aber eine große Zahl von Feuerwehrleuten betroffen haben, die beim Löschen eines Fabrikbrandes nitrose Gase einatmeten. Die chemische Fabrik auf Aktien stellte auf ihrem in Berlin, Fennstraße, gelegenen Grundstück in den Grenzen der ihr erteilten Konzession Kollodium dar und benötigte zu dieser Fabri¬ kation größerer Mengen Salpetersäure, welche sie in den üblichen Glasballons von außerhalb bezog. Der Schuppen, in welchem die Ballons aufbewahrt wurden, geriet zu einer Zeit, in der nicht mehr gearbeitet wurde, in Brand. Der Ausbruch des Feuers ist sehr wahrscheinlich auf das Zerspringen eines Säureballons zurück¬ zuführen. Die aus dem Ballon aussickernde Säure setzte infolge der starken Oxydations wärme das Verpackungsstroh und das Ge¬ flecht des Korbes, in dem der Ballon verpackt war, in Brand. In¬ folge des Brandes zersprangen noch andere Ballons. Die aus ihnen fließende Salpetersäure vergaste bei der Hitze und wurde von den zum Löschen herbeigeeilten Feuerwehrleuten eingeatmet. Es er-

Beitrag zur Vergiftung durch nitrose Gase.

67

krankten 3 Offiziere, 57 Oberfeuerwehrmänner und Feuerwehrmänner, von denen 1 Oberfeuerwehrmann nach 6 Stunden starb. Viele andere waren lange Zeit krank und dienstunfähig. Der behandelnde Arzt ist zu der Ansicht gekommen, daß die eingeatmeten nitrosen Gase infolge einer Blutzersetzung Störungen des Zentralnerven¬ systems hervorrufen, also wie Vergiftungen wirken, welche unter Umständen einen schnellen Tod herbeifuhren. Um ähnlichen Un¬ fällen in der an anderer Stelle inzwischen errichteten Fabrikanlage vorzubeugen, werden die Säureballons jetzt unter einem nach allen Seiten offenen Schuppen, nicht in einem geschlossenen Raume oder gar in einem Keller aufbewahrt. Die Ballons stehen auf einem Rost, welcher über einem geneigten, betonierten Fußboden liegt. Der Fußboden hat Gefälle nach einem tieferliegenden Graben, dessen Inhalt so bemessen ist, daß er die ganze Menge der gelagerten Säure fassen kann und noch eine Verdünnung der Säure durch Wasser gestattet. Die einzelnen Reihen von Säureballons sollen durch zwischengestellte Eisenbleche voneinander getrennt werden, damit ein Brand sich nicht leicht über das ganze Lager ausbreiten kann.

Besonders erwähnenswert sind ferner drei tödliche Vergiftungs¬ fälle aus den Jahren 1907 und 1908, weil an ihnen eine gericht¬ liche Sektion vorgenommen wurde. Holtz mann -Karlsruhe be¬ richtet darüber:

1. Fall. In einem Kellerraume befanden sich fünf große eiserne Fässer eines Gemischs von Schwefelsäure und Salpetersäure. Eines Morgens wurde bemerkt, daß eines der Fässer undicht ge¬ worden war. Die Direktion ließ die vorhandenen Rauchmasken herbeiholen und wollte die Säure herauspumpen lassen. Zur Mon¬ tierung der Pumpe stiegen zwei Schlosser in den Keller und ver¬ weilten dort ungefähr 25 Minuten. Zum Schutze gegen die Dämpfe hielten sie sich Putzwolle und das Taschentuch vor, die Maske hatten sie sich nicht aufgesetzt. Der eine Schlosser erkrankte nur leicht an Husten, während der andere noch am selben Abend an schwerer Atemnot starb. Die Sektion ergibt eine starke Schwellung der Schleimhaut des Kehlkopfes und der Stimmbänder. Die Liga¬ menta ary-epiglottica sind polsterartig vorgetrieben. Der obere Teil der Luftröhre ist entzündet. Der Unterlappen der linken Lunge fühlt sich etwas fester als rechts und enthält etwas reich¬ licher Blut, die Lungen sind durchweg noch lufthaltig. Von einer Verfärbung des Blutes ist nichts bemerkt. Der Verstorbene wird als untersetzter, dicker Mann bezeichnet. Er war 38 Jahre alt.

5*

68

Schultz e,

Die beiden anderen Arbeiter waren in der Nitrierlialle be¬ schäftigt. woselbst das Nitriergut der Nitrierflüssigkeit (Schwefel¬ und Salpetersäure) zugegeben wird, die längere Zeit darauf ein wirkt.

2. Fall. Ein Arbeiter war am 27. Mai in die Fabrik einge¬ treten, schon nach wenigen Stunden klagte er über Brustschmerzen und Schwindel, am 29. Mai starb er. Von ihm ist bekannt, daß er schon vorher an Lungenerweiterung und chronischer Bronchitis gelitten hat. Er war 43 Jahre alt.

Die Sektion ergibt Blähung und Vergrößerung der Lungen nebst starkem Blutgehalt. Das Lungengewebe ist sehr saftreich, auf Druck entleert sich schleimige Flüssigkeit. Die Bronchien und Bronchiolen sind bis in die feinsten Äste hinein mit Schleim und Eiter verstopft. Die Luftröhrenschleimhaut ist entzündet, ebenso die Magenschleimhaut, was jedenfalls durch Verschlucken säure¬ haltigen Speichels verursacht war. Erwähnt wird besonders die auffallend schwärzliche Färbung des Blutes in den großen Gefäßen und die stark braune Färbung der Organe.

3. Fall. Ein anderer Arbeiter war am 15. Juli in die Fabrik eingetreten und ist am 16. Juli nachmittags gestorben, nachdem er nur 3 Stunden dort gearbeitet hatte. Er war 40 Jahre alt und soll bereits vorher krank gewesen sein. Die Sektion ergibt starke Rötung und Schwellung des Kehldeckels, des Kehlkopfes und der Luftröhre bis hinein in die kleinsten Verzweigungen. Die Lungen sind groß und rot, aus beiden Lungen entleert sich schaumige Flüssigkeit in sehr großer Menge. Die übrigen Organe sind braun¬ rot, das Blut dunkelrot, fast schwärzlich. Erwähnt sei noch, daß die Patienten bei der Aufnahme ins Hospital öfter eine gelbliche Verfärbung des Bartes, der Augenbrauen, des Zahnfleisches und der Zähne zeigen, die auf Bildung Xantroproteinsäure zurück¬ zuführen sei.

Von den bei den gerichtlichen Erhebungen vernommenen Meistern und Mitarbeitern wurde besonders angegeben, daß während der ganzen Zeit der Beschäftigung der beiden verstorbenen Säurearbeiter kein Topf „gebrannt“ habe. Mit dieser Bezeichnung belegen die Arbeiter das Entweichen der rotbraunen untersalpetersauren Dämpfe, auf deren Gefährlichkeit jeder Arbeiter bei seinem Eintritte hin¬ gewiesen wird mit der Anweisung, beim etwaigen Auftreten dieser Dämpfe sofort die Halle zu verlassen. Die Fälle zeigen also, daß nicht nur diese Dämpfe, die ja schon durch ihre Sichtbarkeit warnen, gefährlich werden können.

Im ersten hier aufgeführten Falle ist der Tod auf die heftig

Beitrag zur Vergiftung durch nitrose Gase.

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entzündliche Schwellung des Kehlkopfes der Stimmbänder und der oberen Luftwege, hervorgerufen durch den ätzenden Reiz der Säure, zurückzuführen. Eine Alteration der Lunge hatte erst begonnen, Veränderungen im Blute waren noch nicht wahrzunehmen. In den beiden letzten Fällen war der Tod durch Lungenödem verursacht. Dabei war aber bereits eine Alteration des Blutes nachweisbar. Die dunkle Blutfärbung ist nach Schmieden ein konstanter Befund, der freilich spektroskopisch noch nicht genügend geklärt ist.

Eine bedeutende Unkenntnis herrscht bei den Unternehmern, Betriebsbeamten und Arbeitern auch über die Vergiftungsgefahren durch Verschütten der Salpetersäure. Diese Gefahren sind durch die Unüberlegtheit der Arbeiter oft bis zur Lebensgefahr gesteigert. Die Arbeiter suchen die verschüttete Säure durch Sägemehl oder Sägespäne aufzusaugen. Bei Anwesenheit dieser organischen Stoffe geht nach Holtzmann die Salpetersäure Zersetzungen in ihren niedrigen Oxydationsstufen ein, in salpetrige Säure (NOaH), Untersalpetersäure und Stickoxyd (NO). Die Untersalpetersäure ist aufgelöst in der sogenannten rauchenden Salpetersäure vorhanden. Sie bildet wegen ihrer Giftigkeit die so gefürchteten braunroten Dämpfe. Im Augenblick der Einatmung wird aus der Untersalpeter¬ säure durch das Hinzukommen von Wasser salpetrige Säure. Erstere ist als das eigentliche schädliche Agens anzusehen. Wie häufig die so hervorgerufenen Todesfälle sind, hat die Berufsgenossenschaft der chemischen Industrie nachgewiesen. Von 32 Todesfällen durch Vergiftungen infolge Einatmung nitroser Gase entfielen 13, also mehr als ein Drittel, auf die Beseitigung verschütteter oder aus¬ gelaufener Salpetersäure.

Zwei hierfür besonders charakteristische Todesfälle aus dem Jahre 1910 teilt der Gewerbeinspektor Ulrichs -Köln mit:

1. Eine galvanische Anstalt wurde verlegt. Eine aus der alten Anlage mitgenommene Korbflasche mit etwa 30 Liter Salpetersäure wurde vorübergehend im ersten Stocke der neuen Anlage auf den mit Zementbelag versehenen Fußboden gestellt. Da sie bei der Auf¬ stellung von Apparaten im Wege stand, wurde sie von einem Lehr¬ ling an eine andere Stelle gebracht, wobei sie wahrscheinlich in¬ folge zu heftigen Aufsetzens auf den Fußboden zerbrach. Ein Arbeiter, der schon länger in galvanischen Anstalten und Metall¬ brennereien tätig war, gab den Rat, man solle Sägemehl, das ja in galvanischen Anstalten immer vorrätig ist, über die ausgelaufene Salpetersäure streuen, um Beschädigungen des Fußbodens und des darunter befindlichen Arbeitsraumes zu vermeiden. Das Sägemehl

70

Schnitze,

wurde auch über die Salpetersäure gestreut und dann von dem Lehrling und einem 33 Jahre alten, anscheinend kräftigen, gesunden Arbeiter sorgfältig zusammengekehrt und auf den Hof geschafft.

r Der Lehrling wurde schon während der Arbeit von Übelkeit befallen, erholte sich aber bald wieder. Der erwachsene Arbeiter war am selben Tage noch 5 Stunden im Betriebe tätig, ohne Be¬ schwerden zu haben, erkrankte aber am Abend und starb am folgenden Tage infolge der Vergiftung durch nitrose Gase.

2. In einer Walzenfabrik wird Salpetersäure zum Ätzen von Stahlwalzen benutzt. Die Säure wurde früher in Korbflaschen von etwa 50 Liter Inhalt bezogen und in einem Keller gelagert, dessen Fußboden aus gestampfter Erde besteht. In einer durch einen Lattenverschlag getrennten Nebenabteilung des Kellers wurde der Ölvorrat in Fässern aufbewahrt. Am Tage des Unfalls sollten 5 Korbflaschen von 2 Arbeitern über die etwas steile Treppe in den Keller getragen werden. Dem vorn gehenden, schon von früher her als unzuverlässig bekannten Arbeiter war das Tragen zu un¬ bequem, er zog die einzelnen Korbflaschen hinter sich her die Treppe herab. Infolge dieser leichtsinnigen Beförderung zerbrach eine Flasche und ihr Inhalt ergoß sich in den Keller.

Der sofort herbeigerufene kaufmännisch gebildete Teilinhaber der Fabrik (der technisch gebildete Teilinhaber war verreist) ließ Sägespäne aus der Tischlerei der Fabrik auf den mit Säure ge¬ tränkten Fußboden des Kellers streuen, und als keine Späne mehr vorhanden waren, Müll und Asche aufschütten. Inzwischen fing ein von der Salpetersäure getroffenes Holzgestell an zu brennen. Erst jetzt kam man auf den richtigen Gedanken, Wasser in den Keller zu schütten. Nachdem das Feuer erstickt war, glaubte der Teilhaber, die Feuersgefahr von dem Öllager am besten dadurch abzuhalten, daß er das Gemisch von Säure und Spänen, Asche und Wasser aus dem Keller tragen ließ. An diesen Arbeiten, die etwa 2 Stunden in Anspruch nahmen, beteiligten sich der Teilhaber und 7 Arbeitnehmer. Diese Personen wurden zum Teil sofort, zum Teile erst nach einigen Stunden von Übelkeit, Brustschmerzen und Atemnot befallen. Keiner hielt es aber für nötig, sofort ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. In der folgenden Nacht starben der Teilhaber und ein Arbeiter, und im Laufe der nächsten Woche zwei weitere Arbeiter, letztere trotz Krankenhausbehandlung. Ferner mußten von den an den Aufräumungsarbeiten beteiligten Personen 1 Meister und 3 Arbeiter die Arbeit bis zu einer Woche aussetzen, ohne jedoch dauernden Schaden zu erleiden. Der Nachtwächter

Beitrag zur Vergiftung durch nitrose Gase.

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der Fabrik hatte in der auf den Unfall folgenden Nacht den Keller mehrmals betreten, um sich zu überzeugen, ob die Feuersgefahr beseitigt sei. Erst 2 Tage später stellten sich bei ihm Hals¬ schmerzen ein ; trotz Krankenhausbehandlung starb er nach 2 Wochen. Hier war aber die Einatmung der nitrosen Gase wahrscheinlich nicht die einzige Ursache des Todes, da der Nachtwächter bereits Invalide war. Wiederholt wurden in anderen Betrieben Arbeiter, die seit Jahren Salpetersäure verwenden, gefragt, was sie beim Auslaufen von Salpetersäure tun würden. In der Regel antworteten sie, sie würden Späne oder Sägemehl darauf streuen. Nur selten dachten sie daran, die Säure mit Wasser zu verdünnen und fort¬ zuspülen.

Die schädliche Wirkung der nitrosen Gase auf den mensch¬ lichen Körper schildert Holtzmann:

Bei Prüfung der Frage, wie die Schädigung des Körpers durch die Einatmung dieser giftigen Gase zustande kommt, stehen sich 2 Anschauungen gegenüber. Die einen nehmen eine lokale Reizung durch die Säure an und bezeichnen die stets gefundene entzündliche Schwellung der oberen Luftwege und der Bronchien als die eigentliche Ursache der Erkrankung, die unter den Er¬ scheinungen des Lungenödems häutig zum Tode führt. Andere nehmen eine entfernte Ursache an, eine Allgemeinvergiftung des Blutes durch die in den Lungen absorbierten giftigen Gase.

Eulenberg in seiner Monographie über die schädlichen und giftigen Gase gibt an, daß die salpetrigsauren Dämpfe schnell in das Blut übertreten und durch Veränderung der Blutbeschaffenheit zur eigentlichen Todesursache werden. Ähnlich spricht sich Heinzerling in Weyl’s Handbuch der Hygiene aus. Auch Roth gibt an, daß die salpetrige Säure durch Methämoglobinbildung (Methämoglobin ist das erste Zersetzungsprodukt des normalen Sauerstoffhämoglobins) und Wirkung auf das Zentralnervensystem tödlich wirke. Aus den Veröffentlichungen der letzten Jahre wäre hier der Fall von Künne zu erwähnen, der von einer Massen¬ vergiftung durch Dämpfe aus geplatzten Ballons rauchender Salpeter¬ säure berichtet und ausdrücklich betont, daß die Veränderung der Blutbeschaffenheit das wesentliche Moment bei der Vergiftung bilde, während die entzündliche Affektion der Bronchien den geringsten Anteil daran habe.

Auch Manouvrier, der Vergiftungen durch Erhitzung eines Düngemittels beschreibt, das aus einer Mischung von Salpeter, schwefelhaltiger Braunkohle und Wollab fällen bestand, spricht von

72 Schnitze,

einer vollständigen Durchdringung des Blutes durch die Säure¬ dämpfe, die zur Todesursache werde.

Demgegenüber betont schon Lewin in seinem Lehrbuche, daß die Aufnahme der salpetrigsauren Dämpfe in das Blut nur in geringem Maße statthabe. Kunkel spricht die entzündliche Schwellung der Bronchien bis in die feinsten Verzweigungen hinein als die primäre Todesursache an, die eine wässerige Durchtränkung der Lunge (Lungenödem) hervorrufe und zum Erstickungstode führe. Schmieden berichtet über den Fall eines Arbeiters, der in die ausgelaufene Flüssigkeit eines geplatzten Salpetersäureballons Sägespäne ausstreute. Hierdurch kam es zu einer stürmischen Entwicklung von salpetriger Säure. Der Tod trat durch Lungen¬ ödem ein. Konkel veröffentlicht einen ähnlichen Fall. Auf Grund seiner Tierversuche spricht er sich dahin aus, daß die salpetrige Säure lokal auf die Lungen ohne erhebliche Allgemein¬ vergiftung wirke. Die entzündliche Schwellung verhindert den normalen Gasaustausch des Blutes in den Lungen, das Blut gerinnt in den kleinen Gefäßen (thrombosiert), hierdurch treten wieder Rückstauungen im ganzen Körper auf, es kommt zur Exsudation (Durchtritt des Blutserums durch die Gefäße), die ihrerseits wieder die Atemnot erhöht und so zum Erstickungstode führt. Diese Er¬ fahrungen am Menschen scheinen auch die durch Tierexperiment gewonnenen Resultate Lassar’s zu bestätigen; er führt aus, daß die Salpetersäure zu den wirklich irrespirablen Gasen gehöre (d. h. daß sie nicht von dem Körperkreislauf aufgenommen werde), da sie in den Harnausscheidungen nicht nachweisbar sei.

Vielfach, auch in den Fällen von Künne, wird darauf hin¬ gewiesen, daß zwischen der Zeit der Einatmung der Dämpfe, wobei sich Husten und Beengungsgefühle einstellen, die aber bald ver¬ schwinden, und dem Einsetzen schwerer Krankheitssymptome ein mehrstündiges freies Intervall läge, während dessen die Patienten sich völlig wohl fühlten. Dies war in unseren Fällen nicht einwand¬ frei nachzuweisen, da die Leute bis zum Auftreten schwerer Reiz¬ erscheinungen in der säuregeschwängerten Atmosphäre arbeiten. Wohl aber wurde mir über diese Erscheinung von einer anderen chemischen Fabrik berichtet, die sich mit der Herstellung von Salpetersäure befaßt. Beim Platzen eines Säureballons treten bei den dort arbeitenden Leuten erst nach Stunden, wenn sie zu Hause sind, Krankheitserscheinungen auf. Todesfälle sind nicht vorge¬ kommen. Vielleicht hängt diese Späterkrankung mit der Blut¬ alteration zusammen.

Beitrag zur Vergiftung durch nitrose Gase.

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Nach dem Befand in unseren Fällen muß es als feststehend erscheinen, daß bei einer länger dauernden starken Einwirkung salpetrigsaurer Dämpfe eine Ätzung der Luftwege zustande kommt, besonders bei Individuen mit bestehender Erkrankung des Atmungs¬ apparates und des Herzens, die primär zum Tode führen kann. Daneben findet aber auch eine allmähliche Veränderung des Blutes statt. Durch Lassar’s oben erwähnte Versuche ist auch nach¬ gewiesen, daß die Säure bzw. das Salz nicht unverändert den tierischen Organismus passiert. Die Stickstoffverbindung ver¬ schwindet im Stoffwechsel. Lassar selbst erschienen auch seine Resultate, was die Salpetersäure anlangt, nicht beweisend. Er schreibt: „Von der Salpetersäure mußte es von vornherein ungewiß erscheinen, ob die entstehende Nitroverbindung als salpetersaures Salz im Harne auftreten werde.“ In der Tat wäre es ja sonderbar, wenn von den durch Nase und Rachen in die Luftwege einge¬ drungenen salpetrigsauren Dämpfen, die auch noch durch Speichel in den Magen gelangen können (vgl. Fall 2), gar nichts resorbiert würde. Die Säure mag zunächst als salpetrigsaures Natron im Körper auftreten, dessen zersetzende Wirkung auf das Blut unter Methämoglobinbildung bekannt ist.

Sehr wünschenswert ist es, daß bei frischen Fällen von Salpetrigsäurevergiftung spektroskopische Blutuntersuchungen vor¬ genommen werden, um die noch nicht ganz gelöste Frage des Grundes der schwarzen Blutfärbung zu erklären. Von der Unter¬ suchung des Leichenbluts ist nicht viel zu erwarten, da Methämo- globin als das erste Zersetzungsprodukt des Oxyhämoglobins sich in dem Blute jeder Leiche nach kurzer Zeit findet.

Zur Verhütung der Vergiftung finden sich in den Jahres¬ berichten der Königlich Preußischen Regierungs- und Gewerberäte praktisch bewährte Dunstabzüge an folgenden Stellen mitgeteilt 1890 S. 216, 1897 S. 113, 1903 S. 68. Von diesen seien hier mit¬ geteilt:

1. 1897 S. 113, Len hoff’ sehe Metallbrenne (Fig. 1 u. 2). Die Säuregefäße stehen unter einem Überfang erhöht, so daß sich die Arbeiter beim Eintauchen der abzubrennenden Gegenstände nicht über die Gefäße zu bücken brauchen. Die schweren nitrosen Gase werden durch Öffnungen, weiche unmittelbar hinter den Säure¬ gefäßen in der Wand angebracht sind und bis zum Fußboden reichen, abgesogen. Diese Anordnung ist sehr wichtig. Die Zug¬ wirkung wird durch ein etwa 25 m hohes Tonrohr hervorgebracht, in welches auch die Heizgase der Glühöfen eingeleitet werden. Zur

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Schnitze,

Fi g- 1-

Beitrag zur Vergiftung durch nitrose Gase.

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Verstärkung des Zuges ist außerdem ein Korb mit brennendem Koks in den Fuchs eingesetzt. Die Wirkung dieser Einrichtung ist sehr gut. Der Brennraum ist auch bei starker Benutzung so frei von Säuredämpfen, daß selbst empfindliche Personen keine Reizung mehr verspüren.

2. 1903 S. 68. Die Brenngefäße sind in einem pultartigen Digestorium aufgestellt, dessen obere Fläche verglast ist. Der Arbeiter kann somit den Verlauf des Brennens genau beobachten,

ohne durch die aufsteigenden Dämpfe gefährdet zu sein. Diese werden durch Schornstein und Lockflamme oder dgl. mit Sicherheit abgeleitet, weil sie verhindert sind, sich zu verbreiten, und der Schornstein innerhalb des engen Raumes des Pults einen kräftigen Luftstrom zu erzeugen vermag. Die Ventilation wird noch wesent¬ lich durch Dampfstrahlen verstärkt, welche aus einer Abdampfleitung dicht über dem Rande der Säuregefäße austreten, die Gase ver-

76 Schnitze,

dünnen, erwärmen und sie nach dem Schornstein treiben. Die stärkste und somit gefährlichste Gasentwicklung geht beim Ansetzen der frischen Säuren vor sich. Bei dieser Arbeit werden die Klappen an der Stirnseite des Pults geschlossen und damit ein vollständiger Abschluß der Brenngefäße erzielt.

Hinsichtlich der für die Prophylaxe vorgeschlagenen Mittel seien unter anderen erwähnt: Holtzmann kommt zu dem Schlüsse, daß in jeder Fabrik, in der Arbeiter den Dämpfen der Salpeter¬ säure ausgesetzt sind, vorher eine ärztliche Untersuchung der Arbeiter stattfindet. Es soll verhindert werden, daß Arbeiter mit Erkrankungen der Lunge und des Herzens eingestellt werden, weil sie besonders leicht durch Einatmung der Dämpfe erkranken. Daneben wäre noch nach dem Vorschläge Kunkel’s ein Spray¬ apparat mit doppeltkohlensaurem Natron bereit zu halten, wodurch die eingeatmete Säure neutralisiert und ein Weiterschreiten der Erkrankung verhindert wird. Dr. Seyfferth, Direktor der Rheinisch -Westfälischen Sprengstoff- A.-G. in Troisdorf bei Köln, hat die innerliche Anwendung von Chloroform im Betriebe erprobt. Es werden 3 5 Tropfen in einem Glase Wasser alle 16 Minuten genommen ; auch Krankenkassenärzte der Fabrik haben das Mittel schon mit Erfolg angewandt. Juri sch empfiehlt, an jeder Arbeits¬ stätte einen genügenden Vorrat von Ammoniakfläschchen bereit zu halten, um Ammoniak zum Schutze gegen Erkrankungen gegebenen Falles einatmen zu können.

Von den gesetzlichen Maßnahmen zur Verhütung von Ver¬ giftungsfällen sind zu erwähnen: Der Polizeipräsident zu Berlin hat am 21. November 1890 eine Polizeiverordnung über die Ein¬ richtung und den Betrieb von Metallbrennen erlassen und diese später durch Grundsätze für die Aufbewahrung von Salpeter¬ säure ergänzt.

Der oben mitgeteilte Fabrikbrand infolge Auslaufens von Salpetersäure, bei welchem 60 Mitglieder der Berliner Feuerwehr erkrankten, hat die Berufsgenossenschaft der chemischen Industrie veranlaßt, besondere Vorschriften zum Schutze gegen die Wirkung salpetriger (nitroser) Gase und im Zusammenhang damit speziell für den Verkehr mit Salpetersäure zu erlassen. Diese sind ge¬ nehmigt vom Reichsversicherungsamte am 22. Juli 1899 und 16. Mai 1903, veröffentlicht im Reichsanzeiger vom 31. Juli 1899 und 19. Juni 1903.

Die Gewerbeaufsichtsbeamten sind durch Erlaß des Ministers

Beitrag zur Vergiftung durch nitrose Gase.

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für Handel und Gewerbe B. 11. 267 vom 2. Januar 1900 angewiesen, die Durchführung dieser Vorschriften zu fördern.

Um auch den Arbeitern in Betrieben, welche der chemischen Berufsgenossenschaft nicht angehören, über die Vergiftungsgefahren aufzuklären, schlägt der Gewerbeinspektor Ullrichs -Köln vor, in allen Betrieben, in denen Salpetersäure verwendet oder gelagert wird, nicht nur in Metallbrennereien, die Verteilung eines Merk¬ blattes in folgender Fassung:

Salpetersäure Vorsicht!

Gefahr: Vergiftung durch nitrose, rotbraune Dämpfe, die beim Verarbeiten der Säure und ihrer Mischungen und beim Verschütten der Säure auf Metalle, Holz, Sägespäne, Sägemehl, Stroh, Erde usw. entstehen.

Übelkeit, Halsschmerzen, Brustschmerzen, Atemnot, Be¬ klemmungen oft erst stundenlang nach dem Einatmen. Häufig Tod sofort oder erst nach Wochen.

Feuersgefahr bei der Berührung von Säure mit brennbaren Stoffen.

Beförderung der Säurebehälter nur durch erfahrene, gewissen¬ hafte Arbeiter, nicht Lehrlinge.

Aufbewahrung: vor Sonne geschützt, am besten zu ebener Erde auf säurefestem, wasserundurchlässigen Fußboden aus Fliesen, Steinplatten, Asphalt usw., nicht Holz oder Zement.

Möglichst kleiner Vorrat.

Kippvorrichtungen oder Abfüllvorrichtungen.

Näheres bei der Gewerbeinspektion.

Verwendung: Einatmen der Dämpfe vermeiden. Gute Dunst¬ abzüge über den Beizgefäßen der Metallbrennereien.

Näheres bei der Gewerbeinspektion.

Zerbrechen der Gefäße:

Verschütten der Säure: Am verkehrtesten Aufstreuen von Sägespänen, Sägemehl, Asche, unreiner Erde usw.

Am besten Verdünnen und Fortspülen mit viel Wasser (auch wohl Aufstreuen von ganz reinem ausgeglühtem Sande der später mit Kalk, Ammoniak oder dgl. abzustumpfen ist). Alle Fenster öffnen und den Raum so bald wie möglich verlassen.

Arzt aufsuchen, sobald giftige Dämpfe eingeatmet sind oder Beschwerden auftreten. Gegenmittel an wenden.

Lungen- oder Herzkranke sind besonders gefährdet und sollen

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Schultze,

die Beschäftigung mit Salpetersäure überhaupt vermeiden. Des¬ halb ärztliche Untersuchung vor Beginn der Beschäftigung.

In der allerjüngsten Zeit hat der Minister für Handel und Gewerbe die königlich-technische Deputation für Gewerbe veranlaßt, allgemeine Gesichtspunkte über die Einrichtung und den Betrieb von Metallbrennereien auszuarbeiten. Diese sind durch Erlaß des Ministers für Handel und Gewerbe III. 579 vom 8. Februar 1911 den Gewerbeinspektoren als Anhalt bei der Durchführung der Be¬ stimmungen der Gewerbeordnung §§ 120a ff. mitgeteilt und lauten:

Grundsätze für die gewerbepolizeiliche Überwachung der Metallbeizereien (Metallbrennen).

1. Metallbeizereien (Metallbrennen) zum Beizen von Metallen mit Salpetersäure müssen von den sonstigen Arbeits- und von Wohnräumen durch dichte Wände abgetrennt und so angeordnet sein, daß keine schädlichen Gase in andere Arbeits- und in Wolin- räume gelangen können. Verbindungsöffnungen mit anderen Arbeits- und mit Wohnräumen sind durch selbsttätig zufallende, dicht schließende Türen geschlossen zu halten.

2. Der Fußboden der Beizerei ist aus säurebeständigem Stoff (Steinplatten, harten Klinkern, Asphalt u. dgl.) nicht Zement, un¬ durchlässig und so herzustellen, daß Säure und säurehaltige Spül¬ wässer nach Sinklöchern ablaufen müssen. Der Anschluß des Fu߬ bodens an die Umfassungswände ist säurefest und so herzustellen, daß letztere von Säure nicht zerstört werden können. Der Fu߬ boden und die Seiten wände müssen durch Abspritzen mit Wasser dauernd sauber gehalten werden. Die Sinklöcher sind durch säure¬ beständige Rohrleitungen (glasierte Tonröhren u. dgl., nicht Zement¬ röhren) mit einem ebenfalls säurebeständigen Sammelbehälter zu verbinden, in welchem sie vor weiterer Ableitung durch Kalk oder auf andere Weise neutralisiert werden.

3. Die zum Beizen benutzten Säuregefäße müssen auf säure¬ festem Untergrund und, wenn nicht auf andere Weise für den Schutz der Arbeiter gesorgt ist, so hoch aufgestellt werden, daß die x4rbeiter durch die Säure und die Dämpfe möglichst wenig gefährdet werden.

4. Metallbeizereien müssen durch Tageslicht und bei Dunkel¬ heit durch künstliche Beleuchtung so gut erhellt sein, wie es die Sicherheit des Betriebes erfordert.

5. Die Säuredämpfe sind an der Entstehungsstelle in wirksamer

Beitrag zur Vergiftung durch nitrose Gase.

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Weise abzufangen und so abzuführen, daß sie nicht in Wohn- oder Arbeitsräume dringen können.

6. Das Ansetzen der Säure darf nur unter einem gut wirkenden Abzug erfolgen. Bei Nichtbenutzung der Beizerei sind die Säure¬ gefäße dicht abzudecken.

7. In der Beizerei selbst dürfen organische Stoffe, wie Papier, Holz, Stroh, Kohlen, Gewebe u. dgl. nicht aufbewahrt werden.

8. Jugendliche Arbeiter dürfen in der Beizerei nicht beschäftigt werden. Den Beizarbeitern sind Schutzmittel wie Gummihandschuhe oder dgl. zur Verfügung zu stellen.

9. Der Genuß von Branntwein ist in der Beizerei zu untersagen. Personen, die zu übermäßigem Genüsse von Spirituosen neigen, sind von der Beschäftigung in der Beizerei auszuschließen.

10. Als Gegenmittel gegen Einatmung von nitrosen Dämpfen ist Chloroformwasser bereit zu halten und die Möglichkeit der Sauerstoffatmung vorzusehen. Wo Einrichtungen der letztbezeich- neten Art nicht vorhanden sind, ist durch Anschlag auf die Sauer¬ stoffapparate und Brat’schen Wiederbelebungsapparate der nächsten Feuerwache hinzuweisen.

11. In jeder Beizerei ist auf die Gefahr der Vergiftung durch Einatmung nitroser, rotbrauner Dämpfe mittels auffallenden An¬ schlags eindringlich aufmerksam zu machen und anzuraten, nach Einatmung größerer Mengen dieser Dämpfe, auch bei scheinbarem Wohlbefinden, sofort den Arzt aufzusuchen und Gegenmittel anzu¬ wenden.

12. Für den Anschlag wird folgender Wortlaut empfohlen:

„Vorsicht!

Die Dämpfe der Salpetersäure, besonders die rotbraunen, sind giftig. Es ist lebensgefährlich, sie einzuatmen, da sie die Lunge angreifen.

Nicht unter die Abzugshaube beugen!

Wer Säuredämpfe in größerer Menge eingeatmet hat, suche, auch wenn er sich scheinbar wohlbefindet, sofort den Arzt auf.

Auslaufende Säure ist sofort mit viel Wasser zu verdünnen und fortzuspülen.“

13. Eine nachahmenswerte Einrichtung zum Schutze der Arbeiter gegen nitrose Gase, die sich allerdings nur für größere Betriebe eignen wird, ist in der Zeitschrift des Vereins Deutscher Ingenieure, Jahrgang 1910, Seite 1279 ff. beschrieben.

80 Schultze,

Die in Ziffer 13 erwähnte Einrichtung ist in dem Kabelwerk Ob er spree der Allgemeinen Elektrizitätsgesellschaft ausgeführt. Dr. Bender beschreibt sie:

Nach der von Dr. Fr. Adler gegebenen Beschreibung ist im Beizraum ein Gerüst aus Eisen mit Laufschienen errichtet, auf dem die Laufkatze a mittels des Kettentriebes b durch den ganzen Baum gefahren werden kann. Mit der durch Hebel c bewegten Winde hebt der Arbeiter den gefüllten Beizkorb d aus Aluminium in die Höhe, führt ihn bis über die Aluminiumhaube e, öffnet deren Deckel f1? der sich über dem Säuregefäße befindet, durch Druck auf den Tritthebel und senkt den Kopf in das Beizgefäß nieder.

Fig. 4.

Innenansicht.

Metallbrenne des Kabelwerks Oberspree der Allgemeinen Elektrizitätsgesellschaft.

Der Deckel f, hat sich inzwischen durch Gesichtsbelastung wieder selbsttätig geschlossen. Nachdem die Beize die Oxydschichten von den Metallteilen abgelöst hat, hebt der Arbeiter den Beizkorb aus der Säure in den Bereich der Aluminiumhaube hinauf, fängt mit dem schwingbaren Hebel h die Hängestange i aus Aluminium ab und schüttelt durch Hin- und Herstoßen des Hebels h die an¬ haftenden Säuretropfen vom Beizkorb ab. Alsdann führt er den Beizkorb in das Wassergefäß über, spült durch schnelles Hin- und Herdrehen der Windenkurbel die Teile in dem kalten Wasser gut

Beitrag zur Vergiftung durch nitrose Gase.

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ab und hebt den Korb durch die selbsttätige Klappe nunmehr ganz aus der Haube e heraus.

Die gesamte Gasentwicklung spielt sich also in einem völlig von der Aluminiumhaube umschlossenen Raume ab, der nur einen schmalen Längsschlitz für den Durchgang der Hängestange hat. Diese Haube ist durch eine Tonleitung und zwei Tontöpfe an einen tönernen Exhaustor 1 angeschlossen, der die Abgase aus der Haube kräftig absaugt und in einen Sternplattenturm m hineindrückt. Die Absaugung geschieht so gründlich, daß zu keinem Zeitpunkte des Arbeitsvorganges Stickstoffdioxyde in den freien Raum austreten.

Qneran sicht.

Metallbrenne des Kabelwerks Oberspree der Allgemeinen Elektrizitätsgesellschaft.

Das Beizgut wandert mit Hilfe des Kranes in das benachbarte Heißwassergefäß, das aus zwei Steinzeugtrögen mit Aluminium¬ haube besteht. Die unter der Haube entstehenden Wasserdämpfe werden durch natürlichen Zug des Schornsteins über Dach entführt. Aus dem Heißwasser ausgehoben, trocknet das Beizgut durch die Eigenwärme schnell ab und wird in bereitstehende Förderkästen entleert.

Der Exhaustor leistet mit 1,5 PS. und 1500 Umläufen in der

Archiv für Soziale Hygiene. VII. ß

82

Schnitze,

Minute 40 cbm bei einem größten Widerstande von 70 mm Wasser¬ säule. Das Flügelrad hat einen Durchmesser von 400 mm; es ist unmittelbar mit einem Elektromotor q gekuppelt, der außerhalb des Gebäudes Aufstellung gefunden hat.

Exhaustor und Sternplattenturm sind von den Deutschen Ton- und Steinzeugwerken Aktiengesellschaft hergestellt worden. Das Aluminiumrohr, welches das Kaltwasser dem Spülbottich unter der Haube e zuführt, ist als Schnecke in den Beizbottich eingelegt und kühlt dadurch die Beize. Je kühler aber in gewissen Grenzen diese Beize ist, desto geringer ist auch die Abgasentwicklung.

Auf diese Weise kommt der Arbeiter mit den Abgasen gar nicht in Berührung. Um aber auch eine Benetzung des Arbeiters mit der Säureflüssigkeit oder mit dem Spülwasser zu vermeiden, sind die Felder des Krangeriists durch eine Aluminiumwand ge¬ schlossen. Die Vorgänge hinter dieser Wand sind dem Arbeiter bequem durch die eingelegte Fensterreihe sichtbar. Als seitliche Begrenzung dienen gleichfalls Aluminiumwände mit Türen.

Metallbrenne des Kabelwerks Oberspree der Allgemeinen Elektrizitätsgesellschaft.

Der Fußboden der ganzen Halle ist mit säurefesten Steinen ausgelegt und wird täglich mehrmals aus zwei Hydranten abge¬ spült. Die- Wände sind nach dem Streichen mit Farbe noch mit einem heißen Überzüge von Paraffin versehen worden. Der Baum wird durch eine lange Rinne w und drei Gullys nach einer alka¬ lischen Grube entwässert. Zur Schonung der Leitungen ist ein

Beitrag zur Vergiftung durch nitrose Gase.

Rührgefäß x angebracht, das dauernd Kalkmilch in die Leitungen befördert.

Die Salpetersäure im Beizbottich wird täglich durch Nach- f üllen neuer Säure aufgefrischt. Dies geschieht in der Weise, daß der Gasballon a, der in einen Korb eingebettet ist, auf den ab¬ nehmbaren Holztisch b des Kaltwassergefäßes n gehoben und mit der Holzhaube c überdeckt wird, die Schutz gewähren soll, falls etwa beim Platzen eines Ballons Säure herausspritzt. Alsdann wird der Aluminiumheber d eingesetzt und seine Röhre durch ein Kolbenspiel mit der Säure gefüllt, die darauf selbsttätig in den Beizbottich überströmt. An Stelle des Saughebers wird neuerdings eine Luftdruckpumpe benutzt, mit dem Vorteile, daß der Gasballon nicht überhöht aufgestellt zu werden braucht.

Ans der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik in Berlin.1)

Sitzung vom 5. November 1910.

Herr E. S o mm er-Gießen trägt vor über wl)ie Psychiatrie in den Yor- entwiirfen für die neuen Strafgesetzbücher in Deutschland und Österreich1**.

Nachdem in kurzer Aufeinanderfolge in der zweiten Hälfte des Jahres 1909 die Vorentwürfe für die neuen Strafgesetzbücher in Deutschland und Österreich er¬ schienen sind, liegt es nahe, diese Entwürfe untereinander und mit den zurzeit noch geltenden Gesetzbüchern zu vergleichen und zu sehen, welche Entwicklungs¬ richtungen sich in den Entwürfen zeigen, und wie diese vom kriminalpsycho¬ logischen und psychiatrischen Standpunkt aus zu beurteilen sind. Dabei be¬ schränke ich mich hier ausschließlich auf die psychiatrische Seite der Sache mit einigen Ausblicken in das allgemeine kriminalpsychologische Gebiet. Wir wollen unter Ausschaltung einer Eeihe von anderen Bestandteilen hier der Be¬ urteilung folgende Punkte unterziehen: I. Ausschluß der Strafe infolge von Geistesstörung, II. Die Behandlung der sog. Gemindert-Zurechnungsfähigen, III. Die Behandlung der Jugendlichen, IV. Die Behandlung der Alkoholisten, V. Die Sicherungsmaßregeln im allgemeinen, VI. Die Behandlung der Sittlichkeitsver¬ brecher, besonders der Homosexuellen.

Wir wenden uns zunächst zu: I. Ausschluß der Strafe infolge Geistesstörung (vgl. zu dem folgenden meinen Aufsatz in „Der Staatsbürger“ vom Juni 1910 Seite 203 u. f.). „Um die psychiatrischen Begriffe im Vorentwurf des neuen deutschen Strafgesetzbuches zu beurteilen, empfiehlt es sich, von dem geltenden Eecht auszugehen, die alten und neuen Bestimmungen miteinander zu vergleichen und sie vom Standpunkte der psychiatrischen Erfahrung zu betrachten. Dabei beschränken wir uns hier auf den Ausschluß von Strafe infolge von geistiger Störung. Der § 51 des jetzigen deutschen Eeichsstrafgesetzbuches lautet: „Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn der Täter zur Zeit der Begehung der Handlung sich in einem Zustande von Bewußtlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistestätigkeit befand, durchweichen seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war.“ In dieser Fassung kommt der Begriff des „Zurechnens“ oder der „Zurechnungsfähigkeit“ überhaupt nicht vor, sondern es wird gesagt:

ö Nach den Verhandlungen der Gesellschaft, abgedruckt in Nr. 31 u. 32 der „Medizinischen Eeform“, 1910, herausg. von E. Lennhoff.

Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 85

„Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn . . .“ Die Anwendung des Ausdrucks „Zurechnungsfähigkeit“ geht also im Grunde übe^ diesen Wortlaut hinaus. Es ist daher vor Gericht zweckmäßig, sich streng an die Fassung des Gesetzes zu halten.

Wesentlich in der Fassung dieses Paragraphen sind folgende Punkte : I. Es steht zur Beurteilung, in welchem Zustande der Täter zur Zeit der Begehung der Handlung gewesen ist. Der Psychiater wird zwar immer von dem Zustande des Täters zur Zeit seiner Beobachtung ausgehen, muß aber dann versuchen, aus dieser und aus dem Gesamtinhalt der Akten, eventuell auch aus neuen von ihm veranlaßten Erhebungen, rückwärts zu schließen, wie der Zustand zur Zeit der Handlung war. II. Die psychiatrischen Leitbegriffe des § 51 des Beichsstraf- gesetzbuches sind : „Bewußtlosigkeit oder krankhafte Störung der Geistestätigkeit.“ Jede Bewußtlosigkeit ist, wenn man von dem normalen Schlaf ab sieht, eine krank¬ hafte Störung der Geistestätigkeit, so daß die besondere Hervorhebung des Be¬ griffes überflüssig erscheinen könnte. Sie ist im wesentlichen geschichtlich ver¬ ständlich, da vorübergehende Bewußtlosigkeit erst allmählich als krankhafte Störung der Geistestätigkeit erkannt wurde und es nötig erschien, diese neue Erkenntnis besonders auszudrücken. Nachdem sich die Erkenntnis jetzt in den Anschauungen der Arzte und Juristen sowie weiterer Kreise gefestigt hat, wäre ihre Hervorhebung eigentlich nicht mehr nötig. Im jetzigen Gesetz steht neben der Bewußtlosigkeit: „krankhafte Störung der Geistestätigkeit“, also ein allge¬ meiner Begriff,1) nicht wie in einer Beihe von älteren Gesetzbüchern eine besondere psychiatrische Gruppe.

III. Der Zustand von Bewußtlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistes¬ tätigkeit wird in § 51 des Beichsstrafgesetzbuches durch den Belativsatz einge¬ schränkt: . . .„durch welchen seine (des Täters) freie Willensbestimmung ausge¬ schlossen war“. Dieser Zusatz soll die Bechtspflege vor Ausschreitungen der Psychiatrie bewahren und wird in diesem Sinne vor Gericht angewendet, bedingt aber sehr oft völlig nutzlose Streitigkeiten. Der Zusatz gibt im Grunde weder einen psychiatrischen noch einen juristischen, sondern einen rein philosophischen Begriff, ruft so außerordentlich viele Zweifel und Widersprüche hervor, und ver¬ wirrt die gerichtliche Psychiatrie mehr, als er sie klärt. Ich habe in dem Buche über Kriminalpsychologie eingehend über die Frage gehandelt und die Unnötig- keit des Zusatzes nachgewiesen. Das Strafrecht wird durch ihn auf den schwan¬ kenden Boden der philosophischen Spekulation gestellt, während es fest auf der Grundlage praktischer und psychologischer Erfahrung stehen soll.

Wie verhält sich nun zu diesen Punkten die Fassung im neuen Entwurf? Sie lautet: 63) „Nicht strafbar ist, wer zur Zeit der Handlung geisteskrank, blödsinnig oder bewußtlos war, so daß dadurch seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen wurde“.

Es ergibt sich folgender Vergleich. Die einleitende Formel : „Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden“ ist verändert in „Nicht strafbar ist, wer . . .“ Im übrigen zeigt sich folgendes:

Zu I, Der Hinweis auf die Zeit der Handlung ist festgehalten, was durch¬ aus zu billigen ist. Es liegt hier eine bestimmte praktisch wichtige Forderung für die Begutachtung vor.

1 ) Vgl. die Motive zu dem Entwurf eines Strafgesetzbuches für den Nord¬ deutschen Bund. Berlin 1869, zu § 46, S. 100.

86 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.

II. Die psychiatrischen Begriffe sind zum Teil festgehalten, zum Teil modifi¬ ziert, zum Teil vermehrt. Geblieben ist die Hervorhebung der Bewußtlosigkeit. Modifiziert ist der Ausdruck: „Krankhafte Störung der Geistestätigkeit“ in „Geisteskrankheit“. Hinzugekommen ist der Begriff: „Blödsinn“. Neben der Hervorhebung der Bewußtlosigkeit erscheint der Begriff „Geisteskrankheit“ all¬ gemein genug, um über die Art der Störung nichts im voraus zu bestimmen, auch ist er zugleich als Anpassung an den psychiatrischen Sprachgebrauch an¬ nehmbar. Dagegen erweckt der neue Ausdruck „Blödsinn“ lebhafte Bedenken. Geschichtlich bedeutet er eine Wiederaufnahme der in dem geltenden Beeilt be¬ seitigten früheren Gesetzgebung, in welcher „Blödsinn“ neben „Wahnsinn“ als Strafausschließungsgrund genannt war. Prüft man ihn vom Standpunkte der klinischen Erfahrung und Ausdrucksweise, so ergibt sich folgendes: Wir reden z. B. von paralytischem oder epileptischem Blödsinn, auch von Verblödungs¬ prozessen, womit besonders die Verlaufsart des sogenannten primären Schwachsinns (dementia präcox) bezeichnet wird. In allen diesen Fällen ist Blödsinn eine be¬ sondere symptomatische Gruppe innerhalb der Geisteskrankheit, so daß im neuen Entwurf durch die Zusammenstellung: Geisteskrankheit, Blödsinn usw. nach dem Ganzen ein Teil genannt wird, was als unlogische Gleichstellung erscheint. Dies gilt auch für den Fall, daß unter „Blödsinn“ entgegen dem in der modernen Psychiatrie herrschenden Sprachgebrauch angeborener Schwachsinn verstanden werden sollte, da auch in diesem Falle durch das Wort Blödsinn nur eine be¬ sondere Gruppe von Geisteskrankheiten hervorgehoben werden würde. Der Aus¬ druck hätte nur einen Zweck, wenn er einen geringeren Grad von Geisteskrank¬ heit, d. h. Geistesschwäche im Sinne des BGB. ausdrücken könnte, was nicht der Fall ist. Somit ist er in jeder Beziehung falsch und wird praktisch die größten Mißverständnisse hervorrufen, da er mit den Ausdrücken des psychiatrischen Unterrichts in völligem Widerspruche steht.

Nach den Motiven zu dem Vorentwurf haben die Verfasser anscheinend den zweiten der eben genannten Fälle im Sinne gehabt, was aus den Bemerkungen zu § 63, S. 227, hervorgeht. Die betreffende Stelle lautet:

„Unter Vermeidung des Ausdrucks „Unzurechnungsfähigkeit“ bezeichnet der Entwurf als die erwähnten abnormen Zustände, welche die Zurechnungsfähigkeit ausschließen können, „Geisteskrankheit“, „Blödsinn“ und „Bewußtlosigkeit“. Diese Fassung ist bereits von ärztlicher Seite gebilligt. Zugleich ist von beachtens¬ werter juristischer Seite auf ihre Einfachheit und Gemeinverständlichkeit hinge¬ wiesen worden. Der bisher im Gesetz enthaltene Ausdruck „krankhafte Störung der Geistestätigkeit“ ist in Wegfall gekommen. Er wurde gewählt, um nicht nur die eigentlichen Geisteskrankheiten, sondern auch Entwicklungshemmungen, wie Blödsinn oder geistige Entartungszustände, oder mit geistigen Störungen ver¬ bundene körperliche Leiden, wie Fieberdelirien, Nervenkrankheiten, zu umfassen. Alle diese Krankheitszustände fallen, mögen sie chronisch oder vorübergehend sein, unter eine der gewählten drei allgemeinen Bezeichnungen. Unter den Be¬ griff der Bewußtlosigkeit können insbesondere auch hypnotische Suggestion und Trunkenheit fallen. Insoweit bejaht also der Entwurf die Frage, ob die Trunken¬ heit als ein Zustand der Unzurechnungsfähigkeit angesehen werden kann.“ Nach obigen Ausführungen ist jedoch zu erwarten, daß der Begriff „Blödsinn“ neben „Geisteskrankheit“ vor Gericht verwirrend wirken wird, so daß er besser wegge¬ lassen wird. Auch eine besondere Hervorhebung des „angeborenen Schwachsinns“ ist unnötig, da dieser ebenfalls nur einen Teil der Geisteskrankheit darstellt.

Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 87

IV. Der Zusatz betr. die freie Willensbestimmung ist beibehalten, obgleich diese Fassung-, wie bisher, auch in Zukunft nutzlose Streitigkeiten hervorrufen wird. Will man den tatsächlichen Kern der Sache ausdrücken, so müßte der Zu¬ satz lauten: „durch welchen (Zustand) die Handlung bedingt ist.“ Hierdurch würden die Gutachter nochmals dringlich auf die Untersuchung der Handlung, ihrer Motive, ihre Besonderheiten, ihrer Bedingungen hingewiesen, während zur¬ zeit noch manche psychiatrische Gutachten gerade dadurch einen Fehler begehen, daß sie zu allgemein die Frage der Geisteskrankheit behandeln, ohne die straf¬ rechtlich doch in erster Linie wichtige Handlung selbst gründlich vom psycho¬ logischen Standpunkte zu betrachten.“ Vergleichen wir nun mit dem deutschen Gesetzentwurf die entsprechenden österreichischen Bestimmungen, so gehört zu¬ nächst hierher der § 2 ÖBStrGB., welcher folgendermaßen lautet:

„Daher wird die Handlung oder Unterlassung nicht als Verbrechen zuge¬ rechnet:

a) wenn der Täter des Gebrauches der Vernunft ganz beraubt ist,

b) wenn die Tat bei abwechselnder Sinnenverrückung zu derZeit, da die Ver¬ rückung dauerte, oder

c) in einer ohne Absicht auf das Verbrechen zugezogenen vollen Berauschung (§§ 226 und 523) oder einer anderen Sinnenverwirrung, in welcher der Täter sich seiner Handlung nicht bewußt war, begangen worden,

d) wenn der Täter noch das vierzehnte Jahr nicht zurückgelegt hat (§§ 237 und 269) usw.

Die Leitbegriffe in diesen Bestimmungen sind folgende:

1. des Gebrauches der Vernunft beraubt sein,

2. abwechselnde Sinnenverrückung,

3. Berauschung, wenn diese ohne Absicht auf das Verbrechen zugezogen ist,

4. Sinnenverwirrung, in welcher der Täter sich seiner Handlung nicht be¬ wußt war.

Es ist psychiatrisch erkennbar, daß die Bestimmungen unter b und c sozu¬ sagen eine Kasuistik oder besser eine Hervorhebung mehrerer Einzel gruppen bedeutet, die in dem deutschen Gesetze unter dem allgemeinen Begriffe der Be¬ wußtlosigkeit zusammengefaßt sind. Im übrigen erscheint der Leitbegriff des deutschen Gesetzes: „Krankhafte Störung der Geistestätigkeit“ viel allgemeiner als der im österreichischen Gesetz enthaltene Begriff des Gebrauchs der Vernunft beraubt sein“. Letzterer bedeutet nur einen besonderen Fall innerhalb des größeren Gebietes, das in dem deutschen Gesetz durch die krankhafte Störung der Geistestätigkeit bezeichnet wird. Diese Feststellungen entsprechen dem Gang der geschichtlichen Entwicklung in diesem Gebiet der gerichtlich-psychiatrischen Begriffe. In den früheren Gesetzgebungen waren in der Begel nur bestimmte psychiatrische Einzelfälle genannt, bei denen eine Zurechnung der Handlung als strafbar nicht erfolgte. Die Bildung eines allgemeinen Begriffs: „Krank¬ hafte Störung der Geistestätigkeit“ oder „Geisteskrankheit“ ist eine spätere Er¬ scheinung. In meinem Buch über Kriminalpsychologie habe ich in dem Kapitel über die psychiatrischen Begriffe in einer ganzen Reihe von deutschen Strafgesetz¬ büchern diese eigentümliche Entwicklung von den besonderen Ausnahmefällen zu dem zusammenfassenden Begriff nachgewiesen.

Vom Standpunkte der vergleichenden Begriffsgeschichte erscheint daher die geltende österreichische Bestimmung von vornherein älter als die des geltenden deutschen Rechtes. Untersucht man die Entstehung der beiden Gesetzbücher, so

88 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.

bestätigt sich diese Auffassung als richtig. Das österreichische Gesetz ist gültig vom 27. Mai 1852, erscheint jedoch sachlich nur als eine wenig veränderte und zum Teil ergänzte neue Auflage des älteren Strafgesetzbuches, das unter Kaiser Franz II. im Jahre 1803 zur Herrschaft kam. Geschichtlich entsprechen die kasuistischen Gruppen psychiatrischer Art dem damaligen Zustand der Psychiatrie im allgemeinen. Das geltende deutsche Strafgesetzbuch stammt scheinbar vom Jahre 1870, war aber in Wirklichkeit schon vorher im Norddeutschen Bunde gültig und entspricht im wesentlichen dem im Jahre 1867 geschaffenen Gesetz. Es liegt also zwischen den Bestimmungen des österreichischen und deutschen Ge¬ setzes ein Zeitraum von mehr als 60 Jahren. Dies erklärt, wenn man die unter¬ dessen weiter fortgeschrittene Entwicklung der Psychiatrie betrachtet, die Ver¬ schiedenheit der Begriffe sehr gut.

Von vornherein hatte also Österreich bei seinem Vorentwurf eine längere Periode von psychiatrischer Begriffsbildung in Form eines Gesetzes nachzuholen, als der deutsche Vorentwurf, der ungefähr 43 Jahre nach der eigentlichen Ent¬ stehung des jetzigen DRStrGB. zustande gekommen ist.

Es fragt sich nun, welcher von den beiden Entwürfen dem gegenwärtigen Zustand der psychiatrischen Forschung am besten entspricht. Der § 3 des ÖE., der sich unter der Überschrift „Zurechnungsfähigkeit“ findet, lautet: „Nicht strafbar ist, wer zur Zeit der Tat wegen Geistesstörung, Geistesschwäche oder Bewußt¬ seinsstörung nicht die Fähigkeit besaß, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder seinen Willen dieser Einsicht gemäß zu bestimmen.“

Hier finden sich die psychiatrischen Leitbegriffe Geistesstörung, Geistes¬ schwäche, und bzw. oder Bewußtseinsstörung. Es stimmt demnach diese Fassung in zwei Begriffen, nämlich „Geistesstörung“ und „Bewußtseinsstörung“ mit dem geltenden deutschen Recht und auch dem deutschen Vorentwurf im wesentlichen überein, da sich in diesen die Ausdrücke „Krankhafte Störung der Geistestätigkeit“ in § 51 des RStrGB. und „Geisteskrankheit“ im deutschen Vor¬ entwurf § 63 finden, ebenso wie der Ausdruck „Bewußtlosigkeit“ in letzterem an dritter Stelle.

Einen wesentlichen Unterschied zeigen die Vorentwürfe in bezug auf den an zweiter Stelle genannten Ausdruck: im DE. „Blödsinn“, im ÖE. „Geistes¬ schwäche“. Aus der oben durchgeführten kritischen Behandlung des DE. ist zu erkennen, daß der Ausdruck „Blödsinn“ vom Standpunkt der psychiatrischen Wissenschaft entschieden abzulehnen ist, da er bei seiner eventuellen Einführung Verwirrung stiften würde, so daß es jedenfalls besser wäre, nur „Geisteskrank¬ heit“ und „Bewußtlosigkeit“ zu nennen. Nun steht in dem österreichischen Ent¬ wurf noch der Begriff der Geistesschwäche, den wir oben als geeignet bezeichnet haben, um die geringeren Grade von Geistesstörung entsprechend der Bedeutung des § 6 Ziffer 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich auszu¬ drücken. Wenn der Ausdruck in diesem Sinne verstanden wird, wäre es sehr zweckmäßig, ihn in das deutsche Gesetz aufzunehmen. Wenn ferner der Begriff der Geistesschwäche im § 3 des österreichischen Entwurfs entsprechend definiert würde, so wäre dadurch im wesentlichen eine völlige Übereinstimmung der deutschen und österreichischen Gesetzgebung in diesem fundamentalen psychiatrischen Punkte erreicht.

Allerdings ist noch ein Unterschied des § 63 des deutschen Entwurfs und des «j 3 des österreichischen Entwurfs vorhanden. In dem ersteren ist der Zusatz gemacht: „So daß dadurch seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen wurde“.

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Im letzteren kommt der Zusatz: „Nicht die Fähigkeit besaß, das Unrecht seiner Tat einzusehen, oder seinen Willen dieser Einsicht gemäß zu bestimmen“. Ver¬ gleichen wir zunächst die psychologische Bedeutung dieser Zusätze , so ist er¬ sichtlich, daß der Zusatz im geltenden deutschen Hecht und im deutschen Ent¬ wurf mit seiner metaphysischen Hypothese der „freien Willensbestimmung“ sehr geeignet ist, Verwirrung zu stiften, wie dies bisher unter der Herrschaft des geltenden Rechtes in reichlichem Maße geschehen ist. Der Zusatz im öster¬ reichischen Entwurf vermeidet diese unklare spekulative Ausdrucksweise und gibt bestimmte Kriterien an, die vorhanden sein müssen, verfährt dabei also ent¬ schieden mehr im empirisch-psychologischen Sinne, indem er zwei Fälle hervor- ' hebt: nämlich die Fähigkeit 1. das Unrecht einer Tat einzusehen, oder 2. den Willen dieser Einsicht gemäß zu bestimmen. Es ist klar, daß im Hinblick auf die psychiatrische Erfahrung hiermit einerseits intellektuelle Störung, andererseits Störungen der Willenssphäre, wie wir sie z. B. bei katatonischen Handlungen, ferner bei Zwangszuständen, sowie in dem großen Gebiet des Schwachsinns finden, berührt sind. Von den beiden Fassungen des Zusatzes im deutschen und öster¬ reichischen Entwurf ist entschieden der in letzterem gegebene praktisch brauch¬ barer, weil er die theoretischen Streitigkeiten zwischen Staatsanwälten und Sach¬ verständigen ansschließt und klare psychologische Kriterien gibt. Der öster¬ reichische Entwurf leidet andererseits daran, daß der betr. Zusatz nur bestimmte Einzelmomente psychologischer Art hervorhebt, die eigentlich im einzelnen Fall nichts anderes sind, als Symptome der Krankheit, neben denen ebensogut andere Symptome hervorgerufen werden könnten. Ich kann daher eine psychia¬ trische Notwendigkeit, einen solchen Zusatz zu machen, überhaupt weder für den deutschen noch für den österreichischen Entwurf anerkennen, und empfehle, ihn aus beiden Entwürfen völlig zu entfernen. Ich komme daher aus dieser weiteren Vergleichung zu dem gleichen Schluß, wie oben bei der Beurteilung des deutschen Gesetzes und deutschen Entwurfes, und schlage für beide Strafgesetze die folgende Fassung vor: „Die Handlung ist nicht strafbar, wenn sie durch einen Zustand von Geisteskrankheit, Geistesschwäche oder Bewußtlosigkeit bedingt war.“

Nachdem in den letzten Jahrzehnten der Begriff der verminderten Zu¬ rechnungsfähigkeit vielfach erörtert worden ist, erscheint es erklärlich, daß der¬ selbe nunmehr anfängt, in die Entwürfe der neuen Strafgesetzbücher einzudringen. Allerdings handelt es sich dabei im Grunde um das Wiederauftauchen von Vor¬ stellungen, die in der früheren Psychiatrie zum Teil schon vorhanden waren, jedoch noch nicht eine solche Klarheit und Sicherheit erlangt hatten, um in die Strafgesetzgebung der 60er Jahre einzudringen. Daraus erklärt es sich, daß eine Bestimmung im deutschen RStGB. in dieser Beziehung völlig fehlt, während in dem viel älteren österreichischen RStGB. wenigstens schon Andeutungen vorhanden sind. Der Keim des Begriffes ist eigentlich schon in den alten Bestimmungen über Milderungsumstände gegeben, soweit diese subjektiver Natur sind, d. h. in dem Geisteszustand des Täters beruhen. Sehr interessant sind in dieser Be¬ ziehung die Milderungsgründe aus der Beschaffenheit des Täters, die im § 46 des österreichischen RStGB. vorhanden sind. Dieser lautet: „Milderungsumstände, welche auf die Person des Täters Beziehung haben, sind: a) wenn der Täter in inem Alter unter 20 Jahren, wenn er schwach an Verstand, oder seine Erziehung sehr vernachlässigt worden ist; b) wenn er vor dem Verbrechen eines untadel¬ haften Wandels gewesen; c) wenn er auf den Antrieb eines Dritten, aus Furcht oder Gehorsam das Verbrechen begangen hat; d) wenn er in einer aus dem ge-

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wohnlichen Menschengefühle entstandenen heftigen Gemütsbewegung sich zu dem Verbrechen hat hinreißen lassen; e) wenn er mehr durch die ihm aus fremder Nachlässigkeit aufgestoßene Gelegenheit zum Verbrechen angelockt worden ist, als sich mit vorausgefaßter Absicht dazu bestimmt hat; f) wenn er von drücken¬ der Armut sich zu dem Verbrechen hat verleiten lassen; g) wenn er den ver¬ ursachten Schaden gut zu machen, oder die weiteren Folgen zu verhindern, mit tätigem Eifer sich bestrebt hat; h) Avenn er, da er leicht entfliehen oder unent- deckt hätte bleiben können, sich selbst angegeben und das Verbrechen bekannt; i) wenn er andere verborgene Verbrecher entdeckt und zu ihrer Einbringung Gelegenheit und Mittel an die Hand gegeben hat; k) wenn er wegen der ohne sein Verschulden verlängerten Untersuchung durch längere Zeit verhaftet war.“

In dieser Zusammenstellung ist der kasuistische Charakter, der auch die psychiatrischen Bestimmungen im § 2 dieses Gesetzes (Gründe, die den bösen Vorsatz ausschließen) beherrscht, deutlich erkennbar. In vorliegendem Zusammen hang kommen für uns besonders die Bestimmungen des § 46 a, b, c, d in Be¬ tracht. Bei a handelt es sich um die Voraussetzung eines Alters von unter 20 Jahren, um Schwäche des Verstandes und Vernachlässigung der Erziehung; bei b um den Widerspruch der Tat mit dem früheren untadelhaften .Wandel, ein Kriterium, das vielfach auf das Auftreten von psychopathischen Zügen deutet; bei c und d um bestimmte Arten von starken Affekten. Bei e wird in praktisch sehr bedeutungsvoller Weise der Fall behandelt, daß die äußeren Momente einen Menschen zum Verbrechen anlocken, während es sich bei dieser Gelegenheit eigentlich um fremde Nachlässigkeit und nicht um eine vorausgefaßte Absicht handelt.

Es ist erkennbar, daß es sich in diesen Bestimmungen um eine ganze Reihe von empirisch-psychologischen Beobachtungen im Gebiet der Kriminalistik handelt, die ihre eigentliche Wurzel in der Erfahrungsseelenlehre am Ende des 18. Jahrhunderts haben. Wie diese im allgemeinen Gebiet der Psychologie in den ersten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts immer mehr von spekulativen Momenten überwuchert und in den Hintergrund gedrängt worden ist, so hat auch die Psychologie der mildernden Umstände, soAveit es sich um subjektive Momente handelt, im Laufe des vorigen Jahrhunderts eigentlich eine Rück¬ bildung erfahren. Es ergibt sich daraus der merkwürdige Tatbestand, daß in dieser Beziehung das alte österreichische Gesetz, das aus dem Anfang des vorigen Jahrhunderts stammt, und in dem sich eine Reihe von psychologischen Beobach¬ tungen der vorangegangenen Jahrzehnte niedergeschlagen hat, in dieser Beziehung entschieden inhaltsreicher ist, als das in den psychiatrischen Grundbegriffen weiter vorgeschrittene deutsche RStGB., dessen eigentliche Entstehung in den 60 er Jahren liegt. In diesem eigenartigen sozusagen gekreuzten Verhältnis ist die Beziehung der Strafgesetzbücher zu der allgemeinen psychologischen Entwicklung deutlich ersichtlich, was uns ein Beispiel für die Abhängigkeit der kriminalpsychologischen Entwicklung von dem Werdegang der wissenschaftlichen Psychologie und Psycho¬ pathologie bietet. Geschichtlich ist der Zusammenhang so, daß sich aus der Er¬ kenntnis der subjektiven Momente immer mehr Einsichten in eine Reihe von Geisteszuständen geboten haben, die eine Mittelstufe zwischen der ausgeprägten Geisteskrankheit und der Geistesgesundheit darstellen.

Im Hinblick auf die strafrechtliche Bewertung ist diese Gruppe von Geistes¬ zuständen in den letzten Jahrzehnten dann namentlich unter dem Begriff der „geminderten Zurechnungsfähigkeit“ zusammengefaßt Avorden. Da ich ein er-

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klärter Anhänger derjenigen Bestrebungen bin, die auf eine Anerkennung dieser Mittelzustände zwischen Geisteskrankheit und Geistesgesundheit in den Straf¬ gesetzbüchern hinausarbeiten, so werde ich hoffentlich nicht mißverstanden, wenn ich den sprachlichen Ausdruck „geminderte Zurechnungsfähigkeit“ hier nochmals entsprechend meinen Ausführungen in dem Buch über Kriminalpsycho¬ logie (vgl. S. 276) kritisch betrachte. Ursprünglich kommt in den alten Gesetz¬ büchern der Ausdruck vor , „jemandem eine Handlung als strafbar zurechnen“ ; der Zurechnende ist also der Richter, und der Ausdruck Zurechnungsfähigkeit bedeutet sprachlich und logisch eigentlich die Fähigkeit, jemandem eine Handlung zuzurechnen. Nur durch eine völlig unlogische Verwechslung von Subjekt und Objekt ist der Ausdruck auf den Täter übergegangen, dem eine Handlung zuge¬ rechnet oder nicht zugerechnet wird, und bedeutet in diesem übertragenen Sinn die subjektive Voraussetzung, d. h. die Art des Geisteszustandes, die es be¬ dingt, daß man ihm die Handlung zurechnet, oder nicht. Die verminderte Zu¬ rechnungsfähigkeit als sprachlicher Ausdruck ist daher völlig zu verwerfen, während sie inhaltlich in bezug auf die gemeinten Geisteszustände durchaus für viele Fälle zu Recht besteht. Psychologisch und psychiatrisch erscheint es viel richtiger und wünschenswert, die gemeinten Geisteszustände ihrer eigentlichen Natur nach zu bezeichnen, wie dies prinzipiell für die ausgeprägten Zustände von Geisteskrankheit im § 51 des deutschen RStGB. und im § 63 des deutschen Ent¬ wurfs geschieht. Vergleichen wir damit die Fassung des § 63, soweit sie sich auf die Erörterung über die sog. verminderte Zurechnungsfähigkeit bezieht.

Der § 63 enthält über die Fassung des jetzigen § 51 hinaus zwei sein- wichtige Zusätze, in denen der Fortschritt der strafrechtlichen Anschauungen in psychiatrischer und sozialer Richtung zutage kommt. Sie lauten: „War die freie Willensbestimmung durch einen der vorbezeichneten Zustände zwar nicht ausge¬ schlossen, jedoch in hohem Grade vermindert, so finden hinsichtlich der Bestrafung die Vorschriften über den Versuch 76) Anwendung. Zustände selbstverschul¬ deter Trunkenheit sind hiervon ausgenommen.

Freiheitsstrafen sind an den nach Abs. 2 Verurteilten unter Berücksichtigung ihres Geisteszustandes und soweit dieser es erfordert, in besonderen, für sie aus¬ schließlich bestimmten Anstalten oder Abteilungen zu vollstrecken.“

Hier wird, unter Hindeutung auf den nicht ausgesprochenen Begriff , der „geminderten Zurechnungsfähigkeit“ von einer „Verminderung der freien Willens¬ bestimmung“ gehandelt. Während diese Bestimmung inhaltlich einen großen Fortschritt bedeutet, ist sie sprachlich ebenfalls nicht zu empfehlen, trotz ihres Anklanges an den vielfach verwendeten Ausdruck der gemindeiten Zurechnungs¬ fähigkeit. Ich habe bei der Stuttgarter Versammlung der internationalen krimi¬ nalistischen Vereinigung vorgeschlagen, für diese zu setzen „Geistige Schwäche“ in dem Sinne, wie der Begriff in § 6, 1 des BGB. betr. Entmündigung vorkommt. Es wäre dann eine außerordentlich wünschenswerte, klare Beziehung zwischen Strafgesetzbuch und BGB. gegeben, so daß bei eventuellem Freispruch oder ge¬ ringerer Bestrafung wegen „Geistesschwäche“ die Frage der Entmündigung gerichtlich geprüft werden könnte. Dies erscheint mir gerade bei den vielen Imbecillen, die unter die Bestimmung der verminderten Zurechnungsfähigkeit bzw. Verminderung der freien Willensbestimmung fallen werden, durchaus nötig. Übrigens würde sich dadurch eine sehr wünschenswerte Übereinstimmung mit der Fassung des österreichischen Entwurfs ergeben, der lautet: § 3. Nicht strafbar ist, wer zur Zeit der Tat wegen Geistesstörung, Geistesschwäche oder Bewußtseins-

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Störung nicht die Fähigkeit besaß, das Unrecht seiner Tat einzusehen, oder seinen Willen dieser Einsicht gemäß zu bestimmen.“ Jedenfalls bedeuten die genannten Zusätze ihrem Inhalte nach eine wesentliche Verschiebung des jetzigen Stand¬ punktes im Sinne einer psychiatrischen Auffassung der geistesschwachen Bechts- brecher.

Was nach der eventuellen Einführung des Begriffes der Geistesschwäche als Strafausschließungsgrund von dem Sammelbegriff der geminderten Zurechnungs¬ fähigkeit bleibt, würde am besten unter Anknüpfung an die alte empirisch¬ psychologische Kasuistik im § 46 des österreichischen BStGB. , im Sinne einer weiteren Ausbildung der mildernden Umstände in subjektiver Hinsicht, in der Form eines allgemeinen Begriffes unter den Ausdruck der mildernden Um¬ stände gebracht. Der Haupteinwurf, den man gegen diesen Ausdruck erheben konnte, lag darin, daß der Ausdruck zu unklar und vieldeutig sei. Geschichtlich liegt jedoch das Verhältnis so, wie dies aus dem österreichischen BStGB. hervor¬ geht, daß der Ausdruck Milderungsumstände infolge der beigegebenen Kasuistik einen ausgeprägt praktischen Inhalt gehabt hat, der nur in der Straf¬ gesetzgebung allmählich, was die subjektive Seite der Sache betrifft, immer mehr verloren gegangen ist, bis der sehr dehnbare und unbestimmte Begriff der mildernden Umstände im jetzigen deutschen BStGB. daraus wurde. Es wird aber sicher möglich sein, den alten und völlig klaren Begriff, der sich seiner Fassung nach auf die Milderung der Strafe bezieht, auch in subjektiver Beziehung zu reformieren und dadurch wieder brauchbar zu machen. Man trenne also das sprachlich und psychologisch unklare Gebiet der verminderten Zurechnungs¬ fähigkeit in zwei Teile, in den ersten, der das Mittelgebiet zwischen Geisteskrankheit und Geistesgesundheit unter dem Ausdruck der Geistesschwäche umfaßt, die ebenso wie Geisteskrankheit und Bewußtlosig¬ keit als Strafausschließungsgrund gelten soll, und den zweiten, straf¬ rechtlichen Teil, welcher unter dem Ausdruck der mildernden Umstände in subjektiver Beziehung die Geisteszustände umfaßt, die eine mildere Strafe bedingen, während im übrigen eine psychiatrische Behandlung nicht er¬ forderlich ist. Dadurch würde die zurzeit in dem Begriff der verminderten Zu¬ rechnungsfähigkeit gegebene Zweideutigkeit vermieden, die darin beruht, daß ein Täter wegen seines Geisteszustandes einerseits milder bestraft, andererseits psychiatrisch behandelt werden soll. Es kann dies leicht in der Praxis zu einer völligen Verwirrung von Psychiatrie und Strafjustiz führen. Durch die von mir vertretene Auflösung des Gebietes in eine psychiatrische und strafrechtliche Gruppe würde für die Bechtsprechung meines Erachtens eine viel klarere Grundlage gegeben sein, als durch den Begriff der verminderten Zurechnungsfähigkeit oder der Verminderung der freien Willens¬ best i m mung.

Vergleichen wir damit die Fassung des österreichischen Entwurfes. In diesem lautet der betreffende § 4: „War die Fähigkeit des Täters, das Unrecht seiner Tat einzusehen, oder seinen Willen dieser Einsicht gemäß zu bestimmen, zur Zeit der Tat infolge eines andauernden krankhaften Zustandes wesentlich vermindert, so ist an Stelle der Todesstrafe auf lebenslangen Kerker zu erkennen. Hat der Täter eine Freiheitsstrafe verwirkt, deren Vollzug in ihrer regelmäßigen Art seinen Zustand verschlimmern würde, so ordnet das Gericht an, daß die Strafe nach den der Eigenart solcher Personen angepaßten Vorschriften vollzogen werde. Der

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Vollzug solcher Strafen findet in einer besonderen Strafanstalt oder in einer be¬ sonderen Abteilung einer Strafanstalt, oder eines Gefangenhauses statt.“

Hier wird also ebenfalls, wie im deutschen Entwürfe, nicht von verminderter Zurechnungsfähigkeit gesprochen, sondern von einer Verminderung der Fähigkeit das Unrecht der Tat einzusehen, oder den Willen dieser Einsicht gemäß zu be¬ stimmen. Diese Begriffsbestimmung steht in klarer Beziehung zu der Fassung des § 3, ebenso wie im deutschen Entwürfe die Ausdrucksweise des § 63 Absatz 2 zu der Fassung des § 63 Absatz 1 in Beziehung steht. Die oben gegebene Ver¬ gleichung der Begriffe trifft also auch für diese verschiedenartigen Formulierungen der verminderten Zurechnungsfähigkeit zu. Im deutschen Entwürfe herrscht der Ausdruck: freie Willensbestimmung, im österreichischen Entwürfe der Doppel- Ausdruck : Fähigkeit, das Unrecht einzu sehen oder seinen Willen dieser Einsicht gemäß zu bestimmen. Aus obiger Darstellung ergibt sich demgemäß folgendes: Wenn man im § 63 des deutschen Entwurfes den Zusatz betr. freie Willensbestimmung streicht und dementsprechend im österreichischen Entwurf den Zusatz betr. Fähigkeit des Täters, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder seinen Willen dieser Einsicht gemäß zu bestimmen, so fehlt dementsprechend im § 63 Absatz 2 des deutschen Entwurfes und im § 4 des österreichischen Entwurfes die Voraussetzung zu der dort gegebenen Formu¬ lierung. In beiden neuen Gesetzen wäre im Sinne unserer Ausführungen, nach dem der Begriff der Geistesschwäche im deutschen Gesetz eventuell auf ge¬ nommen ist, nur auszudrücken, daß, wenn bestimmte psychische Momente als mildernde Umstände angerechnet werden, auf eine geringere Strafe erkannt werden kann. Im Sinne dieser Auffassung ist die in den beiden Vorentwürfen gegebene Weiterbehandlung dieser Verhältnisse dann völlig logisch, da nach dem deutschen Entwürfe Absatz 2 in diesem Falle die Vorschriften über den Versuch Anwendung finden.

Diese Art der Behandlung ist vom Standpunkte der geringeren Be¬ strafung durchaus folgerichtig, während sie bei Behandlung von Fällen, die psychiatrisch unter den Begriff der Geistesschwäche fallen, praktisch zu den größten Fehlern führen würde.

Im deutschen BStGB. ist die Behandlung der Jugendlichen durch § 55 und 56 geregelt.

Diese Paragraphen lauten: § 55. „Wer bei Begehung der Handlung das 12. Lebensjahr nicht vollendet hat, kann wegen derselben nicht strafrechtlich ver¬ folgt werden.

Gegen denselben können jedoch nach Maßgabe der landesgesetzlichen Vor¬ schriften die zur Besserung und Beaufsichtigung geeigneten Maßregeln getroffen werden. Insbesondere kann die Unterbringung in einer Erziehungs- oder Besserungs¬ anstalt erfolgen, nachdem durch Beschluß der Vormundschaftsbehörde die Begehung der Handlung festgestellt und die Unterbringung für zulässig erklärt ist.

§ 56. Ein Angeschuldigter, welcher zu einer Zeit, als er das 12., aber nicht

das 18. Lebensjahr vollendet hatte, eine strafbare Handlung begangen hat, ist freizusprechen, wenn er bei Begehung derselben die zur Erkenntnis ihrer Straf¬ barkeit erforderliche Einsicht nicht besaß.“

Somit ist die Altersgrenze der Strafbarkeit am Ende des 12. Lebensjahres. Diese Begrenzung ist seit langer Zeit von vielen Seiten als zu niedrig betrachtet worden, da die allgemeine Erfahrung lehrt, daß auch noch darüber hinaus die nötige Verstandesreife und Charakterentwicklung nicht vorhanden ist. Prinzipiell

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liegt die ganze weitere Entwicklung der Kriminalpolitik in den unter Ziffer 2 gegebenen Zusätzen vorgebildet, wonach die zur Besserung und Beaufsichtigung erforderlichen Maßregeln getroffen werden können. In diesem Punkte setzt die neuere Eürsorgegesetzgebung ein, die praktisch von der größten Tragweite ist. Die ganze Weiterentwicklung der Strafjustiz, wie sie in wesentlichen Punkten in den neuen Entwürfen vorliegt, beruht im Grunde auf einer Anwendung der bei der Behandlung der Jugendlichen unter 12 Jahren durch geführten Grund¬ sätze auf bestimmte Gruppen von Erwachsenen. Man kann das Verhältnis so ausdrücken, daß diese in den neuen Strafgesetzbüchern gewissermaßen als infantil behandelt werden, derart, daß man nicht Strafe, sondern Sicherheitsmittel gegen sie an wendet. Während das Verfahren des § 55 Ziffer 2 im Prinzip als richtig erscheint, erweckt die Behandlung der Jugendlichen im Alter vom 12. bis zum 18. Jahr nach § 56 eine Beihe von Bedenken. Zunächst ist die untere Alters¬ grenze zu tief angesetzt und muß jedenfalls, wie dies auch in dem neuen deutschen Entwürfe vorgesehen ist, auf 14 Jahre angenommen werden; sodann hat die Formulierung des Kriteriums, bei welchem freizusprechen ist, einen groben Fehler. Dasselbe bezieht sich lediglich auf die zur Erkenntnis der Strafbarkeit erforderliche Einsicht. Diese ist, wie vergleichende Untersuchungen er¬ geben haben, einerseits hei ausgeprägt Geisteskranken, andererseits bei Jugend¬ lichen, die im übrigen eine Reihe von psychopathischen Zügen haben, ohne aus¬ geprägt geisteskrank zu sein, oft vorhanden, erscheint also unter keinen Um¬ ständen als sicherer Beweis geistiger Gesundheit. Im Gegenteil sind unter der Herrschaft dieses Gesetzes sicher eine große Zahl von Jugendlichen verurteilt worden, die zweifellos viel richtiger in einer Besserungs- oder Erziehungsanstalt, oder sogar in einer Heilanstalt für psychische- und Nervenkrankheiten aufgehoben gewesen wären. Ich rechne hierzu vor allem die mit psychogenen (hysterischen), epileptischen oder anderen nervösen Zuständen behafteten Jugendlichen, die trotz bestehender Einsicht in die Strafbarkeit der Handlung entschieden zu den Psychopathen gehören. Ich halte es für unbestreitbar, daß die Anwendung des jetzigen § 56 des deutschen RStGB. eine große Zahl von Jugendlichen in das Gefängnis führt, die dort erst auf die Bahn des Verbrechens geraten, während eine andere, oben angedeutete Behandlung sie in das soziale Gleis hätte bringen können. Durch die an sich vorzügliche Einrichtung der Jugendgerichte mag das Verfahren nach § 56 im einzelnen gemildert sein, aber man darf sich nicht darüber täuschen, daß der Hauptfehler in der Fassung des § 56 selbst liegt, in welchem das einseitige intellektuelle Kriterium der zur Erkenntnis der Strafbarkeit erforderlichen Einsicht die richtige Beachtung des gesamten Geistes¬ zustandes bei den Jugendlichen direkt verhindert. Praktisch kommt in manchen Fällen dadurch ein milderer Zug in die Rechtsprechung, daß in neuerer Zeit die Jugendlichen öfter nicht nur streng im Sinne des § 56 in bezug auf die zur Er¬ kenntnis der Strafbarkeit erforderliche Einsicht geprüft werden, sondern das mehr allgemeine Merkmal der Verstandesreife in den Vordergrund gerückt wird, so daß sich eine veränderte Auffassung in psychologischer Beziehung schon auf diesem Wege zum Teile vollzogen hat. Jedoch auch dieser entschieden weitere Begriff der mangelnden Verstandesreife ist nicht ausreichend, um die psychologischen und psychopathischen Momente bei jugendlichen Rechtsbrechern zu umfassen. Es wäre daher in diesem Sinne viel richtiger, einen allgemeineren Begriff einzuführen, der auszudrücken hätte, daß die Jugendlichen freizusprechen sind, wenn trotz Abwesenheit ausgeprägter Formen von Geistesstörungen psycho-

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pathische Züge bei der Handlung wesentlich bestimmend waren. Selbstver¬ ständlich würde auch bei dieser Formulierung entsprechend dem Verfahren bei Jugendlichen bis zum 12. Jahr der Zusatz bestehen bleiben, daß die zur Besse¬ rung und Beaufsichtigung geeigneten Maßregeln ergriffen werden können. Hierzu müßte noch die gesetzliche Möglichkeit kommen, daß ans solchen Gründen frei¬ gesprochene Jugendliche speziell bei hysterischen, epileptischen und anderen An¬ lagen zur Behandlung in eine Anstalt für Psychischnervöse (nicht in eine Irren¬ anstalt) eingewiesen werden können. Vergleichen wir mit diesen Ausführungen die Fassungen des deutschen Entwurfs, so zeigt sich folgendes: Es kommen außer dem Vorentwurf wesentlich in Betracht die §§ 68 bis 70, die folgender¬ maßen lauten:

㤠68. Nicht strafbar ist, wer bei der Begehung der Handlung das 14. Lebensjahr nicht vollendet hat.

§ 69. Hatte der Täter zur Zeit der Tat das 18. Lebensjahr nicht vollendet, so sind hinsichtlich der Bestrafung die Vorschriften über den Versuch 76) an¬ zuwenden, doch darf auf lebenslängliches Zuchthaus nicht erkannt werden. Ist die danach bestimmte Strafe Zuchthaus, so tritt Gefängnisstrafe von gleicher Dauer an ihre Stelle. Auf Verschärfung des Strafvollzugs 18), Arbeitshaus 42), Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte (§§ 46 bis 49) und Aufenthalts¬ beschränkung 53) ist nicht zu erkennen.

Erscheint die Tat hauptsächlich als Folge mangelhafter Erziehung, oder ist sonst anzunehmen, daß Erziehungsmaßregeln erforderlich sind, um den Täter an ein gesetzmäßiges Leben zu gewöhnen, so kann das Gericht neben oder an Stelle einer Freiheitsstrafe seine Überweisung zur staatlich überwachten Erziehung an¬ ordnen. Die Art und Dauer der Erziehungsmaßregeln bestimmen sich nach den hierfür bestehenden Gesetzen, doch kann das Gericht die Unterbringung in eine Erziehungs- oder Besserungsanstalt vorschreiben.

§ 70. Die Freiheitsstrafen gegen Jugendliche sind in besonderen, für sie ausschließlich bestimmten Anstalten oder Abteilungen zu vollstrecken. Dabei sind die vollzurechnungsfähigen Jugendlichen von vermindert Zurechnungsfähigen voll¬ ständig abzusondern. Freiheitsstrafen gegen vermindert zurechnungsfähige Jugendliche können auch in staatlich überwachten Erziehungs-, Heil- oder Pflege¬ anstalten vollzogen werden Das Wesentliche in diesen Bestimmungen ist folgendes:

1. Die Altersgrenze ist auf den Schluß des 14. Lebensjahres hinaufgesetzt. 2. Die Freiheitsstrafen gegen die Jugendlichen sind in einer Weise geregelt, die dem bisher üblichen Verfahren gegenüber wesentliche Fortschritte bedeutet. Vor allem ist dabei die Trennung der Jugendlichen in vollzurechnungsfähige und ver¬ mindert zurechnungsfähige Jugendliche von Bedeutung, wobei die vermindert Zurechnungsfähigen sich zum Teil mit den oben angedeuteten Gruppen der Hysterischen, Epileptoiden usw. decken. Dazu kommt, daß die Freiheitsstrafen gegen vermindert zurechnungsfähige Jugendliche in staatlich überwachten Er¬ ziehungs-, Heil- oder Pflegeanstalten vollzogen werden können. Es entsteht da¬ durch eine ganz eigentümliche Verknüpfung von Strafjustiz und Heilbehandlung, weil die in den Heilanstalten untergebrachten vorher zuerst zu Freiheits¬ strafen verurteilt werden, während sie dann erst der Heilanstalt im Straf¬ vollzug überwiesen werden. Denkt man sich bestimmte Heilanstalten, die eine Reihe von derartigen zu Freiheitsstrafen verurteilten Jugendlichen aufnehmen, so ist zu erwarten, daß solche Heilanstalten von dem Volke in absehbarer Zeit

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überhaupt nicht mehr als Heilanstalt, sondern als Strafanstalt betrachtet werden. Es liegt also eine praktisch bedenkliche Verbindung von Strafjustiz mit Psychiatrie vor. Viel richtiger wäre es, durch die Fassung des Gesetzes zu ermöglichen, daß die sog. vermindert zurechnungsfähigen Jugendlichen von vornherein wegen ihres Geisteszustandes überhaupt freigesprochen werden, während für diese Fälle ihre Unterbringung in einer Heilanstalt gesetzlich er¬ möglicht werden müßte. Nur dadurch, daß man schon im Moment der Recht¬ sprechung diese vermindert zurechnungsfähigen Jugendlichen ausgliedert, und sie einer entsprechenden Behandlung überweist, kann man die durch den § 70 gegebene Verwirrung beseitigen. Immerhin muß ich zugeben, daß trotz dieser Bedenken der § 70 im Verhältnis zu dem jetzigen durch § 56 gegebenen Rechts- ' zustand einen wesentlichen Fortschritt bedeutet.

Leider kann dies für das im § 69 enthaltene Kriterium der Strafbarkeit bei Jugendlichen nicht in diesem Grad behauptet werden. Ich verweise hierbei auf das oben zur Kritik der zur Erkenntnis der Strafbarkeit erforderlichen Einsicht Vorgebrachte. Im § 69 des deutschen Entwurfes wird lediglich auf den Fall hingewiesen, daß die Tat als Folge mangelhafter Erziehung erscheint oder daß sonst anzunehmen ist, daß Erziehungsmaßregeln erforderlich sind, um den Täter an ein gesetzmäßiges Leben zu gewöhnen. Auch diese Formulierung schenkt ebenso wie die des jetzt geltenden § 56 des deutschen RStGB. den psychiatrischen Erfahrungen über Jugendliche nicht genügende Beachtung und sollte in obigem Sinn verändert werden.

In dem österreichischen RStGB. ist das Verfahren gegen Jugendliche durch folgende Bestimmungen geregelt: § 2. Daher wird die Behandlung oder Unter¬ lassung nicht als Verbrechen zugerechnet; d) wenn der Täter noch das 14. Jahr nicht zurückgelegt hat.

Ferner durch §§ 237 und 269. Diese lauten:

§ 237. Die strafbaren Handlungen, die von Kindern bis zu dem vollendeten 10. Jahre begangen werden, sind bloß der häuslichen Züchtigung zu überlassen: aber von dem abgehenden 11. bis zu dem vollendeten 14. Jahre werden Hand¬ lungen, die nur wegen Unmündigkeit des Täters nicht als Verbrechen zugerechnet werden 2, lit. d), als Übertretung bestraft (§§ 269 und 270).

§ 269. Unmündige können auf zweifache Art schuldig werden:

a) durch strafbare Handlungen, welche nach ihrer Eigenschaft Verbrechen wären, aber, wenn sie Unmündige begehen, nach § 237 nur als Übertretungen bestraft werden:

b) durch solche strafbaren Handlungen, welche schon an sich nur Vergehen oder Übertretungen sind.

In diesen Bestimmungen ist wesentlich die Hinaufrückung der Altersgrenze auf 14 Jahre. Hier haben wir die eigentümliche Erscheinung vor uns, daß in dem älteren aus dem Anfang des vorigen Jahrhunderts stammenden österreichischen StGB, in bezug auf die Altersgrenze eine mildere Auffassung herrschte, als in dem späteren deutschen RStGB., und daß bei der Umformung des deutschen RStGB. in dem vorhandenen Vorentwurf inhaltlich auf den Zustand des viel älteren österreichischen StGB, zurückgegriffen wird. Allerdings bedeutet die Be¬ stimmung des § 237 des österreichischen StGB., wonach von dem 11. bis zum vollendeten 14. Jahre Handlungen, die nur wegen Unmündigkeit des Täters nicht als Verbrechen zugerechnet werden, als Übertretung bestraft werden sollen, wiederum eine Verschärfung, die praktisch in vielen Fällen zu einer härteren

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Behandlung von Jugendlichen führen konnte, als dies nach dem § 56 des deutschen BStGB. möglich war. Im übrigen ist die Bestrafung der Jugendlichen im öster¬ reichischen Gesetz im 3. Hauptstück von der Bestrafung der Unmündigen durch § 270 bis 273 geregelt. In diesen. Bestimmungen sind schon Ansätze vorhanden, die in den Bestimmungen des deutschen Entwurfs in der dargestellten Weise ent¬ wickelt worden sind.

In dem österreichischen Entwurf finden sich die betr. Bestimmungen in

o

folgenden Paragraphen :

§ 5. „Wer zur Zeit der Tat das 14. Jahr nicht vollendet hat, ist nicht strafbar. Der Unmündige wird der Fürsorgeerziehung überwiesen, sofern die häusliche Zucht nicht ausreicht.“

§ 6. „Wer zur Zeit der Tat im Alter vom vollendeten 14. bis zum vollendeten 18. Lebensjahre stand (Jugendlicher), ist nicht strafbar, wenn er wegen zurück¬ gebliebener Entwicklung oder mangels der geistigen Beife nicht die Fähigkeit besaß, das Unrecht seiner Tat einzusehen, oder seinen Willen dieser Einsicht ge¬ mäß zu bestimmen.

Ein Jugendlicher, der aus diesem Grunde nicht strafbar ist, wird der Für¬ sorgeerziehung überwiesen, sofern die häusliche Zucht nicht ausreicht.“

Diese Fassung stimmt in bezug auf die Altersgrenze mit dem deutschen Entwurf überein. Auch die Überweisung in Fürsorgeerziehung stimmt im wesent¬ lichen mit dem deutschen Entwurf, dagegen enthält der § 6, welcher die eventuelle Bestrafung vom 14. bis zum 18. Jahre regelt, Bestimmungen, die von der Fassung des deutschen Entwurfs wesentlich abweichen. Der Jugendliche ist nicht strafbar, wenn er wegen zurückgebliebener Entwicklung oder mangels geistiger Beife nicht die Fähigkeit besaß, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder seinen Willen dieser Einsicht gemäß zu bestimmen. In letzteren Ausdrücken kehren die Begriffe wieder, die sich im § 3 des österreichischen Entwurfs finden. Außerdem werden aber psychologische Kriterien genannt, die den Ausschluß von Strafe bedingen; die Begriffe: „zurückgebliebene Entwicklung und Mangel an Geistesreife“ sind viel umfassender als die Bestimmungen des geltenden deutschen Bechtes 56: „Die zur Erkenntnis der Strafbarkeit erforderliche Einsicht“) und des deutschen Entwurfs § 69, in welchem lediglich von mangelnder Erziehung ge¬ sprochen wird.

Ich halte die österreichische Fassung, soweit sie die psychologischen Kenn¬ zeichen betrifft, bei welchen Jugendliche nicht bestraft werden sollen, für besser, als die bisher gültigen Fassungen des österreichischen und deutschen Gesetzes, und auch des deutschen Entwurfs. In diesem Punkte scheint mir also der öster¬ reichische Entwurf relativ mehr empfehlenswert zu sein, als der deutsche, wenn ich vom psychiatrischen Standpunkt auch lieber die Bestimmung im Sinne der obigen Fassung erweitert sehen möchte, welche die psychopathischen Züge bei Jugendlichen im allgemeinen berücksichtigt.

Im deutschen BStGB. ist eine besondere Strafbestimmung, die sich auf den Alkoholismus bezöge, nicht vorhanden, so daß man im einzelnen Fall auf die Fassung des § 51 angewiesen ist. Dabei handelt es sich in der Begel um die Frage, ob im Sinne des § 51 ein Zustand von Bewußtlosigkeit vorhanden war oder nicht. In der Begel sind auf diesen Begriff hin oder auf den noch allgemeineren der Schwerbetrunkenheit die an die Zeugen gerichteten Fragen formuliert, und in der Begel tritt, wenn nicht ein Zustand völliger Be¬ trunkenheit nachgewiesen werden kann, Verurteilung ein. Die dabei als Zeichen Archiv für Soziale Hygiene. VIT. ?

98 -^ns der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.

der völligen Betrunkenheit in der Hegel gemeinten Symptome (starkes Schwanken beim Gehen, lallende Sprache, starke Störung des logischen Zusammenhangs) sind zu eng, um die verschiedenen Formen von Geistesstörungen zu umfassen, die durch Alkohol z. B. bei alkohol-intoleranten Menschen manchmal durch nur kleine Dosen von alkoholischen Getränken ausgelöst werden können. Für diese Fälle kann also das Gutachten den viel allgemeineren Begriff der krankhaften Störung der Geistes¬ tätigkeit aus dem § 51 heranziehen, in der Regel wird der Psychiater aber gar nicht gefragt, wenn es sich um die Folgen des Alkoholismus handelt. Die Zahl der Fälle, in denen bei Alkoholdelikten ein psychiatrischer Sachverständiger über¬ haupt vor Gericht erscheint, ist sicher relativ nur sehr gering.

Vor allem fehlt in dem bisherigen deutschen Gesetz auch jede Bestimmung über Behandlung der chronischen Alkoholisten. Nun ist allerdings durch die Be¬ stimmungen über die Entmündigung nach § 6,3 des BGB. eine vollkommen neue Bahn für die soziale Behandlung der Alkoholisten gegeben. Diese Bestimmung lautet :

§ 6. „Entmündigt kann werden:

1. Wer infolge von Geisteskrankheit oder von Geistesschwäche seine Ange¬ legenheiten nicht zu besorgen vermag.

2. Wer durch Verschwendung sich oder seine Familie der Gefahr des Not¬ standes aussetzt.

3. Wer infolge von Trunksucht seine Angelegenheiten nicht zu besorgen vermag oder sich oder seine Familie der Gefahr des Notstandes aussetzt oder die Sicherheit anderer gefährdet. Die Entmündigung ist wieder aufzuheben, wenn der Grund der Entmündigung wegfällt.“

Es ist sicher, daß besonders durch die Bestimmung über die Entmündigung der Alkoholisten, die die Sicherheit anderer gefährden, der Strafjustiz eine Reihe von Fällen auf diesem Wege eutzogen und in geeigneter Weise untergebracht werden können, die sonst vergeblich mit Strafe belegt worden wären. Somit ist das BGB. gewissermaßen stellvertretend für den strafrechtlichen Einfluß einge¬ treten. Im neuen deutschen Entwurf finden wir dagegen mehrere Bestimmungen, in denen die Alkoholisten besonders genannt sind. Zunächst sind in § 63,2 bei dem Abschnitt über Verminderung der freien Willensbestimmung ausdrücklich die Zustände selbstverschuldeter Trunkenheit ausgenommen, dementsprechend ist im § 64 folgende besondere Bestimmung gegeben:

„War der Grund der Bewußtlosigkeit selbstverschuldete Trunkenheit und hat der Täter in diesem Zustand eine Handlung begangen, die auch bei fahr¬ lässiger Begehung strafbar ist, so tritt die für die fahrlässige Begehung ange¬ drohte Strafe ein.“

Schließlich werden die Alkoholisten im § 65 in einem besonderen Zusatz be¬ handelt, der lautet: „Wird jemand auf Grund des § 63 Abs. 1 freigesprochen, oder außer Verfolgung gesetzt, oder auf Grund des § 63 Abs. 2 zu einer milderen Strafe verurteilt, so hat das Gericht, wenn es die öffentliche Sicherheit erfordert, seine Verwahrung in einer öffentlichen Heil- oder Pflegeanstalt anzuordnen. War der Grund der Bewußtlosigkeit selbstverschuldete Trunkenheit, so finden auf den Freigesprochenen oder außer Verfolgung Ge¬ setzten außerdem die Vorschriften des § 43 über die Unterbrin¬ gung in eine Trinkerheilanstalt entsprechende Anwendung.“

Somit ist nach der vielfachen literarischen Behandlung der Gemeingefährlich¬ keit der Alkoholisten in den Entwurf des neuen Gesetzes eine ganze Reihe von

Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 99

neuen Bestimmungen hineingekommen, die entsprechend den Bestrebungen im BGB. auf eine richtige Unterbringung der Alkoholisten hinzielen.

Vergleichen wir hiermit die Fassung des österreichischen StGB., so ergibt sich folgendes:

Es findet sich hier im § 2 c eine ausdrückliche Bestimmung über die Be¬ handlung der alkoholistischen Geistesstörungen. Es heißt dort im § 2c: „Daher wird die Handlung oder Unterlassung nicht als Verbrechen zugerechnet, wenn sie c) in einer ohne Absicht anf das Verbrechen zugezogenen völligen Berauschung 236 und 523) oder anderen Sinnverwirrung, in welcher der Täter sich seiner Handlung nicht bewußt war, begangen worden.“

Die damit in Beziehung stehenden §§ 236 und 523 lauten folgendermaßen:

„§ 236. Obgleich Handlungen, die sonst Verbrechen sind, in einer zufälligen Trunkenheit verübt, nicht als Verbrechen angesehen werden können 2 lit. c) so wird in diesem Falle dennoch die Trunkenheit als eine Übertretung bestraft 523).

§ 523. Trunkenheit ist an demjenigen als Übertretung zu bestrafen, der in der Berauschung eine Handlung ausgeübt hat, die ihm außer diesem Zustande als Verbrechen zugerechnet würde (236). Die Strafe ist Arrest von einem bis zu drei Monaten. War dem Trunkenen aus Erfahrung bewußt, daß er in der Be¬ rauschung heftigen Gemütsbewegungen ausgesetzt sei, so soll der Arrest ver¬ schärft, bei größeren Übeltaten aber auf strengeren Arrest bis zu sechs Monaten erkannt werden.“

Es ist vom geschichtlichen Standpunkt ersichtlich, daß in dem geltenden österreichischen KStGB., das viel älter ist, als das geltende deutsche Gesetz, viel ausführlichere Bestimmungen über die Behandlung der Alkoholisten vorhanden sind, als in dem geltenden deutschen Gesetz. Es ist also in diesem, wovon man sich überzeugen kann, eine Reihe von Gesichtspunkten verloren gegangen, die in dem österreichischen Gesetz schon vorhanden waren. Begriffsgeschichtlich hängt dies offenbar damit zusammen, daß infolge der Schaffung eines allgemeinen Be¬ griffes „krankhafte Störung der Geistestätigkeit“ im geltenden deutschen Gesetz¬ buch eine Reihe von Einzelbestimmungen, speziell auch die über die Betrunken¬ heit, zunächst weggefallen sind. Der neue deutsche Entwurf greift also merkwürdigerweise in diesem Punkt wieder auf einen früheren Zustand zurück. Über den Wert dieses Verfahrens vom Stand¬ punkt der psychiatrischen Begriffsbildung wollen wir hier nicht streiten. Jeden¬ falls entspricht die Einführung besonderer Bestimmungen über die Alkoholisten den gegenwärtigen in psychiatrischen und juristischen Kreisen wohl überall vor¬ handenen Neigungen, offenbar, weil die Bestimmungen des § 51 tatsächlich für viele Fälle von alkoholistischen Straftaten Unklarheit gelassen haben, und weil besonders für die praktische Behandlung der chronischen Alkoholisten keine ge¬ eigneten Maßregeln getroffen waren. Dementsprechend finden sich auch in dem österreichischen Entwurf besondere Bestimmungen; allerdings beziehen sich diese nicht auf eine Änderung des § 3 über die Zurechnung, sondern auf eine weitere Entwicklung der schon in dem geltenden österreichischen Gesetz vorgesehenen Sicherungsmittel gegen die Alkoholisten.

Es kommt hier besonders der § 36 des österreichischen Entwurfs in Betracht, der folgendermaßen lautet: „Ein Geisteskranker oder Trunksüchtiger, der eine strenger als mit sechs Monaten Freiheitsstrafe bedrohte Tat begangen hat und wegen Zurechnungsunfähigkeit zur Zeit der Tat nicht verfolgt oder nicht

7*

100 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.

verurteilt werden kann, wird an eine staatliche Anstalt für verbrecherische Irre abgegeben, wenn er wegen seines kranken Zustandes und mit .Rücksicht auf seinen Lebenswandel und die Eigenart seiner Tat als besonders gefährlich für die Sitt¬ lichkeit, oder für die Sicherheit der Person oder des Vermögens (gemeingefährlich) anzusehen ist. Der Kranke bleibt in der Anstalt, so lange seine Gemeingefähr¬ lichkeit dauert. Die Entlassung kann endgültig oder auf Widerruf erfolgen.

Ausländer sind nur so lange zu verwahren, bis sie an den Heimatstaat ab¬ gegeben werden können.“

Ferner kommt in Betrecht Art. 55 Seite 169 der Einführungsbestimmungen, welcher lautet: „Die baulichen Herstellungen, die zur Durchführung der Vor¬ schriften der §§ 36 bis 38 und 243 StGB, über die Verwahrung gemeingefähr¬ licher Geisteskranker, Trunksüchtiger und geistesminderwertiger Personen und gemeingefährlicher Verbrecher notwendig sind, werden innerhalb fünf Jahren nach der Kundmachung des Gesetzes ausgeführt.

Bis zu ihrer Vollendung sind gemeingefährliche Geisteskranke, Trunk¬ süchtige und geistigminderwertige Personen in den bestehenden öffentlichen Irrenanstalten und in besonders eingerichteten Abteilungen von Strafanstalten und gerichtlichen Gefangenhäusern zu verwahren. Die Kosten der Verwahrung in öffentlichen Irrenanstalten sind zwischen dem Staat und den Ländern oder Körper¬ schaften, denen sie unterstehen, zu vereinbaren und vom Staate zu tragen.

Können nicht alle Personen in dieser Art verwahrt werden , so kann der Justizminister die Anwendung der Bestimmungen der §§ 36 und 37 und 243 StGB, innerhalb des im ersten Absatz angegebenen Zeitraums örtlich oder zeitlich außer Wirksamkeit setzen oder anordnen, daß nur bestimmte Kategorien dieser Personen zu verwahren sind.“

Im allgemeinen kann man sagen, daß die Tendenz des deutschen Entwurfs dem im geltenden österreichischen Kecht und in dem neuen österreichischen Ent¬ wurf enthaltenen Bestrebungen durchaus Rechnung trägt, so daß eine einheitliche Fassung des deutschen und österreichischen Entwurfs in diesen Punkten sicher leicht zu erreichen sein würde.

V. Durch die Behandlung der Alkoholisten sind wir schon speziell in das allgemeine Gebiet der Sicherungs maßregeln übergegangen, deren Vermehrung und weitere Ausbildung den charakteristischen Zug der neuen Bestrebungen Im Gebiete der Strafgesetzgebung bildet. In diesem Punkte haben sich die sämtlichen Bestrebungen, die sich einerseits bei den Psychiatern durch das Studium der psychopathischen Anlage und der chronischen Abnormitäten, andererseits bei den Juristen durch das Studium der Bückfälligkeit ergeben haben, verdichtet. Hierin ist der Hauptumschwung der ganzen Strafgesetzgebung am klarsten ersichtlich. An Stelle von Einzelstrafen tritt immer mehr die Methode der allgemeinen Abwehr gegen bestimmte zum Rechtsbuch neigende Individuen und Gruppen von Individuen. Vom geschichtlichen Standpunkt betrachtet, liegt hier eine staatliche Rezeption der Bestrebungen vor, die scheinbar zu einer Opposi¬ tion gegen das bestehende Strafrecht, in Wirklichkeit zu einer fortschreiten¬ den Beschränkung der persönlichen Freiheit von sozial schäd¬ lichen Menschen führen.

Dabei läßt sich erkennen, daß die Sicherungsmaßregeln, die in dem geltenden deutschen Gesetz schon für die Jugendlichen vorgesehen sind, falls die Straf¬ taten bis zum vollendeten 12. Jahr geschehen, ferner für solche Jugendliche, die bei einem Alter vom vollendeten 12. bis zum vollendeten 18. Lebensjahre die zur

Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 101

Erkenntnis der Strafbarkeit erforderliche Einsicht nicht besitzen, in erweiterter Form immer mehr auch auf bestimmte Arten von erwachsenen Kechts- b rech er n ausgedehnt werden. Auf die Einzelheiten kann ich bei der beschränkten Zeit des Vortrages nicht eingehen.

Im deutschen RStGB. kommen in bezug auf die Sittlichkeitsver¬ brechen die £§ 171 bis 184 in Betracht. Hiervon haben eine ganze Reihe keine direkte psychiatrische Beziehung, da es sich um Bestimmungen handelt, die z. B. den Schutz der Ehe (§171 und 172) oder den sexuellen Verkehr von Verwandten bestimmten Grades betreffen 178) oder den Schutz von Kindern, Schülern, Zög¬ lingen, Anstaltsinsassen bezwecken. In unserem Zusammenhang kommt haupt¬ sächlich in Betracht der § 175, der lautet: „Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Tieren begangen wird, ist mit Gefängnis zu bestrafen; auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.“

In diesem Paragraphen wird unter dem Begriff der widernatürlichen Unzucht einerseits die homosexuelle Betätigung zwischen Personen männlichen Ge¬ schlechts, andererseits der Verkehr des Menschen mit Tieren (Bestialität) zu- sammenbehandelt. Schon diese Verbindung von zwei Arten von Delikten, die nach der psychologischen Erfahrung aus völlig verschiedenen Geisteszuständen entspringen können, erscheint durchaus ungerechtfertigt. Jedenfalls sollten diese beiden Fälle gesondert behandelt werden. Dabei ist erkennbar, daß im Gebiet der Homosexualität nur der mannmännliche Verkehr betroffen wird, während das weibliche Geschlecht dabei frei ausgeht.

Praktisch deutet sich eine mildere Auffassung der homosexuellen Beziehungen schon dadurch an, daß, wie in der Anmerkung der Ausgabe von Julius von Staudinger zu diesem Paragraphen gesagt ist, unter widernatürlicher Unzucht nur die eigentliche Päderastie (coitus per anum) verstanden wird, während z. B. die mutuelle Onanie davon nicht betroffen wird. Diese Auslegung des Gesetzes bedeutet im geschichtlichen Zusammenhang eine Milderung. Im Hinblick auf die vielfachen Bestrebungen zur Aufhebung dieser ganzen Bestimmung, die viel¬ leicht in einer etwas zu sehr übertriebenen Weise hervorgetreten sind, ist es von Interesse, die Fassung des deutschen Entwurfs zu vergleichen. In diesem lautet der § 250 folgendermaßen:

„§ 250. Die widernatürliche Unzucht mit einer Person gleichen Geschlechts wird mit Gefängnis bestraft.

Ist die Tat unter Mißbrauch eines durch Amts- oder Dienstgewalt oder in ähnlicher Weise begründeten Abhängigkeitsverhältnisses begangen, so tritt Zucht¬ haus bis zu fünf Jahren, bei mildernden Umständen Gefängnis nicht unter sechs Monaten ein.

Dieselbe Strafe trifft denjenigen, der aus dem Betrieb der widernatürlichen Unzucht ein Gewerbe macht.

Die Strafe des Abs. 1 findet auch auf die widernatürliche Unzucht mit Tieren Anwendung.“

Es ist daraus ersichtlich, daß zunächst die „Lücke“, die in dem bisher gelten¬ den Gesetz in bezug auf die Homosexualität der Frauen vorhanden war, ausge¬ füllt worden ist, während eine Aufhebung oder Milderung des bestehenden Gesetzes nicht geschehen ist. Somit haben sich in diesem Punkte die bisherigen Bestrebungen als völlig erfolglos erwiesen. Ich habe mich an den Agitationen zur völligen Auf¬ hebung von § 175 des deutschen RStGB. nicht beteiligt, weil sie mir zu weit zu

102 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.

gehen und besonders keinen genügenden Schutz gegen Verleitung von Jugend¬ lichen, wenigstens in der häufig hervortretenden Form dieser Bestrebungen, zu bieten schienen. Andererseits halte ich diese völlige Ignorierung der in den letzten Jahrzehnten gemachten Erfahrungen über die sehr häufige psycho¬ pathische Grundlage der Homosexualität für zu weitgehend und spreche mich dafür aus, daß diesen Momenten in der Fassung des neuen Gesetzes Rechnung getragen wird.

Aus dem österreichischen Entwurf kommen in Betracht die §§ 259 bis 283, wobei die Homosexualität in dem § 269 behandelt ist. Dieser lautet:

„§ 269. Wer mit einer Person desselben Geschlechts Unzucht treibt, wird mit Gefängnis von einer Woche bis zu einem Jahre bestraft (usw.).“

Diese Bestimmungen entsprechen im wesentlichen denen des deutschen Vor¬ entwurfs, nur ist eine Bestimmung betr. Bestialität weder hier noch in einem sonstigen Paragraphen enthalten, worüber die Erläuterungen Auskunft geben.

Obige Kritik gilt also im wesentlichen auch für den österreichischen Entwurf.

Ohne die sexuellen speziell homosexuellen Delikte hier weiter zu behandeln, möchte ich als allgemeines Resultat der Vergleichung bezeichnen, daß sich auf dem Boden der Psychopathologie eine Übereinstimmung des deutschen und öster¬ reichischen Strafgesetzes erreichen ließe. Überblickt man die nebeneinander ge¬ stellten Bestimmungen des deutschen und des österreichischen Gesetzes, sowie der vorliegenden Vorentwürfe, so ist erkennbar, daß sich eine Reihe von Erscheinungen zeigen, die sich nur aus der allgemeinen Geschichte der psychiatrischen Begriffe und aus der kriminalpsychologischen Entwicklung vom Ende des 18. bis zum Anfang des 20. Jahrhundert erklären. Die psychiatrischen Vorstellungen, die in das Strafgesetzbuch eindringen, sind im Grunde Niederschläge der vorher in der psychiatrischen Fachentwicklung und in der juristisch-psychiatrischen Diskussion herauskristallisierten Ideen. Je klarer man dieses begriffsgeschichtliche Verhältnis erkennt, desto deutlicher treten die Grundzüge der ganzen Strafrechtsentwicklung, soweit sie besonders von psych¬ iatrischen und kriminalpsychologischen Erkenntnissen bedingt sind, hervor. Die Strafgesetzgebung einer Zeit wird um so richtiger sein, je mehr sie den wirk¬ lichen Inhalt von Erfahrungstatsachen aus diesem empirisch-psychologischen Ge¬ biet berücksichtigt und dabei die angepaßten Formen des sozialen Schutzes gegen gemeinschädliche Handlungen findet. Sicher ist, daß im Gegensatz zu dem lange Zeit geltenden Grundsatz der Bestrafung einzelner Handlungen immer mehr der Gedanke einer Behandlung der Gesamtpersönlichkeit des Täters in den Entwürfen zum Vorschein kommt. Die von vielen in Beginn dieser Bewegung befürchteten Schädigungen der Staatsordnung durch die modernen anthropologischen und psychiatrischen Auffassungen sind nicht erfolgt, sondern es hat sich im Gegenteil das Eingreifen der Staatsgewalt in das ganze Leben von Personen, die vermöge ihrer Geistesbeschaffenheit zum Rechtsbruch neigen, in viel stärkerem Maße vollzogen, als dieses bisher unter der Herrschaft einer ein¬ seitigen Strafidee der Fall war. Bei der weiteren Behandlung der Vorent¬ würfe ist es vor allem nötig, daß in möglichst weitgehendem Maße der durch psychiatrische und kriminalpsychologische Studien herausgestellte Tatbestand über das Zustandekommen von Straftaten eingehend berücksichtigt wird und als Ma߬ stab bei der Behandlung der Vorentwürfe in dieser Beziehung zur Geltung kommt.

Aus der Gesellschaft für. Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 103

Sitzung vom 1. Dezember 1910.

Herr J. Heller trägt vor über „Vergleichende Morbiditätsstatistik der weiblichen kaufmännischen Angestellten und der Dienstboten44. Die soge¬ nannte „Frauenbewegung“ hat einen vollen Sieg errungen, die meisten Berufe sind der Frau zugängig; jede Volks- und Berufszählung weist die zunehmende „Industrialisierung“ der Frau nach; die letzte statistische Angabe ergibt bereits 972 Millionen berufstätiger Frauen. Freilich die Fülle des Segens, die mit diesem Fortschritt verbunden sein sollte, ist bisher nicht recht zutage getreten. Ernst weisen Volkswirte und Politiker auf die rapide fallende Geburtenzahl hin; betonen Nervenärzte die Zunahme der Nervosität, warnen Hygieniker vor Verschlechterung der Rasse. Selbst die Vertreter der Industrialisierung der Frauen beginnen das Problem: Ehe und Beruf in seiner vollen Bedeutung und Schwierigkeit zu er¬ fassen. Von diesen Gesichtspunkten aus haben Untersuchungen über die Morbidi¬ tätsverhältnisse der berufstätigen Frauen ihren Wert. In meinen 1904 und 1905 erschienenen Arbeiten l) habe ich Vergleiche an gestellt zwischen den Gesundheits¬ verhältnissen der kaufmännischen Angestellten und denen der Dienstboten. Ich wählte die ersteren als Typus eines vorwiegend geistige Arbeit erfordernden Be¬ rufes, dessen Angehörige zahlreich genug sind, um Zufälligkeiten der Statistik auszuschließen und letztere, weil ihre Arbeit die der Hausfrau ist, mit dem einzigen unwesentlichen Unterschiede, daß diese Arbeit für einen fremden Haushalt aus¬ geführt wird.

Ich berücksichtige aus den Zahlen der Krankenkasse des kaufmännischen Verbandes für weibliche Angestellte nur die über 14 Tage Arbeitsunfähigkeit be¬ dingenden Krankheitsfälle, weil diese allein volkswirtschaftlich eine Rolle spielen. Erfahrungsgemäß werden Krankenkassenmitglieder wegen ganz unbedeutender Affektionen 1 2 Wochen „krank geschrieben“. Da aber über 14 Tage dauernde Arbeitsunfähigkeit häufig zu Verlust der Stellung führt, kann man aus dieser langen erzwungenen Untätigkeit auf eine Krankheit schließen, die gesundheitliche Bedeutung hat. Da für die in Privathäusern tätigen Dienstboten eine Morbiditäts¬ statistik fehlt, so nahm ich an, eine Krankheit eines Dienstboten, die zur Kranken¬ hausbehandlung zwingt, ist gleichzusetzen einer über 14 Tage Arbeitsunfähigkeit erfordernden Affektion einer kaufmännischen Angestellten. Für die Dienstboten ergab der Abonnementsverein der Dienstherrschaft für erkrankte Dienstboten die brauchbaren Zahlen. Alle Zahlenreihen bezogen sich auf Groß-Berlin.

Es ergaben sich nun folgende Verhältniszahlen für die drei wichtigsten Krankheitsgruppen (akute Infektionskrankheiten usw. wurden nicht berücksichtigt).

Krankheiten der Atmungsorgane und Tuberkulose und

Influenza .

Nervenkrankheiten .

Krankheiten der Verdauungsorgane und Chlorose, Magen¬ geschwür usw .

Weibl.

Dienstboten kaufm.

Angestellte

6,1 14,4

1,8 6,1

9,6 10,7

7 J. Heller, Eignet sich die Frau gesundheitlich für den kaufmännischen Beruf? Berlin 1904. Hirschwald, II. Auf!., Hamburg 1905.

104 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.

Meine Zahlen wurden vielfach angezweifelt; die Berechtigung meiner Statistik wurde in Abrede gestellt; freilich waren sich alle Beobachter, die über Material verfügten, einig, daß der kaufmännische Beruf große Schädigungen für den weib¬ lichen Organismus bedingt. Man wollte nur durch Anwendung kleiner Mittel (Sitzgelegenheit , Beschränkung der Arbeitszeit , Recht auf Urlaub usw.) diesen Schädigungen entgegenwirken. Ich brauche wohl nicht zu versichern, daß ich als Arzt alle diese „kleinen Mittel“ begrüße, wenn ich auch an ihre Wirksamkeit nicht glaube.

In neuester Zeit ist nun vom kaiserlich statistischen Bureau eine Statistik der Ortskrankenkassen Leipzig und Umgebung herausgegeben, die eine Nach¬ prüfung meiner Angaben gestattet. Das großartige Werk wird sicher noch für viele Fragen der sozialen Medizin von ausschlaggebender Bedeutung sein. Für unsere Frage ist es um so wichtiger, weil es unter Zugrundelegung sehr großer Zahlen die Gesundheitsverhältuisse der weiblichen kaufmännischen Angestellten und der Dienstboten behandelt.

Die Frage erscheint zunächst nicht in dem von mir vertretenen Sinne ge¬ löst, wenn man die Morbiditätszahlen für sich allein betrachtet.

Von 259582 weiblichen Personen (86 Proz. unter 35 Jahre) berichtet die Statistik :

Auf 1000 Personen erkrankten überhaupt (arbeitsunfähig) 418 = 10303 Tage. Es kommen auf diese Erkrankungen 5,32 Todesfälle. Im einzelnen verhalten sich auf 1000 versicherte Standesangehörige berechnet:

Bureau- und Ladenpersonal 275 Fälle

6722 Krankheitstage 3,06 Todesfälle

Dienstmädchen im Gewerbebetrieb 263 Fälle

7744 Krankheitstage 4,81 Todesfälle

Köchinnen 323 Fälle

8932 Krankheitstage 3,40 Todesfälle

Von den Dienstmädchen sind 88 Proz., von dem Bureaupersonal und den Köchinnen 86 Proz. unter 35 Jahre.

Nach dieser Aufstellung ist die Morbidität der Bureaubeamtinnen und des Ladenpersonals weit günstiger als die der Dienstboten. Nun ist aber in der oben skizzierten wirtschaftlich-nationalen Hinsicht die Morbidität als solche von geringer Bedeutung. Außere unbedeutende Erkrankungen, Verletzungen, Rheumatismus können für kürzere Zeit ein Individuum im Sinne des Krankenkassengesetzes arbeitsunfähig machen, ohne die Gesundheit des Kranken wesentlich zu beein¬ trächtigen. Es kommen z. B. folgende Krankheitstage auf 1000 Personen der 3

Kategorien.

Laden- und

Dienst-

Bureau-

mädchen

Köchinnen

Muskel-Rheumatismus .

personal . . 160

i Gew.-Betr. 538

688

Verletzungen .

. . 120

565

647

Unfälle .

. . 10

114

76

Krankheiten der äußeren Bedeckung

. . 130

991

1505

420

2218

2916

Reduziert man die Krankheitstage um diese Zahlen, was man um so eher darf, als nur beim Rheumatismus der Dienstboten 0,05 Todesfälle auf 1000 Personen vermerkt sind, so ergibt sich

Alis der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 105

Bureaupersonal Dienstmädchen Köchinnen

6722—420 = 6302 7744— 2218 = 5526 8934—2916 = 6018

Es verhalten sich demnach für die übrigen Krankheiten die Dienstmädchen und Köchinnen gesundheitlich günstiger als das Bureau- und Ladenpersonal.

Es ist nun von Interesse für die in meiner früheren Arbeit aufgestellten Kategorien von Krankheiten die Zahlen anzugeben. Freilich sind die aus der Leipziger Krankenkassenstatistik gewonnenen nicht ohne weiteres mit meinen zu vergleichen. Ich habe seinerzeit, wie erwähnt, nur die Krankheitsfälle berück¬ sichtigt, die eine über 14 Tage dauernde Arbeitsunfähigkeit bedingten. Ich habe ferner Kritik an den Diagnosen geübt und habe z. B. die über 14 Tage Arbeits¬ unfähigkeit bedingenden Influenzafälle den Lungenerkrankungen zugerechnet. Ferner habe ich die meist bei jungen Frauen auf Magenerkrankung beruhenden oder letztere auslösenden Chlorosen (es handelt sich immer um Fälle, die über 14 Tage Arbeitsunfähigkeit bedingen) den Magenaffektionen zugerechnet. Diese Sichtungen konnten bei der Statistik der Leipziger Ortskrankenkasse nur zum Teil gemacht werden. f

Es muß ferner berücksichtigt werden, daß in der Leipziger Ortskrankenkasse nur Dienstmädchen im Gewerbebetriebe als Pflichtmitglieder versichert sind. Es ist ohne weiteres verständlich, daß der Gesundheitszustand der Dienstmädchen in Gastwirts- und Hotelbetrieben, in Fabriken und gewerblichen Betrieben ungünstiger ist als der jener Dienstboten, die in den Häusern der wohlhabenden Kreise Berlins als Hausangestellte leben. Es darf aber wohl widerspruchslos behauptet werden, daß in Groß-Berlin vorwiegend wohlhabende Familien Dienstboten halten be¬ ziehungsweise die Prämie für die Versicherung beim Abonnementverein für Dienstherrschaften bezahlen.

Für die drei von mir berücksichtigten Hauptgruppen von Krankheiten er¬ geben sich folgende Zahlen bei den versicherungspflichtigen weiblichen Mitgliedern der Leipziger Ortskrankenkasse. Auf 1000 Personen berechnet litten an:

Bureau- u. Laden¬ personal

Dienstmädchen

Köchinnen

Krankheiten des Nervensystems

f 13,1 Fälle

< 418 Tage

{ 0,12 Todesfälle

7,1 Fälle

269 Tage

0,29 Todesfälle

10,3 Fälle

311 Tage

0,0 Todesfall

Kraukheiten der Atmungsorgane und Tuberkulose

\ 32-

I 907- l 0,44 H

Tuberkulose

- 3,3 Fälle

- 279 Tage

- 0,99 Todesf.

Tuberkulose

23,6 + 2X» 883 + 172 Tage 0,68 + 1,02 Todesf.

Tuberkulose

23,3 + 1,9 Fälle' 706 + 108 Tage 0,50 + 0 Todesf.

Krankheiten der

V erdauungsorgane und Blutarmut

f 57,9- | 1059 - l 0,23 H

Blutarmut

-62,1 Fälle

- 1649 Tage

- 0,06 Todesf.

Blutarmut

39,1+22,3 Fälle' 677 + 737 Tage 0,58 0,05 Todesf.

Blutarmut

45,9 + 30^Fäii? 1203 + 983 Tage 0,76 + 0 Todesf.

Von einigem Interesse ist noch die Trennung von Bureau- und Ladenpersonal (auf 1000 Personen).

106 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.

j Bureaupersonal

Ladenpersonal

Nervenkrankheiten

( 14,7 Fälle

x 504 Tage

{ Todesfälle

12,3 Fälle

372 Tage

0,8 Todesfälle

Krankheiten der x4.tmungsorgane und Tuberkulose

{ 30,0 + 4,1 Fälle

870 + 308 Tage { 0,25 + 0,91 Todesfälle

33,2 + 2,8 Fälle

927 + 264 Tage

0,54 + 1,04 Todesfälle

Krankheiten der Verdauungsorgane und Chlorose

( 49.1 + 53,1 Fälle

879 + 1316 Tage ( 0 + 0,08 Todesfälle

62,5 + 67 Fälle

1157 + 1830 Tage

0,36 + 0,05 Todesfälle

Die Tabelle ergibt ein Überwiegen der Nervenkrankheiten und der Tuber¬ kulose bei dem Bureaupersonal, ein Überwiegen der Verdauungs- und Atmungs¬ organkrankheiten bei dem Ladenpersonal.

Von den freiwilligen Mitgliedern der Krankenkasse waren 1181 (885 bis 35 Jahre alt) zum Ladenpersonal gehörend, 3636 (2029 bis 35 Jahre alt) waren Dienst¬ mädchen in Privathäusern. Die Morbidität auf 1000 Standesangehörige be¬ rechnet war:

Ladenpersonal

Dienstboten

Nervenkrankheiten

/ 50.0 Fälle

\ 2835 Tage

25,6 Fälle

1135 Tage

Krankheiten der Atmungs¬ organe und Tuberkulose

( 86,4 + 16,9 Fälle

\ 4000 +1487 Tage

61.1 + 10,5 Fälle

2849 + 611 Tage

Krankheit, d. Verdauungs¬ organe und Chlorose

f 103,3 + 199 Fälle

V 3759 + 6623 Tage

73,2 + 42,9 Fälle

2285 + 1627 Tage

Aus diesen Zahlen sollen nur einige hervorgehoben werden:

Doppelt so viel zum Bureaupersonal gehörende Frauen erkranken an Nerven¬ aff ektionen als Dienstboten (14,7 : 7,0 auf 1000). Auch bei dem freiwillig ver¬ sicherten Ladenpersonal ist die entsprechende Zahl 50 zu 25,6 bei den Dienstboten. Die durch Lungenkrankheiten und Tuberkulosen bedingten Krankheitstage des freiwillig versicherten Ladenpersonals zu der entsprechenden Zahl der Dienstboten verhält sich wie 100:63. Die Zahlen für die durch Verdauungskrankheiten und Chlorose der freiwillig versicherten Ladnerinnen und Dienstboten hervorgerufenen Krankheitsfälle verhalten sich sogar wie 100 : 37,6. Fast doppelt so groß ist die Tuberkulosemorbidität der Bureauangestellten 3,3 wie die der Köchinnen (1,9); sie ist auch um 33 Proz. größer als die der Dienstmädchen.

Die Summe der Krankheitstage des Bureaupersonals, der Dienstboten, der Köchinnen an den drei Krankheitskategorien sind 4312, 2914, 2311. Nimmt man für den Dienstbotenberuf, zu dem doch Köchinnen auch gehören, den Durchschnitt, so ergibt sich 2612, d. h. die Morbidität der kaufmännischen Angestellten verhält sich zu der des Hausgesindes wie 5:3. Für die freiwillig Versicherten betragen dieselben Zahlen etwa 20 : 9.

Es ist zwecklos, auf Einzelheiten einzugehen, da die Statistik, wie oben er¬ wähnt, durch eine Beihe Faktoren beeinflußt wird, die ich in meiner eigenen Arbeit mehr berücksichtigt habe. (Einfluß der kurz dauernden Krankheitsfälle,

Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 107

ungünstiges Material der in Gewerbebetrieben beschäftigten Dienstboten, geringe Brauchbarkeit der Zahlen der freiwillig Versicherten usw.) Die Statistik ergibt aber zweifellos, das gesundheitlich in den drei Krankheitsgruppen, Nervenkrank¬ heiten, Atmungsorgankrankheiten und Tuberkulose, Verdauungsorgankrankheiten und Chlorose, das weibliche Bureau- und Ladenpersonal wesentlich ungünstiger sich verhält als die Dienstboten.

Das Material der Leipziger Ortskrankenkasse hat also die von mir gefundenen Zahlen durchaus bestätigt. Sie hat auch die von mir betonte Zunahme der Morbidität speziell des Nervensystems mit dem zunehmenden Alter ergeben. Es verhalten sich für die Krankheiten des Nervensystems:

Altersklassen Alle Berufe Bureau- und

Kontorpersonal

15—34 0,16 0,20

35—53 0,84 1,01

55—74 3,36 6.33

Daß die hier gegebenen Zahlen sich auf Männer und Frauen beziehen ist für unsere Frage belanglos.

Im Anschluß an die Morbiditätsverhältnisse des weiblichen kaufmännischen Personals und der Dienstboten soll noch einer anderen oft ventilierten Frage ge¬ dacht werden.

Man hat (z. B. Wolf Becher und D. Munter in der Diskussion meines Vortrages) das Eindringen der Frauen in den kaufmännischen Beruf als ein soziales Emporsteigen bezeichnet. Es mag die Richtigkeit dieser Behauptung dahingestellt bleiben. Ob ein Mädchen aus gutem Haus, das eine Reihe von Jahren Erzieherin fremder Kinder gewesen ist, sozial unter einer Stenotypistin steht, erscheint mir zweifelhaft. Eine Köchin, die heiratet, kann z. B. als Frau eines Gastwirts ihre Kenntnisse ebensogut verwerten, wie eine Warenhauskassiererin. Die „soziale Bewertung“ ist ein stets wechselnder Faktor; man denke an die verschiedene Bewertung, die 1860 und 1910 ein Arzt, ein Richter, ein Industrieller gehabt haben. Man hat aber auch als Zeichen des niedrigen moralischen Standes der Dienstboten auf die Häufigkeit der unehelichen Geburten hingewiesen. Es ist ja eine bekannte Tatsache, daß die Dienstmädchen zu der Zahl der unehelichen Mütter einen sehr großen Kontingent steilen. Ich habe aber schon in einer Ver¬ sammlung der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten darauf hingewiesen, daß man aus der Zahl der unehelichen Geburten keinen Schluß auf die Unmoralität machen darf. Hier kann nur der praktizierende Arzt, nicht der Statistiker die Wahrheit kennen. In einem höheren Sinne spricht näm¬ lich eine große Zahl von unehelichen Geburten gerade für die Moralität, d. h. für die Moralität, die in der Austragung eines lebenden Kindes liegt. Es ist ja be¬ kannt, daß nur ein kleiner Teil der Aborten zur ärztlichen Kenntnis kommt. Trotzdem ist die Zahl der Aborte im Verhältnis zur Zahl der Entbindungen ein gewisser Gradmesser.

Die Leipziger Ortskrankenkasse gibt nun einige bemerkenswerte Zahlen.

Es wird über 7852 Köchinnen und 19 840 Dienstmädchen, also 27 692 zum Dienstbotenstande gehörende Personen berichtet, auf die 428 Wochenbette und 91 Aborte kamen. Die Zahl der Aborte verhielt sich zur Zahl der Entbindungen wie 21 : 100 oder wie 1 : 5.

Auf 33 889 zum Bureau- und Kontorpersonal gehörende Frauen kamen 230 Entbindungen und 69 Aborte.

108 Aus <lei’ Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.

Die Zahl der Aborte verhielt sich zur Zahl der Entbindungen wie 30 : 100, oder wie 1:3.

Für das Kontor- und Bureaupersonal sind die Zahlen 34,3:100; für das Ladenpersonal 28,1 : 100.

Man darf wohl annehmen, daß die Zahl der verheirateten versicherungs¬ pflichtigen Mitglieder beider Stände gleich gering ist, daß die Zahl der nicht zur ärztlichen Kenntnis gekommenen Aborte mindestens für beide Stände gleich groß ist. Man kann sogar behaupten, daß die in unabhängiger Stellung befindlichen kaufmännischen weiblichen Angestellten öfter Gelegenheit gehabt haben, bei Aborten auf die Hilfe der Krankenkasse zu verzichten. Man darf wohl auch be¬ tonen, daß eigentlich die größere körperliche Anstrengung gerade die Dienstboten mehr zum Abort disponiert, als das Bureaupersonal. Die Zahlen beweisen aber stringent, daß man aus der Zahl der unehelichen Geburten allein nicht auf die Moralität eines Standes schließen darf.

Allgemeine Schlüsse möchte ich aus dem beigebrachten Material nicht ziehen; zweifellos beweisen die Zahlen der Leipziger Ortskrankenkasse, daß die von mir in meinen früheren Arbeiten gefundenen Morbiditätsziffern keine aus willkürlicher Gruppierung und Sichtung sich ergebende zufällige Werte waren. Selbstverständ¬ lich kann auch die Leipziger Statistik gewisse Einwände nicht widerlegen: zweifellos stammt der größte Teil des weiblichen kaufmännischen Personals aus der Großstadt, des Dienstpersonals aus der Kleinstadt resp. vom Lande. Es soll hier nicht erörtert werden, ob die Großstadtbevölkerung für die konstitutionellen Krankheiten so viel mehr disponiert ist, als die ländliche. Ist es aber der Fall, so sind doch die für die Krankheiten disponierenden Berufe gewiß ungeeignet. Vielfach wurde behauptet, daß sich vorwiegend schwache und zu konstitutionellen Krankheiten disponierte Frauen dem kaufmännischen Beruf zuwenden; statistisch läßt sich die Behauptung natürlich nicht widerlegen. Ich möchte aber betonen, daß die von mir früher gewonnenen Zahlen der Krankenkasse des kaufmännischen Verbandes entstammen; die freie Hilfskasse nimmt nur solche Mitglieder auf, die bei einer vertrauensärztlichen Untersuchung als gesund befunden worden sind. Die allgemeine ärztliche Erfahrung spricht auch dagegen, daß kränkliche Individuen den Kaufmannsberuf ergreifen, und, was noch wichtiger ist, beibehalten. Sie werden aus der großen körperliche Anforderungen stellenden Tätigkeit sehr bald eliminiert.

Wer in der Frau nicht nur ein gewerbstätiges Individuum, sondern die Mutter der nächsten Generation sieht, wird die zunehmende Morbidität der Frauen an konstitutionellen Krankheiten infolge der Industrialisierung als eine für unsere nationale Zukunft hochernste Tatsache ansehen. Ob heute noch Abhilfe geschaffen werden kann, scheint sehr zweifelhaft. Eine gewaltige Flut einzudämmen, nach¬ dem einmal die schützenden Deiche durchstochen und abgetragen sind, geht über Menschenkräfte; niemand vermag heute zu sagen, ob die Heilkräfte, die jeder gesunde Volksorganismus und nur ein solcher kann überhaupt bestehen be¬ sitzt, die angedeuteten Schädigungen überwinden können. Bis dahin kann ver¬ sucht werden, durch die kleinen Mittel der prophylaktischen Hygiene die Schäden für das Individuum nach Möglichkeit zu vermindern. Je wirksamer aber all ♦diese Mittel sind, desto mehr setzten sie die wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit der Frau herab, verringern damit die Löhne und führen neue Schädigungen herbei. Ich glaube, wir müssen offen auf diesem wichtigen Gebiet bekennen: Wir haben die Krankheit erkannt, eine Therapie kennen wir nicht.

Die körperliche Entwicklung der Schuljugend

in Pommern.

Von Professor Dr. Erich Peiper,

Direktor der Kgl. Univers.-Kinderklinik in Greifswald.

1

Im November 1907 richteten die Zentralstelle für Volks Wohl¬ fahrt und der deutsche Verein für ländliche Wohlfahrts- und Heimats¬ pflege eine Eingabe an die Staatsregierungen sämtlicher Bundes¬ staaten betreffend die Unterernährung auf dein Lande und deren Folgeerscheinungen. In dieser Eingabe wurde darauf hingewiesen, daß im Gegensatz zu der Hebung der sozialen Lage der städtischen Arbeiterfamilien und der Besserung in den Ernährungsverhältnissen derselben durch die moderne Entwicklung der Landwirtschaft ein Bückgang in derErnährung und in der körperlichen Entwicklung der ländlichen Bevölkerung sich anbahne. Die erhebliche Zunahme des Geldverkehrs auf dem Lande habe dazu geführt, daß der Land¬ mann zum Nachteil der Befriedigung seines eigenen Bedarfs die Bodenerzeugnisse, Schlachtvieh, Milch und Butter nach den in steter numerischer Zunahme befindlichen Städten verkaufe.

Die „Entmilchung“ des Landes, d. h. der Verkauf der verfüg¬ baren Vollmilch, berücksichtige nicht mehr das Bedürfnis des eigenen Haushaltes, der Genuß gehaltsarmer Magermilch oder minderwertiger Surrogate werde aber durch den jetzigen landwirtschaftlichen Betrieb gefördert. Im Hinblick auf die in der Schweiz gemachten Erfahrungen wird in der Eingabe der Befürchtung Ausdruck ge¬ geben, daß durch den Kückgang kräftiger Milchnahrung auch eine Abnahme der Wehrkraft des deutschen Volkes herbeigeführt werde.

Diese Gefahr muß besonders in den Landesteilen zum Ausdruck kommen, in denen die normale Grundlage für das körperliche und geistige Gedeihen der Kinder fehlt, d. h. die natürliche Ernährung

Archiv für Soziale Hygiene. VII. 8

110

Erich Peiper,

der Säuglinge an der Mutterbrust in mehr oder minder starker Abnahme begriffen ist. Denn hier gerade besteht die hohe Gefahr, daß durch minderwertige Ersatzmittel, die in marktschreierischer Weise als der beste Ersatz der Muttermilch angepriesen wTerden, der Säugling an Leben und Gesundheit schwer geschädigt wird. Die Säuglingssterblichkeit wie die Sterblichkeit der Kinder bis zum 10. Lebens j ahre geht parallel der künstlichen Ernährung.1)

Der Einfluß der minderwertigen Ernährung kommt aber auch weiterhin zum Ausdruck bei dem Musterungsgeschäfte des Heeres. Die Untersuchungen von Prinz in g, der die Tauglichkeitsziffern der Rekrutierungsbezirke der verschiedenen deutschen Armeekorps mit der Säuglingssterblichkeit verglich, haben zur Genüge erwiesen, daß Kindersterblichkeit üb er und Tauglichkeit unter dem Mittel mit überraschender Gesetzmäßigkeit zusammentrifft. Auch v. Vogl kommt in seiner Arbeit „Die wehrpflichtige Jugend Bayerns“ zu dem Ergebnis: „Das Gebiet niederer Tauglichkeit ist in Bayern durch¬ aus eingeschlossen in das der höchsten Kindersterblichkeit. Bezirke mit besonders hoher Tauglichkeit liegen in Bayern im Gebiete der geringsten Kindersterblichkeit.“ Mit diesem Nachweise, wird in der Eingabe hervorgehoben, ist nicht bloß der Zuzamrnenhang zwischen Säuglingssterblichkeit , Still wert und Militärtauglichkeit, sondern auch die unheilvolle Beziehung zwischen Milchmangel und geringer Militärtauglichkeit gegeben.

Sollte es sich tatsächlich ergeben, daß die Volksernährung durch die Entmilchung des Landes und durch andere gleich ver¬ hängnisvolle Einwirkungen auf die Menge und Auswahl der Nahrungs¬ mittel gelitten hat, so sind die in der obigen Eingabe befürchteten Schädigungen der Volksgesundheit in ihrem Einflüsse auf die Wehrkraft unseres Volkes von außerordentlicher Bedeutung.

Diese Ausführungen der Zentralstelle für Volks Wohlfahrt sind der Anlaß zu einem Erlasse des Ministers des Innern und des Ministers der geistlichen-, Unterrichts- und Medizinalan¬ gelegenheiten (M. d. I. II b. 2538. M. d. g. A. M. 9501/07) unter dem 16. Juni 1908 an die Regierungspräsidenten geworden, Er¬ mittelungen anzustellen „über die angeblichen Mängel in der Er¬ nährung auf dem platten Lande infolge der Entziehung von Milch und Butter aus dem ländlichen Haushalte, sowie über die damit

9 Kuzuya, Der Einfluß der Säuglingssterblichkeit auf die Wertigkeit der Überlebenden. München 1910. Inaug.-Diss. aus der Greifswalder Kinderklinik.

Die körperliche Entwicklung der Schuljugend in Pommern.

111

zusammenhängende Herabsetzung der körperlichen Entwicklung der Landbewohner.“

Eine Reihe von Behörden, die Landräte, Kreisärzte etc. insbe-

sondere auch die Ärztekammern sind zu gutachtlichen Äußerungen über die in Rede stehende wichtige Frage aufgefordert worden. Ich habe das Resultat nach den Berichten der Ärztekammern an anderer Stelle1) dahin zusammengefaßt, daß von den Ärzten in allen Provinzen vielfach, wenn auch keineswegs übereinstimmend, eine Abnahme des Milchkonsums auf dem Lande für vorliegend er¬ achtet wird. Zum Teil ist diese Erscheinung schon vor dem Auf¬ schwünge des Molkereibetriebes beobachtet, teilweise ist dieselbe anscheinend durch die Molkereien gefördert worden. An Stelle der Milch kommen oft minderwertige Surrogate im Haushalte zur Verwendung. Nur vereinzelt erscheint aber die Milchbeschaffung erschwert zu sein.

„Vergnügungssucht, Putzsucht, Alkohol- und Tabakmißbrauch, frühzeitige schwere Arbeit der Kinder, der Wegzug der kräftigen Leute nach den Städten oder industriellen Zentren, schlechte Er¬ nährung und Überarbeitung des weiblichen Geschlechtes werden neben der minderwertigen Ernährung als Gründe für die auf dem Lande, wenn auch nicht überall, so doch vielfach beobachtete Unterernährung und für das Zurückgehen der körperlichen Ent¬ wicklung geltend gemacht.“ x)

Es ist ungemein schwer, sich ohne statistisches Grundmaterial nur nach persönlichen Anschauungen oder gelegentlichen Beobach¬ tungen über diese für die Volksgesundheit so überaus wichtige Frage gutachtlich zu äußern. Wir Ärzte werden überhaupt kaum in die Lage kommen, die rein wirtschaftliche Seite der Frage, ob eine Entmilchung des Landes, im Sinne der Entziehung der für den Haushalt notwendigen Kuhmilch, eingetreten ist oder einzutreten droht, richtig beurteilen zu können. Vom ärztlichen Standpunkte aus sind wir aber recht wohl in der Lage, der wichtigen Frage näher zu treten: Ist im Säuglingsalter , zu derjenigen Zeit also, wo durch eine richtige Ernährung die Grundlagen für Gesundheit und Kraft der Menschen gelegt werden, die Säuglingsernährung und Pflege so beschaffen, daß eine Gefährdung der A^olksgesundheit nicht zu befürchten ist? Die Beantwortung muß hervorgehen aus der Feststellung des Stillwertes sowie derjenigen Maßnahmen, welche die Bevölkerung eines bestimmten Gebietes für eine rich-

3) Concordia Nr. 1, 1911.

8*

112

Erich Peiper

tige Kindespflege trifft. Auch die zweite Frage, ob eine Unterer¬ nährung tatsächlich eingetreten und zu einem Rückgänge der körperlichen Entwicklung geführt hat, läßt sich nur an der Hand eines größeren, nach bestimmten Gesichtspunkten hin gewonnenen Materials, der Entscheidung näher bringen.

Als geignetes Arbeitsfeld wählte ich mir die Provinz Pommern. Dank der arbeitsfreudigen Mitarbeit der pommerschen Impfärzte nur 4 Kreise schlossen sich aus gelang es, den Stillwert der einzelnen Kreise der Provinz Pommern festzustellen. Das Ver¬ fahren, den Stillwert durch Befragen der Mütter bei den Impfter¬ minen festzustellen, ist ohne Zweifel ein brauchbares. Fehlerquellen begegnen wir freilich auch hier und zwar besonders in den Ortschaften und Kreisen, wo hohe Säuglingssterblichkeit viele Opfer fordert. Da die Mütter der dahingerafften Kinder nicht befragt werden können, erscheint der Stillwert in Kreisen mit hoher Säuglings¬ sterblichkeit dementsprechend relativ höher, als dort, wo in Folge geringeren Sterbens fast alle Mütter bei den Impfterminen erscheinen.

Im ganzen wurden im Sommer 1909 auf den Stillwert 12317 Säuglinge untersucht. Es erhielten im Bezirk Stettin (ohne Stadt¬ kreis Stettin) von 5448 Säuglingen 60,9 Proz., im Bezirk Köslin von 4671 Kindern 77,4 und im Bezirk Stralsund von 2198 Säug¬ lingen 57,7 Proz. die Mutterbrust. Im Bezirk Stettin und Stral¬ sund mit hoher Säuglingssterblichkeit (24,6 bezw. 22,8 Proz.) ist die Zahl der nichtstillenden Mütter fast doppelt so groß als im Bezirk Köslin, wo die Säuglingssterblichkeit eine wesentlich geringere, nämlich nur 17,2 Proz. beträgt.

Die nachfolgende Tabelle ergibt den Stillwert der einzelnen Kreise. In denjenigen Kreisen, in welchen die Höhe des Zahlen¬ materials einen Vergleich des Still wertes in Stadt und Land zuließ, wird derselbe für Stadt und Land noch gesondert angeführt.

(Tabelle siehe nächste Seite.)

In denjenigen Kreisen Pommerns, in welchen die natürliche Ernährung an der Mutterbrust eine verbreitete ist, zeigt die Säug¬ lingssterblichkeit einen wesentlich tieferen Stand als in den Kreisen, in welchen der Stillwert ein geringer ist. An anderer Stelle1) habe ich des weiteren darauf hingewiesen, daß die Abnahme der natürlichen Ernährung Hand in Hand geht mit einer Verminderung der Stilldauer. In denjenigen Kreisen der Provinz, in denen noch

9 Peiper-Pauli, Die Säuglingssterblichkeit in Pommern, ihre Ursachen und ihre Bekämpfung. Klinisches Jahrbuch, XXIII. Bd.

Die körperliche Entwicklung der Schuljugend in Pommern.

113

Von 100 Erstimpflingen hatten im Sommer 1909 erhalten:

Kreis

Brust

in Stadt

Flasche

u. Land

Bn

Stadt

ist

Land

Säugling keit !

Stadt

ssterblich- L 901/05

Land

Demmin

75,3

Bezirk

24,7

Stettin :

25,7

21,1

Anclam

57,1

42,8

27,8

21,5

Usedom

23,4

23,3

Ueckermünde

56,8

43,1

27,9

25,4

Bandow

55,3

44,7

26,2

28,2

Stettin

27,8

Greifenhagen

54,6

45,4

62,0

51,8 9

25,9

26,1

Pyritz

68,5

31,5

64,3

69,7

27,0

24,1

Saatzig

55,3

44,7

64,3

60,0 b

22,4

18,3

Naugard

61,0

39,0

22,3

22,2

17,9

Kammin

63,8

36,2

19,8

Greifenberg

68,2

31,3

68,7

69,0

24,3

19,7

Begenwalde

85,1

14,9

92,3

83,2 b

20,3

15,6

Schivelbein

Bezirk

Köslin:

19,5

14,6

Dramburg

76,6

23,4

19,4

15,2

Neustettin

80,5

19,5

74,8

81,9

21,1

21,6

14,2

Belgard

83.4

16,6

77,1

73,3

87,8

16.3

Kolb erg

71,9

28,1

68,8 b

23,5

16,7

Köslin

59,8

40,2

20,9

18,7

Bublitz

77,8

22,2

76,9

78,0

21,7

15,8

Schlawe

21,4

16,7

Bummelsburg

82,2

17,8

16,2

14,6

Stolp

76,0

24,0

70,0

82,8

20,9

16,4

Lauenburg

83,2

16,8

77,6

84,3

19,9

14,5

Biitow

86,0

14,0

18,9

15,8

Bügen

57,4

Bezirk S 42,6

tralsund :

61,4

54,5 b

22,8

20,5

24,1

Stralsund

78,5

21,4

58,0

63,3

Franzburg

58,1

41.8

23,2

21,9

26,3

Greifswald

67,0

33,0

70,7

63,2 b

21,2

25,7

Grimmen

29,8

70,2

23,8

9 Der Stillwert ist anf dem Lande geringer als in der Stadt.

im letzten Quartal des 1. Lebensjahres die Mutterbrusternährung einen hohen Stand zeigt, ist die Säuglingssterblichkeit eine niedrige. Kreise mit kurzer Stilldauer zeigen hohe Säuglingssterblichkeit.

Im allgemeinen hat in der Stadtbevölkerung die Ausbreitung der natürlichen Ernährung an Umfang erheblicher abgenommen als auf dem Lande. Jedoch ist schon in den Kreisen Greifenhagen, Regenwalde, Saatzig, Rügen und Greifswald auf dem Lande ein Tiefstand der natürlichen Ernährung gegenüber den Stadtgemein-

114 Erich Peiper,

den bemerkbar. Gleichzeitig ist die Stilldauer in diesen Kreisen wesentlich verkürzt.

Eine Kundfrage, welche ich betreffs der Säuglingsernährung und anderer diesbezüglichen Fragen an die Ärzte der Provinz richtete, ergibt zur Evidenz, daß nicht die Stillfähigkeit sondern die Stillhäufigkeit abgenommen hat.

Es war bei der Durchsicht der Stilllisten besonders auffällig der Umstand, daß sehr oft in einzelnen Ortschaften desselben Kreises die Ausbreitung einer bestimmten Ernährungsart die ab¬ solut vorherrschende war, während in benachbarten die entgegen¬ gesetzte Kinderernährung sich weit verbreitet zeigte. Derartige ganz auffällige Unterschiede lassen sich nicht durch Kasseneigen¬ tümlichkeiten der Bevölkerung, nicht durch etwaige degenerative Pro¬ zesse in der Drüsenentwicklung der weiblichen Brustdrüse, sondern nur durch das Vorhandensein bestimmter örtlicher Einflüsse, tradi¬ tioneller Anschauungen und Gewohnheiten, vor allem durch das Vor¬ handensein oder Fehlen sachkundiger Beratung in Fragen der Kinderernährung erklären.

Das Daniederliegen der Kenntnisse der Grundgesetze der Kindes¬ ernährung und Pflege, im besonderen der Stilltechnik, die Unkennt¬ nis des Wertes der Mutterbrusternährung, die Gleichstellung oder geradezu Überschätzung der Flaschenkost, die Reklame, welche mit den künstlichen Nährmittelfabrikaten getrieben wird, unzweck¬ mäßige Beratung durch Unerfahrene werden zumeist als Ursache des Rückganges der natürlichen Ernährung angegeben. Hinzu kommt der Mangel an Pflichtgefühl und die Gleichgültigkeit vieler Mütter, die, wie es in der Antwort eines Arztes heißt, „lieber ihre Kinder umkommen lassen, als ihnen die Brust zu geben“. Ge¬ nußsucht, Bequemlichkeit und Faulheit werden als die landläufigen Ursachen für die geradezu epidemische Ausbreitung der künstlichen

Ernährung angeführt.

übereinstimmend wird von den Ärzten, die sich über diese Frage geäußert haben, angegeben, daß nicht die Betätigung in landwirt¬ schaftlichen oder industriellen Betrieben die Mütter von der Brust¬ ernährung abhält, sondern die Überschätzung der mit vielen Zeug¬ nissen versehenen Kindermehle als „bester Ersatz der Muttermilch,“ die bequeme Gummischlauchflasche, welche mit einem halben oder ganzen Liter Kuhmilch zum beliebigen Gebrauch dem Säuglinge in den Mund gesteckt wird, wie die völlige Unkenntnis der Grundsätze einer geordneten Kinderpflege. Nicht der Mangel an Kuh¬ milch, sondern das hohe Vertrauen, welches die Pro-

Die körperliche Entwicklung der Schuljugend in Pommern.

115

dukte der Molkereien bei der Bevölkerung genießen, sind ganz allgemein die Ursache des Bück ganges der Brusternährung, der damit verbundenen hohen Säug¬ lingssterblichkeit, derVerschlechterungdes Gesund¬ heitszustandes und der geringeren Widerstands¬ fähigkeit unserer Kinderwelt gegenüber krank¬ machenden Einflüssen.

Gebiete mit hoher Säuglingssterblichkeit zeigen auch in den nächstfolgenden Jahren eine höhere Lebensbedrohung als nach den allgemeinen gesundheitlichen Verhältnissen zu erwarten wäre. Unter Anderen hat Kuzuya den Einfluß der Säuglingssterb¬ lichkeit auf die körperliche Wertigkeit der Überlebenden unter Berücksichtigung der Wanderungen in den einzelnen preußischen Provinzen während der Jahre 1881 1890 bis zum 15. Lebensjahre hin verfolgt. Wir stellen aus den dortigen Tabellen die Säuglings¬ und Kindersterblichkeit aus 3 bezüglich der Sterblichkeit un¬ günstigen Provinzen gegenüber 3 Provinzen mit niederer Säug¬ lingssterblichkeit.

Von 1000 Lebendgeborenen starben im:

2.

3.

5. 6

7.

8. 9.

10.

11. 12. 13.14.115.

Lebensjahre

Provinzen mit hoher Säuglingssterblichkeit:

in Ostpreußen Westpreußen

Pommern

Knaben

246,9

83,4

48,5

32,9

24,4

15,1

11,3

8,7

6,9

4,9

4,4

3,6

3,5

3,2

Mädchen

219,8

80,8

46,2

32,7

23,6

15,8

11,2

8,4

6,5

5,4

4,4

3,6

3,9

3,6

Knaben

255,9

69,2

38,0

27,2

18,7

12.8

9,4 6,4

5,5

4,5

3,7

3,0

3,0

2,6

Mädchen

224,6

67,4

36,5

25,9

19,5

12,7

9,5

7,2

5,6

4,7

4,0

3,7

3,2

3,2

Knaben

228,0

59,5

31,4

29,1

19,3

12,610,1

7,7

5,4

4,3

4,0

3,4

3,0

3,2

Mädchen

199,5

58,2

30,2

27,1

17,6

12,9 10,4 1

7,4

6,1

4,7

4,1

3,7

3,2

3,3

3,4

3,3

2,9

3,0

2,4

3,3

Provinzen mit geringer Säuglingssterblichkeit:

Schleswig-Holstein

Hannover Westfalen

Knaben

171,6

44,7

20.5

15,1

11,8

9,0

7,5

5,8

4,6

3,8

2,9

2,9

2,5

2,2

Mädchen

147,2

43,4

21,2

14,5

11,2

9J

7,1

6,4

4,5

3,5

3,1

2,7

2,7

2,8

Knaben

166,9

53,3

26,1

16,8

12,7

9,3

7,2

5,6

4,4

3,6

3,0

3,1

2,3

2,3

Mädchen

141,0

51,9

26,5

17,1

12,6

9,3

7,5

5,5

5,0

3,6

3,1

3,0

2,9

3,0

Knaben

163,8

62,2

30,5

19,4

13,9

9,8

7,0

5,4

4,2

3,6

3,2

2,9

2,7

2,5

Mädchen

139,3

59,7

30,8

20,0

14,1

10,0

7.6

9,7

4,6

4,1

3,5

3,2

3,3

3,4

2,4

2,4

2,6

3,0

3,2

3,6

Es ist von vornherein wenig wahrscheinlich, daß ein Volk bei hoher Säuglingssterblichkeit im Nachwuchs dadurch gesünder und kräftiger wird, daß im ersten Lebensjahre ein erheblicher Teil der

116

Erich Peiper,

Schwächlinge den Säuglingskrankheiten zum Opfer fällt. Die obigen Zahlen lehren zur Genüge, daß die durch die allgemeinen ungünstigen Gesundheitsverhältnisse gelichteten Reihen der Säug¬ linge auch in den nachfolgenden Lebensjahren noch weiter dezimiert werden trotz besserer Gesundheitsbedingungen und trotz der schär¬ feren Auslese. Die häufigste Säuglingskrankheit, die durch die unnatürliche Ernährung zumeist mit Kuhmilch oder Mehlpräparaten hervorgerufenen Verdauungs- und Ernährungsstörungen, tötet nicht nur die schwächlichen Kinder, auch die anscheinend gesündesten und kräftigsten sterben dahin oder erleiden eine Einbuße an ihrer Gesundheit, Nach den interessanten Untersuchungen des Landrates Ra de mach er im Kreise Westerburg starben

im ersten im zweiten

Lebensjahre

von den mit Muttermilch ernährten n » ohne

8,53 Proz. 2,77 Proz.

20,04 5,52

Auch Ko epp e1) kommt in seinen Untersuchungen zu dem Schluß, daß schon früh im 1. Lebensjahre einsetzende Fürsorge im 2. und 3. Le¬ bensjahre sich segensreich bemerkbar macht und reiche Zinsen an der Gesundheit und im Wohlergehen in Aussicht stellt. Bis zum 10. Lebensjahre und selbst darüber hinaus ist die Zahl der den Kinder¬ krankheiten zum Opfer fallenden Kinder in den Provinzen mit hoher Säuglingssterblichkeit eine höhere als in den Gebieten, wo im ersten Lebensjahre durch richtige Ernährung und Pflege die Grundlagen für spätere Kraft und Gesundheit gelegt werden.

Bahnt sich tatsächlich, wie in der eingangs erwähnten Denk¬ schrift behauptet wird, ein Rückgang der körperlichen Entwicklung insbesondere der ländlichen Bevölkerung an, so liegt in erster Linie die Ursache in der falschen Ernährung im Säuglingsalter, die geradezu epidemisch verbreitet ist. Wie maßgebend für die ganze körperliche Entwicklung die im Säuglingsalter durchgeführte Ernährung ist, lehren in unzweideutiger Weise die Untersuchungen Rußow’s 2) an Petersburger Kindern. In der nachfolgenden Tabelle bedeutet A natürliche Ernährung B. Flaschenkost. Am Schlüsse wogen durchschnittlich :

x) Koeppe, Säuglingsmortalität und Auslese im Darwinschen Sinne. Münch, med. Woch., Nr. 32, 1905 und Nr. 5, 1906.

2) Jahrbuch für Kinderheilkunde Bd. XVI, S. 86

Die körperliche Entwicklung: der Schuljugend in Pommern.

117

im

1.

Jahre

A.

Kinder

9,9

kg

Körperlänge 75

cm

B.

55

7,4

55

66

55

im

2.

Jahre

A.

55

11,1

55

83

55

B.

55

8,6

55

75

55

im

3.

Jahre

A.

55

12,6

55

89

55

B.

55

10,5

55

83

55

im

4.

Jahre

A.

55

14,2

55

93

55

B.

55

12

y,

87

55

im

5.

Jahre

A.

55

15,3

55

100

55

B.

55

13,4

55

98

55

im

6.

Jahre

A.

55

17

55

106

55

B.

55

15,7

55

102

55

im

7.

Jahre

A.

n

18,2

55

110

55

B.

55

15,9

55

105

55

im

8.

Jahre

A.

55

20,7

y

116

55

B.

55

18,3

55

H3

55

Die Grundlage für eine gute körperliche Entwicklung wird in die Schule mitgebracht und erhält sich hier trotz des Ein¬ flusses der Schule.

Der günstige Einfluß der natürlichen Ernährung auf die Kör¬ perkonstitution des späteren Kindesalters muß sich statistisch zum Ausdruck bringen lassen durch einen Vergleich der körperlichen Wertigkeit der Schulkinder aus Bezirken und Kreisen mit hohem Stillwert gegenüber solchen Gebieten, in welchen die unnatürliche Ernährung im Säuglingsalter vorherrscht. Fast aus allen Kreisen Pommerns war mir der Stillwert dorfweise bekannt. Ich suchte bei den Kegierungspräsidenten der drei pommerschen Begierungs- bezirke die Erlaubnis nach, die Normalmaße der Körperkonstitution : Körpergewicht, Länge und Brustumfang durch die Lehrerschaft be¬ stimmen lassen zu dürfen. Mit ministerieller Genehmigung wurde mir dieselbe erteilt.

Das wissenschaftlich interessante und praktisch wichtige Ge¬ biet der Körperkonstitutionsstatistik ist noch keineswegs erschlossen. Für vergleichende Untersuchungen fehlt vor allem eine einheitliche Methodik, Vornahme einer ausreichenden Zahl von Nacktwägungen, jährliche Wiederholung der Wägungen bei denselben Kindern, Be¬ rücksichtigung der Ernährung, wie der sozialen und wirtschaft¬ lichen Verhältnisse.

Bei den nachstehenden Untersuchungen kam es darauf an, die körperliche Wertigkeit einer größeren Beilie von Schulknaben aus Kreisen mit geringer Säuglingssterblichkeit der Schuljugend aus

118

Erich Peiper,

Kreisen mit hoher Säuglingssterblichkeit gegenüberzustellen. Die Resultate der Körpermessungen aus den Kreisen des Bezirkes Köslin mit der geringsten Säuglingssterblichkeit sollten sodann mit den diesbezüglichen Untersuchungen aus den ungünstigsten Kreisen des Bezirkes Stettin (Demmin,Anklam, Ueckermünde, Stettin, Randow. Greifenhagen) und den annährend ebensowenig günstigen vorpommer- schen Kreisen (Rügen, Stralsund, Franzburg, Greifswald, Grimmen) zum Vergleich gebracht werden.

Im Bezirke Köslin hatte auf meine Veranlassung mit Geneh¬ migung der Vorgesetzten Behörden die Lehrerschaft im Sommer 1910 Körpermessungen aber, nur bei 7 und 12jährigen Knaben vorgenommen, deren Resultate ich an anderer Stelle x) veröffentlicht habe. Die damals erhaltenen Resultate stimmen annährend mit den im Jahre 1911 erhaltenen überein. Die vorjährigen Unter¬ suchungen waren jedoch der Anlaß zu der Bitte, die Zeitbestimmung für die Messungen in eine genau begrenzte Zeit, auf den 22. 27. Mai zu legen, die Altersbestimmung nach Geburtstagen wie eine genaue Bestimmung des Durchschnittsgewichtes der Kleider bei den diesjährigen Messungen besonders zu beachten.

Nach Schmid-Monnard erfolgt die Gewichtszunahme aus¬ schließlich in den Monaten August bis Oktober, während sie vom Februar bis Ende Juni fast stillsteht. Es schien daher zweck¬ mäßig, die Durchführung der Messungen in den Mai zu legen. Für die Altersbestimmung wurde die Bezeichnung zwischen 6—7 Ge¬ burtstage usw. gemacht, um möglichst sorgfältig die einzelnen Altersklassen von einander zu trennen. Schließlich wurden die einzelnen Untersucher gebeten, bei je 3 Schulknaben das Gewicht von Hemd und Hose, mit denen die Knaben bei den Wägungen bekleidet waren, zu bestimmen. Auf diesem Wege war es möglich, das Durchschnittsgewicht dieser Kleidungsstücke bei mehreren Tausend Schulknaben, die im Alter von 6, 10 und 12 Jahren standen, zu gewinnen. Es war notwendig, diesen WTeg einzuschlagen, da ausdrücklich bestimmt worden war, Nacktwägungen, ebenso Wägungen bei Mädchen, möglichst zu vermeiden.

Die vorliegenden Resultate der Wägungen des Kleidergewichtes, die ich hierorts noch durch zahlreiche Nachwägungen kontrolliert habe, ergaben, daß das durchschnittliche Kleidergewicht im 7. Lebens¬ jahre rund 500,0, im 10. Lebensjahre 650,0, im 12. Lebensjahre

9 Ein Beitrag zur Frage der körperlichen Entwicklung der Schuljugend. Zeitschr. der Zentrale für Volks Wohlfahrt „Concordia“, Nr. 1, 1911.

Die körperliche Entwicklung“ der Schuljugend in Pommern.

119

750,0, im 13. und 14. Lebensjahre zwischen 800,0 bis 900,0 betrug. Um eine einheitliche Gewichtsskala durchzuführen, habe ich 'vom 7. Jahre aufwärts das Gewicht von Hose und Hemd von Jahr zu Jahr um 50 g zunehmen lassen und von den erhaltenen Körper¬ gewichten abgezogen. Dieses Vorgehen war nicht zu vermeiden, da Nacktwägungen , die allein die Fehlerquellen nach dieser Kichtung hin ausschließen, ausgeschlossen waren.

Für die Ausführung der Messungen habe ich folgende An¬ leitung jeder Liste beigelegt.

Anleitung

zur Vornahme der Körperwägungen und Messungen an Schulknaben.

1. Die Wägungen sind auf einer Dezimal- oder Brückenwage auszu¬ führen, Schuhe und Strümpfe sind auszuziehen. Die Knaben sind mit Hemd und Hose bekleidet. Die Hosentaschen sind zu entleeren.

Die Messungen sind möglichst auf die Turnstunden in die Zeit zwischen dem 22.-27. Mai zu legen.

Das Gewicht ist in Grammen anzugeben.

Wünschenswert ist die Bestimmung des Gewichts von Hemd und Hose (leere Tasche) bei einem Knaben von 6, 10 und 12 Jahren.

2. Die Bestimmung der Körperlänge geschieht ebenfalls ohne Schuhe und Strümpfe. Die Länge ist durch ein am Türpfosten befestigtes Zentimetermaß zu bestimmen.

3. Der Brustumfang wird mit einem Zentimetermaße auf entblößtem Ober¬ körper, in der Höhe der Brustwarze bei mittelstarker Atmung, horizontal seitwärts gehobenen Armen bestimmt. Das Maßband ist mittelstark anzuziehen. Es ist zu achten, daß dasselbe horizontal liegt.

Die Atmungsphase ist nicht berücksichtigt worden, weil es, wie auch Lands¬ berger betont, im Kindesalter unzweckmäßig ist, durch das Kommando des Ein- und Ausatmens die Aufmerksamkeit der Kinder anzuspannen.

Die Anfang Mai 1911 versandten Listen kamen Ende Mai und Anfang Juni zurück. 42528 Scliulknaben sind untersucht worden und zwar

im Bezirk Stettin Köslin Stralsund

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Die Listen trugen folgenden vorgedruckten Kopf:

Welche Betätigung der Bevölkerung liegt vor? Landwirtschaftlich . . . . Industriell .... Dorf . Kreis . Bezirk .

Die Messungen beziehen sich auf Knaben, welche standen zwischen dem 6. 7. Geburtstage 7. 8. Geburtstage usw. 13. 14. Geburtstage

Gewicht Länge Umfang Gewicht Länge Umfang Gewicht Länge Umfang

120

Erich Peiper,

In den einzelnen Kreisen wurden untersucht:

Bezirk Stettin.

Stadt Land

Demmin

1202

Demmin

466

Anclam

215

Anclam

328

Ueckermünde

240

Ueckermünde

970

Stettin

746

Randow

1354

Greifenhagen

716

Greifenhagen

230

Summa:

3119

Summa

: 3348

Bezirk

Köslin:

Schivelbein

224

Schivelbein

868

Dramburg

582

Dramburg

1234

Neustettin

1230

Neustettin

3205

Belgard

78

Belgard

1784

Kolberg

1646

Kolberg

2289

Köslin

713

Köslin

1360

Bublitz

240

Bublitz

1027

Schlawe

831

Schlawe

2678

Rummelsburg

436

Rummelsburg

1549

Stolp

2059

Stolp

2982

Lauenburg

297

Lauenburg

1495

Bütow

323

Bütow

1276

Summa :

8659

Summa :

21747

Bezirk Stralsund:

Rügen

368

Rügen

664

Stralsund

333

Franzburg

788

Franzburg

195

Greifswald

928

Greifswald

1170

Grimmen

859

Grimmen

350

Summa

: 3239

Summa :

2416

Demnach wurden in den Städten bei 14194, auf dem Lande bei 283B4 Knaben die Körperkonstitution nach Gewicht, Länge und Brustumfang bestimmt. Soweit mir bekannt, ist das vorlie¬ gende Material das reichste, welches bisher zur Verwertung kam. Es ist mir mehr wie eine Pflicht, wenn ich an dieser Stelle der Lehrerschaft Pommerns für ihre unendliche Mühe besonders aber auch für die Sorgfalt, welche von ihr auf die Messungen verwandt wurde, meinen herzlichen Dank auszusprechen. Die Messungen haben den Untersuchern eine unendliche Zeit und Mühe gekostet.

Die nachstehenden Tabellen geben eine Übersicht über die in den einzelnen Kreisen vorgenommenen Messungen.

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Die körperliche Entwicklung der Schuljugend in Pommern. 121

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Fortsetzung der Tabelle

122

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Die körperliche Entwicklung der Schuljugend in Pommern.

125

Sämtliche Messungen betreffen nur Schüler der Volksschulen. Sie lassen sich daher nicht ohne weiteres vergleichen mit den sonst in der Literatur niedergelegten Resultaten, welche Kinder aus den verschiedensten Volkskreisen aus dem Westen oder Osten, oder bei verschiedenen Volksrassen betreffen. Bekannt ist, daß die Pommern ein kräftiger Menschenschlag sind. Die pommersche Bevölkerung ist wohl durchwegs, etwa abgesehen vom Kreise Bütow mit einer polnischen Beimengung, eine rein deutsche.

Auf die physiologischen Eigenarten der Wachstumsverhältnisse soll später eingegangen werden. Hier seien nur folgende allgemeine Daten hervorgehoben.

Das Durchschnittsgewicht der zwischen dem 7.— 14. Jahre stehenden Knaben aus Stadt und Land steht

im 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. Jahre

iu Pommern auf 19,02 20,93 22,88 24,95 26,47 29,59 32,38 35,40 kg

während andere Autoren Qu et eiet, Beneke, Landois u. A. höhere Werte angeben, so

Qu et eiet 19,10 20,76 22,65 24,52 27,10 29,82 34,38 38,76 kg

Beneke 19,70 21,70 23,50 25,50 27,50 36,00 33,00 37,50

Landois 20,16 22,26 24,09 26,12 27,85 31,00 35,32 40,50

Nach Stadt und Land getrennt beträgt das Gewicht der Schul¬ knaben in Pommern

Stadt 18,87 20,53 22,30 24,60 26,75 29,32 32,30 35,29

Land 19,13 21,12 23J6 25,13 26,84 29,93 32,40 35,46

Das Gewicht der Schulknaben steht den von Quetelet er¬ haltenen Werten aus der belgischen Bevölkerung am nächsten. Das stärkere Gewicht der Landknaben ist ohne Zweifel abhängig von den günstigeren alimentären und hygienischen Bedingungen unter denen die Landbevölkerung aufwächst. Dieselben sind schon im ersten Lebensjahre bezüglich der Säuglingsernährung, wie wir oben dargetan haben, im allgemeinen bessere als in den Stadtgemeinden. Es bestehen in den Wohnungsverhältnissen, in der körperlichen Beschäftigung , in der Mitarbeit bei landwirtschaftlichen Ver¬ richtungen, besonders aber in dem stetigen oder doch längeren Aufenthalte in der freien Luft, bei der Arbeit, auf den Schulwegen und beim Spiel, in der Ungebundenheit des Landlebens, wesentlich günstigere sanitäre Verhältnisse als in der Stadt. Sie kommen zum Ausdruck in der besseren körperlichen Entwicklung.

Die von Schmidt-Monnard hervorgehobenen Schwankungen

in der Gewichtszunahme während der Schulzeit treten auch in

9

Archiv für Soziale Hygiene. VII.

126

Erich Peiper,

unseren Untersuchungen hervor. Nach Schmid t-Monnard er¬ folgt , vielleicht infolge des einsetzenden Schulunterrichtes , im 7. Lebensjahre die geringste Gewichtszunahme mit 1,5 kg. In runden Zahlen angegeben beträgt die Gewichtszunahme der Hal¬ lenser Schulkinder nach

Schmidt-Monnard

im 6. 7.

7.-8.

8.-9.

9.— 10.

10.— 11.

11.— 12.

12.— 13.

13. 14. Jahre

1,5

2,9

2,0

2,0

2,3

2,7

2,8

4,6

Pom- fStadt

1,7

1,7

2,3

2,1

2,5

3,0

3,0

mern \Land

2,0

2,0

2,0

1,7

2,9

2,7

3,0

Die größere Kraftentwicklung, die bei den Hallenser Kindern nach dem 10. Lebensjahre deutlich im Gewicht zum Ausdruck kommt, tritt bei den pommerschen Knaben ebenfalls hervor, ist aber im 14. Lebensjahre noch nicht so erheblich, w7ie in Halle vorhanden.

Mit der Körpergewichtszunahme hält annähernd gleichen Schritt die Zunahme der Körperlänge

Körperlänge in Zentimetern: im 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. Jahre

Quetelet 110,4 116,2 121,8 127,3 132,5 137,5 142,3 146,9

Schmidt-Monnard 115,9 119,5 123,8 127,8 132,9 137,8 142,0 147,3

Camerer 115 120 125 130 135 140 145 ' 151

Pommern-Stadt 112,8 116,8 121,2 126 131,2 135,2 141,0 145,8

Land 112,1 117 122,1 126,8 131,4 136,2 140,3 145,6

Unsere Ziffern nähern sich den von Quetelet für gische Bevölkerung angegebenen.

Wesentliche Differenzen bestehen gegenüber den Zahlen Camerer’s. Das Verhältnis zwischen Körpergewicht und Körper¬ länge wird nach Cartier durch einen Bruch ausgedrückt, dessen Zähler das Gewicht, dessen Nenner die Länge ist. Es kommen, auf 1 cm Länge nach

im 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. Jahre

Schmidt-Monnard 171g 180 g 190 g 201g 209 g 221g 237 g 260 g

Pommern-Stadt 167 177 181 195 203 217 231 243

Land 170 180 189 198 204 219 233 248

Jährlicher Zuwachs d. Körper¬ länge

4,5 cm 3,9

4,5

4.1

4.2

die bel-

l) Nach Fertigstellung des Manuskriptes ist mir vom Kreisarzt Dr. Ascher in Hamm (Westf.) eine sehr interessante Arbeit „Über das Messen und Wägen der Schulkinder“ im Kreise Hamm zugegangen. Ascher hat in seinem Wirkungs¬ kreise ebenfalls Messungen bei Schulkindern vornehmen lassen und auf Grund der-

Die körperliche Entwicklung' der Schuljugend in Pommern. 127

Jahr:

6.-7.

7.-8.

8.-9.

9.— 10.

10.— 11.

11.— 12.

12.— 13.

13.— 14

1

Stettin

18,45

20,90

22,57

25,67

26,92

28,94

33,06

34,22

Stadt

Köslin

18,26

20,53

22,81

26,06

27,07

28,94

32,20

35,03

1

Stralsund

18,25

20,90

23,30

26,06

27,19

28,54

32,62

34,36

i

Stettin

18,04

20,53

22,69

25,67

26,92

29,21

32,91

34,22

Land l

Köslin

18,92

21,35

23,05

25,93

27,19

29,61

33,49

34,64

\

Stralsund

18,37

21,35

22,93

25,67

27,55

29,21

33,35

34,18

Pom- (

Stadt und

mern \

Land

18,59

21,00

22,81

25,80

27,06

29,13

33,35

34,50

Kreis Hamm

19,80

21,80

24,00

26,00

27,40

3068

34,42

37,13

Der Vergleich der einzelnen Zahlenreihen ergibt, daß die körperliche Wertig¬ keit der Schuljugend in den Volksschulen in Pommern hinter der der schulpflichtigen Knaben aus dem Kreise Hamm zurücksteht. Wie weit diese Differenzen sich durch Rasse, Säuglingsernährung, wirtschaftliche Lage der Eltern usw. erklären lassen, bleibt dahingestellt.

Unsere Werte nähern sich demnach den von Qu et eiet ange¬ gebenen. Das Verhältnis des Körpergewichtes zur Körperlänge nimmt mit dieser zu, bleibt aber bei den pommerschen Schulknaben hinter den sonstigen Angaben zurück.

selben eine Tabelle aufgestellt, in der er fiir jedes Geschlecht und für jede Alters¬ stufe das Durchschnittsgewicht und die Durchschnittslänge berechnete und hieraus, wie oben, das auf 1 cm Länge fallende Gewicht durch Division bestimmt. Dann wurde durch Multiplikation von einer großen Reihe Längenmaße mit diesem Zentimetergewicht ein Sollgewicht für jede Körpergröße und durch Abzug von 10 Proz. ein Minussollgewicht bestimmt. Mit Hilfe dieser Tabellen ermittelte Ascher diejenigen, die 10 Proz. unter dem Sollghwicht blieben, die „zu ge¬ ringen“. Bei einer Wiederholung der Körperbestimmungen in anderen Kreisen wird es sich empfehlen, diese Berechnung ebenfalls durchzuführen, da es mit Hilfe derselben möglich ist, die körperliche Wertigkeit der Schuljugend verschiedener Gegenden miteinander zu vergleichen. Von direkt praktischer Bedeutung ist dieser Modus aber auch dadurch, daß die Schwächlichen „zum Zwecke der Besse¬ rung, also der Fürsorge durch Schularzt, Schule und Elternhaus“ erkannt und durch Arzt und Eltern überwacht werden können.

Für uns bieten die Ascher sehen Durchschnittszahlen die Möglichkeit eines Vergleiches, indem wir im Nachfolgenden die auf 1 cm Länge fallenden Gewichte auf die As eher sehen Mittelzahlen berechneten und so einen direkten Vergleich mit denselben ermöglichten.

Während der Korrektur erhalte ich von Herrn Kollegen Dr. Ascher die Mitteilung, daß die Kinder im Kreise Hamm nur nach Ablage des Schuhzeuges, also bekleidet, gewogen wurden. Wenn man entsprechende Werte für die Klei¬ dung bei den Hammer Kindern in Abzug bringt, vermindert sich die Differenz erheblich.

Die Säuglingssterblichkeit im Kreise Hamm beträgt nach Ascher 18 Proz., die Stillfähigkeit 98 Proz.

9*

128

Erich Peiper,

Als dritter wichtiger Faktor in der Bewertung der Körper¬ konstitution ist der Brustumfang zu nennen. Hierüber die Angaben der Autoren zu vergleichen, ist um so schwerer, als andere zumeist den Brustumfang nach anderen Methoden, als wir, gemessen haben. Eine Gegenüberstellung der von mehreren Autoren mitgeteilten Resultate ergibt

7

8

9

10

11

12

13

14 Jahre

Landsberger1)

55,4

58

60,2

61,9

63,7

65

Quetelet

56,4

58,5

60,6

63

67,5

S e i t z 2)

56

58

60

61

62

66

68

72

Pommern - Stadt

55,4

57,5

59,2

61

63,1

65,1

66,9

69,8

Land

57

58,9

60,8

62,8

64,5

66,5

68,7

71,2

Die Durchschnittszahlen stimmen ziemlich überein. Lands¬ berger hatte deutsche Kinder aus der Stadt Posen als Unter¬ suchungsmaterial und bediente sich derselben Methode bei der Messung, die ich auch für die zweckmäßigste hielt und an wandte. Während der Schulperiode steigt der Brustumfang pro Jahr um 2 cm. Dieses Resultat stimmt mit den sonstigen Erfahrungen überein. Auch in einem weiteren Punkte besteht bei meinen Untersuchungen mit den von Landsberger Übereinstimmung. Ein Vergleich des Brustumfanges mit der halben Körperlänge- ergibt, daß auch bei den pommer sehen Schulknaben (siehe die beiden letzten im Text angegebenen Tabellen: Pommern Stadt und Land) der Brustumfang sich der halben Körper länge nähert.

Als Gesamtresultat unserer Untersuchungen ergibt sich: Das Körpergewicht und die Körperlänge der pommerschen Schulknaben steht absolut hinter den Ziffern anderer Beobachter zurück. Die Gewichtszunahme folgt den sonst bekannten Schwankungen. Das Verhältnis des Längenwachstumes gegenüber der Gewichtszunahme vollzieht sich in gesetzmäßiger Folge. Die Größe des Brustum¬ fanges und die Zunahme desselben entspricht den bekannten Zahlen. In Gewicht und Länge besteht aber bei den pommerschen Knaben eine Minusdifferenz gegenüber den allgemein gültigen Zahlen. Inwie¬ weit hier die Verschiedenheiten des Untersuchungsmaterials nach Abstammung, Heimat, Beschäftigung und Ernährung von Einfluß sind, steht dahin. Immerhin ist es auffällig, daß gerade bei den unzweifelhaft den geringsten Fehlerquellen ausgesetzten Ziffern, ein Zurückbleiben hinter den sonstigen bekannten Zahlen zu kon¬ statieren ist. Wie gewissenhaft die Lehrerschaft vorgegangen ist

b Das Wachstum im Alter der Schulpflicht. Archiv f. Anthropol. XVII. Bd.

2) Lehrbuch d. Kinderheilkunde, III. Heft.

Die körperliche Entwicklung1 der Schuljugend in Pommern. 129

bei ihren Untersuchungen, habe ich bei der Zusammenstellung immer und immer wieder konstatieren können. Die Resultate aus den einzelnen Kreisen zeigen eine ganz auffällige Übereinstimmung, die keine Zufälligkeit sein kann.

Kehren wir nun zu der früher gestellten Frage zurück: Wie verhält sich die körperliche Entwicklung der Schulknaben in Pom¬ mern bzw. in den Bezirken und Kreisen der Provinz?

Körperliche Wertigkeit in Stadt und Land.

Bezirk

7

8

9

Gewicht

Länge

Um¬

fang

1

Gewicht Länge

1

Um¬

fang

Gewicht

Länge

Um¬

fang

Stettin . .

18 626

111,8

56,0

20 496

116,4

58,0

22 700

121,7

59.9

Köslin . .

19 234

113,0

56,4

20 845

117,1

58,5

22 871

121,7

60,6

Stralsund

18 728

112,5

56,4

20163

116,9

58,5

23 067

122,1

60,7

Bezirk

10

11

12

Gewicht

Länge

Um¬

fang

Gewicht

Länge

Um¬

fang

Gewicht

Länge

Um¬

fang

Stettin . . Köslin . . Stralsund

24 858 24 977 24 967

126.5

126.6 126,6

61,7

62,2

62,6

25 552

26 936

27 699

131,3

133,8

132,0

63,7

64,0

63,2

29630 29 638 29 920

136,1

135,6

136,5

65,9

66,0

66,5

Bezirk

13

14

Still wert

1909

Säuglings¬

sterblichkeit

1901—1905

Gewicht

Länge

Um¬

fang

Gewicht

Länge

Um¬

fang

Stettin . .

31928

140,0

67,3

35 202

145,6

69,9

60,9

24,6

Köslin . .

32 407

142,6

67,2

35 351

145,9

70,6

77,4

17,2

Stralsund

32 301

141,5

68,2

35 66 8

146,7

70,7

57,7

22,8

Die Annahme, daß die körperliche Wertigkeit in den einzelnen pommerschen Bezirken sich verschieden verhält, findet in den obigen Zahlen eine Bestätigung.

Es war kaum anzunehmen, daß die zu erwartenden Unter¬ schiede mit mathematischer Genauigkeit hervortreten würden. Immerhin sind die erhaltenen Resultate in unserem Sinne völlig zu verwerten.

Die körperliche Entwicklung ist im Bezirk Köslin durch¬ schnittlich die günstigste. Es folgt der Bezirk Stralsund, hier

130

Erich Peiper,

nähern sich vom 9. Schuljahre an die Werte den Kösliner Zahlen, die sie sogar in mehreren Jahren direkt übertreffen. Die geringsten Werte fallen auf den Bezirk Stettin.

Eine Gegenüberstellung der Durchschnittswerte von Stadt und Land aller 3 Bezirke ergibt bezüglich des Körpergewichtes

7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. Jahr

Stadt 18 856 g 20 537 g 22 309 g 24 608 g 26 752 g 29 321 g 32188 g 35 900 g Land 19 132 21 128 23 163 25 130 26 937 29 732 32 418 35 112

Die ländliche Jugend ist in Gewicht, Körperlänge und Brust¬ umfang durchwegs kräftiger entwickelt als die Stadtknaben. Auf¬ fallend ist das Ergebnis, daß beim Vergleich der Stadtjugend der verschiedenen Bezirke die von Köslin erhaltenen Werte zum Teil hinter Stettin und zumeist auch hinter denen von Stralsund Zu¬ rückbleiben.

Erheblich aber übertreffen in der Entwicklung der Körper¬ konstitution die Landknaben des Bezirkes Köstlin die der andern beiden Kreise. Die ländliche Jugend des Bezirkes Stralsund steht zwischen Köslin und Stettin. Von Interesse ist es, daß die Resul¬ tate in Stadt und Land mit der Zunahme des Schulalters sich einander nähern.

Es ist ungemein schwierig, das Zahlengewirr der einzelnen Kreise miteinander zu vergleichen. Ich suchte daher nach einem Ein heits wert der alle 8 Altersklassen für einen Kreis Stadt und Land getrennt umfaßt. Ich glaube denselben da¬ durch gefunden zu haben, daß ich für jeden Kreis Gewicht, Länge und Umfang aller Altersklassen zusammenaddierte und durch die Zahl der Schuljahre dividierte. Damit wurde für jeden Kreis ein Schulknabe geschaffen, dessen Gewicht, Länge und Breitenmaß den Konstitutionswert der Schulknaben des Kreises repräsentiert.

Es würde verwirrend wirken, die einzelnen Kreise bezüglich ihrer körperlichen Wertigkeit mit der Höhe der daselbst herr¬ schenden Säuglingssterblichkeit zu vergleichen. Das Bild über den Einfluß der letzteren auf die körperliche Entwicklung wird ungleich klarer, wenn man die Kreise mit Ziffern niederer oder umgekehrt mit hoher körperlicher Wertigkeit der daselbst konstatierten Säug¬ lingssterblichkeit gegenüberstellt.

Die körperliche Entwicklung der Schuljugend in Pommern.

131

Kreise mit geringen körperlichen Werten, hoher Säuglingssterb¬ lichkeit, niederem Stillwert:

'

Ge¬

wicht

in g

Länge

in cm

Um¬

fang

in cm

Säuglings¬ sterblich¬ keit o /

Io

Stillwert

o/

Io

Bezirk Stettin

Stadtgemeinden im Kreise Greifenhagen ....

25 637

127,1

62,0

25,9

62,0

Stadtgemeinden im Kreise Stettin .

25 952

128,6

62,0

27,8

unbekannt

Landgemeinden im Kreise Ueckermünde ....

25 835

128,5

63,6

25,4

f (aus 56( Stadtu. { Land;

57,1 (do.)

Landgemeinden im Kreise Anclam .

25 974

128,3

63,8

21,5

Bezirk Köslin

Stadtgemeinden im Kreise Kolberg .

25 675

127,6

60,2

23,5

63,3 (do.)

Stadtgemeinden im Kreise Schlawe .

25 785

127,5

63,7

21,4

unbekannt

Bezirk Stralsund

Stadtgemeinden im Kreise Rügen .

25 416

126,3

62,3

22,8

61,4

Stadtgemeinden im Kreise Eranzburg .

25 996

127,9

62,8

26,3

58,0

Kreise mit höheren körperlichenWerten,mitniedererSäuglings-

sterblichkeit, hohem Stillwert:

Bezirk Köslin

Stadtgemeinden im Kreise

Lauenburg .

Stadtgemeinden im Kreise

Bütow .

Landgemeinden im Kreise

Kolberg .

Landgemeinden im Kreise

Stolp .

Landgemeinden im Kreise

Köslin .

Landgemeinden im Kreise

Belgard .

Landgemeinden im Kreise Dramburg .

27 314

131,4

64,6

19,9

77,6

27 526

130,1

63,7

18,9

86,0

27 624

129,4

64,9

16,7

68,8

27 035

129,9

64,0

16,4

82,8

( (aus

27 279

130,3

64,5

18,0

59,8 st£dt

(Land)

26 964

129,4

63,8

16,3

87,8

26 917

129,8

64,1

15,2

76,6 l)

J) Wenn man die Durchschnittszahlen aus den Tabellen von Ascher für das schulpflichtige Alter nach unserem Modus berechnet, so erhält man auf 129 cm Länge 27,64 Kilo. Eine Umrechnung unserer Werte auf das As eher sehe Längen¬ gewicht ergibt für:

Kreise mit geringeren körperlichen Werten: Greifenhagen 25,92, Stettin 25,92, Ueckermünde 25,92, Anclam 26,05, Kolberg 25,92, Schlawe 26,05, Bügen 25,92, Eranzburg 26,18.

Kreise mit hohen körperlichen Werten: Lauenburg 26,70, Bütow 27,21, Kol¬ berg 27,47, Stolp 27,73, Köslin 26,96, Belgard 26,83, Dramburg 26,70.

132

Erich Peiper,

Das Resultat ist das erwartete: In Kreisen mit einem Hoch¬ stand der Säuglingssterblichkeit und gleichzeitigen niederem Still¬ wert ist die körperliche Entwicklung der Schuljugend eine geringere, als in Kreisen mit niederer Säuglingssterblichkeit und hohem Stillwert.

Es ist von Interesse, daß zwei benachbarte, aber in ihrer wirtschaftlichen Betätigung völlig verschiedene Kreise im Zentrum der pommerschen Säuglingssterblichkeit liegen. Die Bevölkerung des Kreises Randow ist stark industriell, die vom Kreise Greifen¬ hagen durchwegs landwirtschaftlich beschäftigt.

Gewicht Länge Umfang Säuglingssterblichkeit Stillwert Randow 26 073 g 128,3 cm 62,6 cm 28,2 % 55,3 °/o

Greifenhagen 26 068 127,6 63,7 26,1 51,8

In beiden Kreisen ist der Still wert ein niedriger, die Säug¬ lingssterblichkeit eine hohe. Der Rückgang der Brusternährung ist sicherlich nicht vornehmlich bedingt durch die industrielle oder landwirtschaftliche Betätigung der Frauen. Beiden Kategorien von Müttern bleibt Zeit und Möglichkeit offen, wenn sie nur ernst¬ lich wollten, ihren Kindern die natürliche Ernährung zu teil werden zu lassen. Lokale Sitten und Gebräuche, die von Mutter zu Mutter übergehen, Unkenntnis des Wertes der Muttermilch, Überschätzung der sogenannten „künstlichen“ Ernährung und Bequemlichkeit be¬ dingen die Ausbreitung einer Ernährungsweise der Säuglinge, die contra naturam geht und Leben und Gesundheit der Kinder¬ welt schwer bedroht. Sieht man die Technik dieser unnatürlichen Ernährung, dann muß man sich wundern, daß nicht noch viel mehr Kinder dahinsterben.

Die von der Zentralstelle für Volkswohlfahrt und vom Verein für ländliche AVohlfarts- und Heimatspflege der Staatsregierung ausgesprochene Befürchtung, daß sich ein Rückgang der körper¬ lichen Entwicklung der Bevölkerung anbahne, verdient für unsere pommersche Schuljugend volle Beachtung.

Von besonderem Interesse sind für unsere Frage die Ergeb¬ nisse des Heeresersatzgeschäftes.* Nach den Kaup’schen1) Unter¬ suchungen macht es den Eindruck, als ob in den Jahren 1894 bis 1901 für das zweite (pommersche) Armeekorps ein nicht unbeträcht¬ licher Rückgang der Militärtauglichkeit eingetreten ist. Die von Kaup über die Militärtauglichkeit nach Herkunft und Beschäftigung

0 Kaup, Ernährung und Lebenskraft der ländlichen Bevölkerung. Schriften der Zentralstelle für Volkswohlfahrt. Heft 6, N. E.

Die körperliche Entwicklung der Schuljugend in Pommern. 133

aufgestellten Zahlen lassen für das ganze Armeekorps im allge¬ meinen ein Absinken der Tauglichkeit der männlichen Jugend in Stadt und Land erkennen. Im Laufe von 7 Jahren ist im Jahre 1902/03 gegen 1907/08 ein Rückgang von 60,3 auf 57,7 Proz. ein¬ getreten. „Dieser Rückgang ist sehr bedeutend und stärker als der Rückgang von 31/« Proz. für sämtliche Korps. Dieser Rück¬ gang ist für die Landgeborenen und Stadtgeborenen allerdings in¬ soweit verschieden, als er für die Stadtgeborenen fast doppelt so groß ist wie für die Landgeborenen . . . Die Stellung des zweiten Armeekorps innerhalb aller Korps hat sich durch diesen starken Rückgang der Tauglichkeit der in Stadt und Land geborenen ziemlich verändert. Während in den Jahren 1902/03 Pommern gegenüber dem Reichsmittel eine um 2,5 Proz. höhere Tauglichkeit aufwies, ist jetzt die Tauglichkeit nur mehr um 1 Proz. höher. Auch für Pommern ist im allgemeinen zu konstatieren, daß der Rückgang der Tauglichkeit mit der Abnahme der Sterbeziffern in den einzelnen Altersklassen und namentlich in den jüngeren Alters¬ klassen im Widerspruch steht. Es werden daher die allgemeinen Erscheinungen, die auf die Konstitution und Schädigung derselben von Einfluß sein könnten, besondere Aufmerksamkeit erfordern.

Statistik und ärztliche Erfahrung lehren, daß die Höhe der Säuglingssterblichkeit parallel geht der Ausbreitung der künstlichen Ernährung, durch welche die häufigsten Säuglingskrankheiten, die Magendarmerkrankungen , bedingt werden. Hohe Säuglingssterb¬ lichkeit legt den Keim bei den Überlebenden zu Krankheit und Siechtum. Minderwertige Ernährung im Säuglings- und Kindesalter bildet die Grundlage für die englische Krankheit, für Skrofulöse und Tuberkulose. „Nähr kraft ist Wehrkraft.“

Von besonderem Interesse sind die nachstehenden Notizen aus „Zum Säuglingssclmtz in der Ostmark“1). Der Pole denkt nicht nur daran, seinen Landsleuten dadurch ein wirtschaftliches Übergewicht zu geben, daß er sie unter anderem zur Alkoholabstinenz bzw. Alkoholmäßigkeit erzieht, nein, er ist auch dafür besorgt, daß ihm ein gesunder und kräftiger Nachwuchs entsteht. Der Träger dieser Kulturbestrebungen ist in erster Linie der polnische Geistliche. . . . Er ist ernstlich darum besorgt, die auch hierzulande schon auf¬ tretenden Geburtenpräventionen zu verhindern, vor allem aber hält er die Mütter streng dazu an, ihre Kinder selbst zu stillen. . . . Auf 2 selbststillende polnische Mütter fand S o 1 b r i g durchschnittlich.

l) So Ihrig, Zeitschrift für Säuglingsschutz 1911, Heft 2.

134

Erich Peiper,

1 Deutsche. Bei den Impfterminen ist die Zahl der atrophischen Kinder bei den deutschen Müttern dementsprechend eine größere als bei den polnischen. Es heißt Ostmarkenpolitik treiben, wenn diese interessanten Beobachtungen durch Hebung der Säuglings¬ fürsorge auch unter der deutschen Bevölkerung in der Ostmark praktisch verwertet werden.

Es wäre einseitig, die fehlende Muttermilchernährung als die einzige Ursache für die minderwertige Entwicklung betrachten zu wollen. So manches Kind gedeiht, sorgfältige Beachtung der Ernährungsregeln vorausgesetzt, auch bei Kuh- oder Ziegen¬ milch. Ein Wagnis ist aber immer mit der sogenannten künst¬ lichen Ernährung verbunden, denn die Mehrzahl der künstlich ernährten Säuglinge trägt den Keim zur Erkrankung in sich. Jedenfalls steht aber der Mutter, der es versagt ist, ihr Kind selbst zu nähren, hier in Pommern von vereinzelten Fällen abgesehen kein Mangel an Kuhmilch entgegen. Die Provinz Pommern gehört nach K au p zu denjenigen Landesteilen, in denen die Milchverhältnisse für die Bevölkerung mit am günstigsten liegen. An Stelle der Milch aber, die noch im 2. Lebensjahre das Hauptnahrungsmittel bilden soll und muß, treten schon früh minder¬ wertige Surrogate. Mehlsuppen, Kaffee, Zichorienbrühe oder andere angesüßte Getränke. Margarine, Schmalz oder Talg ersetzen die Butter. Gemüse, Obst, Eier werden verkauft, ohne daß der eigene Haushalt berücksichtigt wird. Sicherlich wird in der Ernährungs¬ frage der Kinder auf dem Lande meist aus Unverstand, wohl selten aus Not, viel gesündigt.

Einer größeren körperlichen Tüchtigkeit entspricht auch eine erhöhte geistige Leistungsfähigkeit. Mens sana in corpore sano ist kein bloßes Schlagwort, es entspricht den Erfahrungen, welche Ärzte und Lehrer täglich machen. Die interessanten Unter¬ suchungen von Schmidt und Lessenich1) an 4260 Bonner Schul¬ kindern lehren, daß ein gesundes, körperlich gut sich entwickelndes Kind die größere Gewähr bietet für eine normale geistige Leistungs¬ fähigkeit, wie sie sich im regelrechten Schulerfolge ausspricht. Nicht die Schule ist es, die die Kinder blutarm, nervös und unfähig zu geistiger Arbeit macht; die Grundlage hierzu ist zumeist viel früher erworben. Im ersten Lebensjahre muß durch richtige Er¬ nährung und Pflege der Grund für die spätere körperliche und

b E. A. Schmidt u. Lessenich, Zeitschr. für Schulgesundheitspflege, 1903, Nr. 1.

Die körperliche Entwicklung der Schuljugend in Pommern.

135

geistige Gesundheit gelegt werden. Die Kinder werden dann, sonstige richtige Erziehung vorausgesetzt, immer seltener werden, welche an der sogenannten Überbürdung leiden d. h. unfähig sind, die von der Schule vorschriftsmäßig gestellten Aufgaben zu erledigen.

Man ist von jeher gewöhnt, die Schule für die Entwicklung körperlicher Fehler und Gebrechen zu belasten. In der Tat zwingt die Schule ihre Schüler, bei mehr oder minder angestrengter geistiger Tätigkeit in einer bestimmten Körperhaltung, in schlechter Luft täglich viele Stunden 8 9 Jahre hindurch zuzubringen. Es ist nicht in Ab¬ rede zu stellen, daß durch die Schule die Ausbreitung ansteckender Krankheiten, die Kurzsichtigkeit, die Verkrümmungen der Wirbel¬ säule und andere Krankheitsanlagen gefördert werden. Die Schul¬ hygiene ist bemüht, die nicht vermeidbaren ungünstigen Ein¬ wirkungen zu mildern. So manches ist schon erreicht, vieles muß aber noch geschehen. Wir wissen, daß die Schulaufsichtsbehörden bemüht sind, nach Kräften auf die Beseitigung bestehender Mi߬ stände zu dringen.

Die segensreiche Institution der Schulärzte hat gezeigt, daß wenigstens für die Volksschüler das Elternhaus von der gesund¬ heitlichen Seite aus von größerer Bedeutung als die Schule ist. Licht und Luft sind die Losungsworte für die in Stadt und Land durchzuführende Wohnungsreform. Die Notwendigkeit einer solchen, die insbesondere auch auf die Schuljugend nach der sittlichen wie gesundheitlichen Seite hin gleich bessernd wirken wird, steht unter den lebhaft diskutierten Tagesfragen. Die Lösung derselben wird den Volksseuchen insbesondere der Tuberkulose die Brutstätte vernichten.

Hand in Hand mit der sanitären Umgestaltung der Wohnungen geht die Förderung der Reinlichkeitspflegc, der besten Prophylaxe gegen ansteckende Krankheiten. Die Tuberkulose ist direkt als Schmutzkrankheit zu bezeichnen. Daß der Sinn für Sauberkeit in in der Wohnung und am eigenen Körper in unserer pommerschen Bevölkerung gehoben werden muß, ist eine notwendige kulturelle Forderung. Mit welchen Schmutzschichten bedeckt kommen Er¬ wachsene wie Kinder in die ärztliche Behandlung! Die Worte Hufeland ’s, daß die meisten Menschen außer dem Bade der heiligen Taufe in ihrem ganzen Leben die Wohltat des Badens nicht wieder empfinden, wird besonders in wasserarmen Gegenden oftmals zutreffen. Selbst in Greifswald, wo uns die benachbarte See reichlich Badegelegenheit bietet, hatten im Sommer 1902 von den Volksschülern kalt gebadet 50 Proz., von den Mädchen nur

136

Erich Peiper,

7,5 Proz. Tm Winter hatten 2,1 Proz. Knaben, 26,7 Proz. Mädchen warm gebadet. Bei den beschränkten Wohnungs Verhältnissen ist unter warmem Baden übrigens meist nur eine warme Abwaschung in der Waschbalge zu verstehen. Ein für geistige und körperliche Ent¬ wicklung unserer Kinder hochwichtiges Organ liegt unter einer Schmutzschicht begraben. Wie leicht läßt sich mit beschränkten Mitteln besonders bei Schulneubauten ein Brausebad anbringen! Die Brausestrahlen werden sicherlich auch über die Schule hinaus zum Nutzen der Kinder in die elterliche Wohnung wirken und den Sinn für Ordnung und Peinlichkeit wecken.

In den Verhandlungen der pommerschen Ärztekammer, die sich mit der Erstattung eines diesbezüglichen Berichtes zu befassen hatte, wird für die Herabsetzung der körperlichen Entwicklung der Schuljugend auch die frühzeitige schwere Arbeit der Kinder als ursächliches Momement angeführt. Diese Erfahrung wider¬ spricht theoretisch den Bestimmungen des Kinderschutzgesetzei? vom 30. März 1905, welches die Kinderarbeit in schweren Betrieben bis zum 12. Jahre gänzlich verbietet, später wesentlich einschränkt. Die eigenen Kinder dürfen für eigene Arbeit des Familienober¬ hauptes im Alter bis zu 10 Jahren abwärts beschäftigt werden. Wenn es zutrifft, was Hanauer anführt, daß im Osten der Monarchie Kinder täglich eine 15 16 ständige Arbeitszeit inkl. einiger Schul¬ stunden hinter sich haben so wird es sich sicherlich nur um ekla¬ tante Ausnahmen handeln. Im allgemeinen ist die landwirtschaft¬ liche Betätigung bei richtiger Auswahl dem Kindesalter zuträglicher,, als die den Stadtschülern sich bietende Arbeit.

Der vermehrten Geistesarbeit gegenüber hat die Schule die positive Aufgabe die Kräftigung des Körpers durch systematische Leibesübungen zu fördern. Wenn 32 Stunden geistiger Arbeit 3 Turnstunden gegenüber stehen, so ist dies unzureichend. Im allgemeinen haben die Stadtschüler in der Pflege der Leibesübungen einen wesentlichen Vorteil vor den Landschülern voraus. Auf dem Lande fällt im Winter der Turnunterricht zumeist, das Mädchen¬ turnen, von vereinzelten Ausnahmen abgesehen, überhaupt aus. Und doch handelt es sich um eine der wichtigsten hygienischen Maßregeln, welche die Schule für die Gesundheit ihrer Zöglinge zu treffen hat.

Die Bedeutung des Turnunterrichtes beleuchtet eine Verfügung der Breslauer Regierung aus dem Jahre 1860: „Es ist eine ganz irrtümliche Ansicht, wenn angenommen wird, daß die körperliche Anstrengungen , welche die Kinder der Dorfbewohner häufig zu

Die körperliche Entwicklung der Schuljugend in Pommern. 137

ertragen haben, sowie überhaupt die vielfachen körperlichen Be¬ wegungen, welche ihre Lebensweise mit sich bringt, ohne weiteres auch zu denjenigen Eigenschaften führen, welche als die Frucht der gymnastischen Übungen bezeichnet werden können. Im Gegenteil zeigt die Erfahrung, daß je mehr der Landjugend das Joch der Arbeit und Anstrengung auferlegt wird, desto mehr die dem jugendlichen Alter von Natur eigentümliche Elastizität und Gewandtheit verloren geht; sie wird unbeholfener, langsamer, schwer¬ fälliger. Dieser einseitige Einfluß körperlicher Anstrengungen bei der ländlichen Jugend erhält gerade durch die gymnastischen Übungen ein heilsames Gegengewicht, welches, indem es das har¬ monische Wirken der Kräfte fördert, den Körper elastisch, ge¬ wandt und zu leichten, schwungvollen Bewegungen geschickt macht, sowie jene Schwerfälligkeit, Unbehilflichkeit und Trägheit über¬ windet und beseitigt.“

Die Zeiten, in welchen das Turnen, Schwimmen, Baden und der Eissport als gefährliche Übungen oder unnütze Spielereien angesehen wurden, sind vorüber. Der Schulluft und dem Schul¬ staub, der Körper und Geist ermüdenden Arbeit wird durch das

Turnen und sonstige Leibesübungen ein gründliches Äquivalent entgegengesetzt. Die Schule wird sich durch dieselben ein gesundes, frisches, für die Geistesarbeit aufnahmefähiges Schulkind erhalten.

Es ist absolut falsch, die Säuglingsfürsorge für eine Aufgabe der privaten Wohltätigkeit, für eine ephemere Erscheinung auf¬ zufassen. Die Erkenntnis hat sich immer mehr Bahn gebrochen, daß die Ziele der Säuglingsfürsorge rein nationale sind. Es gilt, durch zielbewußte Maßnahmen die Ursachen der hohen Säuglings¬ sterblichkeit, welche der Volksgesundheit alljährlich schwere Wunden schlägt und damit die Wehrkraft unseres Volkes herabsetzen, zu be¬ seitigen oder doch abzuschwächen. Die öffentliche Gesundheitspflege hat in Deutschland die wichtige Aufgabe, durch umfassende Ma߬ nahmen noch vielmehr als bisher fürsorgend für den Nachwuchs der Nation einzutreten. Das Fundament, auf der sich die neuer¬ dings in erfreulichem Aufschwünge begriffene Jugendfürsorge auf- zubauen hat, besteht in umfassenden Maßnahmen insbesondere der staatlichen und kommunalen Behörden für die Durchführung einer ^ielbewußten Säuglingsfürsorge.

Untersuchungen an wehrpflichtigen jungen Badnern nach dem Pignet’schen Verfahren.

Von Dr. Gebhard Simon,

Stabsarzt u. Bataillonsarzt des 1. Bataillons Badischen Fußartillerieregiments Nr. 14..

I.

Wie bekannt hat die französische Armee eine hohe Tuberkulose- Sterblichkeit. Als Hauptgegenmaßnahme betrachtet man wie bei uns die Fernhaltung aller Schwächlichen, als der am meisten zur Tuberkulose disponierten, vom Heeresdienst. Bei dem Rekrutenmangel in Frank¬ reich ist die Durchführung dieser Maßnahme nicht so großzügig wie bei uns möglich. Es geht deshalb in Frankreich das Bestrebeu dahin, unter den Schwächlichen die Schlechtesten herauszufindeu und man meinte, es müsse sich aus den drei Maßen: Körpergröße, Brustumfang und Körpergewicht ein Index finden lassen, der diese wirklich unbrauchbaren Tuberkulosekandidaten kennzeichne, wie überhaupt die Beurteilung der Körperbeschaffenheit der Wehr¬ pflichtigen erleichtere.

Pignet,1) ein französischer Militärarzt, nahm diese Anregung auf und stellte folgende Überlegung an: Es gibt für jede Körper¬ größe sogenannte Normalmaße, so auch einen Normalbrustumfang und ein Normalkörpergewicht. Jedes dieser Maße allein in Be- ziehung zur Körpergröße versetzt, gestattet, wie die Erfahrung gelehrt hat, keine Beurteilung der körperlichen Beschaffenheit. Da aber beide Maße zur Körpergröße in einem bestimmten Ver¬ hältnis stehen, so müßte auch die Summe beider Maße von der

v) Pignet, Du coefficient de Robusticite. Nouveau mode d’appreciation de la force physique de l’homme au moyen d’un indice numerique tire des trois mensurations: taille, perimetre et poids. Bulletin medical, No. 33, 27. avril 1901.

Unters, an wehrpflichtigen jungen Badnern n. d. Pignet’schen Verfahren. 139

Körpergröße abgezogen , stets eine konstante Differenz geben. Diese konstante Differenz repräsentiere gewissermaßen den physio¬ logischen Wert des Individuums und könne sein Kräftigkeitskoeffizient genannt werden. Pignet stellte also folgende Formel auf:

H (B -f- K) = x,

H = cm Zahl der Körpergröße,

B = cm Zahl des Ausatmungs-Brustumfangs,

K = kg Zahl des Körpergewichts, x numerischer Index,

z. B. 172 (87 + 73) = 12, oder 169 (86 + 64) = 19,

oder 165 (83 + 61) = 21.

Die sich ergebende Differenz x war bei Zugrundelegung der Normalmaße in der Tat eine konstante Zahl, die mit zunehmender Körpergröße in ganz bestimmtem Verhältnis wächst. Diese Differenz beträgt für die Körpergrößen

155 175 cm rund 21,

176—180 22,

181—185 23,

186—190 24.

Für die Größenklasse 155 175 cm bezeichnet also die Zahl 21 den Kräftigkeitskoeffizienten; für die Größenklassen

176 180 cm die Zahl 22,

181—185 23,

186-190 24.

Pignet stellte nun zunächst den numerischen Index bei den Mannschaften seines Regiments fest. Der Index war, wie zu er¬ warten, in den meisten Fällen eine positive Zahl, also eine wirk¬ liche Differenz. Diese Zahl war groß bei schlechter Körper¬ beschaffenheit des Mannes, klein bei guter Körperbeschaffenheit. Vergleiche des erhaltenen numerischen Index mit der Körper¬ beschaffenheit der Mannschaften veranlaßten ihn, folgende Index¬ klassen aufzustellen:

Index

1—10

Constitution

tres forte,

11—15

77

forte,

16—20

77

bonne,

77

21—25

77

bonne moyenne

77

26—30

77

faible,

77

31—35

77

tres faible,

77

über 35

77

tres mediocre.

140

Gerhard Simon,

In einem geringen Prozentsatz war Brustumfang plus Körper¬ gewicht größer als Körpergröße'; die Subtraktion ergab eine negative Zahl. Da ein solcher Zustand eine gewisse Überentwicklung dar¬ stellt, nannte Pignet in diesem Falle den Index positiv. Noch seltener fand er die dritte mathematische Möglichkeit: Brustumfang -f- Körpergewicht = Körpergröße, der Index also Null. Die Fälle mit positivem Index und Index zero faßte er in eine Klasse zu¬ sammen, die er mit -f- bezeichnet, so daß Pignet also 8 Index¬ klassen zur Bezeichnung der verschiedenen Grade der Körper¬ beschaffenheit vom Überentwickelten bis zum Schwächling auf¬ stellte. Den Index 35 nahm Pignet auf Grund seiner ver¬ gleichenden Untersuchungen als den Grenzwert militärischer Brauch¬ barkeit an. Weiter ergaben die bei seinem Regiment vorgenom¬ menen Untersuchungen, daß der aus den Normalmaßen berechnete Kräftigkeitskoeffizient 21 nicht die besten Leute, sondern die Grenze der guten von den mittelmäßigen bezeichnet.

Dieses Pignet’sche Verfahren ist in Deutschland erst durch •Schwiening l) bekannt geworden, der es bei einer Zählkarten¬ statistik über die Körperbeschaffenheit von 52066 zum einjährig- freiwilligen Dienst berechtigten Wehrpflichtigen unter den ver¬ schiedensten Gesichtspunkten geprüft hat. Schwiening ordnet den numerischen Index, wie aus Tabelle I ersichtlich, in 6 Klassen, Die Bezeichnung der einzelnen Klassen ergibt Rubrik 3.

Tabelle I.

1

2

3

4.

I.

Klasse

positiver Index

\

4-

II.

55

1—10

| besonders kräftig

A

III.

55

11—20

kräftig

B

IV.

55

21—30

schwach

C

V.

55

31—35

sehr schwach

D

VI.

»

über 35

völlig dienstuntauglich

E

Um Vergleichsmaterial für meine Untersuchungen zu haben, mußte ich mich dieser Einteilung anschließen. Die 6 Indexgruppen benenne ich, wie Rubrik 4 obiger Tabelle lehrt, der Kürze halber, mit -j- A, B, C, D, E, und bezeichne die Klassen kurz als A, B, C, D, E- Klasse und spreche von A, B, C, D, E-Leuten.

b Schwiening-, Über die Körperbeschaffenheit der zum einjährig- frei¬ willigen Dienst berechtigten Wehrpflichtigen Deutschlands. Veröffentlichungen aus dem Gebiete des Militär-Sanitätswesens. Heft 40, 1909.

Unters, an wehrpflichtigen jungen Badnern n. d. Pignet’schen Verfahren. 141

Schwiening kommt zu dem Urteil, daß das Pignet’sche Verfahren zur Beurteilung des Einzelindividuums sich nicht eignet, aber zur Beurteilung ganzer Bevölkerungsgruppen „ein verwend¬ bares Mittel darzustellen scheint“.

Dann hat Ott1) es einmal praktisch bei der Aushebung an¬ gewandt, um zu kontrollieren, inwieweit er selbst hinsichtlich der Anforderungen an die Kräftigkeit des Körperbaues das Richtige getroffen hat.

Ott bezeichnet die Anwendung des Pign et ’schen Verfahrens als ein willkommenes Hilfsmittel, sich rasch über die Beschaffen¬ heit des Körperbaues größerer Massen von Untersuchten zu unter¬ richten, für den Einzelfall es anzuwenden, liege kein Bedürfnis vor: „dazu genüge die Feststellung der 3 Maße mit einem durch Übung geschärften Blick“.

Bei Abschluß der Arbeit erschien noch die Abhandlung von Seyffarth,2) der das Pignet’sche Verfahren beim diesjährigen Musterungsgeschäft im Landwehrbezirk Gumbinnen angewendet hat. Leider teilt Seyffarth nur die Ergebnisse bei den Taug¬ lichen und einem Teile der Untauglichen mit. Dann hat Seyffarth noch den Index bei den letzten 10 Jahrgängen des III/41 berechnet. Sein Urteil stimmt mit dem Schwiening ’s dahin überein, daß es sich hauptsächlich nur zu vergleichenden Untersuchungen größerer Massen eignet. „Keinen sicheren Anhalt bietet das Verfahren gerade dort, wo es am wünschenswertesten wäre, nämlich bei Be¬ urteilung der zahlreichen Leute, die den Grenzwert der Schwachen aufweisen“ (S. 841).

Der Pignet’sche Index ist wegen der ihm zugrunde liegenden 3 Körpermaße lediglich ein Konstitutionsmaß und hat demgemäß für die Beurteilung des Körperbaues des Einzelindividuums weniger Bedeutung.

Seine Brauchbarkeit für militärärztliche Zwecke ist besonders von Schwiening und Ott von den verschiedensten Gesichts¬ punkten untersucht worden. Für die Praxis scheint mir beson¬ ders der von Ott gemachte Vorschlag beachtenswert, den durch § 10 H. 0. vorgeschriebenen Berichten über die Körperbeschaffen- heit der Wehrpflichtigen eine nach dem Pignet’schen Verfahren hergestellte Tabelle zur Ermöglichung eines raschen und mit den

0 Ott, Das Pign et ’sche Verfahren bei der Aushebung. Deutsche Militär¬ ärztliche Zeitschr. 1911.

2) Seyffarth, Beitrag zur Verwertbarkeit des Pignet’schen Verfahrens. Ebenda.

Archiv für Soziale Hygiene. VII.

10

142

Gerhard Simon,

bereits genannten Einschränkungen zuverlässigen Überblicks über die Beschaffenheit des Körperbaues der Untersuchten beizufügen (p. 120).

Den Wert des Pi gn et’ sehen Index gewissermaßen als Selbst¬ kontrolle nach täglich beendetem Musterungs-, bzw. Aushebungsge¬ schäft habe ich selbst ausprobiert und kann ihn zu diesem Zweck nur empfehlen. Ergänzend möchte ich noch hinzufügen, daß man sich des Pi gn et’ sehen Verfahrens mit Vorteil bedienen wird,, um objektive x4nhaltspunkte über die allgemeine Körperbeschaffen¬ heit seines Truppenteils wie der einzelnen Jahrgänge zu haben. Bisher war man in dieser Beziehung hauptsächlich auf subjektive Momente angewiesen. Man wird mittels dieses Verfahrens auch die so häufig von der Truppe gestellte Frage nach der Güte des einzelnen Jahrgangs im Vergleich zu früheren objektiv beantworten können. Schließlich könnte man das Verfahren auch zur Erklärung von Unterschieden des Gesundheitszustandes einzelner Truppen¬ teile heranziehen.

Zur Beurteilung des Einzelindividuums wird dem Verfahren von den 3 oben genannten Nachuntersuchern jeder Wert abge¬ sprochen. Man darf aber nicht die Motive vergessen, die P i g n e t zur Aufstellung seiner Formel geführt haben, die leichtere Heraus¬ findung der noch Tauglichen unter den ganz Schwachen. Haupt¬ sächlich für diese Grenzfälle hat P i g n e t seine Formel angegeben und den Index 35 als Grenze militärischer Brauchbarkeit sonst gesunder Individuen bezeichnet.

Selbstverständlich soll der numerische Index die bisher ma߬ gebenden Anhaltspunkte, den allgemeinen Eindruck, den das In¬ dividuum macht, in Verbindung mit Erfahrung und Blick nicht er¬ setzen, denn sonst würde die P i g n et’ sehe Formel zu einem einfachen mechanischen Hilfsmittel herabsinken, das handwerksmäßig ohne Arzt angewendet werden könnte. Es würde auch ein solches Ver¬ fahren eine Verkennung des allgemeinen Wertes solcher anthro- pometrischen Formeln bedeuten.

Was leistet nun das Verfahren in dieser Hinsicht? Man be¬ achte die nächste Tabelle.

Unters, an wehrpflichtigen jungen Badnern n. d. Pignet’schen Verfahren. 143

Tabelle II.

Klasse

Einjährig- Freiwillige b

0/

Io

Junge Bayern* 2)

0/

Io

35. Franz. A.-B. 3)

o /

Io

I. Bataillon

Bad. Fuß-A.-R.

14

0/

1 0

III/41 4)

0/

Io

+

4.5

1 7 ÖK

15= 2,3

33= 6,0

30= 1,1

A

11,6

1 ' .Ot)

90 = 17,6

153 = 28,6

406 = 14,9

B

30,9

40,56

234 = 45,8

277 = 51,1

1522 = 55,8

C

41,1

49,53

146 = 28,6

77 = 14,2

740 = 27.1

D

9,9

1,77

20= 3.9

2= 0,4

28= 1,03

E

2,5

0,29

5= 0,9

0= 0,0

2= 0,07

Da sehen wir, daß der Proz.-Anteil schon in der D-Klasse mit Ausnahme der E. Fr. außerordentlich klein ist und in der E-Klasse unter 1 Proz. sinkt, bei dem 1/14 die E-Klasse gar nicht, bei III/41 in 10 Jahrgängen nur mit 0,07 Proz.< vertreten ist. Die verhältnismäßig großen Zahlen in der D und E Klasse bei den Einj .-Freiwilligen sind dadurch zu erklären, daß bekanntlich an ihre Körperbeschaffenheit die geringsten Anforderungen gestellt werden können. Die Einj.-Freiw. scheiden also für die gewöhn¬ lichen Fälle der Praxis aus. Mit dieser Einschränkung können wir doch auf Grund obiger Tabelle dem Pignet’schen Verfahren einen gewissen praktischen Nutzen zur Beurteilung solcher Grenz¬ fälle nicht absprechen. Mit dem Index 35 als Grenzwert mili¬ tärischer Brauchbarkeit scheint Pignet so ziemlich das Richtige getroffen zu haben.

Die schon oben angeführte Ansicht Ott’s, es werde sich im Einzelfall das Verfahren anzuwenden kein Bedürfnis einstellen, dazu genüge die Feststellung der drei Maße mit einem durch Übung geschärften Blick, mag für den geübten Militärarzt gelten, wenn er allein und in Ruhe untersuchen kann, z. B. Freiwillige beim Truppenteil nicht bei der Musterung, wo der Militärvorsitzende das ausschlaggebende Urteil fällt, und es gilt, ihm die Ansicht des Militärarztes beizubringen. Diese Herren wollen nach meiner mehrjährigen Erfahrung für ihr Urteil eine objektive Unterlage haben. Sie bietet sich nach meiner Erfahrung bei Grenzfällen in einfachster Weise in Aufstellung der Pignet’schen Formel, die über¬ zeugender wirkt, als Worte es vermögen. Wenn demnach das

0 Schwiening 1. c.

2) Ott 1. c.

3) Pignet 1. c.

4) Seiffarth 1. c.

10*

144

Gerhard Simon,

Pi gn et’ sehe Verfahren für militärische Zwecke nur von unterge¬ ordneter Bedeutung ist, so läßt es sich doch namentlich bei der Musterung und Aushebung unter Berücksichtigung der militärischen Verhältnisse gut als Hilfsmittel zur Beurteilung von Grenzfällen der Tauglichkeit und zur Unterstützung der ärztlichen Ansicht gebrauchen.

Meine Ausführungen möchte ich kurz in den Satz zusammen¬ fassen :

Das Pignet’ sc he Verfahren ist ein praktisches Hilfsmittel zur Beurteilung von Grenzfällen bei der Musterung und Aushebung.

II.

Der Pignet’ sehe Index als Konstitutionsmaß findet natur¬ gemäß sein Hauptanwendungsgebiet bei Massenuntersuchungen zu anthropologischen oder sozialhygienischen Zwecken.

Hier verspricht das Verfahren wegen seiner objektiven Grund¬ maße, besonders die Indexklasseneinteilung recht interessante Er¬ gebnisse.

Es schien mir nach obigen Betrachtungen aussichtsvoll, und bei dem Interesse, welches man jetzt solchen Massenuntersuchungen entgegenbringt, auch zeitgemäß, mittels des Pignet’ sehen Ver¬ fahrens die ganze wehrpflichtig gewordene Jahresklasse eines Landes zu untersuchen. Bei der vorjährigen Musterung im Badischen Seekreis kam ich auf den Gedanken, für meine Untersuchungen den jüngsten Jahrgang Badens wehrpflichtig gewordener Jugend, die Jahresklasse 1891 zu wählen.

Ich stellte mir die Aufgabe, mittels dieses Verfahrens fest¬ zustellen :

1. Die Körperbeschaflenheit des Jahrganges im allgemeinen.

2. In den einzelnen Bezirksämtern.

3. In einzelnen Berufsgruppen.

4. In einzelnen Berufen.

Als Grundlage für meine Untersuchungen habe ich mit behörd¬ licher Genehmigung die alphabetischen Listen der 53 Bezirksämter benutzt. Von jedem einzelnen untersuchten Wehrpflichtigen wurde Beruf, Größe, Brustumfang und Gewicht den Listen entnommen, die Leute nach dem Bezirksamt ihres Geburtsortes geordnet und dann von jedem einzelnen der Pignet’ sehe Index berechnet, die drei Körpermaße der zu mehrjährig freiwilligem Dienst angenom¬ menen und der bereits eingestellten Leute wurden von den Truppen-

Unters, an wehrpflichtigen jungen Badnern n. d. Pignet’schen Verfahren. 145

teilen bzw. Bezirkskommandos erbeten. Die znm einj.-freiw. Dienst berechtigten jungen Leute wurden bei den Untersuchungen nicht mit berücksichtigt.

Im folgenden gebe ich einen solchen Auszug wieder.

Bezirksamt Konstanz-Land.

Schlosser Fabrikarbeiter Kaufmann Hufschmied Landwirt

Buchbinder Landwirt Schlosser Maurer Kaufmann Gärtner Dienstknecht Zimmermann Gärtner Fabrikarbeiter Maurer Taglöhner Fabrikarbeiter Eisendreher Landwirte Landwirtschaftliche Arbeiter

55 55

55 55

Zimmermann

172 (84 -j- 61) = 27 163,5 (80 -f 56) = 27

170 (75 + 62) = 33

163 (87 + 58) = 18

172 (89 + 77)= 6

171 (79 + 64) = 28

Mindermaß

165 (79 + 57) = 27 162 (84 + 66) = 12

166 (81 + 62) = 23 161 (79 + 84) = + 2

157 (79 + 52) = 32 155 (78 + 48) = 29

164 (81 + 59) = 24

158 (80 + 56) = 22

164 (79 + 58) = 27 169 (81 + 63) = 25 171 (75 + 58) = 40 169 (79 + 56) = 34 169 (82 + 56) = 31 174 (87 + 68) = 19

173 (85 + 61) =27 Mindermaß

165 (83 + 60) = 22

166 (82 + 62) = 22

Im ganzen konnte ich diese fünf Angaben von 9980 im Jahre 1891 geborenen Badenern aus den alphabetischen Listen erhalten.

Es wurden 1891 im Großherzogtum Baden bei einer Bevöl¬ kerung von 1656817 Einwohnern 56 826 Kinder geboren, darunter 28 797 Knaben. Meine 9980 Mann repräsentieren 55.5 Proz. der im Jahre 1891 geborenen jetzt noch lebenden Badener, da auf Grund der neuesten deutschen Sterbetafeln rund 18000 der im Jahre 1891 geborenen 28 797 noch am Leben sein würden. Daß ich nur über 9980 Mann berichten kann, liegt in erster Linie da¬ ran, daß eine Anzahl Bezirksämter die erforderlichen Maße nicht bei jedem Gemusterten eingetragen hat und außerdem das Unter¬ suchungsergebnis der zu mehrj.-freiw. Dienst bereits Eingetretenen oder Angenommenen leider nicht vollständig zu erhalten war.

146

Gerhard Simon,

1.

Über die Wehrpflichtigen Badens existieren sehr ausführliche Arbeiten.

Die erste stammt von dem verstorbenen Freiburger Anatomen A. Ecker1 2 3 4 5) und behandelt die Größe der badischen Rekruten. Vor allem ist aber hier Otto Ammon2-5) zu nennen, der auf eine Anregung Rudolf Virchow’s hin zusammen mit Wils er genaue anthropologische Untersuchungen in den Jahren 1886 1894 beim Ersatzgeschäft angestellt hat. Die Arbeiten boten willkom¬ menes Vergleichsmaterial für die drei Einzelmaße: Größe, Brust¬ umfang, Gewicht. Ich muß deshalb auf jedes Maß kurz eingehen.

Größe.

Bei Aufstellung der Größentabellen bin ich mit Ammon, Jo¬ hannes Ranke6), dem bekannten Münchener Anthropologen, ge¬ folgt nur mit dem Unterschiede, daß die Mindermaßigen entsprechend der jetzt geltenden Heerordnung nicht bis zu 157 cm. sondern nur bis zu 153 cm einschließlich reichen. Die einzelnen Größenklassen und die Verteilung der 9980 Mann auf sie gibt Tabelle III.

Tabelle III.

Größenklasse Mindermaßige I. Kleine

II. Mittlere

III. Große

IV. Übergroße

153 cm 154—161 162—169 170—175

201= 2,0 % 1751= 17,54 4866= 48,76 2223= 22,29

176 u. darüber 939= 9,4

9980 = 100,0 °|0

b A. Ecker, Zur Statistik der Körpergröße im Großherzogtum Baden. Archiv für Anthropologie, Bd. 9, 1876.

2) 0. Ammon, Anthropologische Untersuchungen der Wehrpflichtigen in Baden. Virchow-Holzendorf’s Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge; Heft 101, 1890.

3) Derselbe, Die natürliche Auslese beim Menschen. Jena 1893.

4) Derselbe, Die Körpergröße der Wehrpflichtigen im Großherzogtum Baden in den Jahren 1840 1864. Beiträge zur Statistik des Großherzogtum Baden. N. F., 5. Heft 1894.

5) Derselbe, Zur Anthropologie der Badener. Jena 1899. 707 Seiten.

6) J. Banke, Zur Statistik und Physiologie der Körpergröße der bayerischen Militärpflichtigen in den 7 rechts-rheinischen Begierungsbezirken nach den Vor¬ stellungslisten der Kgl. Ober-Ersatzkommissionen vom Jahre 1875. Beiträge zur Anthropologie und Urgeschichte Bayerns. Bd. 4, 1881.

Unters, an wehrpflichtigen jungen Badnern n. d. Pignet’schen Verfahren. 147

Ein Vergleich dieser Zahlen mit denen aus den Jahren 1840—1864 und 1886— 1894 x) ergibt

Tab

eile IV.

Kleine

Große

1840-

-1864

39 o/o

15,6 %

1886-

-1894

27,6

23,5

1911

19,54

31,61

Wir konstatieren eine bedeutende Abnahme der Kleinen und •eine fast ebenso hohe Zunahme der Großen in den letzten 70 Jahren. Es gibt jetzt mehr Große, als Kleine.

Nach der jetzt geltenden Ansicht der Anthropologen haben wir diese Verschiebung in den einzelnen Größenklassen des Jahr¬ gangs 1911 als Ausdruck schnelleren Wachstums infolge besserer Lebensbedingungen anzusehen, in jeder Beziehung ein sehr erfreu¬ licher Fortschritt.

Brustumfang.

Ammon konnte bei seinen ausgedehnten Untersuchungen fest¬ stellen, daß der Umfang der leeren Brust nur bei den reifen Leuten unter den Kleinen und Mindermaßigen die Hälfte der Körpergröße übersteigt.* 2) Nach meinen Untersuchungen hat sich in dieser Beziehung nichts geändert.

Gewicht.

Bezüglich des Körpergewichtes konnte Ammon s. Z. nur er¬ fahren, wer von den Wehrpflichtigen 65 kg und mehr, wer unter 65 kg wiegt. Der fehlende Eintrag des Gewichtes in vielen alpha¬ betischen Listen des Jahrganges 1891 ist auch bei mir der Hauptgrund, warum ich nicht über eine größere Zahl berichten kann. Tabelle V gibt das Gewicht der Wehrpflichtigen von 1886 1894 und der Wehrpflichtigen von 1911.

Tabelle V.

-f- 65 kg 1886— 1894.... 15,7 % 1911 .... 23,03

65 kg 84,3 o/o 76,97

x) 0. Ammon.

2) 0. Ammon, Zur Anthropologie der Badener, p. 248 u. 256.

148

Gerhard Simon,

Meine Zahlen sind nur aus den Bezirken berechnet, wo bei jedem Gemusterten das Körpergewicht eingetragen war. Wie nach der Größenstatistik zu erwarten, sehen wir eine Zunahme der schweren, eine Abnahme der leichten Leute.

Dies erfreuliche Ergebnis dürfte wohl unbestritten auf die besser gewordenen Lebensbedingungen zurückzuführen sein.

Nach dieser erfreulichen Tatsache war ich nun sehr auf das Bild gespannt, welches die Einteilung des Jahrgangs in die 6 Index¬ klassen bieten würde. Tabelle VI bringt das Ergebnis.

Tabelle VI.

Klasse + 38 = 0,3 %

A 440 = 4,4

B 2705 = 28,0

C 4460= 45,6

D 1338= 13,6

E 798= 8,1

9779%= 100%

Tabelle VII.

03

Tabelle VII soll es Der erste Eindruck ist Besonders fällt die hohe Klasse auf. Freilich sind und A m m o n hat mittels suchungsmethoden fest¬ jungen Badener nach dem Ich muß mir hier leider Ammon ’schen Befunde die Gelegenheit benutzen, zeichnete anthropologi- Aber das Lebensalter klärung dieser hohen faßt bei Schwiening Index von 21 30, während

+ A B C D E

4A

28C.

136

1

ai

%

■ff

besser veranschaulichen, der einer Überraschung. Prozentzahl in der C- es 20jälirige junge Leute anthropologischer Unter¬ gestellt, daß 3/4 der 20. Jahre noch wachsen, versagen, näher auf die einzugehen, möchte aber nochmal auf diese ausge- sche Arbeit hinzuweisen, genügt nicht zur Er- Zahl. Die Klasse C um- die Leute mit einem

sie bei P i g n e t 2 Klassen bilden. 21 25, die er mittelgut bezeichnet, und 26 30, die er schwächlich nennt. Diese Einteilung scheint mir nach meinem persönlichen Eindruck bei der Musterung auch besser zu sein, weil die Über¬ gänge von kräftiger zu schwacher Konstitution so fließend sind, daß man sehr wohl noch eine Kategorie „mittelkräftig“ einfügen kann.

0 201 sind Mindermäßige, über die in den Listen nähere Angaben fehlen.

Unters, an wehrpflichtigen jungen Badnern n. d. Pignet’schen Verfahren. 149’

Man hätte dann 3 Abstufungen für die kräftige wie für die schwache Konstitution.

Außerdem ist ja, wie Pignet selbst hervorhebt, allerdings ohne sich danach zu richten, erst der Index 21 die Grenze der Kräftigen von den Mittelkräftigen. Die Mittelkräftigen fangen also beim Index 22 an. Von der Klasse C können wir daher die eine Hälfte als mittelkräftig und die andere als schwächlich be¬ zeichnen. Das würde schon ein ganz anderes Bild geben. Von rein statistischem Standpunkt weisen die Asymetrie der Kurve und die außerordentlich großen Zahlen der C-Klasse, die doch ge¬ sunde 20jährige Menschen darstellt, auf das gekünstelte dieser Einteilung hin. Leider habe ich diese, mir erst später durch Litte- raturstudium recht zum Bewußtsein gekommene Erkenntnis nicht mehr berücksichtigen können. Will man die Klasse C beibehalten^ konnte man sie meines Erachtens, im Hinblick auf ihr Lebensalter als die „noch nicht genügend Entwickelten“ bezeichnen.

Die besonders Kräftigen, Klasse A, bilden 4,4 Proz.

Die Kräftigen B, 28,0

Die -f- Klasse weist nur 38 = 0,3 Proz. auf. Ich möchte die Angehörigen dieser Klasse als die Überentwickelten bezeichnen. Also noch nicht einmal 1/3 des Jahrganges besitzt kräftige Kon¬ stitution.

Die Schwachen, Klasse D, sind mit 13,6 Proz.

Klasse E, deren Angehörige ich die besonders Schwachen be¬ nennen möchte, ist mit 8,1 Proz. vertreten.

Ein ganzes Fünftel der 20 jährigen Badener weist also nach dem Index eine schwächliche Konstitution auf und fast die Hälfte des Jahrganges ist noch nicht genügend entwickelt. Unwillkürlich drängt es uns weiter nach einer Erklärung dieser ungewohnten Erscheinung. Nächst dem Lebensalter kommt die Rasseneigentüm¬ lichkeit in Frage, welche Wuchs und Statur bedingt. Da ist zu bemerken, daß der Badener einen Mischlingstyp darstellt ; der Anteil des Homo europaeus beträgt in Baden nach Ammon 67 Proz. nach Fürst 69 Proz., das andere V3 stammt vom Homo alpinus.1) So erklären sich auch die vielen Mittelgroßen in Baden.

Bei der engen Beziehung zwischen Körpergröße und Körper¬ entwicklung ist es wichtig, die Wechselwirkung zwischen Körper¬ größe und Indexklasse kennen zu lernen.

9 0. Ammon, Altes und Neues über die Menschenrassen in Europa. Zeit¬ schrift für Sozialwissenschaft Bd. 6, 1903.

150

Gerhard Simon,

Hierüber geben folgende Tabellen Aufschluß:

Tabelle VIII.

Größenklasse

Mm -f-

4-

A

ab¬

solut

.

0/

10

B

ab¬

solut

0/

Io

C

ab¬

solut

0/

Io

D

ab¬

solut

0/

Io

E

ab¬

solut

Ol

Io

Mm

201

I

9

66

8,7

473

27.0

868

49,5

227

12,9

108

6,0

II

17

207

4,2

1414

29.0

2194

45,0

690

14,1

344

7,1

III

6

120

5,3

590

26,5

1005

45,2

285

12,8

217

9,8

IV

6

47

5,0

228

24,2

393

41,8

136

14,4

129

13,6

1 -

38

440

-1

2705

4460

-

1338

-

798

Tabelle IX.

Indexklasse

I

absolut

01

Io

I

absolut

i

0/

Io

II

absolut

I

0/

Io

11

absolut

7

Ol

Io

A

66

15.0

207

47,05

120

27,27

47

10,68

440

B

473

17,5

1414

52,3

590

21,8

228

8,4

2705

C

868

24.9

2194

49,2

1005

22,5

393

8,8

4460

[D

227

16,9

690

51,5

285

21,3

136

10,1

1338

E

108

13,5

344

44,2

217

27,2

129

16,1

798

Die größten Leute haben prozentual die meisten Kräftigsten h Proz., aber auch die meisten Schwachen 14,4 Proz. und meisten besonders Schwachen 13,6 Proz.

Die Mittelgroßen haben die meisten Kräftigen 29 Proz.

Die Kleinen haben die meisten Mittelkräftigen 49,5

Wie bei Schwiening nehmen mit steigender Körpergröße die A- D- und E-Leute zu, letztere schneller. Die Übergroßen haben doppelt soviel besonders Schwache wie die Kleinen. Die beiden übrigen Klassen zeigen mit zunehmender Körpergröße eine steigende Abnahme. Sie beträgt in Klasse B 3 Proz. in Klasse C 8 Proz. Ein näherer Vergleich obiger Zahlen mit denen Sch wie¬ nin g’s ist wegen der verschiedenen Größeneinteilung nicht möglich. Seine Tabelle bietet im großen und ganzen dasselbe Bild.

Außer diesen angeführten Gründen kommen für die Körper¬ konstitution aber noch andere Einflüsse in Betracht: Herkunft, Beruf, Wohnung, Arbeitsverdienst, Arbeitsort, Körperpflege, Lebens haltung, allgemeine Schädlichkeiten.

Alle diese und andere Faktoren hier zu behandeln, liegt nicht im Ramen der Arbeit. Anführen möchte ich bloß, daß in den alphabethischen Listen bei 726 = 7,4 Proz. schlechte Zähne und bei

Unters, an wehrpflichtigen jungen Badnern n. d. Pignet’schen Verfahren. 151

1105 = 11,3 Proz. Kropfbildung verzeichnet ist. Das ist um so mehr von Bedeutung, als bei Untersuchung des jüngsten Jahrgangs nur die auffallendsten Fehler vermerkt werden.

Nun hört man jetzt viel von Entartung unserer Rasse reden. Wenn wir unseren Jahrgang daraufhin prüfen, so könnte wohl der erste Eindruck obiger Tabelle ähnliche Befürchtungen aufkommen lassen. Aber die statistisch nachgewiesene Zunahme der Körper¬ größe und des Gewichts, sowie die Abnahme der Kleinen seit 1840 zerstreuen sicher alle schwarzen Gedanken. Wie Kruse1) ganz allgemein aus den Ergebnissen der Sterblichkeits-, Tauglichkeits-, Erkrankungsstatistik, Schwiening2) aus der Tauglichkeitsstatistik der Jahre 1894 1903 nachgewiesen haben, kann bei uns in Deutschland von Entartung keine Rede sein.

Über die Ergebnisse der Militärtauglichkeit kann ich keine sicheren Angaben machen, da ich mit der Arbeit nicht bis nach Beendigung des Oberersatzgeschäftes warten konnte. Im Durch¬ schnitt der Jahre 1894 1903 war nur der nördliche Teil Badens Odenwald, Bauland, Taubergrund schlechter als der allgemeine Durchschnitt von 57,3 Proz. der Tauglichkeitsquote zum Dienst mit der Waffe. In Mittelbaden betrug die Tauglichkeitsquote 57 60 Proz., in Südbaden sogar 62—65 Proz. (Schwiening).2) So wird auch der Jahrgang 1911 nicht schlechter sein.

Vergleiche mit anderen Gegenden sind hier besonders er¬ wünscht.

Als Vergleichsmaterial habe ich nur die Einj. - Freiw. S c h w i e n i n g’ s.

Tabelle X bringt eine Gegenüberstellung der Prozentanteile in den einzelnen Indexgruppen bei meinen jungen Badenern und den Einj. -Freiw.

Tabelle X.

20 jährige Badener Klasse -j- = 0,3 °/0

r> A = 4,4

* B = 28,0

0 = 45,6

D = 13,6

E = 8J

1) W. Kruse, Entartung. Zeitschrift für Sozialwissenschaft, Bd. 6, 1903.

2) Schwiening, Beiträge zur Kekrutierungsstatistik. Klinisches Jahrbuch, Bd. 18, 1908.

Einjährig-Freiwillige 4,4 %

9,6

26,2 ,.

37,6

13,4

8,8

152

Gerhard Simon,

Wegen des verschiedenen Menschenmaterials muß beim Ver¬ gleich obiger Zahlen von vornherein mit Verschiedenheiten gerechnet werden. Trotzdem muß auffallen:

1. Klasse -f- ist bei den Einj.-Freiw. 14 mal so stark be¬ setzt wie bei den Badenern. Da sich unter diesen 4,4 Proz. viel Fettleibige befinden, ist dieser Unterschied wie schon angeführt,, nicht als Vorteil anzusehen.

2. Klasse A weist bei den Einj.-Freiw. doppelt soviel Ver¬ treter auf, wohl ein Ausdruck der besseren sozialen Stellung; dann ist zu bedenken, worauf Ott hinweist, daß die zum einjährig¬ freiwilligen Dienst Berechtigten größtenteils in einem späteren Alter als die übrigen Militärpflichtigen zur Untersuchung kommen* Die körperliche Entwicklung ist vollendet. Fettansatz bereits da.

3. Klasse B ist dagegen bei den Badenern mit 2 Proz. mehr besetzt, ein sehr gutes Zeichen.

4. Klasse C hat bei den Einj.-Freiw. ebensoviel weniger, als die beiden ersten Klassen mehr. Bei Klasse C gilt, was bei Klasse A ausgeführt, daß die Eiuj.-Freiw. 10 Jahrgänge umfassen, unter ihnen also mehr ausgewachsene Leute sind, als bei meinen 20 jährigen Badenern.

Klasse D und E sind auf beiden Seiten fast gleich. Die auf¬ fallende Übereinstimmung des so verschiedenen Menschenmaterials in Klasse D und E könnte man wohl unter Berücksichtigung des eben Gesagten dahin erklären, daß mit zunehmendem Alter unter den besonders Schwachen eine Besserung nicht mehr zu erwarten ist. Kurz gesagt, wer im ersten Gestellungsjahr schwächlich ist, bleibt es die zwei anderen Jahre auch.

Die Jahresklasse 1911 der Badener steht also dem Pignet- schen Index nach etwas schlechter als die Einj.-Freiw. Das kann weiter nicht wundern. Viel bedeutungsvoller wären Vergleiche mit der 20jährigen Jungmannschaft anderer Gegenden und Länder nach dem Ergebnis des Pign et’ sehen Verfahrens.

Nach der Tauglichkeitsskala steht Baden J) an 17. Stelle unter den 23 deutschen Aushebungsbezirken.

2.

Um die Körperbeschaffenheit in den einzelnen Gegenden Ba¬ dens kennen zu lernen, wurde in den Bezirksämtern, deren alpha-

9 Fr. Prinzing, Der Prozentsatz der Militärtauglichen als Maßstab der körperlichen Entwicklung einer Bevölkerungsgruppe. Zeitschrift für Sozialwissen¬ schaft, Bd. 4, 1908.

Unters, an wehrpflichtigen jungen Badnern n. d. Pignet’schen Verfahren. 153

betische Listen die drei Maße: Größe, Brustumfang und Gewicht enthielten, die Wehrflpichtigen nach Größen und Indexklassen ge¬ ordnet. Leider fanden sich die drei nötigen Maße nur in 33 Bezirksämtern bei jedem Untersuchten verzeichnet. Das Ergebnis dieser Untersuchungen bringen die nächsten Tabellen.

Tabelle XI. Bezirksamt Lahr.

M

m

+

A

B

C

D

E

Sa.

M

m

I

1

6

25

10

3

45

II

7

39

69

28

14

157

III

1

19

38

6

5

69

IV

1

4

15

3

3

26

Sa.

1-

10

68

147

47

25

-

297

Tabelle XIII. Bezirksamt Wolfacli.

M

m

+

A

B

C

D

E

Sa.

M

m

I

8

2

29

9

4

8

44

II

16

44

7

10

77

III

1

11

15

7

4

38

IV

2

3

5

1

11

Sa.

1 8

1

31

91

28

19

-

178

Tabelle XV. Bezirksamt Oberkirch.

M

m

i

X

A

B

C

D

E

Sa.

M

m

6

6

I

1

7

28

5

2

43

II

5

14

44

13

11

87

III

7

16

3

1

27

IV

2

6

1

1

10

Sa.

1 6

6

30

94

22

15

-

173

Tabelle XII. Bezirksamt Offenburg.

M

m

+

A

B

C

D

E

-

Sa.

M

m

8

8

I

6

22

32

13

7

80

II

1

6

42

79

25

7

160

III

7

22

31

10

5

75

IV

1

2

7

15

3

3

31

Sa.

1 8

2

21

93

157

71

22

-

354

Tabelle XIV. Bezirksamt Kehl.

M

m

+

A

B

C

D

E

Sa.

M

m

3

3

I

1

10

20

6

37

II

2

39

36

10

3

90

III

4

16

15

2

2

39

IV

1

10

10

1

22

Sa.

3

2

6

75

81

18

6

-

191

Tabelle XVI. Bezirksamt Säckingen.

M

m

+

A

B

C

D

E

Sa.

M

m

1

1

I

6

9

4

19

II

- -

1

24

34

10

2

71

III

12

13

5

4

34

IV

1

3

9

1

1

15

Sa.

1

2

45

65

20

-

140

154

Gerhard Simon,

Tabelle XVII. Bezirksamt Breisach.

M

m

+

A

B

C

D

E

Sa.

M

m

1

1

I

1

3

12

7

1

24

II

1

22

28

3

9

63

III

1

8

11

4

4

28

IV

3

7

1

2

13

Sa.

1

:

3

36

58

15

16

-

129

Tabelle XIX. Bezirksamt Ettenheim.

M

m

~b

A

B

C

D

E

Sa.

M

m

2

2

I

6

12

3

21

II

2

16

31

4

2

55

III

1

5

14

6

2

28

IV

4

9

3

2

18

Sa.

2

3

31

66

16

6

124

Tabelle XXI. Bezirksamt Freiburg (Land).

M

m

+

A

B

C

D

E

Sa.

M

m

4

4

I

1

11

13

5

1

31

II

1

2

14

43

22

11

93

III

2

7

25

5

14

-

53

IV

3

7

2

3

15

Sa.

4

1

5

35

88

34

29

196

Tabelle XXIII.

Bezirksamt Waldkirch.

M

m

+

A

B

C

D

E

Sa.

M

m

3

3

I

2

6

20

9

6

43

II

1

17

39

22

14

93

III

3

3

14

5

3

28

IV

1

4

5

3

13

Sa.

3

6

27

77

41

26

-

o

00

r-H

Tabelle XVIII. Bezirksamt Emmendingen.

M

m

+

A

B

C

D

E

Sa.

M

m

10

10

I

1

19

40

7

9

76

II

5

69

92

30

10

206

III

2

3

20

40

16

8

89

IV

4

10

13

5

4

36

Sa.

10

•2

kti

13

118 185

58

31

-

417

Tabelle XX.

Bezirksamt Freiburg (Stadt).

M

m

+

A

B

c

D

E

Sa.

M

Hl

4

4

I

1

1

10

15

8

9

44

II

3

37

66

24

34

164

III

2

12

22

13

18

67

IV

5

8

12

8

33

Sa.

|4

1

6

64

111

57

69

| 312

Tabelle XXII. Bezirksamt Staufen.

M

m

+

A

i -

B

C

D

E

Sa.

M

m

1

1

I

5

4

3

12

II

- 2

18

27

11

2

60

III

4

13

14

1

3

35

IV

1

8

7

6

2

24

Sa.

i

_

7

44

52

21

7

-1

132

Tabelle XXIV.

Bezirksamt Lörrach.

M

m

+

A

B

C

D

E

Sa..

M

m

2

2

I

1

9

17

6

33

II

1

10

45

68

16

17

157

III

8

17

32

11

10

78

IV

3

5

10

2

5

25

Sa.

2

2

21

76

127

35

32

-1

295

Unters, an wehrpflichtigen jungen Badnern n. d. Pignet’schen Verfahren. 155

Tabelle XXV. Bezirksamt Müllheim.

M

m

+

A

B

C

D

E

Sa.

M

m

1

1

I

1

8

15

2

2

28

II

6

16

28

9

6

65

III

2

16

14

5

4

41

VI

6

11

4

3

24

Sa.

l-i

1

8

46

j 68

20

15

159

Tabelle XXVII.

Bezirksamt Schopfheim.

M

m

+

A

B

C

D

E

Sa.

M

m

3

3

I

2

9

12

2

25

II

5

38

50

11

2

106

III

1

1

17

18

5

3

45

IV

4

4

10

2

1

21

Sa.

3

1

12

68

90

20

6

-1

200

Tabelle XXIX.

Bezirksamt Konstanz (Stadt).

M

m

+

A

B

C

D

E

Sa.

M

m

2

2

I

2

12

9

6

29

II

1

2

17

34

14

10

78

III

1

4

18

8

8

39

IV

1

5

9

4

3

22

Sa.

1

4

28

73

35

27

-1

170

Tabelle XXXI.

Bezirksamt Stockach.

M

m

+

A

B

C

D

E

Sa.

M

m

5

5

I

2

8

8

3

1

22

II

5

28

34

12

5

84

III

2

14

20

2

2

40

IV

3

7

6

2

18

Sa.

5

9

53

69

23

10

-

169

Tabelle XXVI. Bezirksamt Schönau.

M

m

+

A

B

C

D

E

Sa.

M

m

2

2

I

1

6

2

9

II

6

12

32

14

4

68

III

2

0

18

5

30

IV

2

2

2

6

Sa.

1-2

8

20

58

23

4

-

115

Tabelle XXVIII. Bezirksamt Überlingen.

M

m

+

A

B

C

D

E

Sa.

M

m

3

3

I

9

21

7

2

39

II

7

21

54

18

5

105

III

2

8

31

7

4

52

IV

1

2

9

16

4

5

.

37

Sa.

3

1

11

47

122

36

16

-

236

Tabelle XXX.

Bezirksamt Konstanz (Land).

M

m

+

A

B

C

D

E

Sa.

M

m

6

6

I

1

15

34

9

3

62

II

3

28

80

30

14

155

III

3

18

38

14

11

84

IV

9

11

2

7

29

Sa.

6

1

6

70

163

55

35

336

Tabelle XXXII.

Bezirksamt Engen.

M

m

+

A

B

C

D

E

Sa.

M

m

4

4

I

1

6

18

5

1

31

II

2

24

42

12

6

88

III

2

9

13

5

1

30

IV

4

5

3

4

16

Sa.

5

5

43

78

25

12

-

167

156

Gerhard Simon,

Tabelle XXXIII. Bezirksamt Meßkirch.

M

m

+

A

B

C

D

E

Sa.

M

in

3

3

I

2

8

13

3

26

II

2

21

20

7

6

56

III

3

7

11

4

2

27

IV

1

2

3

3

9

Sa.

*3

7

37

46

17

11

-

121

Tabelle XXXV.

Bezirksamt Ettlingen.

M

m

+

A

B

C

D

E

Sa.

M

m

4

4

I

6

19

19

5

1

50

II

2

9

47

45

11

2

110

III

2

10

18

7

3

40

IV

2

2

7

4

2

17

Sa.

4

2

19

78

89

27

8

227

Tabelle XXXVII.

Bezirksamt Karlsruhe (Land).

M

m

+

A

B

C

D

E

Sa.

M

m

7

7

I

2

13

29

7

3

54

II

8

39

70

16

8

141

III

6

12

13

4

2

37

IV

1

1

5

14

1

2

24

Sa.

7

i

17

69

126

28

15

-

263

I i I

Tabelle XXXIX.

Bezirksamt Pforzheim.

M

m

+

A

B

C

D

E

Sa.

M

m

8

8

I

8

25

48

14

7

102

II

2

7

62

122

50

21

- -

264

III

2

21

75

20

13

131

IV

5

11

24

10

11

61

Sa.

! 8

2

22

119

269

94

52

-

566

Tabelle XXXIV. Bezirksamt Pfullendorf.

M

m

+

A

B

C

D

E

Sa.

M

m

I

1

7

9

2

1

20

II

11

10

9

1

31

III

1

5

6

3

2

17

IV

8

2

10

Sa.

1-

1

1

31

27

14

4

-

78

Tabelle XXXVI.

Bezirksamt Karlsruhe (Stadt).

M

m

+

A

B

C

D

E

Sa.

M

m

10

10

I

2

15

49

16

6

88

II

1

10

55

103

45

21

235

III

5

23

35

9

20

92

IV

3

11

28

8

19

69

Sa.

10

1

20

104

215

78

66

-

494

Tabelle XXXVIII.

Bezirksamt Durlach.

M

m

+

A

B

C

D

E

Sa.

M

m

I

2

19

20

K

0

4

50

II

9

41

51

19

4

124

III

1

8

12

32

10

7

70

IV

1

7

10

4

4

_

26

Sa.

2

19

79

113

38

19

-

270

I i

Tabelle XL.

Bezirksamt Bretten.

M

m

+

A

B

C

D

E i

Sa.

M

m

2

2

I

4

12

1

2

19

II

2

7

39

39

3

3

93

III

1

1

13

26

8

2

51

IV

7

4

2

2

15

Sa.

2

3

8

63

81

14

9

-

o

00

Unters, an wehrpflichtigen jungen Badnern n. d. Pignet’schen Verfahren. 157

Tabelle XLI. Bezirksamt Bruchsal.

M

m

+

A

B

C

D

E

Sa.

M

ni

5

5

I

1

3

27

43

10

2

86

II

16

72

109

42

7

246

III

1

4

36

50

13

6

110

IV

3

3

18

5

6

35

Sa.

1 6

2

26

138

220

70

21

482

Tabelle XLIII. Bezirksamt Bühl.

M

m

+

A

B

C

D

E

Sa.

M

m

10

10

I

1

12

31

8

7

59

II

2

37

59

27

13

138

III

5

17

20

5

4

51

IV

1

5

7

2

15

Sa.

10

9

71

117

42

24

-

273

Tabelle XLY. Bezirksamt Rastatt.

M

m

+

A

B

C

D

E

Sa.

M

m

12

12

I

4

33

59

8

6

110

II

1

11

74

97

39

14

236

III

10

30

47

4

8

99

IV

6

10

16

2

34

Sa.

|l2

1

31

147

219

53

28

491

Tabelle XLII. Bezirksamt Achern.

M

m

+

A

B

C

D

E

Sa.

M

m

3

3

I

1

8

21

7

4

41

II

1

5

33

56

15

5

115

III

3

21

20

5

4

53

IV

2

8

7

3

3

23

Sa.

3

1

11

70

104

30

16

235

Tabelle XLIV. Bezirksamt Baden.

M

m

+

A

B

C

I)

E

Sa.

M

m

5

5

I

2

13

24

9

2

50

II

7

31

44

16

13

111

III

2

14

23

8

6

53

IV

2

6

6

6

20

Sa.

1*

11

60

97

39

27

239

Tabelle XL VI. Bezirksamt Eppingen.

M

m

+

A

B

C

D

E

Sa.

M

m

I

1

2

4

9

2

18

II

1

4

19

29

9

3

65

III

6

14

4

1

25

IV

2

3

5

Sa.

1-

2

6

29

54

18

4

-

113

Die Güte einer Rasse beurteilt man gewöhnlich nach dem Prozentanteil der Besten und Schlechtesten. In Tabelle XLVII ist deshalb der Prozentsatz der A- und E-Leute in den 33 Bezirks¬ ämtern berechnet worden.

Archiv für Soziale Hygiene. VII.

11

158

Gerhard Simon,

Tabelle XL VII.

Bezirksämter nach Kreisen geordnet

Gesamtzahl

A-Kla

absolut

sse

0/

Io

E-Klasse

absolut %

Kreis Offenbar g.

Bezirksamt Lahr

297

10

3,4

25

8,4

Offenburg

354

21

5,9

22

6,2

Wolf ach

178

1

0,6

19

10,7

Kehl

191

6

3,2

6

3,2.

Oberkirch

173

6

3,5

15

9,0

Kreis Waldshut.

Bezirksamt Säckingen

140

2

1,4

7

5,0'

Kreis Freiburg.

Bezirksamt Breisach

129

3

2,3

16

12,4

Emmendingen

417

13

3,1

31

7,4

Ettenheim

124

3

2,4

6

4,9

Freiburg, Stadt

312

6

1,9

69

22,1

^ ^ Land

196

5

2,5

29

14,8

Staufen

132

7

5,3

7

5,3

Waldkirch

180

6

3,4

26

14,4

Kreis Lörrach.

Bezirksamt Lörrach

295

21

7,1

32

10, &

Müllheim

159

8

5,1

15

9,4

Schönau

115

8

7,0

4

3,5

Schopfheim

200

12

6,0

6

3,0

Kreis Konstanz.

Bezirksamt Überlingen

236

11

4,7

16

6,8

Konstanz, Stadt

170

4

2,3

27

15,8

Land

336

6

1,8

35

10,4

Stockach

169

9

5,3

10

5,9

Engen

167

5

2.9

12

7,2

Meßkirch

121

7

5,7

11

9,0

Pf ullendorf

78

1

1,3

4

5,1

Kreis Karlsruhe.

Bezirksamt Ettlingen

227

19

8,3

8

3,6

Karlsruhe, Stadt

494

20

4,1

66

13,7

Land

263

17

6,5

15

5,9

Durlach

270

19

7,0

19

7.0

Pforzheim

566

22

3,9

52

9;5

Bretten

180

8

4,4

9

5,0

Kreis Baden.

Bezirksamt Bruchsal

482

26

5,3

21

4,3

Achern

235

11

4,7

16

6j8

Bühl

* 273

9

3,3

24

8,8

Baden

239

11

4,5

27

11,3

Bastatt

491

31

6,3

28

5,7

Kreis Heidelberg.

Bezirksamt Eppingen

113

6

5,3

4

3,5

Unters, an wehrpflichtigen jungen Badnern n. d. Pignet’schen Verfahren. 159

Der höchste Prozentanteil für die besonders Kräftigen ist 8,6 Proz., er übersteigt also den allgemeinen Durchschnitt um fast das Doppelte. Von den 33 berechneten Bezirksämtern haben 18 Bezirksämter mehr als 4,4 Proz., soviel beträgt der allgemeine Durchschnitt, A-Leute.

Die meisten Besten haben also die Bezirksämter.

Ettlingen mit 8,3 Proz.

Durlach, Lörrach, Schönau 7 8

Schopfheim, .Rastatt, Karlsruhe, Land 6 7

In der Rheinebene und dem Hügelland wohnen die kräftigsten jungen Leute. Die wenigsten A-Leute hatte das Bezirksamt Wol- fach mit 0,6 Proz. Wolfach liegt im hohen Schwarz wald, hat auch von jeher die meisten Minderwertigen gehabt.

Abstammung (kleiner Schwarzwaldtyp) und mangelnder Ver¬ dienst bewirken die schlechte Körperentwicklung.

Der höchste Prozentanteil für die besonders Schwachen ist

22.1 Proz.; er übersteigt den Prozentanteil des Jahrgangs von

8.1 Proz. fast um das Dreifache. 15 Bezirksämter stehen bezüglich der E- Leute schlechter als der allgemeine Durchschnitt. Die meisten E-Leute hatten:

Freiburg Stadt mit 21,2 Proz.

Konstanz Stadt 15,8

Freiburg Land 14,8

Bezirksamt Waldkircli 14,4

Karlsruhe Stadt 13,7

Städter und Bewohner des hohen Schwarzwaldes!

3.

Um mittels des Pignet’schen Verfahrens einen Einblick in die Körperbeschaffenheit der vertretenen Berufsgruppen und Berufs¬ klassen zu gewinnen war zunächst eine Berufsstatistik nötig.

Als Muster habe ich die anläßlich der Berufs- und Betriebs¬ zählung im Deutschen Reiche am 12. 6. 1907 aufgestellte Ein¬ teilung1) benutzt und nach diesem Muster die folgende Tabelle aufgestellt, in welcher die 20 jährige Mannschaft nach Berufsgruppen, Berufen, Größen und Indexklassen eingeteilt ist.

x) Statistik des Deutschen Reiches, Bd. 205, 1907. Statistische Mitteilungen über das Großherzogtum Baden. N. F., Bd. 1, 1908.

11*

160

Gerhard Simon,

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Berufsgruppen und Berufe

Unters, an wehrpflichtigen jungen Badnern n. d. Pignet’schen Verfahren. 165

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166

Gerhard Simon,

Das nähere Studium dieser Tabelle muß ich dem Leser über¬ lassen. Aus ihr leiten sich alle folgenden Tabellen ab, zunächst Tabelle XLIX, welche die 26 Berufsgruppen und die Verteilung der Angehörigen dieser Berufsgruppen auf die einzelnen Index¬ klassen wieder gibt. Die einzelnen Berufsgruppen:

Tabelle XLIX.

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A

B

C

D

E

I. Landwirtschaft

67

6

110

764

1327

328

162

2764

IL Forstwirtschaft

3

25

39

8

10

85

III. Bergbau

1

1

IV. Industrie der Steine und Erden

2

1

6

25

46

7

6

93

V. Metallverarbeitung

16 ,

6

54

302

503

139

68

1088

VI. Industrie der Maschinen, Instru¬ mente und Apparate

4

2

10

101

146

46

26

335

VII. Chemische Industrie

2

2

6

8

18

VIII. Forstwirtschaftliche Nebenpro¬ dukte

1

1

2

IX. Textilindustrie

1

1

5

36

82

28

12

165

X. Papierindustrie

3

6

20

16

7

52

XI. Lederindustrie

3

2

3

32

36

14

10

100

XII. Industrie der Holz- und Schnitz¬ stoffe

9

15

94

186

70

26

400

XIII. Industrie der Nahrungs- und Genußmittel

24

6

66

271

355

80

25

827

XIV. Bekleidungsgewerbe

13

1

7

56

77

23

22

199

XV. Beinigungsgewerbe

3

1

16

43

30

13

106

XVI. Baugewerbe

4

1

45

195

312

69

39

665

XVII. Polygraphisches Gewerbe

4

2

16

39

25

20

106

XVIII. Künstliches Gewerbe

1

1

5

14

8

8

37

XIX. Fabrikarbeiter

23

3

37

236

385

102

92

878

XX. Handelsgewerbe

10

7

9

106

255

146

124

657

XXL Versicherungsgewerbe

1

1

3

2

3

10

XXII. Verkehrsgewerbe

1

13

50

51

16

10

141

XXIII. Gast- und Schankwirtschaft

1

4

16

, 31

7

8

67

XXIV. Häusliche Dienste, Lohnarbeit wechselnder Art

11

1

34

232

310

92

53

733

XXV. Staatsdienst, freie Berufe

5

29

72

24

14

144

XXVI. Ohne Beruf

2

9

84

125

55

32

307

201

38

440

2705

4460

1338

798

9980

Die Haupterwerbszweige bilden nach diesen beiden Tabellen folgende Berufsgruppen :

1. Gruppe I. Die Landwirtschaft

2. V. Die Metallverarbeitung.

(Pforzheimer Edelmetallindustrie und Ma¬ schinenfabriken.)

3. ,, XIX. Die Fabrikarbeit.

4. ,, XXIV. Die Lohnarbeit.

Unters, an wehrpflichtigen jungen Baclnern n. d. Pignet’schen Verfahren. 167

5. Gruppe

6.

7.

XIII. Die Nahrungs- und Genußmittelindustrie.

(Lalirer Zigarren-Industrie.)

XVI. Das Baugewerbe.

XX. Das Handelsgewerbe.

Es haben der Reihenfolge nach die meisten

besonders Kräftigen Gruppe I Landwirtschaft mit 110 XIII Industrie der Nahrungs-und Genu fl mittel ,, 66

V Metallverarbeitung 54

XVI Baugewerbe 45

XIX Fabrikarbeit 37

XXIV Tagelohn 34

besonders Schwachen.

Gruppe I Landwirtschaft mit 162 ,, XX Handelsgewerbe ., 124 XIX Fabrikarbeit 92

V Metallverarbeitung 68

X^IV Tagelohn 53

XVI Baugewerbe 39

Bei der Gesamtzahl von 9980 erhält man, wenn man sich das Komma 2 Stellen nach links gerückt denkt, mit den absoluten, zugleich die Prozentzahlen der Gesamtbeteiligung in den einzelnen Klassen.

Die Landwirtschaft liefert uns also von der Gesamtmannschaft die meisten „besonders Kräftigen“ und die meisten „besonders Schwachen“. Die anderen 5 Hauptgruppen finden wir unter den 6 besten und 6 schlechtesten Gruppen auch wieder und zwar in beiden Klassen.

I. Landwirtschaft.

V. Metallverarbeitung.

XVI. Baugewerbe.

XIX. Fabrikarbeit.

XXIV. Tagelohn.

Unter den besonders Kräftigen allein Gruppe XIII.

Unter den besonders Schwachen allein Gruppe XX.

Aus dem gemeinsamen Vorkommen der erwähnten Gruppen in der E- und A-Klasse können wir schließen, daß sie weder nach der guten noch nach der schlechten Seite an erster Stelle stehen. Vermutlich wird bezüglich der körperlichen Entwickelung am besten zu bewerten sein:

Gruppe XIII, Industrie der Nahrungs- und Genußmittel,

am schlechtesten: Gruppe XX, Handelsgewerbe.

Wollen wir die Körperbeschaffenheit in den einzelnen Gruppen näher kennen lernen, muß prozentual das Verhältnis der einzelnen Indexklassen in den Berufsgruppen berechnet werden. Aus sta¬ tistischen Gründen hat die Berechnung nur bei den Gruppen statt¬ gefunden, die über 100 Vertreter aufweisen, das sind die 17 in folgender Tabelle aufgeführten.

168

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Gerhard Simon,

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Tabelle L.

Unters, an wehrpflichtigen jungen Badnern n. d. Pignet’schen Verfahren. 169

Die Prozentbeteiligung der einzelnen Berufsgruppen in den Indexklassen ist zur besseren Veranschaulich ung noch einmal in fünf Säulentabellen wiedergegeben. Siehe Anlage 1.

Die Plusklasse ist wegen ihrer zahlenmäßigen Unbedeutend¬ heit nicht mit aufgeführt.

Die Berufsgruppen sind in jeder Tabelle nach der Höhe des Prozentanteils geordnet. Die 7 Hauptberufsgruppen sind punktiert gezeichnet. Die schwarze Senkrechte in jeder Tabelle zeigt die Stelle, an welcher der Jahrgang in der Reihenfolge stehen würde.

Wir betrachten an der Hand der Tabellen x) in jeder Indexklasse:

1. Das Verhältnis der einzelnen Berufsgruppen zum Prozent¬ anteil des Jahrgangs.

2. Den Unterschied zwischen niedrigstem und höchstem Pro¬ zentsatz.

3. Die Reihenfolge der Berufsgruppe, besonders Anfang und Ende.

Indexklasse A.

Besonders Kräftige.

Der Prozentanteil des Jahrgangs beträgt 4,4 Proz. Nur 5 Berufsgruppen haben einen höheren Prozentsatz sehr kräftiger Leute: Gruppe XXIV Tagelohn mit 4,6 Proz.

j; V Metallverarbeitung mit 5 Proz.

XVI Baugewerbe mit 6,8 Proz.

,, XIII Industrie der Nahrungs- u. Genußmittel mit 8 Proz.

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Am höchsten Gruppe XXII, das VerkehrsgewTerbe, mit 9,2 Proz., also über das Doppelte des Prozentanteils des Jahrgangs. Die Gruppe XXII setzt sich zusammen aus Packern, Magazinern, Fuhr¬ leuten, Bahn- und Telegraphenarbeitern; alles gut bezahlte Leute, die hauptsächlich im Freien arbeiten.

x) Vergleiche auch die auf beigegebener Tafel vereinigten einzelnen graphi¬ schen Darstellungen.

170 Gerhard Simon,

Erfreulich ist, daß unter den 5 besten Berufsgruppen 4 Haupt¬ berufsgruppen sind, leider und auffallenderweise nicht die größte Berufsgruppe, die Landwirtschaft. 12 Gruppen bleiben hinter dem Prozentanteil des Jahrgangs zurück, darunter auch die Landwirte, es sind also nur 5 von 17 Gruppen = 29,5 Proz. besser als der Ge¬ samtdurchschnitt, 70,5 Proz. schlechter.

Die wenigsten sehr Kräftigen hat das Reinigungsgewerbe, es bleibt hinter Gruppe XXII um über das Zehnfache zurück.

Die Reihenfolge nach der Höhe des Prozentanteils geordnet, lautet :

Berufsgruppe

XV Reinigungsgewerbe

0,9

Proz,

»

XX Handelsgewerbe

1,4

55

n

XVII Polygraphisches Gewerbe

1,9

55

5,

XXVI ohne Beruf

2,3

55

55

VI Maschinenindustrie

3,0

55

55

XI Lederindustrie

3,0

55

55

IX Textilindustrie

3,0

55

55

XXV Staatsdienst

3,5

55

55

XIV Bekleidungsgewerbe

3,5

55

55

XII Holzindustrie

3,8

55

55

I Landwirtschaft

4,0

55

ftft

XIX Fabrikarbeit

4,2

55

yj

XXIV Häusliche Bedienstete

4,6

55

V Metallindustrie

5,0

55

55

XVI Baugewerbe

6,8

55

ft

XIII Industrie der Nahrungs- und Ge¬

nußmittel

8,0

,5

55

XXII Verkehrsgewerbe

9,2

55

Indexklasse B.

Kräftige.

Der Prozentanteil des Jahrgangs in dieser Klasse beträgt 28 Proz. Einen höheren Anteil weisen 7 Gruppen auf.

Gruppe

55

»

55

55

XIV Bekleidungsgewerbe 28,2 Proz.

XVI Baugewerbe 29,5

VI Maschinenindustrie 31,1

XXIV Häusliche Bedienstete 31,6 ,,

XI Lederindustrie 32,0

XIII Industrie der Nahrungs- und Genußmittel 32,8 XXII Verkehrsgewerbe 35,5

Unters, an wehrpflichtigen jungen Badnern n. d. Pignet’schen Verfahren. 171

darunter nur 3 Hauptberufsgruppen. Die Landwirtschaft erreicht auch hier nicht die Anteilsquote des Jahrgangs, trotzdem 7 Gruppen gegen 5 in der A-Klasse mehr Kräftige als der Jahrgang im ganzen haben.

Der Unterschied des Prozentanteils in den einzelnen Gruppen ist lange nicht so groß und verhält sich zwischen der mit dem niedrigsten Anteil, auch hier wieder Gruppe XV, dem Reinigungs¬ gewerbe, zu der mit dem höchsten Anteil, auch hier wieder, wie in Indexklasse A, dem Verkehrsgewerbe wie 3 : 7.

Die Reihenfolge nach der Höhe des Prozentanteils ist:

Berufsgruppe XI Reinigungsgewerbe

XVII Polygraphisches Gewerbe

XX Handelsgewerbe

. XXV Staatsdienst

IX Textilindustrie

XII Holzindustrie

,, XXVI ohne Beruf

,, I Landwirtschaft

V Metallindustrie

XIV Bekleidungsgewerbe

,, XVI Baugewerbe

VI Maschinenindustrie

XXIV Häusliche Bedienstete

XI Lederindustrie

XIII Industrie der Nahrungs- und Ge¬

nußmittel

XXII Verkehrsgewerbe

15,1 Proz..

15.1

16.1

20,1 21,8 27,0

27.4

27.5

27.8 28,2

29.5

30,1

31.6

32,0

32.8

Wie in der A-Klasse stehen auch hier am Anfang das Keini- gungs- und das Handelsgewerbe, die also die wenigsten sehr kräftigen und kräftigen Leute haben, und am Ende der Keihe die

172

Gerhard Simon,

Industrie der Nahrungs- und Genußmittel, und das Verkehrsge- werbe, die also die meisten sehr Kräftigen und Kräftigen haben.

Indexklasse C.

Noch nicht genügend Entwickelte.

Der Prozentanteil des Jahrgangs in dieser Klasse beträgt 45,6 Proz. Über diesen Prozentsatz sind in dieser Klasse 6 Gruppen

vertreten :

Berufsgruppe Y Metallindustrie 46,2 Proz.

XII Holzindustrie 46,5

XVI Baugewerbe 46,9

I Landwirtschaft 48,8

IX Textilindustrie 49,7

XXV Staatsdienst 50,0

Da in dieser Indexklasse, wie schon ausgeführt, 2 Körperkon¬ stitutionen, die Mittelkräftigen und die etwas Schwächlichen ver¬ treten sind, läßt sich ohne weiteres nicht sagen, ob diese den Jahrgangsanteil übertreffenden Zahlen der 5 Berufsgruppen mehr einen Vorteil oder Nachteil für sie darstellen. In dem Umstand, daß unter diesen 6 Berufsgruppen 4, darunter auch die Landwirt¬ schaft sind, welche nur wenig sehr kräftige und kräftige Leute aufweisen, kann man wohl kein günstiges Zeichen erblicken. Daß das Baugewerbe, welches in bezug auf den Prozentanteil der sehr Kräftigen und Kräftigen den Jahrgangsanteil übertrifft, ebenso wie die Metallindustrie, die auch sehr Kräftige über, den Jahr¬ gangsanteil liefert, hier vertreten ^ind, läßt wohl auf eine körper¬ lich wie sozial verschieden zu bewertende Zusammensetzung der unter diesen Berufsgruppen zusammengefaßten Berufe schließen.

Für die von mir vorgeschlagene Bezeichnung dieser Klasse, als der noch nicht genügend Entwickelten, führe ich die 48,3 Proz.

Unters, an wehrpflichtigen jungen Badnern n. d. Pignet’schen Verfahren. 173

der Landwirtschaft an, einer Berufsgruppe die nach den anthro¬ pologischen Untersuchungen Ammon’s1) unter ihren 20jährigen Vertretern die meisten körperlich noch nicht Reifen aufweist, ferner die sehr viel niedrigere Prozentzilfer bei den Einjährig- Frei¬ willigen Schwienings mit nur 37,6 Proz.

Der Prozentanteil der einzelnen Gruppen verläuft in einer viel gleichmäßiger ansteigenden Kurve, wie bei den besonders Kräftigen und Kräftigen.

Der Unterschied zwischen der Gruppe mit höchster und der mit niedrigster Beteiligung beträgt nur 3 : 4.

Die Reihenfolge nach der Höhe des Prozentanteils ist:

Berufsgruppe XI Lederindustrie

XXII Verkehrsgewerbe

XVII Polygraphisches Gewerbe

XIV Bekleidungsgewerbe

XX Handelsgewerbe

XV Reinigungsgewerbe

XXVI ohne Beruf

XXIV Häusliche Bedienstete

XIII Industrie der Nahrungs- und Ge¬

nußmittel

XIX Fabrikarbeit

V Metallindustrie

XII Holzindustrie XVI Baugewerbe

I Landwirtschaft

IX Textilindustrie

XXV Staatsdienst

36,0 Proz.

36.2

36,8

38.7

38.8

40.6

40.7

42.3

43.6

43.8

46.2

46,5

46.9

48.3

49.7

50,0

Indexklasse D.

Schwache.

Der Prozentanteil des Jahrgangs in dieser Klasse beträgt 13,6 Proz. Während in den vorhergehenden 3 Klassen immer nur ein kleiner Bruchteil über die Prozentzahl des Jahrgangs sich er¬ hob, sind es hier mehr als die Hälfte, 9 Berufsgruppen.

Berufsgruppe VI Maschinenindustrie mit 13,7 Proz.

XI Lederindustrie 14,0

XXV Staatsdienst 16,7

. 9 1. c.

Archiv für Soziale Hygiene. VII.

12

174

Gerhard Simon,

Berufsgruppe IX Textilindustrie

XII Holzindustrie

XXVI ohne Beruf

XX Handelsgewerbe

XVII Polygraphisches Gewerbe

XV Reinigungsgewerbe

mit 17,0 Proz.

17,5 17,9 22,2 24,5 28,3

5?

)•

?*

Nahrunqsmitteljndusr j

1 Baugewerbe

Verkehrsqewerbe

C, Bekleidungsgewerbe l

■S Fabrikarbeiter

O

CU

(/)

W

n>

ejo

Landwirtschaft

-SS Häusl. Bedienstete

eS Metall ^Industrie

Maschinen-Jndustrie

Textilindustrie

; Staatsdienst

i Textilindustrie

i Holzindustrie

: Ohne Beruf

Handlunqsgewerb?.

I Polygraphisch Gewerbe

ejj Reimqunqsqewerbe fei

PT

Da diese Klasse die Leute mit schwacher Körperkonstitution darstellt, ist dieses kein günstiges Zeichen, und zwar um so weniger, als der Prozentanteil zwischen den Berufsgruppen mit den wenigsten und den mit den meisten Schwachen um das Dreifache differiert. Er¬ freulich ist nur, daß sich unter den Berufsgruppen mit hohem Pro¬ zentsatz an Schwachen bloß eine der 7 Hauptberufsgruppen, das Handelsgewerbe, sich befindet.

Die Reihenfolge nach der Höhe des Prozentanteils ist: Berufsgruppe XIII Industrie der Nahrungs- und Ge¬

nußmittel 9,6 Proz»

XVI Baugewerbe 10,4

XXII Verkehrsgewerbe 11,3

XIV Bekleidungsgewerbe 11,5

XIX Fabrikarbeit 11,6

I Landwirtschaft 11,8

XXIV Häusliche Bedienstete Tagelöhner 12,6

V Metallindustrie 12,8 ,,

VI Maschinenindustrie 13,7

XI Lederindustrie 14,0

XXV Staatsdienst 16,7

IX Textilindustrie 17,0

XII Holzindustrie 17,5

XXVI ohne Beruf 17,9

XX Handelsgewerbe 22,2

XVII Polygraphisches Gewerbe 24,5

XV Reinigungsgewerbe 28,3

Unters, an wehrpflichtigen jungen Badnern n. d. Pignet’schen Verfahren. 175

Am Anfang der Reihenfolge stehen die Berufsgruppen XIII, XVI, XXII, welche in der A- und B-Klasse am Ende standen. Diese Berufsgruppen haben also nicht nur die meisten sehr Kräftigen und Kräftigen, sondern auch die wenigsten Schwachen.

Umgekehrt finden wir die in dieser Klasse am Ende der Reihenfolge stehenden 3 Berufsgruppen XX, XVII, XV in Klasse A und B am Anfang. Es haben also diese 3 Berufsgruppen nicht nur die wenigsten besonders Kräftigen und Kräftigen, sondern un¬ günstigerweise auch noch die meisten schwachen Leute.

Indexklasse E.

Besonders Schwache.

Der Prozentanteil des Jahrgangs in dieser Klasse beträgt 8,1 Proz. und leider erheben sich fast die Hälfte, 8 Berufsgruppen, über diese unerfreuliche Höhe. Es sind dies folgende Berufsgruppen :

Berufsgruppe XXV Staatsdienst

XI Lederindustrie

XXVI ohne Beruf

XIX Fabrikarbeit

XIV Bekleidungsgewerbe

XV Reinigungsgewerbe XVII Polygraphisches Gewerbe XX Handelsgewerbe

mit 9,7 Proz. 10,0

» 10,4

10,5 ,,

» 11,1

12,3

» 18,8 ,,

18,9

m i

-g Nahrunqsmiltel-Jndust

Landwirtschaft

iS Bauaewerbe

M

S Metall'Jndustrie

<3

S Holz-Jndustrie

Üf

m

1^2 Verkehrsqewerbe ü|

Häusl. Bedienstete

"X

Ö Textil-Jndustrie

N

y

So Maschinen-Jndusfrie

üf

ö7

<5 Staatsdienst

1r£

C/l

-S Leder-Jndustrie

oi

|-S Ohne Beruf

n>

|f§ Fabrik rbeiter

i

1*3 Bekleidungsgewerbe öl

Reiniqunqsqewerbe

§

SS!

|g§ Polvqraphisch.Gewerbeg

|-?S Mancllunqsqewerbe

<3^

Von den Hauptberufsgruppen sind 2, darunter die Fabrik¬ arbeiter und wiederum das Handelsgewerbe, die sogar den aller¬ höchsten Anteil stellen, 6 mal mehr wie Gruppe XIII, die Industrie der Nahrungs- und Genußmittel. Die Reihenfolge nach der Höhe des Prozentanteils ist:

12*

176

Gerhard Simon,

Berufsgruppe

XIII Industrie der Nahrungs- und Ge¬ nußmittel

3,0

Proz.

5? *

I Landwirtschaft

5,9

ii

n

XVI Baugewerbe

5,9

ii

11

V Metallindustrie

6,3

5,

55

XII Holzindustrie

6,5

55

11

XXII Verkehrsgewerbe

7,1

55

11

XXIV Häusliche Bedienstete, Taglöhner

7,2

55

55

IX Textilindustrie

7,3

11

11

VI Maschinenindustrie

7,8

11

V

XXV Staatsdienst

9,7

11

11

XI Lederindustrie

10,0

11

11

XXVI ohne Beruf

10,4

11

11

XIX Fabrikarbeit

10,5

11

11

XIV Bekleidungsgewerbe

11,1

11

11

XV Reinigungsgewerbe

12,3

11

•>1

XVII Polygraphisches Gewerbe

18,8

11

11

XX Handelsgewerbe

18,9

11

Am Anfang der Reihenfolge steht auch hier wieder Gruppe XIII, Industrie der Nahrungs- und Genußmittel. Dann erfolgt gegen die vorige Klasse eine Verschiebung insofern, als Gruppe I, die Landwirtschaft, an 2. Stelle tritt. Das ist insofern erfreulich, als diese bei weitem größte Gruppe in den 4 vorstehenden Index¬ klassen kein besonders günstiges Bild zeigt. Wenn die Landwirt¬ schaft auch mit die wenigsten Minderwertigen hat, so überragen sie immer noch die besonders Kräftigen um 1,9 Proz.

Nur 3 Berufsgruppen haben mehr A- wie E-Leute.

Berufsgruppe XXII sehr Kräftige 9,2% gegen 7,1 % Minderwertige

XIII 8,0% 3,0 %

XVI 6,8 % 5,6%

Die 3 Berufsgruppen stehen also bezüglich der Körperbeschaffen¬

heit an der Spitze des Jahrgangs. Von den übrigen 16 Berufs¬ gruppen, die alle mehr besonders schwache, wie besonders kräftige Leute haben, will ich nur 2 hervorheben.

Berufsgruppe XVII mit 1,9% besonders Kräftigen und 18,8 % besonders Schwachen XX 1,4% ,, 18,9%

die also bezüglich der Güte der Körperkonstitution ihrer An¬ gehörigen sehr erheblich gegen die obigen 3 Klassen zurückstehen.

Unters, an wehrpflichtigen jungen Badnern n. d. Pignet’schen Verfahren. 177

4. Die einzelnen Berufe.

Bei der allgemeinen Berufszählung im Deutschen Reiche ist die Aufstellung der Berufsgruppen wohl lediglich vom wirtschaftlichen Standpunkt aus erfolgt. Sozialhygienisch sind aber die Berufe in den einzelnen Berufsgruppen ganz verschiedenartig zu bewerten. Ich brauche nur auf die große Sammelgruppe „Baugewerbe“ hinzu¬ weisen. Eine Berechnung des Prozentanteils der einzelnen Berufs¬ gruppen an den einzelnen Indexklassen wird also recht verschiedene Resultate ergeben.

Aus statistischen Gründen hat diese Berechnung nur in den Berufen, die mehr als 100 Vertreter aufweisen, stattgefunden. Es sind dies die in folgender Tabelle aufgeführten 21 Berufe.

(Tabelle siehe nächste Seite.)

Zur besseren Veranschaulichung des Prozentanteils der 21 Berufe in den Indexklassen A-E ist auch hier eine Säulentabelle angelegt. Anlage 2.

Die + Klasse ist auch hier wegen ihrer zahlenmäßigen Un¬ bedeutenheit nicht mit aufgeführt.

Die Berufe sind in jeder Tabelle nach der Höhe des Prozent¬ anteils geordnet, die 5 Hauptberufe sind wie die Hauptberufsgruppen in der vorigen Säulentabelle punktiert gezeichnet. Die schwarze Senkrechte in jeder Tabelle zeigt die Stelle, an welcher der Jahr¬ gang stehen würde. Es sollen an der Hand dieser Tabellen wie bei den Berufsgruppen in jeder Indexklasse betrachtet werden.

1. Das Verhältnis der einzelnen Berufe zum Prozentanteil des Jahrgangs,

2. Der Unterschied zwischen niedrigstem und höchstem Prozentsatz^

3. Die Reihenfolge der Berufe besonders Anfang und Ende.

Indexklasse A.

Besonders Kräftige.

Der Prozentanteil des Jahrgangs in dieser Klasse beträgt 4,4. Von den 21 Berufen haben 8 mehr besonders Kräftige:

die Zigarrenarbeiter Schlosser Taglöhner Maurer Schmiede

178 Gerhard Simon,

Tabelle LI.

Min.

A

B

C

D

E

abs.

°/o

abs.

%

abs.

%

abs.

0/

Io

abs.

Ol

Io

abs.

°/o

abs.

Ol

Io

I. Berufsgruppe

|

1. Landwirte

37

1,8

3

0,1

77

3,7

581

28,1

1005

48,6

241

11,7

125

6,0

2069

2. Knechte

28

4,4

3

0,5

19

3,0

171

26,8

290

45,4

94

14,7

33

5,2

638

Y. Berufsgruppe

3. Gold- und Silber-

arbeiter

7

2,1

1

0,3

13

3,8

67

20,9

167

47,6

52 16,4

30

8,9

347

4. Schlosser

3

0,8

1

0,2

19

4,8

123

31,7

183

46,8

40

10,2

22

5,6

391

5. Schmiede

1

0,6

12

7,6

64

40,5

64

40,5

15

9,5

2

1,3

158

VI. Berufsgruppe

6. Mechaniker

1

0,6

1

0,6

4

2,3

47

26,8

82

46,9

23

13,1

17

9,7

175

IX. Berufsgruppe

7. Textilarbeiter

1

0,7

4

2,7

32

21,9

74

50,7

24

16,5

11

7,5

146

XII. Berufsgruppe

8. Schreiner

6

2,4

10

4,1

66

26,8

102

41,5

46

18,7

16

6,5

246

XIII. Berufsgruppe

9. Bäcker

15

6,5

2

0,9

25

10,8

79

34,0

90

38,8

15

6,5

6

2,0

232

10. Metzger

1

0,8

1

0,8

18

13,7

53

40,4

52

39,7

6

4,6

131

11. Zigarrenarbeiter

6

1,6

1

0,3

17

4,5

98

26,1

185

49,2

55

14,6

14

3,7

376

XV. Berufsgruppe

-

12. Friseure

3

3,8

1

0,9

16

15,2

43

40,9

29

27,6

13

12,4

105

XVI. Berufsgruppe

*

13. Maurer

1

0,4

17

7,0

86

35,4

101

41,6

25

10,3

13

5,3

243

14. Zimmerer

13

10,9

25

21,1

60

50,4

13

10,0

8

6,7

119

15. Maler

3

1,9

1

0,6

2

1,3

47

29,7

72

45,6

19

12,0

14

8,9

158

XIX. Berufsgruppe

16. Fabrikarbeiter

17

2,6

3

0,5

28

4,3

184

28,3

290

44,7

64

9,9

63

9,7

649

17. Arbeiter

6

2,6

9

3,9

52

22,7

95

41,5

38

16,6

29

12,7

229

XX. Berufsgruppe

18. Kaufleute

5

0,9

6

1,1

6

1,1

91

16,6

21839,6

124

22,5

100

18,2

550

XXIV. Berufsgruppe

19. Häusl. Bedienstete

2

1,4

38

26,9

55

39,0

30

21,3

16

11,4

141

20 Taglöhner

9

1,7

1

0,2

36

6,6

168

30,8

234

42,9

60

11,0

37

6,8

545

XXVI. Berufs gruppe

21. Seminaristen

1

0,7

2

1,5

39

28,2

53

38,4

24

17,4

19

13 8

138

Die Hauptberufe sind also: Landwirte mit 2069 Mann

Fabrikarbeiter 649

landwirtsch. Knechte 638

Kaufleute 550

Taglöhner 545

4451 Mann

Unters, an wehrpflichtigen jungen Badnern n. d. Pignet’schen Verfahren.

179

die Bäcker ., Zimmerer Metzger

10.8 Proz.

10.9

13,7

3 ' 1

g Friseure

v

-ec Kaufleute

Maler

r? Häusl. Bedienstete g

ä

Ct Seminaristen gg

1

L

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et

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M

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3

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SSSSSSS 1

'o* Schmiede

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IS Bäcker M

!

§ Zimmerer

W

Metzger M

Die letzteren haben also 3 mal mehr als der ganze Jahrgang. Einer dieser 8 Berufe (Taglöhner) gehörte zu den Hauptberufen. Auffallenderweise befinden sich nicht die Landwirte unter diesen 8 Berufen. Während von den 17 Berufsgruppen nur 29,5 Proz. besser als der Jahrgang waren, sind es bei den 21 Berufen 38 Proz. 3 Berufe, die Bäcker, Zimmerer und Metzger, haben sogar über 10 Proz. besonders Kräftige. Die wenigsten haben die Friseure, die zugleich Berufsgruppe XV darstellen.

Der Unterschied zwischen ihnen und den Metzgern beträgt das Vierzehnfache.

Die Reihenfolge nach der Höhe des Prozentanteils ist:

1.

Berufsgruppe

XV

Friseure

0,9 Proz.

2.

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XX

Kaufleute

1,1

3.

5*

XVI

Maler

1,3

4.

U

XXIV

Häusliche Bedienstete

1,4

n

5.

»

XXVI

Seminaristen

1,5

55

6.

V

VI

Mechaniker

2,3

7.

b

IX

Textilarbeiter

2,7

J,

8.

V

I

Landwirtschaftliche Knechte

3,0

>>

9.

V

I

Landwirte

3,7

5J

10.

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V

Gold- und Silberarbeiter

3,8

V

11.

XIX

Arbeiter

3,9

J)

12.

V

XII

Schreiner

4,1

??

13.

V

XIX

Fabrikarbeiter

4,3

JJ

14.

XIII

Zigarrenarbeiter

4,5

15.

V

Schlosser

4,8

180 Gerhard Simon,

16. Berufsgruppe XXIV Taglöhner 6,6 Proz.

17. XVI Maurer 7,0

18. V Schmiede 7,6

19. XIII Bäcker 10,8

20. XVI Zimmerer 10,9

21. XIII Metzger 13,7

Wir sehen also aus der Reihenfolge, wie große Unterschiede in der Körperbeschaifenheit der einzelnen Berufe und der Berufe einer und derselben Berufsgruppe vorhanden sind. Vergleiche die zur Berufsgruppe XVI gehörenden Maler, Maurer und Zimmerer mit 1,3-7,0-10,9 Proz.

Indexklasse B.

Kräftige.

Der Prozentanteil des J ahrgangs in dieser Klasse beträgt 28 Proz. Von den Berufgsruppen haben 7 einen höheren Prozentsatz, von den Berufen aber 10, nahezu 50 Proz.

Landwirte 28,1 Proz.

Seminaristen 28,2

Fabrikarbeiter 28,3

Maler 29,7 .,

Taglöhner 30,8

Schlosser 31,7

Bäcker 34,0

Maurer 35,4

Metzger 40,4

Schmiede 40,5

co

X

DJ

W

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Bei den Berufsgruppen war die höchste Prozentzahl 35,5; die Metzger und die Schmiede haben mit 40,4 bzw. 40,5 sogar noch

Unters, an wehrpflichtigen jungen Badnern n. d. Pignet’schen Verfahren. 181

5 Proz. mehr. Der Unterschied zwischen niedrigstem Prozentsatz 15,2 Proz., den auch hier wieder die Friseure haben, und dem höchsten Prozentsatz 40,5 bei den Schmieden, ist auch hier nicht so groß wie in Indexklassee A und verhält sich wie 1 : 2,6.

Die Reihenfolge nach der Höhe des Prozentanteils ist:

1. Berufsgruppe

XV Friseure

15,2 Proz.

2.

V

XX Kaufleute

16,6

3.

V

V Gold- und Silberarbeiter

20,9

4.

XVI Zimmerer

21,1

5.

V

IX Textilarbeiter

21,9

»•

6.

??

XIX Arbeiter

22,7

V

7.

9

XIII Zigarrenarbeiter

26,1

r

8.

V

I Landwirtschaftliche Knechte

26,8

r

9.

5?

VI Mechaniker

26,8

10.

V

XII Schreiner

26,8

V

11.

XXIV Häusliche Bedienstete

26,9

,*

12.

,

I Landwirte

28,1

13.

r

XXVI Seminaristen

28,2

« «

14.

r

XIX Fabrikarbeiter

28,3

V

15.

V

XVI Maler

29,7

«•

16.

XXIV Taglöhner

30,8

5?

17.

V Schlosser

31,7

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18.

V

XIII Bäcker

34,0

??

19.

XVI Maurer

35,0

1')

20.

r

XIII Metzger

40,4

::

21.

V Schmiede

40,5

V

Friseure und Kaufleute stehen in der A- und B-Klasse am Anfang der Reihe mit einer im Verhältnis zu den anderen Berufen auffallend niedrigen Anteilziffer. Die Landwirte, welche man ge¬ wiß unter den Besten vermutet hat, stehen in der A-Klasse in der schlechteren Hälfte, in der B-Klasse am Anfang der besseren Hälfte; sie zeichnen sich also keineswegs durch einen besonders hohen Anteil guter Leute vor den übrigen Berufsgruppen aus, bleiben sogar weit hinter ihnen zurück.

Indexklasse C.

Noch nicht genügend Entwickelte.

Der Prozentanteil des Jahrgangs in dieser Klasse beträgt 45,6 Proz.

182 Gerhard Simon,

Mit einem höheren Anteil sind 7 Berufe vertreten = 33 l/8 Proz.

der 21 Berufe.

Schlosser 46,8 Proz.

Mechaniker 46,9

Gold- und Silberarbeiter 47,6

Landwirte 48,6 ,;

Zigarrenarbeiter 49,2

Zimmerer 50,4

Textilarbeiter 50,7

während es bei den Berufsgruppen 6 = 35 Proz. sind.

Am wenigsten C-Leute haben mit 38,4 Proz. die Seminaristen, aber immer noch mehr als die Einjährigen Schwienings mit 37,6 Proz.

Die Beihenfolge des Prozentanteils ist:

1.

Berufsgruppe XXVI

Seminaristen

38,4 Proz.

2.

XIII

Bäcker

38,8

55

3.

55

XXIV

Häusliche Bedienstete

39,0

55

4.

XX

Kaufleute

39,6

55

5.

>5

XIII

Metzger

39,7

55

6.

55

V

Schmiede

40,5

55

- 7.

55

XV

Friseure

40,9

55

8.

55

XII

Schreiner

41,5

55

9.

55

XIX

Arbeiter

41,5

55

10.

55

XVI

Maurer

41,6

55

11.

/ /

XXIV

Taglöhner

42,9

55

12.

55

XIX

Fabrikarbeiter

44,7

55

13.

55

I

Landwirtschaftliche Knechte

45,4

55

14.

55

XVI

Maler

45,6

55

15.

55

V

Schlosser

46,8

55

16.

55

VI

Mechaniker

46,9

' 55

Unters, an wehrpflichtigen jungen Badnern n. d. Pignet’schen Verfahren. 183

17. Berufsgruppe

V

18.

I

19.

XIII

20.

XVI

21.

IX

Gold- und Silberarbeiter

Landwirte

Zigarren arbeit er

Zimmerer

Textilarbeiter

47.6 Proz.

48.6 49,2 50,4 .,

50.7

Auch hier läßt sich wohl aus der Reihenfolge und dem hohen Prozentsätze von Berufen wie Zimmerer, Schlosser, die prozentual sehr viel besonders Kräftige und Kräftige haben, die Berechtigung der Benennung der Klasse als noch nicht genügend Entwickelte herleiten, während andererseits aus einem Vergleich der Reihenfolge der Textilarbeiter, Gold- und Silberarbeiter, Mechaniker in der A- B- und C Klasse abzuleiten ist, daß in dieser Klasse 2 Körper¬ konstitutionen Mittelkräftige und Schwächliche zusammengefaßt sind.

Indexklasse D.

Schwache.

Der Prozentanteil des Jahrgangs in dieser Klasse beträgt 13,6 Proz., den 10 Berufe, also fast die Hälfte und zum Teil sehr

erheblich überschreiten.

Zigarrenarbeiter 14,6 Proz.

Landwirtschaftliche Knechte 14,7 ,,

Gold- und Silberarbeiter 16,4

Textilarbeiter 16,5

Arbeiter 16,6 .,

Seminaristen 17,4

Schreiner 18,7

Häusliche Bedienstete 21,3

Kaufleute 22,5 ,,

Friseure 27,0

184

Gerhard Simon,

Der Unterschied zwischen den Berufen mit den wenigsten nnd den, mit den meisten Schwachen, beträgt das 6 fache. Leider sind unter den Berufen mit den meisten Schwachen zwei Hauptberufe die Landwirtschaftlichen Knechte und die Kaufleute. Die Reihen¬ folge nach der Höhe des Prozentanteils ist:

1.

Berufsgruppe

XIII

Metzger

4,6 Proz,

2.

V

XIII

Bäcker

6,5

3.

V

Schmiede

9,5

4.

V

XIX

Fabrikarbeiter

9,9

V

5.

??

V

Schlosser

10,2

r*

6.

XVI

Maurer

10,3

V

7.

V

XVI

Zimmerer

10,9

8.

V

XXIV

Taglöhner

11,0

9.

»

I

Landwirte

11,7

10.

??

XVI

Maler

12,5

11.

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VI

Mechaniker

13,1

12.

XIII

Zigarren arbeiter

14,6

13.

I

Landwirtschaftliche Knechte

14,7

14.

V

Gold- und Silberarbeiter

16.4

15.

IX

Textilarbeit

16,5

V

16.

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XIX

Arbeiter

16,5

V

17.

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XXVI

Seminaristen

17,4

V

18.

5?

XII

Schreiner

18,7

19.

V

XXIV

Häusliche Bedienstete

21,3

V

20.

»

XX

Kaufleute

22,5

V

21.

XV

Friseure

27,0

??

Am Anfang der Reihe stehen mit nur 4,6 Proz. die Metzger, welche in der A- und B-Klasse am Ende stehen. Umgekehrt finden wir in der D-Klasse am Ende die Kaufleute und die Friseure mit 22,5 und 27 Proz., welche in der A- und B-Klasse am Anfang stehen. Diese beiden Berufe haben also nicht nur die wenigsten besonders- Kräftigen und Kräftigen sondern ungünstigerweise auch die meisten schwachen Leute.

Indexklasse E.

Besonders Schwache.

Der Prozentanteil des Jahrgangs in dieser Klasse beträgt 8,1 Proz. 9 Berufe von den 21 = 43 Proz. haben noch mehr be¬ sonders Schwache

Unters, an wehrpflichtigen jungen Badnern n. d. Pignet’schen Verfahren. 185

Gold- und Silberarbeiter Maler

Mechaniker

Fabrikarbeiter

Häusliche Bedienstete

Friseure

Arbeiter-

Seminaristen

Kaufleute

8,9 Proz. 8,9 9,7 9,7

11.4

12.4

12.7 ,

13.8 18,2

Metzoer

g Schmiede

Bäcker

Ziqarrenarbeiter

Knechte

Maurer

Schlosser

m

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W

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cd

Landwirte

Schreiner

Zimmerer

g Taqlöhner

! Textilarbeiter

Gold-&5ilber-Arbeiter •<

Maler

Mechaniker

Fabrikarbeiter

Häusl. Bedienstete

•3 Friseure

-9 Arbeiter

Seminaristen

,9 Kaufleute

Auch hier finden sich unter dem schlechteren Teil 2 Haupt¬ berufe die Fabrikarbeiter mit 9,7 und wieder die Kaufleute, hier sogar mit dem enorm hohen Anteil von 18,2 Proz.! Am besten stehen die Metzger, welche überhaupt keine Minderwertigen, und dann die Schmiede, welche nur 1,3 Proz. haben. Der Unterschied zwischen den Berufen mit niedrigster und höchster Beteiligung ist so groß wie in keiner Indexklasse.

Die Beihenfolge nach der Höhe des Prozentanteils ist:

1. Berufsgruppe XIII Metzger 0 Proz.

2.

5,

V

Schmiede

1,3

,5

3.

XIII

Bäcker

2,6

V

4.

XIII

Zigarren arbeitet’

3,7

5.

I

Landwirtschaft. Knechte

5,2

6.

M

XVI

Maurer

5,3

V

7.

V

Schlosser

5,6

V

8.

V

I

Landwirte

6,0

9.

XII

Schreiner

6,5

V

10.

XVI

Zimmerer

6,7

11.

5>

XXIV

Taglöhner

6,8

12.

?,

IX

Textilarbeiter

7,5

186

13. Berufsgruppe

V

Gerhard Simon,

Gold- und Silberarbeiter

8,9 Proz.

14.

5,

XVI

Maler

8,9

55

15.

55

VI

Mechaniker

V

55

16.

55

XIX

Fabrikarbeiter

9,7

5,

17.

55

XXIV

Häusliche Bedienstete

11,4

55

18.

,5

XV

Friseure

12,4

55

19.

55

XIX

Arbeiter

12,7

55

20.

55

XXVI

Seminaristen

13,8

55

21.

55

XX

Kaufleute

18,2

55

Die

Sechs Berufe Metzger

haben mehr A- wie E-Leute. bes. Kräftige 13,7 Proz., bes. Schwache 0 Proz.

5?

Zimmerer

V

10 9

55 ,, ,,

6,7

55

55

Bäcker

55

10 8

., IV/, o .,

2,0

5,

Schmiede

55

7 6

55 *5^ 55 55 55

1,3

55

,5

Maurer

55

70

55 ' 5V 55 55 55

5,3

55

55

Zigarrenarb.

.,

4 o

55 55 55 55

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CO

55

Keiner von den Hauptberufen ist unter dieser Reihe. Am günstigsten bezüglich der Körperbeschaffenheit stehen also die Metzger und die Bäcker da.

Die übrigen 15 Berufe haben alle mehr besonders Schwache als besonders Kräftige. Am größten ist die Differenz bei den Kauf¬ leuten : besonders Kräftige 1,1 Proz., besonders Schwache 18,2 Proz.. den Seminaristen besonders Kräftige 1,5 Proz., besonders Schwache 13,8 Proz. Der Kaufmannsstand hat also unter den 21 Berufen das schlechteste Menschenmaterial. Das ist um so bedeutungs¬ voller, als er zu den 5 Hauptberufen gehört. Das 2. schlechteste Menschenmaterial weisen die Seminaristen auf, die in der Tauglich¬ keitsskala der höheren Schulen an 3. bester Stelle stehen.1)

Wir haben durch diese Untersuchungen einen Einblick in die Körperbeschaffenheit 20 jähriger junger Leute erhalten, wie er so¬ weit ins einzelne gehend durch andere statistische Untersuchungen bisher nicht zu erhalten wär.

Ich möchte meine Untersuchungsergebnisse kurz in den 2. Schlußsatz zusammenfassen.

Das Pignet’sche Verfahren ermöglicht eine an¬ schauliche zahlenmäßige Darstellung der Körper¬ besch affen heit einer Bevölkerungsgruppe.

5 y. Schjerning, Sanitätsstatistische Betrachtungen über Volk und Heer. Bibliothek v. Coler-v. Schjerning, Bd. 28, 1910.

Unters, an wehrpflichtigen jungen Badnern n. d. Pignet’schen Verfahren. 187

III.

Überraschend war die mittels des Pignet’schen Verfahrens festgestellte geringe Zahl besonders Kräftiger und die hohe Zahl besonders Schwacher beim ganzen Jahrgang, in den 33 Bezirks¬ ämtern, 17 Berufsgruppen und 21 Berufen; ferner die ganz erheb¬ lichen Unterschiede der besonders Kräftigen wie der besonders Schwachen in den 33 Bezirksämtern, 17 Berufsgruppen und 21 Be¬ rufen. Es erscheint verlockend, diese statistischen Ergebnisse er¬ klären zu wollen, aber mangels vorhandener Kontrollen und wegen der viel zu kleinen Zahl verzichte ich auf eine Auslegung meiner Ergebnisse. Nur soviel kann man wohl behaupten und unein¬ geschränkt gelten lassen, daß da wo hohe Differenzen zwischen besonders Kräftigen und besonders Schwachen vorhanden sind, wie wir sie vor allen in einzelnen Berufen und Gegenden festgestellt haben, gesundheitliche Schäden und Mängel bestehen müssen. Maßgebend für die Körpergestaltung sind in erster Linie Herkunft und Abstammung. Sie allein können aber unmöglich die Vor¬ gefundenen großen körperlichen Unterschiede in den untersuchten Berufen erklären. Man denkt bei dem Alter unseres Jahrganges unwillkürlich an einen schädigenden Einfluß des Berufes. Prin- zing,1) Bindewald2) und andere sind zwar der Ansicht, daß:

1. die körperliche Beschaffenheit die Berufswahl beeinflußt;

2. die Zeit vom Eintritt in den Beruf bis zur Musterung zu kurz ist, um Schädlichkeiten größeren Umfangs zu erzeugen;

3. die Tauglichkeitsziffer nur ein Fingerzeig für die Bevor¬ zugung gewählter Berufe durch körperlich kräftige Leute oder Schwache ist.

Ziffer 1 zugegeben; Ziffer 2 und 3 kann nach meinen Ergeb¬ nissen zur Erklärung der vielen besonders Schwachen und wenigen besonders Kräftigen in einzelnen Berufen als nichtausreichend an¬ gesehen werden.

Mit Abelsdorff3) und Wellmann4) bin ich vielmehr der Ansicht, daß 6 Jahre in manchem Betrieb große schädigende Ein-

x) Prinzing, Handbuch der Medizinischen Statistik 1906.

2) Bindewald, Die Wehrfähigkeit der ländlichen und städtischen Be¬ völkerung. Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Beiche.

3) Abelsdorff, Die Wehrfähigkeit zweier Generationen. Berlin 1905.

4) Wellmann, Abstammung, Beruf und Heeresersatz in ihren gesetzlichen Zusammenhängen, 1907.

188

Gerhard Simon,

flüsse auf einen wachsenden Körper ausüben können, ja ausüben müssen. Zwei gleichkräftige 14jährige Burschen, von denen der eine Schneider, der andere Metzger wird, dürften bei der Musterung doch große Unterschiede zeigen. Die Richtigkeit dieser Ansicht wird ja jetzt auch wie die überall geschallenen Organisationen zur besseren Körperpflege der schulentlassenen Jugend (Jugendwehr und Pfadfinderklub) zeigen, allgemein bestätigt. In der letzten Thronrede zur Eröffnung des Preußischen Landtages am 10. Januar 1911 ist aus der gleichen Erkenntnis heraus auf die planmäßige Ausgestaltung der Jugendpflege hingewiesen worden. A) Im Gro߬ herzogtum Baden ist die Stadt Pforzheim wegen ihrer muster¬ gültigen Jugendorganisation bekannt geworden.

Vermöge seiner objektiven Grundlagen ermöglicht uns das Pignet’sche Verfahren also auch, gesundheitliche Schäden und Mängel zuverlässig nachzuweisen.

Es erfüllt damit die der medizinischen Statistik nach Prin¬ zin g zufallende Aufgabe : die exakte zahlenmäßige Darstellung der pathologischen Erscheinungen der menschlichen Gesellschaft.

Ich komme damit zu dem 3. Schlußsatz:

Das Pignet’sche Ver fahren muß als eine wertvolle Bereicherung der Untersuchungsmethoden der medi¬ zinischen Statistik angesehen werden.

IV.

Die weitere Bedeutung des Heeresersatzgeschäftes als wichtige Kontrolle für die Volksgesundheit ist lange noch nicht genügend allgemein bekannt und gewürdigt. Welch vielsagende Schlüsse sich allein aus Vergleichen der Größe und des Gewichts einzelner Jahrgänge ziehen lassen, habe ich am Anfang der Arbeit gezeigt. Freilich ließe sich der Wert des in den alphabetischen Listen der Wehrpflichtigen aufgespeicherten Materials noch beträchtlich er¬ höhen, wenn von jedem Untersuchten die 3 Maße Körpergröße, Brustumfang, Körpergewicht regelmäßig eingetragen würden. Der aus diesen 3 Maßen berechnete Pignet’sche Index als Einheits¬ maß ermöglichte dann neben der Tauglichkeitsstatistik, die in erster Linie ja nur für die Heeresverwaltung von Bedeutung ist, auch eine Statistik über die allgemeine Körperbeschaffenheit des Jahrgangs, welche mehr von allgemein staatlichem Interesse wäre

9 Bassenge, Die Heranziehung und Erhaltung einer wehrfähigen Jugend. Veröffentlichungen aus dem Gebiete des Militärsanitätswßsens, Heft 49, 1911.

Unters, an wehrpflichtigen jungen Badnern n. d. Pignet’schen Verfahren. 189

und in unserer heutigen Zeit mit ihrem sozialen Tagesinteresse ganz besondere Beachtung finden dürfte wieder zu Nutz und Frommen der ganzen Einrichtung. Schon Rudolf Virchow1) hatte im Jahre 1863 in seinem Vorträge: „Über Rekrutierungs¬ statistik“ auf dem internationalen statistischen Kongreß in Berlin gefordert, die Ergebnisse des Rekrutierungsgeschäftes nicht bloß

seinem nächsten Zweck dem des Heeresersatzes, sondern noch mehr

/

dem weiteren und höheren Zwecke des Staates überhaupt nutzbar zu machen. Denn die militärpflichtige Jugend der Nation, so führte Virchow aus, muß in physischer Beziehung ein Spiegelbild dessen sein, was die Nation in ihrer Gesamtheit an körperlicher Kraft zu leisten vermag. Durch die Rekrutierungsstatistik gewonnene An¬ haltspunkte für die öffentliche Gesundheitspflege haben den großen Vorzug, daß sie zu einer Zeit des Lebens gewonnen sind, wo über¬ haupt ein segensreiches fruchtbringendes Eingreifen noch möglich ist.“ Zur besseren Erfüllung dieses Zweckes hielt Virchow ein Einheitsmaß für notwendig.

Ich meine, der numerische Index Pignet’s könnte als solches Einheitsmaß im Sinne Virchow’s angesehen werden. Es ließen sich mit ihm die alphabetischen Listen noch mehr wie bisher zur Lösung strittiger Tagesfragen z. B. Einfluß von Industrie und Landwirtschaft auf die allgemeine Körperbeschaffenheit, Nachweis eingetretener Entartung oder Besserung der Volksrasse heranziehen.

Die militärärztliche Tätigkeit könnte gleichzeitig damit im Sinne des Herrn Generalstabsarztes der preußischen Armee, Exz. v. Schj ern ing,2) das Band zwischen Volk und Heer noch enger gestalten.

Meine Ausführungen fasse ich in den 4. Schlußsatz zusammen :

Das Pigne t’sche Verfahren erscheint geeignet, die soziale Bedeutung des Heeresergänzungsgeschäftes zu erhöhen.

Die Bedeutung und Anwendung des Pign et’schen Verfahrens ist mit meinen Ausführungen keineswegs erschöpfend behandelt.

Seine Anwendung ist wegen der dazu nötigen Maße im größeren Maßstabe in Deutschland vorläufig nur auf unsere Wehrpflichtigen beschränkt, von denen die 3 Maße: Größe, Gewicht, Brustumfang

*) R. Virchow, Über Rekrutierungsstatistik. Gesammelte Abhandlungen, Bd. I, 1873.

2) y. Schjerning, Sanitätsstatistische Betrachtungen über Volk und Heer. Bibliothek v. Coler v. Schjerning, Bd. XXVIII.

Archiv für Soziale Hygiene. VII.

13

190 Gerhard Simon, Untersuchungen an wehrpflichtigen jungen Badnern usw.

in den alphabetischen Listen oder den Freiwilligen -Listen zu finden sind.

Dem angestrebten anthropometrischen Amt muß es überlassen bleiben, weitere Erfahrungen mit diesem Maße zu sammeln.

Zum Schluß möchte ich nicht unterlassen, besonders den Herrn Amtsvorständen der Großherzoglich Badischen Bezirksämter für die liebenswürdige Unterstützung meiner Arbeit durch die bereit¬ willige Erfüllung meiner Bitte um Einsendung der alphabetischen Listen meinen verbindlichsten Dank auszusprechen, ebenso Herrn Oberstabsarzt Prof. Dr. Schwiening für gütige Übersendung einer Abschrift der mir sonst nicht zugänglichen Arbeit Pi gnet’s.

Schlußsätze.

1. Das Pignet’sche Verfahren ist ein praktisches Hilfsmittel zur Beurteilung von Grenzfällen bei der Musterung und Aushebung.

2. Das Pignet’sche Verfahren ermöglicht eine anschauliche zahlenmäßige Darstellung der Körperbeschaffenheit einer Bevölke¬ rungsgruppe.

3. Das Pignet’sche Verfahren muß als eine wertvolle Be¬ reicherung der Untersuchungsmethoden der medizinischen Statistik angesehen werden.

4. Das Pignet’sche Verfahren erscheint geeignet, die soziale Bedeutung des Heeresergänzungsgeschäftes zu erhöhen.

Archiv für Sozial

Simon, Untersuchu

Archiv für Soziale Hygiene. Bd. VII

A. Klasse

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A. Klasse

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Simon, Untersuchungen.

Verlag von F. C. W. Vogel in Leipzig

Tafel I

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E. Klasse

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9,7 11,412,412,7138182%

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D Klasse

96 10.4 113 11,5 116 TV8 17,6 128

13, 7

H

14,0 167 170 175

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1179 22,2245283%

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Richard Hahn (H. Otto), Lelpz'g

Der Einfluß der Gesetzgebung auf gewerbliche

Erkrankungen.

Von Prof. Dr. med. J. Kaup, Charlottenburg.

Vortrag, gehalten im Kursus für Unfallheilung und Gewerbekrankheiten des Instituts für Gewerbehygiene zu Frankfurt a. M. (25. und 26. September 1911).

Gewerbliche Erkrankungen und hiermit im Zusammenhänge Todesfälle auf Grund beruflicher Schädigungen lassen sich im Ge¬ samtbilde der Medizinalstatistik nicht ohne weiteres erkennen. Gewährt doch die Mortalitätsstatistik der einzelnen Staaten und Völker ohne Unterscheidung nach Altersgruppen und Geschlecht zunächst fast ein gleichartig erfreuliches Bild. Es ist bei dem wachsenden Interesse der Öffentlichkeit für nationalbiologische Tat¬ sachen ja fast allgemein bekannt, daß in Deutschland die Sterbe¬ ziffern innerhalb der letzten Jahrzehnte von 28 Prom. (1874 75) auf 19,9 Prom. (1901—05) und 18,7 (1905—07), also um 38 Proz. gesunken sind. Andere Staaten zeigen in derselben Zeitperiode ein ähnliches Absinken. Bis auf die Jahre 1907 und 1908 aus¬ gedehnt, verminderten sich die Sterbeziffern seit der ersten Hälfte der 70 er Jahre am stärksten in den Niederlanden und Sachsen um 38 Proz., in Württemberg um 36 Proz., in Preußen und Baden um 33 Proz., während England und die Schweiz mit 31 Proz. folgen und Frankreich nächst Irland mit nur 10 Proz. Abnahme an letzter Stelle stehen.

Die Ursachen dieser Erfolge sind vorwiegend in der Besserung der sozialen und hygienschen Verhältnisse der Bevölkerung, nament¬ lich der städtischen, gelegen, während auf dem Lande vielfach ge¬ sundheitliche Einrichtungen der öffentlichen Hygiene fehlen, obgleich die Sterbeziffern auch hier zurückgegangen sind. Die Fortschritte auf dem Gebiete der Städtehygiene (Wasserversorgung, Kanalisation,

13*

192

J. Kaup,

Müllabfuhr, Besserung der Wohnungs- und Ernährungsverhältnisse sind jedoch allen Kulturstaaten gemeinsam: ebenso ist allen Staaten gemeinsam die gleichmäßige Bekämpfung der Infektionskrankheiten auf Grund einer genauen Kenntnis der Infektionserreger. Während jedoch die allgemeinen hygienischen Fortschritte für alle Altersklassen gleichmäßig eine Besserung der Gesundheitsverhältnisse und hiermit eine Abnahme der Sterbeziffern veranlaßt haben dürften, hatte das Kindesalter von der Bekämpfung der Infektionskrankheiten höheren Gewinn als das erwerbstätige Alter. So ist innerhalb der Jahre 1893—1908, nachdem seit 1892 in Deutschland durch eine neue Todesursachenstatistik die Sterblichkeitsverhältnisse besser beurteilt wrerden können, die Zahl der Verstorbenen z. B. an Diphtherie und Croup bis zum Alter von 15 Jahren von 74000 auf 14 909 zurück¬ gegangen und sind hierdurch allein die Sterbeziffern in diesen 12 Jahren um mehr als 1 Prom. herabgedrückt worden. In ähnlicher Weise hat auch der Rückgang anderer Infektionskrankheiten haupt¬ sächlich dem Kindesalter genützt, und nur für den Typhus gilt es, daß durch dessen Abnahme von etwa 5000 auf etwa 3000 Fälle auch das erwerbstätige Alter einen namhaften Nutzen hatte. Der Rück¬ gang der Tuberkulose (von 86000 auf rund 76500) für die Altersklassen vom 15. 60. Lebensjahr und zwar eigentlich nur der Lungentuber¬ kulose wird wohl hauptsächlich auf die besseren hygienischen Ver¬ hältnisse in den letzten 10—15 Jahren zurückzuführen sein, wenn auch den Lungenheilstätten ein bestimmtes Verdienst hierbei nicht abgesprochen werden kann. Andere Todesursachen, wie z. B. Magen- und Darmkatarrhe, Neubildungen, haben im erwerbstätigen Alter zugenommen. Diese Hinweise lassen bereits die Notwendigkeit erkennen, die allgemeinen Sterbeziffern nach den einzelnen Alters¬ gruppen in die verschiedenen Komponenten zu zerlegen. Führt man diese Trennung für das Deutsche Reich nach dem Säuglingsalter, dem Kindesalter bis zum 15. Lebensjahre, der erwerbstätigen Lebens¬ periode vom 15.— 60. Lebensjahr und dem Alter der Invalidität über 60 Jahre durch, so ergibt sich die interessante Tatsache, daß innerhalb der Jahre 1893—96 und 1905—07 die Sterbeziffern für das Säuglingsalter um 33 Proz., für das Kindesalter um 36, für die eigentlichen erwerbstätigen Altersklassen vom 15. 60. Lebensjahre um 12 Proz., für das Greisenalter nur um 4 Proz. zurückgegangen sind. Die Erfolge unseres Kampfes gegen die hohe Säuglingssterblich¬ keit und die Infektionskrankheiten des Kindesalters lassen sich klar erkennen, während die geringen Veränderungen im ökonomisch¬ produktiven und im Greisenalter auf verschiedene Ursachen, wie

Der Einfluß (1er Gesetzgebung’ auf gewerbliche Erkrankungen. 193

Kranken- und Invalidenversicherung, sozialhygienische Fortschritte anderer Art zurückgeführt werden können.

Immerhin sind für einzelne Staaten im allgemeinen, wie für bestimmte Altersgruppen nicht unbeträchtliche Unterschiede zu er¬ kennen. In Preußen ist innerhalb der Jahre 1880 82 und 1900—02 die Sterblichkeitsziffer für das männliche Geschlecht um 17,5 Proz. zurückgegangen, in England und Wales hingegen in derselben Zeit¬ periode nur um 8 Proz. Für die einzelnen Lebensabschnitte sind Unterschiede in der Abnahme insoweit zu finden als die jüngeren Altersgruppen eine stärkere Verminderung der Sterbeziffer zeigen wie die älteren. Fast für alle Altersgruppen ist der Rückgang in Preußen stärker als in England. Nur die männlichen Jugendlichen im Alter von 15—20 Jahren zeigen in England innerhalb dieser 20 Jahre eine Verminderung der Sterbeziffer um 24 Proz., in Preußen hingegen nur um 18 Proz. Mit dem Eintritt in die erwerbstätige Lebensperiode scheinen für die männliche Jugend Preußens wie auch der anderen Bundesstaaten ungünstige Einflüsse am Werke zu sein.

In Anbetracht der Wichtigkeit, gerade für die erwerbstätige Lebensperiode einen besseren Einblick in die Gesundheitsverhältnisse zu erhalten, sind wir daher genötigt, die Gesamtheit der in diesem Alter stehenden Personen in die einzelnen großen Berufsgruppen aufzulösen. Die Ergebnisse der Berufszählungen müssen zu dem Zwecke herangezogen werden. Hierbei wollen wir nur hervor¬ heben, daß von 30 Millionen im Jahre 1907 überhaupt erwerbstätigen Personen mehr als 8 y2 Millionen als unselbständige Arbeiter, Ge¬ hilfen und Lehrlinge allein in Industrie und Bergbau erwerbs¬ tätig waren, während im Jahre 1895 diese Zahl kaum 6 Millionen betrug. Von den 7 J/3 Millionen unselbständigen Arbeitern in der Landwirtschaft und 2 Millionen im Handel und Verkehr wollen wir hierbei völlig absehen. Auch haben wir unberücksichtigt ge¬ lassen, daß von den 8 1j2 Millionen Lohnarbeitern im engeren Sinne etwas über 1 x/2 Millionen auf das weibliche Geschlecht entfallen.

In der Zahl der gewerblichen Lohnarbeiter steht Deutschland von allen Kulturstaaten an der Spitze und übertrifft selbst Groß- britanien und die Vereinigten Staaten. Betrachtet man die Berufs¬ gliederung in den einzelnen Städten des Reiches, so ist festzustellen, daß bis zu 90 Proz. der Männer in verschiedenen Städten in In¬ dustrie und Handel erwerbstätig sind und daher der Gesundheits¬ zustand der Bevölkerung dieser Städte von dem körperlichen Zu¬ stand dieser Erwerbsgruppen abhängig ist. Es wäre nun von

194

J. Kaup,

vornherein anzunehmen, daß durch unsere Krankenversicherung* gute Anhaltspunkte für die Beurteilung der Konstitution und Lebens¬ kraft der Lohnarbeiter gegeben sind. Sind doch in sämtlichen Kassenarten im Jahre 1909 über 9 Millionen männliche und fast 3 1/2 Millionen weibliche Mitglieder gezählt worden. Besonders die beiden verbreitetsten Kassenarten, die Ortskrankenkassen und Be¬ triebskrankenkassen böten hierzu gute Gelegenheit. (Ortskranken¬ kassen 4 */2 Millionen männliche und über 2 Millionen weibliche Mitglieder, Betriebskrankenkassen 2 */2 Millionen männliche und fast 3/4 Millionen weibliche Mitglieder.) Hierzu eignen sich jedoch die Krankenkassenstatistiken nicht, da nur die Todesfälle innerhalb der satzungsmäßigen Dauer der Krankenunterstützung registriert und daher die späteren Todesfälle früherer Mitglieder nicht gezählt werden. Eine eigentliche Mortalitätsstatistik nach Berufen besitzen wir im allgemeinen nicht, wenn auch vor kurzem für Preußen eine Feststellung für das Jahr 1907 unternommen wurde. Der Ge¬ werbehygieniker ist daher immer noch genötigt, auf englische Statistiken zurückzugreifen. Auch für die Schweiz und für Österreich liegen nur für einzelne Jahre Sterbestatistiken nach Berufen vor.

Die englische Sterblichkeitsstatistik nach Berufen gestattet nun, die Entwicklung der Sterbeziffern für die einzelnen Berufs¬ gruppen zu studieren. Die folgende Übersicht soll Anhaltspunkte für die Hauptberufe geben.

(Tabelle siehe nächste Seite.)

In dieser Tabelle sind nur die Berechnungen für die Jahres¬ gruppen 1880— 82, 1890 92, 1900—02 aufgenommen, auch ist nicht die ganze erwerbstätige Lebensperiode vom 15. bis etwa 65. Jahre einbezogen, sondern nur die zwei Hauptaltersklassen vom 25. bis 45. und vom 45. bis 65. Lebensjahre. Unter berufstätigen Männern sind hier nicht etwa nur die Lohnarbeiter verstanden, sondern sämtliche im Berufsleben stehenden Männer, gleichgültig ob sie selbständig oder unselbständig, ob sie einem gewerblichen, künst¬ lerischen, industriellen oder freien Berufe angehören. Zu den be¬ rufslosen Männern sind vermutlich zugerechnet: die Arbeiter mit wechselnder Beschäftung, die große Schar der Arbeitsinvaliden, die in irgendeiner Form der Öffentlichkeit zur Last fallen. Die Sterb¬ lichkeitszahlen dieser Gruppe sind außerordentlich hoch und ein Fortschritt innerhalb dieser 20 Jahre nicht zu erkennen; im Gegenteile macht es den Eindruck, als ob durch die intensivere Berufsbetätigung und durch Heranziehung auch der minderen Arbeits-

Der Einfluß der Gesetzgebung auf gewerbliche Erkrankungen. 195

Sterblichkeitsrate männlicher Berufstätiger im Alter von 25 45 und 45— 65 Jahren in den Zeitabschnitten 1900 02, 1890—92 und

1880-82.

Durchschnittliche Sterblichkeitsrate auf 1000 Lebende.

Berufe

Im

25. 45. Jahre

Im

45. 65. Jahre

1900—02

1890—92

1880—82

1900-02

1890—92

1880—:

Alle Männer

8,38

9,99

10,16

25,03

28,30

25,27

Berufstätige Männer

7,84

9,52

9,71

22,73

26,69

24,63

Berufslose Männer

36,31

31,36

32,43

57,01

51,10

36,20

Farmer, Vieh¬

züchter usw.

4,81

5,64

6,09

14,82

17,19

16,53

Landarbeiter

4,81

7,10

7,13

14,08

18,74

17,68

Metallindustrie

7,48

10,25

8,80

24,83

32,58

25,93

Masch.-Kesselbauer

6,38

9,42

8,23

22,15

30,79

23,89

Werkzeug-, Scheren-,

Feilenarbeiter

9,61

12,95

11,71

32,10

41,48

34,42

Messerschmiede

11,84

14,22

12,30

37,59

44,01

34,94

Bleiarbeiter, Maler,

Glaser

8,28

10,47

11,07

26,08

31,70

32,49

Maurer, Steinmetz,

Bauarbeiter

7,01

9,86

9,25

21,81

28,60

25,59

Schiffsbauer

6,28

7,11

6,95

19,48

20,01

21,29

W ollmanuf aktur

6,81

9,10

24,72

29,25

Seidenmanufaktur

6,25

8,35

7,81

26,25

29,27

22,79

Baumwollmanufaktur 7,22

9,39

27,11

34,11

Färber, Bleicher,

Drucker. Appreteur 7,74

12,97

9,46

27,95

39,22

27,08

Porzellanmanufaktur

>

Töpfer

9,01

12,98

13,70

39,12

52,78

51,39

Kohlenbergleute

6,01

7,77

7,64

21,50

27,69

25,11

Drucker

7,89

11,14

11,12

21,99

28,38

26,60

Suppl. to the 65. Annual Report England Births, Deaths and Marriages. 1908.

tauglichen der verbleibende Best von Individuen im steigenden Maße lebensschwach geworden sei. Durch diese Gruppe kommt es zustande, daß die Sterblichkeitsziffern der berufstätigen Männer niedriger sind als die der Männer überhaupt. Bei den einzelnen Gruppen von fast ausschließlich Industriearbeitern, die wir hier ausgewählt haben, ist innerhalb dieser 20 Jahre die Sterblich¬ keit beträchtlich gesunken, besonders stark bei Berufen mit ur¬ sprünglich sehr hoher Sterblichkeit, wie z. B. bei den Bleiarbeitern und Töpfern. Für die beiden großen Altersgruppen sind einige Unterschiede zu konstatieren, auf die wir jedoch nicht näher ein¬ geh en wollen. Für einen Vergleich der einzelnen Berufe unter-

196

J. Kaup,

einander eignet sich besser eine Standard-Betrachtung, wie sie in den englischen Statistiken üblich ist.

Vergleichende Mortalitätsstatistik für das erwerbstätige Alter ver¬ schiedener Berufsangehöriger innerhalb der Jahre 1890 92 und

1900-02.

Berufe

1900—02

1890—92

Alle Männer

1,000

1,155

Berufstätige Männer

0,925

1,102

Berufslose Männer

2,884

2,566

Farmer, Viehzüchter usw.

0,562

0,651

Landarbeiter

0,551

0,770

Metallindustrie

0,973

1,303

Maschinen-Kesselbauer

0,866

1,244

Werkzeug-, Scheren-, Feilenarbeiter

1,231

1,633

Messerschmiede

1,460

1,752

Bleiarbeiter (Röhren), Maler, Glaser

1,041

1,295

Maurer, Steinmetz, Bauarbeiter

0,862

1,157

Schiffsbauer

0,765

0,836

W ollmanufaktur

0,927

1,153

Seidenmanufaktur

0,892

1,064

Baumwollmanufaktur

1,053

1,358

Färber, Bleicher, Drucker, Appreteur

1,066

1,585

Porzellanmanufaktur, Töpfer

1,420

1,970

Kohlenbergleute

0,846

1,081

Drucker (Buchdrucker)

0,935

1,267

to the 65. Annual Report England Births, Deaths,

Marriages. 1908.

Die mannigfachen Unterschiede innerhalb der einzelnen Be¬ rufsgruppen treten hier genauer in die Erscheinung. Vor allem ist in der obersten Reihe der Rückgang der Sterblichkeit für die Gesamtheit der Männer innerhalb der 10 Jahre deutlich zu er¬ kennen. Ein ähnlicher Rückgang findet sich bei den berufstätigen Männern. Auch bei den einzelnen Berufsgruppen ist durchweg die Vergleichszahl tür die Jahre 1900 02 niedriger als für 10 Jahre vorher. Freiluftberufe, wie Farmer, Landarbeiter, aber auch zum Teile Bauarbeiter haben eine geringere Sterblichkeit als der Durch¬ schnitt aller Männer. Jedoch auch einzelne Berufsklassen der Arbeiter der Metallindustrie im weiteren Sinne, sowie der Textil¬ industrie, des Kohlenbergbaus, sterben während der Berufstätigkeit weniger häufig als der Durchschnitt. Ungünstigere Verhältnisse zeigen hingegen die Gruppen der Werkzeugarbeiter, der Kessel¬ schmiede, der Bleiarbeiter, auf die wir noch näher eingehen werden,

Der Einfluß der Gesetzgebung auf gewerbliche Erkrankungen. 197

der Baumwoll- und Porzellanmanufaktur und der Färber. Auffallend ist jedoch gerade bei diesen letzterwähnten Berufsklassen die starke Verminderung der Vergleichszahlen innerhalb dieser 10 Jahre.

Ein besonderer Wert dieser Statistik liegt darin, daß für die einzelnen Berufe die Todesursachen genau angegeben sind. Hier¬ bei zeigt es sich nun, daß in einigen Berufen, wie z. B. bei den Messerschmieden, Werkzeug-, Feilen- und Scherenverfertigern,. Bleiwarenarbeitern usw. einzelne Todesursachen doppelt und drei¬ mal so häufig Vorkommen, als sie im Durchschnitte festzustellen waren. So sind noch in den Jahren 1900—02 auf 1000 Todesfälle 186 Todesfälle an Tuberkulose im Durchschnitt ermittelt worden, bei den erwähnten Berufen jedoch 300 500, oder man fand auf 1000 Todesfälle nur einmal Bleivergiftungen als Ursache, bei den Feilenhauern jedoch 56, bei den Bleiwarenarbeiten 102 usw. und bei denselben Berufen wurden statt 35 Todesfällen an Nierenent¬ zündungen (Bright’scher Krankheit) 154 und 160 gefunden.

Diese beruflichen Sterbestatistiken für England, deren Ergeb¬ nisse namentlich durch die Ogle’schen Veröffentlichungen weiteren Kreisen bekannt wurden, trugen wesentlich dazu bei, die Frage der Gesundung gesundheitsgefährlicher Industrien in Fluß zu bringen. So wurden im Jahre 1883 vorwiegend auf Grund der Tat¬ sachen der Sterbestatistik für einzelne Berufsgruppen Enqueten für bestimmte Beschäftigungsarten veranstaltet, als deren Ergeb¬ nis gemäß dem englischen Fabrik- und W7erkstättengesetze von 1883 mehrere Spezialverordnungen für gesundheitsgefährliche Be¬ triebe erschienen.

An diesen Enqueten haben stets Ärzte hervorragenden Anteil genommen. In den Rahmen meiner beiden Vorträge ist es natür¬ lich unmöglich, auf die Symptomatologie und Wirkungsweise der einzelnen gewerblichen Vergiftungen, auf deren Beziehungen zu anderen Krankheiten, Zahl der in Frage kommenden Betriebe und Arbeiter auch nur flüchtig einzugehen. Zur Erforschung gewerb¬ licher Vergiftungen ist auch von deutscher Seite viel geleistet worden. Es sei nur auf Eulenberg’s „Handbuch der Gewerbe¬ hygiene auf experimenteller Grundlage“ vom Jahre 1876, auf die Hirtli’schen Arbeiten in den 80er Jahren verwiesen Arbeiten, die unermüdlich insbesondere von Lehmann fortgesetzt werden. Auch an den Bemühungen der Internationalen Vereinigung für ge¬ setzlichen Arbeiterschlitz nach Aufstellung einer Liste der gewerb¬ lichen Gifte haben auf deutscher Seite Sommerfeld, Fischer

198

J. Kaup,

maßgebend mitgearbeitet. Ebenso ist es unmöglich, die Gesund- heitsschädigungen gewerblicher Arbeiter durch Infektionserreger, durch Veränderungen und Verunreinigungen der Atmungsluft in den Arbeitsräumen, durch exzessive Temperaturen, Überanstrengungen, Zwangsstellungen usw. auch nur anzudeuten. Andere Kollegen werden vermutlich auf einzelne Gebiete gewerblicher Erkrankungen ausführlich e ingehen.

Die einzelnen englischen Kommissionen namentlich für die Bleibetriebe hatten an der Todesursachen Statistik für die gefähr¬ deten Berufe gute Anhaltspunkte. Eine Verordnung wurde im Jahre 1883 sofort herausgegeben, 8 erschienen im Jahre 1892 und andere in den nächsten Jahren. Diese Verordnungen bezogen sich auf :

1883 Bleiweißfabriken.

1892 Fabrikation doppeltchromsaurer Salze.

1896 Verfüllen von kohlensäurehaltigen Wassern.

1896 Mischen und Gießen von Messing und anderen Le¬ gierungen.

1898 Herstellung von Bleiglasuren auf Ziegeln.

1892 Chemische Fabriken.

1892 und 1898 Töpfereiwaren und Porzellanfabrikation.

1892 Emaillieren von Eisenplatten mit Blei, Antimon und Arsen.

1894 Fabrikation elektrischer Akkumulatoren.

1892 Sprengstoffabriken, in denen Dinitrobenzol verwendet wird,

1894 Flachsspinnereien und Webereien.

1894 Bleirot- und -Orangefabriken.

1892 Bleigelbfabriken.

1894 Bleischmelzhütten.

1895 Fabrikation von gelbem Bleichromat.

1892 Zündholzfabriken.

1892 Fabrikation von Farben und Arsenextrakt.

1898 Lumpen- und Hadersortiereien.

1894 Verzinnen und Emaillieren von Eisenhohlwaren.

1894 Verzinnen und Emailieren von Eisemnetall.

1898 Steindruckereien zum Schmuck von Porzellan etc.

1896 Vulkanisieren von Gummi.

1896 Wollsortierereien.

1899 Wollkämmereien.

Diese Verordnungen umfassen Betriebe, in denen giftige oder infizierende Stoffe verwendet oder hergestellt werden und weiters Betriebe, bei deren Fabrikationsverfahren Staub oder schädliche

Der Einfluß der Gesetzgebung auf gewerbliche Erkrankungen. 199

Dämpfe entstehen: die Mehrzahl dieser Verordnungen behandelt jedoch Bleibetriebe. Nach Angaben von Wood sind in England in diesen Betrieben Ende der 90 er Jahre mehr als eine J/4 Million Arbeiter, darunter 75000 Arbeiterinnen in etwa 12000 Betrieben beschäftigt gewesen. Die Vorschriften befassen sich mit bestimmten Forderungen für die einzelnen Fabrikationsprozesse, Verbot der Frauenarbeit für einzelne Beschäftigungen, Beistellung von Garde¬ roben, Waschräumen, Eßzimmern, Bädern, Getränken, wöchentliche ärztliche Untersuchung durch einen behördlich bevollmächtigten praktischen Arzt, Führung eines Gesundheitsverzeichnisses für die Bleiarbeiter als Leistungen der Unternehmer, andererseits werden jedoch auch die Arbeiter verpflichtet, von diesen Reinhaltungsein¬ richtungen und Verhaltungsmaßregeln Gebrauch zu machen uud die die Vorschriften genau zu beobachten. In ähnlicher Weise sind auch die Vorschriften für andere gesundheitsgefährliche Betriebe der chemischen Industrie gehalten. Im wesentlichen beziehen sich diese Vorschriften auf ein Beschäftigungsverbot für Jugendliche und Kinder, oder Mädchen und Frauen für einzelne Arbeitsprozesse oder es wird ein Beschäftigungswechsel oder eine Einschränkung der Beschäftigungsdauer vorgeschrieben. Die Verhaltungsvor¬ schriften und Reinhaltungseinrichtungen sind ähnlich gehalten wie bei den Bleibetrieben. Wichtig ist die Bestimmung, daß jeder praktische Arzt, der zur Behandlung eines Patienten zugezogen wird, verpflichtet ist, den Fall dem Chief Inspector of Factories anzuzeigen. Für die Erstattung einer solchen Anzeige hat er x4n- recht auf eine Gebühr von einer halben Krone, die aus dem Kredit des Home Office zu zahlen ist. Unterläßt er die Anzeige eines Krankheitsfalles, so verfällt er einer Geldstrafe bis zu 2 Lstl. Hinsichtlich der Wertung von Gewerbekrankheiten in der eng¬ lischen Arbeiterschutzgesetzgebung ist eine neue Etappe durch die Workmens Compensationsakt von 1907 eingetreten, nach der alle spe¬ zifischen gewerblichen Krankheiten, wie Unfälle entschädigungs¬ pflichtig sind. Zu diesen entschädigungspflichtigen Krankheiten wurden die eigentlichen gewerblichen Vergiftungen , für die eine Anzeigepflicht statuiert ist, gerechnet. Bald nach dem Erscheinen des Gesetzes wurden jedoch noch weitere gewerbliche Erkrankungs¬ arten einbezogen, wie Vergiftungen durch Nitro- und Amidoderivate, durch Karbonbisulphit, Nickelkarbonyl, Nitrosedämpfe, Chrom Ver¬ giftungen, Nystagmus und Caissonkrankheiten.

Von großer Bedeutung ist nun die Frage, ob die englischen Vorschriften von Erfolgen begleitet waren. Der Wert der Anzeige-

200

J. Kaup,

pflicht namentlich fiir Bleivergiftungen käme in der Beantwortung dieser Frage zum Ausdruck. Nach den Ausweisen des Medikal- inspektors, der sämtliche Anzeigen sammelt und häuft, war die Zahl der Bleivergiftungsfälle in den Jahren 1898: 1270, 1899: 1258; seitdem ist die Zahl ständig gesunken, wie aus der nächsten Tabelle ersichtlich ist.

Stand und Entwicklung der Bleivergiftungen in den gewerblichen

Betrieben Englands.

a) Erkrankungen. b) Todesfälle.

1903

1904

1905

1906

1907

1908

1909

1910

Blei und Zinkhütten

a) 37

b) 2

33

1

24

1

38

1

28

2

70

2

66

5

34

5

Setzer

a) 13

b) 2

15

19

4

16

2

26

3

30

2

21

1

33

4

Bleiweißfabriken

' a) 109 * b) 2

116

2

90

1

108

7

71

79

3

32

2

34

1

Keramische Industrie

a) 97

b) 3

106

4

84

3

107

4

103

9

117

12

58

5

77

11

Akkumulatorenfabriken

a) 23

b) -

33

27

1

26

21

25

1

27

2

31

Farbenfabriken

a) 39

b) 1

32

1

57

1

37

35

1

25

39

2

17

Maler im Schiffs- und Wagenbau

a) 144

b) 7

124

7

137

7

148

11

141

6

132

4

164

7

142

11

Hausmaler

a) 201

b) 39

227

39

163

28

181

36

174

39

239

44

241

47

232

35

Andere Industrien

a) 152

b) 2

138

11

154

5

152

.8

153

5

168

8

146

6

137

5

Summe

a) 815

b) 58

824

65

755

51

813

69

752

65

885

76

794

77

737

73

Der stärkste Rückgang zeigt sich bei den Bleiweißarbeitern, ähnlich stark auch in der keramischen Industrie, geringer in den Bleihütten. Feilenhauereien, Farbenfabriken, im Wagen- und Schiffbau. Keine Veränderung, eher eine Erhöhung der Vergiftungszahlen ist im Gewerbe der Hausmaler eingetreten, das noch nicht mit Vorschriften bedacht ist. Auffallend ist allerdings die noch immer hohe Zahl von Todesfällen. Auch ist einer Arbeit von Legge zu entnehmen, daß z. B. die Zahl der Bleilähmungen in allen gewerblichen Be¬ trieben in den Jahren 1904 und 1905 118, bzw. 114 betrug, in den Jahren 1908 hingegen 157, 1909 147. Der Einwand Teleky’s,

Der Einfluß der Gesetzgebung auf gewerbliche Erkrankungen. 201

daß in England anscheinend nur die schweren Fälle von Bleiver¬ giftung zur Anzeige kommen, hat daher etwas Berechtigung. Andererseits gibt es für den Erfolg der Vorschriften noch weitere einwandfreie Belege und zwar durch Vergleich der Todesursachen¬ statistik für die bleigefährdeten Berufe auf Grund der Berufs- Mortalitätsstatistik für die Triennien 1890—1892 und 1900—1902.

Sterblichkeitsverhältmsse der Bleiarbeiter in England nach der Statistik für die Jahre 1890 92 und 1900—02.

a) 1890-92. b) 1900—02.

Auf 1000 Todesfälle kommen im Durchschnitte Fälle von

Sterblich-

Blei-

keit

krankh

Alle erwerbstätigen

a)

100

1

Männer

b)

100

1

Bleiarbeiter

a)

b)

187

150

211

102

E eilenkauer

a)

b)

190

173

75

56

Spengler, Maler u.

a)

118

39

Glaser

b)

113

23

Töpfer

a)

b)

179

154

17

10

Glasfabrikation

a)

b)

156

130

12

8

Kupferschmiede

a)

b)

145

113

8

3

Wagen- u. Waggon¬

a)

109

7

maler

b)

84

8

Gasinstallateure,

a)

97

6

Schlosser

b)

96

3

Drucker

a)

b)

115

101

3

2

Krankh.d. Krankh.

Urogen.-

systems

d. Nerven¬ systems

Gicht

Phthysis

41

82

2

185

52

103

2

187

161

232

_

148

160

134

165

104

212

4

402

160

225

387

164

263

22

397

94

133

8

213

63

123

1

333

53

131

285

63

155

9

295

69

131

4

283

60

85

_

294

45

104

3

162

68

105

7

189

53

113

4

129

50

108

5

223

77

113

6

224

52

89

4

326

57

111

3

300

Fast bei allen bleigefährdeten Berufen ist ein namhafter Rück¬ gang der Bleiintoxikationstodesfälle, aber auch der Todesfälle an Erkrankungen des Urogenitalsystems, des Nervensystems, an Lungenschwindsucht, Erkrankungen der Zirkulationsorgane und der Atmungsorgane ersichtlich. Die Verminderung der mit Blei zusammenhängenden Todesursachen hat aber auch ein Herabsinken der Mortalitätsziffer überhaupt bewirkt.

202

J. Kaup,

Es scheint demnach keinem Zweifel zu unterliegen, daß in England in der Bekämpfung gewerblicher Bleivergiftungen schöne Erfolge erzielt wurden. Ob auch in anderen gesundheitsgefähr¬ lichen Betrieben namentlich der chemischen Industrie gesundheit¬ liche Fortschritte zu bemerken sind, wollen wir unerörtert lassen.

Für Deutschland sind zum Schutze der Arbeiter vor gewerb¬ lichen Erkrankungen bereits in der Gewerbeordnung des Nord¬ deutschen Bundes vom Jahre 1869 einige Anhaltspunkte gegeben.

„Jeder Gewerbeunternehmer ist verpflichtet, auf seine Kosten alle diejenigen Einrichtungen herzustellen und zu unterhalten, welche mit Rücksicht auf die besondere Beschaffenheit des Ge¬ werbebetriebes und der Betriebsstätte zu tunlichster Sicherung der Arbeiter gegen Gefahren für Leben und Gesundheit notwen¬ dig sind.“

Diese Fassung gibt noch keine genaueren Anhaltspunkte. Große Fortschritte nach dieser Richtung weist die Gewerbeordnungs¬ novelle von 1891 auf.

Die entscheidenden Punkte sind im § 120 ab und c enthalten.

„Die Gewerbeunternehmer sind verpflichtet, die Arbeitsräume, Betriebs Vorrichtungen, Maschinen und Gerätschaften so einzurichten und zu unterhalten und den Betrieb so zu regeln, daß die Arbeiter gegen Gefahren für Leben und Gesundheit soweit geschützt sind, wie es die Natur des Betriebes gestattet.“

„Insbesondere ist für genügendes Licht, ausreichenden Luft¬ raum und Luftwechsel, Beseitigung des bei dem Betriebe entstehen¬ den Staubes, der dabei entwickelten Dünste und Gase, sowie der dabei entstehenden Abfälle Sorge zu tragen.“

Durch Beschluß des Bundesrats können Vorschriften darüber erlassen werden, welchen Anforderungen in bestimmten Arten von Anlagen zur Durchführung der in den § 120 a bis e enthaltenen Grundsätze zu genügen ist. Soweit solche Vorschriften durch Be¬ schluß des Bundesrats nicht erlassen sind, können dieselben durch Anordnungen der Landeszentralbehörden oder durch Polizeiver¬ ordnungen der zum Erlasse solcher berechtigten Behörden er¬ lassen werden.

Zunächst Bundesratsvorschriften zur Bekämpfung gewerblicher Bleivergiftungen :

1. Bekanntmachung des Bundesrats, betr. die Einrichtung und den Betrieb der Bleifarben- und Bleizuckerfabriken 1893 1903.

2. Bekanntmachung des Bundesrats, betr. die Einrichtung und

Der Einfluß der Gesetzgebung auf gewerbliche Erkrankungen. 203

4

den Betrieb von Buchdrucker eien und Schriftgießereien 1897 bis 1907.

3. Bekanntmachung des Bundesrates, betr. die Einrichtung und den Betrieb von Anlagen zur Herstellung elektrischer Akku¬ mulatoren aus Blei und Bleiverbindungen 1897 1907.

4. Bekanntmachung des Bundesrates, betr. die Einrichtung und den Betrieb von Zinkhütten 1900.

5. Bekanntmachung des Bundesrates, betr. die Einrichtung und den Betrieb von Bleihütten 1904.

6. Bekanntmachung des Bundesrates, betr.' die Einrichtung und den Betrieb von Malerbetrieben 1905.

Bevor wir auf die Genesis und die Wirkungen der einzelnen deutschen Bleiverordnungen zu sprechen kommen, seien einige allgemeine Bemerkungen über die Häufigkeit gewerblicher Blei¬ vergiftungen in den deutschen Bundesstaaten vorausgeschickt. Da die Krankenkassen nicht wie in Österreich zur Führung einer eingehenden Krankheitsstatistik verhalten sind und auch eine An¬ zeigepflicht für gewerbliche Vergiftungen durch die behandelnden Arzte und Krankenanstalten wie in England nicht existiert, so sind nur zufällige Angaben zu finden. Einige Bleiweißfabriken des Cölner Aufsichtsbezirkes und auch die Blei- und Zinkhütten Oberschlesiens haben ziemlich regelmäßig Statistiken geführt, auch mehrere Ortskrankenkassen machen ständig Angaben. Eine Sta¬ tistik über die in den 90 er Jahren in preußischen Krankenanstalten behandelten Bleivergiftungen von Hey mann blieb mangels einer Schilderung der gewerbehygienischen Zusammenhänge so gut wie unbekannt. Diese Quelle ist jedoch noch die verläßlichste. Aller¬ dings kommen nur die schweren Fälle von Bleivergiftungen in den Krankenanstalten in Behandlung, aber Vergleiche in verschiedenen Städten, wie z. B. Paris, Wien und Berlin ergaben, daß etwa 1li bis 1I*> aller an Bleivergiftung erkrankten Personen Krankenhäuser aufsuchen.

Zur Bestätigung dieser Annahme sei auf folgende Tabelle verwiesen, die die metallischen Intoxikationen der Mitglieder des Berliner Gewerkskrankenvereins für einige Jahre zur Darstellung bringt.

204

J. Kaup,

Metallische Intoxikationen in den zum Gewerkskrankenverein Berlin

gehörigen Kassen 1903 07.

Gewerbe

1903

1904

Fälle

1905

1906

1907

Kupferschmiede, G elb- u. Zinngießer

13

11

17

12

18

Schlosser

21

' 31

28

18

17

Mechaniker

147

173

115

115

81

Maler und Lackierer

570

617

527

471

444

Tischler

15

8

6

4

6

Steindrucker

16

20

21

12

8

Verschiedene Gewerbe

8

19

34

21

18

zusammen

790

879

748

653

592

Bleivergiftungsfälle, die in den

Krankenanstalten des Landes-

polizeibezirks Berlin zur Be-

handlung kamen:

178

167

151

146

1 : 5

1:4

1:4

1:4

Die hier ausgewiesenen

Fälle

von

Intoxikationen

sind fast

ausschließlich Fälle voii Bleierkrankungen, andere Intoxikationen spielen kaum eine Bolle, namentlich nicht bei den Malern und Lackierern, die hinsichtlich der Häufigkeit von Intoxikationen von allen Gruppen von Berufsarbeitern Berlins weitaus an erster Stelle stehen. Abgesehen von dem Bück gange der Bleivergiftungen seit dem Jahre 1904, der auch in dieser Tabelle gut zum Ausdrucke kommt, wollen wir an dieser Stelle nur auf die unten angegebenen Bleivergiftungsfälle , die in den Krankenanstalten des Landes¬ polizeibezirks Berlin zur Behandlung kamen, verweisen. Die Gegen¬ überstellung der überhaupt zur Kenntnis der Krankenkassen ge¬ brachten Fälle und der Bleierkrankungen in den Krankenanstalten ergibt für die Jahre 1904 1907 ein Verhältnis von fast durch¬ weg 1 : 4.

Die genaueren Ergebnisse und Berechnungen auf Grund der Krankenzettel der preußischen Krankenanstalten habe ich in einem besonderen Aufsatze mit dem Titel „Der Stand der Bleivergiftungen in den Gewerbebetrieben Preußens“ veröffentlicht. Hier sollen nur die wesentlichen Ergebnisse dieser Berechnungen in. einer be¬ sonderen Tabelle dargestellt und einige Materialien einbezogen werden, die in der letzten Zeit gewonnen werden konnten.

9 Archiv für soziale Hygiene. 6. Bd., Heft 1, September 1910.

Der Einfluß der Gesetzgebung auf gewerbliche Erkrankungen, 205

Bleivergiftungen in den wichtigsten Berufsgruppen nach den Materialien der preußischen Krankenanstalten.

1904

1905

1906

1907

1908

Preußen insgesamt

a)

1050

1 103

898

920

900

(alle Berufe)

b)

27 943

26 965

22 855

23 586

21 150

in

a)

134

157

160

177

172

Preußen

b)

2 871

3 675

3 742

4180

3 950

Arbeiter der Bleiweiß- u. Bleifarben¬

im Beg.-Bez.

a)

125

137

156

175

167

Cöln

b)

2 615

3 262

3 688

4123

3 856

fabriken

nach Angaben der deutschen Bleiweißfabr.

a)

b)

264

5 205

191

3 079

239

3 807

214 3 570

Blei u. Zink¬

f in

a)

121

163

115

120

121

Preußen

b)

2 418

3 212

2 172

2 792

2 951

hütten¬

arbeiter

im Beg.-Bez.

a)

110

150

97

101

97

[ Oppeln

b)

2167

3 008

1915

2 374

2 479

Maler,

[ in

a)

391

390

286

283

259

Anstreicher, Lackierer, <

Preußen

b)

12 246

109

10 183

7 709

6 629

6 211

Weißtüncher

in

a)

109

91

88

69

u. a.

Berlin

b)

2 636

2192

1957

2 017

1584

a) Krankheitsfälle, b) Krankheitstage.

9 1909: 197 Fälle und 3816 Tage; 1910: 203 Fälle und 4081 Tage.

Das richtige Verständnis für die Bleierkrankungsfälle in den Krankenanstalten Preußens insgesamt wird erst gewonnen, wenn man sich der Angaben Heymann’s1) erinnert. Hey mann be¬ rechnete für die Jahre:

1895

1020i

1899

1601

Bleivergiftungsfälle

1900

1510

> für

1901

1359

Preußen.

1902

1202,

Der Abstand der Höchstziifer für 1899 und der niedrigsten im Jahre 1906 ergibt einen Rückgang von rund 36 Proz. Ob ein ähn¬ licher Rückgang auch hinsichtlich der Krankheitstage eingetreten ist, kann nicht angegeben werden, da Hey mann die Zahl der Krankheitstage nicht besonders angeführt hat. In unserer Tabelle sind nur die drei Berufsgruppen der Bleiweißfabrik-, der Blei- und Zinkhüttenarbeiter und der Maler besonders angegeben. Diese engere Auswahl bringt die hauptsächlich gefährdeten Arbeiter¬ gruppen zum Ausdrucke, da rund 60 Proz. sämtlicher in den

9 Zeitschrift des Kgl. Preuß. Statist. Landesamtes. 1905.

Archiv für Soziale Hygiene. VII.

14

206

J. Kaup,

Krankenanstalten ausgewiesenen Bleivergiftungsfälle auf diese drei Berufe entfallen. Die Zahlen für die Bleivergiftungen in Bleiweiß- und Bleifarbenfabriken für Preußen überhaupt und im besonderen für den Regierungsbezirk Cöln lassen zunächst erkennen, daß in den anderen Provinzen Preußens nur verschwindend wenige Ver¬ giftungen in solchen Betrieben Vorkommen.

Eine Verordnung ist für Blei weißfabriken bereits im Jahre 1893 erschienen und 10 Jahre später neuerdings etwas ver¬ schärft den Gewerbeaufsichtsbeamten in Erinnerung gebracht worden. In den neunziger Jahren hat Hey mann etwa rund 310 Bleivergiftungsfälle in Bleiweißfabriken berechnet. Im Jahre 1900 waren es 360, 1901: 282 und 1902: 327. Mit der neuerlichen Erinnerung der Verordnung für Bleiweißfabriken im Jahre 1903 ist dann ein starker Rückgang der Vergiftungs¬ fälle eingetreten, der leider nicht bis zu den Jahren 1907 08 an¬ gehalten hat. In den Angaben des Verbandes deutscher Blei¬ weißfabrikanten kommt diese Erscheinung nicht zur Geltung. Nach diesen Zahlen könnte man annehmen, daß die Vergiftungsfälle innerhalb der Jahre 1907 1910 mit etwa 200 ziemlich stationär geblieben seien; die Zahl der Krankentage ist allerdings im Jahre 1910 mit 4081 Tagen bei 203 Fällen auffallend hoch. Immerhin ist noch zu berücksichtigen, daß die Krankheitsziffern des Ver¬ bandes nur wenig höher sind, als die der Krankenanstalten für den Regierungsbezirk Cöln oder für Preußen. Diese Erscheinung ist wohl darin begründet, daß der Verband nur die Bleivergiftungs¬ fälle der Stammarbeiter angibt, die häufigen Intoxikationen der nur vorübergehend beschäftigten und zu bestimmten gefährlichen Arbeiten herangezogenen Hilfsarbeiter unberücksichtigt läßt. Man wird auch hier annehmen können, daß die Ziffern für Preußen oder für den Regierungsbezirk Cöln mit 4 multipliziert werden können, um die vermutlich richtigen Zahlen von Bleivergiftungsfällen in den Bleiweiß- und Bleifarbenfabriken anzudeuten.

Die nächste Gruppe behandelt die Bleivergiftungen in den Blei- und Zinkhütten Preußens und des Regierungsbezirks Oppeln, der das Zentrum für die Blei- und Zinkproduktion Preußens ist. Nach Hey mann wurden unter den Blei- und Zinkhüttenarbeitern beobachtet :

im Jahre 1895

1899

1900

1901

1902

>5

200 Fälle 250 176 186 151

V

Der Einfluß der Gesetzgebung auf gewerbliche Erkrankungen. 207

Die Differenz zwischen der höchsten Zahl im Jahre 1899 mit 250 und der niedrigsten im Jahre 1906 mit 115 ergibt wieder einen überaus starken Rückgang von mehr als 50 Proz. Hier kommen zwei Verordnungen in Betracht: die Zinkhüttenverordnung von 1900 und die Bleihüttenverordnung vom Jahre 1904. Die Zink¬ hüttenverordnung hat offenbar den starken Rückgang seit 1899 zu¬ stande gebracht, während die Wirkung der Bleihüttenverordnung weniger leicht zu erkennen ist. Gerade für die Blei- und Zinkhütten des Regierungsbezirks Oppeln sind in den Berichten der Gewerbe¬ aufsichtsbeamten gute Statistiken enthalten, deren Angaben für die einzelnen Jahre in besonderen Tabellen zusammengefaßt sind. Zu¬ nächst bringen wir eine Tabelle über die Erkrankungen der Zink¬ öfenarbeiter Oberschlesiens für die Jahre 1902 1910. Die Röster sind wesentlich weniger gefährdet, so daß eine Zusammenstellung der spärlichen Bleivergiftungsfälle für diese Arbeitergruppe über¬ flüssig erscheint.

(Tabelle siehe nächste Seite.)

In dieser Tabelle sind nicht nur die schweren Bleivergiftungen (Bleikolik und Lähmungen) sondern auch andere Erkrankungen angegeben, die mehr oder weniger häufig einer Bleieinwirkung ihre Entstehung verdanken. Hier zeigt sich das merkwürdige Ergebnis, daß unmittelbar nach der Zinkhüttenverordnung von 1900 an ein starker Rückgang der Bleivergiftungen eingetreten ist, daß jedoch seit den Jahren 1902 und 1903 wieder ein kon¬ stantes Steigen gerade der schweren Vergiftungsfälle bis zum

Jahre 1910 beobachtet werden kann. Diese Erscheinung zeigt

eine gewisse Ähnlichkeit mit unserer Wahrnehmung bezüglich der Bleiweißfabriken des Regierungsbezirkes Cöln. Hier wie dort un¬ mittelbar nach der Herausgabe der Verordnung ein starkes Ab¬ sinken der Vergiftungsfälle, hernach aber wieder ein allmähliches Ansteigen. Dieselbe Erscheinung ist auch für die anderen Er¬ krankungen, die zum großen Teile auf bleiische Einflüsse zurück¬ zuführen sind, wie für Nierentzündungen, Magen- und Darmkatarrhen, zu beobachten. Namentlich die Zahl der Krankheitstage ist für alle bleiischen Erkrankungen innerhalb der letzten acht Jahre an¬ gestiegen.

Es fragt sich nun, ob für die Bleihütten Oberschlesiens etwa ähnliches festzustellen ist. Hierüber gibt die folgende Tabelle Aufschluß.

(Tabelle siehe Seite 209.)

14*

208

J. Kaup,

Gesundheitsverhältnisse der Arbeiter der Zinkhütten

Oberschlesiens.

Zinköfenarbeiter.

Erkrankungsfälle a), Prozente b) u. Krankheitstage c) bei

Jahr

Arb.- Bleikolik und

Nieren¬

Magen- und

Kheumatis-

sonstigen

zahl

Lähmung

entzündung

Darmkatarrh

mus

Krankheiten

a)

29

18

137

448

285

1902

4417 b)

0,7

0,4

3,1

10,1

6,5

c)

535

527

2007

7075

4625

a)

28

21

151

470

111

1903

4587 b)

0,6

0,5

3,2

10,2

2,4

0

652

624

2153

8168

2496

a)

44

23

181

596

91

1904

4677 b)

0,9

0,5

3,9

12,7

1,8

c)

970

698

2706

9982

1654

a)

50

18

223

612

70

1905

4789 b)

1,0

0,4

4.7

12,8

1,4

c)

2217

952

2580

10207

1150

a)

43

20

223

560

67

1906

4693 b)

1,0

0,4

4,8

11,9

1,4

c)

1053

370

2838

8920

1531

a)

51

33

197

562

72

1907

4692 b)

1,1

0,7

4,2

12,0

1,5

c)

1073

1362

2441

9547

921

a)

57

22

239

686

212

1908

4933 b)

1,2

0,5

4,8

13,9

4,3

c)

972

567

2531

10691

2834

a)

66

16

257

704

88

1909

4859 b)

1,3

0,3

5,4

14,4

1,8

c)

1240

420

3386

10686

1376

a)

69

37

197

686

1910

5169 b)

1,3

0,7

3,8

13,2

unbekannt

C

1778

1140

2221

12043

Ein Blick auf diese Tabelle läßt sofort ein wesentlich anderes Bild erkennen: vor der Herausgabe der Verordnung (1904) von 1902 an ein Ansteigen der Bleivergiftungsfälle von 90 auf 125 im Jahre 1904 und sogar 177 im Jahre 1905. Seitdem ein sturzähn¬ licher Rückgang bis auf 37 Fälle im Jahre 1906 und ein weiteres Sinken bis in die letzten Jahre. Andere bleiische Erkrankungen scheinen zum Unterschiede von den Zinkh litten arbeitern bei den Bleihüttenarbeitern eine geringere Rolle zu spielen. Für die Blei¬ hüttenarbeiter Oberschlesiens ist somit ein sehr guter Erfolg der Bleihütten Verordnung festzustellen , der einstweilen noch anhält. Den weitgehenden Sanierungsarbeiten in der Kgl. Friedrichhütte zu Tarnowitz dürfte wohl an diesem Rückgänge der Hauptanteil zuzuschreiben sein.

Der Einfluß der Gesetzgebung auf gewerbliche Erkrankungen. 209

Gesundheitsverhältnisse der Arbeiter der Bleihütten

Oberschlesiens.

Erkrankungsfälle a), Prozente b), u. Krankheitstage c) bei

Jahr Arb.- a) Bleikolik und Nieren- Magen- und Rkeuinatis- sonstigen zahl b) Lähmung entzündung Darmkatarrh mus Krankheiten

1902 906

a)

1903 875 b)

c)

a)

1904 912 b)

c)

a)

1905 999 b)

c)

a)

1906 897 b)

c)

a)

1907 828 b)

0

a)

1908 829 b)

c)

a)

1909 834 b)

c)

a)

1910 803 b)

0

90

10,0

1588

142

15.7 2724

125

13,9

2642

177

17.7 3056

37

4,1

786

16

2,0

181

23

2,9

356

11

1.3

217

19

2.3 350

nicht angegeben

6 28 47

0,6 3,1 5,2

314 486 1067

3 49 52

0,3 5,4 5,8

47 834 1090

2 37 31

0,2 3,7 3,1

157 579 747

6 31 37

0,7 3,4 4,1

384 376 1064

1 34 45

0,1 4,2 5,6

9 422 927

2 39 47

0,2 4,9 5,9

65 609 1053

3 40 38

0,4 5,0 4,7

167 744 989

3 59 38

0,3 7,3 4,7

350 775 587

117

13,0

2443

92

10,2

2393

82

8,2

2358

79

8,8

2573

69

8,6

1538

34

4,2

691

14

1,7

149

nicht

angegeben

Die soeben durchgeführte Trennung der Vergiftungsfälle in Blei- und Zinkhütten zeigt wieder, wie notwendig es ist, Gesamt- resultate in die Komponenten zu zerlegen, da nur dadurch ein richtiger Einblick in die ursächlichen Zusammenhänge geboten wird. Die Zunahme der Vergiftungsfälle in den Zinkhütten und die besonders starke Abnahme in den Bleihütten Oberschlesiens kommt in der Gesamtstatistik der Haupttabelle nicht zum Aus¬ druck.

Die größte Zahl von Bleivergiftungen bei gewerblichen Ar¬ beitern findet sich jedoch bei den Malern. Auf die Angehörigen dieses Berufes entfällt fast ein Drittel aller in Krankenanstalten vorkom¬ menden Bleivergiftungsfälle. Im untersten Teile der Haupttabelle sind die Zahlen für Krankheitsfälle und Krankheitstage sowohl für Preußen wie auch als Beispiel für Berlin angegeben. Die Bekannt-,

210

J. Kaup,

machung des Bundesrats betreffend die Einrichtung und den Betrieb von Malerbetrieben trat am 1. Januar 1906 in Kraft. Die Ver¬ ordnung erschien bereits im Frühsommer 1905, so daß die Gewerbe¬ aufsichtsbeamten wie die Interessenten bereits im Sinne dieser Verordnung tätig sein konnten. Vor dem Erscheinen hielt sich die Zahl der Bleivergiftungen bei den Malern, Anstreichern und Lackierern etwa in der Höhe von 400 Fällen. Im Jahre 1895 waren es 347, 1899 460, 1900 378, 1902 399, und in den Jahren 1904 05 391, bzw. 390. Im Jahre 1906 jedoch ist bereits ein Kückgang von mehr als 100 Fällen ein getreten, der auch in den Jahren 1907 und 1908 anhielt. Dieselbe Erscheinung ist auch für die Maler Berlins zu finden. Allerdings ist hier der Rückgang im Jahre 1906 noch gering, ver¬ größert sich jedoch in den folgenden Jahren. Wenn auch nicht etwa wie in Bleiweißfabriken, in Blei- und Zinkhütten das Maler¬ gewerbe in irgendeinem Bezirk oder einer Stadt zusammen¬ geballt ist und Berlin nur etwa den dritten Teil aller Bleiver¬ giftungsfälle bei Malern aufweist, so ist doch auch durch den Verlauf der Fälle in Berlin ein guter Einblick geboten; denn in anderen Bezirken, wie z. B. Potsdam, Hessen-Nassau, Wiesbaden und Rheinprovinz ist vom Jahre 1905 an ein ganz ähnlicher Rück¬ gang der Vergiftungsfälle zu konstatieren.

In Österreich ist eine Malerverordnung seit dem Jahre 1908 in Kraft. In Wien ereigneten sich seit jeher weitaus die meisten Bleivergiftungsfälle bei Malern. Hier sind gute Angaben in den Ausweisen der Genossenschaftskrankenkasse der Maler und An¬ streicher zu finden gewesen. In einer besonderen Tabelle ist der Ver¬ such gemacht, die Erkrankungsverhältnisse der Maler, Anstreicher und Lakierer in Berlin und Wien vergleichend darzustellen.

(Tabelle siehe nächste Seite.)

In den Jahren 1904 05 ist die Zahl der Bleivergiftungsfälle für die Berliner Maler mit 610, bzw. 523 (in den Krankenan¬ stalten je 109) außerordentlich hoch gewesen. Seit dem Jahre 1906, bzw. eigentlich schon 1905 ist ein gleichmäßiger Rückgang zu finden, der namentlich innerhalb der Jahre 1907 und 1908 fast 100 Fälle betrug. Vergleicht man wieder Maximum und Minimum, so kann für die Berliner Maler berechnet werden, daß der Prozent¬ satz der Bleivergiftungen auf 100 Mitglieder von rund 10 Proz. auf ungefähr 5 Proz., also um 50 Proz. gesunken ist. In Wien war die Zahl der Bleivergiftungsfälle jetzt etwas geringer, auch hier ist der Prozentsatz von etwa 6 auf 3,5, also auch beinahe um die Hälfte, abgesunken. Allerdings sind die Verordnungen für

Erkrankungsverhältnisse der Maler, Anstreicher und Lackierer in Berlin und Wien.

(a = Krankheitsfälle, b = Krankheitstage.)

Der Einfluß der Gesetzgebung auf gewerbliche Erkrankungen. 211

a

03

ÖD

a

a

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a

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Sh

03

a

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a

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a

03

Sh

03

PQ

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Wien

03 CO C- rH 03

00 70 70 t>- t>*

106

1386

82

1102

96

1343

119

2016

113

1415

128

1431

a

03 O

03 03

sO O-

70 00

00 70

O CO

sO CO

i-l CO

pH

03 70

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03

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03

03

03

CO

03

CO

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05

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pH

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pH

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Wien

5,1

105,7

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5,3

101,6

6,9

155,8

5,5

129,9

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3,9

82,6

3,5

80,9

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a

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C- 03

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X

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X

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03 rH

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X

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03

X

X

X

X

X

X

X

rH

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rH

rH

tH

rH

rH

rH

212

J. Kaup,

Deutschland-Preußen und für Österreich-Wien erst so kurze Zeit in Kraft, daß man noch nicht behaupten kann, daß dieser Rückgang als bleibender anzusehen ist. Die Wahrnehmungen bei den Blei¬ weißfabrikarbeitern und Zinkhüttenarbeitern mahnen zur Vor¬ sicht. Manche Erfahrungen lassen die Anschauung gerechtfertigt erscheinen, daß es oft mehr auf die Einsicht der Betriebsleitungen als auf den Wortlaut einer Verordnung ankommt, um gewerbliche Vergiftungen dauernd auf einem Minimum zu erhalten. Der frühere Hinweis auf die Tätigkeit der Kgl. Friedrichshütte in Tarnowitz ist ein Beweis hierfür.

Ein ähnliches Beispiel liegt für die große Akkumulatorenfabrik in Hagen vor. Eine besondere Bekanntmachung des Bundesrates vom Jahre 1897 regelte die Einrichtung und den Betrieb von An¬ lagen zur Herstellung elektrischer Akkumulatoren aus Blei- und Bleiverbindungen. Die Hagener Fabrik ist nicht nur das größte Etablissement dieser Art in Deutschland, sondern überhaupt in der Welt. Die Erkrankungsverhältnisse und namentlich die Häufigkeit von Bleivergiftungen in diesem Betriebe sei hier in einer besonderen Tabelle zur Darstellung gebracht.

Gesundheitsverhältnisse der Arbeiter einer großen

Akkumulatorenfabrik.

Gesamtzahl der Arbeiter

Es

kamen auf 100

Jahr

die mit Blei-

Arbeiter überhaupt

Bleiarbeiter

überhaupt

Produkten zu

Er-

Bleier-

Bleier=

tun haben

krankungen

krankungen

krankungen

1897

664

189

59,00

21,11

10,20

1898

648

237

49,64

7,83

4,27

1899

967

316

52,95

2,95

1,56

1900

971

298

47,47

2,01

1,30

1901

915

237

43,50

1,26

0,75

1902

926

216

42,22

2,31

1,27

1903

1040

263

40,76

1,74

1,18

1904

1470

374

44.96

2,14

1,21

1905

2270

419

42,91

1,91

0,80

1906

2588

465

40,22

1,52

0,67

1907

2851

461

43,63

1,30

0,48

1908

2914

426

50,58

1,17

0,34

Im Jahre 1897, in dem die Verordnung erschien, wurden 40 Bleivergiftungsfälle mit 724 Krankheitstagen gezählt. Im folgenden Jahre 1898 waren es nurmehr 18 Fälle mit 272 Tagen und seitdem ist die Zahl der Vergiftungsfälle im Durchschnitt etw^a 7 mit kaum 100 Krankheitstagen. Fortlaufende ärztliche Untersuchungen und

Der Einfluß der Gesetzgebung auf gewerbliche Erkrankungen. 213

eine genaue Kontrolle der gefährdeten Arbeiterschaft sichern hier einen bleibenden Erfolg.

Ein Teil von Betrieben , in denen Bleivergiftungsfälle in größerer Häufigkeit vorzukommen pflegen, gehört zur chemischen Industrie. Auf einige Betriebsgruppen der chemischen Industrie wollen wir noch näher eingehen. Die besondere Gefährlichkeit einiger Produktionsprozesse hat auch den Bundesrat auf Grund der Gewerbeordnung zur Herausgabe besonderer Vorschriften ver¬ anlaßt. Im Jahre 1902 erschien eine Bekanntmachung betr. die Einrichtung und den Betrieb gewerblicher Anlagen zur Vulkani¬ sierung von Gummiwaren, im Jahre 1807 betr. die Einrichtung in Betrieben von Anlagen zur Herstellung von Alkalichromaten und im Jahre 1909 betr. die Einrichtung und den Betrieb gewerblicher Anlagen, in denen Thomasschlacke gemahlen oder Thomasschlacken¬ mehl gelagert wird und schließlich im Jahre 1911 vom Reichsamt des Innern Grundsätze über die Herstellung und Verarbeitung ge¬ sundheitsschädlicher Nitro- und Amidoverbindungen. Zum Teile gehören hierher auch die Vorschriften über die x4nlage und den Betrieb von Schwarzpulverfabriken, zur Herstellung gelatinierten rauchschwachen Pulvers, von Nitroglyzerin-hältigen Sprengstoffen und Prikinsäurefabriken und von Acethylenfabriken.

Hinsichtlich des Erfolges der Bekanntmachung für Gummi- warenfabriken liegen besondere Statistiken nicht vor. Einen be¬ stimmten Einblick gewähren Angaben in der Publikation über die Leipziger Ortskrankenkassenstatistik. Die Ergebnisse dieser Be¬ rechnungen für die Arbeitspersonen in Gummiwarenfabriken, von denen gerade in Leipzig eine große Zahl zu finden ist, sind in der folgenden Tabelle dargestellt.

Arbeiter in Gummiwarenfabriken. (Nach der Leipziger O.-Kr.-K.-Statistik.)

Auf 100 Mitglieder entfallen

Mitglieder Krankheitsfälle Krankheitstage Todesfälle

Alter :

m.

w.

m.

w.

m.

w.

m.

w.

Insges.

2228

2292

46,7

59,6

1028

1494

0,9

0,8

unter 15

33

8

48,5

37,5

1154

550

15—24

1042

1383

53,9

53,9

998

1182

0,5

0,5

24—34

760

714

40.9

73,8

934

2099

1,2

1,1

35-44

294

164

35,7

48,2

1126

1399

0,7

0,6

45 54

73

23

48,0

60,9

1522

2439

4,1

13,0

55—64

12

33,3

1608

65—74

9

66,7

1944

11,1

75 usw.

5

40,0

4640

*

214

J. Kaup,

Die Tabelle zeigt zunächst, daß, ähnlich wie in der Textil¬ industrie in dieser Industrie die Frauenarbeit vorherrscht; namentlich in der Altersgruppe vom 15. 24. Lebensjahre überwiegen weitaus weibliche Arbeiter. Die Erkrankungshäufigkeit gerade für diese Altersgruppe ist bei Männer und Frauen gleich hoch. In der nächsten Altersgruppe vom 25.-34. Lebensjahre ist sie bei den Frauen beträchtlich höher und in den folgenden Altersgruppen bietet sich dasselbe Bild. Ein noch größerer Unterschied ist hin¬ sichtlich der Krankheitstage zu finden. Es ergibt sich hier wieder die Erscheinung, daß in allen Betrieben mit gesundheitsgefährlichen Verrichtungen Frauen ungleich leichter geschädigt werden können als Männer. Im allgemeinen ist das Erkrankungsprozent wie die Zahl der Krankentage für Männer und Frauen ziemlich beträcht¬ lich höher als im Mittel industrieller Arbeiter. Da die Leipziger Statistik die Materialien für etwa 17 Jahre zusammenfaßt (1885 bis 1903) so konnte in dieser Krankheitsstatistik ein Erfolg der Bundesratsverordnung nicht zum Ausdrucke kommen.

Bessere Anhaltspunkte sind für die Arbeiter von Betrieben, in denen Alkalichromate hergestellt werden, vorhanden. Über die Gesundheitsschädigungen in diesen Betrieben ist vor kurzem eine Arbeit von R. Fischer erschienen.1)

F. hat durch eine Reihe von Einzeluntersuchungen für ver¬ schiedene Betriebe die Ursachen der einzelnen Krankheitsfälle mit der Einrichtung und Arbeitsweise in Beziehung gebracht, und nach dem Grundsätze, daß nur von Jahr zu Jahr fortgesetzte Vergleiche des Gesundheitszustandes der Arbeiterschaft ein und desselben Be¬ triebes eine gute Unterlage für eine erfolgreiche Bekämpfung der etwaigen Mängel geben könne, genauere statistische Zusammen¬ stellungen versucht. Zahlreiche Detailtabellen eignen sich nicht zur Wiedergabe. Die wesentlichsten Resultate, namentlich hin¬ sichtlich eines Vergleiches der Chromatarbeiter großer chemischer Betriebe mit verhältnismäßig wenig gefährdeten Hofarbeitern und Professionisten dieser Betriebe sind in der folgenden Tabelle zusammengefaßt.

0 Die industrielle Herstellung und Verwendung der Chrom Verbindungen, die dabei entstehenden Gesundheitsgefahren für die Arbeiter und die Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung. Berlin, A. Seydel, 1911. Schriften %des Instituts für Gewerbe¬ hygiene. Frankfurt a. M.

Der Einfluß der Gesetzgebung auf gewerbliche Erkrankungen. 215

Gesundheitsverhältnisse in mehreren Chromatbetrieben

(nach Fischer).

Jahr

Auf 100 Arbeiter entfielen

Hautleiden

Innere Erkrankungen

Erkrankungen

insgesamt

bei den Hof¬ arbeitern und Handwerk.

bei den Chro¬ mat arb eitern

bei den Hofarbeitern und Handwerkern

bei den Chromat¬ arbeitern

bei den Hof¬

arbeitern und Handwerk.

bei den Cliro-

matarbeitern

Fälle

Tage

Fälle

Tage

1899—1900

7,5

35,0

34,1

500

68,7

705

41,6

103,7

1900—01

8,3

48,0

37,6

546

75,0

1005

45,9

123,0

1901-02

21,0

30,0

587

29,0

328

37,4

50,0

1902—03

5,1

19,6

40,4

536

59,0

660

45,4

78,6

1903—04

4,5

31,5

25,9

399

78,5

1259

30,4

110,0

1904—05

6,6

11,6

35,9

464

50 0

540

42,5

61,6

1905—06

7,3

34,7

27,2

439

67,4

1219

34,5

102,1

1906-07

7,8

34,5

40,5

638

52,8

990

48,3

87,3

1907—08

10,3

51,0

53,0

724

74,5

940

63,3

125,5

1908-09

4,0

28,0

32,5

637

73,5

1200

36,5

101,5

Durchschn.

6,9

31,5

35,6

547,1

62,8

887,7

42,5

94,3

Die Summe der inneren und äußeren Erkrankungen für die Chromatarbeiter ist für die einzelnen Jahrgänge ganz wesentlich höher als für die ungefährdeten Arbeiter mehr als doppelt so hoch. Vergleicht man im speziellen die Erkrankungszitfern für äußere Erkrankungen, so sind diese bei den Chromatarbeitern etwa fünfmal so hoch, während der Unterschied für innere Krankheiten wesentlich geringer ist. Chromatarbeiter haben etwa 80 Proz. höhere Erkrankungsziffern für innere Krankheiten als die weniger gefährdeten Hofarbeiter und Professionisten. Das wichtigste Er¬ gebnis dieser Tabelle liegt darin, daß innerhalb dieser letzten zehn Jahre trotz der beiden Verordnungen ein Rückgang der Erkrankungs¬ ziffern kaum eingetreten ist. Innere Erkrankungen haben sogar etwas zugenommen. Vergleicht man noch die Zahl der Kranken¬ tage an inneren Erkrankungen für Chromatarbeiter und unge¬ fährdete Arbeiter, so sind diese Zahlen für 100 Arbeiter mit im Mittel 888 gegenüber etwa 547 bei den ungefährdeten Arbeitern um etwa 60 Proz. höher. Hinsichtlich der Zahl der Krankheits¬ tage macht es jedoch den Eindruck, als wenn deren Zahl von Jahr zu Jahr höher geworden wäre. So betrug dieselbe für die Chromatarbeiter an inneren Erkrankungen allein in den Jahren 1899 02 579 und in den Jahren 1906—09 1073; also fast doppelt soviel, während die Zunahme der Krankheitstage für die ungefähr¬ deten Hofarbeiter und Professionisten eine wesentlich geringere ist.

216

J. Kaup,

In besonderen Tabellen hat F. jedoch auch die einzelnen Er¬ krankungsformen für innere Krankheiten für die verschiedenen in Betracht kommenden Gruppen verglichen und hierbei fest¬ gestellt, daß z. B. von den Chromatarbeitern im Mittel dieser 10 Jahre 21 Proz. durch Erkrankungen der Atmungsorgane er¬ werbsunfähig wurden, hingegen von den ungefährdeten Arbeitern nur 11 Proz. In ähnlicher Weise wurde auch an Erkrankungen der Verdauungsorgane für die Chromatarbeiter eine Erkrankungs¬ häufigkeit von 20 Proz., für die Hofarbeiter und Professionisten eine solche von 11 Proz. festgestellt. Einen Vergleich der Er¬ krankungshäufigkeit der Chromatarbeiter mit anderen gefährdeten Arbeitergruppen werden wir später noch ziehen können. F. gibt in seinen Tabellen jedoch auch eine Beihe von besonderen Erkran¬ kungsarten an, so über die Häufigkeit des Vorkommens von Per¬ forationen der Nasenscheidewand (bei etwa 70 Proz. der Arbeiter in Chromatbetrieben) Verbrennungen, Verätzungen durch Chromate, Chromgeschwüre usw. Für mehrere Chromgerbereien mit im Durch¬ schnitte 2800 männlichen Arbeitern wurden folgende Erkrankungs¬ ziffern nach den F.’schen Einzelangaben für die letzten Jahre berechnet.

Gesundheitsverhältnisse in einer großen Chromgerberei

(nach Fischer).

Jahr

Durchschnitt¬ liche Mit¬ gliederzahl (männliche) der Betriebs^ krankenkasse

Erkrankung!

Fälle

Auf 100 Arbe

3n insgesamt

Tage

iter entfallen

Chromater] der Hände

Fälle

irankungen und Arme

Tage

1904

2792

67,47

1414,43

3,01

19,02

1905

2830

70,07

1334,52

5,12

115,48

1906

2780

59,35

1058.20

1,97

35,87

1907

2792

64,11

1327,76

1,18

17,19

1908

2787

67,20

1660,35

0,86

12,89

Durchschnitt

2796

65,64

1359,05

2,43

40,09

Auch hier ist vor allem das Erkrankungsprozent mit im Mittel 66 Proz. und 1359 Krankheitstagen außerordentlich hoch. Auch läßt sich keine Verbesserung in den letzten Jahren kon¬ statieren. Der Anteil der Chromaterkrankungen der Hände und Arme in diesen Gesamterkrankungen ist allerdings gering. Doch ist hier die Bemerkung berechtigt, daß dieser Anteil nur durch genaueste ärztliche Feststellungen und durch einwandfreie Ver¬ gleichszahlen sicher berechnet werden kann. Einstweilen ist die Tatsache einer hohen Erkrankungshäufigkeit der Arbeiter in Chrom-

Der Einfluß der Gesetzgebung auf gewerbliche Erkrankungen. 217

gerbereien maßgebend. Auch der Hinweis F.’s, daß in anderen Chromgerbereien die Chromatarbeiter kaum wesentlich mehr Er¬ krankungen an Haut- und Nierenleiden aufweisen als sämtliche Arbeiter einer Gerberei, läßt eine sichere Schlußziehung nicht zu.

Über die Gesundheitsverhältnisse in Tliomassclilackeiimülilen bringen die Gewerbeaufsichtsbeamten seit mehreren Jahren krank¬ heitsstatistische Angaben, die in der nachfolgenden Tabelle für die Kegierungsbezirke Arnsberg und Düsseldorf übersichtlich zusammen¬ gestellt sind.

Erkrankungsverhältnisse in sechs größeren Thomasschlackenmühlen.

(Nach deu preuß. Gewerbeaufsichtsberichteu.)

Regierungs¬

bezirk

Betrieb

Jahr

Durch¬

schnittliche

Arbeiterzahl

Im Durchschnitt entfielen auf 100 Arbeiter

im ganzen Kranken-

Erkrankungen der Atmungsorgane

Todesf . an

Lungen-

entzündg.

Fälle

Tage

Fälle

Tage

'

T

1910

53

53

1340

26

999

1

1909

50

28

460

16

326

__

Arnsberg

TT

1910

84

96

2257

58

1636

1

n

1909

73

70

1425

30

505

1910

92

104

1832

32

474

3

1909

102

97

1341

33

547

1

III

1908

92

51

551

27

284

1907

76

67

752

29

447

1

1906

80

64

1110

24

549

1

1910

161

61

1183

11

228

7

1909

157

85

1278

30

396

7

IV

1908

165

71

858

21

360

0,5

1907

162

134

1692

54

827

6

1906

133

138

1355

54

582

2

Düsseldorf

1910

98

160

1705

73

929

1

T 7

1909

99

123

1401

52

530

2

V

1908

108

110

1439

61

842

1

1907

75

74

861

29

364

4

1906

110

77

733

42

398

2

1910

130

52

1055

14

381

1

1909

72

68

1094

13

393

4

VI

1908

68

85

711

11

111

1907

82

70

704

10

90

4

1906

65

66

603

9

77

4

Die Erkrankungshäufigkeit ist in allen diesen sechs Betrieben auch noch in den letzten Jahren recht hoch gewesen, und namentlich war die Zahl der Krankentage sehr bedeutend. Die Entwicklung ist in den einzelnen Betrieben eine sehr verschiedene. Im Betriebe II

218

J. Kaup,

eine hohe Erkrankungshäufigkeit in den zwei letzten Jahren, namentlich im Jahre 1910 und insbesondere eine sehr hohe Zahl von Krankheitstagen. Im Betriebe III scheinen die Gesundheits- Verhältnisse von Jahr zu Jahr schlechter geworden zu sein. Ebenso im Betriebe V, in dem der Anteil an Erkrankungen der Atmungs¬ organe am höchsten ist; hingegen ist im Betriebe IV seit den Jahren 1907, allerdings mehr nach der Erkrankungshäufigkeit als nach der Zahl der Krankentage eine fortschreitende Besserung ersichtlich. Auch die Erkrankungen der Atmungsorgane haben hier wesentlich abgenommen. Der Betrieb VI hat in den letzten fünf Jahren ungefähr die gleiche Erkrankungshäufigkeit, doch eine zunehmende Zahl von Krankheitstagen auch hinsichtlich der Erkrankungen der Atmungsorgane gezeigt. Wie bereits erwähnt, sind im Jahre 1909 schärfere Bestimmungen über Thomasschlacken¬ mühlen erlassen worden. Die Erfolge dieser Bekanntmachung können auf Grund der Krankheitsangaben nur für 1910 noch nicht be¬ urteilt werden.

Für verschiedene gesundheitsgefährliche Produktionsprozesse in der chemischen Industrie sind erst wenig zusammenfassende Arbeiten vorhanden.

Eine sehr instruktive Arbeit nach dieser Richtung liegt von Leymann1) vor. Die wesentlichsten Ergebnisse der Leymann- schen Betrachtungen und Zusammenstellungen sind der Kürze halber in einer besonderen Tabelle dargestellt.

(Tabelle siehe nächste Seite.)

Um die Entwicklung der Gesundheitsverhältnisse beurteilen zu können, wurden mit I und II die Jahresgruppen 1894—99 und 1899—1904 gebildet. Von den einzelnen Abteilungen dieser Gro߬ betriebe wurden die Abteilungen mit weniger gefährlichen Arbeiten in der Gruppe a zusammengestellt und dann noch mit den Gruppen b, c, d und e die Hauptabteilungen hervorgehoben. Die' Er¬ krankungshäufigkeit in den einzelnen Abteilungen ist recht ver¬ schieden: Am geringsten stets in der Abteilung a, am höchsten in den Abteilungen d und e (Anilinbetriebe und Trinitrophenolbetriebe). Leider zeigt sich nirgends innerhalb der beiden Jahresgruppen eine Verbesserung der Gesundheitsverhältnisse. Die Erkrankungs¬ häufigkeit in den beiden letzterwähnten besonders gesundheits¬ gefährlichen Abteilungen ist sogar außerordentlich hoch und bis

0 Erkrankungsverhältnisse in einigen chemischen Betrieben. Concordia 1906. Carl Heymann’s Verlag. Berlin.

Der Einfluß der Gesetzgebung auf gewerbliche Erkrankungen. 219

Erkrankungsverhältnisse in einem Betriebe der chemischen

Großindustrie

(nach Leymann).

Zeitab-

Arb. aller

Arbeiter in den

Betrieben

schnitt

Betriebe

a

b

c

d

e

Durchschnitt! Arbeiterzahl

I

1515

782

136

41

95

23

pro Jahr

II

1609

660

168

53

166

42

Gesamterkrankungen

I

72,5

50,4

63,7

81,9

122,5

115,0

(auf 100 Arbeiter)

II

83,5

70,7

72,5

125,4

128,2

196,4

Gesamtkrankentage

I

992,4

700,1

887,8

1374,0

1639,6

1635,0

(auf 100 Arbeiter)

II

1167,3

1002,8

1111,1

1647,7

1525,4

2307,5

Innere

K r a n k h

eiten

Fälle (auf 100 Arbeiter)

1

II

36,2

45,1

21,0

35,1

36,8

41,1

45,2

63,1

89,8

79,4

76,7

129,7

Tage (auf 100 Arbeiter)

I

II

523.8

655^2

351.8

546,0

499,5

607,4

845,2

818,4

1177,3

971,8

1209,2

1538,7

Bespirationsorgane

Digestionsorgane

Intoxikationen

Fälle (auf 100 Arbeiter) Tage (auf 100 Arbeiter)

Verbrennungen Andere Verletzungen Bewegungsorgane Haut

darunter Fälle (Proz.):

I

9,9

5,5

10,1

15,5

11,9

22.8

II

12,4

9,1

14,3

18,7

12,9

44,0

I

14,9

9,5

14,9

14,4

34,7

41,9

II

16,4

12,9

12,4

17,2

34,6

48,8

I

2,3

0,1

30,7

II

1,6

0,2

13.7

3,6

Äußere Krankheiten

I

36,3

29,4

26,9

36,7

32,7

38,4

II

38,4

35,6

31,4

62,3

48,8

66,7

I

468,6

348,3

388,4

528,8

462,3

425,8

II

512,1

456,8

503,7

829,3

553,6

768,8

darunter Fälle (Proz.)

I

3,4

1,0

6 6

6,7

4,8

6,7

II

2,4

0,8

6,1

14,4

2,7

9,5

I

13,7

13,0

7,5

7,2

12.8

15,2

II

12,8

15,5

10,1

14,8

11,2

14,5

I

10,6

7,9

8,2

14,4

5,5

8,5

II

11.0

10,9

10,3

12,5

7,1

3,6

I

7,2

5.9

3,5

8,3

8.2

7,6

II

9,3

6,7

3,4

16,3

24,8

35,7

Betriebsgruppe a) umfaßt: Tagelöhner, Schreiner, Schlosser, Schmiede,

Heizer u. ä. ;

b) Schwefel- und Salpetersäurebetrieb;

c) Chromatbetrieb;

d) Anilinbetrieb;

e) Trinitrophenolbetrieb.

Die Zeitperiode I umfaßt die Jahre 1894 1899,

II 1899—1904.

Die Zeitperiode II in der Gruppe e) umfaßt nur die Jahre 1899 1901.

220

J. Kaup,

zu den Jahren 1899 1904 noch weiter gestiegen. Ebenso ist namentlich die Zahl der Krankentage in der Abteilung e in der späteren Jahresgruppe höher geworden, in der Abteilung d hin¬ gegen etwas niedriger. In den anderen Abteilungen zeigt sich ebenso eine Zunahme der Zahl der Krankentage. An dieser Ver¬ schlechterung der Gesundheitsverhältnisse in den einzelnen Ab¬ teilungen des chemischen Großbetriebes nehmen sowohl innere Krankheiten, wie äußere ziemlich gleichmäßigen Anteil. Hinsicht¬ lich der Erkrankungshäufigkeit ist der Prozentsatz ebenso wie für die Zahl der Krankentage für innere Erkrankungen in der Ab¬ teilung d bis zu den Jahren 1899 04 geringer geworden. Die Tabelle gibt auch Aufschluß über die hauptsächlichsten inneren Er¬ krankungen (Erkrankungen der Respirations- und Digestionsorgane und Intoxikationen) und auch äußeren Erkrankungen.

Im Anilinbetriebe ist der Prozentsatz der Intoxikationen er¬ freulicherweise gesunken. Bei Betrachtung der einzelnen äußeren Krankheiten fällt die starke Zunahme des Erkrankungsprozents auf für Erkrankungen der Haut in den Abteilungen d und e, aber auch bei c. Leymann verdanken wir noch eine besondere Dar¬ stellung der „Er.krankungsverhältnisse in einer Anilinfarben¬ fabrik“. *) Auch aus dieser Arbeit sind die wichtigsten Ergebnisse in einer Tabelle zusammengestellt.

(Tabelle siehe nächste Seite.)

Die Trennung der einzelnen Arbeitergruppen war hier eine einfachere, da nur die eigentlichen Fabrikarbeiter von den Hof¬ arbeitern, Handwerkern und Lagerarbeitern getrennt werden mußten. Hier wurden die Zahlen für je drei Jahre und zwar für die Jahresgruppen 1899 1902 und 1903—06 zusammengefaßt. Im oberen Teile der Tabelle sind die durchschnittlichen Arbeiterzahlen für die einzelnen Abteilungen und für die Gesamtheit die Er¬ krankungsprozente und die Zahl der Kranken tage angegeben. Das Resultat ist hier günstiger: für die Gesamtheit der Fabrikarbeiter innerhalb der beiden Jahresgruppen ein geringer Rückgang, wenn auch für die späteren Jahresgruppen das Erkrankungsprozent mit 66,3 noch recht hoch ist. Leider zeigte es sich jedoch, daß die Gesundheitsverhältnisse der Arbeiter in den Mühlen und Lager¬ räumen ganz beträchtlich schlechter, die der eigentlichen Fabrik¬ arbeiter mindestens nicht besser geworden sind. Auch die Zahl der Krankentage für die einzelnen Personen hat zugenommen.

9 Concordia, Nr. 17, 1910.

Der Einfluß der Gesetzgebung auf gewerbliche Erkrankungen.

991

i-lUi J-

Erkrankungsverhältnisse in einer Anilinfarbenfabrik.

(Nach Leymann.)

Zeit¬

abschnitt

Fabrik¬

arbeiter

insgesamt

Hand¬

werker

Hof¬

arbeiter

Arbeiter,

Mühlen,

Lager

Eigentl.

Fabrik¬

arbeiter

Durchschnittliche Arbeiterzahl pro Jahr

1899-

1903-

-02

-06

2068

2171

398

383

413

532

300

293

907

953

Krankheitsfälle in

1899-

-02

69

61.1

79

55,6

72,0

Proz.

1903-

-06

66,3

58,4

55,4

76,4

72,3

Krankheitstage pro

1899-

-02

9,5

8,9

11,0

8,2

9,6

Arbeiter

1903-

-06

9,7

8,6

8,5

11,1

10,4

Ii

mere Kr

ankh eit

en.

Krankheitsfälle in

Proz.

1899-

-02

37,6

40,8

60,2

42,1

51,9

darunter :

1903-

-06

36,7

39,9

40,9

59,6

52,2

der Atmungsorgane

1899-

1903-

02

-06

12,6

10,3

9,1

7,8

14,0

7,0

10,8

12,5

* 13,9 12,4

der Verdauungs-

1899-

-02

17,0

13,6

21,2

14,8

17.3

organe

1903-

-06

16,8

11,9

16,0

19,4

18,9

Vergiftungen

1899-

-02

0,15

0,1

0,06

0,08

0,2

1903-

-06

0,10

0,06

0,08

0,18

Äußere Kr

ankheit

en.

Krankheitsfälle in

1899-

-02

18,9

20,2

18,9

13,4

20,1

Proz.

1903-

-06

18,0

18,4

14,5

16,9

20,2

Verbrennungen

1899-

1903-

-02

-06

1,8

1,5

2,1

1,0

1,8

0,7

0,3

0,7

2,1

2,2

Andere Verletzun-

1899-

-02

5,1

7,7

6,0

4,2

3,8

gen

1903-

-06

5,8

8,3

4,8

4,4

5,9

der Beweguugs-

1899-

-02

1,7

1,6

1,5

1,5

1,8

organe

1903-

-06

1,9

2,0

1,4

2,4

2,1

Hautkrankheiten

1899-

1903-

-02

-06

7.5

6.5

6,6

5,4

7,1

5,6

5,3

6,6

8,8

7,3

An diesen Erscheinungen tragen für die einzelnen Fabrikarbeiter die erhöhte Zahl an Erkrankungen der Verdauungsorgane und für die Mühlen- und Lagerarbeiter ebenfalls diese Erkrankungsformen und die Erkrankungen der Atmungsorgane die Schuld. Hinsicht¬ lich der äußeren Krankheiten sind die Unterschiede geringer. Immerhin scheinen die Gesundheitsverhältnisse gerade in dieser

Archiv für Soziale Hygiene. VII.

222

J. Kaup,

Anilinfarbenfabrik noch ziemlich gut zu sein; denn nach Fischer konnte für die Anilinabteilung mehrerer Großbetriebe für die ( Jahresgruppen 1899 1902 ein Erkrankungsprozent von 141, für die Jahresgruppe 1906 1909 erfreulicherweise von 113 Proz. be¬ rechnet werden. Für diese Betriebe ist wenigstens ein deutlicher Rückgang zu verzeichnen, wenn auch das Erkrankungsprozent selbst noch überaus hoch ist.

In den letzten Monaten ist eine Zusammenstellung erschienen,, in der Curschmann1) für einen Teil der Arbeiter der chemischen Industrie die Erkrankungsverhältnisse für die Jahre 1909 10 ziffermäßig darzustellen sucht. Leider ist in dieser Statistik kaum ein Viertel der gesamten Arbeiterzahl (im Jahre 1910: 222530 Voll¬ arbeiter, bei C. nur 50 761) der chemischen Industrie einbezogen, C. hat ähnlich wie Leymann die Arbeiterschaft in sieben Gruppen geteilt und die hauptsächlich gefährdeten Arbeiter unterschieden in die Arbeiter in anorganischen Betrieben und in organischen Be¬ trieben. Auch sind die beiden Geschlechter getrennt. Ein Mangel der Statistik liegt in dem Fehlen einer Trennung der Erkrankungen für die einzelnen Altersgruppen, da der Altersaufbau der Handwerker und der eigentlichen Fabrikarbeiter ein recht verschiedener ist. C. hat nur Krankheitsfälle mit einer Erwerbsunfähigkeit von mehr als 3 Tagen und einer Krankheitsdauer bis zu 26 Wochen mit Aus¬ schluß der Sonn- und Feiertage statistisch verwendet. Auf diese Weise berechnet er für die Jahre 1909—1910 eine Krankheits¬ häufigkeit von 54,9 Proz. und eine Krankheitswahrscheinlichkeit (Zahl der Krankheitstage pro Jahr auf 100 Arbeiter) von 955 Krankheitstagen. Von den eigentlichen „chemischen“ Arbeitern der organischen und anorganischen Betriebe erkrankten in diesen beiden Jahren 57,9 Proz., von den ungefährlicheren Abteilungen 47,4 Proz. und von den weiblichen Arbeitern 65 Proz. Auch die Zahl der Krankheitstage war mit 1050 für die eigentlich ge¬ fährdeten Arbeiter wesentlich größer als die der anderen Gruppen mit 761. Die Frauen hatten allerdings 1068 Krankheitstage auf¬ zuweisen. Aus diesen statistischen Angaben zieht C. im Vergleiche mit den Zahlen der Leipziger Ortskrankenkasse folgenden Schluß: „Jedoch entspricht dies (das Erkrankungsprozent nach Cursch¬ mann) durchaus Zahlen, wie sie sonst in Deutschland und Öster-

9 Krankenstatistik der deutschen chemischen Industrie für die Jahre 1909 und 1910. Bearbeitet im Aufträge der Berufsgenossenschaft der chemischen Industrie. Verwaltungsbericht der Berufsgenossenschaft der chemischen In¬ dustrie 1910.

Der Einfluß der Gesetzgebung auf gewerbliche Erkrankungen. 223

reich gefunden worden sind, ja sie bleiben in ihrem Durchschnitt noch vielfach hinter diesen zurück.“ C. glaubt sogar hinsichtlich der Erkrankungshäufigkeit und der Erkrankungswahrscheinlichkeit der einzelnen Arbeitergruppen annehmen zu können: „daß er¬ hebliche Unterschiede in der Erkrankungshäufigkeit bei chemischen Arbeitern, Handwerkern und Hofarbeitern nicht bestehen, und daß demnach die Beschäftigung mit chemischen Stoffen an sich keine Erhöhung der Erkrankungsziffern bedingt.“ Diese Schlußfolgerung entspricht nicht den Tatsachen, die er selbst gefunden hat und noch weniger den Tatsachen für einzelne Betriebsgruppen der chemischen Industrie, die wir vorher vorgeführt haben. Auch gibt C. selbst an, daß die Betriebshandwerker ebenfalls gewerblichen Erkran¬ kungen in hohem Grade ausgesetzt sind und daß die Hofarbeiter vielfach halbinvalide Personen sind. Trotz dieser ungenügenden Trennung gesundheitsgefährdeter und ungefährdeter Arbeitergruppen sind in der Erkrankungshäufigkeit und in der Erkrankungs Wahr¬ scheinlichkeit Unterschiede zuungunsten der eigentlichen chemischen Arbeiter vorhanden.

Für die von C. statistisch erfaßten Arbeitergruppen konnte er für 100 Arbeiter nur in 0,34 Fällen und für 5,9 Krankheitstage gewerbliche Erkrankungen feststellen. Eigentliche Vergiftungen wurden auf 100 Arbeiter nur 0,21 beobachtet; C. glaubt aus diesen Zahlen annehmen zu können, daß es kaum ein Gewerbe unter allen als gesundheitsschädlich bezeiclineten gibt, das so wenig Berufs¬ erkrankungen aufweist wie die chemische Industrie. Auch diese Behauptung steht mit unseren zusammenfassenden Angaben über die chemische Industrie recht erheblich im Widerspruch. Ley- mann hatte für die Gesamtarbeiterschaft eines chemischen Gro߬ betriebes auf 100 Arbeiter 1,3 Vergiftungen berechnet, für die Anilinbetriebe jedoch 15,7, dagegen Erkrankungen der Haut 8,1 Proz. für die Gesamtheit und 16 Proz. für die Anilinbetriebe, so daß sich hierdurch die Gesamtzahlen für gewerbliche Erkrankungen ungleich höher als nach C. berechnen lassen. Selbst nach der letzten Arbeit von Leymann vom Jahre 1910 ist der Prozent¬ satz gewerblicher Erkrankungen ganz wesentlich höher. Die geringen Werte von C. sind zu verstehen, wenn man bedenkt, daß die Gesamtheit der Bleivergiftungen bei den von seiner Statistik erfaßten chemischen Arbeitern nur 13 Fälle betrug, während die deutschen Bleifärbenfabrikanten in der früher erwähnten Statistik für den Durchschnitt der letzten 5 Jahre selbst 221 Bleiver¬ giftungsfälle mit 3926 Krankheitstagen pro Jahr ausgewiesen

15*

224

J. Kaup,

hatten. Es ist daher anzunehmen, daß durch die C ursch mann - sehe Statistik im allgemeinen nur chemische Betriebe erfaßt wurden, die sich durch eine geringere Gesundheitsgefährlichkeit auszeichnen. Schlußfolgerungen aus Zahlen, die für einen Teil der chemischen Großindustrie gewonnen wurden, können daher m. E. für die Ge¬ samtheit der Industrie nicht gezogen werden.

Eine Durchsicht der englischen Sterblichkeitsstatistik nach Be¬ rufen ergibt auch ziffernmäßig, daß in einigen Berufen Todesfälle durch Verunglückungen besonders häufig Vorkommen. Wird für alle er¬ werbstätigen Männer als Standardzahl der Todesfälle durch Unfälle 100 angenommen, so ergibt sich, daß auf der einen Seite, abgesehen von Lehrern und Geistlichen, Berufsgruppen wie die Buchdrucker, Schuhmacher, Schreiner, Schneider, Bäcker, das Kontor- und Laden¬ personal 34—45 Todesfälle als Unfälle aufwiesen, hingegen die Arbeiter der Maschinen- und Glasindustrie bereits etwas über 100, Dachdecker 238, und Bergleute sogar 241 Unfalltodesfälle. Aber auch von den Erkrankungen im allgemeinen kommt in den ein¬ zelnen Berufsgruppen ein namhafter Prozentsatz den Unfallerkran¬ kungen zu. Nach der Leipziger Krankenkassenstatistik entfielen bei den männlichen versicherungspflichtigen Mitgliedern 198 Krank¬ heitstage von 1000 auf Verletzungen und andere äußere Einwir¬ kungen, bei den weiblichen Mitgliedern hingegen nur 55. Die ungleiche Verteilung der Zahl der Krankentage auf Unfallver¬ letzungen nach Berufen ist in der folgenden Tabelle ersichtlich gemacht.

t

Betriebs-Unfall-Krankentage auf 1000 ein Jahr lang beobachtete versicherungspflichtige männliche Personen.

(Aus

dem Tabellenwerke des Kaiserlichen Statistischen Amtes

der Leipziger Ortskrankenkasse.)

über

das Material

Im Durchschnitte aller Berufsgruppen

In den Berufsgruppen:

938 Krankentage

1.

Bureau- und Kontorpersonal

52

2.

Bekleidung und Reinigung

143

3.

Beherbergung und Erquickung

236

4.

Polygraphische Gewerbe

354

5.

Hilfsgewerbe des Handels

413

6.

Industrie der Häute, Felle und Haare

414

7.

Lederindustrie und Industrie lederartiger Stoffe

482

8.

Papierindustrie

694

9.

Glas-, Porzellanerzeugung, Töpferei

694

10.

Verfertigung musikalischer Instrumente

854

11.

Gärtnerei, Land- und Forstwirtschaft

924

Der Einfluß der Gesetzgebung auf gewerbliche

Erkrankungen.

225

12.

Nahrungs- und Genußmittelindustrie

950 Krankentage

13.

Industrie der Holz- und Schnitzstoffe

1046

55

14.

Textilindustrie

1133

55

15.

Steinbearbeitung

1156

55

16.

Industrie der Fette, Öle, Lacke, Firnisse

1327

55

17.

Maschinisten und Heizer

1346

55

18.

Baugewerbe

1360

55

19.

Chemische Industrie

1411

55

20.

Zement- und Kalkindustrie

1518

55

21.

Metallverarbeitung

1586

55

22.

Arbeiter in Gasanstalten

1824

>5

23.

V erkehrsgewerbe

1972

55

Die Unterschiede sind außerordentlich groß.

Behufs Verminderung von Unfällen in Betrieben sind die Un¬ fallversicherung und die mit deren Einrichtung vorgesehenen Organi¬ sationen höchst segensreich gewesen. Während bei Herausgabe des Unfallversicherungsgesetzes im Jahre 1884 nur etwa 3 Millionen Personen versicherungspflichtig waren, ist diese Zahl bis zum Jahre 1909 auf 9 Millionen angestiegen. Außerordentlich be¬ deutungsvoll für die Unfallverhütung wurde die Schaffung von Be¬ rufsgenossenschaften für die einzelnen Berufsgruppen, deren Organe (Revisionsingenieure) im Vereine mit dem zuständigen Gewerbe¬ aufsichtsbeamten am besten in der Lage waren, den Ursachen der einzelnen Unfälle nachzugehen und durch Herausgabe besonderer Verhütungs Vorschriften eine Besserung anzustreben. Die deutschen Berufsgenossenschaften konnten vor kurzem auf eine 25 jährige Tätigkeit zurückblicken. Die Hauptergebnisse sind in der folgenden Tabelle wiedergegeben.

Häufigkeit und Folgen von Unfallverletzungen.

'S Ö

Folgen der Verletzungen

P CD ö

dauernde voll.

dauernde teilw.

vorübergeh.

Ver-

O

m

Tod

Erwerbs-

Erwerbs-

Erwerbs-

Jahr

sicherte

N qj 'S PL,

Unfähigkeit

Unfähigkeit

Unfähigkeit

Personen

auf

auf

auf

auf

< v O

im

1000

im

1000

im

1000

im

1000

ganzen

Fers.

ganzen

Pers.

ganzen

Pers.

ganzen

Pers.

1885

2 986 248

0,30

226

0,08

1890

4 926 672

5,36

3597

0,73

1784

0,36

16194

3,30

4 828

0,89

1895

5 409 218

6,24

3644

0,66

780

0,14

19 312

3,57

9 992

1,87

1900

6 928 894

7,46

5108

0,73

592

0,08

24 790

3,56

21 207

3,09

1905

8 195 732

8,34

5154

0,62

572

0,07

29 423

3,59

33 211

4,06

1908

8 917 772

8,36

5939

0,66

566

0,06

29114

3,26

38 962

4,38

226

J. Kaup,

Berufsgenossenschaft der Chemischen Industrie

V ersicherte

Verletzte auf 1000

1885

78 428

Personen

3,54

1890

98 391

6,37

1895

115 713

6,48

1900

154 479

8.31

1905

192 381

8,71

1908

216 751

9,20

Knappschafts-Berufsgenossenschaft

Verletzte Tödi. Unfälle

Versicherte

-

auf 1000

auf 1000

Personen

Personen

(1886)

343 709

1886

6.60

2,55

1890

8,54

2,23

(1896)

446 342

1895

11,39

2,26

1900

12,19

2,14

(1906)

689 248

1905

15,55

2,01

1908

ie;o3

2,62

Rheinisch- westfälische Hütten- und Walzwerks-Berufsgenossenschaft

Verletzte

tödl. Aus¬

dauernd

dauernd vorüber¬

Versicherte

auf 1000

gang (auf

völlige

teilweise gehende

Personen

1000 Pers.)

Erwerbsunfähigk. a. 10U0 Pers.

1906

163 507

16,1

1,23

1.17

10,8 2,89

1908

165 368

16,5

1.21

0,95

11,5 2,82

1910

177 836

14,6

1,07

1,12

9,5 2,88

Im allgemeinen ist eine Zunahme der entschädigungspflichtigen Verletzungen ein getreten, hingegen eine kleine Abnahme der Un¬ falltodesfälle, eine größere der Unfälle mit völliger Erwerbsunfähig¬ keit, ein Gleichbleiben teilweiser, und eine Zunahme vorübergehen¬ der Erwerbsunfähigkeit. Die besonderen Angaben für die chemische Industrie, den Bergbau und die Hiittenbetriebe zeigen eine etwas abweichende Entwicklung. Namentlich im Bergbau hat der Pro¬ zentsatz der Unfallverletzten stark zugenommen.

Daß die Erfolge nicht größer sind, wird zurückgeführt auf den Aufschwung der Industrie, besonders auf die Vermehrung der Großbetriebe und die Akkordarbeit, auf die Zunahme der Frauen¬ arbeit, auf den stärkeren Zuzug fremder Arbeiter ohne Kenntnis der Schutzmaßnahmen, auf die steigende Verwendung von Ma¬ schinen an Stelle der Handarbeit, auf die immer größer werdenden Maschinengeschwindigkeiten und auch auf die Leichtsinnigkeit der Arbeiter.

In dieser Darstellung ist jedoch auch darauf verwiesen, daß durch die Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts vielfach

Der Einfluß der Gesetzgebung- auf gewerbliche Erkrankungen.

227

■eine Erweiterung des Begriffs „Unfall“ eingetreten sei. Nach der ständigen Rechtsprechung des Amtes hat man unter Unfall eine körperliche Schädigung eines Menschen zu verstehen, die auf ein plötzliches oder wenigstens zeitlich genau bestimmbares, von ihm nicht beabsichtigtes Ereignis zurückzuführen ist. Tm versicherungs¬ rechtlichen Sinne stellt hiernach nicht das schädigende äußere Ereignis, das in der Sprache des gewöhnlichen Lebens als Unfall bezeichnet wird, sondern der dadurch herbeigeführte Schaden den Unfall dar. Nach dieser Auffassung werden Gewerbekrankheiten nicht als Unfälle angesehen, denn sie sind körperliche Schädigungen, -die bei vielen Gewerbetätigkeiten als das Endergebnis der eine längere Zeit andauernden, der Gesundheit entweder durch Ver¬ wendung von Giften oder durch Einfluß von Zugluft, Feuchtig¬ keit, Luftverschlechterung, nachteiligen Betriebsweise beobachtet werden. Hier ist nicht genau zu bestimmen, zu welcher Zeit das äußere Ereignis eingetreten ist, das zu der körperlichen Schädigung führte. Die Ursache eines Unfalls und einer Gewerbekrankheit kann die gleiche z. B. ein chemisches Gift sein. Ob es sich um ■einen Unfall oder um eine Gewerbekrankheit handelt, wird nach der zeitlichen Einwirkung dieser Ursache entschieden. Aber der selbst vorsichtig wägende Sozialpolitiken Mugdan will es nicht völlig von der Hand weisen, daß auch gewerbliche Vergiftungen nach der deutschen Rechtsprechung als Unfälle angesehen werden könnten, da sie sich als Endergebnis einer Reihe aufeinander¬ folgender zeitlich bestimmbarer Vergiftungen, also als ein Ausdruck gehäufter Unfälle darstellen. Die Frage ist für die Betroffenen selbst aus dem Grunde von großer Bedeutung, da chronisch er¬ krankte, bzw. invalid gewordene Personen nur Anspruch auf eine Invalidenrente haben, die jedoch nicht unbeträchtlich geringer ist als die Unfallrente. Auf dem 8. Internationalen Arbeiter¬ versicherungskongreß in Rom im Jahre 1908 ist die Frage der Versicherung der Berufskrankheiten eingehend besprochen worden. Eine Reihe von Referenten besonders Teleky kommt zu dem Schlüsse, daß die sogenannten spezifischen Berufskrankheiten Un¬ fällen gleich betrachtet werden sollten. Zu diesen spezifischen Be¬ rufskrankheiten werden im Sinne der englischen Kompensations¬ akte von 1906 alle Erkrankungen gerechnet, die wegen der Plötz¬ lichkeit des Entstehens den Charakter des Unfalls tragen, also akute Intoxikationen und auch gewerbliche Infektionskrankheiten; somit Vergiftungen mit Blei, Quecksilber, Phosphor, Arsenik, Mangan und deren Verbindungen, den Nitro- und Amidoderivaten des Ben-

I

228 J- Kaup,

zins, und mit Schwefelkohlenstoff; ferner Chromgeschwüre und deren Folgen , der Teerkrebs (mit dem Schornsteinfegerkrebs), durch Teer veranlaßte Augenentzündungen, Ankylostomiasis und Nystagmus der Bergleute, grauer Star der Glasarbeiter, Telegra¬ phistenkrampf, Perlmutterostitis. Da Deutschland und Österreich eine staatliche Kranken- und Unfallversicherung besitzen, wTäre von einer Haftpflicht der Unternehmer für im Betrieb erworbene gewerbliche Erkrankungen der vorerwähnten Art wie in der Schweiz und in England abzusehen, es sollten vielmehr einfach die spezifischen Berufskrankheiten den Unfällen der Unfallversicherung gleichgestellt werden.

Gewerbliche Erkrankungen kommen jedoch auch durch Staub- einwirkung zustande.

Es ist in diesem Kreise überflüssig, auf die Zusammenhänge- zwischen Staubeinatmung, Erkrankungen der Atmungsorgane und Tuberkulose näher einzugehen. Auch wollen wir nicht den Einfluß des Alkoholmißbrauchs, schlechter Körperhaltung und verdorbener Luft auf die Entstehung der Tuberkulose erörtern. Die Reichsregierung hat sich im Sinne des § 120 der G.O. vielfach mit Staubbetrieben beschäftigt. So wurden im Jahre 1902 eine Bekanntmachung betreffend die Beschäftigung von Arbeiterinnen und jugendlichen Arbeitern in Glashütten, Glasschleifereien und Glasbeizereien sowie Sandbläsereien, 1909 betreffend die Einrichtung und den Betrieb von Steinbrüchen und Steinhauereien verlaut¬ bart. Das preußische Ministerium für Handel und Gewerbe hat bereits im Jahre 1894 bestimmte Anforderungen bei Errichtung von Arbeitsräumen in Spinnereien gestellt ; einige Regierungspräsi¬ denten haben besondere Erlässe für Metallschleifereien herausgegeben. Wir wollen uns lediglich mit der Häufigkeit des Vorkommens von Tuberkulose bei Lohnarbeitern und auch mit der Frage beschäftigen,, ob die Tuberkulose als Berufskrankheit zu- oder abgenommen habe. Vor allem ist zu bemerken, daß die Gefahr einer Staubeinatmung fast bei jeder beruflichen Betätigung in mehr oder minder hohem Grade vorhanden ist. Immerhin sind es einige Berufsgruppen, die unter der Staubgefahr besonders zu leiden haben, wie die Berg- und Hüttenleute, die Arbeiter der keramischen Industrie, der Metallverarbeitung, der chemischen Industrie und Textilindustrie,, des Bekleidungs- und Baugewerbes, die Holzarbeiter, das poly¬ graphische Gewerbe, aber auch die Personen der Gast- und Schank¬ wirtschaften. Hinsichtlich der Häufigkeit von Todesfällen an Tuber¬ kulose für die einzelnen Berufe sind die Angaben der englischen

Der Einfluß der Gesetzgebung auf gewerbliche Erkrankungen. 229’

Mortalitätsstatistik vor allem heranzuziehen. Nach der Statistik für die Jahre 1900 02 zeigen von den größeren Berufsgrnppen das Gast- und Schankwirtschaftsgewerbe mit 246 660 Todesfälle an Lungentuberkulose auf die Mittelzahl von 1000 Todesfällen für den Durchschnitt die höchsten Ziffern, dann folgen das polygraphische Gewerbe mit 240 290, die Lederindustrie mit 314, das Bekleidungs¬ gewerbe mit 246 mit den nächst höheren Ziffern. Nimmt man einzelne Berufsarten heraus, so stehen nach dieser Statistik an der Spitze die Arbeiter des Zinnbergbaus mit 830, das niedere Hotel¬ personal mit 660, Gelegenheitsarbeiter mit 560 und Hausierer mit 516 Todesfällen an Lungentuberkulose auf 1000 Todesfälle als Standardzahl. Berechnet man den Prozentsatz der Todesfälle an Lungentuberkulose auf 100 Todesfälle für die einzelnen Berufe, so stehen an der Spitze ebenfalls die Zinnminenarbeiter mit 38 Proz.f dann folgen die Messer- und Scherenmacher mit 34 Proz. , das Hotelpersonal mit 30 Proz., die Hausierer mit 29 Proz., die Buch¬ binder und Buchdrucker ebenfalls mit 30 Proz., während von den eigentlichen Arbeiterberufen, abgesehen von der Landwirtschaft, das Transportgewerbe mit 10 und 19 die niedrigsten Ziffern zeigen.

Für deutsche Verhältnisse liegen seit den letzten Jahren eine Reihe wertvoller Statistiken vor. Abgesehen von den älteren Sommerfeld’schen Arbeiten, die sich auf die ungenauen Sterb¬ lichkeitsziffern der Krankenkassen stützen, sind nunmehr Angaben für die einzelnen Berufe für Württemberg, Bayern und seit einigen Monaten auch für Preußen zu finden. Nach einer württembergischen Statistik entfallen von 100 Todesfällen der unselbständigen Arbeits¬ kräfte zwischen 50 und 54,4 Proz. auf die Bäcker, Buchdrucker, Schneider und Buchbinder aber auch auf die Strickerinnen und Näherinnen, mit 49,5 Proz. kommen dann die Steinhauer und 46,4 Proz. die Schuhmacher usw. Auch nach dieser Statistik haben die niedrigsten Prozentsätze die Arbeiter des Eisenbahn- und Postbe¬ triebes und des Frachtfuhrwerks mit 19 21 Proz. Der Bearbeiter der württembergischen Statistik Dr. Elben hat jedoch den ver¬ schiedenen Altersaufbau der einzelnen Berufsangehörigen berück¬ sichtigt und berechnet, wieviel Personen auf 100 mit Berücksichtigung des Lebensalters erwarteten Todesfällen an Lungentuberkulose tat¬ sächlich gestorben sind. Auch nach dieser Berechnung fand er die niedrigsten Ziffern beim Frachtfuhrwerk, im Eisenbahn- und Post¬ betriebe, bei den Ziegel- und Sandarbeitern also bei den vorwiegend Freiluftarbeitern mit 65—80 Todesfällen, die höchsten Ziffern mit 222 bei den Kellnern, mit 167 bei den Steinmetzen, 160 bei den

230

J. Kaup,

Buchdruckern, 150 bei den Buchbindern, während Schmiede, Müller, Gerber und Fleischer etwa die erwartete Todeshäufigkeit von 100 zeigen. Bei einem Vergleiche der englischen Statistik zeigt sich eine ziemliche Übereinstimmung, wenn auch, namentlich nach den vorerwähnten Prozentzahlen der Anteil der Lungentuberkulose an den gesamten Todesfällen besonders in einigen Berufen in Württem¬ berg wesentlich größer zu sein scheint. Diese Wahrnehmung ist besonders von Wichtigkeit, weil die Statistik dieselben Jahre um¬ faßt. Für Preußen1) und Bayern2) habe ich die Ergebnisse in einer besonderen Tabelle zusammengestellt.

(Tabelle siehe nächste Seite.)

Der Altersaufbau der einzelnen Berufsangehörigen ist nicht berücksichtigt. Für Preußen sind nur Angaben für die großen Berufsgruppen gemacht. Das Bekleidungsgewerbe und die Ange¬ hörigen der Gast- und Schankwirtschaft weisen die höchste Sterb¬ lichkeit an Tuberkulose auf. Für Bayern gewährt die weitgehende Gliederung sehr instruktive Einblicke. Steinarbeiter, Schreiner und andere Holzarbeiter sind im außerordentlichen Maße durch die Staubwirkung von der Tuberkulose betroffen. In Ergänzung dieser Tabelle muß jedoch erwähnt werden, daß ähnlich wie für England auch für Preußen und Bayern die höchste Tuberkulosesterblichkeit mit 5,7 Prom. für Preußen und mit 4,3 Prom. für Bayern für die Beruf¬ losen und Angehörigen mit wechselnden Berufen (für Bayern aber nur Männer) gefunden wurden. Für Preußen sind für die männlichen An¬ gehörigen des künstlerischen Gewerbes mit 6,4 Todesfällen auf 1000 Lebende noch höhere Ziffern gefunden. Ganz außerordentlich hoch ist die Todeshäufigkeit an Tuberkulose mit 12,7 Proz. für Bayern für die weiblichen Angehörigen der Gruppe sonstiger Berufe und Berufslose, Die preußische Statistik gibt auch den Prozent¬ satz der Tuberkulosefälle auf 100 Gestorbene an, wonach ebenfalls das künstlerische Gewerbe mit 40 Proz. an der Spitze steht, das Reinigungsgewerbe mit 34 Proz., das polygraphische Gewerbe mit 33 Proz. folgen. Den niedrigsten Prozentsatz zeigt, abgesehen von der Land- und Forstwirtschaft, der Bergbau, die chemische Industrie und das Baugewerbe mit 15 18 Proz. Für Bayern sind auch die einzelnen Staubberufe hinsichtlich der vorherrschenden Staubart voneinander geschieden und hierbei berechnet, daß die

0 Behla, Krebs und Tuberkulose in beruflicher Beziehung vom Standpunkte der internationalen vergleichenden Statistik. Medizinalstatistische Nachrichten. II. Jahrg., 1910, I. Heft, Berlin 1910, S. 114ff.

2) Kölsch, Arbeit und Tuberkulose. Arch. f. Soziale Hygiene, Bd. VI, 4L 1.

Der Einfluß der Gesetzgebung auf gewerbliche Erkrankungen. 231 Tuberkulosesterblichkeit nach Berufen in Preußen und Bayern.

Ton 1000 erwerbstätigen Männern nachstehender Erwerbszweige starben im Jahre

1908 an Tuberkulose:

Erwerbszweig

Preußen

Bayern

Erwerbszweig

Preußen

Bayern

1. Landwirtschaft, Gärt-

10. Holz- u. Schnitzstoffe

2,80

nerei, Tierzucht

1,60

Drechsler

5,19

Gärtner

3,37

Holzarbeiter

10,06

Landwirtsch. Arbeiter

1,82

Kammacher

5,46

Tierzüchter

15,63

Korbmacher

4,60

3. Bergbau, Hütten-,

Schreiner

13,37

Salinenwerke, Torf

1,54

13. Nahrungs- u. Genuß-

Bergleute

4,17

mittel

2,06

Hüttenarbeiter

0,60

Bäcker u. Konditoren

2,80

Torfgräber

0,51

Brauer

3,25

4. Steine und Erden

1,64

Käser u. Schweizer

4,88

Glasarbeiter

3,81

Mälzer

3,56

Hafner

7,21

Metzger

4,07

Kalkbrenner

2,46

Müller

4,69

Porzellanarbeiter

4,06

Tabakarbeiter

3,26

Steinschleifer u. Hauer

26,85

14. Bekleidungsgewerbe

3,05

Zementarbeiter

3,16

Handschuhmacher

3,26

Ziegeleiarbeiter

0,93

Hutmacher

5,79

5. Metallverarbeitung

2,24

Kürschner

4,57

Blechwarenarbeiter

5,29

Sattler

4.10

Ciseleure

7,11

Schneider

4,94

Drahtgewerbe

7,13

Schuhmacher

3,63

Eisengießer

0,95

Tapezierer

3,76

Feilenhauer

5,73

16. Baugewerbe

2,00

Glockengießer

2.91

Bauunternehmer

0,35

Gürtler

1,05

Dachdecker

4,45

Kupferschmiede

3,90

Maurer

10,23

Schlosser

8,03

Tüncher, Maler

7,28

Schmiede

6,09

Zimmerer

5,20

Zinngießer

5,61

17. Polygraphisches Ge-

6. Maschinen, Instrumente

1,48

werbe

2,55

Gasanstaltsarbeiter

3,25

Buchdrucker

4,90

Mechaniker

1,28

Lithographen

3,22

Schuß waffenverfertig.

4,06

20. Handelsgewerbe

2,65

Uhrmacher

3,25

Händler u. Krämer

7,88

W agner

2,80

Hausierer

8,11

7. Chemische Industrie

1,14

Kaufleute u. Reisende

2,97

9. Textilindustrie

1,95

22. Verkehrsgewerbe

1,89

Baumwollspinner

0,96

Bahnbedienstete

2,46

Hechler

1,50

Postbedienstete

2,99

Posamentierer

4,46

Kutscher

5,64

Seiler

2,57

23. Gast- u.Schankwirtsch.

3,01

Stricker

4,06

Gastwirte \

7 45

Weber

1,72

Kellner j

Berufe mit Mineralstaub mit einer durchschnittlichen Sterblichkeit von 4,6 auf 1000 Lebende die ungünstigsten Verhältnisse zeigen und dann die Berufe mit vegetabilischem Staub mit 4,3, mit gemischtem Staub mit 4, mit Metallstaub mit 3,7 folgen, während die staub-

\

232 J. Kanp,

freien Berufe nur eine Tuberkulosemortalität von 2,1 auf 1000 aufweisen.

Überblickt man diese Ergebnisse, so ergibt sich als feststehende ' Tatsache, daß, abgesehen von allen Einflüssen der Lebenshaltung, der Wohnung und anderer Faktoren für viele Berufe die Tuber¬ kulosesterblichkeit auf Grund der in der Berufstätigkeit liegenden Gefahr noch abnorm hoch ist, denn anders können die großen Unter¬ schiede bei sozial annähernd gleich gestellten Berufen nicht erklärt werden.

Die deutschen Statistiken sind erst in den letzten Jahren ent¬ standen, so daß ein Nachweis, ob sich zahlenmäßig für einzelne Berufe eine Zu- oder Abnahme der Tuberkulosesterblichkeit ergibt, nicht zu erbringen ist. Es kann jedoch angenommen werden, daß die für einzelne Gewerbe vorhandenen Staubverhütungs Vor¬ schriften, die rastlose Tätigkeit der Gewerbeinspektoren nach dieser Richtung und die vorbeugende Behandlung der Initialfälle an Lungentuberkulose in den Heilanstalten der Versicherungsanstalten eine gute Wirkung entfaltet haben. Ob für Deutschland die noch mangelhafte Isolierung von Bazillenträgern, die vielfach noch ihrem Berufe nachgehen können, eine besondere Rolle für die Verbreitung der Tuberkulose an der Arbeitsstätte spielt, ist eine offene Frage. Eine bestimmte Gefahr liegt trotz des Spuckverbotes gewiß noch vor.

Die englische Statistik hingegen gestattet den strikten Be¬ weis, daß für eine Reihe von Berufen innerhalb der Jahre 1890 92 und 1900 02 die Tuberkulosesterblichkeit zurückgegangen ist. Hier ist die Statistik ein Fingerzeig, für welche Berufe besondere Ge¬ fahren vorliegen, bzw. in welchen Berufen mit besonderem Eifer eine Verminderung der Tuberkulososterblichkeit angestrebt werden muß. Für Deutschland wird, abgesehen von allen gewerbe¬ hygienischen Bestrebungen, die Erweiterung der Versicherungs¬ pflicht auf die Personen mit wechselnder Lohnarbeit, auf die Per¬ sonen in häuslichen Diensten und in der Heimarbeit von guter Wirkung sein. Andererseits ist jedoch die Staubgefahr in vielen Betriebsgruppen noch so groß, daß nur durch besondere den Be¬ triebsprozessen angepaßte Vorschriften eine wesentliche Besserung erzielt werden könnte.

Mit dieser flüchtigen Besprechung der Betriebsgruppen, die gewerbliche Gifte erzeugen oder verwenden, wobei die Gefahren durch Quecksilber, Zink, Arsen, Mangan, Chrom, Chlor u. a. , ferner durch Milzbrand gar nicht berührt werden konnten, und der Staub¬ berufe sind die Möglichkeiten gewerblicher Erkrankungen nicht

Der Einfluß der Gesetzgebung- auf gewerbliche Erkrankungen.

233

erschöpft. Die großen Betriebsgruppen des Bergbaus, der Eisen¬ großindustrie mit ihren besonderen Gefahren für die Arbeiter müssen unerwähnt bleiben.

In der letzten Zeit sind zwei weitere bedeutungsvolle Fragen in den Vordergrund des Interesses gerückt. 1. Sind durch die Art und den Umfang beruflicher Betätigung jugendlicher noch im Ent¬ wicklungsalter stehenden Personen (14 18 Jahre) Schädigungen von Leben und Gesundheit eingetreten und 2. Ist durch die so stark zunehmende außerhäusliche Frauenarbeit eine Gefährdung der generativen Kraft der Frauen und damit eine Verschlechterung des Nachwuchses zu erwarten?

Die erste Frage suchte ich in einer kleinen Schrift für die Gesellschaft für Soziale Reform1) zu beantworten. Einige Tatsachen seien nur hervorgehoben:

Das Gleichbleiben der Sterbeziffern für die männlichen Jugend¬ lichen der Altersklasse vom 15. 20. Lebensjahre in den preußischen Städten innerhalb der Jahre 1900 1901 und 1905 06 mit 4,3 Prom., in den Großstädten sogar eine Zunahme von 4,0 auf 4,3 Prom., während in den 90er Jahren ein starker Rückgang wahrzunehmen war. Ebenso ist bei den weiblichen Jugendlichen nur ein verschwinden¬ der Rückgang eingetreten. Das Stationärbleiben der Todesquoten an Tuberkulose für die männlichen Jugendlichen seit dem Ende der 90er Jahre, während bei den weiblichen Jugendlichen seit diesen Jahren sogar eine Erhöhung der Todesziffern eingetreten ist, die noch für die Altersgruppe vom 20. 25. Lebensjahr anhält. Eine höhere Erkrankungshäufigkeit und auch eine größere Zahl von Krankheitstagen für die männlichen Jugendlichen gegenüber den folgenden Altersklassen in vielen Berufen, wie Metallarbeiten, polygraphisches Gewerbe, Textilindustrie nach der Leipziger Statistik und nach der bekannten Frankfurter wie auch der österreichischen Statistik, und last not least die abnehmende Taug¬ lichkeit der gestellungspflichtigen jungen Männer vorwiegend in den Städten ; so der hauptsächlich gewerblich tätigen stadtgeborenen jungen Männer von 53,8 auf 49,7 Proz. (4,1 Proz.) innerhalb der Jahre 1902 03 und 1907 08, der landgeborenen, jedoch in den Städten berufstätigen Jünglinge von 59,7 auf 57,2 Proz. (2,5 Proz.) Hin¬ sichtlich der 2. Frage, die durch den Hinweis der zunehmenden Tuberkulosesterblichkeit der Mädchen bereits gestreift wurde, sei nur hervorgehoben, daß in allen Berufen, in denen beide Ge-

J) Heft 3 des IV. Bandes: „Schädigungen von Lehen und Gesundheit der Jugendlichen“. Jena 1911, G. Fischer.

234

J. Kaup,

schlechter annähernd gleiche Arbeit verrichten, z. B. Textilindustrie, Bekleidungs- und Handelsgewerbe die einzelnen Altersgruppen der Frauen eine höhere Erkrankungshäufigkeit und Zahl der Krank¬ heitstage aufweisen als die gleichaltrigen Männer. Diese Er¬ scheinung ist namentlich für die jugendlichen Arbeiterinnen bei Ausschaltung von Einflüssen der Mutterschaft eindeutig. Der weibliche Organismus ist den bestehenden Anforderungen der Be¬ rufstätigkeit nicht voll gewachsen. Die daran zu knüpfenden Schlußfolgerungen, werden noch die Gesetzgebung und die Öffent¬ lichkeit viel beschäftigen.

Die offenkundig vorhandene Überanstrengung und Gefährdung der Jugendlichen beiderlei Geschlechts in vielen Berufen durch Art und Umfang der Arbeit und auch anderer ungünstiger Lebens¬ bedingungen hat jedoch anläßlich der Ausarbeitung der vorerwähnten Schrift zu einer Reihe von sozialhygienischen Vorschlägen angeregt, von denen ich nur folgende hervorhebe: Vollständige Fernhaltung aller Jugendlichen bis zu 18 Jahren von allen gesundheitsgefähr¬ lichen Betrieben im Sinne der Gewerbeordnungsnovelle von 1891. Bisher nur einzelne Arbeitsverbote. Hier heißt es hinsichtlich der Jugendlichen ausdrücklich, daß Arbeiter unter 18 Jahren gegen die Gefahren geschützt werden sollen, die ihnen in Hinsicht auf ihr jugendliches Alter und den in der Entwicklung begriffenen Organismus bei der gewerblichen Arbeit sowohl in Gestalt von Unfällen als durch allmählich wirkende Beeinträchtigung der Ge¬ sundheit drohen. Einführung eines regelmäßigen ärztlichen Be- lehrungs- und Untersuchungsdienstes fiir alle erwerbstätigen Jugendlichen. x)

Das Ergebnis unserer Betrachtungen kann etwa folgendermaßen zusammengefaßt werden:

Die Ar beit er Schutzgesetzgebung insonderheit die besonderen Vorschriften für bestimm teBetriebs- gruppen haben in Deutschland ebenso wie in England die Gesundheitsgefährdung der Arbeiter in den in Frage stehenden Betriebsgruppen zum Teile nicht un¬ bedeutend vermindert: Über die Erfolge sind jedoch nur selten einwandfreie Anhaltspunkte zu finden.

Folgende Tatsachen zwingen im Interesse einer rationellen Volksökonomie zu einer vollständigeren

b Eine eingehende Begründung dieser und anderer Vorschläge ist zu finden in der Schrift „Sozialhygienische Vorschläge zur Ertüchtigung unserer Jugend¬ lichen“. C. Heymanns Verlag, Berlin 1911.

Der Einfluß der Gesetzgebung auf gewerbliche Erkrankungen.

235

Durchführung der einzelnen Forderungen der Gewerbe¬ ordnungsno veile und zu einem weiteren Ausbau der Ar beiter Schutzgesetzgebung:

1. Hinsichtlich gewerblicher Vergiftungen: Die noch immer hohe Zahl von Bleivergiftungen in vielen Betriebsgruppen nament¬ lich in Bleiweißfabriken, bei Malern und Zinkhüttenarbeitern, die Verminderung der Vergiftungen unmittelbar nach der Herausgabe einer Verordnung und später die abermalige Zunahme trotz kost¬ spieliger technisch-hygienischer Einrichtungen, im Zusammenhänge hiermit auch eine Zunahme des Erkrankungsprozents und der Morbiditätsziffer, in vielen chemischen Betrieben mit Giftstoffen bei noch immer abnorm hohen Erkrankungsziffern.

Diese Tatsachen lassen folgende Vorschläge notwendig er¬ scheinen: Im Sinne der Eingaben der internationalen Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz:

a) Anzeigepflicht gewerblicher Vergiftungen seitens der be¬ handelnden Ärzte und Krankenanstalten an die Amtsärzte der zu¬ ständigen sanitären Aufsichtsbehörden, bzw. an die besonderen Gewerbeärzte1), Verständigung der Gewerbeinspektoren durch die¬ selben behufs gemeinsamen Vorgehens;

b) Regelmäßige ärztliche Belehrung und Untersuchung aller mit Giftstoffen in Berührung kommenden Arbeiter durch unab¬ hängige Kassenärzte, wenn irgend möglich durch Gewerbeärzte oder Kreisärzte (Bezirksärzte);

c) Gleichstellung spezifischer Gewerbekrankheiten mit Unfällen;

d) Verbesserung bestehender und Herausgabe neuer Spezial¬ vorschriften für einzelne Betriebsgruppen durch Bundesrat und Landeszentralbehörden.

2. Hinsichtlich der besonderen Gesundheitsgefährdung im Berg¬ bau, in Eisenhütten, Walz- und Hammerwerken, wie in Staubbetrieben überhaupt :

a) Weiterer Ausbau und strenge Benutzungskontrolle der technisch-hygienischen Einrichtungen behufs Verminderung der Unfall- und Staubgefahr;

b) Regelmäßige technische und ärztliche Belehrung der Arbeiter über die Gefahren des Berufs;

c) Herausgabe von Spezialvorschriften für besonders gesund¬ heitsgefährliche Betriebsgruppen.

3. Hinsichtlich der offenkundigen Überanstrengung und Ge-

b Vgl. F. Kölsch: „Entwicklung, Wege und Ziele des gewerbeärztlichen Dienstes.“ Archiv für Soziale Hygiene Bd. VII, H. 1, Nr. 1911.

236 J- Kaup, Der Einfluß der Gesetzgebung auf gewerbliche Erkrankungen.

fährdung jugendlicher Arbeiter beiderlei Geschlechts (und auch der erwachsenen Frauen).

Durchführung der in den vorerwähnten Jugendlichen-Schriften vorgeschlagenen Maßnahmen.

4. Behufs richtiger Beurteilung aller Gewerbekrankheiten und der Erfolge ihrer Bekämpfung:

a) Schaffung einer verläßlichen Mortalitätsstatistik nach Be¬ rufen, Altersklassen und Geschlecht auf Grund der Totenscheine und Ergebnisse der Berufszählungen durch die statistischen Landesämter;

b) Gewinnung einer guten Morbiditätsstatik nach Berufen, Altersklassen und Geschlecht auf Grund eines Berufs-Morbiditäts¬ schemas durch die Krankenkassen und Sammlung dieser Materialien an Zentralstellen ;

c) Einführung eines geregelten ärztlichen Dienstes für alle gesundheitsgefährlichen Betriebe und gefährdeten Berufe auf Grund einer Erweiterung der Dienstinstruktion der Kreis-, bzw. Bezirks¬ ärzte, Bestellung besonderer Gewerbeärzte in Industriezentren und bei den Zentralbehörden;

d) Fallweise Einsetzung von Kommissionen zum Studium aktueller Fragen der Arbeitergesundheit.

Die Kosten für die Ausführung dieser Vorschläge sind begründet durch die wirtschaftlichen Vorteile einer besseren Menschenökonomie:

Die ökonomisch-produktive Kraft der einzelnen Individuen ist im Interesse des Staates und der Familien zu erhöhen: durch Schonung des Menschenmaterials in der letzten Phase des Ent¬ wicklungsalters bei guter Ausbildung, Belehrung und körperlicher Ertüchtigung, durch kräftige Ausnützung der Leistungsfähigkeit erwachsener Personen bei Abwehr aller vermeidbaren beruflichen Gesundheitsgefahren und Beschneidung rentenhysterischer An¬ wandlungen. Die steigenden Ausgaben an Kranken- und Unfall¬ kosten für das Einzelindividuum, die zunehmenden Jahresraten des Heeres der Invalidenrentner, die bei zunehmender Rentenbezugs¬ dauer ein höheres ökonomisch-produktives Lebensalter Vortäuschen, die geringe und abnehmende Militärtauglichkeit der erwerbstätigen Stadtjugend können nur durch derartige Maßnahmen vermindert werden. Auch können nur dadurch die Renten für die Hinterbliebenen nach vorzeitigem Tode der Ernährer, die Ausgaben der Städte für verwaiste und arbeitsunfähige Personen und vor allem die in der Arbeiterversicherung zusammengetragenen ungeheuren Aufwen¬ dungen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer sowie des Staates auf ein erträgliches Maß gebracht werden.

Die Internationale Hygieneausstellnng Dresden 1911 und die in sozialhygienischer Hinsicht bemerkens¬ werten statistischen Darstellungen auf derselben.

Von Dr. med. G. Radestock,

Wissenschaftlichem Hilfsarbeiter im K. S. Statistischen Landesamt zu Dresden.

Außer vielen zur Belehrung über den Bau, die Verrichtungen und die Pflege des menschlichen Körpers bestimmten Gegenständen, welche in der populären Halle „Der Mensch“ etwra 4x/2 Millionen Besuchern, darunter zahlreichen vom Staate wie von Arbeitgebern oder Privatleuten mit Freikarten bedachten Arbeitern vorgeführt wurden, beleuchtete die glänzend verlaufene Ausstellung mit Hilfe eines großen Teils der insgesamt etwa 4000 graphischen Darstel¬ lungen wichtige Fragen aus dem Gebiete der sozialen Hygiene und Arbeiterfürsorge. Manche dieser statistischen Darstellungen waren weniger für das große Publikum als für den Fachmann bestimmt, z. B. die ziemlich verwickelten Diagramme über Vererbungsfragen, die meisten zeichneten sich aber durch große Übersichtlichkeit und Verständlichkeit aus. Beispielsweise befand sich in Halle 53 (Beruf und Arbeit) eine sehr klare graphische Darstellung in Gestalt mehrerer Kurven. Letztere zeigten, daß im Jahre 1910 die Gesamt¬ sterblichkeit der Schleifer (und Instrumentenmacher) in Shef¬ field 30,4 gegenüber 9,3 Promille in Solingen betrug und daß an Tuberkulose von den Sheffielder Schleifern 15,4, von den Solinger nur 4,4 Promille starben. Noch im Jahre 1884 hatte, wie die bis dahin zurückreichende Kurve zeigte, auch die Sterblichkeits¬ ziffer der Solinger Schleifer eine Höhe von 20,6 Promille, von da ab nach Einführung der Arbeiterversicherung ist sie rasch auf die jetzige Ziffer (9,3 Promille) gesunken. Eine weitere Kurve zeigte, daß die Gesamtbevölkerung der Stadt Solingen 1884 eine

Archiv für Soziale Hygiene. VII. 16

238

G. Radestock,

Tuberkulosesterblichkeit von 54 Promille, 1910 eine solche von 18 Promille hatte. Bei aller Einfachheit und Knappheit der Dar- stellungsweise drangen diese leicht verständlichen Kurven, denen übrigens noch erläuternde Zahlenübersichten beigegeben waren, tief in die Grundlagen der Erscheinungen ein und beleuchteten die Wirkung der Arbeiterversicherung klarer und treff¬ licher als manche weitschweifigere graphische Darstellung in der Gruppe Arbeiterversicherung (Halle 10). -

In der wissenschaftlichen Abteilung waren zur Gruppe Tuber¬ kulose äußerst lehrreiche Gegenstände zu finden, einmal Wachs¬ nachbildungen menschlicher Körperteile, an denen gezeigt wurde, welche gewaltigen Fortschritte man in der Diagnose dieser Krank¬ heit gemacht hat insofern, als heute das Bestreichen der Haut mit Tuberkulinsalbe oder das leichte Einimpfen von Tuberkulin genügt, um das Vorhandensein von tuberkulöser Erkrankung des mensch¬ lichen Körpers mit Sicherheit festzustellen oder auszuschließen; daneben waren graphische Darstellungen in Kurvenform, welche anschaulich nachwiesen, daß die Tuberkulosesterblichkeit nicht nur in den deutschen Großstädten, sondern auch in allen zivilisierten europäischen Staaten von Jahr zu Jahr geringer wird und gegen¬ wärtig bereits auf einem verhältnismäßig niedrigen Stande ange¬ langt ist. Zweifellos dürfen sowohl die staatliche wie die städtische, als auch die private Hygiene, namentlich die Vereine für Tuber¬ kulosebekämpfung ihr Verdienst um den Rückgang der Tuberkulose¬ sterblichkeit mit Recht geltend machen und darin einen Ansporn zu weiterer segensreicher Tätigkeit erblicken, indes im Lichte nüchterner statistischer Auffassung kann man doch die Erschei¬ nung, daß die Tuberkulosesterblichkeit beispielsweise im König¬ reich Sachsen eine geringere als im Großherzogtum Baden ist, von einem anderen Gesichtspunkte aus betrachten. Hält man nämlich neben die Kurve der Tuberkulosesterblichkeit die Kurve der Säug¬ lingssterblichkeit in den verschiedenen Bundesstaaten, so erkennt man, daß die Säuglingssterblichkeit in Sachsen erheblich größer als in Baden ist. Dies dürfte den Schluß nahelegen, daß die Tuberkulosesterblichkeit im Königreich Sachsen deshalb eine geringere als in Baden ist, weil in Sachsen viele infolge Abstam¬ mung, Lebenshaltung und Umgebung für Tuberkulose empfängliche Kinder bereits im ersten Lebensjahre an angeborener Lebens¬ schwäche, Atrophie, Krämpfen, Magen- und Darmkatarrh oder sonstigen Todesursachen absterben, bevor sie mit Tuberkulose an¬ gesteckt sind.

Die Internationale Hygieneausstellung' Dresden 1911 usw. 239

übrigens gaben zahlreiche Kurven über Säuglingssterblichkeit in Stadt und Land beachtenswerte Anhaltepunkte für die Reform¬ bedürftigkeit der Säuglingsfürsorge im allgemeinen und der länd¬ lichen insbesondere. Im Anschluß hieran sei erwähnt, daß der Rat der Stadt Leipzig sehr eingehende graphische Darstellungen zur Milchversorgung der Stadt Leipzig ausgestellt hatte. Sie zeigten nicht nur den gewaltigen Umfang der Milchzufuhr auf den Land¬ straßen sowie mittels der Eisenbahn, sondern auch auf einer großen Karte der weiteren Umgebung Leipzigs einschließlich Sachsen- Altenburg und der Grenzgebiete Preußens sämtliche Produktions¬ orte der am 28. September 1910 nach Leipzig eingeführten Milch und die von den Produktionsorten gelieferten Milchmengen. Diese Karte zeigte recht anschaulich, wie weit der milchentziehende Einfluß einer Großstadt auf das Land hinaus, ja in benach¬ barte Staaten hinein sich erstreckt und zwar wohl zum Nachteil der Dorfkinder, zumal der Ziehkinder auf dem Lande. Wie große Erfolge durch eine gute Ziehkinderkontrolle erreichbar sind, zeigte eine von Privatdozent Dr. S c h e 1 b 1 e in Halle 56 (Nahrungs¬ und Genußmittel) ausgestellte graphische Darstellung. Eine blaue Kurve veranschaulichte die prozentuale Sterblichkeit der ehelichen Säuglinge, eine rote die der (kontrollierten) unehelichen Ziehkinder in der Stadt Freiburg i. B. während der Jahre 1901 bis 1910. Es mußte jedem Beobachter in die Augen fällen, daß die rote Kurve im Vergleich mit der blauen viel steiler abfiel, was einzig und

allein auf die Erfolge der Ziehkinderkontrolle zurückzuführen ist.

Überhaupt ist die Säuglingssterblichkeit statistisch mit großer Sorgfalt behandelt worden. Ein vom Kgl. Sächs. Statistischen Landesamt ausgestelltes Kartogramm (in Halle 7) zeigte die Säug¬ lingssterblichkeit in Sachsen während der Jahre 1901 bis 1905 für die einzelnen (1205) Standesamtsbezirke in achtfacher gradueller Abtönung. Diese Originalkarte, deren graphische Her¬ stellung allein 300 M. Kosten verursacht hatte, dürfte sehr lehrreich für die staatlichen und städtischen Verwaltungsbehörden gewesen und als Vorbild künftiger Darstellungen über Säuglingssterblichkeit zu betrachten sein. Auch würde dieses Kartogramm, der oben¬ erwähnten Milchversorgung Leipzigs nach milchliefernden Ort¬ schaften gegenübergestellt, Handhaben für eine Erörterung liefern, inwieweit der milchentziehende Einfluß der Großstadt auf die Säug¬ lingssterblichkeit der Dörfer einwirkt.

Eine nicht minder eingehende graphische Darstellung in der¬ selben Halle hatte die Tuberkulosesterblichkeit im Staate Baden

16*

240

G. Radestock

nach Gemeinden zum Gegenstand. Gleich daneben befand sich eine für den Fachmann wie für den Laien gleich interessante, im Statistischen Bureau der Hygieneausstellung (Dr. E. Rösle) her¬ gestellte Tafel, welche die mit der Höhenlage abnehmende Tuber¬ kulosesterblichkeit für Sachsen auf die Jahre 1904 bis 1907 nach¬ wies. Sie zeigte für 41 sächsische , Städte, beginnend mit Riesa, endigend mit Falkenstein, die mit zunehmender Höhenlage abnehmende Sterbeziffer an Tuberkulose auf je 10000 Einwohner mittels vertikaler linearer Säulen, unter letzteren der Reihenfolge der 41 Städte entsprechend ein von der Tief¬ ebene bei Riesa bis zum Gebirgskamm bei Falkenstein ansteigendes ideales Landschaftsbild, in welches auch etwaige Bewaldung hinein¬ gezeichnet war. Dieser Beitrag zur Tuberkulosestatistik war recht geeignet, die vielfach verbreitete irrige Annahme zu widerlegen, daß die ärmliche Bevölkerung des sächsischen Erz- und Elster¬ gebirges infolge kärglicher Ernährungsweise weniger widerstands¬ fähig gegen Krankheiten, besonders Tuberkulose, sei.

Sehr eingehend wurde auch in zahlreichen, zum Teil plastischen Diagrammen die berufliche Zusammensetzung der Bevölkerung in den einzelnen Großstädten sowie verschiedenen Bundesstaaten be¬ treffs der Berufszugehörigkeit nach den Berufszählungsjahren 1882, 1885 und 1907 in Verbindung mit der zeitlichen Entwicklung der Geburtenhäufigkeit sowie der Säuglings- und Tuberkulosesterblich¬ keit behandelt. Eine vom Statistischen Bureau der Ausstellung ausgeführte demographische Darstellung, welche die Sterblichkeit in den einzelnen deutschen Großstädten nach 5jährigen Alters¬ klassen, getrennt nach Geschlecht einerseits und nach den Zeit¬ perioden 1885/86 und 1905/06 andererseits behandelte, bestand für jede einzelne Großstadt aus je vier aus Pappe ausgeschnittenen pyramidenförmigen, hintereinander aufgestellten Diagrammen, die eine rasche Orientierung darüber gewährten, wie die Sterblichkeit sowohl in den Geschlechtern, als in den Altersklassen der ver¬ schiedenen großstädtischen Bevölkerungen abgenommen hat. Eine weitere, die Bevölkerungsbewegung in den Städten Chemnitz, Dresden, Leipzig behandelnde Tafel verfolgte die Eheschließungen, Geburten und Sterbefälle bis in das 17. Jahrhundert zurück. Hierzu seien einige Zahlenangaben gebracht. Auf 1000 verheiratete Frauen zwischen 15 und 50 Jahren entfielen:

im Deutschen Reiche

in Sachsen

1876—85

1886—95

268

258

293

286

Die Internationale Hygieneausstellung Dresden 1911 usw.

241

eheliche Kinder derselben.

Demgegenüber

betrug die allgemeine

Sterblichkeitsziffer :

im Deutschen Reiche

in Sachsen

Prom.

Prom.

1871—80

27,2

30,9

1881—90

25,1

29,6

1891—00

22,2

25,3

1901—04

19,6

21,1

also ein Rückgang der Sterblichkeit, der einerseits auf die Fortschritte der Medizin, andererseits auf die Verbesserung der Wohnung, Ernährung und Körperpflege zurückzuführen ist. Da¬ gegen ist die Säuglingssterblichkeit keineswegs stetig gesunken, denn von 1000 Lebendgeborenen starben im ersten Lebensjahre in :

Preußen

Sachsen

1871—75

224

268

1876-80

205

278

1881—85

209

282

1886—90

208

282

1891—95

205

280

1896—00

201

265

1901—04

188

243

Ferner kamen auf

1000 Köpfe der mittleren

Bevölkerung Ehe-

Schließungen in :

Deutschland

Sachsen

1861—70

8,5

8,9

1871-80

8,6

9,4

1881-90

7,8

9,1

1891-00

8,2

9J

1901-04

8,0

8,3

Dabei waren von 1000 Heiratenden in Sachsen:

1876-80

, ( m. 851,5

led‘g 1 w. 908,4

verwitwet j w 79;0

Der Anteil der Ledigen unter den Eheschließenden ist dem¬ nach stark gewachsen und von 100 männlichen Personen heirateten im Alter von Jahren :

20—25

25—30

1881—85

38,3

35,9

1886—90

39,0

36,7

1891—95

38,6

37,6

1896-00

42,9

35,8

1901—04

40,5

37,9

1901—04

880,7

925,2

102,4

56,4

242

G. Kadestock,

Weitere demographische Diagramme zeigten, daß Sachsen vom Jahre 1871 bis zum Jahre 1905 eine Bevölkerungszunahme von 1 952 357 Köpfen erfahren hat, wovon der Geburtengewinn d. i. nach Abzug der Sterblichkeit mit 1 711 492 Köpfen, also mit 87,7 Proz. der Bevölkerungszuuahme beteiligt ist, während der Rest von 240 865 Personen, also 12,3 Proz. als Wanderungs¬ gewinn zu betrachten ist, auf den das industrielle Sachsen stark angewiesen ist, obwohl seine überseeische Auswandererzahl als unbeträchtlich angesehen werden kann.

Durch das in allen zivilisierten Staaten nachweisbare starke Sinken der Sterbeziffer wurden die Erfolge auf dem Gebiet der Seuchenbekämpfung trefflich beleuchtet. Das Kaiserliche Gesundheitsamt hatte treffliche Darstellungen, insbesondere zur Diphtherie- und Typhusbekämpfung, gestellt, im Hinblick auf letztere ein großes Kartogramm über die Trinkwasserversorgung in den deutschen Städten ausgestellt. In der Halle 54 (Ansiedelung und Wohnung) brachte die Großherzoglich Badische Oberdirektion für Wasser- und Straßenbau einige sehr eingehende graphische Darstellungen über die Entwicklung der Wasserversorgung des Staates Baden mit Rohrleitungswasser in den Jahren 1878 1910. Lineare farbige Säulen zeigten a) die Zahl der mit Wasser aus staatlichen Leitungen versorgten Einwohner, b) die Länge der bis 1910 angelegten öffentlichen Leitungen, c) den Kostenaufwand hier¬ für in Millionen Mark. Danach waren im Jahre 1910 unter Mit¬ wirkung der technischen Staatsbehörden 825 000 Einwohner Badens mit Trinkwasser aus Leitungen von insgesamt 4200 km Länge ver¬ sorgt, deren Anlage 43 Mill. M. Kosten verursacht hatten. Eine weitere Tafel zeigte, daß ohne Mitwirkung der technischen Staats¬ behörden die Wasserleitungen für die zehn größeren Städte, d. i. für 520 000 Bewohner gebaut wurden, so daß am Schlüsse des Jahres 1910 1 350 000 oder 67 Proz. der badischen Gesamtbevölke¬ rung mit Trinkwasser aus Leitungen versorgt waren, indes mit erheblichen Unterschieden zwischen den verschiedenen 11 Kreisen ; beispielsweise waren im Kreise Konstanz 83, im Kreise Offenburg nur 33 Proz. der Einwohner mit Leitungswasser versehen.

Ebenso reichhaltig wie die Frage von der Trinkwasser¬ versorgung wurde das Kapitel Alkoholismus statistisch behandelt, leider nicht immer mit einwandfreien Unterlagen, mitunter auch von unzuständigen Autoren. Bemerkenswert waren indes: 1. Eine vom sächsischen Landesverband der Enthaltsamkeitsvereine zu¬ sammengestellte Übersicht, aus der hervorging, daß 89 Proz. der

Die Internationale Hygieneausstellnng Dresden 1911 nsw.

243

geretteten sächsischen Trinker und 80 Proz. der geretteten Trinkerinnen der Arbeiterversicherung angehören. 2. Eine Zu¬ sammenstellung der Leipziger Ortskrankenkasse über den Zusammen¬ hang zwischen Alkohol, Krankheit, Sterblichkeit und Unfällen, nach Untergruppen bzw. Krankheitsformen und Arten der Verunglückung berechnet auf 1000 Personen a) der Allgemeinheit, b) der Trinker. 3. Krankheits- und Sterbeziffern der (ärztlich ermittelten) Trinker in der Leipziger Ortskrankenkasse nach Altersklassen. Besser und nachhaltiger als alle graphischen Darstellungen dieser Art wirkte aber auf die große Menge der Besucher das plastische Kunstwerk eines französischen Bildhauers ein, La Paye (der Zahltag), welches darstellt, wie ein gut gekleideter jüngerer Arbeiter in der Gosse neben der zerbrochenen großen Schnapsflasche liegend von seiner abgehärmten Frau und seinen beiden Kindern sinnlos betrunken aufgefunden wird.

In engem Zusammenhang mit dem Alkoholismus wurden die Vererbungsfragen behandelt, leider in einer für die meisten Laien kaum verständlichen Darstellungsweise. Wenn beispielsweise der Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Illenau, Geheimrat Schüle, und dessen Assistent F. Römer auf 21 umfangreichen und etwa 20 qm Wandfläche einnehmenden Tafeln die entartende Wirkung des Alkohols und daneben zugleich den die Nachkommenschaft schädigenden Einfluß der Inzucht, d. i. des Heiratens unter Bluts¬ verwandten, an 12 Stammbäumen von Familien aus zwei badischen Wein- und Schnapsbrennereiorten nachzuweisen suchten, so war dies methodologisch und rassenbiologisch zweifellos sehr interessant, aber zu unübersichtlich und für den Laien fast unverständlich, abgesehen davon, daß gleichzeitig zwei rassenschädigende Momente, Alkohol und Inzucht zur Untersuchung gelangten, so daß eine klare Trennung beider Faktoren unmöglich war. Eine kurze tabellarische Übersicht über die Endergebnisse der mühsamen Untersuchung wäre für die Mehrzahl der Ausstellungsbesucher vielleicht zweck¬ mäßiger gewesen.

Es erübrigt noch auf diejenigen Ausstellungsgegenstände, ins¬ besondere statistischen Darstellungen einzugehen, welche, abgesehen von einigen schon oben erwähnten, sich eingehender mit sächsi¬ schen Verhältnissen auf dem Gebiete der sozialen Hygiene und verwandten Gegenständen beschäftigen. Bei der hohen in¬ dustriellen Entwicklung Sachsens ist es nicht überraschend, daß mehr als 300 graphische Darstellungen in der Hygieneausstellung sich allein auf Sachsen oder die sächsischen Städte bezogen, wo-

244

G. Radestock,

durch zweifellos auch der sozialen Hygiene einige Förderung zu¬ teil geworden ist. Nicht unerwähnt soll bleiben, daß die gra¬ phischen Darstellungen zur Wohnungsfrage u. a. trefflich erläutert wurden durch Musterbauten von richtigen Arbeiterhäusern in Holz und Stein, die mit gefälligem und praktischem Mobiliar bis aufs kleinste ausgestattet, gewiß nicht nur den die Ausstellung be¬ suchenden Arbeitern, als auch Architekten, Fabrikanten, Bauver¬ einigungen und Behörden eine Fülle von Anregungen boten. Be¬ merkenswert war eine vom K. S. Statistischen Landesamt darge¬ botene Darstellung über Berufsverteilung und Wohnungs Ver¬ hältnisse der Bevölkerung in 30 sächsischen Städten (mit Unterscheidung der Wohnungen mit 1, 2, 3, 4 und mehr heizbaren Zimmern), ergänzt durch 3 weitere Diagramme: a) Die Säuglings¬ sterblichkeit in Beziehung zur Verteilung der Bevölkerung auf die Wohnungen mit nicht mehr als 2 heizbaren Zimmern einerseits und zu ihrer Zugehörigkeit zur Industrie andererseits in 30 sächsischen Städten, b) die übervölkerten Schlafräume in Beziehung zur Wohndichtigkeit in 27 sächsischen Städten auf Grund der Wohnungserhebung vom 1. Dezember 1905, c) die Gäufigkeit der Abortanlagen in 27 sächsischen Städten, dargestellt in 27 liegenden linearen Säulen, welche zeigten, wieviele unter 100 Wohnungen eigene Aborte hatten und wieviele den Abort mit den Insassen anderer Wohnungen teilen mußten. Daran reihte sich eine Kur¬ vendarstellung über die Art der Erkrankung der in die sächsischen allgemeinen öffentlichen Krankenhäuser 1891 1908 aufgenomme¬ nen Personen, sehr anschaulich die mit der Bevölkerungszunahme einhergehende Vermehrung der Betten erläuternd, auch ein Diagramm über die Ausdehnung und Leistungen der Krankenversicherung in Sachsen, Kurven zum Vergleich der absoluten und relativen Zahl der Mitglieder mit der Gesamtbevölkerung jedes Geschlechts, so¬ wie der auf ein Mitglied kommenden Beiträge und Ausgaben.

Übrigens war auch das Ergebnis der in dieser Zeitschrift, Jahrgang 1910, Seite 450 veröffentlichten Arbeit über die Ab¬ hängigkeit der plötzlichen Todesfälle an Altersschwäche oder an Herzschlag bzw. Gehirnschlag von Luftdruckschwankungen unter den vom sächsischen Statistischen Landesamt ausgestellten Dar¬ stellungen als sehr anschaulich wirkendes Kreisdiagramm vorhanden.

Betreffs der Gewerbeaufsicht war besonders bemerkens¬ wert die vom K. Sächs. Ministerium des Innern ausgestellte Dar¬ stellung der in Sachsen beaufsichtigten gewerblichen Betriebe, eine Tafel von 120X100 cm, mit verschiedenen Kurven, nicht nur über

Die Internationale Hygieneausstellung’ Dresden 1911 usw.

245

die Zahl der revidierten Betriebe, sondern auch über die Zahl der in ihnen beschäftigten Arbeiter im Vergleich mit der Gesamtbe- völkerung, über Geschlecht, Alterszusammensetzung der Arbeiter und deren Verteilung auf die verschiedenen Berufsgruppen. Obwohl diese Darstellung auch für den Laien verständlich erscheinen mußte, war ihr fürsorglicherweise noch eine gedruckte 20spaltige Tabelle beigegeben, welche außer den durch ihre Höhe bemerkens¬ werten absoluten Zahlen nicht weniger als 6 Spalten Verhältnis¬ zitfern für etwaige in Verhältnisberechnungen ungeübte Leser enthielt. In materieller Beziehung waren auf sozialhygienischem Gebiete besonders lobenswert: Eine graphische Darstellung über den günstigen Einfluß der rechtzeitigen Arbeitsunter¬ brechung auf Geburt und Wochenbett nach Berechnungen der Ortskrankenkasse für Leipzig und Umgebung (Vergleichung der prozentualen Häufigkeit von Fehlgeburt, Frühgeburt, Eklampsie und sonstigen Zufällen in der Schwangerschaft, Todesfälle bei und nach der Entbindung bei ruhenden und weiterarbeitenden Schwangeren bzw. Entbundenen), ferner ein Diagramm über die größere Säuglingssterblichkeit in den Industriebezirken Sachsens, vorwiegend industrielle Amtshauptmannschaften (z. B. Chemnitz, Glauchau, Ölsnitz, Zwickau) und Industrieorte in Vergleich stellend zu vorwiegend landwirtschaftlichen Bezirken (Amtshauptmann¬ schaften Bautzen, Kamenz usw.), berechnet auf die Jahre 1891 1900, weiter eine Tafel über die Unfallhäufigkeit bei verschiedenen Berufsgenossenschaften im Jahre 1907, berechnet auf 1000 Voll¬ arbeiter nach 20 Berufsgruppen (nach dem Statist. Jahrb. f. d. Kgr. Sachsen 1909), auch eine Übersicht über Blutuntersuchungen bei an Bleivergiftungen erkrankten erwerbsunfähigen Mit¬ gliedern der Leipziger Ortskrankenkasse, ausgeführt im hygienischen Institut der Universität Leipzig (10 Berufsarten).

Weiterhin hatte die Sektion VII der Knappschaftsbe¬ rufsgenossenschaft wertvolle Beiträge zur Unfallstatistik im Braunkohlen-, Steinkohlen- und sonstigen Bergbau Sachsens auf die Jahre 1885 1909 geliefert.

Besonders beachtenswert waren auch 2 graphische Darstellungen von der Stadt Leipzig, deren eine die Tuberkulose to de s fälle nach Höhenlage (Stockwerken) der Wohnungen der Verstorbenen, deren andere die prozentuale Häufigkeit (auf 100 Grundstücke) der Tuberkulosetodesfälle nach 8 Graden in den einzelnen Stadtbezirken auf die Jahre 1880—1904 behandelte. In Zusammenhang mit die¬ ser Frage standen die Diagramme über die Zunahme der Grün-

246 G. Radestock, Die Internationale Hygieneausstellung Dresden 1911 usw.

an läge n (d. i. der großstädtischen Lungen) in den Städten Leipzig, Dresden, Chemnitz seit 1870 sowie die Darstellungen über die Luft¬ verschlechterung durch Rauch und Ruß, u. a. ein Stadtplan von Dresden 1 : 10 000 mit örtlicher Einzeichnung der Heizflächen der Hochdruckdampfkessel nach dem Stande von 1911. Der allgemeine Mietbewohnerverein Dresden suchte durch eine graphische Dar¬ stellung über R^formbestrebungen im Kleinwohnungsbau nachzu¬ weisen, daß, je niedriger der Bodenspekulationsgewinn sei, desto höher die Volksgesundheit und Volkswohlfahrt steige.

Das Statistische Amt der Stadt Schöneberg erläuterte an Bei¬ spielen von 16 sächsischen Mittel- und Kleinstädten das Verhältnis zwischen Einkommen und Miete nach 19 Einkommensklassen und nach Zahl der Wohnungen.

Der Rat der Stadt Chemnitz wies an einem Stadtplane die in den Jahren 1907 1910 behördlicherseits vorgenommene Woh¬ nungskontrolle nach, woraus zu ersehen war, daß gerade in den von Arbeitern bevorzugten Stadtbezirken eine gewissenhafte Überwachung der Wohnungsverhältnisse stattgefunden hat.

Sehr lehrreich war ferner eine von der Stadt Dresden gelie¬ ferte graphische Darstellung über die Mengen und Beschaffenheit (nach 7 Arten) des Dresdner Hausmülls a) nach Jahreszeiten bzw. Monaten, b) nach der Wohlhabenheit (Mietzins) der Bewohner.

Vorstehende aus der großen Menge von Ausstellungsobjekten herausgegriffeneBeispiele dürften zur Genüge zeigen, welche trefflichen Beiträge staatliche wie städtische Behörden, wissenschaftliche In¬ stitute und einzelne Gelehrte auf dem Gebiete der sozialen Hygiene geliefert haben.

Ans der Gesellschaft fiir Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik in Berlin.1)

Sitzung vom 1. Dezember 1910.

Herr Max Fl e sch (Frankfurt a. M.) trägt vor über „Hygienische Ergeb¬ nisse der Aktienbaugesellschaft für kleine Wohnungen in Frankfurt a. M.“

Als das Ergebnis eines großzügigen hygienischen Experimentes könnte man die Feststellungen ansehen, die sich aus der Prüfung der Sterblichkeitsverhältnisse in den Häusern der Frankfurter Aktienbaugesellschaft für kleine Wohnungen und aus deren Vergleich mit den entsprechenden Ermittelungen über die Gesamt¬ bevölkerung der Stadt entnehmen lassen. Im Rahmen der Einwohnerschaft einer schnell wachsenden Großstadt sehen wir eine etwa l3/4 Proz. davon bildende Gruppe von Menschen, die in den von der Aktiengesellschaft errichteten Häusern zusammengefaßt sind, in jahrelanger Beobachtung durch so überraschend günstige Sterblichkeitsziffern ausgezeichnet, daß ein Spiel des Zufalls ausgeschlossen er¬ scheint. Ob zwischen diesen günstigen Sterblichkeitsziffern und den Wohnungs¬ verhältnissen ein ursächlicher Zusammenhang besteht, soll hier einer Prüfung unterstellt werden.

Als Unterlage für die Wertschätzung der später mitzuteilenden statistischen Ergebnisse wird es nötig sein, hier einiges über die Eigenart des Untersuchungs¬ objektes voranzuschicken. Die Aktienbaugesellschaft für kleine Wohnungen in Frankfurt a. M. ist vor 20 Jahren gegründet worden. Seit der Fertigstellung der ersten 7 Häuser mit 86 Wohnungen im Mai 1891 ist der Besitz der Gesellschaft auf 1201 Wohnungen, in welchen 5677 Menschen wohnen, gewachsen. Die Bauten der Gesellschaft sind in 6 Blocks verteilt, die sich teils inmitten dichter be¬ völkerter Quartiere in der Innenstadt, teils in Außenvierteln, einer vorläufig ganz peripher außerhalb des anderweitig schon zur Bebauung benutzten Areals befinden. Je nachdem für die Erstellung der Häuser nötig gewordenen Kostenaufwand ist der Mietpreis für die Wohnungen ein verschiedener in den einzelnen Blocks; maßgebend ist dafür der Grundsatz, daß jeder Block das für seine Errichtung aufgewendete Kapital dessen Höhe eben nach dem Bodenpreis und der Aus¬ stattung der Häuser variiert verzinsen muß. Eine Limitierung dieser Ver¬ zinsung ergibt sich daraus, daß die Gesellschaft an ihre Aktionäre nur 3l/s Proz.

9 Nach den Verhandlungen der Gesellschaft, abgedruckt in Nr. 1 u. 2 der „Medizinischen Reform“, 1911, herausg. von R. Lennhoff.

248 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.

des Aktienbetrags auszahlt. Für die Ausstattung der Häuser selbst aber ist ma߬ gebend, daß die Gesellschaft im Gegensatz zu anderen in Frankfurt wirkenden gemeinnützigen Baugesellschaften, die sich mit der Beschaffung von Wohnungen für relativ besser situierte Arbeiter befassen erstrebt, unter Anpassung des Mietpreises an den durchschnittlichen Arbeitslohn ihre Wohnungen an solche, insbesondere an kinderreiche Familien abzugeben, welchen die Möglichkeit fehlt, einen so hohen Teil des Arbeitslohns des Mannes für die Miete aufzuwenden, wie er den Herstellungskosten für in kleine Häuser zerstreute Wohnungen in der Außenstadt entspricht, oder wie er sich aus den hohen Bodenpreisen dichter be¬ bauter Stadtteile ergeben würde. Die Wohnungen selbst bestehen aus 1 4 Räumen, von welchen einer als Wohnküche oder als Küche dient; in der Mehrzahl sind sie Zweizimmerwohnungen mit oder ohne Küche. Wo keine Küche ist, besteht ein Spülraum neben dem Wohnküchenzimmer; jede Wohnung hat ihr eigenes Klosett, ein Kellerabteil und einen Mansardenraum. Die Heizung erfolgt durch Kohlenöfen; ergänzt durch Gasapparate zum Kochen. Letztere werden durch Vermittlung von Gasautomaten gespeist, die zugleich das Leuchtgas liefern.

Mit der fortschreitenden Entwicklung der Gesellschaft hat sich auch die Ausgestaltung der Wohnungen verbessert; deren Flächeninhalt, bei den ältesten 33 qm für die zweiräumige Wohnung ohne Küche, ist bei dem zuletzt der Ver¬ mietung übergebenen neuesten Typ auf 53, bei dreiräumigen Wohnungen auf 70 qm gewachsen. Die Mehrzahl der Wohnungen hat einen kleinen verandaartigen Vor¬ raum; außerdem ist ein kleiner Platz zum Anbau von Blumen oder Gemüsen jeder Wohnung zugeteilt. Jedes einzelne Haus hat eine Waschküche, in der ein Bad aufgestellt ist; beide stehen in regelmäßigem Turnus den Bewohnern zur Verfügung. Der Mietspreis für diese Wohnungen stellt sich durchschnittlich 25 30 Proz. niedriger als für die entsprechenden Wohnungen der Privatvermieter in den gleichen örtlichen Verhältnissen.

Daß die Wohnungen der Aktienbaugesellschaft nach manchen Richtungen ihren Bewohnern mehr leisten als die ihnen sonst zugänglichen, ergibt sich aus diesen Daten; die Ausnützung des dem Erwerb dienenden Privathauses ist mit einer Hergabe von nutzbarem Areal zu Veranden, Gartenbauflächen usw. nicht zu vereinigen. Aber damit sind die Vorteile, welche die Wohnungen der Gesell¬ schaft ihren Mietern bieten, nicht erschöpft. Vor allem sind es gewisse, von dem Gründer der Gesellschaft, Stadtrat Flesch, als Wohnungsergänzungen bezeich- nete Einrichtungen, welche hier in Betracht kommen. Ein Teil dessen, was dem besser situierten Bewohner größerer Wohnungen durch die Mehrzahl der Räume zur Verfügung steht, soll durch der gemeinsamen Benutzung dienende, den ein¬ zelnen Blocks angegliederte Einrichtungen ersetzt werden: In jedem der größeren, neueren Blocks befindet sich ein „Vereinshaus“, 'in welchem ein Lesesaal mit Zeitungen, Büchern und Spielen ausgestattet, den Mietern einen behaglichen, kostenlosen Aufenthalt ohne Wirtshauszwang außerhalb ihrer überfüllten Wohn- und Schlafräume bietet. Damit verbunden ist ein Versammlungssaal, in dem Vor¬ lesungen, gesellschaftliche Vereinigungen der Blockbewohner usw. stattfinden können. In den meisten Blocks ist eine Verkaufsstätte des Konsumvereins ein¬ gerichtet. Es besteht in jedem eine kleine eigene Bibliothek oder eine Filiale der Volksbibliothek. Für die Kinder sind vor dem Getriebe des Fährverkehrs gesicherte Spielplätze ausgespart. In einigen der Blocks befinden sich Krippen und Kinderhorte, zu deren Aufnahme die Gesellschaft an die sich damit befassenden Vereine die Räumlichkeiten besonders billig vermietet hat Der Erleichterung

Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 249

der Lebenshaltung dienen weitere Einrichtungen zum gemeinsamen Bezug von Kohlen und Kartoffeln in der Weise, daß mit Hilfe eines von Aktionären ge¬ stifteten Fonds der Einkauf im großen bewirkt wird, wonach die Mieter ihr jeweils benötigtes Quantum im Laufe des Jahres in kleineren Mengen zum Gro߬ preis abholen. Der Gasautomaten wurde bereits gedacht. Zur Erleichterung des Gasbezuges haben die Mieter der Gesellschaft einen Einheitspreis von 15 Pf. pro Kubikmeter für das von ihnen benutzte Gas an Stelle des Sondertarifs für Leucht- und Heizgas in der Stadt (18 bzw. 12 Pf.), der, da ja doch über¬ wiegend Leuchtgas benutzt wird, eine nicht unbedeutende Verbilligung darstellt. Dem Belieben der Einwohner ist endlich der Beitritt zu der „Hauspflegekasse“ anheimgestellt: in Verbindung mit dem Hauspflegeverein, dem ältesten seiner Art in Deutschland, hat die Aktienbaugesellschaft die Einrichtung getroffen, daß gegen einen monatlichen Beitrag von 30 Pfennig die sich an der Kasse be¬ teiligenden Bewohner das Recht erwerben, bei Krankheit und Wochenbett der Hausfrei für eine gewisse Zeit eine unter Kontrolle des Vereins stehende Pflege¬ frau gestellt zu bekommen, der sie außer ihrer Verköstigung täglich 10 Pfennige bezahlen:1) das Mehr des Tagelohnes (1,80 2,00 M.) trägt der Verein, dem die Gesellschaft dazu einen festen jährlichen Zuschuß gewährt. Etwa ein Viertel der Familien macht von dieser Einrichtung Gebrauch. Die Beteiligung wäre vermutlich größer, wenn nicht die Hauspflege ohnehin jedem zugänglich wäre, allerdings in den Aktienhäusern nur als Armenunterstützung eben um die Selbst¬ hilfe durch Beteiligung an der Kasse zu fördern.

Der Mietspreis für die Wohnungen muß monatlich vorausbezahlt werden. Nichtzahlung ist der einzige Grund, aus dem seitens der Gesellschaft das Miets¬ verhältnis gelöst wird, selbstverständlich unter den Umständen angepaßter Rück¬ sichtnahme auf etwaige durch Krankheit oder Arbeitslosigkeit entstandene Not¬ lagen. Eine Kündigung aus anderen Gründen kann allerdings auch erfolgen, dann nämlich, wenn ein Ausschuß, den die Mieter jedes Blocks selbst wählen, sie ausspricht. Es ist damit die Möglichkeit gegeben, störende Elemente, z. B. ruhe¬ störende Trinker, zu entfernen, wenn sie von den Mietern selbst, d. h. von ihres¬ gleichen, als solche empfunden worden sind; die Gesellschaft und die Verwalter mischen sich nicht ein. Zu den sonstigen Vorteilen, welche die Bewohner der Aktienhäuser genießen, kommt also die Sicherheit vor unberechtigten Erhöhungen der Miete und vor Kündigung.

Über die allgemeinen gesundheitlichen Verhältnisse der Bewohnerschaft der hier geschilderten Wohnungen gibt Tabelle 1 Aufschluß, welche den Jahres¬ berichten der Gesellschaft unter Ergänzung einiger Daten aus dem Jahresbericht des Frankfurter ärztlichen Vereins wiedergegebenen Mitteilungen des städtischen statistischen Amtes zusammengestellt ist.

(Tabelle siehe nächste Seite.)

Man sieht aus dieser Tabelle zunächst, daß die Sterbeziffer sämtlicher Jahr¬ gänge für die Aktienhäuser eine erheblich niedere ist als für die Gesamt¬ bevölkerung der Stadt.

Es ist nun nicht angängig, aus den Tatsachen, welche uns hier entgegen¬ treten, einfach die Folgerung zu ziehen, daß die günstigere Sterblichkeit ein Produkt besserer Wohnungsverhältnisse sei. Schon die Größe der Differenz

x) Es ist bemerkenswert, daß diese kleine Zuzahlung sich als genügender Schutz gegen übermäßige Ausbeutung der Pflege bewährt hat.

250 Ans der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.

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Tabelle 1.

Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 251

8.9 pro tausend und Jahr in den Aktienhäusern gegen 15,5 in der Stadt über¬ haupt im Durchschnitt der 11 Jahre läßt es nicht als wahrscheinlich erscheinen, daß die bloße Tatsache des besseren Wohnens als solche den Unterschied bedinge. Schließlich handelt es sich doch in einer größtenteils modern gebauten Stadt mit relativ wenig Resten einer engstraßigen, winkligen Altstadt für die überwiegende Mehrheit der Bewohnerschaft nicht um so weitgehende Unterschiede in der Be¬ schaffenheit der Wohnungen. Auch die Privatindustrie liefert heute in Frankfurt überwiegend gutgebaute Wohnstätten, für deren Herstellung ja genau dieselbe Bauordnung maßgebend ist, wie für die Aktienhäuser. Was in den letzteren vom Standpunkt der Hygiene besser ist, die größere Kargheit der Raumverhältnisse, wird dadurch ausgeglichen, daß grundsätzlich die Wohnungen der Gesellschaft in erster Linie an kinderreiche Familien abgegeben werden ; das wird später noch zu besprechen sein. Dadurch handelt es sich eben auch in den Aktienhäusern um überfüllte Proletarierwohnungen.

Welche Ursachen bewirken, daß deren Einwohnerschaft so viel günstiger gestellt ist als die Durchschnittsbevölkerung, wird erst festzustellen sein, wenn die Qualität dieser Einwohnerschaft, deren sonstige Lebensverhältnisse, genügend bekannt sind. Aber auch schon vorher wir werden auf die Prüfung jener anderen Faktoren zurückzukommen haben zeigt sich aus der Tabelle mancherlei Interessantes.

Zunächst fällt auf, daß die Mortalität der Gesamtbevölkerung und der Be¬ wohner der Aktienhäuser gleichsinnig, und zwar im Sinne abnehmender Sterb¬ lichkeit im Laufe der 11 Beobachtungsjahre aber keineswegs parallel verlaufen. Es ist nämlich die Sterblichkeitsabnahme bei den Bewohnern der Aktienhäuser weit erheblicher als bei der Durchschnittsbevölkerung; bei letzterer sinkt die Jahresziffer von 16,6 auf 13,8, also um rund 3 Proin., in den Aktienhäusern von

12.9 auf 6,0, also um rund 6 Prom. Die Erklärung hierfür ist vermutlich darin zu suchen, daß die Bewohner der Aktienhäuser seßhafter sind; wer das Glück gehabt hat, hier unterzukommen die Zahl der Bewerber übersteigt die der frei werdenden Wohnungen um das dreifache bleibt so lange als möglich ; die Kinder wachsen heran ; allmählich läßt der Nachwuchs nach, damit auch die Sterb¬ lichkeit, deren Höhe ja gerade in den jugendlichen Altern am größten ist. Weiter erscheint die Sterblichkeit der Aktienhäuser stärker gezackt; die Schwankungen sind also größer. Unzweifelhaft kann das zum Teil auf Rechnung der kleineren Zahlen kommen, aus welchen sich die Kurve der Aktienhäuser ableitet. Aber die Schwankungen sind nicht nur qualitativ, sondern auch der Richtung nach von den Jahresschwankungen bei der Gesamtbevölkerung verschieden. Von 1901 auf 1902 sinkt bei letzterer die Sterblichkeit um 0,8 Prom.; in den Aktienhäusern aber steigt sie gleichzeitig um 2,3 Prom.; sie bleibt danach allerdings immer noch um 4,3 Prom. gegen die Sterbeziffer der Gesamtbevölkerung zurück. Der Grund ergibt sich aus der Betrachtung der Bevölkerungsbewegung in den Aktien¬ wohnungen: in jener Zeit war durch Eröffnung eines neuen Wohnungsblocks mit über 1100 Menschen ein Nachschub aus den weniger günstigen Verhältnissen der früheren Wohnungen erfolgt. Die Ursachen, welche die größere Sterblichkeit der Durchschnittsbevölkerung beherrschen, sind noch nicht überwunden; je länger die Leute in den besseren Verhältnissen der neuen Wohnungen leben, desto mehr vollzieht sich der Ausgleich in der Richtung besserer Gesundheitsverhältnisse. Die Tatsache eines günstigen Einflusses der Übersiedlung in die Aktienhäuser

252 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.

wird dadurch nur unterstrichen. Welche Faktoren aber dabei wirksam sind, geht aus der Tabelle noch nicht hervor.

Es wäre zu prüfen, ob vielleicht das in den Aktienhäusern vereinte Menschen¬ material besonders günstige hygienische Bedingungen bietet. Das ist nun zwar innerhalb gewisser Grenzen unleugbar der Fall; fraglich ist aber, ob die hierbei maßgebenden Verhältnisse derart wirkungsvoll sind, daß sich die Mortalität einer doch keineswegs unbeträchtlichen Zahl von Angehörigen der arbeitenden Be¬ völkerungsschicht durch sie soweit wie hier unter den Durchschnitt der Gesamt¬ bevölkerung einer ohnehin besonders günstige hygienische Bedingungen bietenden Stadt herabdrücken läßt. Im großen und ganzen entstammt die Bewohnerschaft der Aktienhäuser aus den mindestbemittelten Kreisen; und aus diesen wieder wird bei der Besiedelung das relativ ungünstigste Material, nämlich die kinder¬ reichsten Familien, ausgewählt. Ziffermäßig findet das einen Ausdruck in der auf eine Wohnung entfallenden Kopfzahl: in der ganzen Stadt nach der Zählung von 1905 bei einer Bevölkerung von 321289 Einwohnern in 72046 Wohnungen 4,39, in den Häusern der Gesellschaft bei 4924 Einwohnern in 1030 Wohnungen 4,78 Köpfe pro Wohnung (nach dem Bericht für 1909 bei 5677 Einwohnern 1201 Wohnungen mit 4,72 Köpfen). Zur richtigen Beurteilung dieser Zahlen darf übrigens nicht übersehen werden, daß die Kopfzahl in mehreren, und zwar gerade der größeren Häusergruppen erheblich höher ist (1909 Erbbaublock mit 1250 Ein¬ wohnern 4,78, Nordenblock mit 2180 Bewohnern 5,17, Galluswartenblock mit 510 Bewohnern 5,20). Auch die Berufszugehörigkeit der Bewohner der Aktien¬ häuser kann nicht als günstiges Moment geltend gemacht werden : die Zusammen¬ stellungen, welche darüber vorliegen, zeigen, daß alle möglichen Berufe vertreten sind ohne Bevorzugung etwa hygienisch besser gestellter Arbeiter ; beispielsweise enthält die Liste der Haushalts Vorstände in den zuletzt besiedelten Wohnungen des „Erbbaublocks“ auf 261 Wohnungen 29 Tagelöhner.

xiber auch gewisse günstige Momente lassen sich nicht übersehen. Vor allem ist in Betracht zu ziehen, daß in der Bevölkerung der Aktienhäuser die unehe¬ lichen Geburten in Wegfall kommen oder doch nur in verschwindender Zahl gegenüber der Gesamtbevölkerung mitzählen können. Ziffern darüber fehlen. Aber selbst angenommen, daß überhaupt keine unehelichen Geburten in der Be¬ völkerung von fünf- bis sechstausend Menschen vorgekommen seien, wird damit die große Differenz der Mortalitätsziffern für Stadt und Aktiengesellschaftskäuser zwar verkleinert aber keineswegs beseitigt. Ein Beispiel möge das erläutern. 1907 dem letzten Jahr, für das die betreffende Ziffer schätzungsweise ermittelt worden ist fallen auf die jugendlichen Alter unter 15 Jahren in den Aktien¬ häusern 11,5 Prom. Todesfälle, auf die städtische Bevölkerung dieser Altersperiode 20,0 Prom. Lassen wir nun hier die Sterbefäl leder unehelich Geborenen 391 ganz außer Betracht, so berechnen sich noch immer auf die Gesamtzahl der Lebenden, also einschließlich der überlebenden Unehelichen 13,6 Prom. Todesfälle gegenüber 11,53 Prom. in den Aktiengesellschaftshäusern.

(Fortsetzung folgt.)

Weitere Beiträge zur Wertung des Pignet’sclien

Verfahrens.

Von Stabsarzt Meinshausen, Frankfurt a. 0.

In der Ausgabe vom 28. März dieser Zeitschrift widmet Simon der Pignet’schen Formel eine längere Arbeit. Als Grundlage seiner Untersuchungen dienen die Musterungsbefunde von annähernd 10000 zwanzigjährigen Badenern der Jahresklasse 1881. Er kommt in seiner Arbeit zu einer sehr günstigen Beurteilung des Verfahrens, indem er es nicht nur im Einvernehmen mit Schwiening, Ott und Seyffarth als Maßstab zu vergleichenden Massenunter¬ suchungen verwendbar hält, sondern es auch im Gegensätze zu diesen als Maßstab der Tauglichkeit bei Einzeluntersuchungen ver¬ wendet wissen will. Er erklärt es für ein praktisches Hilfsmittel zur Beurteilung von Grenzfällen der Tauglichkeit bei der Muste¬ rung und Aushebung. Entstehen Zweifel, ob ein Mann noch als tauglich anzusehen oder als zu schwächlich auszumustern ist, so soll die Pignet’sche Formel zu Rate gezogen werden. Hohe Indexzahlen, etwa von 35 an, sollen in solchen Fällen den Aus¬ schlag für Untauglichkeit geben.

Nun ist es ja richtig, daß von den Gestellungspflichtigen nur ein geringer Prozentsatz mit einem über 35 hinausgehenden Index zur Einstellung gelangt. Ott fand 0,25 Proz., bei den von mir beurteilten 10000 Leuten sind es 0,5 (einschließlich Ökonomiehand¬ werker). Simon fand in seinem Bataillon überhaupt keinen, Seyffarth 0,07 Proz. Dies darf man als Beweis dafür ansehen, daß es sich hier wirklich um schwächliche Leute handelt. Aber um sie herauszuflnden, bedarf man nicht der Pi gn et ’schen Formel. Das geschulte militär ärztliche Auge wird sie ohne weiteres als untauglich erkennen. Hinwieder in den Fällen, in denen der

Archiv für Soziale Hygiene. VII. 17

254

Meinshausen,

Untersuchende in seinem Urteile schwankt, ob noch tauglich oder zu schwächlich, gibt uns die Formel keinen genügenden Anhalt. Das sind, natürlich abgesehen von körperlichen Fehlern, die Leute mit einem Index um 30 herum, etwa von 25 30 und darüber hinaus, die Pignet als „schwach und sehr schwach“ bezeichnet. Von den von Simon begutachteten Leuten sind dies immerhin 36 Proz. Hier wird nichts den geübten militärärztlichen Blick ersetzen können, der, wie Dannehl in seinem Aufsatze „Die Pignet ’s che Formel“ in der deutschen Militärärztl. Zeitschrift vom 20. März 1912, S. 216 sehr richtig sagt, neben dem Me߬ baren auch das Nichtmeßbare erfaßt und den Bau und Allgemein¬ zustand des Untersuchten sicherer und rascher beurteilt als die Pignet’sche Formel dies gestattet. Daher kann ich mich nur dem Urteile der Übrigen anschließen, daß kein Bedürfnis zur Ver¬ wendung des Pignet’schen Verfahrens bei der Musterung und Aushebung vorliegt und es auch für die Beurteilung im Einzel falle nicht verwertbar ist.

Anders ist es mit seiner Verwendung als Vergleichsmaßstab bei Massenuntersuchungen. Sollte es wirklich geeignet sein, in einfacher Weise ein einigermaßen sicheres Urteil über die Körper¬ beschaffenheit größerer Massen von Untersuchten zu bilden, so würde das weitgehende Bedeutung haben. Denn wir hätten dann ein Mittel, um verschiedene Aushebungsbezirke miteinander ver¬ gleichen, verschiedene Gegenden und Industriezweige, Stadt und Land, nach ihrem Einfluß auf die Wehrfähigkeit der Bevölkerung gegeneinander abwägen zu können. Ein solches Mittel fehlt uns bisher. Denn die übliche Beurteilung nach der Anzahl der Taug¬ lichen, die ein Bezirk oder eine Provinz hervorbringt, kann als ein einwandfreies Verfahren nicht bezeichnet werden.

Als Beispiel hierfür sei die Landwehrinspektion Berlin ange¬ führt. In den Zeitungen finden sich im Anschluß an die jährlich vom Kriegsministerium veröffentlichten Ergebnisse der Aushebung im Deutschen Reiche häufig Betrachtungen über den Einfluß des Großstadt- und Landlebens auf die Körperentwicklung der Ge¬ stellungspflichtigen. Als ein Beispiel des schädlichen Einflusses des Großstadtlebens wird dabei stets der geringe Anteil der von Berlin gestellten Tauglichen hervorgehoben. Nach der Täglichen Rundschau vom 9. April d. J. zum Beispiel verwies Oberst Jung in einer Versammlung zu Zwecken des Jung-Deutschland-Bundes „auf die geringe Wehrtüchtigkeit der Berliner Bevölkerung. Während in Berlin kaum 28 v. H. der jungen Leute als militärtauglich be-

Weitere Beiträge zur Wertung des Pignet’scken Verfahrens. 255

funden werden, sind es in Ostpreußen 64 v. H., und in Posen mehr als 62 v. H. (Hört! Hört!).“

Sollte hierin wirklich ausschließlich der Einfluß des Gro߬ stadtlebens zum Ausdrucke kommen, so würde dies bei der noch andauernden Tendenz zum Anwachsen der Großstädte und der dauernden Abwanderung der ländlichen Bevölkerung, namentlich des Ostens, in die Städte und Industriebezirke des Westens für die Zukunft des deutschen Volkes allerdings ein sehr ernstes Problem bedeuten.

Nun liegt aber hier ohne Zweifel ein Trugschluß vor, wie aus folgendem ersichtlich ist. Von den 19 100 Mann, die 1911 bei der Landwehrinspektion Berlin zur endgültigen Beurteilung vorgestellt wurden, war bei 42 Proz. als Wohnort der Eltern und Geburtsort Berlin angegeben, während die übrigen 58 Proz. aus der Provinz stammten, sowohl vom Lande als aus Provinzstädten. Nach meiner E eststellung sind nun von den in Berlin Geborenen 20 P r o z. , von den Zugezogenen 22 Proz. tauglich befunden worden. Von den Provinzlern ist ohne Zweifel der weitaus größte Teil erst nach der Schulzeit in die Großstadt gekommen, da die Angehörigen ja noch in der Provinz ansässig sind; die meisten wohl erst wenige Jahre vor der Militärpflicht. Sie haben also den Hauptteil ihrer Entwicklungsjahre nicht in der Großstadt zugebracht. Immerhin könnte man aber zugestehen, daß auch dieser verhältnismäßig kurze Aufenthalt in der Großstadt einen entwicklungshemmenden Einfluß auf die aus der Provinz zuge¬ zogenen Leute ausüben konnte, daß also das obige Verhältnis 20 Proz. zu 22 Proz. den Unterschied in der Wehrtüchtigkeit der Berliner zum Provinzersatze nicht richtig zum Ausdrucke bringt. Den Schluß darf man aber aus diesen Zahlen ziehen, daß der Unterschied bei weitem nicht so groß ist, wie er aus der Zusammen¬ stellung des Kriegsministeriums gefolgert wird. Ferner den, daß der geringe Anteil der Tauglichen in Berlin durch besondere Um¬ stände verursacht sein muß.

Und diese besonderen Umstände sind vorhanden, wie jeder weiß, der einmal in Berlin gemustert oder sich mit diesen Ver¬ hältnissen beschäftigt hat. Infolge des dauernden Zustroms von Wehrpflichtigen aus der Provinz, die in der großen Industriestadt leichtere und mannigfaltigere Erwerbsmöglichkeit, wohl auch größere Lebensfreude erhoffen, ist die Zahl der Gestellungspflichtigen hier so groß, daß zur Deckung des Rekrutenbedarfs eine viel engere

Auswahl getroffen werden kann, als es in anderen Bezirken mög-

17*

256

Meinshausen,

lieh ist. Dadurch wird natürlich der Prozentsatz der Tauglichen herabgedrückt und der der anscheinend Untauglichen vergrößert. Der Überfluß an Rekrutenmaterial, den wir haben, kommt hier am deutlichsten zum Ausdruck. Ähnliche Verhältnisse werden aber wohl auch in den übrigen Großstädten und Hauptindustriegebieten herrschen.

In den dünn bevölkerten Provinzen des Ostens dagegen, dessen Überschuß dauernd nach dem Westen abwandert, muß ein größerer Prozentsatz der Gestellungspflichtigen ausgehoben werden, um den Rekrutenbedarf zu decken. Und dies ist angängig, da die vorwiegend ländliche Bevölkerung dieser Provinzen einen erheblich besseren Ersatz liefert als die Industriebevölkerung, was durch obige Aus¬ führungen nicht bestritten werden sollte. Doch sind die hohen Prozentzahlen der östlichen Provinzen an Tauglichen ohne Zweifel hauptsächlich durch die geringere Bevölkerungsdichte zu erklären. Jedenfalls ist nicht einzusehen, aus welchen Gründen die ländlichen Bezirke des Ostens einen besseren und reichlicheren Ersatz liefern sollten als z. B. die Landbezirke der dichter bevölkerten Provinz Brandenburg, die zum Teile einen sehr kräftigen Ersatz hat, aber einen erheblich geringeren Anteil an Tauglichen stellt als die Ost¬ provinzen.

Der Schluß von der Anzahl der gestellten Tauglichen auf die körperliche Tüchtigkeit einer Gegend bringt also die tatsächlichen Verhältnisse nicht richtig zum Ausdrucke. Dies ist auch schon wegen des Anwachsens unserer Bevölkerung nicht möglich. Denn bei einer jährlichen Zunahme um etwa 800000 und gleichbleibendem Rekrutenkontingente muß natürlich die Prozentzahl der als taug¬ lich Eingestellten von Jahr zu Jahr sinken, am meisten natürlich wieder in den dichtest bewohnten Gegenden. Dies könnte zu dem Trugschlüsse Veranlassung geben, daß die Wehrtüchtigkeit unseres Volkes in der Abnahme begriffen sei.

Hätten wir aber ein Mittel, das lins ermöglichte, die körper¬ liche Tüchtigkeit einer Gegend mit genügender Zuverlässigkeit zahlenmäßig zum Ausdrucke zu bringen, so würde dies folgende große Bedeutung haben. Es ließe sich übersehen, ob der von den einzelnen Bezirken gestellte Ersatz gleichmäßig ist. Ferner ließe sich bestimmen, wieviel Prozent Taugliche bestimmte Bezirke mehr stellen könnten als bisher. Dies würde bei künftigen Heeresvermehrungen die Grundlage bilden können, um den Ersatz gleichmäßiger zu verteilen, insbesondere den Überschuß an Tauglichen der Großstädte und Industriebezirke

Weitere Beiträge zur Wertung des Pignet’schen Verfahrens.

257

zu verwerten. Ferner würde dieses Mittel es ermöglichen, den günstigen Einfluß der besseren Körperpflege, der zunehmenden Freude an der Natur und am Sporte, sowie der Jugendbewegung auf die Körperentwicklung der männlichen Jugend zu verfolgen. Sodann würde es zur Prüfung einer Frage verwertet werden können, deren Dringlichkeit in letzter Zeit von namhaften Nationalökonomen betont wird. Ob nämlich durch das dauernde Abströmen der länd¬ lichen Bevölkerung in die Städte, und zwar des unternehmungs¬ lustigeren also tüchtigeren Teiles derselben und durch das Verbleiben vieler gedienter Soldaten nach der Entlassung in den Städten, nicht auch eine Verschlechterung der ländlichen Bevölkerung eintritt. Eine Frage, die von hervorragender Wichtigkeit für die Zukunft des deutschen Volkes sein könnte.

Wir sehen also, daß ein Mittel wie das Pignet’sche Ver¬ fahren auf das lebhafteste zu begrüßen wäre, vorausgesetzt, daß es als Vergleichsmaßstab für Massenuntersuchungen genügende Zu¬ verlässigkeit besitzt. Dieser Nachweis der genügenden Zuverlässig¬ keit ist aber bisher noch nicht erbracht worden. Schwiening, der als einziger bisher Untersuchungen in großem Maßstabe hierüber angestellt hat, und zwar an 52 000 Einjährig - Frei¬ willigen, hebt folgenden ihm anhaftenden Fehler hervor. Mit zunehmender Körpergröße lasse seine Zuverlässigkeit nach, bei großen Leuten brauche auch ein hoher Index kein einigermaßen sicheres Zeichen für einen besonders schwächlichen Körperbau zu sein. Denn mit zunehmender Körpergröße bleiben Brustumfang und Gewicht in zunehmendem Maße hinter derselben zurück. Je größer die Leute, desto mehr seien von ihnen trotz hohem Index als kräftig und diensttauglich anzusehen.

Nun ist es sehr fraglich, ob die von Schwiening an den Einjährig-Freiwilligen gefundenen Verhältnisse ohne .weiteres auf die Gestellungspflichtigen übertragen werden dürfen. Denn die Grundsätze, nach denen beide zur Einstellung gelangen, sind erheb¬ lich voneinander verschieden. Daher ist die Nachprüfung an einer größeren Masse von Gestellungspflichtigen durchaus erforderlich, insbesondere, ehe es als zuverlässiger Maßstab für wichtige statistische Untersuchungen verwendet wird. Diese Nachprüfung wird dann auch einen Vergleich der Wehrtüchtigkeit der Einjährig-Frei¬ willigen und Gestellungspflichtigen zulassen.

In folgendem habe ich das Verfahren an 10000 Gestellungs¬ pflichtigen nachgeprüft, . Zur Verwendung kamen die Vorstellungs¬ listen des Jahrgangs 1911 der Ersatzkommissionen II und III

258 Meinshausen.

Berlin und des Land Wehrbezirks Marienburg (Westpr.). Ferner die des Jahrgangs 1910 der Landwehrbezirke Brandenburg a. H., Kottbus und Guben. In diesen Listen sind alle Gestellungspflichtigen enthalten, über die endgültig von der Oberersatzkommission zu entscheiden war. Nicht verwertet wurden also die zeitig Zurück¬ gestellten. Es liegt somit dasselbe Material zugrunde wie bei den Untersuchungen Schwieni n g ’s. Nicht verwertet sind ferner die in den Listen geführten Passanten; die Einjahrig-Freiwilligen, über die endgültig zu entscheiden war; die zur Disposition der Ersatz¬ behörden Entlassenen und die beim Oberersatzgeschäfte Fehlenden, über die also ein endgültiges Urteil nicht vorhanden war. Sodann mußte eine ganze Anzahl unberücksichtigt bleiben, bei denen eins der drei Maße nicht angegeben war. Da diese sich aber auf Taugliche und Untaugliche verteilen, wird eine erhebliche Fehlerquelle hier¬ durch kaum entstehen. Die Leute mit Mindermaß sind, um sie verwerten zu können, mit 152 cm Größe verrechnet. Bei deren verhältnismäßig geringer Zahl wird auch dies keine erhebliche Fehlerquelle ergeben. Es sind gesondert behandelt 1. die Taug¬ lichen, 2. die wegen ungenügender Körper- und Brustentwicklung nach Anl. IC— El, 46 und 47 und nach § 8, 3 der Wehrordnung Beurteilten, 3. die wegen anderweitiger Fehler Untauglichen. Stadt- und Landersatz sind gesondert behandelt, und zwar sind im Stadt¬ ersatz enthalten die Industrieorte: Berlin II und III, Spandau, Brandenburg, Rathenow, Guben, Forst, Kottbus, Elbing; im Land¬ ersatze die Ersatzbezirke Ost- und West-Havelland ohne Stadt Rathenow, Landkreis Guben, Kottbus, Marienburg, Stuhm, Elbing.

Es kam zunächst darauf an, das Verhältnis von Körpergröße, Brustumfang und Gewicht zueinander bei ansteigender Körpergröße zu prüfen. Zu diesem Zwecke sind nach Schwiening’s Vorbild Seite 75-86 seiner Arbeit nach der Körpergröße Rubriken von 5 zu 5 cm gebildet, in denen der Durchschnitt der Größe, des Brust¬ umfangs und Gewichts einzeln berechnet ist. (S. Tabelle I. u. II.)

Man sieht aus Tabelle I Reihe 3 bei den Tauglichen ein Auf¬ steigen der durchschnittlichen Größe von 158,5—182,7, also um 24,2 cm. Der Brustumfang dagegen, Reihe 4, steigt nur von 82,1 auf 87, also um 4,9 cm, und bleibt hinter der zunehmenden Größe um 19,3 cm zurück. Diese Differenz wird aber größtenteils durch Zunahme des Gewichts ausgeglichen, das von 58,3 auf 72,6 kg, also um 14,3 kg ansteigt. C -j- P bleiben somit hinter L um 5 cm zurück. Dies kommt beim Pignet’schen Index in Reihe 6 zum Ausdrucke, der von 18,4 auf 23,1 ansteigt. Der durchschnittliche

Weitere Beiträge zur Wertung des Pignet’schen Verfahrens

259

Tabelle L Landersatz.

Größe

Taugliche

Nichttaugliche

Schwächliche

Sonstige

abs.

Proz.

L

C

P

Index

abs.

Proz.

L

C

P

Index

abs.

Proz.

—160

186

34,4

158,5

82,1

58,3

18,4

197

36,4

157,3

76,6

51,3

29,4

158

29,2

161—65

479

48

163.5

83,1

61.6

18,7

245

24,5

163,3

78,5

55,3

29,7

275

27,5

166—70

624

53,2

168,1

84

64,2

19,9

216

18,4

168

79,8

58,1

30,1

333

28,4

171—75

357

47,3

172,8

85

67,6

20,2

137

18,1

172,7

80,6

61,1

31

261

34,6

176—80

113

47,7

177,5

86,3

71,4

19,8

48

18,1

177,3

81,7

63,9

31,7

76

32,1

über 180

17| 33,3

182,7

87

72,6

23,1

16

20,2

182,8 82,4

67,3

33,1

18

35,3

Summa

1776

47,3

167,5

83,9

64,1

19,5

859

31,4

165,7

78,9

56,7

30,1

1121

29,8

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

Tabelle II. Stadtersatz.

9

Nichttaugliche

Taugliche

Größe

Schwächliche

Sonstige

.

N

N

ts3

X

<X>

N

abs.

O

L

C

P

o

S-H

abs.

o

L

C

P

abs.

o

Pm

Ph

PH

«

—160

198

22,2

158,1

81,9

58,6

17,6

501

56,1

157,2

77,1

51,6

28,5

194

21.7

16 1 65

555

32,4

163,4

83

61,6

19

800

46 6

163.8

78,4

55,1

30,3

360

21

166—70

592

33.4

168

83,8

64,3

19,9

708

40

168,2

79,3

58,1

30,8

473

26,6

171—75

405

32,4

172,8

84,8

68

20

534

43,8

172,9

79,9

60,8

32,2

311

24,8

176-80

133

28,0

177,5

86

71,3

20,2

203

42,8

177,6

80,7

63,8

33,1

136

29,2

über 180

23

21,7

183,3

88,6

75,2

19,3

44

41,5

183,2

80,4

66

36,8

39 36,8

Summa

1906

30,7

167,5

83,3

64,3

19,4

2790

44,9

166,7

78,8

57,1

30,8

1513

24,4

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

Index sämtlicher Tauglichen beträgt 19.5. Die bis 165 cm Großen, 37 Proz. , haben einen etwas niedrigeren Index als der Durch¬ schnitt, die 166 180 cm Großen, 62 Proz., entsprechen ihm un¬ gefähr, und die über 180 cm Großen, 0,9 Proz., übersteigen ihn. Ein erhebliches Ansteigen des Index mit zunehmender Größe findet also nur bei den wenigen über 180 cm Großen, 17 von 1776 Taug¬ lichen, statt, während es bis 180 cm Größe nur 1,8 beträgt, also gering ist.

260

Meinshausen,

Aus Reihe 2 ersieht man ferner, daß die Größe 166 170 cm den größten Anteil an Tauglichen liefert, während dies bei den Einjährig -Freiwilligen nach Schwiening’s Feststellungen die Größe 170—175 cm ist. Erhebliche Abweichungen von dem Durch¬ schnitte der Tauglichen, 47,3 Proz., sind bei der Größe 161 180 nicht vorhanden. Dagegen liefern die kleinen Leute, bis 160 cm, und die über 180 cm Großen, erheblich weniger Taugliche.

Die Tabelle II, Stadtersatz, ergibt bei den Tauglichen ähnliche Verhältnisse, Die meisten Tauglichen liefert wieder die Größe 166 170 cm. Von 161 175 cm Größe ist die Zahl der Tauglichen ungefähr gleich, von 176 180 cm etwas geringer, in den Rubriken 160 und über 180 cm erheblich geringer als der Durchschnitt. Der Index, Reihe 6, steigt mit zunehmender Größe um 2,6 cm. Die Größenrubriken 161 bis über 180 cm haben ungefähr gleichen, und nur die kleinen Leute, unter 160 cm, etwas niedrigeren Index.

Zusammenfassend ist somit zu bemerken, daß Schwiening’s und Ott’s Annahme, der Index müsse mit zunehmender Größe zu¬ nehmen, da die Differenz zwischen Größe, Brustumfang und Ge¬ wicht immer mehr ansteige, zutrifft, daß diese Zunahme des Index aber, abgesehen von den wenigen ganz großen Leuten gering ist. Bemerkenswert ist ferner, daß abgesehen von den 17 über 180 cm Großen in Tabelle 1, der Index der Tauglichen in beiden Tabellen durchschnittlich der Pignet’schen Rubrik 15 20 entspricht, die einen „guten“ Ersatzbezeichnensoll. Die 17 über 180 cm Großen entsprechen der Rubrik „mittelgut“. Anders bei den wegen Körper schwäche Untauglichen (Reihe 12). Hier steigt der Index von 28,5—36,8 an und entspricht denPignet- sehen R u b r i k e n „s c h w a c h“, „s e h r s c h w a c h“ und „völlig u n genüge n d“. Man muß demnach zu geben, daß bei der Zusammenstellung größerer Massen in diesen Tabellen derPignet’schelndex, trotz des Ansteigens mit zunehmender Größe, die tatsächlichen Verhält¬ nisse im allgemeinen richtig zum Ausdrucke bringt.

Bei den Schwächlichen ist im einzelnen folgendes zu erwähnen: Der Index steigt mit zunehmender Größe stetig an, und zwar beim Stadtersatze stärker als beim ländlichen. Die höheren Indexzahlen gegenüber den Tauglichen entstehen durch geringeren Brustumfang und geringeres Gewicht, das Ansteigen derselben bei zunehmender Größe durch immer weiteres Zurückbleiben, namentlich des Brust¬ umfangs, aber auch des Gewichts. Dies tritt besonders deutlich

Weitere Beiträge zur Wertung des Pignet’schen Verfahrens. 281

beim Stadtersatze hervor. Der Brustumfang nimmt hier nur um 3.3 cm zu gegenüber einer Größenzunahme von 26 cm. Die ganz kleinen Leute, die am wenigsten Taugliche liefern, haben am meisten Schwächliche. Letztere nehmen mit zunehmender Größe bis zur Rubrik 171 175 cm beim Landersatz und 166 170 cm beim Stadtersatz ab. Dann erfolgt mit zunehmender Größe auch eine Zunahme der Schwächlichen. Der Index des Stadtersatzes ist erheblich höher, also schlechter, als der des Landes. Die Schwächlichen des Landersatzes sind kleiner, haben aber größeren Brustumfang als die des Stadtersatzes. Hierin kommt zum Aus¬ drucke, daß der schmalbrüstige, langaufgeschossene Typus durch das Stadtleben begünstigt wird und daß das Landleben auf die Entwicklung des Brustkorbes günstig einwirkt.

Der Anteil der Schwächlichen beträgt beim Landersatze 22,9 Proz., beim Stadtersatze dagegen 44,9 Proz. ; der wegen sonstiger Fehler Un¬ tauglichen bei ersteren 29,8, bei letzteren dagegen 24,4 Proz. Der An¬ teil der letzterwähnten ist bei den größeren Körpermaßen größer als bei den kleineren, was zum Teile darauf zurückzuführen ist, daß viele Fehler am größeren Körper deutlicher hervortreten, wie Verkrüm¬ mungen der Wirbelsäule und der unteren Gliedmaßen. Dann aber besonders darauf, daß der längere und schwerere Körper eine größere Disposition zu diesen und anderen Fehlern hat, wie z. B. zur Plattfuß- und Krampfaderbildung, Herzfehlern. Übrigens zeigen die Einjährig-Freiwilligen hierin eine Abweichung; bei ihnen nehmen die sonstigen Fehler mit zunehmender Körperlänge ab, die ganz Großen stellen am wenigsten Untaugliche in diesen Fehler¬ gruppen.

Nunmehr ist zu untersuchen, wie sich Taugliche und Untaug¬ liche auf die einzelnen Indexgruppen verteilen. Hierzu sind Sch wiening ’s Tabellen benutzt, mit einigen Änderungen in der Zusammenstellung. S. Tabelle III und IV, S. 262.

Aus Reihe 2 sieht man, daß der Hauptteil der Gesamtzahl, sowohl beim Stadt- als beim Landersatze, dßr Indexgruppe 21— 30 angehört, die nach Pignet der Bezeichnung „mittelgut“ und „schwach“ entspricht. Von dieser Guppe aus fallen die Zahlen nach oben und unten ab. Der nächstgrößte Anteil entfällt auf die Gruppe 11 20. Bis hierher entspricht der Ersatz den Einjährig- Freiwilligen. In den Prozentzahlen der einzelnen Gruppen bestehen dann aber Abweichungen. Die Einjährig-Freiwilligen haben einen

262

Meinshausen

Tabelle III. Landersatz.

Gesamt-

Taugliche

Uutai

igliche

zahl

Schwächliche

Sonstige

Index

CD

Ph

r-H

ÖD

CD

o

Sh

cj

CD

Ph

J— i

o

abs.

Proz.

abs.

Proz.

Grup

tsj 53

O c3

abs.

Proz.

Grup

N £

2 p-

abs.

Proz.

Grup

^ .pc

N

O 212

Sh S5

■ö

r-j

Phm

17

0,5

4

23,5

0,2

13

76,5

1,2.

0-

-10

214

5,7

141

66

8

4

1,8

0,5

69

32,2

6,1

11-

-20

1245

33,1

844

67,8

47,5

51

44

5,9

350

28.1

31,2

21-

-30

1686

44,9

748

44,3

42,1

403

23,9

46.9

535

31,8

47.8

31-

-35

385

10,2

34

8,8

1,9

241

62,8

28.1

110

28,4

9,7

über

35

209

5,6

5

2,4

0,3

160

76,5

18,6

44

21,1

4

Summa

3756

100

1776

47,3

100

859

22,9

100

1121

29,8

100

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

Tabelle IV. Stadtersatz.

Iudex

Gesa

za

abs.

b; 3

Proz. ^

r

abs.

Proz. ö

d. Gruppe

O

re

p p

P-i H

Sc

abs

iiwächh

CD

Ph

N ^

O P

PnO

Uutan

iche

§ p3 ° P

Sh CG

PhH

r

[gliche

abs.

CO

Proz. §

d. Gruppe &

- - - aT

CD

Proz. der

Sonstigen

+

75

1,2

24

32

1.3

2

2,7

0,1

49

65,3

3.2

0-10

289

4,6

164

56,7

8,6

17

5,9

0,6

108

37,4

7.1

11—20

1415

22,8

839

59.3

44

155

10,9

5,5

421

29,8

27,8

21—30

2683

43,2

799

29.8

41,9

1234

46

44,2

650

24,2

43

31—35

1041

16.8

65

6,2

3,4

789

75,8

28,3

187

18

12,4

über 35

706

11,4

15

2.1

0,8

593

84

21,3

98

13,9

6.5

Summa

6209

100

1906

30,7

100

2790

44,9

100

1513

24,4

100

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

bedeutend höheren Anteil an der Gruppe mit positivem Index. Die Zahlen sind :

Landersatz 0,5 Proz. Stadtersatz 1,2 Ein j. -Frei w. 4,4

der Gesamtzahl.

Weitere Beiträge zur Wertung des Pignet’schen Verfahrens.

268

Wie Sch wienin g und Ott schon hervorhoben, ist dies durch eine größere Zahl der Fettleibigen verursacht, bedingt durch mehr sitzende Lebensweise und weniger körperliche Betätigung bei besserer Ernährung und zum Teile höherem Lebensalter. Aber auch noch an der Gruppe 0 10 sind die Einjährig-Freiwilligen stärker beteiligt. Die Zahlen sind:

Stadtersatz 4,6 Proz.

Landersatz 5,7

Einj.-Freiw. 9,6

Auch dies ist wohl durch größeren Fettansatz und nicht durch kräftigere Körperbildung bedingt. Wenigstens sinkt der Anteil der Einjährig-Freiwilligen im Verhältnisse zu den übrigen Leuten in den nächsten Gruppen ganz bedeutend. In der Gruppe 11 20 steht er zwischen Land- und Stadtersatz, näher zu letzterem. Die Zahlen sind:

Stadtersatz 22,8 Proz.

Einj.-Freiw. 26,2

Landersatz 33,1

7 n

In der Gruppe 21—30 sinkt er noch 6 Proz. unter den Stadtersatz.

Einj.-Freiw. 37,6 Proz.

Stadtersatz 43,2 ,,

Landersatz 44,9 ,,

In den Gruppen über 30 steht er wieder zwischen Stadt- und Land¬ ersatz, aber näher zu ersterem.

Stadtersatz 28,2 Proz.

Einj.-Freiw. 22,2

Landersatz 15,8

Zu den Gruppen, die Pignet als „sehr schwach“ und „völlig ungenügend“ bezeichnet, liefert der Stadtersatz einen bedeutend höheren Anteil, 12.4 Proz. mehr, als der Landersatz, zu den als kräftiger bezeichneten Gruppen unter 30 dementsprechend weniger. Das Pignet’sche Verfahren würde also den Stadtersatz als er¬ heblich schlechter bezeichnen als den Landersatz, was durchaus den Erfahrungen entspricht. Es liefert somit auch hier ein im allgemeinen zuverlässiges Ergebnis. Will man ihm einen Ver¬ gleichswert zusprechen, so würden die Einjährig-Freiwilligen in ihrer körperlichen Tüchtigkeit zwischen Land- und Stadtersatz stehen, aber

264

Meinskausen,

näher zu diesem. Dies dürfte den Tatsachen entsprechen. Denn der weitaus größte Teil der Einjahrig-Freiwilligen bringt infolge des Schulbesuchs die Hauptentwicklungszeit in der Stadt zu, ja ein großer Teil mit kurzen Unterbrechungen die ganze Zeit bis zum Militärjahre. Daher wird ihr Durchschnitt sich dem schmalbrüstigeren aber größeren städtischen Typus mehr nähern als dem kleineren, aber kräftigeren Landersatz. Infolge der besseren Lebensweise und Ernährung wird er aber auch wieder höher stehen als der Durchschnitt des Stadtersatzes. Daß unter den Einjährigen die großen Leute zahlreicher sind als unter den sonstigen Militär¬ pflichtigen, hob schon Schwiening hervor.

Zu den Tauglichen liefert beim Ersatz und den Einjährig- Freiwilligen den größeren Anteil die Gruppe 11 20 (Reihe 4). Von hier aus fällt der Anteil nach oben und unten ab. Nur um ein geringes zurück steht die Gruppe 0—10 und bei den Einjährig- Freiwilligen die Gruppe 21—60, während diese bei den übrigen Gestellungspflichtigen erheblich weniger Taugliche liefert. Auf¬ fallend ist, daß die Einjährig-Freiwilligen in sämtlichen Gruppen bedeutend mehr Taugliche stellen als die Gestellungspflichtigen. Dies ersieht man aus folgender Zusammenstellung:

Tabelle V. Taugliche.

Index

Einjährig-

Freiwillige

Land

Stadt

-j~

66,1

23,5

32

0-10

75,2

66

56,7

11—20

76,9

67,8

59,3

21—30

71,2

44,3

29,8

31—35

48,5

8.8

6,2

über 35

18,2

2,4

2,1

Summa

65,2

47,3

30,7

Da die Einjährig-Freiwilligen, wie wir oben sahen, im Durch¬ schnitte zwischen Land- und Stadtersatz stehen, unter Annäherung an letzteren, müßte man erwarten, daß bei Gleichwertigkeit die Taug¬ lichen dasselbe Verhältnis zeigen. Besonders auffallend sind die hohen Prozentzahlen der tauglichen Einjährigen in der positiven Gruppe, in der die Fettleibigen enthalten sind, und in den nach Pignet ungünstigen Gruppen über 30, während die übrigen Ge¬ stellungspflichtigen in diesen Gruppen sehr wenig Taugliche stellen.

Weitere Beiträge zur Wertung des Pignet’schen Verfahrens. 265

Dies läßt nur die eine Deutung zu, die auch in Schwiening’s Arbeit S. 10—11 ausgeführt ist, daß von den Einjahrig-Freiwilligen ein erheblich größerer, daher zum Teile schwächerer Anteil zur Ein¬ stellung gelangt als von den übrigen Gestellungspflichtigen. Was dadurch bedingt ist, daß jeder taugliche Einjährig-Freiwillige auch eingestellt werden muß, während bei den übrigen Leuten infolge der größeren Auswahl, und weil nur eine bestimmte Anzahl Rekruten gestellt zu werden braucht, höhere Ansprüche gestellt werden können. Ferner dadurch, daß nach der D. A. Mdf. Nr. 37 bei den Einjährig-Freiwilligen die „zulässig geringsten körperlichen An¬ forderungen“ gestellt werden dürfen. Die hohen Indexzahlen über 30 würden also angeben, daß von dieser Bestimmung in erheb¬ lichem Maße Gebrauch gemacht wird.

Die geringere Qualität der Einjährigen tritt noch deutlicher aus folgender Zusammenstellung hervor, die den Anteil der ein¬ zelnen Indexgruppen an der Summe der Tauglichen enthält.

Tabelle VI. Taugliche.

Index

Einjährig-

Freiwillige

Stadt

Land

+

4,4

1,3

0,2

0—10

9,6

8,6

8

11—20

26,2

44

47,5

21—30

37,6

41,9

42,1

31—35

13,4

3,4

1,9

über 35

8,8

0,8

0,3

Summa |

100

100

100

Aus dieser Zusammenstellung ersieht man, daß von den Taug¬ lichen des Landersatzes 97,6 Proz. den günstigeren Gruppen 0—30 angehören und nur 2,2 Proz. einen Index über 30 haben. Beim Stadtersatze sind diese Zahlen etwas ungünstiger, 94,4 Proz. und 4,4 Proz., bei den Einjährig-PTeiwilligen aber 73,4 und 22,2 Proz. Dabei sind die Zahlen beim Stadtersatze noch zu ungünstig, weil bei diesen in den Gruppen über 30 der größte Teil der Ökonomiehandwerker enthalten ist, an deren Tauglichkeit die denkbar geringsten An¬ forderungen gestellt werden dürfen. Wenigstens waren von den 34 Tauglichen mit einem Index über 30 von den im Stadtersatz enthaltenen 3645 Berlinern 12 Ökonomiehandwerker, die zum Teile nach Anl. 1 DHO. beurteilt waren. Den größten Teil der Taug-

266

Meinskausen

liehen stellt beim allgemeinen Ersatz die Gruppe 11 20, bei den Einjährig-Frei willigen aber die Gruppe 21 30, was gleichfalls für eine geringere Qualität spricht.

Die geringeZahl der beim allgemeinen Ersätze mit einem Index über 30 Tauglichen bestätigt den Befund der Tabellen I und II Bei he 14, daß diese hohen Index- zahlen einen schwächlichen Körperbau anzeigen. An¬ dererseits berechtigt die große Zahl der trotz hoher Indexzahlen tauglichen Einjährig-Freiwilligen zu dem Schlüsse, daß ein großer Teil derselben bedeutend schwächer ist als die Tauglichen der übrigen Gestellungspflichtigen. Hieraus muß man aber auch die weitere Folgerung ziehen, daß die bei den Einjährigen gewonnenen Resultate nicht ohne weiteres auf die übrigen Gestellungspflichtigen übertragen werden dürfen.

Die bisherigen Ergebnisse werden weiter durch den Befund an den Schwächlichen bestätigt.

Tabelle VII. Schwächliche. '

Iudex

Einjährig- Frei willi ge

Stadt

Land

+

0,43

2,7

0—10

1,2

5,9

1,8

11—20

2,1

10,9

4,1

21-30

9,2

46

23,9

31 35

30,5

75,8

62,8

über 35

68,4

84'

76,5

Summa

14,2

44,9

22,9

Bei Einjährig-Freiwilligen, Stadt- und Landersatz stellen die günstigen Gruppen bis Index 20 einen sehr geringen, aber stetig an¬ steigenden, die Gruppe 21 30 schon einen erheblich höheren Anteil an Schwächlichen. In den Gruppen über 30 findet dann ein sehr starkes Ansteigen statt, der Stadtersatz hat in der Gruppe über 35 an Schwäch¬ lichen 84,1 Proz. Auch das bestätigt, daß ein niedrigerer Index einen kräftigeren, ein hoher dagegen einen schwächlichen Körper anzeigt. Auffallend ist der bedeutend geringere Anteil der Ein¬ jährigen an sämtlichen Gruppen gegenüber den übrigen Gestellungs- pflichtigen, besonders in den ungünstigen Gruppen. In Gruppe 21 30 stehen 9,2 Proz. Einjähriger, 46 Proz. vom Stadtersatz und 23,9 Proz. vom Landersatze gegenüber; in Gruppe 31 35 30,5 Ein-

Weitere Beiträge zur Wertung’ des Pignet’schen Verfahrens.

267

jähriger, 75,8 Proz. vom Stadt- und 62,8 Proz. vom Landersatz. Aber auch an den wegen sonstiger Fehler Untauglichen ist der Anteil der Einjährig-Freiwilligen in sämtlichen Gruppen geringer. Dies ist ja durch die bedeutend höhere Zahl der von ihnen tauglich Be¬ fundenen erklärlich, läßt aber nur die Deutung zu, daß ein hoher Prozentsatz von Leuten, die bei den übrigen Gestellungspflichtigen als schwächlich befunden wurden, bei den Einjährig-Freiwilligen tauglich erklärt sind.

Bemerkenswert ist ferner, daß der Stadtersatz in sämtlichen Gruppen, besonders aber in den günstigeren von 0—30, einen er¬ heblich höheren Anteil zu den als schwächlich Bezeichneten stellt als der Landersatz. Besonders hoch ist der Anteil des Stadt¬ ersatzes in Gruppe 21 30 und beträgt hier, wie übrigens auch in den anderen günstigen Gruppen, das Doppelte des Landersatzes. Dies dürfte darin eine Erklärung finden, daß von den über die Hälfte des Stadtersatzes ansmachenden Berlinern ein erheblicher Anteil von verhältnismäßig kräftigen Leuten nicht zur Einstellung gelangte. Die höheren Zahlen in den ungünstigen Gruppen über 30 aber zeigen an, daß der Stadtersatz einen höheren Anteil an schwächlichen Leuten enthält. Dies wurde bereits an den Tabellen I und II erläutert.

/

Nunmehr bleibt noch das Verhalten des Pignet’schen Index bei zunehmender Größe an den von Schwiening benutzten Ta¬ bellen zu prüfen, um auch hierin einen Vergleich zwischen Ein¬ jährig-Freiwilligen und den übrigen Gestellungspflichtigen ziehen zu können. Stadt- und Landersatz sind zur besseren Übersicht zusammengenommen. S. Tabelle VIII, S. 268.

Schwiening fand bei den Einjährig-Freiwilligen, daß die Tauglichkeit mit der Größe zunahm. Es waren tauglich:

Bis 160 cm Größe 49,9 Proz.

161—170 64,2

171—180 67,2

über 180 ., 66,4 .,r.

Bei den übrigen Gestellungspflichtigen trifft dies nicht zu, wie schon aus der Tabelle I und II hervorging. Die kleinen Leute unter 160 und die über 180 cm großen liefern bedeutend weniger, die Größen 161 180 erheblich mehr, und von diesen die Größe 161 bis 170 den größten Anteil an Tauglichen. Dies ist aus den

268

Meinshausen,

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Tabelle VIII.

Weitere Beiträge zur Wertung des Pignet’schen Verfahrens.

269

Reihen 4 ersichtlich. Es findet also mit zunehmender Größe keine Zunahme der Tauglichkeit statt. Den größten Anteil an Taug¬ lichen stellt, wie aus Reihe 4 ersichtlich, die Indexgruppe 11 20, bei den 171 180 cm großen die Gruppe 0—10.

Bei den Schwächlichen findet man, übereinstimmend mit den Einjährig-Freiwilligen , mit zunehmender Größe eine Abnahme, wenigstens in den Indexgruppen von 11 20 an. Diese ist aber zum großen Teile durch Zunahme der wegen sonstiger Fehler Un¬ tauglichen bedingt.

Betrachtet man nun die Reihen 5, in denen der Anteil der •einzelnen Indexgruppen an der Summe der Tauglichen berechnet ist, so sieht man, daß von den Leuten bis 170 cm Größe die meisten der Indexgruppe 11—20 angehören, bei den über 170 cm großen aber der Indexgruppe 21 30. Ferner findet in der Gruppe 11 20 mit zunehmender Größe eine Abnahme des Prozentsatzes der Tauglichen, von Gruppe 21 30 an aber eine Zunahme statt. Es würden also die kräftigeren Leute unter den Taug¬ lichen mit zunehmender Größe ab-, die schwächeren aber zunehmen. Dies steht aber im Widerspruche mit obigem Befunde, daß die Tauglichkeit mit zuneh¬ mender Größe nicht abnimmt. Hier liegt also ein Fehler im Pignet’schen Verfahren vor, der dadurch bedingt ist, daß dieDifferenz zwischen B rustumfang -{-Gewicht und Kör pergröße mitZunahme der letzteren auch zunimmt. Dieser Fehler wurde bereits an den Tabellen I und II erläutert und ist von Schwiening eingehend gewürdigt worden.

Bei den Schwächlichen (Reihe 8) findet in den Gruppen bis Index 30 mit zunehmender Größe ebenfalls eine Abnahme, in den Gruppen über 30 aber eine Zunahme statt. Es würden also mit zunehmender Größe die kräftigeren Leute unter den wegen Schwächlichkeit Untauglichen ebenfalls ab-, die schwächlichen aber zunehmen. Oder: Je größer schwächliche Leute, desto weniger sind sie tauglich. Dagegen ist wohl nichts einzuwenden, so¬ lange nur kräftige Leute eingestellt werden. Stellt man aber ge¬ ringere Ansprüche an die Tauglichkeit, so muß dies naturgemäß den Fehler des P ign et ’schen Verfahrens größer erscheinen lassen. Wir beobachteten dies an den Einjährig-Freiwilligen, von denen 37,1 Proz. der Leute mit einem Index über 30 tauglich wraren.

Trotzdem kam Schwiening nicht zu einer Ablehnung des Verfahrens, sondern er erkannte ihm den Wert zu, daß dort, wo

Archiv für Soziale Hygiene. VII. 18

270

Meinshausen,

viele Leute mit hohen Differenzen vorhanden sind, auch die Zahl der schwächlicheren Personen eine größere sein wird, als bei dem Vorwiegen der mittleren und niedrigen Indexgruppen (S. 112 seiner Arbeit).

Bei den übrigen Gestellungspflichtigen ist der Fehler aber er¬ heblich geringer, hatten von den dieser Untersuchung zugrunde liegenden Tauglichen doch nur 3,2 Proz. einen Index über 30. Und von diesen 129 Leuten hatten 34 Mann eine Größe bis 170 cm und nur 45 waren größer. Die Höhe des Fehlers kann man übrigens aus den Tabellen I und II in Verbindung mit Tabelle VIII feststellen. Die Summe der Tauglichen bis 170 cm Größe beträgt 2633 von 3689 = 71 Proz., die der über 170 cm großen 1056 = 29 Proz. Von den 119 Tauglichen mit einem Index über 30 aber sind 74 = 62 Proz. unter 170 cm und 45 = 38 Proz. größer. Die über 170 cm großen Tauglichen enthalten also an Leuten mit einem Index über 30 9 Proz. von 129 = 11 Mann zu viel. Dem¬ entsprechend kann man aus den Tabellen der Schwiening’schen Arbeit S. 78 und 108 feststellen, daß der Fehler bei den Einjährig- Freiwilligen 13 Proz. beträgt.

Es fragt sich nun, ob durch diesen Fehler die Verwertbarkeit des Verfahrens in Frage gestellt wird. Ich denke nein. Denn dieselbe Fehlerquelle wird bei jedem Ersätze mehr oder weniger vorhanden sein, da jeder Aushebungsbezirk große und kleine Leute gemischt enthält. Nur könnte man den Einwand erheben, daß der Fehler in einer Gegend mit besonders großem Menschenschlag auch größer sein werde. Das scheint aber nicht durchaus notwendig zu sein, wenigstens nicht bei einem Vergleiche der Aushebungs¬ bezirke Marienburg, Stuhm, Elbing Land mit den übrigen ver¬ werteten Bezirken. In dem Bezirk Elbing Land und zum Teile auch im Marienburger Bezirke hat sich als Nachkommenschaft der vom Deutschen Orden in der entwässerten Weichselniederung an¬ gesiedelten Friesen, Holländer und Angehöriger anderer germa¬ nischer Stämme ein hochwüchsiger, schlanker Menschenschlag er¬ halten, der, begünstigt durch gute Lebensbedingungen, einen sehr brauchbaren Ersatz liefert. Man sollte nun annehmen, daß hier infolge der vielen großen Leute der Fehler des Verfahrens be¬ sonders deutlich hervortreten müßte, zumal ein sehr hoher Prozent¬ satz, nach meiner Berechnung annähernd 65 Proz., tauglich be¬ funden wurde. Das ist aber nicht der Fall. Von den 659 Taug¬ lichen waren 472 = 72 Proz. bis 170 cm groß und 187 = 28 Proz. größer. Von den 16 Tauglichen mit einem Index von über 30 aber

Weitere Beiträge zur Wertung des Pignet’schen Verfahrens.

271

waren 12 = 75 Proz. bis 170 cm groß und 4 = 25 Proz. größer. Der Fehler ist also hier überhaupt nicht vorhanden. Doch können erst in größerem Umfang angestellte Untersuchungen über die Größe des Fehlers bei großer und kleinerer Bevölkerung Aus¬ kunft geben. Vorerst muß man sich damit behelfen, bei der Anwendung des Verfahrens zum Vergleiche ver¬ schiedener Massen kleine Differenzen nicht als aus¬ schlaggebend für die Beurteilung anzusehen.

Nun fragt es sich, in welcher Weise das Verfahren praktisch am besten zu verwerten ist. Die von Pignet getroffene Einteilung von 5 zn 5 cm erscheint für ein bei Massenuntersuchungen anzu¬ wendendes Mittel zu kompliziert. Auch bringt es die tatsächlichen Verhältnisse nicht richtig zum Ausdrucke. Denn in der an erster Stelle seines Systems stehenden positiven Gruppe bis Index 10, die also einen erstklassigen Ersatz enthalten müßte, sind die Fett¬ leibigen mit enthalten, die zum größten Teile untauglich sind. Dann sehen wir, daß mit zunehmender Größe eine Verschiebung in den einzelnen Gruppen nach der ungünstigen Indexseite zu stattfand, so daß auch der Unterschied zwischen den Rubriken 11 35 nicht zuverlässig ist. Ferner sind von den Leuten mit einem Index über 30 noch 5 Proz. tauglich, so daß man auch einen Index über 30 nicht unbedingt als ein Zeichen der Untaug¬ lichkeit ansehen kann. Dieselben Fehler haften der von Schwie- ning verwendeten Einteilung an. Am besten läßt man daher diese Einteilung ganz fallen und urteilt nur danach, wieviel Pro¬ zent einer zu beurteilenden Masse einen niedrigen und wie viele einen hohen Index haben. Als Vergleichszahl nimmt man am besten die Indexzahl 30 und stellt fest, wieviel Prozent einen Index unter 30 und wieviel einen höheren haben. Als Beispiel habe ich folgende Tabelle zusammengestellt.

(Tabelle siehe nächste Seite.)

Nach Reihe 3 dieser Zusammenstellung würden die branden- burger Landbezirke den besten Ersatz haben, da nur 8,8 Proz. der Gestellungspflichtigen einen Index über 30 haben. Dann folgen Kottbus Land und die Marienburger Landbezirke mit 12 Proz. In weitem Abstand erst, noch hinter den meisten Industrieorten, folgt Guben Land mit 27,3 Proz. Diese hohe Differenz bringt unzweifel¬ haft den für eine Landbevölkerung sehr schlechten Ersatz von

18*

272

Meinshausen,

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Land

933

96

10,3

8

8,3

837

110

13

52,7

20

27,3

Cottbus

Land

784

94

12

2

2,8

690

190

27,5

40,9

34,1

25

Marienburg

Land

1017

123

12

16

13

894

72

8

64,8

16

19,2

Guben

Land

1 114

304

27,3

13

4,3

810

94

11.6

30,7

24,3

45

Brandenburg

Städte

1 147

222

19,7

24

10,8

925

183

19,8

48

30,7

21,3

Einjährig-

Freiwillige

52 066

11512

22,2

4225

37,1

40 554

2165

5,3

65,2

14,2

20,6

Elbing

Stadt

390

91

23,3

11

12

299

23

7,7

55,1

24,4

20,5

Cottbus

Stadt

309

74

23,9

1

1,4

235

78

33,4

34

45,6

20,4

Berlin

II. u. III.

3 645

1099

30,1

34

3,1

2 546

1053

41,4

23,2

53,8

23,1

Guben, Forst Stadt

626

236

37,7

10

4,2

390

63

16,2

25,3

33,5

41,2

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

Guben Land zum Ausdrucke. Von den Industrieorten haben Brandenburg, Spandau, Rathenow mit 19,7 Proz. den besten Ersatz. Dann folgen Elbing und Kottbus, in größerem Abstande Berlin II und III und in weitem Abstande Guben und Forst. Diese Zahlen bringen wieder zum Ausdrucke, daß die Stadtbevölkerung im allge¬ meinen einen erheblich schlechteren Ersatz liefert als die Land¬ bevölkerung. Ferner, daß der Ersatz des Landwehrbezirks Guben außerordentlich schlecht ist. Dies ist wohl durch die dort seit langer Zeit heimische Webereiindustrie bedingt. Die Einjährig- Freiwilligen entsprechen ungefähr dem besseren Stadtersatze.

Die Körperbeschaffenheit des Durchschnitts der tauglich Be¬ fundenen ist nach der Prozentzahl der mit einem Index über 30 Tauglichen zu beurteilen. Denn je mehr von diesen schwächeren

Leuten ein Ersatz enthält, desto schwächer wird er im allgemeinen

*

sein. Nach Reihe 5 wäre bei Kottbus Stadt und Land die beste Auswahl getroffen. Dann folgen Berlin und Guben Stadt und Land. Am meisten Schwächliche unter den Tauglichen würden enthalten: In erster Linie die Einjährig-Freiwilligen mit 37,1 Proz., Elbing Stadt und Land mit 13,2 und 13 Proz. Dies ist erklärlich aus der

Weitere Beiträge zur Wertung des Pignet’schen Verfahrens. 273

hohen Zahl der tauglich Befundenen, die aus Reihe 9 ersichtlich ist. Bei den Einjährigen sind es 65,2 Proz., bei Elbing Land 64,8 Proz. und Elbing Stadt 55,1 Proz.

Die Reihen 7 und 8 enthalten die trotz niedrigem, also günstigen Index wegen Schwächlichkeit untauglich Befundenen. Da diese Zahlen desto größer sein werden, je höhere Ansprüche an die Tauglichkeit gestellt werden, und desto kleiner, je weiter mit diesen Ansprüchen heruntergegangen wird, so ermöglichen sie ein Urteil, wieviel Leute in bestimmten Bezirken im Vergleiche zu anderen mehr hätten ausgehoben werden können. Für Berlin z. B. beträgt die Zahl 41 Proz, für Elbing Stadt aber nur 7,7 Proz. Hieraus darf man schließen, daß in Berlin II und III bei gleichen Ansprüchen an die Tauglichkeit wie in Elbing ungefähr 41 7,7 = 33,3 Proz. der trotz niedrigen Index als schwächlich Bezeichnet en tauglich gewesen sein würden. Das sind etwa 350 Leute. Auch Kottbus Stadt und Land enthalten unter den als schwächlich bezeichneten noch einen hohen Prozentsatz von Leuten mit niedrigem Index.

In Reihen 9—11 sind zur Kontrolle die Prozentzahlen der Taug¬ lichen, der wegen Schwächlichkeit und wegen sonstiger Fehler Untauglichen zusammengestellt. Diese Zahlen werden allerdings mit den amtlichen nicht ganz genau übereinstimmen, da wie an¬ fangs erwähnt, nicht alle in den Vorstellungslisten geführten Leute für diese Untersuchungen verwendet werden konnten.

Man ersieht aus der Zusammenstellung, daß ein Vergleich von verschiedenen Bezirken, Provinzen, von Stadt- und Landbevölkerung, nach dieser Methode sehr gut durchführbar ist. Sie ist gewiß über¬ sichtlicher als die Einteilung nach Pignet’schen Rubriken. Ebenso kann man mit ihr die körperliche Entwicklung der An¬ gehörigen verschiedener Berufszweige prüfen. In folgender Tabelle ist dies veranschaulicht, die unter Zugrundelegung der Simon’schen Zusammenstellung S. 178 seiner Arbeit die einzelnen Berufsgruppen nach ihrem Anteil an Leuten mit einen Index über 30 ordnet.

Es haben einen Index über. 30:

1. Metzger

4,6

Proz.

2. Bäcker

9

n

3. Schmiede

10,7

11

5. Maurer und Schlosser

15,6

11

6. Landwirte

17,5

11

7. Taglöhner

17,8

11

8. Zimmerer

18

11

9. Zigarrenarbeiter

18,4

11

274

Meinshausen,

10.

Fabrikarbeiter

19,5

Proz.

11.

Knechte

20

55

12.

Maler

20,9

55

13.

Mechaniker

23

55

14.

Gold- u. Silberarbeiter

23,6

55

15.

Textilarbeiter

24

55

16.

Schreiner

25,2

55

17.

Arbeiter

29,2

55

18.

Seminaristen

31,2

55

19.

Häusl. Bedienstete

32,6

55

20.

Friseure

40

55

21.

Kaufleute

40,8

55

Diese Zusammenstellung gibt m. E. ein anschauliches Bild von dem Einflüsse des Berufs auf die Körperentwicklung, oder wenn man Prinzing’s und Bindewald’s Ansicht folgen will, von dem Einflüsse der Körperentwicklung auf die Berufswahl. Beide Einflüsse werden wohl Geltung haben. Die Reihenfolge entspricht ungefähr dem allgemeinen Eindrücke, den wir bei der Musterung von der körperlichen Tüchtigkeit der einzelnen Berufe gewinnen. Die Metzger, Bäcker und Schmiede haben die beste Körperentwicklung, Dann folgen Maurer, Schlosser, Landwirte, Taglöhner, Zimmerer. Auffallend ist nur die verhältnismäßig günstige Beurteilung der Zigarrenarbeiter, deren Beruf als besonders ungesund gilt. Viel¬ leicht sprechen hier aber besondere, nur für Baden maßgebende Verhältnisse mit. Auffallen könnte auch, daß die Kauf¬ leute die schlechteste Körperentwicklung aufweisen, schlechter noch als die Friseure. Dies findet aber darin seine Erklärung, daß die Schreiber unter den Kaufleuten mitgezählt sind, die meist wegen Schwächlichkeit diesen Beruf wählen, der ihrem Körper auch zur Fortentwicklung keine Gelegenheit gibt. Die Schreiber stellen bei der Mustung und Aushebung ohne Zweifel den jämmerlichsten Er¬ satz. Bei Nachprüfungen wird es sich daher empfehlen, Hand¬ lungsgehilfen und Schreiber gesondert zu beurteilen.

Untersuchungen über Zu- oder Abnahme der Wehrfähigkeit verschiedener Bezirke, Gegenden, Provinzen, oder des ganzen Volkes sind zurzeit noch nicht möglich, da die Eintragung des Gewichts der untersuchten Leute bei manchen Bezirkskommandos überhaupt noch nicht, bei den übrigen erst seit wenigen Jahren stattfindet. Es ist dringend zu wünschen, daß die Feststellung des Gewichts bei der Musterung zur Pflicht gemacht wird. Dann ist es in

Weitere Beiträge zur Wertung des Pignet’schen Verfahrens. 275

späteren Jahren möglich, durch in bestimmten Abständen, vielleicht alle fünf Jahre, vorgenommene Nachprüfungen, hierüber Unter¬ suchungen anzustellen.

Die gewonnenen Resultate fasse ich in folgenden Schlußsätzen nochmals zusammen.

1. Die Pignet’sche Formel ist. geeignet, als Vergleichsmaßstab für Massenuntersuchungen verwendet zu werden.

2. Es haftet ihr allerdings der Fehler an, daß ihre Zuverlässigkeit mit zunehmender Körpergröße nachläßt.

3. Diesen Fehler kann man dadurch zum großen Teile aus¬ schalten, daß man die P i g n e t ’sche Rubrikeneinteilung fallen läßt.

4. Als Vergleichsmaßstab verwendet man anstatt dessen am besten den Anteil an schwachen Leuten, der in den zu vergleichenden Bezirken vorhanden ist.

5. Als Vergleichszahl eignet sich am besten die Indexzahl 30.

6. Den dann noch vorhandenen geringen Fehler des Verfahrens schaltet man aus, indem man geringen Differenzen bei der Be¬ urteilung kein ausschlaggebendes Gewicht beilegt.

7. Die Pignet’sche Formel erhöht den Wert des in der Aus¬ hebungslisten ruhenden statistischen Materials, da dessen Be¬ arbeitung zu sozialstatistischen Zwecken mit Hilfe der Formel ver¬ hältnismäßig einfach ist.

Zunahme des Alkohol Verbrauchs in Indien.

Von Dr. Ernst Scbultze in Hamburg-Großborstel.

Jahrtausende hindurch haben sich die Bewohner Vorderindiens fast stets als sehr nüchtern gezeigt. Zwar kannte man bereits zur Zeit der Veden, der berühmten heiligen Bücher der Inder,, berauschende Getränke. Eines der beliebtesten und bekanntesten Gedichte aus dem „Rigveda“ stellt ein Selbstgespräch des be¬ trunkenen Gottes Indra dar, dessen kurze Verse regelmäßig mit dem Kehrreim enden: „Ist’s denn, daß ich vom Soma trank?“

Indessen ist doch wahrscheinlich weder damals noch zu späteren Zeiten im indischen Volke Alkohol getrunken worden. Auch als am Hofe des Großmoguls in Delhi trotz der Verbote der moham¬ medanischen Religion gegen den Alkohol berauschenden Getränken stark zugesprochen wurde, blieb das Volk als solches nüchtern. Nicht nur seine Armut veranlaßte es dazu; denn diese stellt be¬ kanntlich durchaus kein sicheres Mittel gegen den regelmäßigen Genuß von Alkohol, ja gegen regelmäßige Trunkenheit dar.

Erst in den letzten Jahrzehnten ist die Nüchternheit des in¬ dischen Volkes in schwere Gefahr gebracht worden. Zunächst hat dazu der Einfluß der Europäer und der in Indien lebenden Engländer auf die Eingeborenen, insbesondere auf deren höhere Klassen, und auf die in Europa studierenden Inder beigetragen. Auf den Colleges und Universitäten sehen die letzteren zunächst,, wie die weißen Studenten trinken, und folgen nach einiger Zeit ihrem Beispiel.

Ein gewichtiger Grund ist wahrscheinlich darin zu suchen,, daß die Politik der englischen Regierung in Indien darauf ausgegangen ist, aus den Steuern auf geistige Getränke

Zunahme des Alkoholverbrauchs in Indien.

277

möglichst hohe Erträge zu erzielen. Wird es doch immer schwieriger, das indische Budget im Gleichgewichte zu halten, so daß man stets wieder versucht, neue Einnahmequellen zu eröffnen. Auch gegenwärtig, wo der hohe Gewinn aus dem Opiumhandel mit China fortzufallen droht, sieht man sich gezwungen, nach neuen Einnahme¬ quellen Ausschau zu halten.

Wie stark der Ertrag der Steuer auf geistige Getränke ge¬ wachsen ist, mag das Beispiel einer einzigen Provinz zeigen. Im Pundschab betrug die Regierungseinnahme aus dieser Quelle im Fiskaljahre 1900 01 2 601184 Rupien. Sie hob sich alsdann bis zum Jahre 1904—05 auf 3162 955 und bis 1907-08 auf 4 259 983 Rupien. Ähnlich schnell und stark ist die Steigerung im ganzen Lande gewesen. Beträgt doch die Einnahme der indischen Regie¬ rung aus der Alkoholsteuer heute das Vierfache dessen, was 1875 eingenommen wurde.

Diese Zahlen haben der Eingeborenenpresse Anlaß gegeben,, die englische Regierung scharf anzugreifen. Trotz des Aufruhr¬ gesetzes, unter dem die Presse steht, wollen die scharfen Angriffe gerade nach dieser Richtung hin nicht verstummen. Es scheint auch, als wenn sie mindestens zum großen Teile berechtigt sind. Gewiß kann die englische Regierung darauf hinweisen, daß die Einnahmen sich deshalb haben erhöhen müssen, weil man erst all¬ mählich die gesamte Herstellung von Alkohol der Steuer unter¬ worfen hat. Indessen kann das eine so starke Zunahme nicht er¬ klären. Auch würde diese Entschuldigung für die genannten Zahlen in der Provinz Pundschab nicht zutreffen. Selbst ein Anwachsen der Bevölkerung kann hier nicht ins Feld geführt werden ganz im Gegenteile sind ja im Pundschab gerade im letzten Jahrzehnte durch Pest und Malaria so viele Menschen zugrunde gegangen, daß eine Abnahme der Bevölkerung zu verzeichnen war.

Ebenso kann eine Steigerung des Volkswohlstandes die Zu¬ nahme des Alkoholverbrauchs nicht erklären. Von einer solchen ist, wie von vielen maßgebenden Seiten behauptet wird, in Indien nicht die Rede. Außerdem würde es ein Zeichen innerer Gesund¬ heit des Volkes sein, wenn es trotz steigenden Reichtums seine Alkoholausgaben nicht vermehrte. Solche Verhältnisse haben wir in den letzten Jahrzehnten glücklicherweise z. B. in Deutschland gehabt, wo die Ausgaben für den Kopf der Bevölkerung zwar für Getreide, Fleisch und andere Nahrungsmittel sich fast verdoppelt haben, während für Alkohol und Tabak eine Steigerung der Aus¬ gaben auf den Kopf der Bevölkerung nicht zu beobachten war.

278

Ernst Sckultze, Zunahme des Alkoholverbrauchs in Indien.

Wie es scheint, sind viele, wenn nicht alle Bevöl¬ kerung sklassen in Indien von dieser Steigerung des Alkoholverbrauchs betroffen. So hat kürzlich ein hervor¬ ragender Rajput in einem Aufsatze, der in Indien viel bemerkt wurde, behauptet, daß die männlichen Charaktereigenschaften seiner Rasse, die durch ihre heroische Tapferkeit hochberühmt war, durch das Übel des Trinkens jetzt schwer gelitten habe.

Auch in den Ar beiter kreisen hat sich ein steter Alkohol¬ verbrauch eingenistet. Es läßt tief blicken, wenn der Vorsitzende Her Fabrikantenvereinigung in Bombay (Bombay Mill-Owners Asso¬ ciation) kürzlich in einer Ansprache an diese Vereinigung sagte: „Während der jüngst vorgenommenen Untersuchungen des Likwa- Committee, das seine Sitzungen in Bombay abhielt, ist bewiesen worden, daß die Fabrikarbeiter mehr Geld für Alkohol ausgeben als für ihre Nahrung oder für ihre Kleider.“

Es scheint fast, als wenn die Inder, obwohl sie nun schon weit länger als ein Jahrhundert unter der Herrschaft der Eng¬ länder stehen, jetzt zu guter Letzt noch eine der übelsten Unsitten des europäischen Lebens annehmen wollten eine Unsitte, gegen die unter den meisten europäischen Völkern in den letzten Jahr¬ zehnten ein energischer Kampf geführt wird, und die infolgedessen auch in England sich wesentlich hat zurückdrängen lassen. Unter den mancherlei Übeln, die die Weißen neben dem mancherlei Guten, das sie ihnen brachten, auf fremde Völker übertragen haben, ist die Trunksucht eines der schlimmsten. Manchen Stamm eines farbigen Volkes hat sie zerstört, indem sie zunächst die moralische Widerstandskraft wie überhaupt alle sittlichen Begriffe untergrub und damit auch wirtschaftlich, militärisch und politisch die Kraft •des betreffenden Volkes vernichtete. In auffallendster Weise tritt dieser üble Einfluß des Alkohols bei den nordamerikanischen In¬ dianern hervor, die man daher notgedrungen durch Gesetzgebung und Verwaltung vor dem Alkohol zu schützen suchte. Die eng¬ lische Regierung in Indien würde moralisch gut und politisch klug handeln, wenn sie einer Zunahme des Alkoholverbrauchs energisch •entgegenträte, um sich den bitteren Vorwurf zu ersparen, daß sie nun, wo sie durch die Unterdrückung des Opiumhandels in China •eine wichtige Einnahmequelle verliert, eine neue, kaum weniger unsaubere Quelle in der Zunahme des Alkohol Verbrauchs unter den •eingeborenen Indern für sich zu erschließen suche.

Ein amerikanischer Kniturfortschritt.

Von Dr. Ernst Schultze in Hamburg-Großborstel.

Seit Jahren schämte sich der beste Teil der Nordamerikaner über die ungeheuren Opfer, die der größte Nationalfeiertag des Landes an Menschenleben erforderte. Denn der „Fourtli of July“, der Tag, an dem im Jahre 1776 die Unabhängigkeitserklärung der 13 Kolonien von dem Mutterlande erlassen wurde, ist mehr und mehr in einer so lärmenden und unvorsichtigen Weise be¬ gangen worden, daß der 4. Juli nicht mehr ein Freudentag, sondern ein Tag der Trauer für das ganze Land zu werden drohte. Be¬ trug doch die Zahl der an diesem größten Nationalfeier¬ tage der Vereinigten Staaten durch Unvorsichtig¬ keit Getöteten und Verwundeten im Jahre 1909 die kaum glaubliche Ziffer von 2405. Es ist das Verdienst insbesondere der in Chicago erscheinenden Zeitung „Tribüne“, auf diese Schäden immer wieder mit solchem Nachdrucke hingewiesen zu haben, daß sich nun endlich eine Besserung eingestellt hat. Insbesondere wurde durch das Abbrennen von Feuerwerk, durch das Lösen von Böllerschüssen, durch Frösche und andere Feuerwerkskörper und durch das Abschießen von Pistolen eine solche Fülle von Unglück angerichtet, daß z. B. im Jahre 1909 die Zahl der Toten 44, die der Verwundeten 2361 betrug. Man hat berechnet, daß innerhalb eines Jahrzehnts der 4. Juli den Vereinigten Staaten mehr Menschen gekostet habe wie der ganze Unabhängigkeitskrieg gegen England !

So haben denn verschiedene Stadtverwaltungen denn in den Städten pflegten die Unglücksfälle infolge der Zu- sammendrängung von Menschenmassen am größten zu sein das Ab brennen von Feuerwerk ganz verboten, so z. B. die Städte Atlanta, Birmingham, Cleveland, Columbus, Kansas City, Los Angeles, Minneapolis, San Francisco und Washington. Die

280

Ernst Schnitze, Ein amerikanischer Kulturfortschritt.

Folge ist nun gewesen, daß am 4. Juli 1911 in diesen Städten nicht ein einziger Todesfall infolge des Abbrennens von Feuerwerk mehr vorkam, und daß auch die Zahl der Verwundungen überaus gering geworden ist; alle diese Städte wiesen keine Verwundungen mehr auf, mit Ausnahme von San Francisco und Washington, in denen je 2 vorkamen. Unmittelbar vor dem 4. Juli hatten noch manche andere Städte ebenfalls den Beschluß gefaßt, daß kein Feuerwerk abgebrannt werden dürfe, so daß die Gesamtzahl dieser Städte 50 betrug. Man wollte eben nicht, daß das nordamerikanische Volk, um seinen größten Festtag zu feiern, eine schwere Steuer an Blut und Leben entrichten sollte.

Gewiß ist der Lärm gerade in Nordamerika nicht nur kenn¬ zeichnend, sondern fast Vorbedingung der Freude, insbesondere der Freude größerer Volksmassen. Aber man wird eben lernen müssen, die Freude auch weniger geräuschvoll auszudrücken oder sich wenigstens auf die Machtmittel der menschlichen Stimme zu beschränken, nicht aber Pistole und Feuerwerk zu Hilfe zu nehmen.

Der Erfolg der „Freiheitsbeschränkungen“, denen man sich endlich nun auch im „Lande der Freiheit“ im Interesse des Lebens und der Gesundheit seiner Mitmenschen in wachsendem Maße unter¬ worfen hat, ist ein recht günstiger gewesen. 1908 waren am 4. Juli 56 Menschen getötet worden, 1909 noch 44, 1910 nur noch 28. Die Zahl der Verwundeten, die 1909 noch 2361 ausgemacht hatten, ging 1910 auf 1785 und 1911 auf 881, also auf die Hälfte der letzteren Ziffer, den dritten Teil der ersteren zurück.

Indessen wird man sich bei diesen Erfolgen noch nicht be¬ ruhigen dürfen. Denn auch jetzt hat der Nationalfeiertag doch an Toten und Verwundeten immerhin noch 905 Menschen gekostet mehr, als in den meisten Schlachten zwischen Italienern und Türken in Tripolis verzeichnet wurden. Auch die Verluste, die durch Brandschäden infolge Unvorsichtigkeiten am 4. Juli hervor¬ gerufen werden, sind noch keineswegs stark genug eingeschränkt worden. 1909 hatte diese Verlustsumme 724515 Dollars, also fast 3 Millionen Mark betragen 1910 war sie auf 591815 Dollars gesunken 1911 machte sie noch 344 350 Dollars aus. Das sind noch immer lx/4 Millionen Mark eine Ziffer, die sich zweifellos noch wesentlich vermindern ließe. Die denkenden Leute in Amerika und die Führer der dortigen Kulturbewegung werden bei diesen Ziffern nicht stehen bleiben wollen, sondern keine Anstrengung scheuen, um eine weitere Verminderung zu erstreben, um so ihr Land von einem schweren Makel möglichst ganz zu befreien.

Der Alkohol in Krankenhäusern, Irrenanstalten

und Lungenheilstätten.

Von Dr. Geobg Liebe, Waldhof Elgershausen.

Wenn man die Verwendung des Alkohols in den im Titel genannten Anstalten untersuchen und ihre Berechtigung prüfen will, so hat man zuerst die Frage aufzustellen und zu beantworten, als was und mit welcher Absicht der Alkohol daselbst verwendet wird. Zuerst jedenfalls einer alten, noch ungebrochenen Über¬ lieferung nach als Diätetikum. Schwere Biere werden als Nahrungs¬ und Mastmittel gegeben. Dabei ist der Kalorienwert der bei ver¬ nünftigem Gebrauch in Betracht kommenden Mengen sehr gering, es sind, wie Martius sagt, unter der Schwelle der Schädigung liegende Mengen ohne Wert. Abgesehen davon, daß wir namentlich in Krankenhäusern uns bemühen müssen, die Ernährung nicht auf den mechanischen Kalorienwert aufzubauen, sondern auch ihren Energiewert in Betracht zu ziehen, ist der Alkohol überhaupt kein Nahrungsmittel. Er verbrennt im Körper, gewiß, aber wie das geschieht und mit welchem Erfolge, darüber wird noch so eifrig gestritten, daß man darauf seine Verwendung als Nahrungsmittel nicht bauen kann, und das triviale Beispiel besagt nicht zuviel : wenn man alles, was im Körper verbrennt, als Nahrungsmittel betrachten will, so ist auch Glyzerin ein solches, genau so wie dann, wenn alles, was im Ofen unter Entwicklung von Wärme verbrennt, als Heizmittel betrachtet wird, das Dynamit ein solches ist. Es gibt im Krankenhause Fälle, in denen man eine Mastkur für nötig halten kann. Aber diese kann man sicher durch andere Mittel viel besser herbeiführen, durch Mittel, die nicht zugleich Gift sind, und die nicht eine bloße Aufschwemmung wie das Bier erzeugen. Wenn wir, um das noch zu erwähnen, auch noch den

282

Georg Liebe,

Wein heranziehen, so darf man es wohl als einen ausgesprochenen Unsinn bezeichnen, diesen als „Blutwein“, d. h. als Blutbildner, zu geben. Etwa weil der Rotwein dem Blute ähnlich sieht?

Fieberkranken zur Stillung des Durstes und zur Herabsetzung der Temperatur Alkohol zu geben, ist ebenfalls nicht mehr zeit¬ gemäß. Der Alkohol setzt nach Binz die Temperatur um 0,4° herab. Die ihm deshalb zuteil gewordene Empfehlung stammt aber aus der Chininzeit. Wir haben jetzt wahrlich eine reiche Auswahl anderer Mittel, selbst wenn man das beste und unschädlichste, Aqua fontana frigida, nicht anwenden will.

Über die sonstige Verwendung des Alkohols als Arzneimittel zu sprechen, ist heutigen Tages noch nicht ganz einfach. Aber wir dürfen schon deshalb nicht so stillschweigend daran vorüber¬ gehen, weil vielfach die Grenze zwischen Diätetikum und Medikament gar nicht scharf zu ziehen ist. Es muß aber doch mit der Zeit auch in diese rein ärztliche Verwendung des Alkohols hinein¬ geleuchtet werden, nachdem es erwiesen ist, daß man große Krankenhäuser mit dem besten Erfolge alkoholfrei führen kann. Hier müssen namentlich die Krankenkassenärzte helfend zur Seite stehen. r)

Die Holitscher’sche Korrespondenz berichtete vor einiger Zeit:

„Uber Aufforderung des Vereins für freie Arzte wähl in Stuttgart hat Professor Dr. Romberg in Tübingen vor kurzem ein Gutachten über die Verordnung von Wein, Champagner und Kognak an Mit¬ glieder von Krankenkassen abgegeben, dessen hauptsächliche Ge¬ danken in folgendem wiedergegeben sind.

Es ist zu empfehlen, die genannten Getränke nur als Medikament, nie als Genuß- oder Kräftigungsmittel auf Rechnung von Kassen zu verwenden.

Bei diesem Vorgehen genügen geringe Mengen. In der Tübinger med. Klinik wurden bei 35 000 Verpflegstagen 700 Liter Wein und gar kein Champagner abgegeben. Von Kognak in 17 000 Ver¬ pflegstagen der letzten drei Monate ein halber Liter.

Zur Begründung führt Prof. R o m b e r g an, daß es den Kassen nicht zugemutet werden könne, Genußmittel, mögen sie dem Kranken auch subjektive Annehmlichkeiten bieten, zu liefern; mit dem¬ selben Rechte könnte den Kassen die Beistellung z. B. von Tabak zugemutet werden. Auch als Kräftigungsmittel können die Alko-

0 Vgl. E. Hirt, München: Alkohol und Krankenkassen. Die Alkoholfrage. 7. Jahrg., Heft 3.

Der Alkohol in Krankenhäusern, Irrenanstalten und Lungenheilstätten. 285-

holiker, da der Alkohol infolge rascher Verbrennung trotz seines Kalorienwertes wenig für den Haushalt des Organismus leiste, mit Vorteil für den Kranken durch eine passende Kostverordnnng er¬ setzt werden.“

Der Züricher Akademische Abstinenten -Verein Libertas hat ein recht brauchbares Flugblatt herausgegeben, in dem er die therapeutische Verwendung von Alkohol einer scharfen Kritik unterzieht. Für das Herz : Alkohol vermehrt nicht den Blutdruck, er erhöht nur die Pulszahl durch Erregung des Herzens, er ver¬ schlechtert seine Erholungsfähigkeit, er erhöht die innere Reibung (Viskosität) und vermehrt somit die Arbeit des Herzens, er setzt die Digitaliswirkung herab. Bei Infektion ist er eher schädlich als nützlich, was bei Pneumonie und Puerperalfieber nachgewiesen ist. Abstinenzdelirien sind nicht sicher bewiesen, sondern werden von den meisten Klinikern in Abrede gestellt. Jedenfalls bedarf die Frage der arzneilichen Verwendung noch sehr der Diskussion und Aufklärung, weil auch hier manches alte Vorurteil zu be¬ seitigen ist.

Man hält es aber auch vielfach gar nicht für erforderlich, der Alkoholdarreichung ein diätetisches oder therapeutisches Mäntelchen umzuhängen, sondern sagt ungeschminkt, daß man ihn in der auch für Kranke nötigen Geselligkeit und zum Verbessern der Stimmung,, also doch nur als Genußmittel, nicht entbehren könne. Dagegen ist zu sagen, daß dort, wo eine Menge Kranker der weniger be¬ mittelten Stände Aufnahme findet, nach meinen Erfahrungen der Alkohol zum Heben der Stimmung nicht erforderlich ist, ja, daß man sogar meist im Gegenteile stimmungsdämpfend ein wirken mußr und daß beispielsweise in den Lungenheilstätten Sonntags am Abend „aus unerklärlichen Gründen“ ein ganz anderer Lärm herrscht als Wochentags. Gebildete aber sollen ihn erst recht nicht nötig haben,, denn die Geselligkeit des Alkohols ist nach jeder Hinsicht wertlos. Man soll auch für Kranke das ethische und psychische Moment dieser Frage nie vergessen und ihnen nicht wie dem schreienden Kinde einen „geistigen Saugpfropfen“ geben. *) Es ist auch für Kranke durchaus nicht gleichgültig, wenn durch Alkohol das Urteil gelähmt und so der Leichtsinnige geradezu zu Torheiten verführt wird. Wie leicht ist es möglich, durch ein leichtfertiges Hinaus-

x) Bieling, Über die Notwendigkeit den Alkohol in ärztlich geleiteten Heilanstalten in die Apotheke zu verbannen und über die Durchführbarkeit dieser Maßregel. Zeitschr. f. Krankenpflege. Nr. 10, 1905.

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Georg Liebe,

laufen in die Kälte ohne die nötige Schutzkleidung einen Erfolg wieder einzureißen, oder wie leicht bringt auch der mäßige Alkohol¬ genuß eine bei manchen Kranken nur mühsam zurückgehaltene sexuelle Erregung in gefährlicher Weise zur Explosion. Die Kranken sollen auch frohe Tage haben, und das Bestreben des Arztes muß es sein, ihnen so oft und so gut als möglich über trübe Gedanken hinwegzuhelfen. Aber dazu bedarf es nicht des Alkohols. Man kann eine sehr fidele Bowle, ein frohes Sommerfest und eine recht lustige laute Silvesterfeier veranstalten, ohne daß in den recht wohlschmeckenden Getränken auch nur ein Tropfen des angeblich so nötigen Spiritus ist.

Ganz bedenklich, weil geradezu unmoralisch, ist es, wenn in einer dem Wolile von Kranken dienenden Anstalt Alkohol aus Gründen gegeben wird, die nicht den Wissensschätzen des Arztes, sondern teils dem Geldbeutel der einen, teils der Unkenntnis irgend¬ welcher Vorgesetzter Laien entspringt. Es wird, wie mir einmal ein gar nicht alkoholfreundlicher Arzt einer Privatanstalt sagte, zu viel am Weine verdient, als daß man ihn ohne weiteres weg¬ lassen könnte. Nun könnte man ja den unangenehmen Trinkzwang auch zum Genuß alkoholfreier Getränke ausüben. Aber es wird an diesen vielleicht nicht so viel verdient, und dann ist ja aus naheliegenden Gründen mit der prinzipiellen Verdrängung des Alkohols meist auch der Grundsatz der Freiheit in bezug auf das Trinken eingeschlossen, salus aegroti suprema lex. Man glaubt aber gar nicht, wenn in einer Heilanstalt die Leute nicht trinken müssen, wie oft sie dann das Trinken überhaupt lassen. Nun stehen wir auf dem Standpunkte, daß zum Besten des Kranken dieser Verlust getragen werden muß. Der alte Peter Reimers in „Helmut Harringa“ bringt auch ein lockendes hohes Gehalt seiner Überzeugung zum Opfer, trotzdem er dadurch vielleicht seinem Sohne manchen Zuschuß zur Ausbildung versagen muß. Es gibt freilich noch nicht allzuviel solche Männer. Aber der Arzt darf nicht Helfer des Alkoholgewerbes werden . . Die ganze Alkohol¬ frage spitzt sich immer mehr auf einen Kampf gegen die Tyrannei des Alkoholkapitals zu. Und der Arzt gehört einem freien Beruf an, der sich nur von seinem WTissen und Gewissen, aber nicht von derartigen Geldbeutelinteressen leiten lassen darf. Die Ärzteschaft steht wahrhaftig jetzt in einem harten Kampfe und muß alles ver¬ meiden, was irgendeinen Fleck auf sie spritzt. x) In einer großen

x) Um so schlimmer, daß sogar Universitätslehrer sich zu Eednern im Inter¬ esse der Brauer usw. hergeben.

Der Alkohol in Krankenhäusern, Irrenanstalten und Lungenheilstätten. 285

Lungenheilanstalt scheiterten die Versuche des äußerst tüchtigen und ehrenhaften, in der wissenschaftlichen Welt hoch angesehenen Arztes, den bis dahin üblichen Kognakverbrauch einzuschränken, an dem eisernen ^Villen der Aktionäre. In Delbrück’s Rund¬ fragen über die Irrenanstalten x) erklärte ein Arzt, daß die Vor¬ gesetzte Behörde es nicht zugelassen habe, daß er aus der Anstalt den Alkohol entferne, trotzdem er ihn für gefährlich hielt. Was hat sich der Vorgesetzte, wohl ein Jurist, der von dieser Frage anscheinend gar nichts verstand, da hinein zu mengen? Wissen¬ schaftliche Gründe waren hier sicher nicht maßgebend. Wie anders klingt es, wenn aus dem städtischen Krankenhause in Stettin eine ständige Abnahme des Alkoholverbrauchs gemeldet wird1 2) mit dem Zusatze: „Der Rückgang ist lediglich auf die zielbewußte Ver¬ ständigung zwischen der Verwaltung und den ärztlichen Direktoren zurückzuführen“. Dr. Briegleb erzählt, daß er eine verwandte Person in einer Lungenheilanstalt gehabt und besucht habe, und daß er dort selbst beobachtete, wie ein Patient eines Abends eine Kognakrechnung von 15 M. machte, und wie ein andermal die Patienten nach einem Sektgelage mit den Flaschen und dem Sekt¬ kühler Kegel spielten. Rosenfeld3) macht sehr richtig darauf aufmerksam, daß aus solchen Anstalten Frauen und Kinder, bei denen vorher an Alkoholgenuß nicht zu denken war, als ausgemachte Trinker zurückkommen.

Umgekehrt soll jede Krankenanstalt ein Vorbild sein, auch in bezug auf Lebensweise und Ernährung, was für Lungenheilstätten ganz besonders gilt. Wir werden darauf noch zurückkommen. Gerade auf dem Gebiete der Krankenanstalten spielt doch die volkswirtschaftliche Seite unserer Frage eine große Rolle. Und zwar nicht nur die unmittelbaren Kosten des gegebenen Alkohols selbst, über die noch zu sprechen sein wird, sondern auch die Kosten, die zum großen Teile durch den Alkohol für Kranken¬ häuser, Irrenanstalten, Heilstätten und hierzu zu zählende Gefäng¬ nisse, Armenanstalten, Siechen- und Arbeitshäuser entstehen.

1) Die Abstinenz in Irrenanstalten. Psychiatrisch-Neurologische Wochenschr. Nr. 50—51, Jahrg. 1905.

2) Mäßigkeitsblätter Oktober 1911.

3) Rosenfeld, Der Einfluß des Alkohols auf den Organismus. Wiesbaden 1901, S. 255.

Archiv für Soziale Hygiene. VII.

19

286

Georg Liebe,

Irrenanstalten.

**

Der Alkohol wirkt schädigend auf das Nervensystem. Diese alte Binsenwahrheit muß man hier voranstellÄ. Nach Rosen¬ feld gleichen seine Wirkungen den Bildern, die wir Tabes, Landrysche Paralyse, quere Myelitis, Paralyse u. a. nennen, ge¬ radezu „zwillingsbrüderlich“. Wir finden periphere Neuritis, Ischias, Erkrankung der Hirnnerven, besonders der Optici, alle Gruppen von Lähmungen. Der bekannte Einfluß des Alkohols auf die Tätigkeit des Gehirns, die geistige Arbeit der Kinder, Berufsarbeit der Schriftsetzer, der Maschinen Schreiber usw. kann hier nur flüchtig erwähnt werden.* 1) Betreffs der pathologisch-anatomischen Ver¬ änderungen, über die sich wohl Widerspruch bisher noch nicht erhoben hat, ist bei Rosenfeld (a. a. 0.) S. 97 101 u. 115 119 oder bei Hoppe2) nachzulesen. Über den Zusammenhang der wirklichen Geisteskrankheiten mit Alkohol 3) seien nur einige Zahlen gesagt. W right4) schiebt 75 Proz. der Dementia paraly- tica auf den Alkohol. Kraepelin5) fand bei den geisteskranken Männern, die 1893 in Herzberge aufgenommen wurden, in 70 Proz. Alkohol als Ursache. In Dalldorf waren am 1. April 1905 von 2072 Männern und 1661 Frauen 357 = 14,8 Proz. und 30 = 1,8 Proz. Alkoholisten. Und das waren nur die direkten alkoholischen Störungen, während der Alkohol noch in einer viel größeren Anzahl mitgewirkt hatte.6) Denn Sn eil sagte zur Versammlung der Irrenärzte in Hannover7) sehr richtig: „Wir müssen uns in den meisten Fällen auf die Angaben des Kreisphysikus verlassen, der das Gutachten für die Aufnahme des Kranken in die Anstalt liefert; der Kreisphysikus muß sich oft auf die Angaben der Ver¬ wandten verlassen. Nach der Meinung der Angehörigen sind nun die meisten Geisteskrankheiten durch psychische Einflüsse ver¬ ursacht, und es ist merkwürdig, wie schwere Folgen oft einem

geringen Schreck oder Arger zugeschoben werden.“ Andere Ur¬ sachen, darunter besonders der Alkoholismus, dessen man sich mit

*

1) Helenius, Die Alkoholfrage. Jena 1903, S. 185.

2) Hoppe, Die Tatsachen über den Alkohol. 3. Aufl., Berlin 1904, S. 138 ff.

3) Zahlen bei Hoppe, S. 274 ff. Auch Bär, Der Alkoholismus. Berlin 1878,. S. 362 ff.

4) Helenius, S. 187.

5) Helenius, S. 191.

6) Jahresbericht 1905/6.

7) Helenius, S. 184.

Der Alkohol in Krankenhäusern, Irrenanstalten und Lungenheilstätten. 287

eigenem schlechtem Gewissen schämt, werden verschwiegen. Dazu kommt noch die offene Frage: was ist überhaupt Alkoholismus? Wir haben in den lungenärztlichen Spezialschriften darüber eine Fehde gehabt. YVolff fand unter seinen Privatkranken 12 Proz., unter den Arbeitern (!) nur 7 Proz. solcher, die er als Alkoholisten be¬ zeichnen zu müssen glaubte, während ich selbst einen Prozentsatz von 67 herausfand. So verwunderlich das klingen mag, so habe ich doch nicht zuviel gesagt, denn eine Mittelzahl, die ich aus den Berichten von 12 Autoren und Anstalten zusammenstellte, ergab 61,84 Proz. Dabei bezeichnen wir als Alkoholisten im ärztlichen Sinne jeden, der täglich gewohnheitsmäßig Alkohol trinkt; außerdem natürlich auch die Trinker. Die Wissenschaft kennt ja auch eine große Reihe von Alkoholpsychosen,1) Dipsomanie, pathologische Rauschzustände, Delirium, akute und chronische alkoholische Verrücktheit, alkoho¬ lische Paralyse und Pseudoparalyse, Epilepsie.2) Ist hiervon das Delirium am bekanntesten, so ist vielleicht die Epilepsie am wich¬ tigsten, denn sie kommt nach neuen Anschauungen viel mehr vor, als wie sie sich durch ausgesprochene Anfälle unverhüllt zeigt. In den Londoner Irrenhäusern fanden sich im Jahre 1906/07 327 Fälle von Epilepsie. Bei diesen war in 26 Proz. Alkoholismus der Eltern, in 16 Proz. der Kranken selbst nachzuweisen. Alkoho¬ lismus tritt nun entweder zu Epilepsie hinzu die gefährlichste Verbindung in dieser Psychochemie oder er löst sie aus der vorhandenen Disposition aus. Als Bindeglied wird vielfach auch die ihm zugeschriebene Arteriosklerose betrachtet.3) Wir brauchen nur an die bei Epileptischen vorkommende Trübung des Bewußt¬ seins zu denken, die ja übrigens der Alkoholismus auch ohne Epi¬ lepsie hervorbringt, um über die Behauptung nicht zu erschrecken, daß ein großer Teil der Selbstmorde vom Alkoholismus herrührt. Im Jahre 1908 waren von 8231 in Preußen vorgekommenen Selbst¬ morden 779 = 9,5 Proz. unmittelbar unter der Wucht des Alko¬ hols geschehen, während die Zahl derer, bei denen sich der Alkoholismus in Lebensüberdruß, geistiger Umnachtung, Trauer, Reue usw. verbarg, natürlich viel höher war. Ebenso steht es mit den Verbrechen. 130 Alkoholiker in der Irrenanstalt Frankfurt a. M. hatten zusammen Hunderte von Jahren Strafen erlitten. Irrfahrten

0 Rosenfeld, S. 222 ff.

2) Vgl. Sichel, Der Alkohol als Ursache der Belastung. Neurologisches Zentralbl., Bd. 29, 1910, S. 738—740.

3) Vgl. Dr. E. Herrn. Müller, Epilepsie und Alkohol. Internationale Monatsschr., 1910, S. 358.

19*

288

Georg Liebe,

und planlose Taten, „intrapsychische Sejunktionen“, die derartige Kranke mit dem Strafrichter in Berührung bringen, ferner der Eifersuchtswahn gehören vielfach auf das Schuldkonto des Alkohols, letzterer nach Puppe’s sicher noch zu niedrig gegriffenen Zahl in 11 von 50 Fällen, also 22 Proz.

In einem Vortrage: „Pathogenese und Therapie der Epilepsie und Hysterie“1) kommt Binswanger in Jena auf diesen Zusammenhang des Alkoholismus mit der Epilepsie zu. sprechen. Der Alkoholismus ist hiernach jedenfalls ein wesent¬ licher ätiologischer Faktor der Epilepsie und kann selbst nach jahrelangem Stillstände des Leidens wieder neue Anfälle auslösen. Bei der reinen Alkoholepilepsie ist die kausale Therapie: absolute Abstinenz. Diese reine Alkoholepilepsie findet man oft schon nach kurzem Bestehen des Alkoholismus, z. B. bei Studierenden im 1. oder 2. Semester, die nachweislich vor der Studienzeit äußerst mäßig gelebt hatten. Unter der Abstinenz schwindet auch die Epilepsie, während bei der habituellen Epilepsie der Trinker die Anfälle trotz Abstinenz fortbestehen. In dieser zweiten Gruppe chronischer Trinker sind auch die durch den Alkoholmißbrauch verursachten körper¬ lichen und geistigen Verfallssymptome viel deutlicher vorhanden. Nicht selten schließen sich bei ihnen die epileptischen Anfälle an Delirium tremens an oder folgen diesem nur wenige Tage nach.

So steht es mit den Insassen der Irrenanstalten, und es fragt sich nun, darf man in Irrenanstalten den Kranken Alkohol geben ? Da ist zuerst mit ausnahmsloser Bestimmtheit zu sagen, daß Alko¬ holiker durchaus alkoholfrei gehalten werden müssen. Sie haben gegen die geringste Menge von Alkohol eine hohe Empfindlichkeit, die zu den schlimmsten Folgen führt. Holitscher berichtet in seiner Korrespondenz: „Folgende Begebenheit, die einen schlagenden Beweis dafür liefert, wie gefährlich dem gewesenen Trinker jeder Tropfen Alkohol werden kann, verdient wegen der ernsten Lehre, die sie enthält, weiteste Verbreitung. Ein früherer Trinker, der durch seine Trunksucht in die Irrenanstalt geführt worden war, wurde von Kraepelin geheilt und zum Anschlüsse an den Gut¬ templerorden bewogen. Zwei Jahre lang lebte er vollständig ab¬ stinent, war ein eifriges Mitglied der Loge, begeisterter Agitator und felsenfest überzeugt; die Ordensbrüder glaubten Häuser auf ihn bauen zu können. Eines Tages bekam er Zahnschmerzen; ein

*) Zeitschrift f. ärztl. Fortbildung 1911, Nr. 17. Nach einem Referate Ton Dr. Gutzeit-Neidenburg.

Der Alkohol in Krankenhäusern, Irrenanstalten und Lungenheilstätten. 289

guter Freund riet ihm, sich den Mund mit Kognak auszuspülen ;

er tat es, spuckte das erstemal aus, spülte nochmals und schluckte.

Dies genügte, um die Alkoholsucht in ihm zu erwecken. Er trank

mehrere Tage ununterbrochen bis zur völligen Bewußtlosigkeit,

bis er eines alten, längst geheilten Blasenleidens wegen, das durch

den Alkohol „genuß“ wieder zum Ausbruche gekommen war, ins

Krankenhaus eingeliefert wurde. Nach seiner Entlassung aus dem

Krankenhause wurde er wieder in die Loge aufgenommen und hat

sich bisher tadellos geführt ; die Brüder meinen, daß er durch diese _ *

Erfahrung endgültig geheilt sein wird. Für die Arzte möge dieser Vorfall eine Mahnung sein, den Angehörigen der geheilten Trinker mit der größtmöglichen Eindringlichkeit die Gefahr zu schildern, die jeder, auch der allergeringste Alkoholgenuß für Alkoholintole¬ rante mit sich bringen kann.“ a)

Und wie steht es mit anderen Kranken? Dietz1 2) nennt sieben Gruppen von Kranken, denen keine alkoholischen Getränke gegeben werden dürfen. Von 472 Fällen waren:

Strenge alkoholische Geistesstörungen

4

Proz.

Alkoholismus mit Geistesstörung

15

Epileptische Alkoholiker

1

Epileptiker

8

Arteriosklerotische Erkrankungen

0,5

Paralyse

3

Junge (bisher abstinente) Idioten

8

40

Proz.

Dazu kommen von den anderen Kranken schwer verblödete und im Bette behandelte 27 Proz. Also 67 Proz. oder 2/3 aller Insassen der Irrenhäuser sind nach Dietz medizinisch alkoholfrei zu behandeln. Daraus ergibt sich aber für eine gut geleitete Irrenanstalt, daß auch das letzte Drittel alkoholfrei gehalten wird. Denn nicht nur müssen oft Umquartierungen aus einer in die andere Abteilung vorgenommen werden, sondern es erregt auch den Neid und die Gier der Alkoholiker, wenn sie merken (oft schon durch das Vorfahren des Bierwagens), daß andere Kranke das so heiß ersehnte Bier bekommen. Die Sucht, endlich frei zu werden und wieder trinken zu können, wird dadurch geradezu ge-

1) Andere Fälle bei Bleuler, Der Alkohol in öffentlichen Anstalten. Verlag des Alkoholgegnerbunds, S. 1 8.

2) Dietz, Ist der Verzicht auf Alkohol als Genußmittel in der Irrenanstalt wünschenswert? Allgemeine Zeitschr. f. Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medizin, Bd. 62.

290

Georg- Liebe,

weckt. Wir müssen also mit Dietz für Irrenanstalten die Forde¬ rung aufstellen, daß gar kein Patient Alkohol bekommt und müssen

aus gleichem Grunde für die Arzte und das Personal, die immer für die Kranken als Vorbild wirken, in der Anstalt Enthaltsamkeit vom Alhohol verlangen.3)

Wie steht es nun in der Tat mit dieser Frage in den Irren¬ anstalten. Dietz teilt mit, daß in Württemberg strenge Abstinenz durchgeführt sei, ebenso in Egelfing bei München mit 1200 Betten (vielleicht durch Kraepelin’s Einfluß), in Goddelau, wo Dietz bisher war, auch auf der Männerabteilung, ebenso in Alzey, Weins¬ berg, Johannisthal-Süchteln, in Mauer-Oehling, in Valduna, in Heidel¬ berg seit 1893 ohne Schwierigkeit.* 2) In Frankfurt hält man die Alkoholiker und Epileptiker frei, in Hoch Weitzschen nur die letz¬ teren,3) in Kaiserswerth ist der Alkohol auf ein Minimum be¬ schränkt,4) Alt-Strelitz und Münsingen schränken den bisherigen Fest- Alkohol ein, Andernach hält die Männer fast, die Frauen ganz alkoholfrei. Wie Chefarzt Dr. Ernst Beyer in einem zu Bonn gehaltenen Vortrage mitteilte, ist aus der mit einem Kosten- aufwande von 1000000 M. für 145 Kranke neuerbauten ersten rheinischen Volksheilstätte für Nervenkranke in Roderbirken bei Leichlingen der Alkohol vollständig verbannt. Dr. Beyer erklärt, bisher gut damit durchgekommen zu sein. An Getränken gibt es Milch ad libitum, Kaffee, d. h. zur Hälfte Malzkaffee, ev. Kakao und im übrigen aqua pura. Auch Tee ist nicht eingeführt.5)

Delbrück verschickte 173 Fragebogen und bekam 136 Ant¬ worten. 30 antworteten mit nein, 14 mit ja, 92 gaben Alkohol in

9 Medizinalpraktikant E. Jeske hat (nach Med. Klinik 35, 1911) folgendes festgestellt :

Im Laufe des Jahres 1910 wurde in Breslau in der psychiatrischen Klinik und in der Städtischen Heilanstalt eine auffällige Abnahme der Aufnahmeziffer der Erkrankungen an Delirium tremens beobachtet. Es hat sich ergeben, daß der Sturz der Häufigkeit der alkoholistischen Geistesstörungen zeitlich zu¬ sammenfällt mit zwei für die Bekämpfung des Alkoholismus bedeutsamen Tat¬ sachen, nämlich dem sozialdemokratischen Schnapsboykott und der letzten Brannt- weinsteuergesetzgebun g.

2) Deiters, Dritter Bericht über die Fortschritte des Irrenwesens. Psychiatr.- Neurolog. Wochenschr., 1904, Nr. 36 (3. Dez.) bis 1905, Nr. 43 (21. Jan.).

3j Deiters, Der Stand des Irrenwesens innerhalb des deutschen Sprach¬ gebiets im Jahre 1900 1901. Psychiatr.-Neurolog. Wochenschr., 1902, Nr. 16 (19. VII.) bis Nr. 21 (23. VIII.).

4) Deiters, Zweiter Bericht über die Fortschritte des Irrenwesens. Psychiatr.- Neurolog. Wochenschr., 1903, Nr. 10 (6. VI.) bis Nr. 13 (27. VII.).

5) Zentralbl, f. allgem. Gesundheitspflege, 26. Jahrg., 2. Heft.

Der Alkohol in Krankenhäusern. Irrenanstalten und Lungenheilstätten. 291

Beschränkung. Also 17 Proz. der antwortenden Anstalten sind als abstinent zu bezeichnen, 2 3 deutsche haben abstinente Ärzte. Nur in Zürich und Münsterlingen sind alle Ärzte abstinent. Nur 8 haben abstinente Pfleger, nur 10 haben einen abstinenten Koch, und ganz und gar alkoholfrei von oben bis unten sind überhaupt nur 2. Dietz teilt aus Goddelau interessante Zahlen mit:

Bier Wein Mineralwasser Goldblondchen

Männer: 0 1 0,75 1 35 Fl. , 8 Fl.

Frauen: 31,8 1 2,30 1 23 Fl. 13 Fl.

Hierzu ist zu bemerken, daß, wie schon erwähnt, die Männer¬ station einen abstinenten Oberarzt hatte, die weibliche einen solchen trinkenden. Der Direktor aber enthielt sich der Entscheidung! Der Posten von 0,75 1 Wein in der Männerstation setzte sich zu¬ sammen aus einem alten nicht, mehr besserungsfähigen Pensionär und den ärztlichen Verordnungen in der Apotheke.

Noch ein paar Worte über das Ausland: Steinhof bei Wien mit 2 3000 Betten, Salzburg, Klosterneuburg sind abstinent. Eng¬ land gibt wenig, und auch dieses ist in der Abnahme begriffen. Die schon mehrfach genannte „Korrespondenz“ berichtet: „Bei einem Stande von 17 000 Pfleglingen und einem Personale von bei¬ nahe dritth alb tausend Köpfen ist der Bierverbrauch der Londoner Irrenanstalten nicht ganz 55 Hektoliter. Demgegenüber muß es wahrlich eigentümlich berühren, wenn eine einzige deutsche Irren¬ anstalt itfit einem Belage von 640 Betten und einem aus 100 Köpfen bestehenden Personale in einem Jahre nicht weniger als 650 Hekto¬ liter Bier verbraucht. Die Provinzialheilanstalt Aplerbeck in West¬ falen schreibt unter den zu liefernden Wirtschaftsbedürfnissen für das Jahr 1907/8 auch die Lieferung von 65000 Liter Bier aus, also 12 mal so viel, als die Londoner Anstalten mit 26 mal so viel Menschen brauchen.“ Aus alledem ergibt sich für uns die unbe¬ dingte Forderung: volle Abstinenz für alle Kranken der Irren-

anstalten, und ebenso für alle Arzte und das gesamte Personal wenigstens „im Dienste“, d. h. auch in den Wohnungen, soweit sie in der Anstalt liegen. Daß das praktisch beinahe völliger Ent¬ haltsamkeit gleichkommt, ist kein Fehler.1)

9 Vgl. Disput zwischen Schloß und Hoppe. Schloß, Zur Frage der Alkoholabstinenz in Irrenanstalten. Psychiatr.-Neurolog. Wochenschr., 1902, Nr. 5 (3. V.). Gegen Hoppe, ebenda 1901, Nr. 34 (16. XI.) und 1902, Nr. 52 (22. III.). Dann: Hoppe, Noch einmal die Alkoholabstinenz in Irrenanstalten, 1903, Nr. 15 (11. VII.).

292

Georg Liebe,

Lungenheilstätten.

Manches von dem über Irrenanstalten Gesagten hat auch auf die Lungenheilstätten Bezug, weshalb wir uns hier einigermaßen kürzer fassen können. Wir müssen voranstellen, daß Alkohol die Tuberkulose mit herbeiführt und zum mindesten befördert, daß er dazu disponiert, und daß ein Stoff, der diese Wirkung hat, unbe¬ dingt aus den Heilstätten entfernt werden muß. Die Tuberkulose ist eine Infektionskrankheit, d. li. sie wird erzeugt durch den Ba¬ zillus, sofern er mit der Disposition zusammentrifft. Diese Disposi¬ tion wird aber unter anderem ganz entschieden auch vom Alkohol erzeugt. Denn er macht alle Organe krank, die man braucht, um eine Infektion zu überwinden. Er verursacht Rachen- und Kehl¬ kopfkatarrh, er schädigt den Magen, ebenso die sicher giftfeindlich wirkende Leber sehr stark, das Herz in seiner Arbeit (Gefahr der Blutungen!), er schädigt das Nervensystem (die Psycho-Pathologie der Tuberkulösen unterliegt jetzt erst dem besonderen Studium). Wir wissen ferner, daß er in der feinen Konstruktion des Proto¬ plasmas Änderungen herbeiführt, daß er die phagozytären Schutz¬ kräfte schwächt. Achard und Gaillard teilten auf dem Tuber¬ kulosekongresse zu Paris mit, daß sie die Angaben von Mir coli, Servino und Ross nachgeprüft und gefunden hätten, daß mit Tuberkulose infizierte Tiere ohne Alkohol 174 Tage lebten, solche, denen man Alkohol subkutan beigebracht 63, Tage und die ihn per os bekamen 76 Tage. Laitinen teilte schon 1905 und wieder 1909 in Stockholm mit, daß durch 0,1 ccm Alkohol pro Kilo Tier die hämolytische Fähigkeit des Kaninchenblutes benachteiligt und das bakterizide Blutvermögen herabgesetzt werde. Diese Befunde wurden von Walter Kern bestätigt.1) Hunt in Washington fand, daß die Ursache der Alkoholtoleranz mancher Menschen auf erhöhter Fähigkeit beruht, ihn zu oxydieren. Damit ist aber verbunden eine erhöhte Empfindlichkeit gegen andere Gifte. Das wirft auf die Befunde von Laitinen ein helles Licht. Er teilt auch mit, daß die Menge der Ätherschwefelsäure im Urin (die ein Zeichen von hoher Darmfäulnis ist) durch Alkohol bei Mäusen von 8—9 auf 25 mg stieg. Man muß aber trotz mancher entgegenstehender Beobachtung und Behauptung der neueren Verdauungslehre immer¬ hin annehmen, daß erhöhte Darmfäulnis im Sinne einer Wider-

*) Zeitschrift für Hygiene und Infektionskrankheiten, Bd. 66, H. 3. Keferat, Münch, med. Wochenschr. 1910, Nr. 42.

Der Alkohol in Krankenhäusern, Irrenanstalten und Lungenheilstätten. 293

Standsfähigkeit des Körpers ungünstig einwirkt.1) Schließlich sei noch an die Opsonine erinnert. Immunität ist das Zusammenwirken von Blutserum und Phagocyten. Diese vernichten die Bakterien aber nur dann, wenn das Blutserum sie durch Opsonine vorbereitet. Die Zahl, die die Kraft dieser Opsonine anzeigt, ist der opsonische Index, und dieser Index wird durch Alkohol erniedrigt. Stewart fand durch 56 g Portwein den Tuberkelbazillenindex um 37 Proz. erniedrigt, den des Streptokokkus um 42 Proz., und bei der gleichen Menge Schnaps waren die Zahlen 88 und 36 Proz., und Park in- ' son fügte die Beobachtung hinzu, daß schon kleine Mengen diese Wirkung haben. Daraus erklärt sich auch die große Sterblichkeit der Alkoholberufe an Tuberkulose. Es kann indessen darauf, wie auch auf manche andere Beziehung zwischen diesen beiden Menschenfeinden hier nicht näher eingegangen werden.

Was ergeben sich daraus für die Lungenheilstätten für Folge¬ rungen? Wie schon erwähnt, die, daß der die Tuberkulose fördernde Alkohol nicht in eine gegen die Tuberkulose gerichtete Heilanstalt gehört. Dagegen wird vor allem gesagt, daß man wohl in einer geschlossenen Irrenanstalt die Kranken abstinent halten könne, daß aber die Lungenheilanstalten eine ziemliche Bewegungsfreiheit gestatten, und daß deshalb die Kranken doch Mittel und Wege finden, außerhalb der Anstalt zu trinken. Also: laissez faire, laissez boire. Das ist an sich wahr. Man könnte hier wohl ein Kapitel über Ethik, Charakterfestigkeit, Vernunft usw. des Volkes einfügen, wenn es hier an der Zeit wäre. Die Leute kommen zur Kur, d. h. um sich ihre Gesundheit und Arbeitsfähigkeit wieder zu holen. Weib und Kind befinden sich oft im Elende, wie Briefe zeigen, die an den Arzt gerichtet werden, oder die den Kranken zum Abbruche der Kur veranlassen. Und doch benutzen die meisten die Dorfkneipe, ja man merkt nicht selten, daß sie sich von der Frau ab und zu Geld schicken lassen.

Nicht in einer, sondern wohl in den meisten Anstalten werden hier und da Betrunkene erwischt. Der Sonntagabend zeigt im Ge¬ gensätze zu den anderen Wochentagen einen absonderlichen Lärm und führt bei Vermahnungen zu frechen Auftritten, so daß man da schon so viel als möglich die Ohren zustopft. Das „Die cur hic“ steht den wenigsten vor Augen. Und wenn sie fort sind, schreiben sie von der nächsten Umsteigestation eine bierselige Karte und ahnen nicht, daß sie sich damit ihrem größten Feinde wieder in

l) Siehe das Züricher Flugblatt und Kosenfei d, S. 145—149.

294

Georg Liebe,

die Arme geworfen haben. Und trotzdem ist es richtig und nötig, in der Lungenheilanstalt gar keinen Alkohol zu geben. „Das ge¬ schieht ans pädagogischen Gründen. Die Heilanstalt soll eine theoretische und praktische Schule der Gesundheitspflege sein, was man dort bekommt, soll gat sein und daher nachahmenswert. Darauf beruht ein grober Teil der Tätigkeit des Heilstättenarztes. Wir belehren unsere Kranken theoretisch, durch Vorträge, bei der Auf¬ nahme und Untersuchung, gelegentlich beim Rundgange usw. über Er¬ nährung, Kleidung, Wohnung, Körperpflege und dergl. Ich belehre sie auch über die Alkoholfrage. Wir zeigen ihnen praktisch, wie eine ge¬ sunde, einfache, bürgerliche Ernährung beschaffen ist, daß Milch ein gutes Nahrungsmittel als Beigabe zur sonstigen Kost ist. Wie man sich kleidet, wäscht, abreibt, hustet und spuckt, für Stuhlgang sorgt (ich erinnere an Dettweiler’s Beobachtungen bis ins kleinste!). Wir bringen sie in luftige und gelüftete Wohnungen, die wir im Winter nicht überhitzen, lassen diese täglich feucht wischen und sauber halten usw. Alles dieses sollen die Leute, so¬ weit möglich, später nachmachen. Auch die Beköstigung. Alles, was sie bekommen, ist gut, empfehlenswert, nachahmenswert. Hier paßt der Alkohol nicht hinein. Denn wenn er (es ist hier wohl nur von Bier die Rede) gegeben wird, so wird er eben auch als gut, empfehlenswert, nachahmenswert, als zu einer Musterernährung gehörig hingestellt, und dadurch werden die Leute angefeuert, von diesem Guten später auch wieder möglichst viel zu sich zu nehmen. Gut muß es doch sein, sonst würden wir es ja in der Anstalt nicht bekommen haben. Das ist ein einfaches logisches Argument, gegen das gar keiner angehen kann und wohl auch nicht wird. Wenn die Kranken jetzt doch noch Alkohol trinken, aus dem Schranke oder in der Kneipe, so wissen sie wenigstens: nach Ansicht unse¬ res Arztes ist das nicht gut, ja schädlich. Aber wir sind leicht¬ sinnig und tun es doch.“ x) In der Tat ist die Abstinenz in Lungenheilstätten jetzt über meine früher einzige alkoholfreie An¬ stalt Waldhof Elgershausen hinausgewachsen. Die der Landes¬ versicherungsanstalt für die Rheinprovinz gehörige Heilstätte Ronsdorf ist alkoholfrei und hat sogar ganz alkoholfreies Personal. In anderen Anstalten versuchen die auf dem gleichen Standpunkte stehenden Ärzte den Alkohol mehr und mehr herauszudrängen. Von seiten der Versicherungsanstalten wird neuerdings mit größtem

b Liebe, Der Alkohol als Heilstättenstreitfrage. Mediz. Reform 1906, Nr. 49. Liebe, Alkohol und Tuberkulose. Zentralbl. f . allgem. Gesundheitspflege, 30. Jahrg.

Der Alkohol in Krankenhäusern, Irrenanstalten und Lungenheilstätten. 295

Verständnisse dieser scharfe alkoliolfeindliclie Standpunkt mehr und mehr eingenommen, die Namen der Landesräte S ch eil m ann in Düsseldorf, Hansen in Kiel, Kraß in Münster und des Ge¬ heimrat Dietz in Darmstadt sind jedem auf dem Gebiete Ar¬ beitenden bekannt. Andere Versicherungsanstalten dulden die Alkoholfreiheit, wenn auch von mancher Seite noch eine Reihe von Bedenken dagegen erhoben werden. Von einer allgemeinen Einführung in Lungenheilstätten oder gar in privaten Lungenheil¬ anstalten und Sanatorien kann noch gar nicht die Rede sein.

Und doch ist auch hier die scharfe Forderung nach Freiheit dieser Krankenanstalten vom Alkohol zu stellen, und es ist auch vom Arzte aus vorbildlichen Gründen die Enthaltsamkeit zu wünschen. Jedenfalls sollen Arzt und Personal dort sich alkohol¬ frei halten, wo sie mit den Kranken zusammen sind, selbst bei Festen und auf Ausflügen. Meine streng durchgeführte Abstinenz ist immer wirksamer gewesen als Vorträge und Belehrungen. Ich darf auf Briefe von früheren Patienten verweisen, von denen ich eine Anzahl veröffentlicht habe. x) Jetzt müssen wir noch immer auf das vorbildliche Ausland sehen, die Schweiz, Schweden-Norwegen, Dänemark, auch die Anstalt von Trudeau in Amerika ist alkoholfrei.

Krankenhäuser.

Auch aus diesem Abschnitte mußte notgedrungen schon manches im vorigen vorausgenommen werden. Ich wiederhole ganz allgemein : Alkohol macht krank; alle Organe leiden unter ihm. Denken wir beispielsweise an das vorhin nicht erwähnte und für die Verdauung so ungemein wichtige Pankreas. Im Jahre 1904 litt im Charlotten¬ burger Krankenhause auf der Station von Prof. Grawitz jeder dritte Mann über 30 Jahren an den Folgen des Alkohols. Fern et führte in den Pariser Krankenhäusern 1/3 aller Todesfälle auf den Alkohol zurück und zwar 1I10 auf ihn als einzige Ursache, 2/30 als Nebenursache. 2) Betreffs weiterer Zahlen kann man auf sämtliche bekannte Werke über den Alkoholismus verweisen. Und da diese Voraussetzung feststeht, so ergibt sich auch hier unweigerlich die Forderung: heraus mit dem Alkohol aus den Krankenhäusern. Auf diesem Gebiete ist uns England in musterhafter Weise vorangegangen. „Aus sieben großen Londoner Krankenhäusern (St. Bartholomew’s,

1) Liebe, Alkohol und Tuberkulose. Brauer’s Beiträge, V. Bd., H

2) Münch, med. Wochenschr. 1903, Nr. 4, S. 204

296

Georg Liebe,

Guy’s, Middleser, St. George’s, St. Mary’s, University College, West- minster) liegen die Ausgaben für geistige Getränke und für Milch in den Jahren 1862 1902 vor. Diese betrugen:

Ausgabe für geistige

Ausgabe

Jahr

Bettenzahl

Getränke

für Milch

£

£

1862

2254

7712

3026

1872

2361

7974

4237

1882

2354

5090

7795

1892

2275

3740

7362

1902

2300

2925

9035

Unter diesen Ausgaben sind die für Kranke und Personal ver¬ standen; sie beleuchten besser als dicke Bücher den Wechsel in den Anschauungen der englischen Ärzte über den Wert des Alkohols als Heilmittel.“ x)

Wenn wir die Zahlen in Mark umrechnen und den Verbrauch im Jahre 1862 und 1902 vergleichen (154 240 M. und 58500 M.), so ergibt sich im letzteren Jahre ein Gewinn von 95 740 M. Milch kostete 1862 60520 M., 1902 180700 M. Trotz dieser Verdreifachung des Milchverbrauchs aber ist gegen 1862 doch noch ein Gewinn von 24440 M. festzustellen. Dagegen haben Ungarns Kranken¬ häuser im Jahre 1905 323333,81 K für Alkohol ausgegeben. In der Schärr’schen Zeitschrift „Mehr Licht“2) wird folgendes mit¬ geteilt. „Dem soeben erschienenen Verwaltungsberichte des Bürger¬ spitals Basel pro 1908 entnehmen wir, daß die Verabfolgung von alkoholischen Getränken, speziell Wein und Bier, an Patienten und Dienstpersonal immer noch nicht im Abnehmen begriifen ist, trotz¬ dem andererseits die medizinische Wissenschaft sich größtenteils nicht nur gegen den Mißbrauch, sondern auch gegen den Gebrauch der geistigen Getränke als Genußmittel ausgesprochen hat. Es sind verausgabt worden:

1907

1908

Für Fleisch

132 149,26

140 792,75

Eier, Butter, Käse

35 996,01

35 974,84

Brot und Weggli

36 920,11

41 213,56

Mehlwaren, Kartoffeln, Gemüse

39 341,00

33 024,73

Milch

81 868,66

87 175,60

Wein und Bier

32 841,08

35 619,00

Zucker, Kaffee, Spezereien

14 088,77

15 523,26

1) Holey and Stnrge, Alcohol and the human body, p. 6.

2) 1911, H. 3, 3. März.

Der Alkohol in Krankenhäusern, Irrenanstalten und Lungenheilstätten. 297

Solche Zahlen scheinen den Schlüssel zu dem Geheimnisse zu bilden, weshalb ein so großer Prozentsatz Bückfälliger sich auf ärztliche Verordnungen, Alkohol genießen zu müssen, stützt, um das Nichthalten der Abstinenzverpflichtung einigermaßen entschuldigen zu können. Sie sind aber auch ein Grund, der die Arbeit der Trinkerrettung zu einer sehr schwierigen gestaltet und damit der Verbreitung der Enthaltsamkeitssache nicht jene Wege ebnet, die ihr auf Grund ihrer gesundheitlichen und ethischen Bedeutung zu wünschen wäre.“

Dietz berichtet a. a. 0. aus seiner Männerabteilung, daß im Jahre 1903 täglich ausgegeben wurden an Bier 27,20 M., Wein 2,28 M., Milch 14,40 M. Im Jahre 1905 Bier 5,60 M. (für das Personal) Wein 0, Milch 21,60 M. Es ergab sich also für das Jahr trotz des Mehrverbrauchs an Milch ein Gewinn von 5978,70 M. und das Sonntagsbier dazu gerechnet mit 1164,80 M. ein solcher von 7143,50 M. Da auf der Weiberabteilung noch 2900 M. ver¬ braucht wurden, würde die Beseitigung des Alkohols in dieser einen Irrenanstalt 10000 M., bei 20 Anstalten also 200000 M. aus¬ machen.

Es ist für diesen Fall als ganz günstig zu betrachten, daß in diese Verhältnisse hier und da die Krankenkassen gewichtig hinein¬ reden dürfen. Die Korrespondenz von Hol it scher schreibt: „In einer ,Die x4ufgaben der Krankenkassen im Kampfe gegen den Alkoholismus* betitelten Schrift bespricht Dr. med. Hugo Deutsch in Brünn sehr ausführlich einerseits die große Belastung der Krankenkassen durch den Alkoholgenuß ihrer Mitglieder, anderer¬ seits alle schon zur Anwendung gekommenen oder empfehlenswerten Vorbeugungsmaßregeln der Kassen gegen die ihre Mittel so sehr in Anspruch nehmende Trinksitte. Er kommt zu dem Ergebnisse, daß ca. 20 Proz. aller Krankheitsfälle der Kassenmitglieder direkt oder indirekt dem Alkohol zur Last zu legen sind, ein Fünftel, d. i. etwas mehr als durch Tuberkulose erkranken, bedeutend mehr als durch Unfälle arbeitsunfähig werden (14,9 Proz.). Unter den vor¬ beugenden Maßregeln bespricht der Verfasser nicht nur die Auf¬ klärungsarbeit durch Flugschriften, Vorträge, Plakate, Merkblätter u. dgl., sondern auch die Aufgabe, die den Kassenbeamten und vor allem den Kassenärzten zufällt, die Verordnung von geistigen Ge¬ tränken auf Kassenkosten, die Förderung des Genusses alkohol¬ freier Getränke, die Bevorzugung abstinenter Mitglieder, die Be¬ handlung Alkoholkranker, die Errichtung von Fürsorgestellen usw. Er kommt zu dem Schlüsse, daß die Krankenkassen durch ihre

298

Georg’ Liebe,

Tätigkeit in dieser Hinsicht viel zur Hebung der Arbeiterschaft in hygienischer, sozialer und geistiger Beziehung beitragen könnten.“ Sagt man hiergegen, das sei nur Österreich, so kann sofort auch etwas aus Deutschland angeführt werden. In dem Geschäfts¬ berichte der Ortskrankenkasse für den Gewerbebetrieb der Kauf¬ leute, Handelsleute und Apotheker zu Berlin für das Jahr 1908 heißt es auf Seite 8: „Die Zahlen der Krankheitsursachen lassen ersehen, wTelch bedeutende Kolle die bekannten Volksseuchen für die Krankenkassen spielen. Wenn dabei der Alkoholismus eine verhältnismäßig geringfügige Kolle spielt, so müssen wir immer wieder darauf verweisen, dass es vorerst, wenn der Kranke nicht selbst mitteilsam ist, noch außerordentlich schwer ist, den Alkohol¬ genuß als Krankheitsursache festzustellen; zweifellos ist es aber trotzdem, daß eine große Zahl von Magen- und Darmkrankheiten wie von Nervenleiden auf den Genuß von alkoholhaltigen Getränken zurückzuführen ist.“ Bei der am 24. Februar v. .1. abgehaltenen Generalversammlung der Krankenkasse „Germania“ in Hamburg besprach der Hauptkassierer Herr August Wessel die Alkohol¬ frage und meinte: „Im Interesse der Krankenkassen sollten die

Arzte angewiesen werden, sich des Alkohols zu enthalten, damit sie besser imstande wären, die Krankheiten festzustellen und im Umgänge mit den Kassenpatienten den Alkoholgenuß eher bemerken und ihn nach Kräften zu inhibieren suchen, denn der Alkoholgenuß verursacht und verlängert jegliche Kranhheit. Auch die Angestellten der Krankenkassen, besonders aber die Krankenkassenkontrolleure, sollen sich des Alkoholgenusses enthalten, um bei Patienten etwaigen Alkoholgenuß zu bemerken und Maßnahmen zu treffen.“ *) Wenn es erst einmal an den Geldbeutel geht, so macht doch mancher die Augen auf, der sich sonst für diese Frage nicht interessiert hätte. Und es geht, es geht in allen Krankenhäusern. Lassen wir uns aus London und Amerika folgendes mitteilen: „Das London Temperance Hospital, das im Jahre 1873 eröffnet worden ist, soll demnächst durch einen auf 25000 £ veranschlagten Zubau be¬ deutend erweitert werden. Seit der Eröffnung wurden 28538 Patienten in dem 100 Betten fassenden Krankenhause verpflegt. Von diesen haben nur 81 Alkohol bekommen. Über diese Fälle wurden genaue Protokolle in den Jahresberichten veröffentlicht. Die Sterb¬ lichkeit im London Temperance Hospital betrug 7,6 Proz., und das Spital steht damit in der ersten Reihe unter den Londoner Kranken-

9 Hamburger Ärztekorrespondenz, Nr. 10, S. 96.

Der Alkohol in Krankenhäusern, Irrenanstalten und Lungenheilstätten. 299

häusern. Das New-Yorker Rote-Kreuz-Hospital , im Jahre 1895 von einer Deutschen, Frl. Bettine Hof fke seit 1897 Frau Monae-Lesser gegründet, im Jahre 1907 ein neues, nach den neuesten Grundsätzen modernen Spitalwesens erbautes Heim er¬ halten. Den Baugrund hat Herr Ward well, Schatzmeister der Standard Oil Company, geschenkt und im Schenkungsbriefe die Bedingung gestellt, daß, soweit durchführbar, Alkohol weder als Medikament noch als Nahrungsmittel verwendet werden dürfe, daß bei gleicher Qualifikation bei der Auswahl von Ärzten für das Hospital solche, die sich des Alkohols enthalten, den Vorzug er¬ halten und nur solche für leitende Posten wählbar sein sollen. In einem Schreiben an die Direktoren des New-Yorker Roten-Kreuz- Hospitales begründet er diese Forderung auf folgende Weise: ,Seit mehreren Jahren Mitglied des Kollegiums der Direktoren des New-Yorker Roten-Kreuz-Hospitales habe ich Gelegenheit gehabt, wahrzunehmen, daß die günstigen Resultate in dem Hospitale bei Behandlung der Krankheiten den streng wissenschaftlichen Methoden der Ärzte zuzuschreiben waren. Diese günstigen Erfolge sind er¬ reicht worden, während Alkohol vom innerlichen Gebrauche aus¬ geschlossen war. Der Ausschluß von Alkohol beruht nicht auf moralischen Gründen, sondern stützt sich einzig auf wissenschaft¬ liche Beobachtungen und Erfahrungen; es wurde festgestellt, daß Alkohol nicht nur unnötig, sondern daß er nachteilig auf den menschlichen Organismus wirkt. Die Erfahrungen in diesen Be¬ ziehungen, die in dem Spitale gemacht wurden, haben die Ansichten hervorragender Physiologen und Männer von hoher wissenschaft¬ licher Bedeutung in Amerika sowohl als auch in Europa bestätigt. Überzeugt von der Wichtigkeit der Behandlung ohne Alkohol, wünsche ich, soweit es in meinen Kräften steht, diese zu befürworten, damit sie mehr und mehr Anerkennung findet/ Tat¬ sächlich schreibt der erste Paragraph der für Behandlung der Kranken im Roten-Kreuz-Hospital festgesetzten Normen alkohol¬ freie Medikation und Diät vor. Daß die Erfolge bei dieser Methode günstig sind, geht daraus hervor, daß die ersten 100 Operationen in serösen Höhlen (Gelenke, Brust, Bauch, Schädelhöhle) ohne Todes¬ fall verliefen. Unter 256 im ersten Jahre behandelten internen Fällen (das Hospital hat 60 Betten) waren 5 Sterbefälle und diese betrafen Patienten, die im letzten Stadium chronische Nephritis, Karzinom, Meningitis sich befanden, als sie aufgenommen wurden.“ Und was in England und Amerika möglich ist, nicht nur not¬ dürftig, sondern glänzend zum Heile der Kranken, muß bei uns

300 Georg1 Liebe, Der Alkohol in Krankenhäusern, Irrenanstalten usw.

auch gehen.1) Wir lassen uns nicht mehr mit leeren Redensarten das Gegenteil vorspiegeln, sondern wir, die wir die Gefährlichkeit des Feindes erkannt haben, fordern, daß der Alkohol aus allen Krankenhäusern entfernt werde. Und dabei dürfen wir eins nicht vergessen: auch aus der Küche. Die Krankenküche liegt noch sehr im argen. Noch findet sich fast in allen diätetischen Koch¬ büchern Alkohol in allen Formen. Und dabei ist die feinste und beste Küche ohne Alkohol möglich. Gerade beim Kochen spricht ja ganz und gar nichts dagegen, alkoholfreie Säfte zu verwenden. Der Geschmack ist mindestens ebenso gut, und eine Narkose will doch gewiß niemand mit Weinsuppen, Cremes usw. bezwecken.

Es ist ja noch gewaltig viel Arbeit zu leisten, und man darf vielleicht nach dieser Hinsicht manche Hoffnung auf die Fürsorge¬ anstalten setzen. Aber es würde sich empfehlen, hier nicht so getrennt zu marschieren, hier eine Fürsorgestelle für Tuberkulose, dort eine solche für Trinker usw. zu errichten. Ja, ich meine sogar, eine Fürsorgestelle für das Volk müßte sich mit dem, was sich jetzt schon an ähnlichen Stätten, pädagogischen und wirt¬ schaftlichen Auskunftsstellen (vgl. Arbeitersekretariate) vorfindet, vereinigen lassen. Es gehört dazu freilich ein gut Teil Idealismus, weshalb wir diese Ausführungen auch mit den Worten eines Idealisten schließen wollen: „Alle, alle wollten Hilfe, der Rat, jener Liebe, dieser Brot, jener Arbeit, einer sein Recht, ein anderer Aufklärung oder einen handfesten Rippenstoß in die Seele, daß er aufwachte. Und ich gab, was ich hatte, und was ich wußte.“2)

1) Die Zahl der Krankenhäuser und Heilanstalten, die zu alkoholfreier Ver¬ pflegung übergehen, ist in erfreulicher Zunahme begriffen. Die Bonner Provinzial- Heil- und Pflegeanstalt (Prof. Dr. Westphal) hat die Gewährung von Bier an ihre Kranken seit einigen Jahren eingestellt. Nur die mit landwirtschaftlichen Arbeiten beschäftigten Insassen erhalten solche in kleinsten Mengen. Die Dr. Hertzsche Privat-Heil- und Pflegeanstalt (Prof. Dr. Thomsen) in Bonn, die früher beim Frühstück und Abendessen ein Glas Wein reichte, hat dieses Getränk gestrichen. (Hygienische Kundschau 1911, Nr. 17.)

2) Bonne, Im Kampfe um die Ideale. München 1910.

Der Frauenüberschuß.

Eine sozial hygienische Studie.

Von Dr. med. Alfons Fischer (Karlsruhe).

Wenn man die Bevölkerungsstatistiken, die sich auf das Deutsche Reich beziehen, betrachtet, so fällt die eigentümliche Tat¬ sache auf, daß, obwohl alljährlich auch bei uns beträchtlich mehr Knaben als Mädchen geboren werden, dennoch sehr viel mehr Per¬ sonen weiblichen als männlichen Geschlechtes bei den Volkszäh¬ lungen festgestellt werden. Man hat sich mit dieser Erscheinung bisher nur sehr wenig beschäftigt, offenbar weil man meinte, sie sehr leicht erklären zu können; man sab, daß im ersten Lebens¬ jahre bereits die Knaben eine viel stärkere Sterblichkeit aufweisen als die Mädchen, und daß dann die Berufsarbeit in weit größerem Umfange zu Gesundheitsschädigungen bei den Männern als bei dem weiblichen Geschlechte führt; es schien mithin ganz selbstver¬ ständlich zu sein, daß mehr Frauen Zurückbleiben und so den Frauenüberschuß erzeugen.

Gegen diese Schlußfolgerungen und Erklärungen wird man jedoch Bedenken hegen, wenn man die statistischen Verhältnisse sowohl innerhalb der einzelnen deutschen Bundesstaaten als auch in den ausländischen Staaten eingehender betrachtet und Vergleiche zwischen den gegenwärtigen und vergangenen Zuständen anstellt. Indessen die Probleme, wie der Frauenüberschuß entstanden ist, warum er zu- oder abnimmt, weichesozialhygienisch eBe- d e u t u n g dem Vorhandensein des Frauenüberschusses und dann wieder seinem Sinken zuzuschreiben ist, sind bisher viel zu wenig untersucht worden. Denn abgesehen von den jetzt als veraltet anzusehenden Darlegungen der Statistiker

Archiv für Soziale Hygiene. VII. 20

302 Alfons Fischer,

ans früheren Zeiten schon Süß milch hatte sich mit diesen: Problemen, allerdings in einer teleologischen Art, befaßt , haben nur Bücher (siehe: Allgemeines Statistisches Archiv 1892) und dann Friedrich N aumann („Hilfe“ 1910 Nr. 34) der Frage des Frauenüberschusses besondere Betrachtungen gewidmet; sonst haben die Bevölkerungsstatistiker nur gelegentlich in ihren Lehrbüchern,, z. B. G. v. Mayr in seiner „Statistik und Gesellschaftslehre“' (Bd. II, Freiburg 1897) und J. Conrad in seinem „Grundriß der politischen Ökonomie“ (Vierter Teil; dritte Auflage, Jena 1910),. unser Problem berührt. Aber das Material, auf das sich Bücher vor 20 Jahren stützen konnte, liegt schon zu weit zurück, und die Naumann’schen Ausführungen über diese Probleme sind nicht eingehend genug, wiewohl sein Artikel sehr wertvolle Anregungen enthält. So dürfte es wohl von Nutzen sein, sich einmal an¬ der Hand der neuesten amtlichen Statistiken ein Urteil über den Umfang des Frauenüberschusses zu bilden, zu untersuchen, in welchen Gebieten er vorhanden ist und in welchen er fehlt, zu erörtern, wie er entstanden ist, und warum er jetzt in Deutschland sinkt; vor allem aber wollen wir prüfen, was er für die Volks¬ gesundheit bedeutet und wie seine Abnahme zu bewerten ist, und schließlich ob, bezw. welche Maßnahmen gegen dieses Sinken erforderlich erscheinen.

Betrachten wir zunächst unsere Tabelle1) 1; wir erkennen so¬ gleich, daß im Deutschen Reich bei der Volkszählung im Jahre 1910 rund 837 000 weibliche Personen mehr als männliche festgestellt wurden; wir sehen jedoch ferner, daß nicht in allen Landesgebieten die Frauen überwiegen; in den preußischen Provinzen Schleswig- Holstein, Hannover, Westfalen, Rheinland, ferner im Großherzogtum Mecklenburg-Strelitz, Oldenburg, auch im Fürstentum Schaumburg- Lippe, vor allem aber in Elsaß-Lothringen ist das männliche Ge¬ schlecht zahlreicher vertreten.

Die Tabelle2) 2 belehrt uns weiter darüber, daß der Frauen¬ überschuß bereits bei der Reichsgründung vorhanden war, daß er dann bis zum Jahre 1885 (bei steigender Einwohnerzahl) gewachsen, daß er aber von da ab bis jetzt, der absoluten Zahl nach, ununter¬ brochen gesunken ist, obwohl auch seit 1885 die Bevölkerung sehr stark nämlich von 41,0 bis 64,9 Millionen zugenommen hat.

0 Vierteljahrshefte zur Statistik des Deutschen Eeiches. 1911, I.

2) Berechnet und zusammengestellt nach den Angaben des „Statistischen. Handbuches für das Deutsche Beich“. Berlin 1907, Carl Heymann’s Verlag.

Der Frauenüberschuß.

303

Tabelle 1.

Ortsanwesende Bevölkerung

Staaten und Landesteile

am 1. Dezember 1910 (vorläufiges Ergebnis)

Provinz Ostpreußen .

Westpreußen .

Stadt Berlin .

Provinz Brandenburg .

Pommern .

Posen .

Schlesien .

Sachsen .

Schleswig- Holstein . .

Hannover. . . . . . .

Westfalen .

Hessen-Nassau .

Rheinland .

Hohenzollern . . .

Königreich Preußen .

Bayern rechts des Rheins .

Bayern links des Rheins (Pfalz) . . .

Königreich Bayern .

Sachsen . .

Württemberg .

Großherzogtum Baden .

Hessen .

Mecklenburg-Schwerin

Sachsen .

Mecklenburg-Strelitz .

Oldenburg .

Herzogtum Braunschweig .

Sachsen-Meiningen . . .

Sachsen-Altenburg . . .

Sachsen-Coburg-Gotha . .

Anhalt .

Fürstentum Schwarzburg-Sondershausen Schwarzburg-Rudolstadt .

Waldeck .

Reuß älterer Linie . . .

Reuß jüngerer Linie . .

Schaumburg-Lippe . . .

Lippe .

Freie und Hansestadt Lübeck . . .

Freie Hansestadt Bremen .

Freie und Hansestadt Hamburg. . .

Reichsland Elsaß-Lothringen Deutsches Reich .

männlich

1 003 379 837 338 994 086

1 992 844 843 981

1010 873

2 513 001 1519 005

830 045 1 482 976 2 116 216

1 084 784

3 584 899

34 461 19 847 888

2 912 099 463 130

3 375 229 2 322 185 1 191 383 1 059 137

639 214 317 884 204 409 53 523 243 825 242 739 136 687 106 385 125 353 161 171 44194 49 350 30 541 34 695 74 264 23 396 73 230 56 888 148 419 505 935 964 043 82 031 967

weiblich

1060 989 865 704

1 076 609

2 100 163 872 500

1 089 171

2 713 310 1 569 773

789 628

1 459 570

2 009 688 1 136 172

3 535 620

36 548 20 315 445

3 028 828 472 440 3 501 268 2 480 300 1 244 228 1 082 695 643 005 321995 212 757 52 824 238 605 251 648 142 105 109 928 131 855 169 876 45 790 51 362 31 182

37 921 78 501 23 254 77 519 59 645

150 317 509 772 907 659 32 871 456

20*

304

Alfons Fischer,

Tabelle 2.

Der Frauenüberschuß betrug’:

754 824 863 195 988 396 966 806 957 401 892 684 871 916 839 489

Auch in den meisten anderen europäischen Staaten1) finden wir einen Frauenüberschuß, so in Österreich, Ungarn, Rußland, Italien, Spanien, Portugal, Schweiz, Frankreich, Belgien, Nieder¬ lande, Dänemark, Großbritannien, Norwegen, Schweden; dagegen wurden mehr Männer als Frauen festgestellt in Serbien, Rumänien, Bulgarien, Griechenland und Luxemburg. Die großen, in kultureller Hinsicht am meisten fortgeschrittenen Länder Europas zeigen also ein Überwiegen der Frauen.

Anders ist das Bild in den Kulturstaaten außerhalb Europas. Die Vereinigten Staaten besaßen (nach der Zählung vom Jahre 1900) 38968 689 männliche und 37 243479 weibliche Personen. Ferner weisen Kuba, Kanada, Brasilien einen Männerüberschuß auf. In Ägypten kommen auf 5667 074 Männer nur 5620285 Frauen, in Transvaal überwiegen die Männer um rund 126000 Personen. In Britisch - Indien beläuft sich der Männerüberschuß auf 4x/2 Millionen. In Japan zählte man (im Jahre 1908) 26 254925 Männer und nur 25486 928 Frauen. Ebenso sind in den britischen Besitzungen in Australien sowie in Neuseeland die Frauen in der Minderheit.

Ungemein wichtig für unseren Gegenstand ist die in Tabelle 3 wiedergegebene Übersicht, die wir dem französischen Jahrbuch2) der Statistik entnehmen. Hier finden wir Angaben über das Zahlenverhältnis der beiden Geschlechter in den europäischen und einigen außereuropäischen Staaten, wobei die Personen in drei Altersklassen geteilt sind. Auf diese Tabelle werden wir unten noch zu sprechen kommen. Hier sei jedoch schon darauf hinge¬ wiesen, daß (von geringfügigen Abweichungen abgesehen) in den¬ jenigen Ländern, in denen ein Männerüberschuß vorhanden ist, also in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, in Australien und Neuseeland, sowie in Japan, ferner in Griechenland, Bulgarien

Im Jahre 1871

* 1880

1885

* 1890

1895

1900

* 1905

1910

9 Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich. 1911 bzw. 1910.

2) Annuaire Statistique de la France. Paris 1910, p. 159*.

Der Frauenüberschuß.

305

und Serbien, das männliche Geschlecht zumeist in allen drei Altersklassen überwiegt; von Elsaß-Lothringen wird noch besonders zu reden sein; in den anderen Staaten, in denen, wie schon hervor¬ gehoben wurde, mehr Frauen als Männer gezählt wurden, trifft man aber dennoch in der Altersklasse von 0 bis 19 Jahren das männliche Geschlecht im allgemeinen in der Mehrzahl. Wie kommt nun der Frauenüberschuß zustande, und aus welchen Gründen fehlt er in manchen Staaten? (Tabelle 3 siehe S. 306 u. 307.)

Das Naturgemäße wäre offenbar, daß in allen Ländern ein Männerüberschuß vorhanden ist; denn in allen Staaten werden mehr Knaben als Mädchen geboren, was offenbar auf einem, uns vorläufig allerdings völlig unerklärbaren Naturgesetz l) beruht. Wie allgemein in ganz Europa diese Erscheinung sich darbietet, ersieht man aus folgender Zusammenstellung : 2)

Tabelle 4.

Auf 100 Mädchen kommen Knaben:

Deutsches Reich

1872-80

106,3

Österreich

1871-80

106,7

Ungarn

1876-80

105,4

Schweiz

1871-80

106,3

Italien

1872—80

107,1

Spanien

1861—70

106,8

Frankreich

1872-80

106,2

Belgien

1871-80

105,8

Niederlande

1871-80

106,3

Dänemark

1871-80

105.8

Schweden

1871—80

106,0

Norwegen

1871-80

106,1

Finnland

1878-80

106,4

Rumänien

1871-80

110,9

x) Mit Recht betont Gottstein (Zeitschr. f. soziale Efygiene, Bd. II), daß die Erscheinung des Knabenüberschusses auf einem durch die Statistik erkannten Naturgesetz beruht. Es sei hierbei aber auf eine ungemein interessante Arbeit (Statistique demographique des grandes Villes du monde. Premiere partie. Amster¬ dam 1911) des Amsterdamer Statistischen Amtes verwiesen; dies hat kürzlich eine Übersicht über die Bevölkernngsvorgänge in allen europäischen Großstädten für jedes der Jahre in der Epoche 1880 1900 geboten. In keiner der Weltstädte, wo es sich also um sehr große Ziffern handelt, wurde jemals ein Mädchenüberschuß bei den Neugeborenen festgestellt; wohl aber finden sich bei einigen Großstädten mit einer weniger hohen Einwohnerziffer vorüb er gebend Ausnahmen vor; in Karlsruhe z. B. kamen einmal auf 100 Knaben 107,8 Mädchen. Ohne Zweifel handelt es sich hierbei um Zufälle, wie man sie oft bei kleinem Zahlenstoff antrifft. ' Aber eine Erscheinung dürfte doch wohl als eine Aus¬ nahme von dem erwähnten Naturgesetz zn betrachten sein; in Neapel wurden nämlich innerhalb von 26 Jahren in 24 Jahren stets mehr Mädchen als Knaben geboren; hier kann also wohl von Zufall keine Rede mehr sein.

2) Entnommen aus Prinzing: „Medizinische Statistik“. Jena 1906.

306

Alfons Fischer,

Tabelle 3.

/

Population par sexe et par äge des principaux Etats

Pays

Date

0 a 1

masculin

9 ans

feminin

20 ä

masculin

59 ans

feminin

Angieterre et Pays de Galles .

1 avril 1901

6 872 846

6 919 036

7 784 248

8 543 287

Ecasse .... ....

31 mars 1901

986 315

964 822

1 043 765

1 135 135

Irl an de .

idem

922 492

903 497

1 037 347

1 107 363

Boyaume-Uni .

1901

8 781 653

8 787 355

9 865 360

10 785 785

Dänemark .

1 fevr. 1901

537 003

529 206

543 445

592 951

Norvege .

3 dec. 1900

506 105

492 843

447 651

529 863

Suede . ,

31 dec. 1900

1 093 644

1 057 876

1 138 756

1 234 055

Finlande .

idem

605 011

595 157

637 978

651 761

Rnssie d’Europe .

9 fevr. 1897

22 436 272

23 031032

20 172 964

21 238 805

Autriche .

31 dec. 1900

5 718 817

5 773 010

6 145 799

6 389 283

Hongrie .

idem

4 379 925

4 412 923

4 482 786

4 516 730

Autriche-Hongrie .

idem

10 098 742

10 185 933

10 628 585

10 906 013

Suisse .

idem

674 081

669 869

812 089

851 837

Empire allemand .

1 dec,. 1900

12 496 839

12 437 182

13 258 020

13 778 270

Prusse .

idem

7 795 091

7 713 314

8002 603

8 352 606

Ba viere .

idem

1 318 277

1 334 580

1 463 633

1 527 311

Saxe .

idem

921563

943 247

1 002 868

1 054 400

Wnrtemberg .

idem

464 756

472 318

498 606

539 005

Bade .

idem

399 804

395 782

455 108

462 173

Alsace-Lorraine ....

idem

343 351

388 388

463 847

413 289

Pays-Bas .......

31 dec. 1899

1 138 897

1 124 903

1 161614

1 206 653

Luxembourg ....

1 dec. 1900

49 689

48 050

61 185

55 002

Belgique .

31 dec. 1900

1 389 301

1 377 976

1 639 116

1 653 156

France ....

24 mars 1901

6 639 510

6 642 345

10 009 334

10 274 190

Portugal .

1 dec. 1900

1 179 860

1 163 544

1 179 054

1370 981

Espagne .

31 dec. 1900

3 898 901

3 803 342

4 388 420

4 755 211

Italie .

9 fevr. 1901

7 443 015

7 292 297

7 174 387

7 447 430

Grece .

27 oct. 1907

Bulgarie .

31 dec. 1900

969 611

945 565

773 132

741 407

Serbie .

idem

679 833

659 591

541 398

502 512

Ptoumaine .

dec. 1899

1 484 410

1 492 457

1 457 686

1 387 187

Etats-Uni ....

1 juin 1900

16 946 50016 734 574

19 269 940

17 971 116

Australie et Nouvelle Zelande .

31 mars 1901

1 031 733

1 012 714

1 178 963

1 023 215

Japon .

31 dec. 1903

10 095 400

9 835 472

11 702 505

11252 165

Der Frauenüberschuß.

307

de l’Europe d’apres les recensements effeetues yers 1900.

60 ans

et plus

Chiffres proportionnels par 3000 habitants

ropuiation totale

0 ä 19 ans

20 a 59 ans

60 ans et plus

masculin

feminin

masculin

feminin

ensemble

masc.

fern.

masc.

fern.

masc.

fern.

1 071 519

1336 907

15 728 613 16 799 230

32 527 843

211

213

239

263

33

41

143 675

198 391

2 173 755

2 298 348

4 472 103

221

216

233

254

32

44

240 201

247 875

2 200040

2 275 735

4 458 775

207

203

233

248

54

55

1 455395

1 783 173

20 102 408

21 356 313

41 458 721

212

212

238

260

35

43

109 859

130 986

1 193 448

1 256 092

2 449 540

220

217

222

243

45

53

110 779

130 841

1 066 693

1 154 784

2 221 477

228

222

202

239

50

59

274 036

338 074

2 506 436

2 630 005

5136 441

213

206

222

240

53

66

99 093

123 562

1 342 082

1370 480

2 712 562

223

219

235

240

37

46

3 124 191

3 408012

45 749 575

47 693 289

93 442 864

240

247

216

227

33

37

988 077

1 135 722

12 852 693

13 298 015

26 150 708

219

221

235

244

38

43

718 589

742 123

9 582 152

9 672 407

19 254 559

229

228

234

234

37

38

1 706 666

1 877 845

22 434 845

22 970 422

45 405 267

223

224

234

240

38

41

140 855

166 712

1 627 025

1688 418

3 315 443

201

202

245

257

42

50

1 982 388

2 414 479

27 737 247

28 629 931

56 367 178

222

221

235

244

35

43

1173 731

1 435 164

16 971 425

17 501 084

34 472 509

226

224

232

242

34

42

246 190

286 066

3 028 100

3147 957

6176 057

214

216

237

247

40

46

118 717

161421

2 043148

2 159 068

4 202 216

219

225

239

251

28

38

89 407

105 388

1 052 769

1116 711

2 169 480

214

218

230

248

41

49

71367

. 83 712

926 277

941 667

1 867 994

214

212

244

247

88

45

73 239

87 356

880 437

839 033

1 719 470

200

197

269

240

43

51

•220 041

251 918

2 520 602

2 583 535

5 104 137

223

220

228

287

43

49

10 719

11309

121 593

114 361

235 954

211

204

259

233

45

48

296 410

337 581

3 324 834

3 368 714

6 693 548

208

206

245

247

44

50

2 216 194

i 2 550 449

18 916 889

19 533 899

38 450 788

173

173

261

268

58

67

226 937

290637

2 591 600

2 831 532

5 423132

218

215

218

253

42

54

789 693

871821

9 087 821

950 265

18 618 086

210

209

236

256

42

47

1 537 155

1 579 527

16 155 130

16 320 123

32 475 253

229

225

221

229

47

49

1 324 942

1 307 010

2 631 952

166 481

147 490

1 909 567

1 834 716

3 744 283

259

253

206

198

45

39

60 047

49 501

1 281 278

1 211 604

2 492 882

272

265

217

202

24

20

52 800

37 980

2 994 896

2 917 624

5 912 520

251

253

246

235

9

6

2 472 585

2 389 276

38 816 448

37 178 127

75 994 575

223

221

254

237

33

32

163 189

122 845

2 383 920

1 162 600

4 546 520

228

223

260

226

36

27

1 801 736

2 042 650

23 600 931

23 131 207

46 732 138

216

210

250

241

39

44

308 Alfons Fischer,

Nun wäre es freilich denkbar, daß der Überschuß an männ¬ lichen Geburten durch eine höhere Sterblichkeit unter den Männern ausgeglichen und sogar in sein Gegenteil verwandelt wird. Diese Annahme entspricht jedoch nicht den ziffernmäßigen Feststellungen, obwohl von manchen, so z. B. von Tugendreich1), mit ihr gleich einer sicheren Tatsache rechnen. Es sei hierzu folgendes bemerkt: In Deutschland2) übertrifft im Jahre 1908 die Zahl der Knabengeburten die Ziffer der Mädchengeburten um rund 61000.. In dem gleichen Jahre ist in allen Altersklassen zusammen die Sterbeziffer bei dem männlichen Geschlecht um rund 45000 höher als bei dem weiblichen; es bleibt mithin immer noch ein Überschuß auf der männlichen Seite übrig. Und wie in dem genannten Jahrer so ist es von geringfügigen Abweichungen abgesehen auch in den früheren Perioden gewesen. In Deutschland kann also der Frauenüberschuß nicht dadurch zustande gekommen sein und einen solchen Umfang erreicht haben, daß der Geburtenüberschuß bei dem weiblichen Geschlecht größer ist, als bei dem männlichen; denn wir sehen ja das Gegenteil hiervon. Für die Entstehung des- Frauenüberschusses müssen also andere Gründe maßgebend sein.

Wie in Deutschland, so ist auch in anderen europäischen Staaten, in denen die Frauen an Zahl überwiegen, der Geburten¬ überschuß auf der männlichen Seite größer, als auf der weiblichen. In Österreich3) übertreffen im letzten Berichtsjahr (1907) die Knabengeburten die Mädchengeburten um 25000; es starben ins¬ gesamt in dem genannten Jahre 23000 männliche Personen mehr als weibliche. Ähnlich ist das Verhältnis in Ungarn und in anderen Staaten. Eine Ausnahme macht hierbei nur Frankreich.4) Zwar überwiegen auch in Frankreich die männlichen Geburten; da aber die Ziffer der Geburten sehr gering ist, so ist auch die absolute Zahl, welche die Differenz zwischen männlichen und weiblichen Geburten angibt, nur klein. Es wurden im letzten Berichtsjahr (1906) nur 15 000 Knaben mehr als Mädchen geboren, während in dem genannten Jahre die Gesamtsterblichkeit der männlichen Personen die der weiblichen um 32 000 überragt. Indessen, diese Ergebnisse zeigen sich erst seit dem Kriege 1870/71 und bzw. seit dem starken Geburtenrückgang ; früher diese Statistik läßt sich bis auf das

9 Tugendreich: in seinem Handbuch der „Mutter- und Säuglingsfürsorge“. Stuttgart 1910.

-) Statistik des Deutschen Reiches. Bd. 227.

3) Österreichisches Statistisches Jahrbuch. Wien 1910.

4) Annuaire Statistique de la France. Paris 1910, p. 10* und 11*.

Der Frauenüberschuß.

309

Jahr 1801 zurückverfolgen war das Verhältnis auch in Frankreich das gleiche, wie in den übrigen europäischen Staaten. Immerhin sind die besonderen französischen Zustände wohl dazu geeignet, daß in diesem Lande der männliche Geburtenüberschuß durch die höhere Sterblichkeit der Männer so weit ausgeglichen wurde, daß dadurch der Frauenüberschuß während der letzten Jahrzehnte ent¬ standen sein kann.

Worin liegt nun der Grund für die Entstehung des Frauen¬ überschusses bei uns und in anderen europäischen Ländern, von Frankreich abgesehen? Die Antwort hierauf bieten uns die Statistiken über den Wanderungsverlust, bzw. -gewinn. Über den zahlenmäßigen Umfang der Wanderungsverhältnisse liegen zwar keine direkten Angaben vor, man erhält aber ein brauchbares Material durch Rechnung, wenn man nämlich die aus den Geburtenüberschüssen zu erwartende Bevölkerungszunahme mit dem tatsächlichen Be¬ völkerungszuwachs, den man durch die Volkszählungen feststellt, vergleicht. Auf diese Weise ist man zu der folgenden, auf das ganze Deutsche Reich sich erstreckenden Zusammenstellung *) ge¬ langt:

Tabelle 5.

Auf 1000 der mittleren Bevölkerung durchschnittlich jährlich Gewinn (+) oder Verlust (— ) durch Wanderungen in der

Zählungsperiode :

1871/75

1875/80

1880/85

1885/90

1890/95

1895/1900

1900/05

1905/10

männlich

weiblich

zusammen

1,93

1,89

1,91

2,07

1.40

1,73

4,85

3,69

4,26

1,36

1,39

1,38

1,91

1,63

1,77

+ 0,61 + 0,09

+ 0,35

+ 0,16 + 0,20 + 0,18

0,60

0,42

0,51

Aus der Tabelle 5 entnimmt man, daß bereits in der Periode 1871/75 der männliche Wanderungs Verlust größer ist als der weib¬ liche, daß diese Differenz zuungunsten des männlichen Geschlechts in dem nächsten Jahrfünft noch zunimmt und in dem Zeitraum 1880/85 den Höhepunkt erreicht; von da an ist der Unterschied bei den Ziffern der beiden Geschlechter nur gering; in der Periode 1895/1900 ist aber eine beträchtliche Differenz zugunsten des männ¬ lichen Geschlechts zu konstatieren.

b Vierteljahrshefte zur Statistik des Deutschen Eeiches. 1908, H. I, ergänzt - durch das H. IV des Jahrg. 1911.

310 Alfons Fischer,

Um das Bild noch etwas anschaulicher zu gestalten, seien einige absolute Ziffern1) genannt: In dem für das männliche Ge¬ schlecht so ungünstigen Jahrfünft 1880/85 betrug der Wanderungs¬ verlust 546 681 männliche und 433 534 weibliche Personen; man sieht, welche enormen Verluste an Menschen das Deutsche Beich damals in einem einzigen Jahrfünft erlitten hat, man erkennt aber zugleich, daß in der genannten Periode der männliche Wanderungs¬ verlust denjenigen der Frauen um über 100 000 Personen überragt. In den beiden folgenden Jahrfünften ist der Wanderungs Verlust dann bald auf der weiblichen, bald auf der männlichen Seite etwas größer. In dem Jahrfünft 1895/9000 aber, in dem sich ein Wande¬ rungsgewinn ergeben hat, zeigt sich eine für das männliche Ge¬ schlecht günstige, erhebliche Differenz; es wurden 81481 männ¬ liche, aber nur 12 644 weibliche Personen gewonnen.

Vergleichen wir nun noch die Tabellen 2 und 5 miteinander: Wir haben aus der Tabelle 2 erkannt, daß der Frauenüberschuß im Jahre 1880 einen sehr großen und im Jahre 1885 einen noch größeren Anstieg zeigt; die Tabelle 5 hat uns gelehrt, daß in den diesen beiden Jahren vorangegangenen Perioden die Differenz zwi¬ schen dem männlichen und weiblichen Wanderverlust sehr groß und zwar zuungunsten des männlichen Geschlechts war. Vom Jahrfünft 1885/90 an wendet sich das Blatt in den Wanderungsverhältnissen, und genau im Jahre 1890 sinkt, wie Tabelle 2 zeigt, zum ersten¬ mal der Frauenüberschuß. Ganz besonders stark ist die Abnahme des Frauenüberschusses im Jahre 1900; und gerade in dem diesem Jahre vorangehenden Jahrfünft tritt zum erstenmal ein Wande¬ rungsgewinn, und zwar weit erheblicher zugunsten des männlichen, als zugunsten des weiblichen Geschlechts auf.

Diese Parallelen zwischen Steigen und Sinken des Frauen¬ überschusses einerseits und den Wanderungs Verhältnissen anderer¬ seits sind so auffallend, daß man wohl berechtigt ist zu behaupten: der Frauenüberschuß steigt in der Hauptsache dadurch, daß mehr Männer als Frauen durch die Wanderungsverhältnisse verloren gehen, er sinkt, sobald diese Ursache fortfällt, er sinkt um so stärker, sobald mehr Männer als Frauen durch die Wanderungen gewonnen werden.

Wir haben bis jetzt, wie uns dünkt, mit hinreichender Exakt¬ heit, gezeigt, aus welcher Ursache heraus der Frauenüberschuß in

9 Statistisches Handbuch für das Deutsche Reich. 1907, p. 41.

Der Frauenüberschuß.

311

Deutschland gestiegen, bzw. gesunken ist. Aber wie ist er ent¬ standen?

Diese Frage vermögen wir nicht mit der gleichen Genauigkeit zu beantworten. Aus der Tabelle 2 erkannten wir, daß der Frauen¬ überschuß im Jahre 1871 bereits 754824 Personen betrug. Wir können nach den obigen Darlegungen nur behaupten, daß der jetzt vorhandene Frauenüberschuß nicht, weil während der letzten Jahre die Frauen eine günstigere Mortalität aufwiesen, entstanden ist; der j etzige Frauenüberschuß ist auch nicht durch größere männliche Wanderungsverluste erzeugt worden; er ist überhaupt nicht ein Pro¬ dukt der letzten Jahre, sondern der früheren Jahrzehnte; die Zustände der Gegenwart verringern ihn, aber noch nicht in dem Maße, daß er in den nächsten Jahren zu beseitigen wäre. Darüber, wie der Frauenüberschuß vor dem Jahre 1871 entstanden ist, ver¬ mag ich ziffernmäßige Belege nicht zu erbringen. Gewiß haben damals die Kriege die Erscheinung des Frauenüberschusses be¬ günstigt. Ohne Zweifel wurden jedoch auch schon vor dem Jahre 1871 beträchtliche Wanderungsverluste erlitten. Nach Adolf Wagner1) wird geschätzt, daß während der Jahre 1820 bis 1900 rund 6 Millionen aus Deutschland ausgewandert sind, darunter 4 Millionen allein nach den Vereinigten Staaten von Nord¬ amerika. Und daß unter diesen Auswanderern im allgemeinen mehr Männer als Frauen gewesen sind, ist nach den obigen statistischen Angaben mit ziemlicher Sicherheit anzunehmen.

Leider fehlten mir die erforderlichen amtlichen Statistiken, um den Nachweis zu führen, daß auch im Auslande, wie bei uns, der Frauenüberschuß im wesentlichen ein Produkt der Wanderungs¬ verluste darstellt. Um aber meine Behauptung hinsichtlich der Entstehung des Frauenüberschusses in Deutschland noch eingehender zu begründen, wollen wir die Verhältnisse in einigen deutschen Landesgebieten einer besonderen Betrachtung unterwerfen. Wir werden hierbei noch mancherlei Interessantes über die Entstehung des Frauenüberschusses erfahren.

Der Frauenüberschuß wird nämlich nicht immer durch einen größeren Wanderungsverlust auf der Seite des männlichen Ge¬ schlechts verursacht, sondern in gewissen Gebieten auch durch einen stärkeren Wanderungsgewinn bei dem weiblichen Geschlecht. Wir haben aus der Tabelle 1 ersehen, daß in der Stadt Berlin und in der Provinz Brandenburg die Frauen in der Mehrzahl vor-

b Adolf Wagner: Agrar- und Industriestaat. Jena 1902, p. 57.

312

Alfons Fischer,

»

lianden sind; wie dies zustande gekommen ist, darüber belehrt uns folgende Zusammenstellung : 5)

Tabelle 6.

Auf 1000 der mittleren Bevölkerung durchschnittlich jährlich Gewinn oder Verlust ( ) durch Wanderungen in der Zählungsperiode:

1871 1875

1875-

1880

1880—

1885

1885-

1890

1890—

1895

1895—

1900

1900—

1905

1905—

1910

c, Tj r f männlich

Stadt Berlin j

29,02

29,63

9,59

22,60

20,74

22,47

26,21

25,20

0,42 4,20

15,35

13,23

8,83

5,57

6,45

3,68

Provinz f männlich Brandenburg \ weiblich

5,34

1,17

3,42

3,42

5,10 -3,82

5,37

4,51

8.15

9.15

6,14

8,25

14,83

15,20

17,62

20,15

Aus der Tabelle 6 entnehmen wir mithin, daß nach Berlin, namentlich in der Periode 1875/80, aber auch 1880/85 und be¬ sonders 1 890/ 95 weit mehr Frauen als Männer eingewandert sind; in der Provinz Brandenburg kam der Frauenüberschuß dadurch zustande, daß zunächst in der Periode 1880/85 weniger Frauen aus- und dann von 1890 an bis 1910 mehr Frauen eingewandert sind als Männer.

Nun hat uns aber die Tabelle 1 gezeigt, daß in einigen deutschen Landesgebieten kein Frauen- sondern ein Männerüberschuß zur¬ zeit vorhanden ist. Welche Ursachen haben sich geltend gemacht, um diese Ausnahmeerscheinungen zustande kommen zu lassen? Aufschluß hierüber gewähren uns folgende Zusammenstellungen : x)

Tabelle 7.

Auf 1000 der mittleren Bevölkerung durchschnittlich jährlich Gewinn oder Verlust (— ) durch Wanderungen in der Zählungsperiode:

1871 1875

1875—

1880

1880-

1885

1885—

1890

1890-

1895

1895-

1900

1900-

1905

1905—

1910

Provinz

Westfalen

f männlich i weiblich

6,52

3,43

2,87

1,43

0,77 - 0,82

4,31

2,29

3,27

2,30

15,08

8,94

2,87

3,28

4,26

3,58

Provinz

Rheinland

\ männlich l weiblich

2,11

1,07

1,82 0,81

-0,90

-0,52

2,38

1,75

0,70

0,75

8,45

4,91

4,37

3,61

2,64

2,46

Wie man sieht, sind in den Provinzen Westfalen und Rhein¬ land Wanderungsverluste nur in 2 von 8 Perioden zu konstatieren,

0 Viertel jahrshefte zur Statistik des Deutschen Reiches. 1908, H. I, ergänzt.

Der Frauenüberschuß.

313

lind diese Verluste sind nur sehr geringfügig gegenüber den starken Wanderungsgewinnen in den übrigen Jahrfünften; die Wanderungs¬ gewinne sind aber im Rheinland stets, in Westfalen mit einer geringfügigen Ausnahme immer auf der männlichen Seite stärker, als auf der weiblichen. Diese Tatsache werden wir also wohl als Ursache dafür anzusehen haben, daß in den beiden genannten Pro¬ vinzen der Frauenüberschuß fehlt.

Statt des Frauenüberschusses zeigt sich der Männerüberschuß jedoch noch aus einem anderen Grunde, nämlich wenn aus dem betreffenden Landesgebiet mehr Frauen als Männer auswandern. Dies trifft für die Provinz Schleswig-Holstein sowie für Mecklen- burg-Strelitz und Elsaß-Lothringen zu, wie uns folgende Zusammen¬ stellung1) zeigt:

Tabelle 8.

Auf 1000 der mittleren Bevölkerung durchschnittlich jährlich Gewinn oder Verlust (— ) durch Wanderungen in der Zählungsperiode:

1871 1875

1875—

1880

1880-

1885

1885—

1890

1890-

1895

1895 1900

1900-

1905

1905—

1910

Prov. Schles- [männlich wig- Holstein [weiblich

8,76

4,87

3,23

4,19

8,19

8,09

1,38 2,66

3,70

2,53

0,48 1,40

3,55 0,81

1,84 0,92

Mecklenburg- [männlich Strelitz [weiblich

-13,16

—12,92

-0.18 - 3,34

-13,20

—12,30

—10.65

-10,22

1,38

4,59

7,71

8,13

-6,71 - 7,13

0,78

4,94

Elsaß- [männlich

Lothringen [ weiblich

—14,38 - 8,26

2,39

- 5,19

- 7,30

6,92

1,48 - 4,79

1,48

- 4,09

1,20 2,02

1,98 0^65

3.24

3,08

Wir sehen also, daß in den deutschen Landesgebieten das Ver¬ hältnis der männlichen Bevölkerungsziffer zu der weiblichen haupt¬ sächlich von der Art der Wanderungen abhängt, daß aber sowohl der Frauen- wie der Männerüberschuß durch mehrere Formen des Wände- rungsgewinnes bzw. -Verlustes bedingt sein können. Ist die Differenz der Bevölkerungszahlen bei den beiden Geschlechtern nicht sehr groß, dann kann schon eine geringe Änderung in den Wanderungs¬ verhältnissen einen Frauenüberschuß in einen Männerüberschuß umgestalten, und umgekehrt. Wir sehen daher bei den einzelnen Volkszählungen in verschiedenen Landesgebieten einen sehr häufigen Wechsel, so daß in manchen Staaten in den verschiedenen Jahren bald ein Männer-, bald ein Frauenüberschuß festgestellt wurde; hierüber belehrt uns folgende Statistik:2)

1) Vierteljahrshefte zur Statistik des Deutschen Eeiches. 1908, H. I, ergänzt.

2) Statistik des Deutschen Eeiches. Bd. 150, p. 54*.

314

Alfons Fischer,

Tabelle 9.

Die Geschlechtsgliederung der Bevölkerung in den Bundesstaaten.

Staaten und Landesteile

Auf

1900

ICO m

1895

ännlich ier Vol

1890

e käme kszählu

1885

n weib ng von

1880

Liehe nach

|

1875 1871

1

Provinz Ostpreußen .

107,7

107,9

109,3

109,1

108,4

108,6

108,1

Westpreußen ....

103,6

103,2

104,1

104,7

104,1

104,0

104,2

Stadt Berlin .

109.2

110,4

107,8

108,2

106,8

99,1

98,0

Provinz Brandenburg ....

104,1

102,9

102,3

102,5

101,6

101,2

102,7

Pommern .

104,4

104,4

105,1

104,2

103,0

103,4

104,6

Posen .

109,3

107,6

108,6

108,0

107,1

107,4

106,6

Schlesien .

109,7

110,5

111,3

110,6

110,0

109,3

109,2

Sachsen .

104,1

103,5

102,6

102,0

101,7

102,2

102,2

Schleswig-Holstein . .

97,8

98,4

97,5

99,5

99,5

100,1

100,8

Hannover .

99,7

99,4

100,4

100,3

99,9

100,2

101,3

Westfalen .

93,7

95,7

95,8

96,5

96,9

95,9

96,7

Hessen-Nassau . . .

105,5

105,7

105,7

105,9

105,5

104,4

106,1

Pheinland .

98,7

100,0

99,8

99,8

99,4

98,6

98,6

Hohenzollern .

109,0

110,2

110,0

109,6

108,4

108,9

107,0

Königreich Preußen .

103,1

103,6

103,7

103,8

103,3

102,8

102,9

Bayern rechts des Rheins . .

104,3

104,7

105,2

105,5

105,0

104,9

105,7

Bayern links des Rheins (Pfalz)

101,5

102,3

102,6

104,2

104,1

104,8

106,5

Königreich Bayern .

104,0

104,4

104,9

105,4

104,9

104,9

105,3

Königreich Sachsen .

105,7

106,0

105,9

106,5

105,7

104,1

104,7

Württemberg . . .

106,1

106,6

107.4

107,7

107,1

107,4

107,6

Baden .

101,7

103,6

104,5

104,8

105,2

105,1

105,1

Hessen .

100,6

101,2

101,7

101.9

101,4

102.3

102,2

Mecklenburg-Schwerin ....

102,4

101,2

102,9

102,3

102,8

104;5

lu5,l

Sachsen- Weimar .

104.9

106,0

106,5

106,5

104,9

105,5

105,4

Mecklenburg-Strelitz ....

101,8

102,1

104,2

104,5

104,0

105,7

106,1

Oldenburg .

101,3

100,8

101,7

102,0

101,1

101,7

102,1

Braunschweig .

101,6

101.2

100,5

100,1

100,5

100,6

100,7

Sachsen-Meiniugen .

103,8

104,5

105,5

104,5

104,2

104,0

104,1

Sachsen-Altenburg .

103,2

105.5

105,8

105.5

104,6

105,2

105,2

Sachsen-Coburg-Gotha ....

107,0

106,9

107,0

108,1

106,5

106,6

106,6

Anhalt .

103,7

103,4

102,8

102,3

102,1

102,4

103,7

Schwarzburg-Sondershausen . .

104.8

105,6

105,9

105,0

105,1

106,1

105,7

Schwarzburg-Rudolstadt . . .

105,6

106,1

106,6

105,8

105,1

105.8

105,0

Waldeck .

107,3

106,8

108,8

110,3

109,8

113,0

113,1

Reuß älterer Liuie .

110,3

105,5

105,8

104,7

103,3

103,3

102,8

Reuß jüngerer Linie ....

108,8

106,3

107,0

105,0

104,4

104,5

104,9

Schaumburg-Lippe .

101,1

99,2

101,5

ICO, 4

99,5

99,6

101,6

Lippe .

107,0

103,8

104,0

102,7

100,7

102,5

103,4

Lübeck .

102.5

106,9

104,1

107,0

105,2

103,7

107,8

Bremen .

102,6

104,1

104,7

108,0

107,3

105,3

106,3

Hamburg .

104,5

105,0

101,8

105,1

104,9

103,1

105,1

Elsaß-Lothringen .

95,3

97,0

.98,9

102,8

103,4

105,6

103,9

Deutsches Reich .

103,2

103,7

104,0

104,3

103,9

103,6

103,7

Der Frauenüberschuß.

315

Mit meinen bisherigen Darlegungen meine ich erwiesen zu haben, daß Zu- und Abnahme des Frauenüberschusses in unmittel¬ barer Abhängigkeit von den Wanderungsverhältnissen stehen. Diese Tatsache ist den Nationalökonomen freilich nicht unbekannt geblieben. Allein, sie ist von ihnen nicht zahlenmäßig bewiesen worden. Manche haben sogar das Gegenteil behauptet, indem sie den Einfluß der Wanderungsverhältnisse auf die Entstehung des Frauenüberschusses in Abrede stellten oder als Nebensache bezeichneten. So schreibt Conrad (1. c.): „Die Verminderung des Frauenüberschusses ist wohl auf die geringere Auswanderung zurückzuführen.“ Man be¬ achte das Wörtchen „wohl“. Den Beweis für die Abhängig¬ keit des Frauenüberschusses von den Wanderungsverhältnissen führt er nicht. Nach G. v. Mayr (1. c.) sind für die Gestaltung des wirklichen Geschlechtsverhältnisses der Lebenden die ver¬ schiedenen Absterbeverhältnisse der beiden Ge¬ schlechter maßgebend. „Die Unterschiede hierin, die teils auf natürlichen, teils auf sozialen Ursachen (insbesondere Berufsge¬ fahren und sittlichen Gefahren, z. B. Alkoholismus, Kriminalität) beruhen, sind größer als die Urdifferenzen des Geschlechtsverhält- nisses bei den Geborenen.“ Genau die gleiche Ansicht äußert Naumann (1. c.). Und auch Bücher (1. c.) sieht „in der ver¬ schiedenen Sterblichkeit der beiden Geschlechter im Deutschen

Reich die dauernde Ursache des Frauenüberschusses, wenn auch

/

die konkrete Höhe des letzteren zeitweilig durch andere Ursachen maßgebend bestimmt werden mag“. Man erkennt leicht den Unterschied zwischen den Ansichten der genannten National¬ ökonomen einerseits und meiner Auffassung andererseits. Ich hoffe, deutlich gezeigt zu haben, daß für die Entstehung des Frauenüberschusses nicht die Verschiedenheit zwi¬ schen den Sterblichkeitsverhältnissen der beiden Geschlechter, sondern die früher stärkeren Wande¬ rungsverluste auf der männlichen Seite maßgebend waren.

Wenden wir uns nun der Frage zu, welche sozial hygie¬ nische Bedeutung der Erscheinung des Frauenüberschusses zu¬ kommt. Das Naturgemäße wäre offenbar, wie schon erwähnt wurde, daß nicht nur kein Frauenüberschuß, sondern vielmehr ein Männer¬ überschuß obwaltet. Denn in allen Staaten ist, wie wir gezeigt haben, die Ziffer der männlichen Geburten erheblich höher als die der weiblichen und nirgends außer in Frankreich - wird dieser Vorsprung des männlichen Geschlechts durch die geringere Mor-

316

Alfons Fischer,

talität bei dem weiblichen Geschlecht völlig ausgeglichen. Der Frauenüberschuß ist also et was Natur widriges. Auch in Frankreich verdient er diese Bezeichnung, denn auch dort ist er, soweit er nicht ebenfalls durch die Wanderungsverhältnisse be¬ günstigt wurde, nur durch die naturwidrige Konzeptionsbeschrän¬ kungen, welche die Ursache der niedrigen Geburtenziffer und dadurch des geringen Knabenüberschusses ist, hervorgerufen worden. Ist der Frauenüberschuß aber im offenbaren Gegensatz zu der Natur entstanden, so darf man von vornherein hiervon wohl kaum einen sozialhygienischen Nutzen erwarten.

Der Sozialhygieniker wird dem Frauenüberschuß immer mit Besorgnis gegenüberstehen. Diese Bevölkerungserscheinung be¬ wirkt stets in dem betreffenden Gebiet, daß viele Mädchen, die unter normalen Zuständen heiraten würden, keine Männer finden, und daß viele Männer sich der Verehelichung entziehen, weil sie wissen, daß für die Befriedigung ihrer geschlechtlichen Bedürfnisse genug Mädchen, die sich nicht verheiraten konnten, vorhanden sind. So vermag der Frauenüberschuß sehr wohl der Zunahme der unehelichen Geburten, der Verbreitung der Prostitution und der Geschlechtskrankheiten Vorschub zu leisten. Freilich kann man bei der Kompliziertheit der hier in Betracht kommenden Verhält¬ nisse, für diese theoretischen Schlußfolgerungen den exakten Be¬ weis ziffernmäßig nicht erbringen, aber niemand wird die Berech¬ tigung der hier geäußerten sozialhygienischen Bedenken gegen den Frauenüberschuß bestreiten können.

Nun scheint mir aber der Frauenüberschuß noch in einer anderen Kichtung als ein ungemein wichtiges, bisher wohl kaum beachtetes Symptom für die Beurteilung der sozialhygienischen Zu¬ stände verwendbar zu sein. Wir haben gezeigt, daß der Frauen¬ überschuß durch die Wanderungsverhältnisse hervorgerufen wird. Wir müssen aber jetzt hinzufügen, daß er im gewissen Umfange dadurch gefördert wird, daß die weibliche Mortalität zumeist ge¬ ringer ist, als die männliche, wenn sie auch nicht so gering ist, daß hierdurch der Frauenüberschuß entsteht, wie manche meinen.

Wie kommt es nun, daß die Sterblichkeit bei dem weiblichen Geschlecht im allgemeinen niedriger ist als beim männlichen? Manche, wie z. B. G. v. Mayr und Naumann, sind, wie erwähnt wurde, der Ansicht , daß hieran die schwere . Erwerbsarbeit der Männer, die Trinksitten usw. schuld seien. Untersuchen wir, wie •es hiermit steht, und betrachten wir zu diesem Zwecke zunächst «ine auf das Jahr 1908 bezügliche, das Deutsche Reich betreffende

Der Frauenüberschuß.

317

Statistik,1) die uns über die Mortalität bei den beiden Ge¬ schlechtern mit Unterscheidung der verschiedenen Altersklassen unterrichtet.

Tabelle 10.

Altersklassen

der Gestorbenen

]

Gestorbene

(ohne

Totgeborene)

nn Jahre 1906

Männliche

Gestorbene

1

Weibliche

Gestorbene

Von 0 bis

1 Jahr .

359 022

200 260

158 761

1

5 J ahre .

103 305

52 754

50 551

» 5

n

10

55

26 054

12 991

13 063

io

15

55

15138

7 307

7 831

15

55

20

55 *

21 426

11 188

10 238

20

55

30

55

51654

25 795

25 859

30

55

40

55

57 365

28 856

28 509

40

55

50

55

66 509

38 354

28 215

50

55

60

55

91 445

51374

40 071

.60

55

70

55

134 212

67 106

67106

70

55

80

55

140 383

64 816

75 567

80

55

90

55

63 588

27 538

36 050

Über 90 Jahre

5040

1974

3 066

Unbekannt

.

289

227

62

Zusammen

1 135 490

590 540

544 949

Man erkennt aus der Tabelle 10, daß im ersten Lebensjahr die Sterblichkeit bei den Knaben sehr erheblich größer ist, als bei den Mädchen, und daß diese Erscheinung, freilich in weit kleinerem Maße, sich auch noch vom 1. 5. Lebensjahr zeigt. Diese Fest¬ stellung kann nicht weiter verwundern, da mehr Knaben (und unter ihnen eben auch mehr schon Von Geburt an schwächlichere männliche Kinder) geboren werden als Mädchen. Vom 5.— 40. Lebensjahr sind die Unterschiede bei den beiden Geschlechtern belanglos. Dann aber ist vom 40. 60. Lebensjahr die Sterblich¬ keit unter den Männern größer, während in dem gleichen Maße vom 70. 90. Lebensjahr die Mortalität unter den Frauen stärker ist.

Aus diesen Tatsachen wird mancher die Schlußfolgerung zu ziehen geneigt sein, daß, weil in den Altersklassen von 40-60 Jahren die Mortalität bei den Männern überwiegt, die Er¬ werbsarbeit, an der die Männer mehr als die Frauen beteiligt sind, die höhere Sterblichkeit der Männer erzeugt, und daß also in der männlichen Berufsarbeit eine Förderung oder gar die Hauptursache für die Entstehung des Frauenüberschusses liege.

: - - ' ' r I

x) Statistik des Deutschen Reiches. Bd, 227, pr. 31*. r Archiv für Soziale Hygiene. VII.

318

Alfons Fischer,

Es ist nun ohne Zweifel, daß insbesondere die von den Männern zu verrichtende schwere Arbeit die Körperkräfte sehr stark und schnell abnutzt; einen deutlichen Beweis hierfür findet man in dem amtlichen Werke x) über die „Krankheits- und Sterblichkeitsverhält¬ nisse in der Ortskrankenkasse für Leipzig und Umgebung“. Aber daß hierdurch der Frauenüberschuß her vorgerufen worden ist, wird, wie ich hoffe, nach den obigen Darlegungen niemand mehr meinen. Es fragt sich nun, ob die Erwerbsarbeit der Männer überhaupt einen nennenswerten Einfluß auf den Umfang des Frauenüberschusses aus¬ üben kann, in Anbetracht der Tatsache, daß das weibliche Geschlecht durch die Menstruationen, Schwangerschaften und Wochenbetten stark beeinträchtigt wird. Die aus der Tabelle 10 zu entnehmenden Tat¬ sachen scheinen die Frage bejahen zu wollen. Allein, hierbei ist doch zu bedenken, daß die bei den Männern im Alter von 40 60 Jahren zu beobachtende höhere Sterblichkeit nicht nur durch die schweren Schädigungen bei der Berufsarbeit hervorgerufen zu sein braucht; die schlechteren Mortalitäts Verhältnisse bei den Männern dieser Jahresklassen können sehr wohl auch daraus resultieren, daß in früheren Perioden mehr Männer als Frauen ausgewandertsind, und daß sich unter den Ausgewanderten, wrie man wohl anzu¬ nehmen berechtigt ist, vorzugsweise gesunde und kräftigePersonen sich befundenhaben, was zur Folge hatte, daß der Prozentsatz der Schwächlichen unter jenen, die zurückblieben, bei den Männern größer ist als bei den Frauen; wenn jetzt mehr Männer als Frauen im Alter von 40—60 Jahren sterben, so kann dies zum Teil wohl daher kommen, daß vor etwa 25 Jahren von den damals 20—35 Jahre alten Personen mehr kräftige Männer als Frauen aus¬ gewandert sind.

Ohne mithin den gesundheitsschädigenden Einfluß der von den Männern zu leistenden Erwerbsarbeit verkennen zu wollen, meine ich doch behaupten zu dürfen, daß diese Tätigkeit auf die Höhe der Mortalität keinen größeren Einfluß ausübt als die für das weibliche Geschlecht bestehenden sexuellen Beeinträchtigungen. Und weiter glaube ich zu der Behauptung berechtigt zu sein, daß der Frauenüberschuß nicht durch die höhere Mortalität bei den Männern erzeugt oder auch nur nennenswert gefördert wird, sondern

0 „Krankheits- und Sterblichkeitsverhältnisse in der Ortskrankenkasse für Leipzig und Umgebung.“ Berlin 1910, Verlag von Carl Hey mann

Der Frauenüberschuß.

319

daß die gleichen Ursachen, die in Deutschland den Frauenüberschuß hervorgerufen haben, d. h. die Wanderungsverhältnisse, gewisser¬ maßen durch eine für das männliche Geschlecht ungünstige „Aus¬ lese“ bewirkt haben, daß bei uns mehr Männer als Frauen sterben.

Ist meine Ansicht, daß die höhere Männermortalität in Deutsch¬ land (wenigstens zum großen Teil) die Folge jener durch die Wande¬ rungsverluste entstandenen Auslese sei, richtig, dann muß in Ländern mit Männerüberschuß die Sterblichkeit der Frauen überwiegen; trifft aber die Meinung, daß die stärkere Männermortalität bei uns auf die Erwerbsarbeit zurückzuführen sei, zu, dann muß in den Ländern, in denen im Gegensatz zu unseren Verhältnissen mehr Männer als Frauen vorhanden sind, die männliche Sterblichkeit erst recht höher sein als die weibliche.

Um hierüber Klarheit zu erhalten, betrachten wir die Zustände in Japan, x) das, wie oben gezeigt wurde, einen Männerüberschuß aufw^eist. In diesem Staate wurden im Jahre 1908 gezählt

männliche Personen 25045506 505,1 Prom. weibliche 24542025 = 494,9

Gestorben sind im Jahre' 1908 512110 männliche Personen

508 681 weibliche

Die Differenz ist also äußerst klein. Man vergleiche hiermit den Unterschied in den Sterblichkeitsziffern der beiden Geschlechter in Deutschland (Tabelle 10). Zudem muß betont werden, daß, da auch in Japan mehr Knaben als Mädchen geboren werden im Jahre 1908 wurden 763 784 Knaben und 727 730 Mädchen geboren, so daß also auf 100 Mädchen 104,95 Knaben kamen die Sterblich¬ keit unter den männlichen Säuglingen größer sein muß, als unter den weiblichen; es starben im Jahre 1908 von den Untereinjährigen 130983 männlichen und 113 315 weiblichen Geschlechts. Subtra¬ hiert man die Säuglingssterblichkeit von der allgemeinen Mortalität, so zeigt sich in der Tat, daß die Sterblichkeit bei dem weiblichen Geschlecht in Japan überwiegt. Sehr beachtenswert sind dann auch die Sterblichkeitsverhältnisse der beiden Geschlechter inner¬ halb bestimmter Altersklassen. Hierüber erhalten wir ein Bild aus dem Vergleich der beiden folgenden Zusammenstellungen1):

0 Kesume Statistique de l’Empire du Japon. Tokio 1911.

320 Alfons Fischer,

Tabelle 11.

Am 31. Dezember 1908 wurden in Japan gezählt

Im Alter von

Männliche

Personen

Weibliche

Personen

20—25 Jahren

2 089 453

2 042 114

25-30

2 003 650

1 948 566

30-35

1 875 258

1 812 818

35-40

1 473 866

1 406 845

40—45

1 445 064

1 362 932

45—50

1 114 485

1 061 447

50 55

1 176 711

1121511

55—60

1008 039

987 939

Tabelle 12.

Es starben im Jahre 1907 in Japan:

Im Alter von

Männliche

Personen

Weibliche

Personen

20—25 Jahren

18 252

21659

25—30

15 955

20 026

30 35

13 996

17 796

35—40

12 875

•15 097

40—45

14 922

14 275

45 50

16 522

13 379

50 55

23 074

17 468

55 60

28 055

21 253

Wie die Tabelle 11 zeigt, sind die Männer in den angeführten Altersklassen durchweg zahlreicher vertreten als die weiblichen Personen. Trotzdem sterben in den Klassen von 20 bis 40 Jahren erheblich mehr Frauen. In der Altersklasse von 40 bis 45 Jahren ist die Mortalität bei den Männern um ein Geringes höher; von da an sterben weniger Frauen als Männer bis zum 70. Lebensjahre; jenseits des 70. Lebensjahres ist die Sterblichkeit dann wieder bei den Frauen stärker.

Aus diesen Feststellungen schließe ich, daß die Frauen in Japan während des 25. bis 40. Lebensjahres infolge von Men¬ struationen und Schwangerschaften allein oder im Zusammenhang mit der Erwerbstätigkeit mehr dem Tode ausgesetzt sind, als die Männer infolge der Berufsarbeit. In der Altersklasse von 40 bis 45 Jahren sind die Chancen für beide Geschlechter fast gleich; vom 45. Lebensjahre an, wo die durch das Geschlechtsleben hervor¬ gerufenen gesundheitlichen Gefahren für das weibliche Geschlecht gewöhnlich gewichen sind, für die Männer aber die Schädigungen

Der Frauenüberschuß.

321

durch die Berufsarbeit weiter bestehen, werden die Sterblichkeits- Verhältnisse für das männliche Geschlecht entsprechend ungünstiger.

So bieten sich die Zustände in einem Staate mit einer nor¬ malen, d. h. dem eingangs erwähnten Naturgesetz entsprechenden Bevölkerungszusammensetzung dar. Vergleichen wir hiermit die Verhältnisse in Deutschland, dessen männliche Bevölkerung unter der durch die Wanderungsverluste hervorgerufenen Auslese zu leiden hat. In Deutschland entfielen nach der Sterbetafel1) für die Jahre 1891 bis 1900 auf 100000 auf ein Jahr beobachtete Personen Todesfälle:

Tabelle 13.

In der Alters¬ klasse

Männlich

Weiblich

Männliche weniger ( )

25—29

30-34

608

715

634

736

26 21

In den beiden Altersklassen von 25 bis 29 und 30 bis 34 Jahren steht mithin auch in Deutschland die weibliche Sterblichkeit un¬ günstiger da als die männliche. In allen anderen Altersklassen, so auch in den von 35 bis 39 und 40 bis 45 Jahren üb er wiegt aber im Gegensatz zu Japan die Mortalität der Männer.

Betrachten wir an dieser Stelle noch einmal die Tabelle 3. Wir finden dort, daß in den Staaten mit Frauenüberschuß das männliche Geschlecht zumeist in der Altersklasse von 0 bis 19 Jahren stärker vertreten ist, daß aber in der Klasse von 20 bis 59 Jahren stets mehr Frauen gezählt wurden. Anders in den Ländern mit Männerüberschuß, d. h. in Japan, Australien und Neuseeland, in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, Bulgarien, Serbien, Griechenland und in Elsaß-Lothringen, als dem einzigen deutschen Bundesstaat ; in diesen Ländern befinden sich ohne Ausnahme auch in der Altersklasse von 20 bis 59 Jahren die Männer in der Mehr¬ zahl, woraus man wohl schließen darf, daß auch jenseits des 35. Lebensjahres in diesen Staaten die Männer zum mindesten keine stärkere Mortalität darbieten als die Frauen, während es in den Ländern mit der männlichen „Auslese“, wie z. B. in Deutsch¬ land, umgekehrt ist.

9 Die Angaben sind dem amtlichen Werk: „Krankheits- und Sterblichkeits- Verhältnisse in der Ortskrankenkasse für Leipzig und Umgebung1' entnommen.

322 Alfons Fischer,

Von besonderem Interesse sind für die Erörterung unserer Probleme die Zustände in Elsaß-Lothringen, denen wir nun noch einige Betrachtungen widmen wollen.

ln Elsaß-Lothringen J), bzw. in seinen drei Bezirken beobachtete man bei den Volkszählungen folgendes Verhältnis zwischen den Ziffern der beiden Geschlechter:

Tabelle 14.

Bezirke

Land

Auf 1000 männliche Personen der

Zivilbevölkerung

Gesamt¬

bevölkerung

kommen weibliche

Unter-Elsaß

1037,62

987,13

Ober-Elsaß

1059,32

1020,61

Lothringen

958,63

828,31

Elsaß-Lothringen

1905

1028,15

939,04

1900

1046,72

952,97

1895

1071,69

969,56

1890

1079,73

989,49

1885

1088,42

1028,28

1880

1089.61

1034.33

1875

1105,09

1056,45

1871

1084,61

1038,61

Aus der Tabelle 14 erkennt man, daß auch noch bei der Volks¬ zählung im Jahre 1905, wenn man nur die Zivilbevölkerung in Betracht zieht, in Elsaß-Lothringen ein Frauenüberschuß, aller¬ dings ein sehr geringfügiger vorliegt. Betrachtet man aber in den Reichslanden die Gesamtbevölkerung, so erkennt man, daß bereits vom Jahre 1890 an ein Männerüberschuß festgestellt wurde. Hieraus ist ohne weiteres ersichtlich, daß in Elsaß-Lothringen das numerische Übergewicht der männlichen Personen auf die Verlegung großer Truppenkörper in dieses Landesgebiet zurückzuführen ist. Auch in allen anderen deutschen Staaten* 2) spielt bei dem Verhältnis zwischen den Ziffern der beiden Geschlechter die Anzahl der Sol¬ daten eine Rolle; der Einschluß des Militärs bedeutet für das männliche Geschlecht eine Begünstigung, die (nach der Volkszäh¬ lung des Jahres 1900) für Preußen 2,24, für Bayern 2,15 und im Höchstfälle, nämlich in Hessen 3,52 Proz. beträgt. In Elsaß-Loth¬ ringen beläuft sich die entsprechende Differenz auf 9,37 Proz.

a) Statistisches Jahrbuch für Elsaß-Lothringen. Dritter Jahrg. Straßburg

1909.

2) Statistik des Deutschen Reiches. Bd. 150, p. 55*

Der Frauenüberschuß.

323

Nun zeigt aber die Tabelle 14, daß im Bezirk Lothringen im Jahre 1905 auch bei der Zivilbevölkerung ein Männerüberschuß festgestellt wurde. Diese Tatsache ist für die Lösung unserer Probleme, wie ich sogleich zeigen werde, von Bedeutung.

Es fragt sich nun, wie sich die Sterblichkeitsverhältnisse bei den beiden Geschlechtern in der Gesamtbevölkerung von Elsaß-Lothringen bzw. in seinen einzelnen Bezirken gestaltet haben. Es starben im Jahre 1908 von den männlichen Personen 18 380, von den weiblichen 17 462, also von den ersteren 918 mehr. Im Jahre 1908 wurden aber 1388 mehr Knaben- als Mädchengeburten gezählt; die Folge hiervon ist, daß die Sterblichkeit unter den männlichen Säuglingen die Mor¬ talität der weiblichen um 875 überragt. Unter Berücksichtigung dieser Feststellungen ist die Sterblichkeit der beiden Geschlechter in Elsaß-Lothringen so gut wie gleich. Diese Erscheinung stellt schon eine Differenz dar gegenüber den Feststellungen in den Ländern mit Frauenüberschuß.

Ein ganz besonders bemerkenswertes Ergebnis erhält man aber, wenn man die Sterblichkeitsverhältnisse der beiden Ge¬ schlechter im Bezirk Lothringen mit den Vorgängen in anderen Landesgebieten vergleicht. Zum Zwecke des Vergleiches wollen wir folgende Zusammenstellung *) betrachten :

Tabelle 15.

Im Zeitraum v. 1. Dez, 1900

bis 30. Nov. 1905 starben durch-

Staat und Landesteil

schnittlich jährlich auf 1000 Ein-

wohner der mittl. Bevölkerung

beim m. Geschl.

beim w. Geschl.

Ostpreußen

25,43

22,00

Stadt Berlin

19,41

16,10

Schleswig-Holstein

18J6

16,60

Hanuover

18,69

17.26

Westfalen

20,34

18,65

Rheinland

20,78

18,63

Königreich Preußen

22,11

19,48

Königreich Bayern

25,39

22,60

Bezirk Unter-Elsaß

20,62

20,57

Bezirk Ober-Elsaß

22,27

20,48

Bezirk Lothringen

18.89

20,79

Reichsland Elsaß-Lothringen

20,47

20,61

Deutsches Reich

22,28

19,77

l) Deutsche Vierteljahrshefte zur Statistik des Deutschen Reiches. 1 906, H. IV, p. 802 und 303. '

324 Alfons Fischer,

Die Tabelle 15 zeigt uns, daß allein in Elsaß-Lothringen mehr Frauen als Männer sterben, der Unterschied ist freilich sehr gering; im Bezirk Lothringen aber ist die Differenz zuungunsten des weiblichen Geschlechts groß. So stellen sich die Ergebnisse dar in diesem Bezirke, der einen ansehnlichen Männerüberschuß aufweist. In allen anderen Landesteilen ergibt sich eine Ungunst für die Männer; jedoch in denjenigen Gebieten, in denen ebenfalls ein wenn auch geringer Männerüberschuß vorliegt, wie in Rheinland, Westfalen, Hannover, Schleswig-Holstein, ist der Unterschied zu¬ ungunsten des männlichen Geschlechts geringer, als im Durchschnitt des Deutschen Reiches und besonders als in den Gebieten mit starkem Frauenüberschuß, wie Ostpreußen oder Stadt Berlin.

Wir haben also die paradox erscheinenden Tatsachen festge¬ stellt, daß in denjenigen Gebieten, in denen mehr Frauen als Männer vorhanden sind, weniger Frauen als Männer sterben, und umgekehrt, daß ein numerisches Überwiegen der Männer mit einer geringeren Sterblichkeit auf der männlichen Seite verbunden ist. Diese Erscheinungen, die dem naturgemäßen Verlauf direkt zu¬ wider sind, können gar nicht anders erklärt werden, als damit, daß dort, wo die Männer in der Minderzahl vorhanden sind, die größere Mortalität auf der männlichen Seite durch die ungünstige „Auslese“ infolge der Wanderungsverluste hervorgerufen wird. Wir meinen daher zu der Behauptung im allgemeinen berechtigt zu sein, daß das Vor h an den s ein ei nesFrauen über Schusses die relative physische Minderwertigkeit der in dem betreffenden Landesgebiet vorhandenen männlichen Bevölkerung dar tut. Nicht weil mehr Männer sterben, ent¬ steht der Frauenüberschuß, sondern weil durch die Wanderungs¬ verluste mehr kräftige Männer als Frauen verloren gegangen sind, weil also ein Frauenüberschuß künstlich hervorgerufen wurde, ist die Sterblichkeit unter der verhältnismäßig schwächlicheren männ¬ lichen Bevölkerung, die in der Heimat zurückgeblieben ist, ver¬ größert worden.

Wir haben nun dargelegt, daß der Frauenüberschuß vom sozial¬ hygienischen Standpunkte aus nicht zu begrüßen ist, wir haben ferner gezeigt, daß der Frauenüberschuß ein schlechtes Symptom für die körperliche Konstitution der männlichen Bevölkerung dar¬ stellt. Wie ist nun das Sinken des Frauenüberschusses, das wir in Deutschland seit dem Jahre 1895 ununterbrochen wahrnehmen, vom Sozialhygieniker zu bewerten?

Soweit die Abnahme des Frauenüberschusses auf die Ver-

Der Frauenüberschuß.

325

minderung der Wanderungen bei beiden Geschlechtern und insbe¬ sondere auf die Verringerung oder Beseitigung der männlichen Wanderungsverluste zurückzufühlen ist, kann vom sozialhygienischen Standpunkte aus das Sinken nur als willkommen bezeichnet werden. Der Frauenüberschuß kann aber auch noch aus einem anderen Grunde kleiner geworden sein.

Wir meinen nachgewiesen zu haben, daß der Frauenüberschuß die Folge davon ist, daß bei den starken Wanderungsverlusten mehr Männer als Frauen eingebüßt wurden; wir stellten jedoch nicht in Abrede, daß die gesundheitlichen Schädigungen, denen die Männer bei der Erwerbsarbeit ausgesetzt sind, den Umfang des Frauenüberschusses gefördert haben, wenngleich dieser Beein¬ trächtigung wiederum auf der weiblichen Seite die mit dem Ge¬ schlechtsleben verbundenen Nachteile das Gleichgewicht halten dürften. Diese mit der Berufstätigkeit verknüpften Schädigungen sind aber bei dem weiblichen Geschlecht besonders groß. Hierüber belehrt uns das bereits zitierte amtliche Werk x) über die „Krank- heits- und Sterblichkeitsverhältnisse in der Ortskrankenkasse für Leipzig und Umgebung“, aus dem wir folgende Zusammenstellung wiedergeben wollen:

Tabelle 16.

Es starben unter 100000 beobachteten Kassenmitgliedern:

In der Alters¬ klasse

Männliche Weibliche

versicherungspflichtige

Mitglieder

Männliche weniger ( ) mehr (-[-) gleichviel (=)

unter 15

94

94

_

15-19

274

307

33

20—24

463

493

30

25—29

492

601

109

30—34

587

657

70

Vergleichen wir die Tabellen 13 und 16, so finden wir, daß in der Gesamtbevölkerung die Sterblichkeit beim weiblichen Ge¬ schlecht nur in den Altersklassen von 25 bis 34 Jahren etwas größer ist als bei den Männern, daß aber bei der erwerbstätigen Bevölkerung, wie sie die Mitglieder der nach Millionen Personen zählenden Ortskrankenkasse in Leipzig und Umgebung darstellt, die weibliche Mortalität auch in den Altersklassen von 15 bis 19.

x) „Krankheits- und Sterblichkeitsverkältnisse in der Ortskrankenkasse für Leipzig und Umgebung.“ Berlin 1910. Verlag von Carl Heymann.

326 Alfons Fischer,

sowie von 20 bis 24 Jahren etwas, und in den Altersklassen von 25 bis 34 Jahren erheblich stärker ist als die männliche. Die Ergebnisse bei der Leipziger Krankenkasse werden nun aber mit Recht im Hinblick auf die gewaltige Ziffer der Kassenmitglieder als typisch für ganz Deutschland angesehen; man darf also annehmen, daß auch sonst in deutschen Landen sich diese Sterblichkeitsverhältnisse bei der erwerbstätigen Bevölkerung finden. Wenn man nun weiter berücksichtigt, wie sehr nach den Resultaten der letzten Berufszählung die Ziffer der erwerbs¬ tätigen Mädchen und Frauen in den letzten Jahren gewachsen ist, so wird man annehmen müssen, daß die Sterblichkeitsverhältnisse beim weiblichen Geschlecht durch die zunehmende Frauenarbeit immer mehr verschlechtert worden sind, und daß zum Teil auch hierauf der Rückgang des Frauenüberschusses beruhen kann. So sehr wir, nach den obigen Darlegungen, die Verminderung des Frauenüberschusses wünschen müssen, so wenig werden wir es begrüßen dürfen, daß er infolge der in der Verbindung von Erwerbs¬ arbeit und Mutterschaft liegenden Beeinträchtigungen sinkt.

Lassen sich nun Maßnahmen gegen die von uns geschilderten sozialhygienischen Mißstände ergreifen? Gibt es Mittel, um den Frauenüberschuß zu beseitigen oder zu verringern? Wir haben den Frauenüberschuß als eine Folgeerscheinung der starken Wande¬ rungsverluste erkannt. Alle Mittel, die dazu dienen, die starken Aus¬ wanderungen zu verhüten, werden auch bewirken, daß die Entstehung des Frauenüberschusses hintangehalten wird. Wo die Wanderungs¬ verluste fehlen, wird ein Männerüberschuß sich zeigen, denn die Natur bewirkt ja, daß mehr männliche als weibliche Kinder ge¬ boren werden, und wenn auch mehr Knaben infolgedessen sterben, so bleibt bei normalen Zuständen doch die männliche Mortalität hinter der weiblichen Sterblichkeit zurück, da den Schädigungen durch den größeren Umfang der Erwerbsarbeit bei den Männern die Nachteile durch das Geschlechtsleben bei den Frauen gegen¬ überstehen. Sobald also dafür gesorgt ist, daß die Wanderungs¬ verluste unterbleiben, sind anderweitige Mittel zur Verminderung des unerwünschten Frauenüberschusses wohl kaum mehr anzu¬ wenden. Dagegen darf man nicht achtlos an der Tatsache vorüber¬ gehen, daß das Sinken des Frauenüberschusses durch die weitere Ausdehnung der weiblichen Erwerbsarbeit hervorgerufen wird; den Schädigungen, die aus der Verbindung von Berufstätigkeit und Mutterschaft resultieren, muß man durch wirksame und umfassende

Der Frauenüberschuß.

327

Maßnahmen auf dem Gebiete des Mutterschutzes und der Mutterschaftsversicherung begegnen.

Fassen wir nun noch einmal kurz die hauptsächlichsten Er¬ gebnisse unserer Darlegungen zusammen. Wir sind uns wohl dessen bewußt, die Probleme auf diesem bisher kaum bearbeiteten Gebiete noch nicht endgültig gelöst zu haben ; dazu reicht schon das uns zur Verfügung stehende Material nicht aus; es wäre daher dringend wünschenswert, daß die hier erörterten Fragen einerseits an einem umfassenderen, internationalen Untersuchungsstoff geprüft und andererseits durch genau detaillierte Forschungen auf kleinen, beschränkten Landesgebieten ergänzt werden würden.

Immerhin läßt sich folgendes auf Grund unserer Darlegungen behaupten: Der Frauenüberschuß in Deutschland ist nicht die Folge von Vorgängen der letzten, sondern früherer Jahrzehnte; er ist dadurch entstanden, daß mehr Männer als Frauen ausgewandert sind. Vom sozialhygienischen Standpunkte aus ist der Frauen¬ überschuß als ein schlechtes Symptom für die körperliche Kon¬ stitution der männlichen Bevölkerung zu betrachten; im allgemeinen sterben in den Gebieten, in denen die Frauen in der Mehrzahl vorhanden sind, mehr Männer, und umgekehrt, wo ein Männer¬ überschuß besteht, mehr Frauen, während man gerade das Gegen¬ teil erwarten sollte. Zur Beseitigung oder Verminderung des Frauenüberschusses muß dafür gesorgt werden, daß die Wande¬ rungsverluste vermieden werden. Das Sinken des Frauenüber¬ schusses ist zu begrüßen; soweit aber diese Abnahme auf der stärkeren Ausdehnung der weiblichen Erwerbsarbeit beruht, muß durch Ausbau der Mutterschaftsversicherung Abhilfe beschafft werden.

Nachtrag bei der Korrektur.

Nachträglich sind mir einige Feststellungen in inzwischen erschienenen amtlichen Publikationen bekannt geworden, die für meine Behauptungen weitere Belege enthalten. Hiervon sei folgendes noch mitgeteilt:

Auf Grund der Volkszählung vom 1. XII. 1910 wurden be¬ rechnet, daß auf 100 männliche Personen weibliche kommen:

328 Alfons Fischerr Der Frauenüberschuß.

im Deutschen Reich 102,64 im Reg.-Bez. Breslau 111,18

Aurich 92,58

Stade 96,61

Trier 96,25

Nun ergibt sich aber aus dem „Gesundheitswesen des Preußi¬ schen Staates“ 1909 (erschienen 1911), daß von allen Bezirken nur Aurich eine geringere Mortalität beim männlichen Geschlecht auf¬ weist; im Bezirk Stade ist die Sterblichkeit bei beiden Geschlechtern gleich; im Bezirk Tier starben nur sehr unerheblich mehr männ¬ liche Personen als weibliche. In allen anderen preußischen Be¬ zirken überwiegt die Mortalität beim männlichen Geschlecht; in keinem Regierungsbezirk ist aber die Differenz bei der Sterblich¬ keit zuungunsten der Männer so groß, wie im Bezirk Breslau, der den höchsten Frauenüberschuß auf weist.

Ans der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik in Berlin.1)

Sitzung vom 1. Dezember 1910.

Herr Max Flesch (Frankfurt a. M.) trägt vor über „Hygienische Ergeb¬ nisse der Aktienbaugesellschaft für kleine Wohnungen in Frankfurt a. M.“

(Vgl. S. 252, VII. Bd., 2. Heft dieser Zeitschrift.)

Als weiteres günstiges Moment schließt sich daran die unzweifelhafte Tat¬ sache, daß sich hei der Bevölkerung der Aktienwohnungen eine gewisse Auslese besseren Menschenmaterials vollzieht : die Vorausbezahlung der Miete ist eine Forderung, der sich nur solide Leute unterordnen können. Und nach anderer Seite minderwertige Elemente werden durch den Mieterausschuß bald eliminiert, so daß in gewissem Sinne eine Elite unter ihresgleichen, unter den durch geringen Lohn und große Kinderzahl ungünstig gestellten Arbeitern sich in den Aktien¬ häusern vereint. Es wird wohl nicht bezweifelt werden können, daß in diesen Tatsachen wesentliche Faktoren zur Herbeiführung günstiger hygienischer Ver¬ hältnisse gelegen sind. Aber ausschlaggebend sind sie sicher nicht. Denn ehe diese Leute in die Wohnungen der Aktienbaugesellschaft gelangt sind, waren sie doch vermutlich nicht minder frei von unehelichen Geburten, nicht minder solid, nicht minder gewissenhaft in der Zahlung der Miete usw. Gleichwohl waren ihre hygienischen Verhältnisse keine anderen als die der Durchschnittsbevölkerung. Noch bei der Übersiedlung in die Aktienhäuser und während des ersten Jahres ihres dortigen Wohnens haben sie ja die alte größere Sterblichkeitsziffer, derart, daß wie wir gezeigt haben jeder Nachschub bei Eröffnung einer neuen Wohnungsgruppe in deren relativ größeren Mortalität zum Ausdruck kommt. Also muß doch das Gelangen in die neuen Wohnungsverhältnisse von Einfluß sein.

Dieser Einfluß zeigt sich nun nicht nur in der Sterblichkeitsziffer der alle Altersstufen einschließenden Gesamtbewohnerschaft der Aktienhäuser. Er zeigt sich auch in der Sterbeziffer der Jugendlichen und vor allem der Säuglinge.

Was die jugendlichen Individuen unter 15 Jahren betrifft, beschränken wir uns auf den Hinweis auf die oben mitgeteilte Tabelle. Sie zeigt da ein ähn-

*) Nach den Verhandlungen der Gesellschaft, abgedruckt in Nr. 1, 2, 3, 4 u. 6 der „Medizinischen Reform“, 1911, herausg. von R. Lennhoff.

330 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.

liches Gesicht, wie bei der Gesamtbewohnerschaft : die Differenz zwischen der in Prozenten ausgedrückten Mortalität der entsprechenden Gruppe in der Stadt und in den Aktienhäusern ist aber noch größer. Leider fehlen die Ziffern für die Stadt aus den beiden letzten Berichtsjahren; auch können die Zahlen nicht den gleichen Anspruch auf Exaktität erheben, wie die der vorigen Gruppe, weil die Ziffern für die jugendliche Bevölkerung der Stadt nicht auf Zählung und Fort¬ schreibung seitens des statistischen Amts beruhen, sondern auf Fehler nicht aus¬ schließenden Approximativberechnungen. Immerhin beweist die Größe der Differenz, daß gerade das jugendliche Alter unter den Verhältnissen der Wohnung in den Aktienhäusern seine Bechnung findet, das Alter also, in welchem, weil Berufs¬ schädigungen und Alkoholismus noch nicht von Einfluß sind, die sonstigen Ver¬ hältnisse am reinsten zum Ausdruck kommen.

Ein ganz besonderes Interesse bietet die vergleichende Betrachtung der Sterblichkeit des ersten Lebensjahres. Darüber stehen zwar nur die Ziffern der sechs letzten Jahrgänge zur Verfügung; aber diese sind charakteristisch genug, auch wenn es sich nur um relativ kleine Zahlen bei der Aktienbaugesellschaft handeln kann. Im Gegensatz zu der Mortalitätsziffer der Jugendlichen ist die des ersten Lebensjahres von der der Gesamtbevölkerung der Stadt nicht immer weit verschieden; in einem Jahre 1906 weisen sogar die Aktienhäuser für diese Altersstufe eine nicht unerheblich größere Sterblichkeit auf, als die sonstige Bevölkerung (20,7 Proz. gegen 16,5 Proz.). Die Vergleichung ergibt, wenn man Anfang und Ende ins Auge faßt, wie bei der Gesamtsterblichkeit eine Abnahme (von 16,0 Proz. auf 12,37 Proz. in der Stadt, von 16,4 Proz. auf 8,0 Proz. in den Aktienhäusern). Auch darin stehen sich die Verhältnisse gleich, daß das Ab¬ sinken der Kurve für die Aktienhäuser ein stärkeres ist als für die Stadt. Aber es erhellt aus der Betrachtung der Kurve auch ohne weiteres, daß für deren Ge¬ staltung andere Faktoren als die für die Gesamtmortalität maßgebende Bedeutung erhalten haben. Die Ausschläge für die einzelnen Jahrgänge sind unverhältnis¬ mäßig größer bei den Insassen der Aktienhäuser als bei der Gesamtbevölkerung; außerdem aber sind die Ausschläge in mehreren Jahren entgegengesetzt gerichtet: Also ist nicht nur die relative Kleinheit der Zahlen zur Erklärung der größeren Schwankungen anzuführen. Es müssen andere Faktoren hier im Spiel sein. Es fällt nämlich die Höhe der Sterblichkeitskurve für die Bewohner der Aktienhäuser mit einer ungewöhnlich großen Geburtenziffer zusammen (140 gegen 130 bzw. 107 in 1905 bzw. 1907). Auch für die Stadt überhaupt hat aber das Jahr 1906 eine relativ große Geburtenziffer (1905 9439, 1906 10069, 1907 9831). Das Plus ist sogar relativ größer als bei der Aktienbaugesellschaft (28,7 Geburten auf tausend Lebende in der Stadt gegen 27,9 in den Aktienhäusern). Gleichwohl hat die Ge¬ samtsterblichkeit in der Stadt kaum eine besondere Höhe erreicht (16,01). Die Sterblichkeit der Kinder im ersten Lebensjahr ist sogar eine relativ geringe (1415 auf 10069 gegen 1577 auf nur 9439 in 1905 und 1278 auf 9831 in 1907). Der die ungewöhnlich große Kindersterblichkeit im ersten Lebensjahr für die Aktienhäuser bedingende Grund muß also irgendwie in diesen bzw. in deren Ein¬ wohnerschaft lokalisiert sein. Und zwar gibt uns die Tabelle selbst nach dieser Richtung einen Fingerzeig: Auch die Sterblichkeit der Jugendlichen bis zum 15. Jahr ist in den Aktienhäusern in 1906 eine ungewöhnlich hohe: 16,22 Prom. gegen 12,52 im vorhergehenden, 11,53 im folgenden Jahre, während gleichzeitig in der Stadt die entsprechenden Altersstufen keinerlei Zunahme aufweisen; im Gegenteil fügt sich die Ziffer pro 1906 (21,66) nach einem kleinen Anstieg im

r

Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 331

Vorjahre ganz regelrecht in den absteigenden Gang der Sterbeziffern ein. Damit ist ein allgemeiner Grund ausgeschlossen. Die Prüfung der Todesursachen klärt diesen Grund auf: das Jahr 1906 zeichnet sich durch eine größere Zahl von Todesfällen an Darmkatarrhen aus. 14 gegenüber je 3 im vorangegangenen und im folgenden, 9 in dem bis dahin ungünstigsten Jahre seit dem Beginn der Statistik. Leider ist aus den Berichten nicht mehr zu ermitteln, ob es sich bei diesen Fällen um eine auf einen Häuserblock beschränkte Endemie handelt. In der Stadt weist das Jahr 1906 kein Mehr von Todesfällen an Cholera nostras und Mo gendarmkrankh eiten auf. Da nicht weniger als 12 von den 14 Todesfällen an Brechdurchfall und Magendarmkatarrh das erste Lebensjahr betreffen, so ist viel¬ leicht irgendeine Zufälligkeit in der Milchversorgung für die Säuglinge ausschlag¬ gebend geworden. Auf statistischem Wege ist bei der kleinen Zahl der Todes¬ fälle in diesem Punkt nicht weiterzukommen. Von besonderer Bedeutung für uns ist immerhin noch die Feststellung, daß gerade in den Altern, in welchen die Sterblichkeit der unehelichen ihre größte Bolle spielt, im ersten Lebensjahre, die Differenz zwischen der Stadt und den Aktienhäusern, in welchen fast keine unehelichen Geburten Vorkommen, eine relativ kleine ist. Dem ungünstigen Moment der unehelichen Geburt hält also der Kinderreichtum in den Aktien¬ häusern annähernd die Wage.

Aus demselben Grunde ist auch von einem Eingehen auf die einzelnen Sterblichkeitsursachen nicht allzuviel zu erwarten. Immerhin bietet die folgende Tabelle 2, in welcher die Ziffern der wichtigsten Gruppen der Todesursachen im Vergleich mit der Einwohnerzahl der Aktienhäuser zusammengefaßt sind, genug des Interessanten. Das Material der Jahresberichte ist allerdings in diesem Punkt recht dürftig, so daß insbesondere bei der Kleinheit der Ziffern bei der Verwertung große Vorsicht geboten ist. Aus diesem Grunde lohnt es sich auch nicht, hier wieder Vergleichstabellen mit dem Material der Stadt aufzustellen. Das würde auch deshalb schon schwer werden, weil die Bubrizierung der Todesursachen in den Berichten des städtischen statistischen Amtes seit einigen Jahren geändert worden ist, so daß innerhalb der Berichte des Amtes selbst die Basis wechselt, daß dann wiederum das Schema der Bezeichnung der Todesursachen in den Be¬ richten der Gesellschaft nicht mit dem der amtlichen Berichte übereinstimmt. Vielleicht wird in künftigen Jahren die Statistik sich unter Zugrundelegung des auch in den letzteren gebrauchten Formulars aufnehmen lassen.

In den Zahlen der Tabelle 2 kommt wieder die im allgemeinen günstige Mortalität bei der Bewohnerschaft der Aktienhäuser zum Ausdruck. Am schlagendsten wird sie bei der Proletarierkrankheit, der Tuberkulose, erwiesen. Gerade allerdings bezüglich dieser Todesursache sind die Berichte ergänzungs¬ bedürftig, insofern bei der Bubrizierung keine Trennung zwischen tuberkulöser und sonstiger Hirnhautentzündung vorgenommen ist. Aber selbst wenn ich sämt¬ liche Fälle von Meningitis als tuberkulöse Erkrankungen zurechne in der Tabelle ist das bei den eingeklammerten Zahlen geschehen steht sich die Tuberkulosesterblichkeit der Aktienhäuser niedriger als die der Stadt. Selbst wenn wir ein verhältnismäßig ungünstiges Vergleichsjahr wählen ich greife 1908 heraus, mit relativ viel (10) Tuberkulose bei den Bewohnern der Aktien¬ häuser, relativ wenig bei der städtischen Bevölkerung (775) bleibt die Tuber¬ kulosesterblichkeit in den Aktienhäusern mit 1,85 Prom. nicht unerheblich hinter der Stadt mit 2,15 Prom. zurück. Daß das Verhältnis noch wesentlich besser wäre, wenn die Hirnhautentzündungsfälle der Gesellschaftshäuser nicht willkürlich

332 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.

Tabelle 2.

Jahrgang

1899

1900

1901

1902

1903

1904

1905

1906

1907

1908

1909

Bewohner¬

zahl

1360 b

2803

3042

4155

4303

4654

4924

5008

5365

5351

5677

Sterbefälle an Tuber¬ kulose

2

1

2

8(10)* 2)

7(8)

3(5)

8(10)

7(10)

3

8(10)

9(10)

Epidemische

Krankheiten

1

1

4

2

6

2

1

1

2

4

2

Brechdurch-

fall u. Magen- darmkatarrh

0

3

3

5

8

9

3

14

3

4

2

als Tuberkulose gezählt werden, ist klar. Scheinbar etwas ungünstiger als hei der städtischen Bevölkerung stehen sich die Bewohner der Aktienhäuser bezüglich der epidemischen Krankheiten. Berechnet man den Prozentsatz der daran Ge¬ storbenen, so erscheint ein Mehr bei letzteren, das um so größer ist, je mehr man die Vergleichung auf die einzelnen Infektionskrankheiten beschränkt. Gruppen¬ erkrankungen an Diphtherie oder Scharlach sind hier die Ursache ; denn an sich ist der Boden für epidemische Krankheiten offenbar in den Aktienhäusern kein fördernder. Es fehlt unter den Todesursachen fast ganz der Keuchhusten, die Infektionskrankheit also, die in der Stadt sonst am meisten Opfer fordert ; ebenso Masern und Influenza. Das sind aber die Infektionskrankheiten, welche in un¬ günstigen Ernährungs- und Wohnungsverhältnissen nach den sonstigen Er¬ fahrungen am schlimmsten wirken. Es sind Gruppenerkrankungen an Diphtherie, welche eine verhältnismäßig hohe Mortalität an Infektionskrankheiten bewirken. Hier kommt wohl zur Geltung, daß die Bewohnerschaft der Aktienhäuser sich aus den kopfreichsten Familien zusammensetzt; Diphtherie ist eine vergleichs¬ weise Dichtigkeitskrankheit. Umgekehrt steht es wieder bezüglich der Mortalität an Brechdurchfall und Magenkatarrh. Sie hat für uns ein besonderes Interesse, weil sie für die Sterblichkeit im ersten Lebensjahre ausschlaggebend ist. Die Schwankungen sind allerdings hier, wie bei dem Aufbau der Statistik für die Aktienhäuser auf kleinere Zahlen zu erwarten ist, größere als in der Stadt. Mit Ausnahme des Jahres 1906 mit seiner ganz ungewöhnlichen Sterblichkeit an diesen Krankheiten ergibt sich aber wieder ein Minus zugunsten der Aktienhäuser, z. B. 1908 bei 4 Todesfällen 0,95 gegen 1,55 Prom. in der Stadt.

Fassen wir die sich aus den Zahlen ergebenden Tatsachen zusammen, so kommen wir zu der Feststellung, daß unzweifelhaft die hygienischen Verhältnisse der Bewohner der Aktienhäuser, soweit sich aus den Sterblichkeitsziffern ein Schluß ziehen läßt, günstigere sind, als bei der umgebenden Bevölkerung. Die

b Die im letzten Quartal hinzugezogenen Bewohner sind nicht mitgezählt (vgl. Tabelle 1) doch hat bei ihnen kein Todesfall an Tuberkulose stattgefunden.

2) Die in Klammern geschlossenen Zahlen ergeben sich aus dar Zuzählung der Todesfälle an Hirnhautentzündung im jugendlichen Alter unter der Annahme, daß es sich um Tuberkulose handle.

Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 335

günstigere Mortalität zeigt sich als wesentlich bedingt durch eine erheblich ge¬ ringere Sterblichkeit in den jugendlichen Altersperioden. Dabei ist das erste Lebensjahr zwar mitbeteiligt, doch in geringerem Maße als die folgenden Jahre. Die günstige Mortalität der Bewohner der Aktienliäuser ist nicht etwa ein Aus¬ druck einer von vornherein besonders günstigen Beschaffenheit des die Einwohner¬ schaft zusammensetzenden Menschenmaterials, sondern eine Folge der in diesen Häusern gebotenen Wohnungsbedingungen.

Einer besonderen Ausführung bedarf aus diesen Sätzen die Feststellung, daß die günstigen hygienischen Verhältnisse der Bewohner der Aktienhäuser nicht an diesen selbst haften, sondern ihnen erst durch ihr Wohnen zuteil werden. Wir haben früher betont, daß es sich bei ihnen um eine relative Elite unter ihresgleichen handelt. So könnte man auf den Gedanken kommen, daß ihre günstige Mortalität der Ausdruck ihres günstigen sozialen wirtschaftlichen und ethischen Verhaltens sein könne. Indessen stehen den günstigen Momenten auch ungünstige genug gegenüber. Handelt es sich auf der einen Seite vielleicht um besonders sparsame und solide Leute, die ja an sich gewiß manchen Schädigungen relativ wenig ausgesetzt sein mögen, so muß andererseits der große Kinderreichtum nach der ungünstigen Seite in Betracht gezogen werden. Nach der Volkszählung von 1905 kamen in der ganzen Stadt Frankfurt bei 321 289 Einwohnern auf eine Wohnung 4,39 Personen eine Zahl, die, beiläufig bemerkt, wahrscheinlich seit¬ dem eher kleiner geworden sein dürfte. Demgegenüber kommen in den Aktien¬ häusern noch 1909 auf eine Wohnung 4,72 Personen, erheblich mehr also als in der Stadt, noch mehr als in den Wohnungen verwandter Institutionen, der ge¬ meinnützigen Baugesellschaft mit 3,77, des Bau- und Sparvereins mit 4,02 Köpfen. Daß aber die Bewohner der Aktienhäuser nicht zu aller Zeit die günstige Mortalität aufweisen, die ihnen dort zuteil wird, geht einfach daraus hervor, daß sie diese günstige Mortalität erst nach einiger Zeit erlangen; so oft neue Bewohner zu¬ ziehen, bewirkt das eine vorübergehende Steigerung der Sterblichkeit, wie oben bei dem Hinweis auf die höhere Sterblichkeit im Jahre 1902, nach Neubesiedelung einer besonders großen Zahl von Wohnungen.

So kommen wir zu der Frage, was denn eigentlich die günstigen Gesund¬ heitsverhältnisse in den Aktienhäusern bewirkt. Eine Beihe von Faktoren wirkt da sicher zusammen, hygienische im engeren Sinne ebenso wie wirtschaftliche. Zu ersteren rechne ich die bessere Bauweise, gegenüber manchen namentlich älteren Stadtteilen, die Ausstattung der Wohnungen mit Badegelegenheit, Spiel- und Bleichplätzen, Einzelgärten usw., und die durchschnittlich solidere Lebens¬ haltung. Aber all dies könnte kaum als genügende Erklärung für die große Differenz zwischen der allgemeinen Mortalität der Stadt und der Aktienhäuser gelten. Die Mortalität war schon in den älteren Bauten der Gesellschaft erheblich günstiger als in der Stadt in einer Zeit, in der die Wohnungen noch recht viel zu wünschen übrig ließen; es wurden sogar vor der Genehmigung der späteren Bauten in der Stadtverordnetenversammlung recht schwere Angriffe gegen die Bauart, besonders die Anordnung der Klosetts u. a. m. gerade von ärztlicher Seite erhoben. Und daß die Lebensweise der Bewohner nicht alles bewirkt, zeigt die größere Mortalität im ersten Jahre des Zuzuges. Es ist doch nicht an¬ zunehmen, daß die Leute erst nach dem Beziehen der neuen Wohnung solid ge¬ worden sein sollen; sie werden wohl vorher dieselben gewesen sein, wie später in der neuen Wohnung. Unverkennbar ist aber der wirtschaftliche Fortschritt bei dem Beziehen des neuen Heims, der sich, wie wir gezeigt haben, nicht nur Archiv für Soziale Hygiene. VII.

334 A11S der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene nnd Medizinalstatistik.

im Mietspreis, sondern durch die günstigen Einkaufgelegenheiten und andere? Wohnungsergänzungen einstellt. Was an Miete gespart Avird, kommt der Er¬ nährung zugute; und das allerdings ganz besonders hei einem durch die Bereit- Avilligkeit zum Vorauszahlen der Miete als sparsam und solid gekennzeichneten Menschenmaterial.

Führen Avir so die Besserung der Gesundheitsverhältnisse in erster Linie auf die Avirtschaftliche Bessergestaltung zurück, so dürfen Avir dann auch die Rückwirkung sozialer Einflüsse anderer Art nicht übersehen. Die EinAvohner- schaft der Aktienhäuser ist aus früher erörterten Gründen eine seßhaftere als die ■anderer Wohnungen. Das hat aber naturgemäß zur Folge, daß die jugendlichen Altersstufen eine Beschränkung erfahren.1) Mit der Zeit hört der GeburtenzuAvachs in den einzelnen Familien auf; das am meisten gefährdete Säuglingsalter kommt damit in Wegfall. Es kommt zu einem relativen ÜberAAÜegen der eine geringere Sterblichkeit aufAveisenden Lebensperioden. Das erklärt uns das gegenüber der Stadt stärkere Sinken der Mortalitätskurve in den späteren Jahren, in Avelchen überdies durch vorübergehende Erschwerung der Fortsetzung der Bauten neue Ansiedler nur in geringer Zahl zufließen. Wenn dann überdies in den älteren Blocks die BeAvohnerzahl dadurch abnimmt, daß die herangewachsenen Kinder, selbständig geworden, aus der elterlichen Wohnung verziehen, wird eine Abnahme der Kopf¬ zahl in den Wohnungen ein weiteres günstiges Moment schaffen, das allerdings- zurzeit erst in einem der kleineren Wohnungsblocks zur Geltung kommt.

Ein anderes nicht zu übersehendes soziales Moment für die zunehmende- Besserung der Gesundheitszustände ergibt sich Avieder aus der Verbesserung der Lebenshaltung durch Ersparung an Ausgabe für Miete in der Weise, daß die Frauen darauf verzichten können, als Zugehefrauen eine Nebeneinnahme zu er¬ werben. Sie ziehen es vor, im eigenen Haushalt zu arbeiten; mancherlei Avird dabei erspart, so daß der Ausfall nicht einmal ganz zur Geltung kommt. Um so mehr von Wert ist die größere Sorgfalt, die nun den Kindern durch bessere Be¬ aufsichtigung und Reinhaltung zuteil Avird. Am meisten ist das in dem am Aveitesten von der Innenstadt entfernten „Erbbau“-Block geschehen, dessen Be- Avohnerinnen einen so großen Weg zu den Arbeitsgelegenheiten als Monatsfrauen¬ zurücklegen mußten, daß der Ertrag kein rechtes Äquivalent mehr Avar. Dort konnte die ursprünglich vorgesehene Krippe eingehen, Aveil tatsächlich trotz der großen Kinderzahl das Bedürfnis fehlte.

Es kann schließlich gleich sein, Avelcher der genannten Faktoren den größten Einfluß geübt hat. Die Tatsache, die aus dem großen hygienischen Experiment der Ansiedelung eines erheblichen Bevölkerungsteils einer Stadt in hygienisch günstige Wohnungen zu mäßigem Mietspreis hervorgeht, ist unanfechtbar. Im Anschluß an die Besserung der Wohnungsverhältnisse sinkt die Mortalität der Bewohner so sehr, daß dem kein anderes Ergebnis hygienischer Maßnahmen auf einzelnen Gebieten die Wage halten kann. Ist doch bei so manchem Versuch hygienischer Verbesserungen das Ergebnis so geringfügig, daß seine Existenz überhaupt in Frage steht. Von der unzählige Beamte und Ämter zum ZAveck der Eindämmung der Geschlechtskrankheiten in Bewegung setzenden Reglemen¬ tierung der Prostitution ist ein zahlenmäßiger Erfolg überhaupt bestritten. Der

Auf Bitten der Bewohner einzelner Blocks haben dort auch Belehrungen über Beschränkung der Kinderzahl stattgefunden, die nicht ohne Einfluß geblieben, sind, Avie der Abfall der Geburtenziffer 1906/7 zeigt.

Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 335

Kampf gegen die Verheerungen des Alkoholismus hat kaum zu einem Stillstand, geschweige denn zu einer merklichen Minderung geführt. Die unzweifelhaft ja nachweisbare Abnahme der Tuberkulose ist, gegenüber den Riesenaufwendungen für den Bau unzähliger Volksheilstätten eine geringe, nach wenigen Prozenten zu berechnende.

Die Erfolge der Stillprämien und Säuglingsberatungsstellen, so warm be¬ fürwortet von allen Seiten, sind vorläufig noch weit mehr Gegenstand lebhafter Wünsche als nachgewiesener Wirksamkeit. Das Experiment der Aktienbaugesell¬ schaft greift hier weiter, als die speziellen Bestrebungen. Sowohl die Schwind¬ suchtssterblichkeit als die Kindersterblichkeit einer inmitten eines großen Gemein¬ wesens lebenden, die Einwohnerschaft einer kleinen Stadt repräsentierenden Menschengruppe, heben sich innerhalb ihrer Umgebung dermaßen vorteilhaft ab, als ob die Schaffung der neuen Wohnungen nur ihre Bekämpfung zum Ziel ge¬ habt hätte. Nicht als ob man daraus schließen dürfte, nun müßte alle Hygiene in Wohnungsbau aufgehen. Daß aber Kanalisation, Wasserversorgung und Wohnungsbeschaffung die Grundpfeiler der Hygiene sind, steht außer Zweifel. Und daß es sich unter allen Umständen lohnen wird, gute billige Wohnungen als Vorbeugung der Tuberkulose, als Sicherung der heranwachsenden Jugend vor frühem Säuglingstod, vor späterer skrofulöser Schwächung zu begründen, wird durch das Experiment, dessen Ergebnisse wir hier zu schildern versucht haben, unzweideutig bewiesen.

Sitzung vom 15. Dezember 1910.

••

Herr W. Butt er milch -Berlin trägt vor über „Uber den Wert einer zen¬ tralisierten kommunalen Säuglingsfürsorge.“ Kein Zweig der sozialen Hygiene hat in den letzten Jahren zu sovielen theoretischen Erwägungen und zu so zahl¬ reichen praktischen Einrichtungen geführt, wie die Mutter- und Säuglings¬ fürsorge. So verschieden auch die Wege sind, die man beschritten hat, das Endziel, nach dem alle strebten, war das gleiche: Den jüngsten Erdenbürgern die „ihnen durch die Natur gegebene geringste Sterblichkeit zu verschaffen“. Wenn man der historischen Entwicklung nachgeht, so sieht man, daß, wie bei fast allen in den Dienst der Humanität gestellten Einrichtungen, in früherer Zeit zunächst die private Wohlfahrtspflege die Hauptstütze auch der sozialen Säuglings¬ fürsorge war. Doch bald hat man einsehen gelernt, daß in Anbetracht der ganz außerordentlich schwierigen Aufgaben, die es zu lösen gilt, und der großen mate¬ riellen Opfer, die dies Problem erfordert, nur mit großen Mitteln, die Staats-, Kommunalverbände und Privatwohltätigkeit zur Verfügung stellen, etwas Gutes und Durchgreifendes zu erreichen ist. Was aber immer geschehen sein mag seit der Zeit, da man aufgehört hat, vor der excessio hohen Säuglingssterblichkeit wie vor einem unabänderlichen Geschick zu resignieren, vras man auch immer Großes und Bedeutendes geschaffen hat, es fehlt an den meisten Stellen noch an einer systematischen Zusammenarbeit und planmäßigen Ausge¬ staltung, die man kurz mit dem Namen Zentralisation bezeichn et. Nach den Berichten, die gerade in letzter Zeit aus verschieden Teilen Deutsch¬ lands über die offene und geschlossene Säuglingsfürsorge veröffentlicht worden sind, ersieht man jedoch, daß man jetzt in einigen ländlichen Bezirken dazu übergeht, die mannigfachen Teile der sozialen Säuglingshygiene fester zusammen¬ zufassen und die Ausführung der notwendigen Maßnahmen einem Zentralorgan

22*

336 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.

zn übertragen. Nur beim Zusammenschluß der einzelnen Faktoren, nur, wenn man dem Feind yon allen Seiten in einem geordneten Angriff entgegentritt, darf man berechtigte Hoffnung haben, ihn zu schlagen. Durch Verzettelung oder Zer- spliterung der Kräfte erringt man wohl kleine Einzelerfolge ; ein ganzer Sieg wird es wohl niemals werden. Mit Recht betont deshalb Tugendreich am Schlüsse seines Handbuches, in dem er alle Maßnahmen der offenen und ge¬ schlossenen Mutter- und Säuglingsfürsorge auf das Eingehendste abhandelt : „Wich¬ tiger noch als die Gründung neuer Einrichtungen scheint daher gegenwärtig die Zusammenfassung, die Zentralisation des Bestehenden, damit endlich geordnete Zweckmäßigkeit in dem Fürsorgechaos Platz greift. Die Fürsorge der Großstädte « leidet unter der Zerrissenheit und Amateurhaftigkeit der sozialen Fürsorge. Jeder Faktor spinnt seine Fäden unbekümmert um den Nachbar.“

Wenn ich nun dazu übergehe, über Institutionen zu berichten, wie sie in der Gemeinde Weißensee seit einigen Jahren, beinahe seit derZeit, da man die ersten Einrichtungen in der sozialen Säuglingsfürsorge geschaffen hat, existieren, so will ich zunächst in wenig Worten auf die Arbeit von P e i s e r eingehen, die vor einigen Wochen in der Medizinischen Reform unter dem Titel „Der Erfolg der Säuglingsfürsorge in Arbeitervierteln“ erschienen ist. P eis er verglich die Sterblichkeitsverhältnisse der Säuglinge in den vier östlichen Vorortgemeinden Groß-Berlins : Boxhagen-Rummelsburg, Lichtenberg, Friedrichsfelde und W eißensee. Er greift gerade diese Gemeinden zum Vergleich heraus, weil sie ungefähr die gleichen hygienischen und sozialen Verhältnisse bieten und weil von allen vier Orten nur Weiße nsee über eine kommunale Säuglingsfürsorge verfügt. Das Resultat dieser vergleichenden Studien ist folgendes : Weiße nsee zeigt von allen vier genannten Vorortgemeinden den stärksten Abfall der Säuglingssterblichkeit, mag man die Gesamtzahl der Gestorbenen beziehen auf 100 Lebendgeborene oder 1000 Einwohner oder in ein Verhältnis setzen zur Gesamtzahl der Verstorbenen. Aus der vergleichenden Statistik kommt P eis er zu dem Schluß , daß eine systematische Fürsorge imstande ist, auch in wirtschaftlich ungünstigeren Bevölkerungskreisen die Säuglingssterblichkeit herabzusetzen.

Im Anschluß an die vorliegenden Tabellen, für die ich die Zahlen teils dem Weißenseer Wohlfahrtsamt, teils der Charlottenburger Statistik vom Mai d. J. über die Säuglingssterblichkeit entnommen und berechnet habe, seien mir nur noch einige kurze statistische Bemerkungen gestattet, wenn auch derartige Ver¬ gleiche nicht immer einwandfrei sind.

Betrachten Avir die Tabelle I, so sehen wir, daß die Gesamtsterblichkeit in den Jahren 1906, 1907, 1908 in Weißensee ungefähr dieselbe geblieben, die

Tabelle I.

Mortalität

in Weißensee

Jahr

Zahl der Sterbefälle

Totgeburten

Insgesamt

Davon Kinder unter 1 Jahr

m.

w.

m.

w.

m.

w.

m.

w.

1905

493

390

38

19

531

409

221

183

1906

431

352

19

20

450

372

214

156

1907

392

369

30

23

422

397

144

131

1908

414

377

25

20

439

397

149

130

Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 337

Tabelle II.

Gemeindebezirk

Sterbefälle im 1. Lebensjahre auf 100 Lebendgeborene

Die Abnahme der Mortalität im

1. Lebensjahr betrug von 1905 1909

1905

1906

1907

1908

9109

absolut

Proz.

Berlin .

Groß-Berlin ....

Rixdorf .

Weißensee ....

20,60

20,19

22,31

32,96

17,71

17,67

19,50

27,31

16,28

15,72

15,49

22,40

16,77

16,72

18,41

23,30

15,63

15.14 16,29

19.15

4,97

5,05

6,02

13,81

24,1

25,01

27,0

41,90

Charlottenburg . .

Frankfurt a. M. . .

15,62

17,27

14,16

14,51

12,57

13,42

12,79

13,90

12,11

12,37

3,51

4,90

22,5

28,4

Stettin .

26,35

24,08

21,75

24,32

21,28

5,07

19,2

Tabelle III.

Jahr

Gestorbenen

überhaupt

Darunter im 1.

überhaupt

Lebensjahre

Proz. der Ge¬ storbenen

Die Großstädte des Deutschen Reiches

1905

163 731

57 049

34,84

1906

159 327

53 713

33,71

1907

159 412

48 946

30.72

1908

162 089

49 465

S0,52

1909

156 728

44 686

28,51 !)

Groß-Berlin

1905

47 412

14 796

31,21

1906

45 919

13 849

30,16

1907

45 906

12 438

27.09

1908

47 324

13115

27,71

1909

46 262

11342

24,52* 2)

Weißensee

1905

883

404

45,75

1906

783

370

47,12

1907

761

275

36,39

1908

791

279

35,27

1909

738

233

31,57 3)

Mortalität der Säuglinge jedoch stark zur lick gegangen ist. Der Anteil der Gestorbenen im 1. Lebensjahre an der Gesamtmortalität ist sowohl in Groß-Berlin wie in den deutschen Großstädten als auch ganz besonders in Weißensee, wie ein Blick auf Tabelle III lehrt, in den Jahren 1905 bis 1909 in stetigem Sinken begriffen, so in Groß-Berlin von 31,21 Proz. im Jahre 1905 bis auf 24,52 im Jahre 1909. Das bedeutet eine absolute Differenz von 6,69 oder 21,43 Proz. In den deutschen Großstädten ist die Säuglingssterblichkeit in diesen Jahren von 34,84 Proz. bis auf 28,51 Proz. gesunken. Das ergibt eine Differenz von 6,33

also ein Rückgang um 6,33 oder 18,16 Proz.

2) also ein Rückgang um 6,69 oder 21,43 Proz.

3) also ein Rückgang um 14,18 oder 30,99 Proz.

338 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin. Hygiene und Medizinalstatistik.

oder 18,16 Proz., während die Säuglingsmortalität in Weihensee von 45,75 im Jahre 1905 auf 31,57 Proz« (1909), also absolut um 14,18 oder 31 Proz. zurück¬ gegangen ist. Berechnet man die Sterbefälle im 1. Lebensjahr auf 100 Leben d- geboreüe, wie dies in der Tabelle II geschehen ist, so ergibt sich, daß Weißensee seit dem Jahre 1905 einen Rückgang um 13,81, d. h. um 41,90 Proz. zu ver¬ zeichnen hat, während z. B. die Säuglingssterblichkeit in Rixdorf nur um 6,02, d. h. um 27 Proz., in Berlin und Groß-Berlin nur um etwa 25 Proz. gesunken ist.

Wenn es auffallend erscheint, daß Weißensee immer noch eine höhere Sterblichkeitsziffer zeigt als Groß-Berlin, so ist hierbei außer der ungünstigen sozialen Lage eines großen Teiles der Bevölkerung noch der Umstand in Rech¬ nung zu ziehen, daß sich auf Weißenseer Gebiet eine private Entbindungsanstalt, Betli-Elim, befindet, die, abgesehen von den übrigen ortsfremden Kindern, allein schon mit etwa 10 Proz. an der Gesamtsäuglingssterblichkeit beteiligt ist, so daß man gerade hier von einem nennenswerten Einfluß der Sterbefälle von nicht ortsangehörigen Kindern auf die Gesamtsäuglingsmortalität sprechen darf.

Wie sich die Verhältnisse in Städten mit besserer oder gar vorwiegend guter Bevölkerung stellen, ersieht man aus den zum Vergleich herangezogenen Städten Charlottenburg und Frankfurt a. M., wo die Säuglingssterblichkeit nur um 22,5 bzw. 28,4 Proz. gesunken ist, die aber beide mit 12,11 Proz. bzw. 12,37 Proz. fast die niedrigste Sterblichkeitsziffer der deutschen Großstädte aufweisen. In Stettin dagegen ist die Sterblichkeit nur um 19,2 Proz. gesunken, und ist absolut immer noch höher als in der Gemeinde Weißensee.

Ein Maßstab dafür, ob und in welchem Umfange eine geordnete Fürsorge imstande ist, die Säuglingssterblichkeit in günstiger Weise zu beeinflussen, bieten vor allem drei Faktoren : 1. der Rückgang der Sterbefälle unehelicher Säuglinge, 2. die Abflachung des sogenannten Sommer gipfels, d. h. des bedeutenderen Anstiegs im 3. Jahresquartal, die fast identisch ist mit der Einschränkung der Todesfälle an Verdauungsstörungen, 3. die Abnahme der Motalität im 1. Lebensmonat.

Die beiden ersten Faktoren sind in Weißensee in den beiden letzten Jahren, wenn auch langsam, so doch deutlich in die Erscheinung getreten. In der gra¬ phischen Darstellung wird die Säuglingssterblichkeit in Berlin mit der in 2 Vor¬ orten und 2 entsprechenden Stadtbezirken verglichen. Besonders fällt auf, daß 1908 in SO, NO und Boxhagen-Rummelsburg die Gesamtmortalität und die an Verdauungsstörungen hochschnellt, in Weißensee erstere wenig, letztere gar nicht. Was den 3. Punkt betrifft, so ergibt der Vergleich der einzelnen Jahresquartale von 1906 1909, daß die Säuglingssterblichkeit in den einzelnen Jahren im 1. Jahresquartal folgendermaßen zurückgegangen ist: 1906 27, 1907 27, 1908 17, 1909 14, im 3. Jahresquartal 1906 28, 1907 24, 1908 25, 1909 19, so daß auch hierbei ein Sinken der Sterblichkeit konstatiert werden kann, wenn es immerhin auch nur kleine Zahlen sind. Aber wie ein Blick auf Tabelle IV lehrt, hat sich auch die Abnahme der Chorlottenburger Säuglingsmortalität nur auf die Zeit vom 2. Lebensmonat bis zum Ablauf des 1. Lebensjahres beschränkt, während die Sterblichkeitsverhältnisse im 1. Lebens¬ monat eine wesentliche Besserung nicht erfahren haben. Das zeigt sich ganz ganz besonders, wenn die beiden ungünstigen Momeute, nämlich das früheste Lebensalter und die Sommerzeit mit ihrer ganz besonders hohen Säuglingssterb¬ lichkeit Zusammentreffen. Schon im 2. Lebensmonat fällt die Sterblichkeitsziffer auf die Hälfte und dann allmählich bis zum Ende des Jahres ganz bedeutend ab.

Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin. Hygiene und Medizinalstatistik. 339

Dieses Moment ist von so hervorragender Bedeutung für die sozialen Fürsorge¬ einrichtungen, daß ich später noch einmal zurückkommen muß.

Tabelle IV.

Beziehung des Sterblichkeitskoeffizienten zur Jahreszeit und zum Lebensalter. Von 1000 Kindern nebenstehenden Alters starben

Alter

im Jahre

insbesondere im

Monat

1906

Juli

August

September

Juli-September

0-

-1

58,99

62,68

77,70

67,95

69,44

1-

-2

23,07

29,83

49,86

33,20

37,63

2-

-3

20,64

33,85

43,10

28,99

35,31

3-

-4

18,10

28,44

41,88

28,31

32,88

4-

-5

15.24

22,92

43,75

16,97

27,88

5-

—6

13,23

19,31

31,31

14,46

21,69

6-

-7

12,13

26,92

29,73

16,33

24.33

7-

-8

10,31

16,90

20,91

10,23

16,03

8-

-9

9.64

11,63

19,62

11,35

14.20

.9-

-10

8,49

10.78

15,95

8,41

11,71

10-

-11

7,30

9,23

14,57

6,98

10,13

11-

-12

7,30

8,55

12,67

5,28

8,86

Ist die Statistik auch von gewissen Imponderabilien abhängig, die mit zu dem Bückgange der Sterblichkeit beitragen, so sind wir doch vollauf berechtigt, •eine Erklärung für die auffallende Besserung der Mortalitäts Verhältnisse darin zu suchen, daß in Weißensee im Anschluß an die Gründung der Berliner Säuglings¬ klinik, die nach mühsamen Vorarbeiten von uns als erste in Groß-Berlin ge¬ schaffen wurde, schon vor einigen Jahren von Bürgermeister Woelck unter Mit¬ wirkung von Bitter ganz besonders wertvolle Maßnahmen sozialer Säuglingsfiir sorge getroffen wurden, die um so bemerkenswerter sind, als man hier einem ganz besonders großen Säuglings elend gegenüberstand. Zwar decken sich in vielem die einzelnen Einrichtungen mit denen, die auch an anderen Orten geschaffen wurden, jedoch sind hier alle in Frage kommenden Institutionen so planvoll zusammengefaßt, daß sie stets an wichtigen Punkten Ineinandergreifen und sich ergänzen. Diese Organisation verhindert, daß sich die Fürsorge auf der einen Seite nutz- und planlos an mehreren Stellen häuft, auf der anderen Seite lückenhaft und ungenügend bleibt. Gerade in Kommunen, die nicht mit allzu reichen Mitteln ausgestattet sind, ist eine solche zusammenfassende Organisation eine dringende Notwendigkeit, da sie durch nicht zu starke Be¬ lastung des Etats dem Prinzip eines sparsamen Haushalts entspricht. Nur aus •der zielbewußten Zusammenarbeit der einzelnen, möglichst lückenlosen Fürsorge¬ faktoren werden Erfolge herausspringen, die man bisher infolge einer noch vor¬ handenen Unzweckmäßigkeit und Planlosigkeit an den meisten Stellen vermißt. So wird man auch in materieller und ideeller Beziehung gewinnbringend arbeiten, da auf der einen Seite kein Geld unnütz verschwendet wird und auf der anderen Seite für die Gesamtheit der Kleinen am schnellsten, also am besten gesorgt wird.

Die Zentralstelle für die praktische Fürsorgetätigkeit in der Gemeinde Weißensee bildet das Wohlfahrtsamt. (Leitung: Wesen er.)

Das Wohlfahrtsamt befindet sich im Verwaltungsgebäude, in dem die Fäden der gesamten Fürsorge der Gemeinde zusammenlaufen und die einzelnen Einrichtungen auch räumlich miteinander in enger Verbindung stehen zum Zwecke einer systematischen Mitarbeit der an den Fürsorgeinstitutionen tätigen Kinder¬ ärzte und des Gemeindearztes. Die Fürsorgetätigkeit umfaßt folgende Leistungen :

340 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.

A. bei gesunden Kindern:

1. die Beaufsichtigung der Halte- und Pflegekinder,

2. die Überwachung von Säuglingen armer Eltern in der Fürsorgestelle- durch Kinderärzte und den Gemeindearzt,

3. Gewährung von Stillprämien und Nährpräparaten,

4. Lieferung von einwandsfreier Rohmilch oder trinkfertigen Portionen gegen ein geringes Entgelt resp unentgeltlich an mittellose Mütter;

B. bei kranken Kindern:

1. Aufnahme und Behandlung in der Säuglingsklinik,

2. Beobachtung von Kindern in der Rekonvaleszenz.

Einen wichtigen Teil der Fürsorge bildet die Beobachtung und Beauf¬ sichtigung der unehelichen Kinder, das Haltekinder- und Pflegekinder - wesen.

Bis zum Jahre 1905 hat eine Prüfung der angemeldeten Pflegestellen für Haltekinder, d. h. solche, die von der Mutter oder sonstigen Verpflichteten gegen Entgelt in Kost und Pflege gegeben werden, nur durch die Polizeiorgane statt¬ gefunden. Die Kontrolle der Stellen wurde mit sehr geringem Verständnis vor¬ genommen, so daß die Haltefrauen sich mehr oder weniger selbst überlassen waren. Erst die Anstellung einer von der Gemeinde besoldeten Aufsichtsdame, die an einem längeren Kursus in der Säuglingspflege unter ärztlicher Aufsicht teil¬ genommen hat, ermöglicht eine gewissenhafte Beobachtung. Die Erlaubnis zur Aufnahme eines Halte kindes wird von dem Gemeinde Vorstand erteilt, nachdem die Verhältnisse der Antragsteller zunächst durch die Polizeibehörde, alsdann durch die Aufsichtsdame selbst nach Ermittelung in der Wohnung, betr. Größe, Sauber¬ keit und Art der Pflege hinreichend geprüft sind. Das Resultat dieser Recherchen überreicht die Aufsichtsdame in Form eines kurzen Berichtes dem Wohlfahrtsamt,, das über jede Pflegestelle einen Kontrollbogen anlegt, in welchem die je nach Bedarf, mindestens aber zweimal im Monat stattgehabten Kontrollbesuche mit/ allen ihren Ergebnissen eingetragen werden. Ähnlich liegen die Verhältnisse bei, den Pflegekindern, d. h. solchen, die auf Kosten der Gemeinde in geeignete Pflege¬ stellen gegeben und von einer Schwester beaufsichtigt werden, die lange Zeit in der Säuglingsfürsorgestelle praktisch tätig war und sich dabei ein sicheres Ver¬ ständnis für die Säuglingsernährung und Säuglingspflege angeeignet hat, Sn stehen alle diese Kinder, die größtenteils illegitim sind, unter ständiger ärztlicher und pflegerischer Überwachung. Die Schwestern sorgen nach Möglichkeit dafür, daß sie in der Fürsorgestelle vorgestellt werden und durch die regelmäßigen Haus¬ besuche in engster Fühlung mit den Ärzten bleiben.

Schwieriger ist es, wie allgemein bekannt, eheliche Mütter zum regen Besuche der Beratungsstelle heranzuziehen. Da aber alle Wohlfahrtseinrichtungen nur Kindern von Müttern schlechten sozialen Standes zugute kommen sollten, so ist es von fundamentaler Bedeutung für die Fürsorgetätigkeit der Ge¬ meinde Weißensee, daß an den Mutterberatungsstunden neben dem Für¬ sorgearzt auch der Gemeindearzt, der gleichzeitig Armenarzt ist, teil¬ nimmt, dem die ärztliche Behandlung der Säuglinge der Armenbevölkerung obliegt. Auf diese Weise steht ein großer Teil der Fürsorge bedürftigen Kinder unter ständiger Beobachtung. Die Fürsorgestelle dient auch bei uns in allererster Reihe der vorbeugenden Überwachung gesunder Säuglinge, und als unsere

Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 341

höchste Pflicht betrachten wir es, daß Mutter und Kind nicht ohne zwingende Gründe voneinander getrennt werden. Von diesem ethischen Gesichtspunkte aus ist die V erbindung zwischen Säuglingsfürsorgestelle und Säuglings¬ klinik, die nebeneinander liegen und dadurch direkt und unmittelbar Zusammen¬ hängen, von hervorragendem Werte, da wir auch bei schweren Fällen durch Ab¬ gabe einer nur von der Säuglingsklinik zur Verfügung gestellten Ammenmilch häufig eine Katastrophe zu verhüten imstande sind. Hie Bedeutung dieser Ver¬ bindung wird der ermessen können, der fast täglich die Erfahrung machen muß, daß es erst allmählich und auch noch nicht völlig gelungen ist, den Müttern den Grundbegriff einer Beratungsstelle klarzumachen. Immer und immer wieder werden uns kranke und zum Teil sogar sehr schwer geschädigte Säuglinge zu¬ geführt. Ist man nicht in der Lage, sie sofort aufzunehmen, sondern gezwungen, sie einem Krankenhause zu überweisen, von denen die meisten, namentlich im Sommer, überlegt sind, so ist ein solcher Zeitverlust häufig von verhängnisvollster Bedeutung. Dieser enge Konnex zwischen Fürsorge und Klinik hat sich uns als unentbehrlich erwiesen. Zu jeder Sprechstunde, an der außer dem Fürsorgearzt und Gemeindearzt auch die Schwestern der Fürsorge und Säuglingsklinik teilnehmen, stehen für die Fürsorgekinder mehrere Betten zum Zweck von Aufnahmen zur Verfügung. Eine solche Aufnahme vollzieht sich in dringenden Fällen so schnell, daß das Kind schon nach wenigen Minuten aufgenommen ist und neben geeigneten Maßnahmen zur Hebung der Herztätig¬ keit Frauenmilch enthält, die ja doch oft die einzige Heilnahrung ist, die noch zum Ziele führt. Die Verbindung der offenen und geschlossenen Säuglingsfürsorge ist von so hervorragender Bedeutung, daß sie überallda, wo die Beratungsstellen auch von Müttern mit kranken Kindern aufgesucht werden, geschaffen werden sollte. Nur da¬ durch kann man dem Vorwurf begegnen, daß man die Kleinen in bedenklichstem Zustande hat abweisen müssen, die durch Ver¬ meidung des Zeitverlustes bei sofortiger Aufnahme hätten er¬ halten bleiben können. Zahlreiche Fälle, in denen die Kinder vonBerlinerFürsorgen haben abgewiesen werden müssen, haben uns das Bedenkliche, das in der Trennung der offenen und ge-^ schlossenen Fürsorge liegt, bewiesen. Ist zwar dadurch das Prinzip der rein prophylaktischen Behandlung durchbrochen, so soll es gewiß auch unsere Aufgabe sein, eine wenn auch verhältnismäßig kleine Zahl von Säuglingen von einem sicheren Tode zu retten; sind sich doch die meisten Fürsorgeärzte darüber einig, daß eine gewöhnlich nur diätetische Behandlung in der Fürsorge¬ stelle wenigstens auf leichte akute und chronische Ernährungsstörungen ausgedehnt werden muß. Dadurch kommt auch die Fürsorge für die ehelichen Kinder, denen vielfach die Wohlfahrtseinrichtungen nicht so zugute kommen, wie den unehe¬ lichen, mehr zu ihrem Becht, denn durch die Verbindung zwischen Armenamt und Säuglingsklinik wird es den Müttern aus der unbemittelten Bevölkerung leicht gemacht, durch Abzahlung die Kosten für die Verpflegung in der Klinik aufzubringen. Zuweilen sind wir schon nach kurzer Zeit imstande, die Kinder wieder aus der Klinik zu entlassen und zur weiteren Beachtung der Fürsorge¬ stelle zu überweisen.

In einigen anderen Punkten unterscheidet sich unsere Beratungsstelle nur wenig von denen anderer Orte. Auch wrir legen selbstverständlich auf die natür¬ liche Ernährung und ihre Verbreitung das größte Gewicht, indem wir die Still-

342 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.

lust und Stillfreudigkeit durch Gewährung von Stillprämien, allerdings nur in Horm von Naturalien (Milch und Nährpräparate) unterstützen. Bedürftige Mütter, die ihre Kinder künstlich ernähren, erhalten aus der Milchküche der Säuglings¬ klinik zu ermäßigten Preisen oder kostenlos einwandsfreie rohe Milch oder nach Vorschrift bereitete Milchmischungen in trinkfertigen Portionen, je nach der Sauberkeit und Zuverlässigkeit der Frauen. Von Merkblättern haben wir so gut wie ganz abgesehen, da wir durch Prüfungen an Müttern, für deren Aufklärung wir zum Teil durch Merkblätter zum Teil durch Belehrung gesorgt haben, fest¬ gestellt, daß nur durch eine unmittelbare mündliche Beratung eine nachhaltige Wirkung erzielt wird.

Nur wenn die Kinder möglichst frühzeitig der Fürsorge zu geführt werden, ist eine geordnete und erfolgreiche Stillpropaganda möglich. Deshalb ist man, solange man nicht über Entbindungsanstalten und Wöchnerinnenheime verfügt, genötigt, sich nach anderer Hilfe umzusehen. Da lag es nahe, die Hebammen, die gerade bei dem Teil der Bevölkerung, der unserer Fürsorge am dringendsten bedarf, in der ersten und gefährlichsten Zeit des kindlichen Lebens die einzigen Beraterinnen der Mutter in Ernährungsfragen sind, als Helferinnen in den Kampf gegen die Säuglingssterblichkeit heranzuziehen. Ich will hier nicht den ganzen Streit um diese Frage aufrollen. Trotzdem man die Hilfe von dieser Seite nicht unterschätzt, will man doch von einer regulären Ausbildung der Hebammen in der Säuglingspflege und Säuglingsernährung im allgemeinen nichts wissen, und das mit Kecht. Es würde dadurch nur zu der gefürchteten Halbbildung kommen, die mehr Schaden anrichten als nützen kann. Wir haben den Mittelweg einge- sclilagen und einer von den Hebammen des Kreises an uns ergangenen Bitte, unsere Fürsorgeeinrichtungen kennen lernen zu dürfen, gern Folge gegeben. Bei solcher Gelegenheit kommen wir in die Lage, immer wieder den Wert des Selbst¬ stillens, die Möglichkeit seiner Durchführung und die große Seltenheit der Still¬ unfähigkeit zu betonen, gegen den noch immer allgemein verbreiteten Aber¬ glauben in der Kinderstube ein kräftiges Wort zu reden, auf den Wert der Ein¬ haltung langer Pausen hinzuweisen und auf schwere Fehler, die bei der künst¬ lichen Ernährung, z. B. durch Überfütterung u. a. m., gemacht werden. In diesem Sinne haben wir uns der Hebammenunterstützung mit gutem Erfolge bedient. Diese Unterstützung ist wohl nicht ganz ohne Einfluß auf die Mortalität der be¬ sonders gefährdeten Kinder im ersten Lebensmonat geblieben. Es sind im Jahre 1906 im ersten Lebensmonat 93 Kinder gestorben, im Jahre 1909 nur 67, im vorigen Jahre, mit Ausschluß des Monats Dezember, in dem im Durchschnitt der letzten Jahre 7 Kinder starben, nur Ö9.

Wenn man zusammenfassend die ineinandergreifenden Einrichtungen, die ich bisher geschildert, überschaut, so entsprechen sie der Forderung, die von einigen Fürsorgeärzten, z. B. Neumann,1) auf gestellt worden sind. Neumann propagiert die Errichtung von kommunalen Ziehämtern als Zentralstelle für die sogenannten Ziehkinder, die in Deutschland meist von Polizeiorganen beaufsichtigt wrerden; am besten sollen sie in ihrer Verbindung mit dem Berufsvormund stehen. Auch ist in Weißensee, wie wir gesehen haben, die andere Forderung Neumanns erfüllt, daß die Armen Verwaltung die Säuglingsfürsorgeange¬ stellten zur ärztlichen Überwachung der armenunterstützten Säuglinge benutzen sollen, und sein berechtigter Vorwurf, daß dieser organische Zusammenhang in

x) Neu mann, Ergebnisse der Säuglingsfürsorge, Heft 5, S. 90.

Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 343

den meisten Gemeinden fehle, trifft für Weißensee nicht zu, wo ein gemeinsames Band die wichtigsten Institutionen miteinander verbindet. Ist auch dadurch noch nicht die ganze schwere Frage der hygienischen Versorgung der Halte- und Pflegekinder als gelöst zu betrachten, da noch immer ein Teil der Kinder, z. B. die, welche unentgeltlich bei Verwandten oder auch bei Fremden untergebracht sind, der Beaufsichtigung und Beratung entzogen wird, so ist doch durch dieses Ineinanderarbeiten der Organe ein bedeutender Schritt vorwärts getan.

Als trauriges Gegenstück dazu teilt Marie Heller zum Beweis dafür, daß an manchen Orten die Kostkinder noch öffentlich versteigert werden, folgende Anzeige aus dem Straubinger Tagblatt vom Jahre 1902 mit:

Am Sonntag, den 8. Juni er., nachmittags 2 Uhr, werden in Maria Posching Kostkinder an den Meistbietenden versteigert.

Gemeindeverwaltung Maria Posching.

Wenn ich jetzt auf den Besuch und die Erfolge der Beratungsstelle sowie auf die Belegung der Klinik und die Mortalität in derselben eingehe, so will ich nur die wichtigsten Daten erwähnen. Im Jahre 1909 suchten 463 Mütter mit 474 Kindern, darunder 11 Zwillingspaaren, die Säuglingsfürsorgestelle auf, das sind 40 Proz. aller in diesem Jahre geborenen Kinder. Von den 474 Säuglingen standen 216, das sind 45,57 Proz., im Alter von 1 6 Wochen. Das weitere Schicksal aller dieser Kinder ist uns bekannt. Nach sorgfältiger Erkundigung, auch nach denen, die der Fürsorge ferngeblieben sind, sind einschließlich der in die Klinik aufgenommenen Säuglinge 35, d. h. 7,38 Proz., gestorben, also ein auffallend geringer Prozentsatz gegenüber den Kindern, die nicht in die Beratungsstelle gebracht worden sind. In die Säuglings¬ klinik sind im Jahre 1909 116 Kinder aufgenommen worden, davon sind 14 oder 12,07 Proz. gestorben. In diesem Jahre sind von 118 Aufgenommenen 13, d. h. 11 Proz. gestorben. Von diesen 118 Kindern sind 68 aus der Fürsorge der Klinik überwiesen worden.

Zwei Einrichtungen, die im Kampfe gegen die Säuglingssterblichkeit auch einen Platz für sich fordern dürfen, fehlen zwar bisher noch, werden aber aller Voraussicht nach trotz mancher Schwierigkeiten noch geschaffen werden. Es sind dies: Die Stillst üben und in Verbindung damit die Krippe. Über die Erfahrungen, die das Wohlfahrtsamt mit seinen Bemühungen wegen Er¬ richtung von Stillstuben gewonnen, seien hier einige Angaben gemacht. Ent¬ sprechend der ablehnenden Haltung, die auch an anderen Orten die kommunalen Behörden erfahren haben, hatte das Bundschreiben an die Fabrikherren zunächst wenig Erfolg. So ist ja auch auf die Aufforderung, die das preußische Ministerium des Innern im Jahre 1908 an die Kommunen gerichtet hat, sich wegen Einrichtung von Stillstuben mit den einzelnen Fabriken in Verbindung zu setzen, keine Ant¬ wort eingegangen. Der Widerstand gegen diese Institution ist ebenso groß bei den Arbeitgebern wie bei den Arbeiterinnen, die dadurch in eine größere Ab¬ hängigkeit von ihrem Fabrikherrn zu kommen fürchten. Die Arbeiterinnenzahl in den Weißenseer Fabriken ist überhaupt nicht groß; nur in einer einzigen sind über 100 Arbeiterinnen tätig, sonst viel weniger. Die Mindestzahl beträgt 8. Die Zahl der in Fabriken arbeitenden Mütter, welche ihr Kind selbst stillen, ist gering. Daran würde wohl die Errichtung von Stillstuben, wie die Erfahrungen an anderen Orten, z. B. Linden oder Wernstadt in Böhmen, lehren, manches ändern. Auf ein nochmaliges Bundschreiben des Wohlfahrtsamtes an 36 Fabriken

344 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.

sind 28 Antworten eingegangen. Das Wohlfahrtsamt hat zwei Vorschläge ge¬ macht: 1. Errichtung von Stillstuben in den Fabriken selbst; 2. die Gemeinde mietet Räume in einer zentralen Lage von den Fabriken, stellt die sachgemäße Aufsicht, sowie die notwendigen Einrichtungen (Körbe, Kinderwage usw.) zur Verfügung. Die Fabrikherren gewähren den Müttern durch Verlängerung der Pausen die zum Stillen erforderliche Zeit ohne Lohnabzug.

Mit dem Vorschlag unter Nr. 1 ist nur eine Fabrik einverstanden, dagegen haben sich von den 28 Fabrikherren 20 bereit erklärt, entsprechend dem 2. Modus Pausen ohne Lohnabzug zu gewähren. 6 Fabriken wollen sich an den Kosten beteiligen. Man sieht daraus jedenfalls, daß das Entgegenkommen ein größeres ist als an vielen anderen Orten. Käme der Plan zur Ausführung, der noch in anderen Städten bisher vergebens angestrebt wurde, so wäre es wertvoll, damit die Einrichtung einer Krippe zu verbinden, die dann aber reichlich Gelegenheit bieten muß, die Kinder ins Freie zu bringen. Über die Stellung der Krippen in der modernen Säuglingsfürsorge hat Neumann1) seine Meinung dahin ausge¬ sprochen, daß man „meistens nur eine saubere Kinderstube sieht, nicht eine An¬ stalt, die nach modernen Anschauungen geleitet, die hygienischen Verpflichtungen erfüllt, die sich aus jeder Ansammlung von Individuen ergeben. Die Krippen müssen von der Fürsorgestelle ärztlich überwacht und mit sachgemäßer Nahrung versorgt werden“. Ohne solche Vorsichtsmaßregeln können sie aus einer sozialen eine durchaus unsoziale Einrichtung werden, denn an und für sich bedeuten sie keine Förderung des Selbststillens und sind deshalb um so gefährlicher, je früher sie sich den Kindern öffnen. Würde manche Mutter durch Ermahnungen und durch eigene Einsicht zum Stillen gebracht werden, durch die Aussicht, ihr Kind in einer Krippe unterzubririgen, wird sie direkt zur künstlichen Ernährung gedrängt. Darum hat eine Krippe nur einen Wert, wenn die Anmeldung über die Beratungsstelle geht, dann erst wird es möglich sein, die Mütter solange wie möglich zum Stillen anzuhalten. Auch muß dafür gesorgt werden, daß die beiden Heilfaktoren, die bisher nicht in der Weise gewürdigt worden sind, wie es wünschenswert wäre, mehr zu ihrem Recht kommen: Licht und Luft! Wir haben ja gerade in den letzten Jahren erkennen gelernt, daß die Frage der Säuglingssterblichkeit zum großen Teil eine Wohnungsfrage ist, und daß die Hitze in den schlecht durchlüfteten Proletarierwohnungen ein nicht zu vernachlässigendes krank machendes Moment darstellt. Hat doch eine Wohnungs¬ statistik erwiesen, daß von 1000 Menschen 640 in Wohnungen von höchstens 2 Räumen leben. Deshalb wird man auch der Frage der Freiluft- oder Wald¬ krippen näher treten müssen, weil sie eng mit den Maßnahmen zur Verhütung und zur Bekämpfung der Säuglingskrankheiten Zusammenhängen.

Damit ist der Kreis so ziemlich geschlossen, der alle sozialen Einrichtungen der Säuglingsfürsorge umfaßt. Ist auch noch manches des weiteren Ausbaues bedürftig, manche kleine Lücke noch auszufüllen, damit die Vorteile, die eine solche Zentralisation zeitigt, noch größer und bedeutender werden, so ist doch der ganze Plan deshalb von so außerordentlichem Werte, weil er zeigt, wie eine zweckmäßige und durchgreifende Fürsorge auch mit nicht so großen Mitteln organisiert und zur Durchführung gebracht werden kann. Kann man auch nicht ohne weiteres die Verhältnisse der einen Kommune auf d'ie einer anderen übertragen, so können die hier gewonnenen Erfahrungen doch

Neumann, Zeitschrift für Säuglingsschutz 1910, Heft 10.

Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 345

vielleicht für andere Gemeinden außerordentlich wertvoll sein. Wenn in letzter Zeit die Zentralisation für einen ganzen Kreis gefordert wird, so bietet vielleicht das große Säuglingskrankenhaus, das im nächsten Jahre in Weißensee eröffnet wird, hierzu die erwünschte Gelegenheit. Dann wird noch ein größerer Teil der fürsorgebedürftigen Säuglinge in gesunden Tagen sachgemäßen Kat und fachmännische Aufsicht, in Krank¬ heitsfällen Heim und Heil finden, und das nicht im Sinne einer Wohltätigkeit, sondern im Sinne unserer hohen sozialen Auf¬ gaben gegenüber den hilfsbedürftigsten des Volkes.

Sitzung vom 12. Januar 1911.

Herr A. Gottstein (Charlottenburg) trägt vor über „Beeinflussung von Volksseuchen durch die Therapie, zugleich ein Beitrag zur Epidemiologie der Krätze“. Wie so mancher Redner muß ich meine Ausführungen mit einer Enschuldigung beginnen. Der Wortlaut des Titels meines heutigen Vortrages ist ohne meine Absicht einigermaßen irreführend. Sie konnten erwarten, daß ich Ihnen positive Mitteilungen über die Beeinflussung der Morbidität einer Krank¬ heit unter spezifischer Behandlung machen würde. Eine solche Theorie ist in der Tat vor kurzem von anderer Seite aufgestellt worden. Mein Gedankengang ist ein etwas anderer. Als ich an eine Prüfung dieser Theorie heranging in dem festen Glauben, daß sie sich bestätigen würde, kam ich zu dem Ergebnis, daß sie nur unter ganz bestimmten Einschränkungen zutrifft; und da diese Ein¬ schränkungen in unser besonderes Arbeitsgebiet fallen, hielt ich es für zulässig, in kurzen Ausführungen die Ergebnisse meiner Untersuchungen vorzutragen.

Den Anlaß zu meinem heutigen kurzen Vortrag haben mir die Erörterungen über die Wirkung des neuen Ehrlichschen Heilmittels auf den Verlauf der Syphilis gegeben. Es ist bezeichnend für die Fortschritte sozialmedi- zinischer Denkweise, daß diese Erörterungen bald über die Frage der Heilwirkung im Einzelfalle hinausgingen und sich sofort dem Problem zuwandten, welchen Einfluß ein neues, schnell wirkendes Heilmittel auf das Verhalten der Syphilis als Volksseuche haben müsse. Es ist viel darüber geschrieben worden, welche Änderungen wirtschaftlicher, kultureller und sozialhygienischer Art eintreten müssen, wenn durch das neue Mittel die Zeit der Erkrankung und Behandlung eine wesentliche Abkürzung erfährt. Es wurde von berufener und weniger be¬ rufener Seite viel über die Herabsetzung der privaten und allgemeinen Kosten der Behandlung und deren Einfluß auf die wirtschaftliche Lage der Patienten und auf die Einnahmen der Spezialärzte geschrieben: es wurde ferner die Mög¬ lichkeit zunehmender sittlicher Verwahrlosung der Bevölkerung bei Abnahme der Furcht vor der Gefahr behauptet. Auf diese beiden Fragen gehe ich hier nicht ein. Für uns ist vor allem die sozialhygienische Behauptung von Interesse : Wenn durch Verkürzung der Behandlungsdauer der Zeitraum der Ansteckungs¬ fähigkeit des Erkrankten erheblich herabgesetzt wird, wenn die Aussicht auf dauernde Heilung gesteigert wird, wenn diese Möglichkeiten namentlich bei den Prostituierten als den Hauptquellen der Ansteckung durch Zwangsbehandlung in großem Umfange zur Wirklichkeit werden, so muß der Erfolg des neuen Heilmittels weit über die Wirkung im Einzelfalle hinaus in der Abnahme der Syphilis als Volksseuche zahlenmäßig zum Ausdruck kommen.

Als Beweis für die Tatsache, daß solche Erwägungen ziemlich früh hervor-

346 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.

traten, führe ich hier nur zwei Äußerungen an. So erklärte Prof. A. Ne er auf der Naturforscherversammlung in Königsberg am 20. September 1910: l) „Die Tatsache, daß Avir dies (nämlich Beseitigung von Erscheinungen, die durch ihre Kontagiosität gefährlich sind) bedeutend schneller und bequemer meist wirklich durch eine Injektion oder wenigstens durch eine nur wenige Tage in Anspruch nehmende Kur als bisher erreichen können, scheint mir bis jetzt die wichtigste Errungenschaft der Ehrlich sehen Entdeckung. Richtig ausgenutzt muß durch Beseitigung einer unendlich großen Anzahl von Infektionsherden und Infektionsquellen eine Abnahme der Syphilis die Folge sein“. „Ja, sogar die Hoffnung, die Hauptquelle aller Syphiliserkrankungen, die Prostitution zu sanieren, muß als berechtigt angesehen werden.“ „Was dem einzelnen Kranken geleistet wird, um ihn schneller von der Krankheit zu befreien und sie milder zu gestalten, das dient natürlich der Allgemeinbekämpfung der Syphilis als Volksseuche und sozialer Kalamität. Je eher, je schneller und je bequemer wir den einzelnen Kranken ungefährlich, nicht ansteckend machen können, um so geringer wird die Zahl der Infektionsquellen. Und damit wird nicht nur die Zahl der Syphilitischen sinken, sondern auch die Zahl derjenigen, welche jetzt zu Tausenden und Abertausenden den schweren Nachkrankheiten und einem vorzeitigen Tod verfallen.“ Utopische Hoffnungen schränkt Ne er allerdings durch folgenden Satz ein: „Freilich wird die Indolenz und die Un¬ wissenheit der Menschen dafür sorgen, daß die Syphilis auch in Zukunft nicht aussterben wird.“

Kürzer und etwas weniger zurückhaltend gibt Professor v. Notthaft im Ärztlichen Vereinsblatt vom 22. November 1910 der Meinung vieler Ärzte Aus¬ druck, wenn er sagt: „Darüber kann schon jetzt kein Zweifel sein, daß mit seiner (d. h. des Ehrlich sehen Mittels) Einführung die Morbiditätskurve der Syphilis wie eine Ordinate herabstürzen muß. In wenigen Jahren wird die Syphilis, hoffe ich, eine relativ seltene Krankheit sein, gleichviel, ob man mit Ehrlich 606 auf die Dauer, oder auch nur für eine kurze Zeit die Syphilis „heilen“ kann.“

Die Frage der Beeinflussung einer Volksseuche durch die Behandlung, wie sie hier für die Syphilis formuliert ist, bietet ein so weitgehendes Interesse, daß sie eine Besprechung verdient, ganz abgesehen davon, ob die in die Heilwirkung des Ehrlich sehen Mittels gesetzten Hoffnungen von der Zukunft ganz bestätigt werden sollten oder nur in geringerem Umfange.

Theoretisch ist die Sachlage die folgende. Eine neue erfolgreiche Methode der Behandlung kann im allgemeinen direkt nur den Ausgang einer Er¬ krankung und dessen Verhältnis zur Zahl der Erkrankungen ändern, also den Prozentsatz der Genesenden erhöhen und bei tödlichen Krankheiten die Letalität herabsetzen; sie ist aber direkt ohne Einfluß auf die Zahl der Erkrankungen selbst. Andererseits wirken erfolgreiche Maßnahmen der Vorbeugung direkt nur auf die Zahl der Erkrankungen, die Morbidität, nicht aber auf deren Ausgang. Allgemein ausgedrückt lautet der Satz : Hygienische und therapeutische Erfolge vermindern beide die Mortalität, d. h. das Verhältnis der Todesfälle zur Zahl der Lebenden. Die ersteren aber vermindern die Morbidität, die letzteren die Letalität. So setzen Schutzvorrichtungen an Maschinen die Zahl der industriellen Verletzungen herab, so haben die Verbesserungen der Wund-

') Deutsche med. Wochenschrift 1910 Nr. 41.

Ans der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 347

behandlungsmethoden die Lebensgefahr ganz beträchtlich und zahlenmäßig nach¬ weisbar vermindert. Etwas komplizierter liegt die Frage für die kontagiösen Erkrankungen, für welche eine indirekte Einwirkung der individuellen Be¬ handlung nicht nur auf die Dauer und den Ausgang des einzelnen Krankheits¬ falles, sondern auch auf die Morbidität der Seuche selbst theoretisch zuge¬ standen werden muß. Wird hier durch ein neues Heilverfahren die Zeitdauer der Ansteckungsfähigkeit herabgesetzt, so muß trotz gleichbleibender Zahl der Angesteckten in der Zeiteinheit deren Gesamtzahl abnehmen. Zu dieser Annahme bedarf es aber noch zweier weiterer Voraussetzungen. Erstens muß durch die Behandlung nicht nur die Krankheit verkürzt oder geheilt, sondern auch deren Ansteckungsstoff im Körper selbst vernichtet werden. Zur Zeit der Einführung des Diphtherieserums durch Behring wurde ernsthaft die Frage erörtert, ob nicht durch dieses Serum sogar die Morbidität gesteigert werden könne, da das Serum die Bazillen im Körper nicht abtöte. Die späteren Erfahrungen über die Verbreitung der Krankheit durch gesunde oder genesende Bazillenträger hat dieser Auffassung nicht ganz unrecht gegeben. Zweitens muß der belebte Krankheits¬ erreger ein echter Parasit des Menschen sein, d. h. ganz oder nahezu aus¬ schließlich mit seinen Lebensbedingungen an den Menschen angepaßt sein. Die Malaria als Individualerkrankung wird in ihrem V erl auf durch die Chinin¬ behandlung günstig beeinflußt; die Wirkung der Individualtherapie auf die Malaria als Volks seuche ist zwar insofern nicht ganz belanglos, als die Zwischen wirte in geringerem Maße Gelegenheit haben, durch Blutsangen den Ansteckungsstoff aufzunehmen: immerhin aber ist hier die Vorbeugung durch Vernichtung der Zwischenwirte aussichtsreicher. Noch klarer würde sich dies für die Pest heraus¬ steilen, wenn wir für diese mörderische Krankheit überhaupt ein sicheres Heil¬ mittel besäßen. Dieses Heilmittel könnte nur die Zahl derjenigen Erkrankungen vermindern, welche durch Übertragung von Mensch zu Mensch entstehen, nicht aber die direkte oder indirekte Übertragung vom Nagetier auf den Menschen. Diese theoretische Erörterung wird nicht gegenstandslos, wenn man sich selbst auf den Standpunkt stellen wollte, daß es einer Prophylaxe, einer Verminderung der Morbidität dann überhaupt nicht bedarf, sobald es gelingt, eine lebensgefähr¬ liche Krankheit durch ein schnell und sicher wirkendes Heilmittel in ein harm¬ loses Leiden umzuwandeln.

Alle eben genannten Voraussetzungen treffen nun in der Tat für die Syphilis zu; sie verbreitet sich ausschließlich direkt oder indirekt von dem erkrankten Menschen durch Ansteckung auf den Gesunden, das neue Heilmittel wirkt nach der heutigen Annahme gerade durch außerordentlich schnelle Vernichtung des lebenden Ansteckungskeims im Körper selbst, und diese Ansteckungskeime be¬ sitzen außerhalb des menschlichen Körpers keine Existenzfähigkeit; der An¬ steckungsstoff kann gelegentlich an unbelebten Gegenständen so lange existenz¬ fähig bleiben, um die Übertragbarkeit auch durch Gebrauchsgegenstände und Instrumente als Ausnahmen möglich machen, er kann auch experimentell auf einige Tierarten übertragen werden, wirkliche Zwischenwirte aber sind bisher nicht bekannt.

Somit sind theoretisch alle Bedingungen erfüllt, welche dem so sicher vor¬ getragenen Schluß vorausgehen mußten, daß die neue Behandlung der Syphilis auch die Morbidität der Volksseuche im erheblichen Maße vermindern werde.

Aber man darf nicht vergessen, daß es sich bisher mir um eine Deduktion handelt, welche erst dann Anspruch an Anerkennung hat, wenn sie durch das.

348 A.us der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.

Experiment oder die Beobachtung gestützt wird. Ehe die Beobachtung ins Feld geführt werden kann, dürfte eine längere Zeit dahin gehen, als Notthaft heute annimmt. Den Wert des Experiments aber muß der Vergleich mit einer anderen Volksseuche haben, bei welcher dieselben Bedingungen erfüllt sind, wie bei der Syphilis heute und bei welcher ein genügend langer Zeitraum verflossen ist, um die in Frage stehende Wirkung zu studieren. Es müssen folgende Be¬ dingungen erfüllt sein. Genaue genügend lange Kenntnis des Parasiten und des ursächlichen Zusammenhanges zwischen Kontagium vivum und Krankheit; aus¬ schließliche oder fast ausschließliche Übertragungsweise von Mensch zu Mensch ohne tierischen Zwischenwirt oder ohne Existenzfähigkeit außerhalb des Menschen, und jahrzehntelang bewährte schnelle und sicher wirkende Heilungsmethoden.

Von allen Volksseuchen erfüllt nur eine einzige in nahezu vollkommener Weise diese Forderungen, nämlich die Krätze.

Das Kontagium vitum, eine Milbe, für Geübte mit bloßem Auge sichtbar, ist seit Jahrhunderten bekannt und der Zusammenhang zwischen Krankheits¬ ursache und Krankheitswesen hat in komisch übereinstimmender Weise alle Phasen durchgemacht, wie die Lehre von den mikroparasitären Krankheitserregern. Schon Guy de Chauliac hat im 14. Jahrhundert die Milbe beschrieben und Ambroise Pa re erwähnt die Möglichkeit, die Krankheit durch Ausgraben der tierischen Krankheitserreger mit der Nadel zu heilen, eine Methode, die in Frank¬ reich und Deutschland zu seiner Zeit viel geübt wurde, er selbst aber empfiehlt ■als wirksamer die Tötung der Parasiten durch Salben und Kräuter. Später ging die Kenntnis der rein parasitären Ursache der Krätze durch lange Zeit verloren, die Überwanderung des Hautleidens auf innere Organe spielte eine große Bolle in der Krankheitslehre. Erst seit den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts wurde die genauere Pathogenese des Hautleidens und die Tatsache, daß die Ver¬ nichtung der Milben allein zur Heilung ausreiche, sichergestellt.

Nicht ganz so eindeutig ist die Ausschließlichkeit der Übertragung von Mensch zu Mensch. Noch ist es strittig, ob die Milben mancher Tierräuden identisch mit denen des Menschen oder von ihnen verschieden sind. Für die Ver¬ breitung der Krankheit aber würden selbst in positivem Falle diese Tierkrank¬ heiten eine untergeordnete Bedeutung besitzen. Ob und wie lange die Milben in der Außenwelt existenzfähig sind, darüber fehlen absolut sichere Angaben. Die Übertragbarkeit durch Bettlager ist jedenfalls bewiesen; eine solche durch Kleider wird von Hebra und anderen durchaus bestritten, sie wäre nur durch die Beschmutzung mit Eiern denkbar, während die Milben in Kleidungsstücken und Gebrauchsgegenständen sich nicht lange lebensfähig halten. Jedenfalls spielt die Übertragung durch unbelebte Gegenstände keine größere Rolle als bei der Syphilis.

Was die Behandlung betrifft, so ist schon erwähnt, daß Ambroise Pare erfolgreich Salbenbehandlung anwandte und daß mit der leicht möglichen Ver¬ nichtung der Milben die schnelle Heilung der Krankheit gewährleistet ist. Ich widerstehe der Arersuchung, aus der Geschichte Material anzuhäufen; die inter¬ essante Tatsache, daß bei erhöhter Körpertemperatur die Milben die Haut ver¬ lassen, hat in Zeiten, in denen man die Krankheitsursache nicht kannte, er¬ fahrungsmäßig Schwitzprozeduren als wirksam erscheinen lassen; aber es gab mich andere Behandlungsmethoden. In einem Werk aus dem Jahr 1746 über die Krankheiten, welche in Breslau zu Ende des 17. Jahrhunderts herrschten, einem Werke, zu dem Alb recht Haller die Vorrede schrieb, gibt der anonyme Ver-

Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 349

fasser als das Mittel, welches ihm gegen das Jucken bei Krätze die beste Hilfe leistet, folgendes an: „Repetita purgatio et sanguinis missio sola curavit pruritus, ut eg o saepissime sum expertus“, also ganz nach Moliere. Dafür erwähnt er einen Fall von Krätze, die 9 Jahre bestanden haben soll.

Mit der sicheren Kenntnis von der Ursache der Krankheit und den Lebens¬ eigenschaften ihrer Erreger entstand zugleich eine absolut zuverlässige und schnelle Behandlungsmethode und nachdem erst die Schwefelsalben eine große Rolle gespielt hatten, erfuhr durch Einführung des Perubalsams und Styrax die Behandlung der Krankheit eine solche Sicherheit, daß es in einigen Tagen ge¬ lingt, nicht nur das Leiden zu heilen, sondern auch dessen Erreger sicher ab¬ zutöten. Der Zeitraum seit der Einführung dieses schnellen und sicheren Ver¬ fahrens, bei dem die Erfahrung auch die zuverlässigste Form der Anwendung erprobt hat, beträgt fast ein halbes Jahrhundert, also eine genügend lange Spanne Zeit, um die Wirkung der Individualbehandlung auf die Erkrankungsziffer dieser Volksseuche zu studieren.

Wenn diese Theorie, welche jetzt über den Einfluß des Ehrlich sehen Mittels auf die Syphilismorbidität aufgestellt wurde, lückenlos ist, so muß die Zahl der Krätzekranken im Verlauf eines halben Jahrhunderts abgesunken sein, steil wie eine Ordinate, um mit Notthaft zu reden.

Was ergibt nun die Medizinalstatistik? Zunächst interessiert diese sich nur für Krankheiten mit tödlichem Verlauf, die reine Morbiditätsstatistik muß erst noch geschaffen werden. Weder in Prinzings Handbuch, noch in Wester- gaards Werk über Morbidität und Mortalität, noch in dem großen amtlichen französischen Werk „Statistique internationale du mouvement de la population“ kommt das Wort Krätze überhaupt vor. Man muß schon zu einem Umwege in der Beweisführung greifen, indem man die Krankenhausstatistik und die Heeres¬ statistik heranzieht. Die erstere ist nicht absolut für Schlüsse verwertbar. Die Zahl der einem Krankenhause wegen Krätze zugeführten Patienten hängt von einer Menge der verschiedensten Umstände ab, der Beschaffenheit des Bevölkerungs¬ materials, der Zahl und Erreichbarkeit der Krankenhäuser, der Aufbringung der Kosten, dem größeren oder geringeren Entgegenkommen bei der Aufnahme der leicht Erkrankten, der größeren oder geringeren Zahl von Ärzten usw. Es ist daher müßig und wertlos, aus den absoluten und relativen Zahlen der Tabelle I vergleichende Schlüsse über die Verbreitung der Krätze in den einzelnen Pro¬ vinzen Preußens und Ländern Deutschlands zu ziehen etwa schließen zu wollen, daß in Posen die wirkliche Zahl der Krätzekranken eine viel geringere sei als in Rheinland und Westfalen. Die plötzliche Steigerung in den letzten beiden Pro¬ vinzen hängt wohl mit der zunehmenden Industrialisierung und der systematischen ärztlichen Durchuntersuchung der arbeitenden Bevölkerung aus Anlaß der Wurm¬ krankheit zusammen. Brauchbar und wesentlich ist nur der eine einzige Schluß, daß von einer Abnahme der Erkrankungsziffer, soweit die Krankenhans- behandlung in Betracht kommt, ganz und gar keine Rede ist. Berücksichtigung verdient noch die bekannte Tatsache, daß in dem betrachteten Zeitraum die Zahl der Krankenhausbetten eine außerordentliche Steigerung erfahren hat, so groß, daß hierdurch die relative Zunahme der im Krankenhaus behandelten Krätz- kranken gegenüber den absoluten Werten beeinflußt wird. Welche Bedeutung die Krätze aber als Objekt der Krankenhausbehandlung auch heute noch besitzt, das lehrt die Tabelle II aus den letzten Berichtsjahren 1908 und 1909. Ich habe hier die für die Krankenhausbehandlung in Betracht kommenden wichtigsten Archiv für Soziale Hygiene. VII. 23

350 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.

Tabelle I,

Die Verbreitung der Krätze im Deutschen Reich und in den einzelnen Bundesstaaten. Erkrankungsfälle an Krätze in den öffentlichen

Krankenhäusern.

1886

bis

1888

1889

bis

1891

überbau

1892

bis

1894

Lpt

1895

bis

1897

1898

bis

1901

pro Ta

1886

bis

1888

us. dei

1889

bis

1891

Erkrankun

. 1892 1895 bis bis

1894 1 1897

gsfälle

1898

bis

1901

Ostpreußen ....

1293

1269

1266

1 153

I 1 180

35,0

29.0

23,5

i 17,9

10,4

Westpreußen . . . .

1631

1519

1693

1409

1515

37,2

31.0

32.2

24,8

16,9

Berlin .

1741

1 794

4 806

3 675

3 239

11,3

9,3

21,7

15.5

9,0

Brandenburg ....

1273

1 399

3 779

2 537

2 336

25,40

23,5

51,0

31,3

16.0

Pommern .

1625

1828

2 833

2 454

2 565

38.6

39,1

51.9

40.9

26,2

Posen .

998

665

754

663

720

31,7

20,0

20,1

15,7

10,5

Schlesien .

6 428

4 337

7 650

6 657

7127

31,5

21,7

35,0

27,5

18,7

Sachsen .

2 770

3 288

6 613

5 742

5 469

43,9

40,0

64.3

52,8

30,3

Schleswig-Holstein . .

4 331

5 515

9 831

7 540

6 194

99,6

103,6

151,5

121, t

66,9

Hannover .

4 806

6 592

13 327

12 275

10413

74,8

83,3

134,4

114,6

60,2

Westfalen .

6 707

9 956

23 598

25 648

26 201

78,4

90,6

153.8

142,9

88,6

Hessen-Nassau . . .

2 767

3 257

6 892

6 888

6 407

49,0

44,6

72,9

72,0

40,7

Rheinprovinz ....

10 627

16 974

35 599

35 185

39 926

61.0

75,1

125,7

114,1

75,1

Hohenzollern ....

13

23

57

97

59

14,1

17/2

35,6

55,4

23,8

Preußen .

47 010

58 416

118 698

111923

113 351

44,7

46,8

78,5

68.0

42,1

Bayern .

8 469

10 252

18 386

17 424

14 414

28,2

30.3

51,2

45,1

25,5

Sachsen .

5 210

4 588

7 674

7 001

7 093

55,7

41,9

58,5

47,0

28,7

Württemberg ....

2 639

2 500

6 282

5 120

2 900

30,1

21,7

46,4

37,6

15,3

Baden .

2 958

4 287

8 405

6 286

4 030

37,1

40,0

66,7

46,4

18,6

Hessen-Darmstadt . .

1537

2 368

4123

3 165

3 140

44,9

53.6

69,2

49,1

29,9

Mecklenburg-Schwerin .

2 274

2 403

4 387

4 393

3 397

119,1

108,4

159,5

164,3

88,6

Sachsen- Weimar . . .

439

497

1037

822

678

77,0

63,2

113,8

83,6

42,7

Mecklenburg-Strelitz .

439

331

571

595

434

95,4

71,5

108,6

103,5

57,1

Oldenburg .

734

891

2 012

1 799

1486

59.2

56,9

94,4

77,2

46,3

Braunschweig . . .

1 209

1 568

2 227

1697

1 615

86,2

85,2

102,6

73,1

40,4

Sachsen-Meiningen . .

153

144

381

403

319

43,5

36,4

92,0

82,7

38,8

Sachsen- Altenburg . .

1487

1 275

1291

1 343

1 570

511.0

297,9

261,0

271,3

240,8

Sachsen-Koburg-Gotha .

245

215

603

475

372

68,1

54,8

116,9

85,4

45,1

Anhalt .

483

620

985

671

690

64,7

67.3

97,9

66,1

46,7

Schwarzburg -Sondersh.

44

83

178

148

186

39,6

68,6

93,2

68,5

64,6

Schwarzburg-Rudolst. .

113

40

114

86

47

47,9

17,6

42.9

28,9

12,6

Waldeck .

38

48

118

101

93

65,5

41,4

73.3

46,5

25,1

Reuß ältere Linie . .

87

129

149

103

66

86,1

103.2

108,0

81,1

44.0

Reuß jüngere Linie

174

207

358

287

206

66.2

67,8

111,5

84,4

44,6

Schaumburg-Lippe . .

19

28

42

51

101

35,9

53,8

74,9

63.0

59,8

Lippe-Detmold . . .

79

98

336

281

196

66,4

71.5

128,7

104,5

55,4

Lübeck .

344

351

709

653

383

80^3

67,9

110,4 |

107.6

38,7

Bremen .

1234

1873

2 971

2 062

1499

78/2

87,3

115,2

lo,8

32,1

Hamburg .

3418

4 096

5 687

4 281

3 455

43,4

42,2

50,1

35,9

18,7

Elsaß-Lothringen . .

528

788

2 093

2 728

1 775

11,0

14,2

31,9

37,6

15,5

Deutsches Reich . , .

81 364

98 096

189 817

1

173 898

1

163 396

43,3

43,7

71,4

i

60,5

35,8

Quelle: Medizinische Mitteilungen des Kaiserlichen Gesundheitsamtes.

Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 351

Tabelle II.

Die in sämtlichen allgemeinen Heilanstalten Preußens

Behandelten. (Zugang.)

1907

1908

Absolut

in Prom.

Absolut

in Prom.

An allen Erkrankungen . . .

1 014418

1000

1 056 656

1000

Diphtherie und Kroup ....

14 563

13.94

16 583

15,69

Unterleibstyphus .

7 873

7,54

8 233

7,79

Tuberkulose der Lungen . .

58 222

55,75

64 381

60,93

Gonorrhoe .

19 120

18,31

20 911

19,79

Syphilis .

15211

14,56

16 700

15,81

Lungenentzündung .

18 596

17,80

17 562

16,62

Blinddarmentzündung ....

18 097

17,32

21 475

20,32

Karzinom und andere bösartige

Geschwülste .

22 838

21.87

22 605

21,39

Krätze .

39 369

37,69

45 276

42,85

Krankheiten auf geführt. Einzig und allein die Tuberkulose der Lungen zeigt höhere Zahlen als die Krätze, und das wohl auch nur, weil in dieser Zahl die Insassen der Lungenheilstätten mit eingerechnet sind; die anderen verbreitetsten Volksseuchen bleiben . um mehr als das Doppelte oder wie Typhus und Diphtherie noch erheblich weiter hinter der Krätze zurück.

Die theoretische Deduktion hat also eine große Lücke. Trotzdem alle Bedingungen erfüllt sind, deren es zu bedürfen schien, um die Volksseuche durch die Behandlung zu vermindern, ist auch heute noch die Krätze eine außerordent¬ lich verbreitete, eine der allerhäufigsten Erkrankungen. Trotzdem wir seit 50 Jahren bequeme, absolut zuverlässige, schnell und billig wirkende Heilmethoden besitzen, ist von einem Absinken der Erkrankungsziffer nicht das geringste zu bemerken. Es muß also in der Deduktion ein Fehler stecken. Um den Faktor zu entdecken, der übersehen worden ist, gibt schon die Tabelle III, die Heeres¬ statistik, einen Hinweis. Hier ist die theoretisch vorausgesetzte Abnahme der Morbidität, wenn auch nicht ganz stetig, so doch mit großer Intensität nach¬ weisbar. Wir schließen wohl kaum falsch, wenn wir den Grund in der syste¬ matischen ärztlichen Überwachung des Beobachtungsmaterials suchen. Eine weitere Aufklärung geben die einzelnen Jahrgänge über das Gesundheitswesen des preußischen Staates.

Ich begnüge mich, aus den Berichten der Begierungsmedizinalräte einige Stellen aufzuführen. So heißt es in dem Bericht für das Jahr 1911: „Reg.-Bez. B. Bei der großen Unsauberkeit, die in den niedrigsten Schichten der Bevölkerung sowohl in Stadt wie Land anzutreffen ist, hält sich die Krätzekrankheit noch immer in gleicher Höhe. Die Indolenz und Gleichgültigkeit, mit welcher hier körperliche Schäden und Beschwerden ertragen werden, bringt es mit sieb, daß ärztliche Hilfe gegen Krätze erst dann nachgesucht wird, wenn nach wochen- oder gar monatelangem Bestehen alle Familienmitglieder davon ergriffen sind. Es wird daher trotz der schnellen und sicheren Heilung an eine Aus¬ rottung dieser Krankheit nicht so bald zu denken sein.“ Im letzten Bericht aus dem Jahre 1910 für das Jahr 1908 heißt es: „Fast alle Bezirksberichte klagen

') Einschließlich der Heilstätten.

352 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.

Tabelle III.

Verbreitung der Krätze in der Koni gl. Preußischen, Königl. Sächsischen und Königl. Württem her gischen Armee. 1882 1908.

(1. Oktober bis 30. September.)

Jahr

Erkrankungs¬

fälle

Da

überhaupt

runter an Kri

insbesond(

der

Erkran¬

kungen

Ltze

irs Promille

des durch¬ schnittlichen Istbestandes

1882—1883

324 703

4255

13,1

11,1

1883—1884

317 951

3664

11,5

9,6

1884—1885

326 286

3905

12,0

10,2

1885-1886

325 463

3230

9,9

8,4

1886-1887

312 418

2577

8.2'

6,7

1887—1888

335 405

2853

8.5

6,8

1888—1889

318 978

2749

8,6

6,5

1889—1890

375 849

2605

6,9

6,2

1890 -1891

348 916

2716

7,8

6,2

1891-1892

363 537

3996

11,0

7,1

1892-1893

348 693

2658

76

6,1

1893—1894

405 239

2895

7,1

6,1

1894—1895

414 245

2989

7,2

5,9

1895—1896

385 334

2741

7,1 *

5,3

1896—1897

374 143

2511

6,7

4,9

1897—1898

351 179

2017

5,7

3,9

1898—1899

355 446

1705

4,8

3,3

1899—1900

358 869

1374

3,8

2,6

1900—1901

343 173

1119

3,3

2,1

1901—1902

326 417

1190

3,6

2,2

1902—1903

326 399

1398

4,3

2,7

1903—1904

320 237

1360

4,2

2,6

1904—1905

331 599

1374

4,1

2,6

1905—1906

314 807

1793

5,7

3,4

1906—1907

322 300

1710

5,3

3,2

1907—1908

318 217

2298

7,2

4,2

Quelle: Sanitätsberichte der Königl. Preußischen, der Königl. Sächsischen und Württembergischen Armeekorps.

über die unverändert starke Verbreitung der Krätze und die geringen Aussichten, die Krankheit mit Erfolg einzudämmen. Als Grund dafür, daß die Krätze eher zu- als abnimmt, wird übereinstimmend neben der mangelhaften Behandlung der Erkrankten die immer erneute Einschleppung und Weiterverbreitung durch die ausländischen Arbeiter aus Rußland, Galizien und Italien angegeben. Die Krätze- kranken lassen sich vielfach ärztlich nicht behandeln; die so erstrebenswerte Krankenhausbehandlung tritt, abgesehen von den dicht bevölkerten Gegenden im Westen und von den Großstädten, überhaupt nicht in nennenswertem Umfange ein. Zur Kenntnis der Kreisärzte kommt die Krätze meist nur gelegentlich der Schulbesichtigungen, wenn Schulkinder mit dieser Krankheit behaftet sind.“ Ich erspare mir unter Hinweis auf den reichen Inhalt der angegebenen Quelle weitere Zitate. Aus den Berichten geht hervor, daß Wanderarbeiter und die verwahrlosten Schichten der Bevölkerung in Stadt und Land die Hauptträger und Haupt-

Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 353

Verbreiter der Krankheit sind. Unwissenheit, Gleichgültigkeit, Leichtsinn, Armut lassen die Krankheit einnisten und offenbar ist sie viel verbreiteter in den ge¬ nannten Kreisen, als aus den Krankenhauszahlen hervorgeht. Da aber im wirt¬ schaftlichen Leben alle Schichten der Bevölkerung in inniger Berührung stehen, und die Milbe selbst, ehe sie überwandert, weder nach dem Steuerzettel noch nach dem Schulzeugnis fragt, sind auch kulturell höher stehende Schichten immer von neuem bedroht, und so meldet, um nur ein Beispiel zu erwähnen, der Bericht der Berliner Schulärzte vom Jahre 1905/1906, daß in mehreren Klassen eine größere Anzahl von Kindern mit Krätze vorgefunden wurde. „Es wurde darüber geklagt, daß in manchen Fällen die Behandlung Schwierigkeiten mache, da die Eltern die verordneten Medikamente nicht bezahlen wollten.“

Trotzdem also seit fast einem halben Jahrhundert bei der Krätze alle medi¬ zinisch-hygienischen Bedingungen erfüllt sind, um sie zu einer seltenen Krankheit zu machen, sind alle Fortschritte der Wissenschaft erfolglos gewesen, die Krätze ist noch heute ebenso verbreitet, wie vor 20 Jahren, hat in einigen Gegenden sogar zugenommen. Daß sie zahlenmäßig selbst in ärztlich überwachten Kreisen nicht einmal hinter der Syphilis nennenswert zurückbleibt, beweisen die Angaben in dem großen May et sehen Werke über die Krankheits- und Sterblichkeits¬ verhältnisse der Leipziger Ortskrankenkasse. Dort kamen auf 100000 männliche versicherungspflichtige Mitglieder zur Behandlung an Syphilis aller Grade 118, an Krätze 99. Bei den freiwilligen männlichen Mitgliedern ist der Unterschied allerdings wesentlich größer: 350:130.

Wir sind also über den großen Umweg der wissenschaftlichen mit Statistiken belegten Erörterungen zu einem Schluß gekommen, den der gesunde Menschen¬ verstand von selbst zieht, daß nämlich die glänzendsten Entdeckungen der Heil¬ kunde wirkungslos sind, wenn die von der betreffenden Yolksseuche befallenen Schichten zu unwissend, zu unkultiviert, zu arm sind, um dieser Behandlung sich zu unterziehen. Neu aber und wichtig ist die weitere Tatsache, daß für die Krätze diese Faktoren der Unkultur mächtig genug gewesen sind, um alle Fort¬ schritte der Wissenschaft vollkommen wirkungslos zu machen.

Nun liegt es mir fern, die Erfahrungen bei der Krätze rein quantitativ auf die Syphilis übertragen zu wollen. Aber qualitativ beansprucht der Faktor der Unkultur auch hier, wie ja schon Ne er andeutet, die ernsteste Beachtung. Auch bei dieser Krankheit ist selbst hier in Berlin und selbst in gebildeten Kreisen die Indolenz eine erstaunlich große. Ich selbst habe in meiner ärztlichen Tätigkeit in den letzten Jahren eine nicht ganz kleine Zahl von Syphilisfällen gelegentlich entdeckt, auch bei Patienten der gebildeten Stände, welche mich wegen eines Rheumatismus, wegen Kopfschmerzen usw. aufsuchten, welche von ihren Roseolen überhaupt noch nichts wußten und ihre Primärsklerose nicht für der Beobachtung wert gehalten hatten. Ich habe in gut situierten Familien bei dem Kindermädchen, welches das jüngste Kind auf dem Arm trug, bloß weil mir die belegte Stimme auffiel, die als akuter Katarrh galt, frische Syphilis gefunden, und jeder Arzt in diesem Kreise wird ähnliche Fälle beobachtet haben. Die Be¬ richte der Berliner Schulärzte melden in jedem Jahre Fälle von frischen vernach¬ lässigten syphilitischen Erkrankungen der Schulkinder, welche ohne das Ein¬ greifen der Schulärzte vielleicht überhaupt nicht entdeckt worden wären. Trotz der Volkstümlichkeit des Ehrlich sehen Mittels sollte man also auch hier recht pessimistisch denken.

Für mich und wohl auch für den Kreis meiner Hörer war meine ganze

354 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene lind Medizinalstatistik.

Betrachtung außerdem noch von grundsätzlicher Bedeutung. Die Bolle des sozialen Faktors in der Ursachenkette der Krankheiten, schon von unserem Ehren¬ mitglied S. Neu mann scharf betont, wird jetzt auch von der Klinik anerkannt. Der vorliegende Fall beweist zwingend die Bedeutung des sozialen Faktors auch für den Erfolg aller therapeutisch-hygienischen Maßnahmen. Alle die schönen Errungenschaften der biologischen Hygiene und der experimentellen Therapie bleiben Theorie, wenn sie nicht die sozialen Faktoren mit ins Bereich ihrer prak¬ tischen Maßnahmen ziehen. Der Erzieher und Lehrer des Volkes ist neben dem Forscher im Laboratorium ein unentbehrlicher Helfer im „Kampf gegen die Volksseuche“. Zu ihrer Eindämmung genügt nicht die Tätigkeit des einzelnen Arztes, so vollkommen er mit dem modernen Büstzeug ausgestattet sein mag, denn er tritt ja nur dann in Tätigkeit, sobald es dem Kranken beliebt ihn auf¬ zusuchen. Für den Arzt bleibt der an einer Volksseuche leidende Patient nur ein Einzelfall von rein individualtherapeutischem Interesse. Das Wirken des Arztes bedarf für die Volksseuchen notwendig der Ergänzung durch die Ma߬ nahmen der Gesundheitsfürsorge , welche von einer höheren sozialen Einheit organisiert und von dieser mit Hilfsmitteln ausgestattet wird und welche das Becht und die Pflicht hat, werbend aufzutreten, also nicht nur diejenigen Leidenden zu behandeln, welche freiwillig die Fürsorgestätten aufsuchen, sondern ganze Kreise und Schichten der Bevölkerung heranzuziehen, ihre gesundheitlichen Verhältnisse zu durchforschen, sie zu beraten und ihre Behandlung zu erzwingen.

Es liegt nahe, aus meinen Auseinandersetzungen und unter dem Eindruck der zahlreichen Veröffentlichungen über die schnelle Heilwirkung des Ehrlich- scheu Salvarsans Folgerungen auf die Bekämpfung dieser Volksseuche durch die Behandlung zu ziehen. Der Vorschlag liegt auf der Hand, nunmehr nach Art der Fürsorgestellen für Tuberkulöse solche für Syphilitische zu errichten, um durch die Heranziehung derjenigen schon erkrankten Bevölkerungsschichten, welche sich bisher dieser rechtzeitigen Behandlung entzogen, der Volksseuche ihre Gefahr zu nehmen. Ich erkenne die Notwendigkeit an, die moderne soziale Gesundheitsfürsorge auch auf die Geschlechtskrankheiten auszudehnen. Ich er¬ kenne auch die weitere Notwendigkeit an, für schnelle und erfolgreiche Behand¬ lung der schon Erkrankten werbend zu wirken. Gerade bei der Syphilis aber darf wegen dieser Forderung einer indirekten Bekämpfung der Volksseuche durch Fürsorge für die Erkrankten die Hauptaufgabe durch neue therapeutische Erfolge nicht in den Hintergrund gedrängt werden, mit allen Mitteln der Auf¬ klärung und Fürsorge dahin zu wirken, daß die Gefahr überhaupt zu erkranken verringert wird.

Welcher Weg in der Wirklichkeit mehr Erfolg verspricht, ist zuletzt eine rein praktische Frage, über welche die Erfahrung zu entscheiden haben wird. Wahrscheinlich wird es nötig sein, beide Maßnahmen, diejenige der Vorbeugung und der Behandlung, gleichzeitig zu treffen.

Sitzung vom 16. Februar 1911.

Herr B. Schaeffer trägt vor über „Das statistische Erhelmngsformular der Heilanstalten in Preußen44. Seit dem Jahre 1877 wird in Preußen all¬ jährlich eine Statistik angefertigt, welche über Zahl, Art, Heilung oder Tod der in den Heilanstalten aufgenommenen Kranken Aufschluß gibt. Welche ge¬ waltige Zahlen hier nach einheitlichen Gesichtspunkten verarbeitet werden müssen,

Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 355

ersieht man. wenn man erfährt, daß die Zahl der in Betracht kommenden An¬ stalten im Jahre 1806 = 3106 in Preußen betrug (gegen 1145 im Jahre 1877), daß sich darunter 2410 allgemeine Anstalten und Abteilungen befanden, daß allein in diesen 138016 Betten zur Verfügung standen, und daß die 1036161 hier Verpflegten 31957 756 Verpflegungstage absorbierten.1)

Dieses Material wird gewonnen durch Erhebungsformular, welches all¬ jährlich von jeder Heilanstalt auszufüllen ist, und welches für die allgemeinen Heilanstalten ein einheitliches ist, während für die Irren- und Entbindungs¬ anstalten besondere Formulare bestehen.

Zum Verständnis der folgenden Ausführungen sei nur das Formular für diese allgemeinen Krankenhäuser in seinen wesentlichen Punkten wieder¬ gegeben.

Auf der ersten Seite befinden sich die allgemeinen Angaben:

1. Krankenbetten.

2. Verpflegte männliche Kranke.

3. Verpflegte weibliche Kranke.

4. Verpflegungstage der männlichen Kranken.

5. Verpflegungstage der weiblichen Kranken.

Das Formular selbst weist nachfolgendes Schema auf Seite 356 auf.

Endlich finden sich eine Eeihe von „Bemerkungen“ dem Formular auf¬ gedruckt, welche gewisse Zweifelfälle einheitlich entscheiden sollen. Unter diesen '„Bemerkungen“ scheint mir Nr. 4 der kritischen Beleuchtung wert zu sein.

Nr. 4 lautet:

„Jeder verpflegte Kranke ist nur bei derjenigen Krankheit, welche von dem behandelnden Arzte als Hauptkrankheit betrachtet wird, in Bestand, Zugajrg und Abgang zu zählen. Die Nebenkrankheiten bleiben unberücksichtigt. Wurden in unmittelbarer Aufeinanderfolge mehrere Krankheiten nacheinander durchgemacht, so soll der Verpflegte doch nur bei der als Hauptkrankheit zu betrachtenden Krankheit gezählt werden . . .“

Wiewohl es nun eigentlich überflüssig ist, möchte ich doch ausdrücklich betonen, daß auch ich davon überzeugt bin, daß dieser Modus der statistischen Zusammenfassung, nämlich nicht die Zahl der Krankheiten, sondern der Kranken auszurechnen, von seiten der sachverständigen Männer, die diese mühevolle Statistik geschaffen haben, mit Vorbedacht und auf Grund eifriger Er¬ wägungen gewählt worden ist. Trotzdem halte ich im medizinisch-wissen¬ schaftlichen Interesse dieses Vorgehen entschieden für bedauerlich.

Das medizinisclustatistische Ideal wäre es natürlich, überhaupt jeden in der ganzen Bevölkerung vorkommenden Krankheitsfall (zunr mindesten jeden ärztlich behandelten) statistisch erfassen zu können. Daß dies unmöglich ist,

*) Preußische Statistik. (Kgl. Preußisches statistisches Landesamt in Berlin, Nr. 212. Die Heilanstalten im Preuß. Staate 1906. Berlin 1908. Verlag des Kgl. Preuß. statist. Landesamtes.) Für das letzte veröffentlichte Jahr (1907) lauten die Zahlen: 3136 Heilanstalten überhaupt, darunter 2440 allgemeine Heil¬ anstalten mit 1 111458 Verpflegten und 33688109 Verpflegungstagen. (Vgl. Medizinalstatistische Nachrichten. Herausgegeb. vom Kgl. Preuß. Statist. Landes¬ amt, Erster Jahrgang 1909. Verlag des Kgl. Statist. Landesamtes Berlin 1910.)

Lfd

356 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.

Formular.

Namen

der

Krankheiten

Be¬

stand

am

1. Ja¬ nuar

Zu¬

gang

im

Jahre

Abgang im Jahre

Davon durch Tod

über¬

haupt

an der in

Spalte 2 genann¬ ten

Krank¬

heit

an einer anderen Krank¬ heit und an

welcher ?

Be¬

stand

am

31. De¬ zember

6

8

m. w.

m.

r- I

w. m.

w.

m.

w.

m.

w. m. w.

I. Eutwickliings- krankheiten.

1. Angeborene Lehens¬ schwäche (erster Mo¬ nat) ......

2. Angeborene Mißbil¬ dungen .

3. Altersschwäche (über 60 Jahre) . . . .

4. Andere Entwicklungs¬ krankheiten . . .

a) Menstruationsano¬ malien . . . .

b) Schwangerschafts¬

anomalien (Fehl¬ geburten, Blu¬ tungen usw.) . .

c) Geburts- und Wochenbettano¬ malien (ausschlie߬ lich 19) ... .

d) Andere Entwick¬ lungskrankheiten .

Bei den folgenden Krankheiten ist der Baumersparnis halber obiges Schema

fortgelassen.

II. Infektions- und parasitäre Krankheiten.

5. Pocken.

6. Varicellen.

7. Scharlach.

8. Masern und Böteln.

9. Diphtherie und Krupp.

10. Keuchhusten.

11. Mumps (Parotitis epidemica).

12. Flecktyphus.

13. Bückfallfieber.

14. Unterleibstyphus.

15. Genickstarre.

16. Bose (Erysipel).

Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 357

17. Trismus und Tetanus.

18. Pyämie, Septychämie, Hospital¬ brand.

19. Kindbettfieber.

20. Lepra,

21. Skrofulöse.

22. Tuberkulose der Lungen.

23. ,, anderer Organe.

24. Lungenentzündung (kruppöse).

25. Influenza (Grippe).

26. Akuter Gelenkrheumatismus.

27. Malaria.

28. Asiatische Cholera.

29. Brechdurchfall (Cholera nostras).

30. Buhr (Dysenterie).

31. Gonorrhoe.

32. Weicher Schanker.

33. Syphilis.

34. Milzbrand.

35. Botzkrankheit.

36. Tollwut (Lyssa).

37. Trichinose.

38. Bandwurm.

39. Andere Infektions- und parasitäre Krankheiten (ausschl. Krätze).

III. Sonstige allgemeine Krank¬ heiten.

40. Bleichsucht und Blutarmut (Chlorose und Anämie).

41. Leukämie und Pseudoleukämie.

42. Bachitis und Osteomalacie.

43. Zuckerruhr.

44. Gicht.

45. Skorbut.

46. Alkoholismus und Säuferwahnsinn.

47. Andere Vergiftungen.

48. Hitzschlag.

49. Andere allgemeine Krankheiten.

Anhang: Neubildungen und Geschwülste.

50. Karzinom.

51. Andere bösartige Neubildungen.

52. Gutartige Neubildungen und Ge¬ schwülste (ausschl. 79).

IV. Örtliche Krankheiten.

A. Krankheiten des Nerven¬ systems.

53. Geisteskrankheiten.

54. Gehirn- und Hirnhautentzündung (ausschl. 15, 23).

55. Gehirnschlag.

56. Andere Krankheiten des Gehirns.

57. Epilepsie.

58. Eklampsie.

59. Chorea.

60. Tabes.

61. Andere Bückenmarkskrankheiten.

62. Andere Krankheiten des Nerven¬ systems überhaupt.

B. Krankheiten der Atmungs¬

organe.

63. Krankheiten der Nase und der Adnexa.

64. Kehlkopfkrankheiten (ausschl. 9, 23).

65. Akuter Katarrh der Luftröhre und der Bronchien.

66. Chronischer Katarrh der Luftröhre und der Bronchien sowie Emphysem.

67. Lungenentzündung (ausschl. 24).

68. Brustfellentzündung.

69. Andere Krankheiten der Atmungs¬ organe.

C. Krankheiten der Kreislauf¬

organe.

70. Herz- und Herzbeutelentzündung.

71. Klappenfehler und andere Herz¬ krankheiten.

72. Pulsadergeschwulst.

73. Arteriosklerose und Brand der Alten.

74. Krampfadern u. Venenentzündung.

75. Lymphgefäß- und Lymphdrüsen¬ entzündung (ausschl. der zu 21, 31, 32, 33 gehörigen).

D. Krankheiten der Verdau¬ ungsorgane.

76. Krankheiten der Zähne und der Organe der Mundhöhle.

77. Mandel- und Bachenentzündung (ausschl. 9).

358 A11S der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.

78. Krankheiten der Speiseröhre.

79. Krankheiten der Schilddrüse (aus- schl. 50, 51).

80 Akuter Magen- und Darmkatarrh sowie Atrophie der Kinder (ausschl. 23).

81. Magengeschwür.

82. Andere chronische Magenkrank¬ heiten.

83. Chronische Darmkrankheiten.

84 a. Bauchfellentzündung (Peritonitis).

84 b. Blinddarmentzündung (Perityphli¬

tis, Appendicitis).

85 Brüche (Hernien),

a) eingeklemmte,

b) nicht eingeklemmte.

86. Innerer Darmverschluß.

87. Lebercirrhose.

88. Andere Krankheiten der Leber und ihrer Ausführungsgänge.

88 a. Andere Krankheiten der Verdau¬ ungsorgane.

E. Krankheiten der Harn- und Geschlechtsorgane (ausschl. 31, 32, 33).

89. Krankheiten der Nieren.

90. Blase.

91. Steinkrankheit.

92. Krankheiten der männlichen Ge¬ schlechtsorgane.

93. Krankheiten der Gebärmutter.

94. anderen weiblichen

Geschlechtsorgane.

Es folgt eine Wiederholung

F. Krankheiten der äußeren Bedeckungen.

95. Krätze.

96. Hautausschläge (ausschl. 5 8, 12, 16).

97. Zellgewebsentzündung (einschl. Panaritium, Furunkel und Kar¬ bunkel (ausschl. 34).

98. Andere Krankheiten der äußeren Bedeckungen.

G. Krankheiten derBewegungs- organe.

99. Krankheiten der Knochen und Knochenhaut (ausschl. 23).

100. Krankheiten der Gelenke (ausschl. 23, 26, 44).

101. Krankheiten der Muskeln, Sehnen und Schleimbeutel.

102. Muskelrheumatismus.

H. Krankheiten des Ohres.

103. Krankheiten des äußeren Ohres.

104. Mittelohres.

105. inneren Ohres.

I. Krankheiten der Augen.

106. Ansteckende Augenkrankheiten.

107. Andere Augenkrankheiten:

a) Verletzungen der Augen,

b) andere Augenkrankheiten.

K. Verletzungen.

108—122.

der einzelnen Hauptgruppen.

braucht nicht weiter ausgeführt zu werden. Der einzige Anhaltspunkt, den wir daher zur Beurteilung der Häufigkeit der einzelnen Krankheiten haben (die meldepflichtigen Infektionskrankheiten ausgenommen), ist die Heilanstaltsstatistik. Derselben liegt aber darum ein so großer Wert bei, weil hier die Diagnosen mit ungleich größerer Sicherheit gestellt sind, als es in der freien Praxis möglich ist. Ich hoffe, die Herren Kollegen werden darin keine Bemängelung ihrer diagnosti¬ schen Fähigkeiten erblicken. Die Krankenhausdiagnose ist darum der der privaten Tätigkeit so überlegen, weil ihr nicht nur die sämtlichen Untersuchungsmittel und stets bereite Untersuchungs kr äfte zur Verfügung stehen, sondern besonders darum, weil der Kranke dauernd unter Beobachtung steht und der Arzt nicht verpflichtet ist, sich gleich am ersten Tage den Angehörigen gegenüber auf eine bestimmte Diagnose festzulegen: Erst bei der Entlassung oder der Sektion braucht die endgültige Diagnose gestellt zu werden.

Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 359

Diese relativ ausgezeichnete Sicherheit der Krankenhausdiagnose legt aber gerade den dringenden Wunsch nahe, die sich darauf aufbauende Statistik nicht nur im verwaltungstechnischen, sondern auch im medizinischen Sinne venverten zu können.

Selbstverständlich sind nun die in der Heilanstaltenstatistik niedergelegten Zahlen nicht so ohne weiteres auf die Krankheitsverhältnisse der ganzen Be¬ völkerung zu übertragen. Während sich die Zahl der Fälle z. B. von Pocken oder Cholera in den Krankenhäusern wohl so ziemlich mit den im ganzen Staate überhaupt zur Beobachtung gelangten Pocken- oder Cholerafällen decken werden, wird die Zahl der Fälle z. B. von Zuckerruhr (Nr. 43) oder der Luftröhrenkatarrhe (Nr. 66) oder der Magendarmkatarrhe (Nr. 80) nur einen minimalen Anteil an den in der ganzen Bevölkerung vorgekommenen derartigen Erkrankungen dar¬ stellen. Für jede einzelne Erkrankung werden da besondere Erwägungen an¬ zustellen sein. Wenn wir aber in der „Preußischen Statistik“ vom Jahre 1906 lesen, daß von allen an Appendicitis im Jahre 1904 1906 gestorbenen Personen 84 Proz. in Krankenhäusern gestorben sind, so ersehen wir daraus, daß in bezug auf manche Krankheiten die Krankenbewegung in den Krankenhäusern doch einen recht guten Maßstab für die Beurteilung der Verhältnisse dieser Krankheit in der ganzen Bevölkerung ergibt.

Diesem berechtigten ärztlichen Bedürfnis, aus der Krankenhausstatistik ein Verständnis für Häufigkeit und Ausgang der Krankheiten zu gewinnen, wider¬ spricht nun entschieden der vorher angeführte § 4 der „Bemerkungen“, welcher vorschreibt, daß jeder Kranke nur einmal, mit seiner „Hauptkrankheit“, aufgeführt werden darf.

Um nur ein Beispiel, das beliebig vervielfältigt werden könnte, zu nennen, so darf die Krätze (Nr. 95) nur angeführt werden, wenn sie als Haupt- krankheit im Krankenhause angesehen wurde. Wenn es aber überhaupt ein Interesse hat, zu wissen, wieviel Leute im Jahre in den Krankenhäusern an Krätze litten, so sollte jeder Fall von Krätze aufgeführt werden und nicht diejenigen (vielleicht nicht minder zahlreichen) unter den Tisch fallen, bei welchen als Hauptkrankheit vielleicht ein Fußgeschwür, eine Verletzung oder eine Lungen¬ entzündung bestand.

Vom statistisch-technischen oder bureaukratischen Standpunkte aus (wobei dem Worte keine üble Nebenbedeutung beigelegt werden soll) mag es vielleicht wichtig sein, gerade die Hauptkrankheit festzustellen und jeden Kranken nur einmal zu zählen. Vom ärztlichen und wissenschaftlichen Standpunkte aber interessiert uns ganz wesentlich die Krankheit als solche und nicht der zufällige Umstand, ob sie als Haupt- oder Nebenkrankheit aufgefaßt wurde.

Mit anderen Worten: Es müssen die Krankheiten und nicht die Kranken gezählt werden; es muß eine Dopp elzählung * ge¬ stattet sein. Eine Heilanstalt also, welche 1000 Kranke im Jahre verpflegt, müßte dann also vielleicht 1500 Krankheiten im Formular buchen.

Daß dies bei der statistischen Verarbeitung gewisse Schwierigkeiten bietet, mag ohne weiteres zugegeben werden. Viel wichtiger aber erscheint es, daß nur so eine Beurteilung der Kr ankh ei ts Verhältnisse ermöglicht wird.

Diese ungenügende Verwendbarkeit der Krankenhausstatistik zur Beurteilung von Häufigkeit und Art der Krankheiten tritt nun aber auch im Formular selbst hervor.

Zunächst sei auf die Rubrizierung eingegangen.

360 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.

Hubrum I behandelt die Entwicklungskrankheiten. Nr. 4 lautet:

Andere Entwicklungskrankheiten:

a) Menstruationsanomalien.

Zu den Menstruationsanomalien gehören die Störungen bei Eintritt der Pubertät, die man gewiß vielfach als Entwicklungsstörungen auffassen kann. Aber es gehören darunter auch und diese sind viel häufiger die Anomalien der Periode, welche sich um die Zeit der Wechseljahre einstellen. Diese Störungen aber zu den Entwicklungskrankheiten zu rechnen, hätte dieselbe Berechtigung, als wenn man jede andere im Laufe des Lebens sich entwickelnde Krankheit, z. B. Herzkrankheit, hierunter rubrizieren wollte. Was hat es außerdem für einen Wert, zwei voneinander gänzlich unabhängige, ihrer Bedeutung nach gänz¬ lich verschiedene Krankheitszustände in einer Nummer zusammenzufassen? Irgend¬ ein ärztlich-wissenschaftlicher Schluß läßt sich aus dieser zusammengefaßten Zahl gar nicht machen.

b) Schwangerschaftsanomalien (Fehlgeburten, Blutungen usw.).

Hier ist es direkt unverständlich, wie Fehlgeburten und Blutungen als Entwicklungsstörung aufgefaßt werden können. Die Annahme, daß die Ent¬ wicklungsstörung des Fötus für diese Rubrizierung maßgebend gewesen sei, ist doch wohl weil es ein schlechter Spaß wäre - von vornherein ab¬ zulehnen. Die allein dann übrigbleibende Annahme, daß Fehlgeburten auch nur meist auf Entwicklungsstörung der Mutter beruhen, entspricht aber einem medizinischen Standpunkte, der vor länger als 50 Jahren vielleicht Berechtigung hatte, heut aber als vollkommen verkehrt gelten muß. Auch hier ist die Zu¬ sammenfassung aller Schwangerschaftsanomalien in eine Nummer bedauerlich, weil sie die Zahl der Unterarten (z. B. Hyperemesis gravidarum) nicht er¬ kennen läßt. In erhöhtem Maße gilt dies bei

c) Geburts- und Wochenbettsanomalien (ausschließlich Nr. 19:

Kindbettfieber).

Die Krankenhausstatistik vom Jahre 1906 verzeichnet hierunter 3072 Fälle mit 157 Todesfällen. Aber niemand wird sich eine Vorstellung machen können, was das denn eigentlich für Krankheiten waren und namentlich, welche Ent¬ wicklungsstörungen denn den tödlichen Ausgang in 157 Fällen herbeigeführt haben. Das enge Becken, welches zweifellos eine Ent¬ wicklungskrankheit ist, führt doch als solches nie zum Tode. Die Eklampsie ist keine Entwicklungskrankheit, außerdem ist sie (merkwürdigerweise unter den Krankheiten des Nervensystems, wo sie kein Geburtshelfer vermutet) unter Nr. 58 noch besonders aufgeführt; sie scheidet hier also aus. Die fieberhaften Wochenbettserkrankungen scheiden auch aus, da sie unter Nr. 19 gehören. Komplikationen des Wochenbetts und der Geburt durch Herz-, Lungen- und andere 0 r g a n erkrankungen müssen natürlich unter letzteren verzeichnet werden. Es bleibt eigentlich nur die Placenta praevia, die man doch un¬ möglich als Emvicklungskrankheit auffassen kann. Wie bedauerlich ist es, daß wir nicht durch präzisere Fragestellung über Häufigkeit und Ausgang dieser hochwichtigen geburtshilflichen Anomalie unterrichtet werden.

Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 361

Diese ganze Nummer 4 ist von welchem Standpunkt wir sie auch be¬ trachten unglücklich und unzweckmäßig gefaßt.

Die hier unter a bis c aufgeworfenen Fragen gehören zu den örtlichen Krankheiten (IV des Formulars) und unter E (Krankheiten der Geschlechtsorgane). Eine viel eingehendere Einteilung in Untergruppen wäre erforderlich, um einen wissenschaftlichen Nutzen daraus ziehen zu können.

Auch im folgenden sollen nur die den Gynäkologen interessierenden Krank¬ heiten einer Kritik unterzogen werden, da ich nur auf diesem Gebiete Er¬ fahrungen habe.

Nr. 19 lautet Kindbettfieber. In der Preußischen Krankenhausstatistik des Jahres 1906 finden wir 1158 Zugänge von Kindbettfieber mit 506 Todesfällen, d. h. eine Mortalität von 43 Proz.1) Diese Mortalität Avird nur von der Genick¬ starre und dem Tetanus übertroffen, bei denen sie ca. 55 Proz. beträgt. Selbst Pocken, Milzbrand, Diphtherie, Fleck- und Unterleibs¬ typhus haben nur eine Mortalität, die sich zwischen 11 und 25 Proz. bewegt. Daß das Kindbett- oder Wochenbettfieber in Wirklichkeit eine so erschreckend hohe Mortalität haben soll, wird kein Arzt von einiger Erfahrung zugeben können. Diese Mortalität von 43 Proz. (46 Proz.) kann nur dadurch zustande gekommen sein, daß diese Diagnose reserviert wurde für diejenigen aller¬ schwersten Fälle, bei denen dem Arzte die Chance des Durchkommens zur Chance des Sterbens etwa wie 1:1 erschien. Die sehr viel zahlreicheren Fälle von Fieber im Wochenbett im Anschluß an den Geburtsverlauf und aus genitaler Ursache (das ist die ein zig mögliche Definition des Wochenbett- oder Kindbettfiebers!) sind einfach aus der Statistik verschwunden, weil das Formular es unterlassen hat, durch Schaffung von Unterabteilungen diese Fälle statistisch zu erfassen.

Ein näheres Eingehen auf diese auch die polizeiliche Meldepflicht des „Kindbettfiebers“ betreffenden Verhältnisse würde den Kähmen dieser Arbeit weit übersteigen.

Nr. 31 lautet: Gonorrhoe. Es ist klar, daß hier nur diejenigen Kranken gezählt werden dürfen, die wegen der Gonorrhoe als solcher Aufnahme gefunden haben. Die sehr viel zahlreicheren Kranken aber, die wegen einer Folgekrankheit der Gonorrhoe (gonorrhoischer Eileiter-, Eierstocks-, Gelenk¬ entzündung) die Krankenhausbehandlung nötig hatten, müssen natürlich als Organerkrankungen gebucht werden. Daran wird auch nichts dadurch geändert, daß unter der Überschrift IV. E in Klammer steht: ausschließlich Nr. 31 . . ., denn eine gonorrhoische Eileiterentzündung ist und bleibt eine Eileiterentzündung, also eine Organerkrankung. Ich selbst konnte unter 400 Aufnahmen in meiner Klinik nur fünfmal die Gonorrhoe verzeichnen, während in 130 Fällen auf Gonorrhoe beruhende gynäkologische Folgeerkrankungen Vorlagen. Um über die Verbreitung der Gonorrhoe ein Urteil zu gewinnen, müßte unter 31a die Frage: „Auf Gonorrhoe beruhende Krankheiten“ eingeschoben werden und natürlich eine Doppelzählung gestattet sein.

Nr. 50 Karzinom.

Nr. 51 Andere bösartige Neubildungen.

x) Für 1907 lauten die Zahlen: Zugänge 1186, Todesfälle 545, d. h. eine Mortalität von 46 Proz.

362 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.

Nr. 52 Gutartige Neubildungen und Geschwülste (ausschließlich 79 = Krank¬ heiten der Schilddrüse).

Zunächst ist es auch hier überaus bedauerlich, daß alle Karzinome und alle gutartigen Geschwülste, mag ihr Sitz sein, welcher er wolle, in je eine Rubrik zusammengefaßt sind. Welche Fülle von Betrachtungen und Schlüssen ließen sich ziehen, weun wir im einzelnen erführen, an welchen Organen sich die 7863 Karzinome bei Männern und die 11 633 Karzinome bei Frauen fanden, welche im Jahre 1906 in den preußischen Heilanstalten zur Beobachtung kamen! Zum mindesten die wichtigsten Organe, wie Magen, Leber, Mamma, Uterus, Ovarium sollten einzeln festgestellt werden. Ebenso ist die Zusammenfassung der „gut¬ artigen Geschwülte und Neubildungen“ in eine Rubrik wissenschaftlich gar nicht verwertbar, da hier nach Bedeutung und Prognose ganz differente Krankheiten in einen Topf geworfen werden: einfache Atherome, Bartholinische Cysten, Knochengeschwülste, Ovarialtumoren, Myome und alle nur denkbaren Neu¬ bildungen, ja auch die entzündlichen Geschwülste werden hier zusammengezählt. Irgendeinen wissenschaftlichen Wert hat eine so gewonnene Zahl nicht mehr, Schlußfolgerungen lassen sich daraus nicht ziehen.

Aber noch etwas anderes fällt auf.

Unter den 19496 Karzinomen des Jahres 1906 endeten 5750 mit dem Tode.

Unter den 3807 männlichen und 12294 weiblichen Kranken, die wegen gut¬ artiger Geschwülste im Jahre 1906 in preußischen Heilanstalten Aufnahme fanden, erfolgte nach eben dieser Statistik kein Todesfall!

Ebenso waren von den in den Universitätskliniken aufgenommenen 1465 weiblichen Karzinomatösen 276 Todesfälle unter den 1635 Frauen, die an gutartigen Geschwülsten litten, ebenfalls kein Todesfall!

Daß hier irgend etwas nicht richtig sein kann, wird jedem klar, der be¬ denkt, daß in Preußen alljährlich etwa 1060 Uterusmyome operiert werden und daß, wenn wir die Mortabilität auch nur auf 5 Proz. ansetzen, etwa 50 Todesfälle allein auf Rechnung der Myomoperation kommen.

Alle diese und ähnliche Todesfälle werden aber, wie die obigen Zahlen klar erweisen, als wenn eine Verabredung unter den Heilanstalten bestände, grund¬ sätzlich nicht unter den gutartigen Neubildungen gebucht (die Neubildung als solche ist ja auch nie Todesursache), sondern unter Lungenentzündung, Herz¬ schlag oder Sepsis, was ja natürlich auch die unmittelbare Todesursache ist. Die Fragestellung des Formulars führt also hier direkt zu einer Verschleierung. Es müßte sowohl bei Nr. 50 und 51 wie 52 die Unterrubrik eingeführt werden: „Davon wurden operiert: (wurden geheilt entlassen starben)“. Dann würden auch die Todesfälle hier erscheinen.1)

Die wissenschaftliche Verwendung des gewaltigen Materials wird des weiteren fast unmöglich gemacht durch die Kürze, mit der die Spezial-

x) An diesen Ausführungen wird nichts geändert durch den Umstand, daß in der Statistik des Jahres 1907 einige Todesfälle unter den gutartigen Neu¬ bildungen gebucht sind. Unter den 16054 gutartigen Geschwülsten in Allgemein¬ heilanstalten endeten 11 mit dem Tode. Unter den 2056 gutartigen Geschwülsten, welche 1907 in den Universitätskliniken behandelt wurden, ist 1 Todesfall verzeichnet!

Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 3(33

krankkeiten abgehandelt werden. Sämtliche gynäkologischen Erkrankungen müssen mit Ausnahme der oben bereits erwähnten untergebracht werden in

Nr. 93 Krankheiten der Gebärmutter, und

Nr. 94 Krankheiten der anderen weiblichen Geschlechtsorgane.

Warum existiert keine Kubrik für die Ketroflexio uteri, für Krank¬ heiten der Eileiter, Eierstöcke, und besonders warum nicht für Extra¬ uterinschwangerschaft, deren Häufigkeit, Operationsfrequenz und Prognose an großen Zahlen festzustellen hochbedeutsam wäre.

Ein Blick in die Verwaltungsberichte unserer großen Berliner städtischen Krankenhäuser zeigt, welche Fülle von interessanten Feststellungen sich aus einer genaueren und eingehenderen Fragestellung ziehen läßt.

Nun kann allerdings scheinbar mit Beeilt eingewendet werden, daß die Be¬ lästigung, die den einzelnen Krankenanstalten aus zu detaillierter Fragestellung erwüchse, bei diesen Widerspruch erregen würde, und daß eine Statistik um so zuverlässiger wird, je einfacher die Fragestellung gehalten ist. Einerseits würden aber die oben angedeuteten Unterabteilungen oft die Unter¬ bringung des Falles direkt erleichtern. Andererseits Aväre es nur erwünscht, daß nach einer anderen Kichtung hin eine Erleichterung der nicht unerheb¬ lichen Arbeit der jährlichen Zusammenstellung angebahnt würde.

Wenn Sie das Schema des Erhebungsformulars betrachten, so wird verlangt, daß der Bestand von dem Zugang für jede einzelne Krankheit ge¬ trennt aufgeführt wird.

Es gehört ja nun selbstverständlich zu einer geordneten Listenführung, daß der Gesamtbestand vom vergangenen Jahr, der Zugang und der in das nächste Jahr zu übertragende Gesamtbestand in jeder Heilanstalt gebucht und angeführt wird. Auch für jede einzelne Abteilung einer Heilanstalt ist das wünschenswert. Welchen Wert es aber hat, zu wissen, daß z. B. 50 Fälle von angeborener Lebensschwäche am 1. Januar Bestand waren, daß 700 Zugänge waren und z. B. 60 Fälle am 31. Dezember Bestand blieben, und so fort bei jeder einzelnen Erkrankung besonders, ist mir nicht verständlich. Es ist dies im höchsten Maße gleichgültig, erlaubt keinerlei Schlüsse und erschwert die Arbeit der Zusammenstellung außerordentlich.

Die Kolumne 7 des Schemas, welche die Angabe „einer anderen Krank¬ heit und welcher“ (an der der Tod erfolgt ist) verlangt, erhebt eine wenigstens für größere Anstalten technisch unausführbare Forderung. Wenn z. B. 30 Todesfälle bei dem Karzinom gebucht werden sollen, von denen 10 an Folgeerkrankungen (Lungenentzündung, Sepsis, Verblutung, Herzschlag usw.) erfolgt sind, so gestattet der nur 1 qcm große Kaum des Schemas eine Eintragung der betreffenden 10 Nummern nicht. Wichtiger aber ist, daß es auch recht gleichgültig ist, ob der Tod, welcher sich nach einer Infektionskrankheit, nach einer Verletzung, bei Karzinom oder einer beliebigen sonstigen Erkrankung wegen dieser Krankheit erfolgt, oder ob sich eine Lungenentzündung oder der für die Statistik sehr beliebte Herzschlag dazwischen schiebt. Gerade die Einführung dieser Kolumne hat die Verschleierung, auf welche bei den „gut¬ artigen Neubildungen“ hingewiesen wurde, erst ermöglicht.

Wir sehen also, daß das Formular in seiner Breite (Zahl der Kolumnen) wesentlich eingeschränkt werden könnte, daß es aber in seiner Länge, d. h. Zahl der Krankheitsrubriken, vermehrt werden müßte. Nur durch Schaffung

364 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.

von zahlreichen Unter rubriken und durch Zählung der Krank¬ heiten anstatt der Kranken kann die Heilanstaltsstatistik den wissenschaftlichen hohen Wert erhalten, der ihr kraft der Größe des Materials und der darin niedergelegten sorgfältigen Be¬ obachtung innewohnt und zukommt.

Zu einer Neubearbeitung des Erhebungsformulars sollten nicht nur Statistiker, sondern auch im Krankenhausdienst und in den verschiedenen Sonderdisziplinen erfahrene Arzte hinzugezogen werden.

Die Abnahme der Geburtenzahlen in den ver¬ schiedenen Bevölkerungsklassen und ihre Ursachen.

Nach Untersuchungen in Schleswig-Holstein.

Von Dr. med. Hanssen, Kinderarzt in Kiel.

Die Bedeutung des Geburtenrückgangs für das Volksleben.

Es ist klar, daß die Gefahr des Geburtenrückgangs für ein Volk in dem Herabgehen seiner Wehrkraft liegt. In der Debatte über das Kriegsbudget am 19. Juni 1912 mußte der französische Kriegsminister Millerand zum ersten Mal offen zu¬ geben, daß uns Frankreich nicht mehr an Menschenmaterial die Stange halten könne, daß Deutschland bei einer Kriegserklärung den etwa 500000 aktiven Franzosen (ohne die Reserven) etwa 700000 aktive Soldaten gegenüberstellen könne und daß Frank¬ reich mangels Menschenmaterials im Effektivbestand die Jagd hinter Deutschland aufgeben müsse. Ebenso steht es in England mit dem Effektivbestand der Flotte, wie Admiral Biresford nach¬ wies. So wird die Frage der Zahl der Geburten zu der wichtigsten, wenn es gilt, die Stärke eines Volkes einzuschätzen und zu be¬ urteilen im Vergleich mit anderen Völkern in bezug auf Kriegs¬ bereitschaft und Bündnisfähigkeit. Es fragt sich, ob dieser Mangel an Zahl im Menschenmaterial nicht durch die bessere Qualität ausgeglichen wird. Gewiß ist es, daß nach dem Satze, wo viel Leben entsteht, auch viel Leben zugrunde geht, bei einer geringen Zahl von Geburten dem einzelnen Kinde auch größere Sorgfalt entgegengebracht werden kann, der Vergleich der Zahl der ge¬ storbenen Säuglinge in wohlhabenden und ärmeren Familien ist dafür ein sprechender Beweis. Ob dadurch allerdings die Qualität

Archiv für Soziale Hygiene. VII. 24

366

Hanssen,

gehoben wird, muß zweifelhaft erscheinen, die Abnahme der Größe

bei den zum Militärdienst eingestellten Rekruten in Frankreich

würde das Gegenteil beweisen. Andererseits wird sicher bei einer

kleineren Zahl von Kindern der einzelne, zumal das einzige Kind

eher verzärtelt werden. Uber diese falsche Erziehung und ihre Fehler in bezug auf Charakter und körperliche und geistige Wider¬ standsfähigkeit gibt am besten das Buch von Neter „das einzige Kind und seine Erziehung“ Auskunft. Ebenso wichtig wie die Zahl der Geburten für einen Staat ist die mehr oder minder hohe Zahl der Kinder für den einzelnen von Bedeutung. Es ist sowohl für die Kinder einer Familie nicht gleich, ob sie sich in Konkurrenz mit zwei oder vier Geschwistern befinden. Die Eltern andererseits haben es leichter, wenn sie nur für zwei als wenn sie für vier oder sechs Kinder zu sorgen haben. Viel eher wird in einer großen Reihe von Kindern sich ein mißgeratenes finden als in einer Familie, in welcher das einzelne Kind in seinem Tun und Treiben genau überwacht werden kann. Andererseits hat man doch auch Beispiele, daß in kinderreichen Familien alle Kinder es zu etwas bringen, während aus bessergestellten Familien, in welchen weder die Erziehung noch die Ausbildung für den Beruf den Eltern irgendwelche Schwierigkeiten machte, keine Kinder hervorgingen, die sich auszeichneten. Für diesen Punkt wäre auch die große Zahl von bedeutenden Männern, die aus kinderreichen Familien hervorgingen heranzuziehen, besonders die bedeutenden Sprößlinge der kinderreichen Pastorenfamilien wären dafür ein sprechendes Beispiel (von hervorragenden Ärzten erinnere ich nur an B i 1 1 r o t h und Bergmann). Zu betrachten wäre noch die Frage, ob eine will¬ kürliche Abnahme der Geburten elektiv im Sinne Darwin’s auf die Entwicklung der Rasse wirkt, das Gegenteil scheint der Fall zu sein, ich erinnere wieder an die Abnahme der Körpergröße in Frank¬ reich. Andererseits scheint die Auswahl doch auf die geistige Ent¬ wicklung eines Volkes von günstigem Einfluß zu sein, denn an¬ scheinend ist die Abnahme der Geburtenzahl doch ein Zeichen der fortschreitenden Kultur, wenn auch in gewisser Weise der Überkultur. So wiegen sich auf beiden Seiten Vorteile und Nachteile auf, so daß es schwer ist, ein Urteil zu fallen, was besser oder was schlechter ist. Für ein Volk als Gesamtheit scheinen allerdings die Nachteile vorzu wiegen, andererseits wird ein Volk, das vielleicht in einem solchen Falle unterliegen würde, gezwungen sein, in der Zukunft alle Kräfte anzuspannen, um die Nachteile einer Niederlage wieder auszuwetzen und alle Kraft an seine Vermehrung zu verwenden.

Die Abnahme d. Geburtenzahlen in d. verschied. Bevölkerungsklassen usw. 367

Eine Erscheinung im Völkerleben wie sie Preußen nach Jena durchmachte.

Daß die öffentliche Meinung sich fortgesetzt mit dem Geburten¬ rückgang beschäftigt, zeigen z. B. die Verhandlungen des deutschen Landwirtschaftsrates am 15. Februar 1912 in Berlin. Professor Dr. Oldenberg hielt hier ein eingehendes Referat über den Rückgang der Geburtenziffern und ihre Beschränkung, er verlangte einen erhöhten Schutz der ländlichen Bevölkerung und eine Gesetz¬ gebung auf allen Gebieten im Interesse der Bevölkerungszunahme. „Die ländliche Fruchtbarkeit garantiert allein unsere nationale Dauer.“ Professor S eh ring stimmte Oldenberg vollkommen bei und betonte auch die Wichtigkeit, die Landbevölkerung zu er¬ halten. „Solange es unserer Landwirtschaft nicht gelingt, die Massen ihrer Bevölkerung auf dem Lande in dem Maße fest¬ zuhalten, daß wenigstens kein Rückgang eintritt, solange ist sie unserer Nation noch großes schuldig. Wir müssen unserem Volke ein rein agrarisches Fundament erhalten.“ Vgl. dazu Olden b erg und die Polemik Oldenberg-Mombert. Oldenberg erblickt in der städtischen Entwicklung die Hauptursache des Geburten^ rückgangs. „Daß aber die ländliche Fruchtbarkeit überhaupt nirgends zurückgehe, ist mir nicht eingefallen zu behaupten.“ Zwischen Stadt und Land sind keine prinzipiellen Unterschiede vorhanden.

Auch im Reichstag wurde diese wichtige Frage in der Sitzung vom 22. März 1912 behandelt, die Abgeordneten Heyn und P aas che waren hier die Berichterstatter. Heyn verglich den Bevölkerungsrückgang mit einem „raschen Selbstmord“.

In einer Sitzung des erweiterten Medizinalausschusses be¬ richteten die Geheimräte Pi stör und Dietrich über diesen Gegenstand (Vierteljahrschrift für gerichtliche Medizin und öffent¬ liches Sanitätswesen).

Pistor hob besonders die willkürliche Beschränkung hervor, Dietrich betonte die Abnahme der ehelichen Fruchtbarkeit (die bei uns besonders in Flensburg deutlich zutage tritt).

Der Umfang des Geburtenrückgangs in anderen Ländern.

Seit einer Reihe von Jahren beschäftigt man sich schon in Frankreich mit dieser Frage, die mehr und mehr eine brennende wird. So schlimm ist es allerdings noch nicht gewesen wie im Jahre 1911, in welchem zuerst die Bevölkerung Frankreichs ab-

24*

368

Hanssen,

genommen hat und zwar nicht so ganz wenig, fast um 0,1 Proz. Die Geburtenzahl hat noch nie einen so tiefen Stand erreicht wie im verflossenen Jahr. Der bekannte französische Nationalist Franc- Nohain spricht sogar im „Echo de Paris“ von dem „sterbenden Frankreich“: „Es ist unmöglich, daß ein normal denkendes Gehirn, die große Gefahr verkennt, die in diesen Zahlen zum Ausdruck kommt. 38 Millionen Franzosen laufen die größte Gefahr, eines Tages die Sklaven von 70 Millionen Germanen zu werden.“ Oder wie der offizielle Bericht sagt, „so verschlechtert sich die Lage Frankreichs inmitten der an Bevölkerung weiter zu¬ nehmenden Staaten unaufhörlich, denn der Überschuß an Geburten beträgt auf 10000 Einwohner in Italien 112, in England 115 und in Deutschland 141“. „Deutschland hat seit 1896 um 13 Millionen zugenommen, Frankreich nur um l3/4 Million.“

Die französischen Politiker stehen vor sehr schwierigen, viel¬ leicht unlösbaren Problemen. Aus diesem Bestreben ist also auch das Bemühen Frankreichs nach der Aufnahme von neuen kräftigen Volksstämmen in den Staat zu suchen. Während unsere Kolonial¬ politik aus dem Gesichtspunkt entstand, dem in der Gründungs¬ periode bestehenden Bevölkerungsüberschuß einen Aderlaß nach unseren Kolonien zu verschaffen, herrscht in Frankreich das Be¬ streben vor, neue, von der Kultur unberührte Völker in den französischen Staat einzuverleiben.

Auch *in England steht es nicht viel besser, hier fängt man an, über die Verminderung der Bemannung für die Flotte zu klagen, die Mittelmeerflotte mußte schon aus diesem Grunde zurückgezogen werden, weil es an Bemannung für die Schiffe fehlte. Es handelt sich um 5000 Köpfe für augenblickliche und noch viel mehr für besondere Zwecke. Nach der Münchener Medizinischen Wochen¬ schrift ist im vereinigten Königreich die jährliche Geburtenziffer von 32,1 Proz. (1881—1885) auf 27,7 Proz. in den Jahren 1901 1905 zurückgegangen , also eine Abnahme von 4,4 Proz. in zwanzig Jahren.

Auch in Ländern, die noch keine so fortgeschrittene Kultur haben wie die Industriestaaten, nimmt die Geburtenzahl ab, ich führe dafür als Beispiel Schweden an. Nach den' amtlichen statistischen Mitteilungen hatte Schweden im Jahre 1911 nur einen Zuwachs von 39000 Personen, die geringste Zahl seit 1905. Eine so niedrige prozentuale Geburtsziffer wie 1911 ist seit Mitte des 18. Jahrhunderts nicht beobachtet worden (vgl. bei uns Hamburg und Frankfurt), auch die Anzahl der geschlossenen Ehen ist die

Die Abnahme d. Geburtenzahlen in d. verschied. Bevölkernngsklassen usw. 369

niedrigste der letzten 5 Jahre. Andererseits hat man allerdings in Schweden noch nie einen so niedrigen Prozentsatz von Todes¬ fällen feststellen können. Dieselbe Erscheinung, die auch bei uns beobachtet wird.

Wenn wir diesen Geburtenrückgang in anderen Ländern wie in England und Frankreich betrachten, so entlocken sie uns viel¬ leicht ein Achselzucken und wir meinen mit Recht, daß Frankreich mit seiner abnehmenden Bevölkerung ein niedergehendes Land ist, das sich selbst langsam, aber sicher aus der Zahl der Großstaaten streicht. Wenn wir dasselbe aber auch in Ländern wie in Schweden beobachten, so sollte uns doch ein solches Verhalten veranlassen, auch bei uns zum Vergleich diesen Verhältnissen Beobachtung zu schenken und zu betrachten, wie weit bei uns sich eine Abnahme der Geburtenzahl bemerklich macht. Diese ist in der Tat schon sehr deutlich in Erscheinung getreten und nimmt auch bei uns noch weiter zu und es lohnt sich wohl einmal statistisch in einem kleineren Bezirk dieser Frage näher zu treten, ich habe für diesen Zweck die Verhältnisse in Schleswig-Holstein einer Unter¬ suchung unterzogen. Schleswig-Holstein zeichnet sich durch sehr genaue Zahlen aus und durch weiter zurückliegende als in anderen Provinzen. Besondere Beachtung schenkte ich den Verhältnissen in den Städten.

Die Zahlen der Geburten in Schleswig-Holstein lassen sich schon in Zeiten verfolgen, aus welchen von anderen Gegenden noch keine Vergleichszahlen vorliegen, weil erstens die Kirchen¬ bücher nicht genau genug geführt sind und wenn dies der Fall ist, zum Vergleich die Zahlen der Einwohner nicht bekannt sind. Dank der genau geführten Listen im Amte Segeberg kann ich schon aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts zuverlässige Zahlen angeben, auch nach meinen aus den Kirchenbüchern der Gemeinde Münsterdorf berechneten Zahlen könnte ich wohl die Geburten¬ zahlen angeben, doch fehlen hier für größere Zeiträume die Zahlen der Einwohner, so daß man Prozentzahlen nicht berechnen kann. Her mb erg gibt für 1709 die Zahl 38,2 Prom. an. In Hamburg und Frankfurt fangen die Zahlen erst etwa von 1820 an zu¬ verlässig zu werden. Meine Zahlen nach Hensler sind folgende (Tabelle 1):

370

Haussen,

Tabelle la.

Lebendgeboren im Kirchspiel Segeberg.

1742

192

1754

181

43

188

55

199

44

181

56

166

45

176

57

170

46

166

58

174

47

170

59

178

48

196

60

207

49

157

61

181

50

. 159

62

197

51

181

63

189

52

168

64

245

53

178

65

201

In 12 Jahren

2112

66

228

In 13 Jahren 2506

Summe 4618 in 25 Jahren. Durchschnitt 184,7 Geburten auf 1000 Lebende = 38,87.

Einwohner: 5010.

Die Zahl schwankte also von etwa 31,3 im Jahre 1749 auf 48,2 Prom. im Jahre 1764. Im Durchschnitt war sie ähnlich in Münsterdorf 1709 nach Hermberg 38,2 auf 1000 der mittleren Bevölkerung.

Tabelle 1 b.

Auf 1000 Einwohner kamen Geburten in Frankfurt.

1811

29,8

1817

27,0

1823

23,5

1837

20,0

1840

20,7

1843

20,7

1846

19,8

1849

18,6

Preußen 1816 20

42,5

Tabelle 1 c.

Verhältnis zm

aller Geborenen

wie 1 zu

Bevölkerung

der Lebend¬ geborenen allein wie 1 zu

Preußen 1844 53

25,47

26,50

Dänemark 1845 54

30,83

32,28

Schleswig-Holstein 1845 54

32,8

auf 1000 Einwohner ohne Totgeborene

Verhältnis der Geburten

30,5

Die ÄDnahme d. Geburtenzahlen in d. verschied. Bevölkerungsklassen usw. 371

Aus älterer Zeit gebe ich noch einige Zahlen aus Frankfurt (Tabelle lb) und Preußen (Tabelle lc). Zu beachten sind besonders die auffallend niedrigen Prozentzahlen von 19,8 und 18,6 Prom. in den Jahren 1846 und 1849 in Frankfurt. Diese niedrigen Zahlen sind zum Vergleich mit der Jetztzeit sehr zu beachten. Bemerkens¬ wert sind in Segeberg noch die geringen Zahlen für die un¬ ehelichen Geburten, meist unter 2 Proz., ebenso wie ich sie in Münsterdorf beobachten konnte. Aus Segeberg sind auch die Zahlen der Eheschließungen bekannt. Sogar die Zahl der aus einer Ehe hervorgegangenen Kinder gibt Hensler an. Danach gaben 1687 bis 1729 10 Ehen 35 Kinder, von da an bis 1766 aber 36.

Zahlen für die ganze Provinz stehen mir erst in den letzten tTahren vor der Mitte des vorigen Jahrhunderts zur Verfügung, sie finden sich bei Oester len angegeben (Tabelle lc). Zum Ver¬ gleich dazu Preußen und Dänemark.

Aus der Provinz gibt Bocken da hl dann von 1867 an Zahlen, dieselben sind folgende:

Tabelle 2.

Jahr

Auf 1000 Einwohner wer

Schleswig Holstein

den gehören

Provinz

Auf 1000 Geborene waren unehelich Schleswig j Holstein Provinz

1867

28.6

33,4

31,4

65,1

121,2

99,7

68

29,3

32,8

31,4

71,4

116,9

96,4

69

28,1

33,1

31,0

68,2

108,9

93,9

70

31.3

33,3

31,7

65,4

110,1

93,0

71

27,4

30,2

29,0

57,8

107;6

88,8

72

30,4

34,4

32,9

65,6

102,0

88,3

73

29,8

34,7

32,7

66,3

108,4

93,0

74

30,1

36,0

33,6

61,9

104,5

89,1

Von 1872 an lassen sich dann auch die Zahlen für die einzelnen Kreise verfolgen, meist sogar für Stadt und Land gesondert. Diese Zahlen finden sich auf der Tafel 10. Zum Vergleich habe ich die Jahre 1883, 1893 und 1910 herangezogen. Es ergibt sich so eine Übersicht über größere Zeiträume, aus welchen man Schlüsse ziehen ' kann, da sie fast ein halbes Jahrhundert umfassen. Für die ganze Provinz betreffen die Zahlen sogar einen Zeitraum von 70 Jahren.

Was die Geburtenzahl in diesen Jahren (1867 1874) anbelangt, so stand die Provinz damals denjenigen der alten Provinzen nach. Die höchste Geburtenzahl lag zwischen 30,3 33,6, dagegen zeigten Preußens alte Provinzen 1844 1853 37,7 Prom. und selbst der dünnstbevölkerte Regierungsbezirk Köslin zeigte in dem weniger günstigen Jahre 1873 mehr als 39 Prom. In Köslin wohnten 2213, in Schleswig-Holstein 3197 Menschen auf der ReichsDMeile. Dort

372

Haussen,

waren von der Einwohnerschaft nicht ganz ein Drittel (1:3.37),

hier fast ein Dritteil (1 : 3,05) Stadtbewohner. Aber das Land zeigte

dort im Jahre 1873 39,5 Prom., hier nnr 31,0 Prom., die Städte

dort 37,5, bei uns 36,2 Prom. Lebendgeborene. In Schleswig-

Holstein hatten die Städte mit weniger als 10 000 Einwohner eine

größere Geburtenzahl als das Land (33,1 : 31,0). Die größeren Städte

mit mehr als 10000 Einwohnern (Altona, Kiel, Flensburg, Schleswig,

Rendsburg) hatten 163477 Einwohner, ihre Fruchtbarkeit war

39,2 Prom. Altona hatte eine sehr hohe Ziffer; niedrige Ziffern

der Geburten aber die Kreise Flensburg, Steinburg, Hadersleben,

Kendsburg, Sonderburg und Tondern. Die Hamburger Zahlen habe

ich von 1820 an in meiner Arbeit (Uber die Säuglingssterblichkeit in früheren Jahrhunderten) verglichen mit der Säuglingssterblich¬ keit und verschiedenen sozialen Faktoren. Von 1872 an sind die Zahlen nach den Berichten des Medizinalinspektorats folgende:

Tabelle 3.

Stadt

Land

1872

37,71

1901

28,86

31,55

73

37,91

02

28,00

29,92

74

39,48

03

26,91

29,17

75

39,56

04

26,87

29,23

76

40,77

05

26,65

28,51

77

40,79

06

26,63

28,37

78

40,02

07

26,03

27,30

79

40,14

08

26,52

26,67

80

39,79

09

25,20

24,66

81

37,85

1910

23,95

24,55

82

38,05

11

22,65

23,66

83

37,17

Stadt

Land

84 36,46

85 35,81

86 34,85

87 34,68

88 35,28

89 36,84

90 36,94

91 36,87

92 35,11

93 36,87

94 35,84

95 34,52

96 34.52

97 32,92

98 32,06

99 30,46

1900 29,19

Die Abnahme d. Geburtenzahlen in d. verschied. Bevölkerungsklassen usw. 373

Zu beachten ist der stetige allmähliche Rückgang, die hohen Zahlen 1876 1879, die Differenz zwischen Stadt und Land mit einem geringen Plus zugunsten des Landes, das aber ebenso wie die Stadt den stetigen langsamen Rückgang sehr auffallend zeigt.

Für die übrigen Nachbarprovinzen kommen die Zahlen von Hannover (Tabelle 5), Pommern (Tabelle 6) und Mecklenburg (Tabelle 4) in Betracht. Sie ergeben im großen und ganzen das¬ selbe Bild wie in Schleswig-Holstein. Siehe die Tafeln. Vergleiche auch Lübeck S. 14. Die Zahlen für ganz Deutschland finden sich bei Tugendreich S. 59.

Tabelle 4.

Zahl der Geburten in Mecklenburg-Schwerin nach Brüning.

(Prom. der Einwohner.)

Bostock

eheliclm unehel.

Schwerin

eheliche unehel.

Wismar

eheliche unehel.

Güstrow

eheliche unehel.

1876-80

81-85

86-90

91-95

96-00

1901—05

26,24

24,04

25,64

25,38

25,59

24,91

3,96

4,12

4,39

4,57

4,38

4,28

28,29

26.41 25,66

21.42 23,07 22,31

3,92

3,52

3,29

2.88

2,98

2,36

28,79

25.72

25,40

25,35

25,91

25,60

4,49

4,26

4,23

3,91

3,63

3,12

26,75

25.80

26,51

26,72

26,19

24,18

4,72

4,59

4.17

3,88

3,74

3,41

Durchschn. j

25,3

4,28

25,03

3,16

26,13

3,94

26,25

4,1

W*

eheliche

iren

unehel.

Malchin

eheliche unehel.

Par<

eheliche

ühim

unehel.

Ludw

eheliche

igslust

unehel.

1876—80

81—85

86-90

91—95

96—00

1901-05

31,65

27,21

28,62

29,20

28,42

27,91

5,44

4,93

5,09

4,60

4,17

3,37

29,94

28,71

28,56

28,30

27,36

26,38

4,43

4,11

3.92

3,95

3,42

3,09

27,68

25,62

27,08

25,41

23,34

22,70

4,06

3,92

3,97

3.76

3;29

3,24

28,74

25,25

26,12

24,88

24,91

24,66

4,86

4,09

3,88

3,93

3,42

3,22

Durchschn.

28,84

4,60

28,21

3,82

25,31

3,71

25,76

3,90

Eil

eheliche

mitz

unehel.

Grevesmühlen

eheliche unehel.

Hag

eheliche

enow

unehel.

1876-80

81—85

86-90

91—95

96—00

1901—05

26,59

25,14

25,26

25,46

27,21

25,99

3,73

3,69

3,44

2,87

3,00

2,58

24,40

24,17

22.90 22,82

23.90 24,03

4,50

4,62

4.58 4,56 4,38

3.59

30,90

27,33

27,81

27,02

25,25

24,55

4,17

3,85

3,93

3,63

3,47

2,99

Durchschn. |

23,94

3,22 | 23,70

4,44

27,14

3,67

374 Hanssen,

Wir haben mit Ausnahme der Aushebungsbezirke Rostock, Grevesmühlen und Ribnitz, in welchen die Unterschiede nicht sehr auffallend sind, bei allen übrigen eine Abnahme der Gesamtgeburten zu verzeichnen, und zwar sind die Unterschiede wie z. B. in Schwerin mit rund 33 Prom. und 25 Prom. ganz eklatante, ebenso in Hagenow 36 28 Prom. Wir beobachten ferner auch in den Aushebungsbezirken Schwerin, Wismar, Güstrow und Malchin eine deutliche, in den übrigen eine weniger deutliche Abnahme der Lebendgeburten.

Die unehelichen Geburten haben in Rostock zugenommen, sonst überall abgenommen, oft sehr beträchtlich in Schwerin, Wismar, Güstrow, Waren usw.

Tabelle 5.

Geburtenziffern in Hannover.

Reg.-Bez.

1901

1902

1903

1904

1905

1906

1907

1908

1909

1910

Hannover

32,73

31,33

29,77

29,67

28,59

28,35

27,98

27,59

26,54

25,42

Stade

33,91

33,67

33,33

37,52

32,62

33.40

32,47

32,86

31,38

30,64

Lüneburg

30,75

29,98

29,15

29,59

28,67

28,70

28,53

28,55

27,77

27,73

Hildesheim

32,52

31,59

30,63

30,73

29,34

29,53

28.35

28,51

27,61

26,59

Osnabrück

34,15

34,58

33,43

33,05

33,09

33,20

34,09

32,73

33,58

32,81

Aurich

32,07

32,34

31,13

31,26

30,98

31,34

31,57

31,66

31,05

30,10

Auch in Hannover zeigt sich dasselbe Bild.

Tabelle 6.

Geburtenziffern in Pommern nach P ei per.

Stadt Land

Kreis

1881-85

1901—05

1881—85

1901—05

Stettin

33,8

33,3

36,8

36,5

Anklam

33,8

32,9

34,6

33,7

Usedom

36,4

29,8

40,0

33,7

Uckermünde

36,9

33,0

43,2

41,7

Randow

43,7

34.9

46,7

42,0

Stettin

38,6

34,2

Greifenhagen

38,2

29,1

39,6

35,1

Pyritz

35,0

30,5

38,3

37,4

Saatzig

37,4

28,5

38,7

31,1

Naugard

36,3

32,2

36,9

31,3

Kammin

33,9.

29,3

38,4

34,3

Greifenberg

33,7

35,5

36,4

34,9

Regenwalde

37,7

33,0

38,8

35,3

Schiebelbein

37,5

31,9

37,1

33,9

Dramburg

37,0

33,5

38,1

32,4

Neu Stettin

36,6

34.8

42,9

37,1

Die Abnahme d. Geburtenzahlen in d. verschied. Bevölkerungsklassen usw. 375

Stadt Land

Kreis

1881—85

1901—05

1881—85

1901—05

Belgrad

36,0

34,7

40,8

38,0

Kolberg

35,2

32,6

40,2

38,0

Köslin

34,2

30,4

38,5

34,9

Bublitz

42,7

35,4

44,3

37,8

Schlawe

36,7

33,4

37,1

36,5

Rnmmelsburg

89,4

32,8

43,3

38,4

Stolp

37,9

35,1

38,2

35,9

Lauenburg

34,1

37,7

41,1

40,1

Bütow

38,8

34,1

42,6

41,5

Rügen

28,3

31,2

33,8

35,1

Stralsund

28,1

26,4

Franzberg

31,8

30,5

37,2

36,3

Greifswald

34,1

35,0

37,0

31,0

Grimmen

36,3

40,8

38,5

37,7

Also nach Peiper ein Rückgang der Geburtenziffer in allen 3 Regierungsbezirken Pommerns, besonders auf dem Lande trotz Zunahme der Eheschließungen.

„Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß wir in Pommern nicht mehr und mehr zu dem Zweikindersystem hinsteuern, sondern daß wir schon mitten darin sind.“

Tabelle 7.

Geburtenzahlen Hamburgs auf 1000 Einwohner einschließlich

Totgeborene.

1820

29,83

1830

31,73

1840

32,54

1850

28,35

1860

30,66

1872

37,71

1877

40,77

1880

39,79

1890

36,94

1893

36,87

1901

29,08

1902

28,16

1903

27,10

1904

27,06

1905

26,80

1906

26,77

1907

26,13

1908

26,54

1909

25,16

1910

24,00

1911

22,73

auf 1000 Einwohner Lebendgeborene

einschließlich

Totgeborene

A

376

Haussen,

In Hamburg kann man auch dank der genauen Listenführung die Zahl der Geburten in den einzelnen Bezirken schon von 1870 an verfolgen, für die Jahre 1893 1900 hatte die höchste Zahl der Geburten der Bezirk Billwärder-Ausschlag, also ein reiner Arbeiter¬ bezirk = 46,4 Prom. Vergleicht man in Hamburg die verschiedenen Bezirke ihrer Wohlhabenheit nach, so kann man deutlich nach- weisen, daß schon vor zehn Jahren die Geburtenzahlen in den reicheren Bezirken sehr niedrige waren, in Harvestehude z. B. 1900 nur 17,7 Prom. Im Durchschnitt am niedrigsten war aber die Zahl der Geburten im Bezirk Rotherbaum, dem zweithöchst- besteuerten in Hamburg. Abgenommen hatten aber die Geburten auch in den Arbeitervierteln, beispielsweise in dem Distrikt Bill¬ wärder-Ausschlag von 51,2 Prom. auf 39,9 Prom. (1893 1900). In Winterhude hatte die Zahl sogar 1893 53,2 Prom. betragen (die höchste Zahl in Hamburg). In Hamm und Horn waren die ent¬ sprechenden Zahlen im Durchschnitt 1893 1900 38,5 und 37,6 Prom. gewesen. In der Uhlenhorst waren die Geburten noch 1893 50,1 Prom. hoch gewesen, 1900 betrugen sie nur noch 37,2 Prom. Also in manchen Stadtteilen, auch denen mit Arbeiterbevölkerung, ein sehr erheblicher Abfall in verhältnismäßig kurzer Zeit.

Lübeck.

Eheschließungen

Geburten

Eheschließungen auf 1000 Einw.

Geburten auf 1000 Einw.

1911

744

2177

7,50

21,95

1910

696

2394

7,10

24,43

1909

799

2559

8.3

25,96

Tabelle 8.

Die Vergleichszahlen der Geburten zwischen Schleswig-Holstein und den Nachbarländern sind also folgende:

1872

Schleswig-Holstein 34,0 Städte Land

Altona 1904 =

Kiel 1904 = Flensburg

Segeberg 1742 1753

1883 1893 1910 1867 1874 32,0 34,5 27,96 28,6 30,1

33,2 36,1

31,1 33,6

28,53 22,88 32,89 25,17 22,9

38,87 Münsterdorf 1707 = 38,2

Mecklenburg 1881 85 1891 96

Rostock ebel. 24,04 unebel. 4,12 25,38—4,57

1901 1910

1880 1909

34,5 28,82

1908

29,87

32,73 25,42 33,91 30,04 30,75 27,73

Hannover

Stade

Lüneburg

Die Abnahme d. Geburtenzahlen in d. verschied. Bevölkerungsklassen usw. 377

Pommern

1881—85 1901—05

Stettin Stadt

33,8

33,3

Stettin Land

36,8

36,5

Stettin

38,6

34,2

1901 1910

Preußen

36,52 30,83

mit Totgeb.

mit Totgeb.

1872

1893 1910

Hamburg

37,71

36,87 24,00

Stadt

22,65

Land

23,66

Deutschland

Lebendgeb.

Prom. der Einwohner

1876—80

39,2

1881—85

37,0

1886-90

36,5

1891—95

36,3

1896-00

36,0

1901—05

34,3

Lübeck

Lebendgeb,

1911

21,95

Was die Zahl der Geburten in Preußen betrifft, so hat sie auch hier seit 1901 meist eine Abnahme erfahren, nur die Jahre 1904 und 1906 machten davon eine Ausnahme. 1901 wurden 36,5, 1903 34,7 gezählt ; 1904 waren es wieder 35,0; 1906 34,0 Proz., dagegen 1905 nur 33,8 Proz., 1907 zeigte nur mehr 33,2 Proz., 1908 weiter abnehmend 33,0, 1909 32,0 und 1910 nur noch 30,8 Proz. Geburten auf 1000 Einwohner.

In Schleswig-Holstein lassen sich die Zahlen schon von 1872 (Tabelle 9 und 10) an sehr genau verfolgen und zwar, was sehr wichtig ist, für Stadt und Land gesondert. Ich habe für die Jahre 1872, 1883, 1893 und 1910 die betreffenden Zahlen aus¬ gerechnet.

Sehr hohe Geburtenzahlen hatten 1872 Wandsbek mit 51,5 Prom., ähnlich Gaarden, Liitjenburg und Preetz, sehr niedrige Krempe, Augustenburg und besonders Christiansfeld (bemerkenswert durch seine Herrnhuter Kolonie). Auch Blankenese wies niedrige Zahlen auf. 1883 zeigten dagegen die Städte des Kreises Hadersleben niedrige Zahlen, auch Augustenburg, Norburg und Sonderburg hatten niedrige Zahlen aufgewiesen. Ebenso Nortorf und Rends¬ burg. Hohe Geburtszahlen auf dem Lande hatten die Kreise Süder- Dithmarschen , Plön und Kiel-Land, ebenso Stormarn. Niedrige Zahlen hatte neben den Städten auch das Land im Kreise Sonder¬ burg, etwas günstigere Apenrade und Steinburg. 1893 war be-

378

Hanssen,

Tabelle 9.

Geburtenzahlen der

Auf 100 Gehurten

Auf 1000 Einwohner

Jahr

Provinz

unehelich

lebendgeboren

Staat

Stadt

i

Land ! Summe

1

Stadt

Land

Sa.

Stadt

Land

Sa.

1880

13 485

23 059

36 544

34,5

1883

13 701

22 759

36 460

11,5

8,0

9,3

33,2

31,1

32,0

36,9

1884

13 998

23 364

36 362

11,5

8,6

9,7

33,4

32,1

32,6

37,4

1885

14 199

23 087

37 286

11,1

8,2

9,3

33,5

31,8

32,4

37,4

1892

17 352

23 622

40 974

10,8

8,0

9,2

36,1

32,0

33,6

37,0

1893

17 369

23 926

41 195

10,6

8,1

9,2

36,1

33,6

34,6

38,6

1894

17 512

23 453

40 965

11,2

8,4

9,2

36,4

33,2

34,3

1898

44 225

33,3

33.3

33,3

38,6

1899

32,7

32,4

32,5

38,3

1908

21058

26 878

47 936

»Alle K

reise in

meinem

29,87

32,93

1909

20 490

26 390

46 880

IBuche über die Saug- / lingssterblichkeit in

28,82

31,92

1910

44 832

} Schleswig-Holstein.

27,92

30,2

Geburtenziffern auf 1000 am 1. I. Lebende.

1902

31,96

1906

30,14

1903

31,10

1907

29,74

1904

31,75

1908

29,93

1905

30,26

1909

28,87

1876

34,9

sonders die Zahl der Geburten in den Städten Kiel und Neumünster gestiegen, eine Folge des wirtschaftlichen Aufschwunges in Kiel durch die Entwicklung der Marine. Diese Steigerung hatte sich auch auf den Kreis Neumünster erstreckt, besonders auf den länd¬ lichen Teil desselben (Gaarden!). Hoch waren die Geburtenzahlen auch im Kreise Süder-Dithmarschen auf dem Lande. Besonders niedrig waren sie dagegen auf dem Lande im Kreise Sonderburg und Eiderstedt sowie im Kreise Hadersleben. Das Jahr 1910 zeigte dagegen eine sehr erhebliche Abnahme der Geburten in allen Städten, im Kreise Flensburg-Land betrug die Zahl der Geburten sogar nur mehr 8,2 Prom., in Lauenburg 18,1 Prom., in Tondern und Plön sowie in Norder-Dithmarschen nur wenig über 20 Prom. Durchgehend machte sich in den Städten eine starke Abnahme bemerklich. Aber im Vergleich der Jahre 1872 und 1910 haben die Geburten auch auf dem Lande in Schleswig-Holstein ab¬ genommen. Sehr erheblich sogar im Kreise Pinneberg und Stormarn, hier ist allerdings das Ausscheiden von Wandsbek zu beachten. Zugenommen haben dagegen die Geburten in den Kreisen Tondern,

Die Abnahme d. Geburtenzahlen in d. verschied. Bevölkerungsklassen usw. 379

Tabelle 10.

Lebende Geburten auf 1000 Einwohner.

Stadt

Land

1872 1883

Altona

Ottensen

Apenrade

Eckernförde

Garding

Tönning

Flensburg

Glücksburg (Fl.

Christiansfeld

Hadersleben

Bredstedt

Husum

Kiel

Neumünster

Heide

We>selburen

Burg

Heiligenhafen

Neustadt

Oldenburg

Barmstedt

Elmshorn

Klostersande

Pinneberg

Ütersen

Yorm Stegen

Wedel

Blankenese

Lütjenburg

Plön

Preetz

Dorf Gaarden Nortorf Rendsburg Arnis

Friedrichstadt

Kappeln

Schleswig

Bramstedt

Segeberg

Augustenburg

Nor bürg

Sonderburg

Glückstadt

Itzehoe

Kellinghusen

Krempe

Wilster

Horst

Oldesloe

Reinfeld

Wandsbek

Meldorf

Hoyer

Lygumkloster

Tondern

Wyk

Lauenburg

Städte

Provinz

Land

39,2 \ )

Land)

33,2

26,6

31.1

36.8 31,0

27.9

34.6

10.2

29.1 32,3

32.2

38.5

36.3 3H,5 40,0

30.7

39.4

34.1

33.9

32.2

29.6

36.1

28.7

30.7

36.4

39.6

24.3

40.9 29,0 40,0

46.3

29.7

25.7

28.9

30.1

30.5

26.9

36.7

31.1

15.6

29.7

25.3

28.3 30‘9

29.3

22.5

28.5

36.4

26.4

24.6

51.5

27.8

26.5

26.8 27,0 31,0

34,0

37,1

26,8 29,9

)30.1

)33,3

U

/

26,6

1 30,0 36,8

36.6

}31,9

129.6

31,8

|32,t

36,6 + N. }27,6

I

/

^ 23,5 )28,0

i

I

23,8

|28,6

^38,0

)

[30,1

)

30,9

33,2

32,0

31,1

1893

1910

1883

1893

1910

37,2

22,88

30,2

28,9

27,8

29,7

32,9

33,4

39,8

32,7

33,0

16,91

29,7

20,5

30,2

27,8

26,5

33,7

30,6

22,9

8,21

}29,3

31,3

26,2

24,4

22,6

30,7

27,6

32,2

35,5

28,4

28,8

30,8

28,9

44,9

25,17

_

47,8+ 28,9

34,0

35,9

K. L. 29,8

35,1

20,8

33,2

35,0

33,8

30,1

26,4

33,3

34,3

31,3

36,6

26,3

31,7

35,6

27,4

33,3

20,8

34,4

35,0

28,9

35,9+

32,0

24.9

32,5

35,9

30,0

27,1

22,8

29,5

30,2

30,8

26,0

26,7

30,0

33,8

30,6

27,2

23,7

25,6

26,9

31,1

35,3

24,7

27,9

36,3

31,8

_

_

'35,4

)26,4

cp

39,8

)29,9

1

27,6

32,9

\

29,1

32,9

40,2

32,4

29,5

20,8

29,5

32,2

32,8

)

26,9

18,1

26,9

32,2

26,6

36,1

34,5

27,96

34,5

33,6

31,1

33,6

380 Hanssen,

Steinburg, Sonderburg, Segeberg, Schleswig, Norder-Dithmarschen, Hadersleben und Husum. Man kann also sagen, daß das Land bis jetzt noch weniger an der Abnahme der Geburten beteiligt ist als die Städte, ob es allerdings auf die Dauer den erheblichen Ausfall der Städte wettmachen kann , erscheint zweifelhaft. Immerhin kann bis heute noch das Land als die Quelle des Lebens angesehen werden. Das Land liefert die meisten Geburten, die meisten Soldaten, die kräftigsten Menschen, auch fallen in ihm die wenigsten Säuglinge einem vorzeitigen Tode zum Opfer. Mit der Vermehrung der städtischen Bevölkerung, mit der Landflucht und dem Strömen der Landbewohner nach den großen Städten wird mit der Zeit dieser Quell versiegen. Dieser Landflucht durch Schaffung günstiger Arbeitsgelegenheit und Herstellung guter Wohnungen besonders bei den Landarbeitern entgegen zu wirken, muß die Hauptaufgabe der ländlichen Besitzer sein. Die Zer¬ streuungen, welche die Stadt bietet, zu schaffen, die den Haupt¬ anziehungspunkt der Städte darstellen, wird allerdings wohl schwer halten. Immerhin kann auf dem Lande durch Halten von Vor¬ trägen seitens der gemeinnützigen Vereine, durch Errichtung von Volksbibliotheken, Abhaltung von Lichtbilderabenden einige Zer¬ streuung geschaffen werden.

Eine eingehendere Behandlung erheischt die Abnahme der Geburten in den größeren Städten. Ich bin hier in der Lage, diesen für den Staat und sein Bestehen wichtigen Faktor mit der allgemeinen Lage, den Steuern, Sparkasseneinlagen, Zwangsver¬ steigerungen, unehelichen Geburten und anderen Gradmessern der allgemeinen Geschäftslage in Vergleich zu bringen. Vergleiche hierzu die Zahlen des statistischen Amts der Stadt München über die Geburtenzahlen in deutschen Groß- und Mittelstädten. Hier ließe sich die Beamtenstadt Potsdam (1907) mit 18,5 Proz. mit Schleswig vergleichen.

Danach ergibt sich für die Gesamtheit der Städte 1893 1907 ein Rückgang der Geburtenziffer um 5,2 Prom.

1907 stand am höchsten Königshütte mit 48,9 Prom., Borbek hatte 48,4. Am niedrigsten die Stadt Potsdam 18,5, ebenso Char¬ lottenburg 21,5; Schöneberg 21,9; Berlin mit 24,3 Prom. Fast überall fand sich ein Rückgang. Über 10 Prom. Rückgang fand sich in Altona und Hamburg usw.

(1891 1906 in Hamburg von 36,6 auf 25,2 Prom.)

Nur in wenigen Städten war die Geburtenziffer gestiegen, so in Frankfurt 1906 von 28,3 auf 28,7 Prom.

Die Abnahme d. Geburtenzahlen in d. verschied. Bevölkerungsklassen usw. 381

Über die Verhältnisse in ganz Deutschland (1902) gibt eine Karte bei Tugend reich eine übersichtliche Darstellung. Die Verhältnisse in Bayern sind in verschiedenen Nummern der M. M. W. geschildert. In Württemberg sind seit 1830 nicht so wenig Ge¬ burten vorgekommen wie 1911 (29,25 Prom.). 1898 1902 war die höchste Geburtenziffer in Deutschland im Landkreis Beuthen ge¬ wesen = 58,7 Prom., eine sehr hohe Prozentzahl.

Lebendgeburten Altonas und der größeren Städte.

1903

1909

davon

Ehe¬

davon

Ehe¬

uneheliche

schließungen

uneheliche

schließungen

Altona

4666

586

1774

4252

635

1777

Kiel

4536

634

1187

5503

885

1380

Flensburg

1619

96

409

1482

128

436

Wandsbek

949

107

278

978

106

314

Neumünster

1124

112

244

946

91

266

Provinzialsteuer.

Wie sich aus der nachfolgenden Übersicht, aus der auch die Verteilung auf die einzelnen Kreise ersichtlich ist, ergibt, stellt sich die Provinzialsteuer auf insgesamt 3 280 788 M.

Wir hatten schon gesehen, daß in Kiel in den Jahren der Entwicklung Kiels zur Großstadt die Zahlen der Geburten einen starken Ruck nach oben gemacht hatten, ähnlich wie in Hamburg 1876—1879. Umgekehrt bemerken wir in den letzten Jahren, in welchen sich in Kiel ein Stillstand des geschäftlichen Lebens und teilweise sogar ein Rückschritt bemerklich macht, nicht nur eine prozentuale Abnahme der Geburten, sondern sogar eine absolute. Dieselbe Erscheinung können wir in allen größeren Städten der Provinz bemerken, wie sich aus der Liste ergibt. Daneben tritt ein Zunehmen der unehelichen Geburten unliebsam in die Er¬ scheinung. In Kiel läßt sich eine Abnahme des Wohlstandes deut¬ lich erkennen aus dem Rückgang der Sparkasseneinlagen (in Altona läßt sich allerdings das Gegenteil nachweisen). Hier sind auch die Zahlen der niedrig besteuerten gefallen, während entsprechend viele Zensiten von den niedrigen in die höheren Stufen eingerückt sind (vgl. Mombert). Die Steuerkraft der Provinz und ihrer ver¬ schiedenen Kreise ergibt sich aus der Liste in Tafel 11. Am meisten Steuern bezahlen Altona, Kiel (Tabelle 11) und der Kreis Pinneberg. Die Einwohnerzahlen zum Vergleich finden sich in

Archiv für Soziale Hygiene. VII. 25

382 Haussen,

Tabelle 11.

Es zahlten

Staatssteuern

Kreis

M.

Stadtkreis Altona

2 934 337

Apenrade

236 446

Bordesholm

322 039

Eckernförde

449 957

Eiderstedt

320 796

Stadtkreis Flensburg

754 616

Landkreis Flensburg

337 221

Hadersleben

535 518

Husum

424 843

Stadtkreis Kiel

2 803 192

Stadtkreis Neumünster

364 189

Norder-Dithmarschen

479 169

Oldenburg

563 318

Pinneberg

1 402 588

Plön

523 704

Rendsburg

465 447

Schleswig

580 259

Segeberg

348 880

Sonderburg

379 088

Steinburg

890 745

Stormarn

702 449

Süder-Dithmarschen

510 960

Tondern

548 471

Stadtkreis Wandsbek

389 064

Summa 17 267 306

der Liste bei den Eheschließungen (Tafel 18). In Altona konnte

ich ebenso wie in Kiel die Zahlen der Geburten in den einzelnen

Bezirken nach den Übersichten der statistischen Ämter ebenso die Zahlen der unehelichen Geburten in diesen Bezirken und die Schwankungen dieser Zahlen untersuchen. Die Zahlen der Ge¬ burten haben, wie schon gesagt, in Altona sehr erheblich ab¬ genommen trotz der wachsenden Bevölkerung. Die Eheschließungen (Tabelle 13) haben absolut zugenommen, relativ aber abgenommen. Die Zahlen der unehelichen Geburten haben prozentual sehr er¬ heblich zugenommen (Tafel 13). Die Kriminalität hat zugenommen, die Leihhausdarlehen haben abgenommen, die Zwangsversteigerungen sehr erheblich zugenommen. Die Zahl der in einem Bezirk wohnenden Arbeiter berechnete ich aus der Zahl der in dem Bezirk abgegebenen sozialistischen Stimmen (Tabelle 14). Ich fand so in den Bezirken, in denen die meisten sozialistischen Stimmen abgegeben wurden, meist die höchsten Geburtenzahlen für das Jahr 1911. Verglich

Die Abnahme d. Geburtenzahlen in d. verschied. Bevölkerungsklassen usw. 383

ich aber die Jahre 1890 und 1891 damit, so konnte ich auch in diesen Bezirken ebenso wie in den wohlhabenden eine sehr er¬ hebliche Abnahme der Geburtenzahlen nachweisen (vgl. Funke in Bremen). Ebenso in Hamburg. Der Bezirk XI, welcher die meisten sozialistischen Stimmen abgegeben hatte, zählte 1890 noch 39,0 Geburten auf 1000 Einwohner, 1911 nur mehr 28,4 Prom.

Tabelle 12.

Altona. Zahl der Geburten nach Stadtteilen.

1911

1909

1910

Auf 10(

1911

) Gebürter unehelich

1909

waren

1910

Bezirk

Süderteil <|

102

104

114

24,51

13,46

13,16

I

60

89

74

15,00

17,98

16,22

II

l

164

170

194

17,68

17,65

15,98

III

Süd- West-Teil

51

62

40

58

47

46

11,76

12,90

5,00 | 12,07

8.51

6.52

IV

V

l

90

121

112

25,56

28.92

25.89

VI

{

86

120

90

17,44

20.00

27,78 .

VII

Osterteil •!

80

59

121

60

98

78

12,50

27,12

25.62

30,00

29,59

16,67

VIII

IX

1

88

78

79

26,14

25,64

29,11

X

(

291

274

279

20,62

15,69

24,01

XI

183

167

155

26,32

23,35

20,00

XII

Norderteil {

355

402

384

17,18

17,16

13,36

XIII

171

171

186

15,79

16,37

18,82

XIV

. 1

68

81

87

27,72

7,41 |

5,75 ||

XX

/

101

112

114

15,45

27,68

21,05

XV

110

143

156

15,00

15,38

14,74

XVI

Nord-West-Teil

120

157

125

20,42

10,19

8,00

XVII

240

253

264

13,29

16,21

15,15

XVIII

158

193

177

4,411

13,99

13,56

XIX

121

146

147

9,92

13.01

7; 48

XXI

122

143

134

15,57

13,99

14,93

XXII

Ottensen

245

309

271

7,85 I

9,06

7,01

XXIII

112

99

106

10,71

11,11

12,26

XXIV

252

255

259

11,90

10,98

11,97

XXV

288

245

258

6,251

7,35 |

9,43 |

XXVI

Bahrenfeld

144

211

170

2,781

7,11 |

6,47 |

Bahrenfeld

Othmarschen

28

29

23

3,571

6,90 |

- 1

Othmarschen

Oevelgönne

13

7

19

10,53

Oevelgönne

Summa

3987

4404

4328

15,83

15,37

15,18

Dieser Bezirk XI hatte allerdings 1911 noch die meisten Ge¬ burten hervorgebracht. Ebenso war in ihm die Zahl der Geburten die zweitgrößte nach der Zahl der Stimmberechtigten (diese Zahl gibt einen Anhalt für die Zahl der heiratsfähigen Männer). Niedrige

Geburtenzahlen hatten dagegen in den Vergleichsjahren die Be-

25*

884

Hanssen,

Tabelle 18.

Altona

Ehe¬

schließungen

überhaupt

Auf 1000

mittlere

Bevölkerung

ö i

Lebend¬

geburten

überhaupt

Geburten

auf 1000

mittlere

Bevölkerung

Es waren

von 100

G eburten

unehelich

Säuglings¬

sterblichkeit

eheliche unehel.

1904

1861

11,26

4717

28,53

13,19

15,93

35,19

1905

1859

11,11

4171

27,30

14,20

16,32

28,24

1906

2022

11,88

4657

27,37

14,28

16,39

32,36

1907

1942

11,28

4360

26,38

14,89

14,84

27,75

1908

1894

10 98

4542

27,19

15,65

16,16

26,80

1909

1776

10.35

4254

25,66

15,37

13,91

26,71

1910

1825

10,59

4168

25,12

15,18

13,20

31,43

1911

1914

10,98

3840

22,88

15,83

18,10

29,73

Durchschnitt

1902—11

11,03

26,07

14,44

15,36

30,34

Ver¬

haftungen

Straf¬

mandate

Spar¬

einlagen

Leihhaus-

Darlehn

Zwangs¬

versteige¬

rungen

Armen¬ anstalt- Ver- pflegungs- tage

1907

9 955

19 285

8 306 672

129 269

25

256 206

1908

10 989

14 589

8 120844

138 774

41

249 979

1909

10 687

18 736

9 187 311

134 586

46

261 203

1910

10 805

21563

10 722 713

112 933

49

261 493

1911

11817

22 071

13 153 596

107 955

94

241 032

i

Zahl der Zensiten zur Gemeindeeinkommensteuer der Einkommen von :

660-

-900

M.

900-

1050 M.

1500-

-1800 M.

1200-

-1500 M.

1909

12 260

510

9 681

258

3900

+

376

8 829

+

192

1910

13 193

+

933

10 020

+ 339

4295

+

395

9 256

+

427

1911

11 024

2169

8 720

1240

5698

+ :

1403

11009

+ :

1753

Von

100

Zensiten entfielen

auf

die

Stufe

1909

218

172

68

157

1910

243

185

79

170

1911

195

155

101

195

zirke Othmarschen und Oevelgönne, Bezirke mit meistens wohl¬ habender Bevölkerung, wie auch aus der geringen Zahl der sozia¬ listischen Stimmen hervorgeht. Ebenso waren in diesen Bezirken die Zahlen der unehelichen Geburten sehr niedrige, in dem Bezirk Oevelgönne (Tafel 12) fehlten sie sogar in den beiden Jahren, in Othmarschen in einem. Auch im Bezirk IV waren die sozialistischen Stimmen niedrig ausgefallen, ebenso die Zahlen der Geburten in den Jahren des Vergleichs absolut niedrig und prozentual 1911

Die Abnahme d. Geburtenzahlen in d. verschied. Bevölkernngsklassen usw. 385

noch stark gefallen von 21,1 auf 15,3 Proz. Erhebliche Abnahmen fanden sich aber auch in Bezirken, die der Zahl der sozialistischen Stimmen nach zu den hauptsächlich von Arbeitern bewohnten ge¬ zählt werden müssen. Danach wäre es mit Einschränkung richtig, wenn Wolff die These aufstellt, daß die Geburtenabnahme mit der Ausbreitung der Sozialdemokratie Schritt halte.

Man kann also in Altona sagen, daß alle Kreise der Be¬ völkerung an der Abnahme der Geburten beteiligt sind, die Arbeiter¬ kreise allerdings weniger als die wohlhabenden, aber doch auch nicht unerheblich. Zahlen wie 15,3, 13,3 und 13,9 Prom. müssen als so niedrige bezeichnet werden, daß man die ernstesten Be¬ denken für die weitere Entwicklung unseres Volkes hegen muß. Um so mehr, als sich in Altona dieser Übelstand auch bei den Arbeitern bemerklich macht und ebenfalls aus dem Grunde, daß hier steigender Wohlstand zu einer Abnahme der Geburtenzahlen geführt hat. Erwähnen möchte ich noch die hohen Geburtszahlen im Jahre 1890 von 52,1 im Bezirk XXV.

Ich gehe jetzt näher auf die Kieler Verhältnisse ein. Auch hier ergibt sich dasselbe Bild mit Ausnahme des wachsenden Wohl¬ standes der Bevölkerung.

In Kiel konnte ich auch die Nahrungsmittelpreise (Tabelle 15) zum Vergleich heranziehen und fand hier nur beim Ochsenfleisch eine erhebliche Steigerung der Preise, alle anderen wichtigen Nahrungsmittel hatten, die letzten Jahre allein betrachtet, im Preise abgenommen. Nur Roggenmehl war etwas im Preise gestiegen. Die Zahl der Arbeitssuchenden hatte sich vermindert, bei den Obdachslosen hatte sich sogar eine sehr starke Verminderung be¬ merklich gemacht. Die Eheschließungen haben prozentual ab¬ genommen, absolut aber zugenommen. Die Geburtenzahlen sind ebenso seit 1907 stark gefallen, prozentual von 32,9 im Jahre 1904 auf 25,2 im Jahre 1911. Dabei waren die Zahlen der unehelichen Geburten gestiegen.

Was die Zahl der Geburten betrifft, so konnte ich auch hier dadurch einen gewissen Anhaltspunkt in ihrer Verteilung auf ver¬ schiedene Klassen gewinnen, weil in Kiel eine ziemlich scharfe Trennung der wohlhabenden und arbeitenden Bevölkerung besteht, indem in Gaarden meist Arbeiter wohnhaft sind und zum Ver¬ gleich in den Bezirken VI und VII meist wohlhabende Bewohner sich angesiedelt haben. Eine Zunahme der unehelichen Geburten war besonders im Bezirk XI zu bemerken, eine Abnahme im Bezirk VI (in ihm liegt die Frauenklinik). Die ehelichen Geburten

386

Hanssen,

t

Tabelle

Altona 1911. Geburten nach Stadtbezirken

Bezirk

Sozialistische Stimmen in Proz. der Stimmen

Von 100 Geborenen waren unehelich

1890—91 1911

I

74,3

76,9

102

6,2

II

70,0

85,4

60

10,3

III

79,9

82,4

69,2

164

9,2

IV

26,4

36,1

51

2,7

V

24.4

66,8

62

4,2

VI

55,0

76,9

90

6,5

VII

82,0

82,3

86

9,7

VIII

68,9

63,1

80

7,9

IX

72,4

68,7

59

9,9

X

89,4

80,9

88

15,8

XI

77,7

78,6

90,9

87,3

90,7

291

9,9

XII

77,9

74,3

43,6

133

8,9

XIII

63,4

70,0

64,6

73,2

49,5

44,0

355

8,4

XIV

44.2

17,5

171

8,7

XV

80,5

68;2

36,4

101

11,1

XVI

83,9

85,9

110

5,6

XVII

82,2

82,7

78,5

120

5.3

XVIII

63,2

48,4

24,7

40,7

240

10,5

XIX

74,4

73,0

83,4

85.8

158

7,9

XX

59,9

62,7

54,0

63,3

68

8.9

XXI

38,5

56,8

24,9

121

3,3 ||

XXII

62,1

66,0

122

7,0

XXIII

40,3

45,7

77,3

55,7

245

5,1

XXIV

65,9

77,9

112

9,6

Unterbezirk

1

2

3

4

5

6

XXV

86,5

75,8

84,4

252

6,3

XXVI

64,1

67,6

74,3

59,0

288

9,4

Bahrenfeld

39,0

76,7

52,1

5,9

144

5,0

Othmarschen

33,5

28

Oeyelgönne

13,2

13

Zusammen

59,3

24,51 \

15,00 /

17,68 1 11,76 (

12,90 |

25,56 J

17.44 )

12,50 (

27,12 (

26, U )

20,62 )

26,32 |

17,18 (

15,79 )

24,72

15.45 15,00 20,42 13,29

4,411 Zu Norderteil 9,92 |

Süderteil

Südwestteil

Osterteil

Norderteil und XX

Nordwestteil

15,57 7,351 1 10,71

Ottensen

Unterbezirk

^6 25l} Ottensen

2,781 Bahrenfeld 3.571 Othmarschen Oeyelgönne

15,83

haben nur im Bezirk VI und VIII zugenommen, sonst überall ab¬ genommen.

Nur kurz gehe ich auf die Flensburger Zahlen (Tabelle 16) ein, die im großen und ganzen dasselbe Bild bieten, auch hier eine erhebliche Abnahme der Geburten, dabei eine Zunahme des Prozent¬ satzes der unehelichen, eine Abnahme bei den ehelichen Geburten, also ein höchst unerfreuliches Bild.

Die Abnahme d. Geburtenzahlen in d. verschied. Bevölkerungsklassen usw. 387

14

und sozialdemokratische Stimmen 1912.

*

Wahlberechtigte am 12. Januar 1912

1

Wahl¬

berechtigte

Summe

Geburten auf i

1000 Wahl¬

berechtigte

1912

Einwohner¬

zahlen

1911

Auf 1000

Einwohner

geboren

1911

Auf 1000

Einwohner

geboren

1890—91

537

493

1

1030

9,9

4 012

25,4

40,4

463

404

867

7,0

3 052

19,7

39,6

580

486

447

1513

18,5

5 858

23,9

38,7

401

407

808

6,3

3 387

15,3 1

21,1 I

364

410

774

8,0

3131

20,1

30,1

485

464

949

9,5

4 082

22,5

31,2

458

431

889

9,7

3 039

28,8

40,4

470

544

1014

7,9

3 941

20,6

33,3

452

211

663

9,0

2 749

21,8

38,5

450

369

819

10,7

3 015

29,2

36,8

795

646

486

406

399

2732

16,5

9 937

28,4

39,0

595

596

539

1730

7,7

6 805

19,6

40,3

645

563

726

641

691

648

3914

9.0

15 666

23,3

38,7

606

420

1026

1616

6 958

26,1

29,2

792

500

478

1770

6,5

3 628

27,8

44,2

347

600

947

11,6

4 817

22,8

41,3

432

329

400

1161

10,3

8 846

13,7 I

29,6 1

463

640

568

621

2292

14,7

9 352

25,6

40,9

570

742

766

375

2453

6,4

11 235 x)

14,1 16,5

25,1 I

572

630

573

428

2203

3,11

3 774 2)

18,0 19,1

30,2

613

838

394

1845

6,6

7 351

16,0 1

38,1

497

687

1184

10.3

4 673

26,1

43,9

804

774

700

745

3023

8,0

11 809

20,1

44,4

413

604

1017

11,0

3 978

28,2

45,2

1

2

3

4

5‘

6

333

782

668

1

1783

14,1

7 813

32,1

52,1

840

736

561

392

2529

11,4

8 882

31,3

46,6

402

671

524

371

1968

7,3

7 875

18,3 1

36,5

430

430

6,51

2 026

13,31

19,7 I

168

168

8,01

1

704

18,51

19,6 I

l) Davon 1664 Militär. 2) 209 Militär.

Zahl der Eheschließungen.

In Preußen ist seit 1906 eine andauernde Abnahme der Ehe¬ schließungen und der ehelichen Fruchtbarkeit zu verfolgen, in diesem Jahr heirateten noch von 1000 Lebenden 8,3 Prom., 1907 nur mehr 8,12, 1908 8,0; 1909 nur 7,9; 1910 7,85. Trotz der ver¬ minderten Eheschließungen lieferte das Jahr 1810 wegen der ver¬ minderten Sterbeziffern noch günstige Ergebnisse in der Volks¬ vermehrung.

388

Hanssen,

Tabelle 15.

Kiel

Ehe¬

schließungen

_

Auf Prom.

mittlere Ein¬

wohnerzahl

Lebend¬

geburten

Prom. der

mittleren

Bevölkerung j

Proz. der

unehelichen

Geburten

Sterblichkeit

der

unehelichen

Säuglinge

Sterblichkeit

der

ehelichen

Säuglinge

1904

1250

8,26

4975

32,89

14,51

29,1

15,5

1905

1811

8,36

5126

32,70

14,44

32,6

16,2

1906

1398

8,46

5482

33,16

15,51

28,6

16.69

1907

1430

8,04

5433

30,56

14,30

26,38

13,83

1908

1451

7,78

5522

29,59

14,60

25,68

14,80

1909

1380

7,19

5511

28,70

16,1

24,29

11,28

1910

1413

6,98

5570

27,50

15,7

25,11

11,70

1911

1621

7,55

5403

25,17

15,9

23,09

15,22

100 Kilo Nahrungsmittelpreise

1911

1910

1909

Weizenmehl

40

40

39

Koggenmehl

34

28

30

Bindfleisth

186

170

158

Eßkartoffeln

8,05

7,07

8,48

Schweinefleisch 151 162

Arbeitsuchende

162

1911

1910

1909

29 851

29 487

Sparkassenrückzahlungen

30 709

1911

1910

1909

23 360 842

21 904 220

19 008 269

836 798

421 900 Obdachlose

-f 557 741

1911

1910

1909

11572

13 022

26 738

Bezirk

ül

1911

) e r h a u

1910

Geb1

pt

1909

urtenzah

1911

Kiel

len nach Stadtte

ehelich

1910 1909

ilen

u n e h e 1 i (

1911 1910

;h

1909

1.

57

77

87

39

54

72

18

23

15

2.

158

158

165

104

115

121

54

43

44

3.

306

306

334

253

253

281

53

53

53

4.

163

183

219

130

147

170

33

36

49

5.

448

477

502

365

372

395

83

105

107

6.

385

373

420

135

108

120

250 I

265

300

7.

267

299

302

237

270

273

30

29

29

8.

234

221

209

217

200

192

17

21

17

9.

490

526

581

450

481

533

40

45

48

10.

366

419

498

336

388

463

30

31

35

11.

930

967

1096

827

873

1005

103

94

91

12.

846

944

1098

760

855

1001

86

89

97

13.

151

127

142

121

9

6

14.

239

187

219

172

20

15

15.

13

12

12

11

1

1

16.

204

164

180

153

24

11

17.

146

130

135

121

11

6

Die Abnahme d. Geburtenzahlen in d. verschied. Bevölkerungsklassen usw. 389

Tabelle 16.

Flensburg

Lebend^

ehelich

gebürten

unehelich

Säuglingssterblichkeit

eheliche uneheliche

Auf 100 Ge¬ burten mit Totgeburten uneheliche

1904

1554

127

11,78

33,9

7,69

1905

1519

124

17,31

29,8

7,57

1906

1461

117

13,62

21,4

7,54

1907

1430

112

12,73

19,6

7,42

1908

1436

115

14,07

25,2

7.72

1909

1349

129

10,53

21,7

8,91

1910

1247

121

11,47

23,9

8,89

1911

1268

148

13,33

85,14

10,66

In Schleswig- Holstein liegen die Verhältnisse so, daß nur an 10 Stellen (Tafel 18) (die Städte für sich gerechnet) die Ehe¬ schließungen zugenommen haben, dagegen in 28 Bezirken ab¬ genommen, gleichgeblieben ist sie an 5 Stellen. Am höchsten war die Zahl der Eheschließungen 1903 im Kreise Stormarn gewesen (Wandsbek gehörte seit 1901 nicht mehr zum Kreise) = 15,5 Prom., ebenfalls hoch in den Städten des Kreises Segeberg und in Altona, auch die Städte des Kreises Norder-Dithmarschen zeigten Zahlen der Eheschließungen von über 10 Prom. der Bevölkerung. Er¬ heblich gestiegen ist die Zahl der Eheschließungen nur in den Städten des Kreises Hadersleben und im Kreise Sonderburg (als Folge der Marineanlagen), dann auch in den Städten des Kreises Süder-Dithmarschen. Die niedrigsten Zahlen der Eheschließungen zeigten dagegen in beiden Vergleichsjahren die Städte des Kreises Flensburg-Land (= Glücksburg). Sehr erheblich abgenommen haben die Eheschließungen im Kreise Eiderstedt überhaupt und besonders in den Städten. Ebenfalls die Städte des Kreises Oldenburg zeigten eine starke Abnahme, auch in Bendsburg, ebenso in den Städten in Segeberg und im Kreise Stormarn. Weitere Zahlen ergeben sich aus der Tabelle.

1903 hatte die Provinz 8,6 auf 1000 Einwohner Eheschließungen gehabt, 1909 = 8,5 Prom. Die Städte hatten 1903 noch 9,5; 1909 nur mehr 9,2 gehabt. Die Zahl der Eheschließungen hat auf dem Lande zugenommen von 8,0 auf 8,3 Prom. In der Zeit nach dem 30jährigen Krieg gibt Hensler zum Vergleich folgende Zahlen für die Eheschließungen an (Tafel 17):

390

Hanssen,

Tabelle 17.

Eheschließungen im Amte Segeberg 1668 1766.

1668-1683

Geborene

1791

Eheschließungen

1684—1699

1648

480

1700—1709

1361

371

1710—1719

1386

434

1720-1729

1474

388

1687—1729

5869

1673

1730—1766

6615

1825

Von 1687 1729 gaben 10 Ehen nur 35 Kinder, von da bis 1766 aber 36.

Der Rückgang der Eheschließungen hat die verschiedensten Ursachen, zunächst dürfte die zunehmende Ehescheu bei den besseren Bevölkerungsklassen ihren Ursprung in dem stark materiellen Zug, welcher dem männlichen Geschlecht in unserer Zeit eigen ist, haben. Viele Mitglieder desselben wollen lieber auf eine Ehe verzichten, als die Ungebundenheit ihres Junggesellenlebens aufgeben und sich nicht belasten mit den Sorgen für den Unterhalt einer Familie. Manche junge Männer leben auch mit einer Geliebten, welche ihnen die Freuden des ehelichen Lebens gewährt, ohne ihnen Sorgen zu bringen. Es liegt nicht in der Absicht der jungen Leute, daß aus dem geschlechtlichen Verkehr Folgen erwachsen und jeden Tag kann das Verhältnis gelöst werden, wenn es einem der beiden Teile gefällt. In den gebildeten Kreisen ist es heutzutage auch oft schwer, sich eine auskömmliche Stellung in jüngeren Jahren zu verschaffen, dann kostet der junge Mann erst einmal die Freuden des ungebundenen Lebens aus und wird älter und älter, bis er in ein Alter kommt, in dem er sich schwer zu einer Heirat noch entschließt. Um¬ gekehrt hat das zunehmende Erwerbsleben der gebildeten Mädchen diesen auch oft Selbständigkeit verschafft, so daß auch sie lieber eine selbständige Stellung in ihrem Beruf bekleiden, als daß sie sich in der Ehe der Herrschaft des Mannes fügen wollen, um noch womöglich Entbehrungen sich aufzuerlegen, die ihnen als Mädchen unbekannt waren. Dabei ist eine Steigerung der Ansprüche nament¬ lich im geselligen Leben eingetreten, daß ohne eine Mitgift von seiten der Frau oder von Vermögen seiten des Mannes das Schließen der Ehe unmöglich ist, soll nicht Sorge und Not in eine neu¬ gegründete Familie einziehen. Auch die Arbeiterkreise machen in bezug auf Wohnung und Genüsse wie Theater und Vergnügungen

Die Abnahme d. Geburtenzahlen in d. verschied. Bevölkerungsklassen usw. 391

Kreise

1903

Ehen E^n' wohner

1909

Ehen wohner

Eheschließungen auf 1000 Einw.

1903 | 1909

Hadersleben

390

57 215

433

60 133

6,8

7,2

~b

davon Städte

70

9 773

78

9 906

7,2

7,9

+

Apenrade

243

29 324

216

30 322

8,3

7,1

davon Städte

54

6 619

47

7 032

8,3

6,7

-

Sonderburg

285

32 868

324

35 307

8,7

9,2

+

davon Städte

70

7 324

79

9 019

9,6

8,4

Flensburg (Stadt)

409

48 922

436

53 771

8,5

8,1

(Land)

349

41951

357

45 721

8,3

7,8

davon Städte

5

1390

9

1551

3,6

4,2

+

Schleswig

521

66 603

545

69 551

8,0

7,0

davon Städte

145

23 125

156

24 716

6,2

6.3

+

Eckernförde

385

42 041

352

43 635

9,1

8,7

davon Städte

47

6 719

48

7 088

7,0

6,8

Eiderstedt

134

15 762

119

16 297

* 8,5

7,0

davon Städte

58

5 209

44

6 057

11,1

7,1

Husum

290

38 486

301

39 714

8,0

7,6

davon Städte

84

10 604

82

11483

8,0

8,0

+0

Tondern

424

56 561

446

57 083

7,7

7,8

~b

davon Städte

71

7 777

96

10 513

9,1

9,1

+0

Oldenburg

309

43 932

312

43 321

7,3

7,2

davon Städte

111

12 442

90

12 529

9,0

7,2

Plön

476

52 749

471

54 651

9,0

8,6

davon Städte

84

11091

76

11012

7,6

6,9

Kiel (Stadt)

1187

121 824

1380

163 772

9,8

8,4

Neumünster (Stadt)

244

27 335

266

31 439

8,9

8.5

Kiel (Land)

326

38 861

354

45 089

8,3

7,8

Rendsburg

539

61 700

543

65 317

8,7

8.3

davon Städte

160

17 009

153

18 062

9,4

8,5

Nord. - Dithmarschen

303

37 515

341

32178

8,0

8,7

+

davon Städte

122

10 752

99

11410

11,5

8,7

Süd. - Dithmarschen

394

48 526

501

50 301

8,1

10,0

~b

davon Städte

49

6 961

52

7 259

7,2

7,2

+0

St ein bürg

597

78 836

670

79 839

7,6

8,4

~b

davon Städte

318

33 551

366

33 426

9,5

10,9

+

Segeberg

1 324

39 724

353

46 696

8,2

8,5

+

davon Städte

75

6 572

61

6 892

11,4

9,0

Wandsbek (Stadt)

278

27 966

314

31 563

10,0

10.0

+0

Stormarn

622

68 103

643

76 464

9,0

8,4

davon Städte

93

6011

90

6 675

15,5

13,5

Pinneberg

804

97 830

936

108 945

8,1

8,1

+0

davon Städte

237

30 321

300

36 106

7,6

8,3

Altona (Stadt)

1774

161 501

1777

168 320

11,1

10,5

Lauenburg

422

51883

410

52 679

8,1

7,1

davon Städte

104

13 953

97

13 991

7,4

7,0

Städte davon [

5849

61 821

6192

693 753

9,5

9,2

Summe <

12029

1 387 968

12800

1 504 248

8,6

8,5

_ \

i

Land davon [

6180

773 147

6708

! 810 425

8,0

8,3

+ 1

ähnliche Ansprüche wie die gebildeten Kreise, so daß auch hier dieselben Verhältnisse mitspielen wie in den wohlhabenden Be¬ völkerungsklassen. Das Schließen einer Ehe ist entschieden in hohem Grade von besseren oder schlechteren Verhältnissen ab-

Provinz

392 Hanssen,

hängig, wie man sie in Hamburg durch fast ein Jahrhundert ver¬ folgen kann. (Vgl. dazu meine Arbeit über Säuglingssterblichkeit in früheren Jahrhunderten nach den Listen in Hamburg.) So spielt die pekuniäre Seite bei der Schließung einer Ehe eine sehr hervor¬ tretende Rolle und die Jagd nach Mitgift ist eine der unerquick¬ lichsten Erscheinungen dieser x4rt, aber leider ist sie nicht zu um¬ gehen, denn nichts bedroht leichter das Glück einer Ehe als Ge¬ fährdung der Existenz, erhöhte Ausgaben durch Krankheit und Verluste pekuniärer Natur. Auch der Arbeiter will nicht durch Schließen einer Ehe seine Lage verschlechtern (vgl. L ö w e n f e 1 d). Ein Dienstmädchen oder eine Köchin aus vornehmem Hause tut es sehr oft, jedenfalls in dem Punkt der Ernährung und Bequem¬ lichkeit.

Um die Zahl der Eheschließungen zu heben, wäre das beste Mittel die Verbesserung der allgemeinen wirtschaftlichen Lage durch Verbilligung der Lebensmittel anzustreben. Die Eheschließung befördern würde auch eine Junggesellensteuer und die Unterstützung der Eheschließung, wie es in Australien geschehen soll, durch Ge¬ währung einer Prämie für jede Ehe. Diese Prämie könnte nach dem Vorschlag des früheren Kriegsministers Messimy in Frank¬ reich in eine jährlich steigende Rente bei einer größeren Zahl von Kindern, die aus einer Ehe hervorgegangen sind, verwandelt werden. Zu solchen Mitteln muß man schon in Frankreich greifen, will man die Zahl der Eheschließungen steigern, sie haben unter dem Ein¬ fluß dieser Mittel schon zugenommen, leider aber auch die Ehe¬ scheidungen.

fc.

Die Ursachen für den Rückgang der Geburten.

Einige dieser Ursachen wurden bei den Eheschließungen und der Landflucht schon besprochen und brauchen hier nicht wieder¬ holt zu werden, voran stehen hier vor allem wirtschaftliche Ver¬ hältnisse, die auch dann, wenn eine Ehe schon geschlossen ist und ihren Zweck durch Erzeugung von Kindern erfüllen soll, wieder in den Vordergrund treten. Der Rückgang der wirtschaftlichen Verhältnisse tritt besonders in Kiel in dieser Beziehung zutage, während in Altona trotz steigenden Wohlstandes die Geburten¬ zahlen abgenommen haben, ebenso scheint es in Flensburg zu sein.

Ich gehe jetzt auf die verschiedenen Mittel ein, welche an¬ gewandt werden, die Fruchtbarkeit einer Ehe zu vermindern und möglichst auf zwei Kinder einzuschränken. Malthus war es zuerst,

Die Abnahme d. Geburtenzahlen in d. verschied. Bevölkenmgsklassen nsw. 393

welcher in höchst pessimistischer Weise die zunehmende Be¬ völkerung und die entsprechende Zunahme der Nahrungsmittel ver¬ glich und ein Mißverhältnis zwischen beiden festzustellen glaubte. Malthus empfahl als Hauptmittel die Enthaltung vom Geschlechts¬ verkehr, um der Übervölkerung vorzubeugen.

Die Lehre von der Verhütung der Schwangerschaft entwickelte sich dann weiter zum Neomalthusianismus d. h. der Lehre von der Verhütung der Empfängnis und der Einschränkung der Kinderzahl. Die absolute Verurteilung dieser Lehre ist sicher nicht berechtigt, denn wenn man als Arzt manche Frauen sieht, die viele Kinder gehabt haben, kann man nicht sagen, daß sie an Schönheit und Gesundheit gewonnen hätten. Gr über und He gar haben diese Verhältnisse genauer dargestellt. Grub er betont, daß vom vierten Kinde an die Kraft der in einer Ehe hervorgebrachten Kinder abnimmt, er stellt „Massentod“ neben „Massenerzeugung“. Vgl. den Abschnitt 27 bei Bloch (Neomalthusianismus, sexueller Präventiv¬ verkehr usw.) und das 10. Kapital „Neomalthusianismus“ bei Grub er mit verschiedenen Tafeln über Fruchtbarkeit und Wohlstand in verschiedenen Ländern (S. 158). Über die eheliche Fruchtbarkeit in Dänemark, geschieden nach Stadt und Land, berichtet Tugend- reich (S. 38).

Heutzutage ist selbst in die Arbeiterkreise die Anwendung der Mittel gedrungen, um die Schwangerschaft zu verhüten und sie ge¬ gebenenfalls zu unterbrechen. In meiner früheren Praxis in einem Fabrikort sind mir im Laufe von 4—5 Jahren etwa 12 Fälle von Unter¬ brechung der Schwangerschaft durch Anwendung einer Uterindouche bekannt geworden. Solche Mittel wurden teils von Arbeiterfrauen an¬ gewandt, welche schon mehrere Kinder hatten oder in höherem Alter noch schwanger wurden oder vorher schwere Entbindungen durchgemacht hatten und Angst vor einer erneuten Schwanger¬ schaft hatten. Eine Frau hatte ein solches Mittel angewandt, nachdem sie durch Geschlechtsverkehr mit einem Einlogierer schwanger geworden war; diese Frau wandte das Mittel mehrfach an und ging schließlich, wie ich erfahren habe, bei dem vierten Versuch zugrunde. Eine andere Frau starb, nachdem sie sich durch Anwendung einer solchen Douche eine Infektion zugezogen hatte, an den Folgen der Erkrankung. Die Uterindouche wurde durch einen Mann in Frauenkleidern vertrieben und nicht selten gekauft. Nicht nur in Arbeiterkreisen, auch bei Schiffern und Handwerkern fand ich den Apparat. Von anderen Mitteln zur Verhütung der Schwangerschaft ist besonders der Coitus inter-

394 Hanssen,

ruptus bekannt und in einigen Gegenden bei der bäuerlichen Be¬ völkerung in Angeln der Coitus per anum. Die Anpreisung von Mitteln zur Verhütung der Schwangerschaft findet besonders durch Berliner Zeitungen, weniger durch die lokalen statt. Hebammen, deren Annoncen der Unterbrechung der Schwangerschaft verdächtig sind, findet man in Hamburger Blättern angegeben. Ab und zu findet man auch die Anwendung von Schwämmchen zur Verhütung der Konzeption.

Beim Coitus unter unverheirateten Mitgliedern des Arbeiter¬ standes in jugendlichem Alter muß auch von solchen Mitteln Ge¬ brauch gemacht werden, weil sonst viel öfter Schwangerschaft die Folge wäre von diesem Verkehr. Ist wirklich durch solchen Ver¬ kehr ein Mädchen schwanger geworden, so erfolgt in den meisten Fällen Heirat von seiten des Liebhabers. Ein Mädchen, das mit mehreren Liebhabern verkehrt hat, gibt meist den von ihr be¬ vorzugten Mann als den Vater des Kindes an. Anscheinend sind auch in unserer Provinz die unehelichen Geburten, wie es auch in Pommern beobachtet wurde, in dauernder Zunahme begriffen, so¬ wohl in der Stadt als auf dem Lande (vgl. die Zahlen aus Kiel, Altona und Flensburg).

Die Zunahme der unehelichen und entsprechende Abnahme der ehelichen Geburten muß entschieden als eine Ausgleichs¬ erscheinung angesehen werden, und nicht wenig uneheliche Kinder werden durch verheiratete Männer gezeugt sein, die in der Ehe wegen des Präventivverkehrs keine Befriedigung fanden.

Eine Abnahme der ehelichen Fruchtbarkeit annehmen zu wollen, ist meiner Meinung nach verfehlt, in früheren Jahren kamen in unserer Provinz nach Hensler auf eine Ehe 3,5— 3,6 Kinder. 1906 1910 betrug die Fruchtbarkeitsziffer auf 1000 ehefähige Frauen 136,52 Lebendgeborene. 1891 1895 noch 157,96.

Einen Umstand möchte ich noch für die Abnahme der Kinder¬ zahl verantwortlich machen, auf den meines Erachtens wenig oder gar nicht hingewiesen wird, das ist die Zunahme des Stillens und dementsprechend Abnahme der Säuglingssterblichkeit besonders durch die Ausdehnung der Stillung auf längere Zeiträume. Da¬ durch würde der Verlust, den das Heer durch die Abnahme der Geburten auf die Dauer erleiden muß, durch Verbesserung des Materials ausgeglichen.

Wenn der allgemeine Druck und die Höhe der Nahrungs¬ mittelpreise für die Abnahme der Geburtenzahlen verantwortlich gemacht werden, so ist das ohne Einschränkung nicht richtig,

Die Abnahme d. Geburtenzahlen in d. verschied. Bevölkerungsklassen usw. B95

denn in Altona sind die Sparkasseneinlagen sehr erheblich ge¬ stiegen, die Zahl der Darlehen im Leihhaus hat abgenommen, aus den niederen Steuerklassen sind sehr viele Zensiten in die höheren übergegangen, die Zahl der Zwangsversteigerungen hat allerdings zugenommen. In den letzten Jahren haben die Preise der wichtig¬ sten Nahrungsmittel außer Ochsenfleisch keine nennenswerten Ver¬ änderungen erfahren.

Anders allerdings in Kiel, dort muß der Druck der Verhält¬ nisse sehr fühlbar sein, denn die Sparkassenrückzahlungen wiegen in den letzten Jahren sehr vor, auch die Zahl der Zwangsver¬ steigerungen hat eine erhebliche Zunahme erfahren.

Wenn die Landflucht als Ursache der Geburtenabnahme be¬ schuldigt wird, so hat in Schleswig-Holstein die Verteilung der Land- und Stadtbevölkerung eine starke Verschiebung erfahren. Nach den Zahlen meines Buches über die Säuglingssterblichkeit hatten wir 1871 noch 67 Landbewohner und 33 Stadtbewohner, jetzt nur mehr 54 Land- und 46 Stadtbewohner auf 100 Ein¬ wohner. Nach Groth ist in Bayern der Geburtenrückgang fast ausschließlich auf die Städte beschränkt. Sowohl in der Stadt als auf dem Lande wird die Schwangerschaft sehr häufig durch die verschiedensten Mittel unterbrochen.

In Kiel konnte ich bei einer großen Krankenkasse annähernd

die Zahl der Aborte im Verhältnisse zu den Geburten feststellen,

die Arzte behandelten im Jahr etwa 50 Entbindungen und wurden bei 240 Aborten zugezogen, es kamen also auf jeden zehnten ver¬ heirateten Mann in jedem Jahre ein Abort (die Kasse hatte 2400 verheiratete Mitglieder).

Eine Hebamme in Gaarden hatte in einem Jahr 181 Ent¬ bindungen und 35 Aborte behandelt in allen Kreisen der Be¬ völkerung. Diese Zahl der Aborte ist anscheinend im Verhältnis eine niedrige. In Kiel ist, wie mir von Frauenärzten versichert wird, die künstliche Unterbrechung der Schwangerschaft so häufig, daß die Tätigkeit mancher Hebammen in dieser Richtung oft so

ausgebreitet ist wie ihre geburtshilfliche. Die Hebammen legen

auch Uterinpessare ein. Auch manche Arzte sind sehr leicht mit dem Uterinpessar bei der Hand, in den Großstädten sind dem Publikum ganz bestimmte Frauenärzte bekannt, die ohne Wahl einer Indikation ein Uterinpessar einlegen. Vom Lande kommen die Frauen zu diesem Zweck in die Stadt, da 'sie -so sicherer sind, daß die Sache Geheimnis bleibt. Die Anzeige antikonzeptioneller Mittel geschieht in den Zeitungen oft unter ganz harmlosen

396 Hanssen,

Reklamen wie „Versandhaus“ oder „hygienisches Versandhaus“. Man bekommt auf Anfrage einen sehr reichhaltigen Katalog, in welchem Kondome, Schwämmchen, Mensinga- und Uterinpessare, Menstruationspulver usw. angezeigt werden und manche Mittel, welche der künstlichen Unterbrechung der Schwangerschaft sehr verdächtig sind. Eine genaue Gebrauchsanweisung liegt bei. Teilweise wurden die Intrauterindouchen so schamlos in den Schau¬ fenstern solcher Handlungen ausgestellt, daß sich die medizinische Gesellschaft in Kiel zum Einschreiten veranlaßt sah. Manche Annoncen von Personen, welche sich Masseurin nennen und da¬ neben Frauenkrankheiten behandeln, sind mir auch auf Unter- * brechung der Schwangerschaft sehr verdächtig, auch manche An¬ zeigen von Hebammen, welche Frauen diskrete Unterkunft in Fällen, wo Schwangerschaft eingetreten ist, gewähren, fallen in dieses Gebiet. Die Auswahl ist also recht groß und mancherlei Mittel stehen dem Publikum zur Verfügung, die Schwangerschaft zu verhüten und gegebenenfalls zu unterbrechen.

Welche Mittel kann der Staat ergreifen, um dem zunehmenden Rückgang der Geburten vorzubeugen? Der Staat hat nicht die Macht, die Zahl der Eheschließungen und der aus diesen hervor¬ gehenden Kinder zu steigern, sehr wohl kann er aber durch Gewährung von Steuerermäßigung die Staatsbürger begünstigen, welche eine größere Zahl von Kindern ihr eigen nennen und zur Vermehrung unserer nationalen Kraft beigetragen haben. Schon vor der eingetretenen Entbindung kann der Staat durch Gründung von Mutterschaftsversicherungskassen für das entstehende Leben vorbeugend sorgen. Die Reichsversicherungsordnung wird in der Beziehung größere Erweiterungen bieten. Manche größere Kranken¬ kassen sorgen schon jetzt durch Gewährung von Wöchnerinnen- - Unterstützung für die schwangere und frisch entbundene Mutter. Die Kieler Ortskrankenkasse bezahlte 1911 über 15000 M. Unter¬ stützung an Wöchnerinnen und Schwangere. Leider hat die R.V. 0. nicht alle Hoffnungen in der Beziehung erfüllt. Meiner Meinung nach wäre für diesen Zweck eine Junggesellensteuer sehr am Platz, damit größere Mittel für die Mütter bereit wären. Auch der un¬ liebsamen Vermehrung der unehelichen Geburten wäre so in wirk¬ samer Weise vorgebeugt. Stillprämien vom Staate gegeben, nicht wie bis jetzt von der Privatwohltätigkeit, könnten auch sehr günstig wirken. Ebenso wäre die Gewährung von unentgeltlich von den Kommunen gewährte Milch ein Mittel, ärmeren Familien die Aufziehung ihrer Kinder zu erleichtern. Auch die Gewährung

Die Abnahme d. Geburtenzahlen in d. verschied. Bevölkerungsklassen usw. 397

von Milch an ärmere Schüler fällt in dieses Gebiet. Das sind aber nur alles Mittel, die Vermehrung des Nachwuchses zu unter¬ stützen. Die Verbilligung wichtiger Nahrungsmittel und Beseitigung drückender Steuern sollte angestrebt werden und nicht manche Kreise des Staates auf Kosten der Allgemeinheit begünstigt werden. "Würde der Wettbewerb im Rüsten zwischen den Staaten ein¬ gestellt, so könnten große Mittel für die Aufzucht des Nachwuchses durch den Staat freigemacht werden, doch sind das alles Zu¬ kunftsträume (vgl. Pistor). Das eine aber kann der Staat tun, daß er verhindert, daß Leben, das zur Vermehrung des Volkes

entstanden ist, nicht wieder verloren geht, wie es jetzt gang und

gäbe ist. Arzte und Hebammen, welche allzu leichtfertig mit der

Empfehlung antikonzeptioneller Mittel sind, könnten einen kleinen

Denkzettel erhalten. Eine Indicatio socialis für Unterbrechung

der Schwangerschaft gibt es nicht (vgl. Baiser im Kreise Mainz).

Daß Arzte leichtfertig mit dem Uterinpessar Vorgehen, könnte

durch die Bestimmung verhindert werden, daß zu einem solchen

Vorgehen die Anwesenheit zweier Arzte nötig wäre, wie bei der künstlichen Unterbrechung der Schwangerschaft. Den Hebammen sollte das Einlegen der Pessare überhaupt verboten werden. Ganz besonders könnte aber der schamlosen Ausstellung und Empfehlung antikonzeptioneller Mittel in den Zeitungen und Schaufenstern ent¬ gegengearbeitet werden, indem eine solche Reklame von der Polizei einmal unter die Lupe genommen würde, das ist sehr wohl mög¬ lich. Würde den Hebammen einmal eine Anzeige aller iVborte zur Pflicht gemacht, so würde man Wunder schauen über die Zahl derselben. Das Verbot, in den Zeitungen die Aufgebote bekannt zu machen, wie es in Düsseldorf geschieht, ist vielleicht auch eine wirksame Maßregel gewissen Offerten entgegenzuarbeiten. Geht die Abnahme der Geburten so weiter wie jetzt, so müssen wir mit ernster Sorge in die Zukunft sehen. Wenn es wahr ist, daß die Abnahme der Geburten von Osten nach Westen zunimmt, so würde uns einst Rußland durch die erdrückende Zahl seiner Bewohner ein Gegenstand ernster Sorge werden. Dem entgegenzuwirken, müssen wir mit allen Kräften bemüht sein. Der Staat aber hat die Pflicht, alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel anzuwenden, damit das Zweikindersystem nicht ähnlich wie in Frankreich bei uns in allen Kreisen der Bevölkerung Mode wird und auch wir einem sterbenden Volke gleichen werden, das seinen Untergang vor sich sieht.

Archiv für Soziale Hygiene. VII.

26

398

Hansseu,

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26*

Die Erwerfosunfähigenversicherung in Gro߬ britannien und Irland.

Von H. Fehlin ger.

Am 15. Juli 1912 trat in Großbritannien und Irland das „nationale Versicherungsgesetz“ in Kraft, dessen erster Teil die Versicherung gegen Krankheit und Invalidität betrifft, während der zweite Teil die Arbeitslosenversicherung regelt, die vorläufig auf einige wenige Wirtschaftszweige beschränkt ist. Die obli¬ gatorische xArbeitslosenversicherung durch den Staat wurde bisher noch in keinem Lande durchzuführen versucht, und man darf auf die Ergebnisse dieses Experiments gespannt sein. Auch die Er- werbsunfäliigenversicherung weicht in Großbritannien -Irland in mancher Beziehung von der in den Staaten des kontinentalen Europa befolgten Praxis ab, obwohl sich die Urheber des neuen Gesetzes besonders die Erfahrungen Deutschlands in weitgehendem Maße zunutze machten.

Der Bereich der obligatorischen Erwerbsunfäliigenversicherung die amtlich Heath Insurance oder „Gesundheitsversicherung“ bezeichnet wird umfaßt alle in einem Arbeits- oder Dienst¬ verhältnis stehenden Personen im Alter von 16 Jahren aufwärts. Die Ausnahmen sind zahlreich, aber zumeist unbedeutend. Von der Versicherungspflicht ausgenommen sind alle Personen, welche bei Eintritt in eine versicherungspflichtige Beschäftigung das 65. Lebensjahr bereits überschritten haben; Personen, die auf andere Weise als durch Handarbeit jährlich über 160 £ (3200 M.) verdienen; Personen, die eine jährliche Pension oder ein anderes von ihrer persönlichen Tätigkeit unabhängiges Einkommen von min¬ destens 26 £ (520 M.) beziehen; öffentliche Angestellte und Privat¬ beamte, für die anderweitig und mindestens ebenso gut wie auf

Die Erwerbsmifähigenversickeruug in Großbritannien und Irland. 401

Grund des Gesetzes vorgesorgt ist; Angehörige der Armee und Marine; Schullehrer; Agenten, die Provision bekommen oder sonst¬ wie am Geschäftsertrag Anteil haben; Mannschaften von Fischerei¬ schiffen, die am Ertrag teilhaben; Personen, die aus dem Arbeits¬ oder Dienstverhältnis nur ein Nebeneinkommen beziehen ; Personen, deren Lebensunterhalt für gewöhnlich und in der Hauptsache von anderen Personen bestritten wird; landwirtschaftliche Arbeiter ohne Barlohn; von den Arbeitsanwendern („Arbeitgebern“) be¬ schäftigte eigene Kinder und von den Arbeitsanwendern erhaltene fremde Personen, wenn sie keinen Lohn bekommen; Gelegenheits¬ arbeiter, die nicht für die Zwecke des Gewerbes oder Geschäftes ihrer Arbeitsanwender, noch bei Spielen, sportlichen Veranstaltungen u. dgl. beschäftigt werden; als Heimarbeiterinnen tätige Ehefrauen versicherter Männer, wenn sie in der Hauptsache nicht auf ihren eigenen Erwerb angewiesen sind; beim Ehegatten in Arbeit stehende Personen. Welche Beschäftigungsarten als nicht ver¬ sicherungspflichtiger Nebenerwerb zu betrachten sind, wird im Verordnungswege bestimmt. Die Versicherungspflicht gilt für britische Untertanen und für Angehörige fremder Staaten in gleicher Weise. Die Zahl der Versicherungspflichtigen wird auf etwa zwölf Millionen geschätzt. Dazu kämen noch an zwei Millionen Personen, welchen die freiwillige Versicherung gestattet ist; das sind alle nicht versicherungspflichtigen Personen, die einen regelmäßigen Beruf ausüben und ihren Lebensunterhalt von dieser Berufstätigkeit beziehen, sowie Personen, die mindestens fünf Jahre lang obligatorisch versichert waren. Es kann sich also niemand gar so leicht wie in Deutschland die billigen Dienste der Krankenkasse sichern. Das Jahreseinkommen freiwillig versicherter Personen darf in keinem Fall 160 £ übersteigen.

Die Mittel zur Gewährung der im Gesetz vorgesehenen Leistungen der Erwerbsunfähigenversicherung und zur Bestreitung der Ver¬ waltungskosten werden durch den Staat, die versicherten Personen und deren Arbeitsanwender aufgebracht. Die Beitragsleistung ist sehr kompliziert. In der Regel schießt der Staat zu den Kosten der Versicherung männlicher Personen zwei Neuntel und zu den Kosten der Versicherung weiblicher Personen ein Viertel zu. Der Rest ist durch gemeinsame Beiträge der Arbeiter und Arbeitsanwender aufzubringen. Die gemeinsamen Beiträge betragen pro Woche: In Großbritannien für männliche Personen 7 d (59 Pf.) und- für weibliche Personen 6 d (50 Pf.); in Irland für männliche Personen 5 1 /2 d (46 Pf.) und für weibliche Personen

402

H. Fehlinger,

4V2 d (38 Pf.). Der Arbeitsanwender zahlt gewöhnlich von jedem Beitrag in Großbritannien 3 d (25 Pf.), in Irland 2 1/2 d (21 Pf.). Aber bei gering entlohnten über 21 Jahre alten Ver¬ sicherten, die nicht Kost und Quartier beim Arbeitsanwender haben, erhöht sich dessen Beitragsanteil und der Staat gewährt ihnen zum Teil einen Extrazuschuß.

Die Verteilung des Wochenbeitrags der über 21 Jahre alten gering entlohnten Versicherten gestaltet sich wie folgt:

Durchschnittlicher Tagelohn

Beitrag

der

versicherten Person in Pence

santeil

des Arbeits¬ anwenders

in Pence

Extraznschuß des Staates

in Pence

a) Männliche

Versicherte:

Großbritannien.

lx/2 Schilling oder weniger

6

1

über 172 bis 2 Schilling

1

5

1

über 2 bis 2l/2 Schilling

3

4

Irland.

P/2 Schilling oder weniger

472

1

über I72 bis 2 Schilling

72

4

1

über 2 bis 2l/2 Schilling

2

372

b) Weibliche Versicherte:

Großbritannien.

P/2 Schilling oder weniger

5

1

über 172 bis 2 Schilling

1

4

1

Irland.

P/2 Schilling oder weniger

372

1

über ll/2 bis 2 Schilling

3

1

Der gewöh liehe Staatszuschuß, den auch die mit über 2 Schilling im Tag entlohnten Versicherten erhalten, wird in Gro߬ britannien nicht ganz 2 d (17 Pf.) pro Person und Woche betragen, denn er wird nicht nach den Beitrags e i n n a h m en, sondern nach den Kosten der Versicherung berechnet, die wegen der Anhäufung von Reservefonds immer geringer sein werden als die Einnahmen.

Ausländer erhalten keinen Staatszuschuß, außer wenn sie am 4. Mai 1911 seit mindestens fünf Jahren einer Organi¬ sation angehörten, die als Versicherungsverein anerkannt wird, oder wenn mit einer fremden Regierung ein diesbezüglicher Ver¬ trag abgeschlossen wird. Am 4. Mai 1911 wurde der Entwurf des Gesetzes dem Parlament vorgelegt. Durch empfindliche Be¬ nachteiligung der Ausländer soll dieser Tag allen in der Erinnerung bleiben !

Die Erwerbsunfähigen Versicherung in Großbritannien und Irland. 403

Wenn eine versicherte Person das 70. Lebensjahr vollendet, so hört ihre Beitragsleistung und zugleich der Anspruch auf Kranken- und Invalidengeld auf. Vom 70. Jahre an haben nämlich britische Untertanen auf Altersrenten Anspruch, vorausgesetzt, daß ihr durch¬ schnittliches Jahreseinkommen nicht 31 £ 10 s (630 M.) übersteigt, daß sie innerhalb der letzten 20 Jahre ihren dauernden Wohnsitz 12 Jahre hindurch in Großbritannien und Irland hatten, daß sie nicht wegen einer gerichtlichen Verurteilung vom Bezugsrecht aus¬ geschlossen sind usw. Das Ausmaß der Altersrente bewegt sich, je nach dem sonstigen Einkommen, zwischen 1 Schilling und 5 Schilling in der Woche. Die über 70 Jahre alten Personen, die aus der Ver¬ sicherung ausscheiden, haben weiterhin Anspruch : Im ganzen König¬ reich auf Anstaltsbehandlung und in Großbritannien auch auf freie Arzthilfe und Heilmittel, soweit sie überhaupt gewährt werden.

Neben den bereits erwähnten Zuschüssen gewährt der Staat zur Bestreitung der Kosten der Anstaltsbehandlung einen jährlichen Beitrag von 1 d (S1/2 Pf.) für jede versicherte Person. Für diesen Zweck ist von den Beiträgen der Versicherten und der Arbeits¬ anwender ein Betrag von 1 s 3 d (1,25 M.) pro Person und Jahr zu reservieren. Wenn die Kosten der ärztlichen Behandlung und der Heilmittel ein gewisses Maximum übersteigen, so trägt der Staat die Hälfte der Mehrkosten.

Die freiwillig versicherten Personen, die sich bis zum 15. Januar 1913 anmeldeten und das 45. Lebensjahr noch nicht überschritten hatten, zahlen dieselben Beiträge, die für obli¬ gatorisch versicherte Personen zu entrichten sind, nämlich in Gro߬ britannien Männer 7 d und Frauen 6 d, in Irland Männer d und Frauen 4% d. Für ältere Personen, die innerhalb derselben Frist beitraten, wurden mit Verordnung vom 1. Mai 1912 höhere Sätze bestimmt. Eine andere Verordnung schreibt vor, daß vom 15. Januar 1913 an nur weniger als 18 Jahre alte Jugendliche zu den gewöhnlichen Sätzen in die freiwillige Versicherung auf¬ genommen werden. Für 18— 24jährige männliche Personen beträgt der Wochenbeitrag in Großbritannien schon 7 1/2 d und er steigt nach und nach bis auf 1 s 5 d (1,42 M.) in der Altersklasse 62 bis nicht ganz 65 Jahre; 65jährige oder ältere Personen werden nicht mehr aufgenommen. In Irland steigt der Beitrag der frei¬ willig versicherten Männer von 6 d in der Altersklasse 18 25 Jahre auf 1 s 2 d in der Altersklasse 60 bis nicht ganz 65 Jahre. Die Beiträge der freiwillig versicherten weiblichen Personen sind etwas niedriger.

404

H. Fehlinger,

Jeder Unternehmer ist für die richtige Zahlung der Bei¬ träge verantwortlich. Er darf sich den Beitragsanteil der ver¬ sicherten Person von deren Lohn abziehen, aber nur bei der Aus¬ zahlung des Lohnes und immer nur für die letzte Lohnperiode. Wenn die versicherte Person keinen Barlohn erhält, so hat der Arbeitsanwender den ganzen Beitrag zu zahlen.

Jede versicherte Person erhält ein Mitgliedsbuch und eine Beitragskarte von dreizehnwöchentlicher Gültigkeit, in welche die Beitragsmarken eingeklebt werden. Zur Nachzahlung von Bei¬ tragsresten dient eine besondere Karte, die nach jeder Zahlung* sofort dem Versicherungsverein zurückzugeben ist. Die beiden anderen Legitimationen hat die versicherte Person selbst auf¬ zubewahren und dem Arbeitsanwender auf Verlangen vor¬ zuzeigen.

In der Zeit der Arbeitslosigkeit kann die versicherte Person die Beiträge weiter zahlen, und zwar den eigenen, sowie den Arbeitsanwenderbeitrag. Dadurch vermeidet sie, wegen Restierens in ihren Ansprüchen verkürzt zu werden, oder des Rechtes auf Unterstützung ganz verlustig zu gehen. In der Arbeitslosenzeit ist der Beitrag am ersten Tage in jeder Woche fällig, außer wenn die versicherte Person an diesem Tage krank oder invalid ist. In dem Fall sind die Beiträge am ersten Tag der auf die Beendigung der Erwerbsunfähigkeit folgenden Woche fällig. Das Gesetz selbst bestimmt, daß die anerkannten Ver¬ sicherungsvereine befugt sind, ihren Mitgliedern die Nachzahlung von Beitrags resten zu erlassen. Durch Verordnung wurde jedoch verfügt, daß solche erlassene Beitragsreste bei Feststellung der Unterstützungsberechtigung nicht als wirklich geleistete Bei¬ träge gelten dürfen. Nur hinsichtlich des Unterstützungsausmaßes kommen die nachgelassenen Beiträge in Anrechnung.

Die Beitragsmarken, welche in die Mitgliedsausweise geklebt werden, sind bei allen Postanstalten käuflich.

Alle Einnahmen an Beiträgen, Staatszuschüssen usw. fließen den Landesversicherungsfonds zu, die von den Landesversicherungs¬ ämtern verwaltet werden.1) Alle Gelder, die nicht an die an¬ erkannten Vereine ausgezahlt, für sie angelegt, oder zur Begleichung ihrer Verbindlichkeiten benötigt werden, sind zum Zweck der In-

]) Das Gesetz enthält hier einen Widerspruch; denn an anderer Stelle heißt es, daß die Gelder der Postversicherung von den lokalen Versicherungsausschüssen verwaltet werden.

Die Erwerbsunfähigenyersicherung in Großbritannien und Irland. 405

vestierung an die Nationalschuldkommission auszuzahlen. Von jedem Wochenbeitrag einer durch einen anerkannten Verein ver¬ sicherten männlichen Person werden 1 5/9 Pence und von jedem Beitrag einer weiblichen Person werden 1 V2 Penny für die Bildung von „Reservewerten“ zurückgehalten und den betreffenden Personen wird dafür ein nach dem Alter variierender Betrag gutgeschrieben. Von dem verbleibenden Rest des Beitrags fließen im Fall männ¬ licher Personen vier Siebentel und im Fall weiblicher Personen die Hälfte dem anerkannten Verein zu, welchem die Person an¬ gehört.

Vor dem 15. Januar 1913 besteht nur auf Heilstättenbehand¬ lung bei Tuberkulose Anspruch; im Gesetz ist vorgesehen, daß auch bei anderen Krankheiten, die das Lokalverwaltungsamt zu bezeichnen hat, Anstaltsbehandlung gewährt werden kann. Vom 15. Januar 1913 an erhalten die versicherten Personen beim Ein¬ tritt von Erwerbsunfähigkeit Geldunterstützung; die Bezugsdauer währt nach mindestens 26 Beitragswochen bis zu 26 Wochen und nach mindestens 104 Beitragswochen so lange, als die Erwerbs¬ unfähigkeit besteht. Weibliche Versicherte und die nicht ver¬ sicherten Ehefrauen versicherter Männer haben auf Mutterschafts¬ unterstützung Anspruch. In Großbritannien werden außerdem freie Arzthilfe und Heilmittel gewährt. In Irland sind diese Leistungen nicht obligatorisch, aber die anerkannten Vereine können sie als „Zusatzunterstützungen“ einführen. In den ersten 26 Bezugswochen wird die Geldunterstützung als Krankengeld und weiterhin wird sie als Invalidengeld bezeichnet. Die Gewährung von Kranken- und Invalidengeld obliegt den anerkannten Vereinen oder den Postanstalten, die Gewährung von Arzthilfe, Heilmitteln und Anstaltsbehandlung hingegen den örtlichen Versicherungs¬ ausschüssen. Jede erwerbsunfähige versicherte Person hat also gleichzeitig mit zwei Organen der Versicherung zu tun.

Das Höchstausmaß der Geldunterstützung beträgt für männ¬ liche Personen im A 1 1 e r von 21 Jahren aufwärts und für männliche Jugendliche, die verheiratet sind oder Angehörige zu versorgen haben, 10 Schilling (ebensoviel Mark) in der Woche, für erwachsene weibliche Personen und weibliche Jugendliche, die ver¬ heiratet sind oder Angehörige zu versorgen haben, Schilling in der Woche. Diese Unterstützungsbeträge werden 26 Wochen lang gezahlt; bei längerer Dauer der Erwerbsunfähigkeit erhalten die eben erwähnten Personen ohne Unterschied des Geschlechts wöchentlich 5 Schilling.

406

H. Fehlinger,

Unverheiratete männliche Minderjährige, die keine An¬ gehörigen zu versorgen haben, erhalten in den ersten 13 Wochen je 6 Schilling, dann 5 Schilling; unverheiratete weibliche Minder¬ jährige erhalten in den ersten 13 Wochen je 5 Schilling und hierauf 4 Schilling wöchentlich.

Die Personen, die nach Ablauf des ersten Jahres der Geltung des Gesetzes zum erstenmal versicherungspflichtig werden, aber beim Eintritt der Versicherungspflicht schon über 17 Jahre alt sind, erhalten in den ersten 26 Wochen der Erwerbsunfähigkeit eine verkürzte Unterstützung, die erst von den Versicherungs¬ ämtern festzusetzen ist, keinesfalls aber weniger als 5 Schilling in der Woche betragen darf. Um eine höhere Unterstützung zu be¬ kommen, kann die betreffende Person verlangen, daß ihr Beitritt vom Tage der Vollendung ihres 17. Lebensjahres datiert wird, und daß die zwischen diesem Tag und dem Tag des tatsächlichen Eintritts in die Versicherung liegenden Wochen als E es t wo che n behandelt werden (s. S. 408). Nicht in ihrem Unterstützungsbezug verkürzt werden jene Personen, die den Nachweis erbringen, daß sie die Zeit zwischen der Vollendung ihres 17. Lebensjahrs und dem Eintritt der Versicherungspflicht in der Schule oder sonst mit ihrer Ausbildung verbrachten, oder die selbst die Differenz zwischen dem Beitrag für obligatorische und für freiwillige Versicherung daraufzahlen, oder die beim Versicherungsamt eine Summe hinter¬ legen, die hinreicht, um ihnen die volle Unterstützung gewähren zu können.

Jedem, der mit den britischen Verhältnissen nicht vertraut ist, werden die eben erwähnten Bestimmungen unerklärlich, wenn schon nicht unsinnig, erscheinen. Die Benachteiligung defl Personen, die erst nach Vollendung des 17. Jahres versicherungs¬ pflichtig werden soll gegen die Massenfaulenzerei der Jugend¬ lichen ankämpfen helfen; ihren Zweck wird sie freilich kaum er¬ füllen und die jungen Leute werden, wie bisher, sehr häufig zwischen dem Schulaustritt und dem Beginn des Erwerbslebens ein paar Jahre süßen Nichtstuns einschalten. Schuld darin ist hauptsächlich, daß die Berufslehre spät beginnt, so daß die 14- und 15jährigen Knaben förmlich zum Faulenzen und dem nahe¬ verwandten Straßenhandel, wie ähnlichen Beschäftigungsarten, ge¬ zwungen werden. Dabei kommen sie nur allzuoft auf die schiefe Bahn, die unaufhaltsam abwärts führt und schließlich im „Arbeits¬ haus“ endet.

Bei den gegenwärtigen Zuständen wirkt das Hinausschieben

Die Erwerbsimfäkigenversicheruiig in Großbritannien und Irland. 407

der Möglichkeit regelmäßiger Beschäftigung verderblich. Schöne Reden über das Fernhalten schwacher Jungen von anhaltender und anstrengender Arbeit nutzen nichts, und man kann den armen Eltern nicht zumuten, daß sie die Lasten der Schule bis etwa zum 16. oder 17. Lebensjahr tragen.

Die Bestimmungen über Daraufzahlen der Differenz zwischen den Beiträgen für obligatorische und freiwillige Versicherung und über Hinterlegung von Geldsummen beziehen sich hauptsächlich auf alte Leute.

Für Personen, die im ersten Jahre der Geltung des Gesetzes versicherungspflichtig wurden, aber bereits über 50 Jahre alt waren und vor der Erkrankung noch nicht mindestens 500 Wochenbeiträge gezahlt hatten, gelten folgende Unterstützungssätze: Beim Eintritt in die Versicherung über 50 60 Jahre alt gewesene Männer bekommen in den ersten 26 Wochen der Erwerbsunfähigkeit je 7 Schilling und dann 5 Schilling. Frauen, bei welchen dieselben Verhältnisse zutreffen, haben in den ersten 26 Wochen auf je 6 Schilling und dann auf 5 Schilling Anspruch. Beim Eintritt in die Versicherung über 60 Jahre alte Personen beiderlei Geschlechts werden in den ersten 13 Wochen je 6 Schilling und dann 5 Schilling in der Woche gezahlt.

Das Krankengeld wird vom vierten Tag der Erwerbsunfähig¬ keit an gewährt.

Wiederholte Erkrankung einer versicherten Person im Verlauf von zwölf aufeinander folgenden Monaten wird für den Zweck der Feststellung der Unterstützungsberechtigung und des Unterstützungsausmaßes als ein Krankheitsfall betrachtet, auch wenn die Art der Krankheit jedesmal eine andere ist. Diese Vor¬ schrift bewirkt, daß chronisch kranke Personen vielfach nur einmal auf das Höchstausmaß der Unterstützung Anrecht haben werden und bei allen folgenden Erkrankungen immer nur 5 Schilling in der Woche bekommen.

In keinem Fall darf das Unterstützungsausmaß einer ver¬ sicherten Person mehr als zwei Drittel ihres gewöhnlichen Lohnes betragen.

Wenn eine versicherte Person Unfallentschädigung be¬ zieht, deren wöchentliches Ausmaß dem des Kranken- oder Invaliden¬ geldes gleichkommt oder höher als dieses ist, so hat die betreffende Person auf Kranken- oder Invalidengeld keinen Anspruch; ist das Ausmaß der Unfallunterstützung geringer, so haben die anerkannten Vereine oder die Postanstalten die Differenz daraufzuzahlen.

408

H. Feklinger,

Sehr nachteilig für die nicht ständig beschäftigten Arbeiter sind die Vorschriften über Beitragsreste. Wenn eine ver¬ sicherte Person nicht mindestens 49 Wochenbeiträge im Jahres¬ durchschnitt entrichtet hat, so wird ihr nämlich der Unterstützungs¬ anspruch verkürzt. Wenn die durchschnittliche Zahl der Beitrags¬ reste 4 13 beträgt, so wird entweder das Unterstützungsausmaß bei männlichen Personen um je 1/2 Schilling und bei weiblichen Personen um je */4 Schilling pro Beitragsrest herabgesetzt, um welchen die Zahl der Reste drei übersteigt, oder es wird der Be¬ ginn des Unterstützungsbezuges um je einen Tag pro Beitragsrest hinausgeschoben.

Versicherte Personen, die mehr als 13 Beitragsreste pro Jahr aufweisen, erhalten keine Geldunterstützung, und bei mehr als 26 Beitragsresten pro Jahr erlischt auch der Anspruch auf alle anderen Unterstützungen. Doch sind diese Personen, solange sie in Arbeit stehen, zur Beitragsleistung verpflichtet.

Nicht gerechnet werden die während der Krankheit oder Invalidität entstandenen Beitragsreste. Wenn Beitragsreste zurück¬ gezahlt werden und im Verlaufe eines Monats bei der betreffenden Person Arbeitsunfähigkeit eintritt, so gelten die Reste als noch nicht bezahlt.

Die Masse der „Gelegenheitsarbeiter“, die es in Großbritannien überall gibt, nicht nur in den großen Industriestädten, ist zweifellos weniger als 39 Wochen im Jahr beschäftigt. Ihnen kommt das neue Gesetz so gut wie gar nicht zustatten.

Als Mutterschaftsunterstützung erhalten Wöchnerinnen einen Beitrag von 30 Schilling zu den Kosten der Geburtshilfe. Versicherten Ehefrauen wird nach der Entbindung überdies die gewöhnliche Erwerbsunfähigenunterstützung gezahlt. Unverheiratete weibliche Personen können erst vier Wochen nach der Entbindung Erwerbsunfähigenunterstützung beziehen. In einer Zeit, da fast allgemein die Notwendigkeit des Schutzes der unehelichen Mütter und ihrer Kinder anerkannt wird, ist diese Ausnahmegesetzgebung gegen die unehelichen Mütter ungerechtfertigt , und es ist un¬ begreiflich, daß die Gesetzgeber sich den Wünschen gewisser Sitt¬ lichkeitsapostel unterordneten.

Für weibliche Personen, die durch Eheschließung und Aufgabe der versicherungspflichtigen Beschäftigung aus der Ver¬ sicherungspflicht ausscheiden, sind besondere Bestimmungen ge¬ troffen. Sie können ohne weitere Bedingung in die freiwillige Ver¬ sicherung eintreten und haben gegen Zahlung eines Wochenbeitrags

Die Erwerbsunfähi gen Versicherung in Großbritannien und Irland. 409

von 3 d (25 Pf.) Anspruch auf freie Arzthilfe, Heilmittel und Geld¬ unterstützung von 5 Schilling in den ersten dreizehn Wochen und 3 Schilling während der weiteren Dauer der Krankheit oder Invalidität. Ehefrauen, die sich nicht innerhalb eines Monats nach Auf hören der obligatorischen zur freiwilligen Versicherung melden, können später die freiwillige Versicherung nicht mehr eingehen. Doch werden ihnen zwei Drittel des auf sie treffenden „Reserve¬ wertes“ (s. S. 405) gutgeschrieben und sie haben so lange auf Ent¬ bindungsbeiträge und Erwerbsunfähigenunterstützung Anspruch, bis ihr Guthaben erschöpft ist.

Verheiratete Frauen können nur in der oben bezeichneten Weise die freiwillige Versicherung eingehen; Frauen, die vorher nicht in einer versicherungspflichtigen Beschäftigung tätig waren, werden als freiwillige Mitglieder nicht aufgenommen und weibliche Personen, die vor der Eheschließung freiwillig versichert waren, scheiden durch die Eheschließung aus der Versicherung aus. Diese Vorschriften werden die Durchführung der Versicherung ungemein umständlich machen und vom Standpunkt der sozialen Hygiene sind sie zu verwerfen.

Solange eine versicherte Person in einem Krankenhaus, Irren¬ haus, Asyl, Rekonvaleszentenheim oder Armenhaus untergebracht ist, erhält sie keine Kranken- oder Invalidenunterstützung; dabei ist es gleichgültig, ob die Anstalt aus öffentlichen oder privaten Mitteln erhalten wird. Die Beträge, die sonst an Kranken- oder Invalidengeld zu zahlen gewesen wären, sind ganz oder teilweise zur Unterstützung von Angehörigen der in der Anstalt befind¬ lichen Person zu verwenden; hat die Person keine bedürftigen Angehörigen, so fließen die Gelder der betreffenden Anstalt oder dem örtlichen Versicherungsausschuß zu.

Personen, die nicht britische Untertanen sind, dürfen von den anerkannten Versicherungsvereinen als Mitglieder auf¬ genommen werden. (Im Entwurf des Gesetzes war die Aufnahme von Ausländern verboten.) Doch darf ihnen nur eine verkürzte Unterstützung gezahlt werden, und zwar männlichen Per¬ sonen sieben Neuntel und weiblichen Personen drei Viertel der für Inländer gültigen Unterstützungssätze. Von den Staatszuschüssen darf kein Teil verwendet werden, um Ausländern Arzthilfe, Heil¬ mittel oder Anstaltsbehandlung zu gewähren. Jeder anerkannte Verein, der Ausländer aufnimmt, hat nach Ablauf jedes Jahres den örtlichen Versicherungsausschüssen die von ihnen für Aus¬ länder ausgegebenen Beträge voll zurückzuerstatten. „Reserve-

410

H. Feklinger,

werte“ werden den Ausländern nicht gutgeschrieben. Die Sonder¬ vorschriften über Ausländer würden die anerkannten Vereine nötigen, über inländische und ausländische Mitglieder gesondert Buch zu führen. Es ist unwahrscheinlich, daß sie sich dieser Mühe unter¬ ziehen und in der Praxis werden die Ausländer auf die Post¬ versicherung (S. 412) angewiesen sein. So wollte es doch Herr David Lloyd George auch! Witwen und geschiedene Frauen von Ausländern, die vor ihrer Verehelichung britische Untertaninnen waren, gelten als solche für die Zwecke des Gesetzes.

Aktive Angehörige der Armee und Marine erhalten keine Unterstützungen auf Grund dieses Gesetzes, abgesehen davon, daß ihre Frauen auf Mutterschaftsunterstützung Anspruch haben. Vom Sold jedes Mannes wird ein Betrag von lx/2 d pro Woche ab¬ gezogen und den gleichen Betrag schießt die Militär- oder Marine¬ verwaltung zu. Die auf diese Weise aufgebrachten Geldmittel werden zum Teil beim Dienstaustritt oder Übertritt in die Reserve den betreffenden Personen als „Transferierungswerte“ (S. 413) gut¬ geschrieben und zum Teil zur Bildung von Reservewerten sowie zur Schaffung eines „Armee- und Marineversicherungsfonds“ ver¬ wendet; aus diesem Fond werden alle jene ehemaligen Angehörigen der Armee und Marine unterstützt, die wegen ihres Gesundheits¬ zustandes von keinem anerkannten Verein aufgenommen werden (bei der Postversicherung aber nur ganz geringfügige Unter¬ stützungen erhalten würden). Der Armee- und Marineversicherungs¬ fond zahlt dieselben Unterstützungen wie die anerkannten Ver¬ eine und zwei Neuntel seiner Ausgaben trägt der Staat.

Die Organe der Erwerbsunfähigen Versicherung sind:

1. Die anerkannten Vereine;

2. die Postämter;

3. die örtlichen Versicherungsausschüsse;

4. die Landesversicherungsämter;

5. das Reichsversicherungsamt.

Jeder Verein, dessen Statuten den Vorschriften des Gesetzes entsprechen, kann zum Zweck der Beteiligung an der Versicherung von den Versicherungsämtern anerkannt werden. Die Vereine können für die Zwecke der Versicherung auch besondere Sektionen ein¬ richten; in diesem Fall gelten die Bestimmungen des Gesetzes nicht für den ganzen Verein, sondern nur für seine Versicherungs¬ sektion. Damit sollte namentlich den Gewerkschaften ein Gefallen

Die Erwerbsunfähigen Versicherung in Großbritannien und Irland. 411

getan und vermieden werden, daß sie ihre ganze Gebarung der Regierungsaufsicht unterstellen müssen, falls sie sich an der Durch¬ führung des Gesetzes beteiligen wollen. Andererseits wurde damit den geschäftsmäßigen Versicherungsunternehmungen die Teilnahme an der Durchführung der Arbeiterversicherung ermöglicht; denn die erste Bedingung der Anerkennung ist, daß ein Verein oder die Arbeiterversicherungssektion eines Vereines nicht um Ge¬ winn tätig sein darf.

Die Angelegenheiten eines anerkannten Vereines müssen der uneingeschränkten Kontrolle seiner Mitglieder, soweit sie versicherte Personen sind, unterstehen. Die Mitglieder, oder von ihnen be¬ stimmte Delegierte, erwählen den Vereinsvorstand. Nur hinsicht¬ lich der Betriebskassen, für deren Solvenz der Unternehmer garan¬ tiert, läßt das Gesetz eine Ausnahme zu: Ein Viertel der Vor¬ standsstimmen dieser Kassen hat der Unternehmer.

Die Mitgliedschaft bei einer Betriebskasse darf nicht zur Be¬ dingung der Aufnahme in die Arbeit gemacht werden. Jedem Mitglied einer Betriebskasse muß der Übertritt in einen anderen anerkannten Verein freistehen. Die Betriebskasse ist verpflichtet, jede aus dem Betrieb ausscheidende versicherungspflichtige Person, die wegen ihres Gesundheitszustandes von keinem anderen aner¬ kannten Verein aufgenommen wird, weiterhin als Mitglied zu be¬ halten.

Hiervon abgesehen, steht den anerkannten Vereinen die Wahl ihrer Mitglieder vollkommen frei. Jeder anerkannte Verein ist berechtigt, in Gemäßheit mit sein en Vorschriften Mitgliedschafts¬ kandidaten aufzunehmen oder abzuweisen und Mitglieder auszu¬ schließen. Nur wegen des Alters allein darf kein Mitgliedschafts¬ kandidat abgewiesen werden. Die Folge davon wird sein, daß die großen Hilfsgesellschaften (Friendly Societies), die für die Aufnahme von Mitgliedern ärztliche Gesundheitszeugnisse vorschreiben, alle schlechten Risiken ab weisen. Zu häufiger Erkrankung neigende Personen werden den Gewerkschaften zufallen, soweit nicht auch diese die ärztliche Untersuchung vorschreiben, oder sie müssen sich der Postversicherung anschließen und mit all deren Nachteilen zufrieden sein.

Doppelversicherung ist verboten. Jede versicherungspflichtige Person darf nur einem anerkannten Verein oder der Postversiche¬ rung angehören. Da bisher ein großer Teil wohl die Mehrzahl der Gewerkschaftsmitglieder auch Hilfsgesellschaften angehörten, so müssen sie aus einer der beiden Organisationen ausscheiden. Eine

412

«

H. Fehlinger,

Ausnahme findet nur dann statt, wenn eine der beiden Organisa¬ tionen nicht selbst die Anerkennung als Versieh erungsverein er¬ langte, sondern eine Versiclierungssektion bildete, was die bisher „anerkannten“ Gewerkschaften zumeist taten. Die großen Hilfs¬ gesellschaften sind dagegen alle direkt anerkannt, sie haben keine besonderen Sektionen ins Leben gerufen.

Wenn es ihre Finanzlage zuläßt, so können die anerkannten Vereine außer den hier angegebenen Mindestleistungen noch ge¬ wisse Zusatzunterstützungen einführen. Mit Genehmigung des zu¬ ständigen Versicherungsamts können die Vereine die Kranken- und Invalidenunterstützung anders gestalten, als im Gesetz vor¬ geschrieben ist, und sie können auch eine oder beide dieser Unter¬ stützungsarten ganz fallen lassen und dafür Leistungen einführen, die sonst als Zusatzunterstützungen gelten. Die Vereine sind be¬ fugt, wegen Vergehens gegen ihre Satzungen Geldstrafen zu ver¬ hängen, die für das erste Vergehen 10 Schilling und für wieder¬ holte Vergehen 20 Schilling nicht übersteigen dürfen, oder die Mitglieder bis zur Dauer eines Jahres von allen oder gewissen Unterstützungen auszuschließen. Kein Mitglied darf bestraft werden, weil es sich weigert, eine chirurgische Operation oder die Impfung an sich vornehmen zu lassen. Die Krankenkontrolle haben die Vereine selbst zu regeln, doch dürfen weibliche Mitglieder nur durch weibliche Personen kontrolliert werden.

Versicherungspflichtige Personen, die von keinem anerkannten Verein aufgenommen werden, oder die einem solchen Verein nicht beitreten wollen, müssen die Versicherung durch ein Post¬ amt bewerkstelligen. Ihre Beiträge fließen in einen besonderen Fond, der als „Postamtsfond“ bezeichnet wird. Jeder Postver¬ sicherte kann nur so viel Unterstützung erhalten, als sein eigenes Beitragsguthaben beträgt; bei britischen Untertanen kommt hierzu der Staatszuschuß. Die Gewährung ärztlicher Hilfe und die Ab¬ gabe von Heilmitteln darf jedoch keinem Postversicherten im Laufe eines Verwaltungsjahres eingestellt werden; das ist nur am Jahres¬ schluß zulässig. Von den Beitragsguthaben dieser Versicherten werden alljährlich bestimmte Abzüge für Ärztehonorar, Heilmittel und Verwaltungskosten gemacht. Wenn nach Vornahme der Ab¬ züge kein hinreichendes Guthaben verbleibt, so ist die betreffende Person während des ganzen Jahres zu keiner Unterstützung be¬ rechtigt. Die örtlichen Versicherungsausschüsse können Ausnahmen von dieser Regel gestatten.

Beim Ableben eines Postversicherten erhalten seine Erben das

Die Erwerbsunfähigenversicherung in Großbritannien und Irland. 413

aus seinem Beitragsanteil stammende Guthaben ausbezahlt. Das aus den Unternelimerbeiträgen stammende Guthaben wird zurück¬ behalten.

Die Bestimmungen über die Postversicherung gelten nur bis zum 1. Januar 1915. Was dann an ihre Stelle treten soll, ist noch unentschieden. Im Gesetzentwurf war die Postversicherung als dauernde Einrichtung gedacht.

Beim Übertritt eines Versicherten von der Postversicherung in einen anerkannten Verein, oder umgekehrt, oder von einem an¬ erkannten Verein in einen anderen, wird auch ein Geldbetrag über¬ wiesen, der als „Transferier ungs wert“ bezeichnet wird. Die Berechnung des Transferierungswertes geschieht auf Grund von Tabellen, welche das Reichsversicherungsamt aufstellt.

Für jeden Verwaltungsbezirk wird ein Versicherungs¬ ausschuß eingesetzt, der aus 40—80 Mitgliedern besteht. Drei Fünftel der Mitglieder werden von dem zuständigen Landesver¬ sicherungsamt als Vertreter der versicherten Personen des Bezirkes ernannt. Die anerkannten Vereine und etwa be¬ stehende Organisationen der Postversicherten haben das Recht, dem Versicherungsamt die Personen vorzuschlagen, welche die Ver¬ sicherten vertreten. Ein Fünftel der Mitglieder ernennt der Be¬ zirksrat. Zwei Mitglieder werden von den Ärzten des Bezirkes, oder wenn sie eine Organisation haben, von ihrer Organisation gewählt; dazu kommen noch 1 3 ärztliche Mitglieder, welche der Bezirksrat ernennt. Die übrigen Mitglieder werden gleichfalls vom Landesversicherungsamt ernannt; davon müssen mindestens zwei Mitglieder Frauen und mindestens ein Mitglied muß Arzt sein. Unter den vom Bezirksrat ernannten Mitgliedern müssen ebenfalls mindestens zwei Frauen sein. Wenn die Bezirksräte zu den Kosten der Arzthilfe und Heilmittel, oder der Anstaltsbehandlung, Beiträge leisten, so steigt die Zahl ihrer Vertreter im Versicherungsausschuß und die Vertretung der versicherten Personen wird entsprechend vermindert. In Bezirken, wo es erforderlich ist, sind Subkomitees der Versicherungsausschüsse einzusetzen, deren Zusammensetzung durch Verordnung des Versicherungsamtes bestimmt wird.

Den Versicherungsausschüssen obliegt vor allem die Gewährung von Arzthilfe, Heilmitteln und Anstaltsbehandlung.

Jeder Versicherungsausschuß hat eine Liste der Ärzte zu ver¬ öffentlichen, die sich zur Behandlung versicherter Personen bereit erklärten. Jeder qualifizierte Arzt ist berechtigt, in die Liste auf-

Archiv für Soziale Hygiene. VII. 27

414

/

H. Fehlinger,

genommen zu werden1). Aber wenn das Versicherungsamt findet, daß die Beibehaltung eines Arztes für die Versicherten nachteilig wäre, so wird er von der Liste gestrichen. Jeder Versicherte hat das Recht, sich den Arzt zu wählen, von dem er behandelt werden will; der Arzt kann ebenso die Behandlung jedes Versicherten ab¬ lehnen. Ein Wechsel des Arztes ist nur zu den vorgeschriebenen Zeitpunkten gestattet. In der Zwischenzeit muß sich der Ver¬ sicherte von dem Arzt behandeln lassen, den er aus der Liste wählte.

Jene Versicherten, die sich selbst keinen Arzt wählten, werden von den Versicherungsausschüssen bestimmten Ärzten zugewiesen, ebenso jene, deren Behandlung der auserwählte Arzt ablehnt.

Wenn das Versicherungsamt meint, daß die in eine Liste auf¬ genommenen Ärzte keinen zureichenden ärztlichen Dienst gewähr¬ leisten, so kann es den Versicherungsausschuß veranlassen, daß für den betreffenden Bezirk von der Regel abgegangen und auf andere Weise für entsprechende ärztliche Hilfe gesorgt wird. In solchen Fällen kann auch das Recht der Versicherten auf ärztliche Be¬ handlung aufgehoben werden.

Durch Verordnung des Versicherungsamtes können Personen, deren Einkommen eine gewisse (örtlich verschiedene) Grenze über¬ steigt, von der Gewährung freier Arzthilfe ausgenommen werden; auch kann Versicherten durch Anordnung des Versicherungsamtes gestattet werden, sich auf eigene Kosten ärztliche Hilfe und Heil¬ mittel zu beschaffen.

Jeder Versicherungsausschuß hat Vorkehrungen zur Beschaffung geeigneter und genügender Drogen, Medikamente und sonstiger vorgeschriebener Heilmittel zu treffen, und zwar wird für jeden Bezirk eine Liste der Personen oder Körperschaften aufgestellt, welche die Heilmittel auf ärztliche Verschreibung an die ver-

L Wegen der Festsetzung des Ärztehonorars kam es zwischen der British Medical Association und Herrn David Lloyd George zum Konflikt. Der Finanz¬ minister bot den Ärzten für Behandlung und Beschaffung von Medikamenten 6 Schilling pro Person und Jahr, während die British Medical Association 11 V2 Schilling forderte. Der Finanzminister schätzte im Lauf der Verhandlungen den Honorarsatz auf 8 ]/2 Schilling, wovon 6 l/2 Schilling auf die Behandlung und der Rest auf Medikamente entfallen. Als die Ärzte damit noch nicht zufrieden waren, wurde ihnen die Einrichtung eines amtsärztlichen Versicherungsdienstes in Aussicht gestellt. Daraufhin empfahl anfangs November die B.M.A. die ver¬ suchsweise Annahme der Bedingungen der Regierung. Es ist kaum zweifel¬ haft, daß die ärztlichen Bezirksversammlungen diesen Vorschlag annehmen werden.

Die Erwerbsunfähigen Versicherung- in Großbritannien und Irland. 415

sicherten Personen zu den vom Versicherungsausschuß festgesetzten Preisen liefern. Jede Firma, Person usw., welche die fraglichen Mittel zum Verkauf hat, ist zur Aufnahme in die Liste berechtigt; die Streichung kann wegen unbefriedigender Leistung erfolgen. In keiner Weise darf aber gegen die Vorrechte verstoßen werden, die durch die Gesetze von 1815 (!), 1868 und 1908 den Apothekern eingeräumt wurden.

Zum Zwecke der Anstaltsbehandlung versicherter Personen haben die Versicherungsausschüsse mit Anstalten, Personen und Lokalbehörden ausgenommen den Armenbehörden Ab¬ machungen zu treffen. Die Anstaltsbehandlung kann auf An¬ gehörige der versicherten Personen ausgedehnt werden; die Ver¬ sicherungsausschüsse sind dabei nur insoweit an die Zustimmung des Versicherungsamtes gebunden, als die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel nicht hinreichen und Zuschüsse für die Anstalts¬ behandlung der Angehörigen verlangt werden.

Die Versicherungsausschüsse haben vom Versicherungsamt im Einvernehmen mit dem Lokalverwaltungsamt vorgeschriebene Be¬ richte über die Gesundheitsverhältnisse der versicherten Personen ihrer Bezirke zu erstatten und von ihnen verlangte statistische Erhebungen usw. durchzuführen. Außerdem haben sie über Ge¬ sundheitsfragen Vorträge zu veranstalten und Schriften zu ver¬ öffentlichen, wobei sie gemeinsam mit Universitäten, lokalen Unter¬ richtsbehörden usw. Vorgehen können.

Wenn eine versicherte Person von einem Unfall betroffen wird und nicht selbst ein Verfahren zur Erlangung von Entschädigung einleitet, so hat dies der Versicherungsausschuß zu tun. Die Ver¬ sicherungsausschüsse haben ferner Bezirkspfleger zu ernennen, welche die versicherten Personen besuchen. Diesen Ausschüssen obliegt auch die Verwaltung der Fonds der Postversicherung.

Zur Bestreitung der Anstaltsbehandlung, die vorläufig auf Tuberkulöse beschränkt ist, erhalten die Versicherungsausschüsse für jede versicherte Person 1 Schilling 4 Pence im Jahr. Jeder anerkannte Verein kann mit jedem ‘Versicherungsausschuß über die Höhe der Arzt- und Heilmittelkosten besondere Abmachungen treffen. (Nachdem den Ärzten auf ihr Verlangen ein einheitlicher Honorarsatz zugestanden wurde, ist diese Bestimmung wohl als gegenstandslos zu betrachten. Durch sie wäre die Verwaltung kompliziert gemacht worden und die rein bureaukratische Tätig¬ keit hätte die Oberhand gewonnen.) Für die administrativen Aus-

27*

416

H. Fehlinger,

lagen erhält jeder Versicherungsausschuß von jeder versicherten Person seines Bezirks 1—2 d pro Jahr.

Die Versicherungsausschüsse ebenso wie die anerkannten Vereine sind berechtigt, bei außergewöhnlich hoher Er- krankungshäufigkeitErsatz der Mehrkosten der Ver¬ sicherung von jenen Personen, Korporationen usw. zu fordern, die nach ihrer Meinung an der gesteigerten Erkrankungshäufigkeit die Schuld tragen. Kommt es zwischen dem Versicherungsorgan, das die Anschuldigung erhebt, und der vermeintlich schuldigen Person, Korporation usw. zu keiner Einigung was wohl die Regel sein wird so kann sich das Versicherungsorgan an den Staatssekretär (des Innern ?) oder an das Lokal verwaltungsamt mit dem Ersuchen um Vornahme einer öffentlichen Erhebung über die Angelegenheit wenden. Die erwähnten Ministerien können dem Verlangen entsprechen, doch sind sie in keiner Weise ge¬ bunden. W enn eine Erhebung stattfindet, und wenn es sich dabei herausstellt, daß in den drei vorausgegangenen Jahren, oder beim Ausbruch einer Epidemie während irgendeines kürzeren Zeit¬ abschnittes, die Erkrankungshäufigkeit um mehr als 10 Proz. höher war als die normalerweise zu erwartende, und daß diese gesteigerte Erkrankungshäufigkeit auf das Verschulden von Unternehmern, Hausbesitzern, Wasserversorgungsanstalten usw. zurückzuführen ist, so haben die betreffenden Personen, Korporationen usw. die von dem Versicherungsausschuß oder anerkannten Verein geforderten Mehrkosten der Versicherung zu zahlen. Nach dem Wortlaut des Gesetzes ist es zweifellos, daß auch Behörden, die ihre Pflichten auf dem Gebiet der öffentlichen Gesundheitspflege nicht ganz er¬ füllen, zum Ersatz der Kosten gesteigerter Erkrankungshäufigkeit verhalten werden können. Freilich werden sich die zuständigen Behörden nicht allzuleicht zur Vornahme der entscheidenden öffent¬ lichen Erhebungen herbeilassen, denn solche Veranstaltungen sind in Großbritannien gar kostspielig.

Für England, Wales, Schottland und Irland besteht je ein Landesversicherungsamt, dem die Verwaltung des Ver¬ sicherungsfonds und die Erledigung aller jener Verwaltungs¬ angelegenheiten obliegt, die nur das eine Land betreffen. Vor¬ schriften über die Zusammensetzung der Landesversicherungsämter enthält das Gesetz nicht; es bestimmt nur, daß ihre Mitglieder vom Finanzminister ernannt werden. Das englische Landes-

Die Erwerbsunfäkigenversicherung in Großbritannien und Irland. 417

versicherungsamt bestellt aus acht Mitgliedern, die drei anderen Landesversicherungsämter haben nur fünf Mitglieder, einschließlich des als Sekretär fungierenden Hauptregistrars der Hilfsgesell¬ schaften. Jedem Landes versicherungsamt gehört ein Arzt an und nur unter den Mitgliedern des Landes Versicherungsamts für Wales befindet sich keine Dame.

Jedes Versicherungsamt ernennt alle Beamten und Diener, die zur Durchführung des Gesetzes erforderlich sind. Außerdem ernennt sich jedes Versicherungsamt einen Beirat, der aus Ver¬ tretern der anerkannten Vereine und der Unternehmerverbände, qualifizierten Ärzten, mindestens zwei Frauen und anderen Mit¬ gliedern besteht. Diesen Beiräten widmet das Gesetz neun Zeilen. Ihr Einfluß wird entsprechend sein!

Das Reichsversicherungsamt besteht aus Mitgliedern der Landesversicherungsämter und nicht mehr als drei anderen Personen, wovon eine der Vorsitzende ist. Die Ernennungen er¬ folgen durch den Finanzminister. Das Reichsversicherungsamt ist nur in versicherungstechnischen Fragen und solchen anderen An¬ gelegenheiten zuständig, bei welchen „Einheitlichkeit der Praxis im ganzen Königreich als wesentlich betrachtet wird“. In Sachen, wo nicht absolute Einheitlichkeit, wohl aber eine gewisse Über¬ einstimmung erforderlich ist, entscheidet das Reichsversicherungs¬ amt gemeinsam mit den Landesversicherungsämtern. Auch das Reichsversicherungsamt hat seinen besonderen „Beirat“.

Streitigkeiten zwischen den Versicherten und den anerkannten Vereinen sind in erster Linie in Gemäßheit mit den statutarischen Bestimmungen der Vereine zu schlichten, doch ist Berufung an das Landesversicherungsamt zulässig. Streitigkeiten zwischen den Versicherten und den lokalen Versicherungsausschüssen werden vom Landesversicherungsamt ausgetragen, das zu diesem Zweck Schieds¬ richter ernennt.

Wer durch wissentlich falsche Angaben für sich oder eine andere Person eine Leistung auf Grund des Gesetzes zu erlangen sucht, wird im summarischen Verfahren mit Gefängnis bis zu drei Monaten, mit oder ohne Zwangsarbeit, bestraft. Bei anderen Vergehen gegen das Versicherungsgesetz, sowie die dazugehörigen Durch¬ führungsvorschriften und Verordnungen, ist die Höchststrafe eine Geldbuße von 10 £ (200 M.). Wie bereits bemerkt, können über¬ dies die anerkannten Vereine empfindliche Strafen gegen ihre Mit¬ glieder verhängen.

418 H. Fehlinger, Die Erwerbsunfähigenversicherung in Großbritannien u. Irland.

Es ist nicht zweifelhaft, daß das Gesetz geeignet ist, die Volksgesundheit ganz bedeutend zu fördern und das materielle Elend in Krankheits- und Invaliditätsfällen zu mildern. Aber es enthält Härten, die weder vom Standpunkt der Sozialhygiene noch der Sozialpolitik berechtigt sind. Überdies ist der Verwaltungs¬ apparat zu kompliziert und die Verwaltungskosten werden trotz der Übernahme eines Teils der Geschäfte durch die Hilfsgesell¬ schaften und andere Vereine ungebührlich hoch sein.

c

Die Entwicklung der Stadt Perleberg in be völ kcr un gsstatis ti scher und sanitärer Beziehung.

Von Stadtsekretär Unger, Perleberg.

Der moderne Wettstreit der Städte um den Ruhm, eine be¬ sondere Stadt in mannigfacher Beziehung zu sein, läßt leider häufig den wichtigsten Punkt in den Hintergrund treten, die Stadt¬ hygiene, überhaupt die Gesundheitsverhältnisse. Wollte man einmal in dieser Beziehung „sieben“, da würde gar manche sonst hoch- berühmte Stadt hinter vielen weniger bekannten Städten zurück¬ stehen. Das Bestreben, die „Perle der Prignitz“, das Städtchen Perleberg, eingehender zu studieren, hat mir solch erfreuliche Resultate in bevölkerungsstatistischer wie sanitärer Beziehung ge¬ bracht, daß ich glaube, weitere Kreise dafür interessieren zu dürfen.

Perleberg ist eine Stadt von noch nicht ganz 10000 Ein¬ wohnern, liegt inmitten prachtvoller Waldungen im Herzen der Prignitz. Fast jedes Haus hat seinen Garten; überall sind freie Plätze, die durch gärtnerischen Schmuck zu Anlagen nmgewandelt sind. Ein klares, gesundes Flüßchen, das die Stadt in 2 Armen durchfließt, bringt malerische Szenerien. Viele Straßen sind mit Bäumen bepflanzt. Sucht man nach rauchenden Schloten nur wenige davon findet man, die sich bescheiden, fast möchte man sagen: beschämt ihres Wölkchens Rauch entledigen. Das ist der Boden zu meinen Untersuchungen, die nun verständlicher sein werden. Perleberg ist eine der Städte, die schon seit 1874 die obligatorische ärztliche Leichenschau hat und in den sorgfältig aufbewahrten Totenscheinen einen kostbaren Schatz besitzt. Dies ist neben den standesamtlichen Unterlagen sowie den Verwaltungs¬ berichten des Magistrats die Quelle, aus der ich schöpfte.

420

Unger,

Meine Untersuchungen umfassen den Zeitraum von 1875 bis 1911; sie auf frühere Zeiten auszudehnen, hielt ich nicht für nötig, da einerseits erst seit dem Inkrafttreten des Personenstands¬ gesetzes wirklich zuverlässige Grundlagen über die Bevölkerungs¬ verhältnisse vorhanden sind, andererseits alle Einrichtungen auf hygienischem Gebiete, die irgendwie entscheidend auf die Sterb¬ lichkeit der Einwohner einwirken könnten, den letzten Dezennien an gehören.

Die Einwohnerzahl Perlebergs betrug nach den Volks¬ zählungen in den Jahren:

1875 = 7587 1880 = 7673 1885 = 7698 1890 = 7565

1895 = 8180 1900 = 8456 1905 = 9502 1910 = 9665

In 35 Jahren ist die Einwohnerzahl Perlebergs hiernach um 21,5 Proz. gestiegen.

Die Zahl der

Geburten

ergab im 5jährigen Durchschnitt folgendes:

Auf 1000 Einwohner kamen an Geburten

in den

Jahren

in Perleberg

in Preußen

1875-

-1880

31,0

41,0

1881-

-1885

31,2

38,9

1886-

-1890

30,3

38,7

1891-

-1895

26,9

38,2

1896-

-1900

27,4

37,7

1901-

-1905

27,2

36,0

1906-

-1910

26,3

33,3.

In die allgemeine Klage über einen Rückgang der Geburten¬ ziffer müssen wohl oder übel auch wir Perleberger einstimmen. Allerdings nehmen bei uns die Geburten nicht gar so rapide ab, als in Preußen. Leider läßt aber gerade der Vergleich mit Preußen die bedauerliche Tatsache erkennen, daß die Geburtenziffer Perle¬ bergs nicht ein einziges Mal an den preußischen Durchschnitt heranreicht.

Sucht man nach den Ursachen der niedrigen Geburtenziffer Perlebergs, so findet man eine Art Erklärung dafür in dem Um¬ stande, daß Perleberg horribile dictu kein Eldorado für Heiratslustige ist. Es ist mir ja nicht gerade angenehm, daß ich als Standesbeamter es sagen muß: „Es wird in Perleberg verhält¬ nismäßig zu wenig geheiratet,“ Aber es ist so.

Auf 1000 Einwohner kamen eheschließende Personen:

Die Entwicklung der Stadt Perleberg usw.

421

in den Jahren in Perleberg in Preußen

1875—1880 15,2 16,3

1881—1885 15,5 15,8

1886—1890 14,1 16,2

1891—1895 14,1 16,1

1896—1900 15,0 16,9

1901—1905 14,0 16,2

1906—1910 14,3 16,0

Auf 1000 Einwohner kommen Geburten: Perleberg : Preußen :

Die Heiratslust der Perleberger erreicht also niemals den preußischen Durchschnitt. Verhältnismäßig am meisten geheiratet wurde in Perleberg im Jahre 1875, am wenigsten 1877.

422 Unger,

Auf 1000 Einwohner kommen eheschließende Personen in Perleberg: Preußen:

Hiermit sind die weniger erfreulichen Resultate beendet.

Die Sterblichkeit

ist ja schließlich doch der Maßstab, nach dem nicht nur der Ein¬ heimische, sondern auch der Fremde eine Stadt beurteilt. Das Bestreben, Perleberg denjenigen bekannt zu machen, die als Pensionär oder Rentier einen gesunden Ort sich zum dauernden Aufenthalte suchen, findet zweifellos darin eine wesentliche Unter¬ stützung, daß man mit gutem Gewissen sagen kann: „In Perleberg kann man nicht nur alt werden, nein, es ist erwiesen, daß man hier tatsächlich alt wird!“

An Gesamttodesfällen kamen auf 1000 Einwohner:

in den Jahren

in Perleberg

in Preußen

1875-1880

25,4

27,2

1881—1885

28,8

26,9

1886-1K90

23,9

25,4

1891—1895

21,2

24,0

1896—1900

19,8

22,2

1901—1905

19,9

20,7

1906—1910

16,8

18,3

Man sieht hier deutlich, daß beim fünfjährigen Durchschnitt Perleberg bezüglich der Sterblichkeit stets günstiger dasteht als Preußen und daß das Sinken der Sterblichkeitszilfern ungefähr gleichen Schritt hält. Tatsächlich übertrifft die Sterblichkeits-

Die Entwicklung der Stadt Perleberg usw.

423

Ziffer Perlebergs nur in wenigen Jahren den prenßischen Durch¬ schnitt, in den weitaus meisten Jahren nähert sie sich ihm nicht einmal. Und in diesen wenigen Jahren sind es besondere Epidemien (Scharlach und Diphtherie) die die Behauptung rechtfertigen, daß diese hohe Sterblichkeit einzelner Jahre eben

Auf 1000 Einwohner kommen Gesamttodesfälle: Perleberg: Preußen:

immer doch nur die Ausnahme bleibt. Das Jahr 1883 war mit 247 Todesfällen das ungünstigste, dem das Jahr 1893 mit 236 sich anschließt. Es liegt auf der Hand, daß diese hohe Sterblichkeit eine Ausnahme ist, wenn man in Betracht zieht, daß im Jahre 1883 30 Personen an Diphtherie (12,1 Proz. aller Todesfälle) und 31 an Scharlach (12,4 Proz. aller Todesfälle) starben. Im Jahre 1893

424

Unger,

forderte die Diphtherie nicht weniger als 62 Todesopfer (25,4 Proz. aller Todesfälle). Im Jahre 1905 war es die Säug¬ lingssterblichkeit, die ungünstig auf das Bild ein wirkte. Das Jahr 1909 war bezüglich der Sterblichkeit für Perleberg das günstigste.

Erheblich ungünstiger als bei Berechnung der Todesfälle auf die Einwohnerzahl liegen die Verhältnisse in Perleberg, wenn man die Todesfälle mit den Geburten vergleicht.

An Gesamttodesfällen kamen auf 1000 Geburten:

in den Jahren

in Perleberg

in Preußen

1875-1880

826

663

1881—1885

930

692

1886—1890

787

656

1891—1895

785

629

1896—1900

734

589

1901-1905

732

577

1906—1910

640

524

Die Ursachen dieser Ungunst liegen keineswegs in der Sterb¬ lichkeit, sondern lediglich in der vorerwähnten geringen Geburten¬ ziffer. In den Jahren 1875, 1881 und 1893 übertraf die Zahl der Gestorbenen sogar die der Lebendgeborenen. Zum Glück sind jene Zeiten offenbar vorbei.

Wenn ich vorhin so kühn war, zu behaupten, in Perleberg würden die Menschen alt, so findet meine Kühnheit eine Stütze in dem

Lebensalter,

das die in Perleberg Gestorbenen erreichten.

Von 100 Gestorbenen hatten ein Alter von über 70 Jahren erreicht:

im Jahre

in Perleberg

in Preußen

1901

20,0

14,1

1903

23,0

14,8

1904

21,7

15,3

1905

20,1

15,5

1906

23,8

15,3

1907

25,3

16,9

1908

21,4

16,8

1909

29,9

16,9

1910

26,8

17,4

Perleberg steht also auch in dieser Hinsicht stets günstiger da als Preußen. Nicht unerheblich ist hier sogar die Zahl der über 80, ja 90 Jahre alten Personen. Das Jahr 1900 hatte sogar einen 100jährigen. Dies möge als Beweis dafür dienen, daß Perleberg mit dem Lebensalter seiner Einwohner sehr wohl zufrieden sein kann.

Mag auch in erster Linie der Beruf unserer Einwohnerschaft wesentlich dazu beitragen, die Lebensdauer zu verlängern, da die aufreibende Industrie hier fast gänzlich fehlt, so geht man wohl

Die Entwicklung* der Stadt Perleberg’ usw.

425

auch nicht fehl, diese günstigen Verhältnisse dem Umstande zu- zuschreiben, daß die „Perle der Prignitz“ bezüglich seiner Ge¬ legenheiten zur Erholung im Freien wirklich eine Perle ist. Wie ich eingangs schon erwähnte, hat fast jedes Haus sein Gärtchen. Nach der letzten Volkszählung bewohnen das Militär ab¬ gerechnet nur 7,5 Personen je ein Haus, sicher auch ein Beweis für die günstigen Lebensbedingungen der Perleberger Ein¬ wohnerschaft. Ich will als Beweis der guten Erholungsmöglich¬ keiten nur anführen, daß die städtische Forst, deren Gesamtgröße rund 2400 ha beträgt, unmittelbar an das bebaute Stadtgebiet grenzt. Auf die besonderen sanitären Einrichtungen und Ma߬ nahmen Perlebergs und deren teilweise greifbaren Erfolge werde ich noch zu sprechen kommen.

Auch die überall so sehr gefürchtete

Säuglingssterblichkeit ist in Perleberg nicht so erschreckend wie in Preußen.

An Säuglingssterbefällen kommen auf 1000 Einwohner: Perleberg: Preußen:

426

Unger,

An Säuglingssterbefällen kamen auf 1000 Einwohner:

im Jahre

in Perleberg

in Preußen

1899

7,7

7,4

1900

8,2

7,6

1901

6,2

7,2

1902

5,4

6,1

1903

5,1

6,6

1904

5,4

6,4

1905

7,1

6,6

1906

6,1

5,9

1907

8,2

5,5

1908

5,4

5,6

1909

2,8

5,0

1910

3,4

4,8

An Säuglingssterbefällen kommen auf 1000 Gesamttodesfälle: Perleberg : Preußen :

An Säuglingssterbefällen kommen auf 1000 Geburten:

An Säuglingssterbefällen todesfälle:

kamen auf 100 Gesamt-

Die Entwicklung der Stadt Perleberg usw.

427

in den Jahren

in Perleberg

in Preußen

1881—1885

28,0

30,5

1886-1890

27,0

32,4

1891-1895

26,8

33,3

1896-1900

33,6

35,0

1901

29,7

33,4

1902

28,6

30,0

1903

27,2

32,1

1904

30,3

31,5

1905

30,6

32,2

1906

30,1

31,5

1907

22,5

29,4

1908

27,8

29,9

1909

19,5

28,9

1910

21,6

28,4

Man sieht hieraus, daß auch bezüglich der Säuglingssterblich¬ keit Perleberg einen Vergleich aushalten kann.

Von 100 Geburten waren unehelich: Perleberg: Deutsches .Reich:

Schließlich seien auch die

unehelichen Geburten

428

Unger,

erwähnt, die wie auf den ersten Blick scheint in Perleberg: eine ungewöhnliche Höhe im Prozentsatz zeigen. Wollte man hieraus den Schluß ziehen, daß Perleberg eine besonders unsitt¬ liche Stadt sei, so geschähe ihr bitter Unrecht. Man muß näm¬ lich in Betracht ziehen , daß hier mehrere Frauen uneheliche Schwangere aus der ländlichen Umgebung Perlebergs aufnehmen, die hier ihre Niederkunft abwarten. So kommt es, daß die von diesen Personen geborenen unehelichen Kinder bei den Be¬ völkerungsstatistiken als zur Perleberger Einwohnerschaft gehörig mitgezählt werden müssen. Ich glaube nicht fehl zu gehen, wenn ich sage, daß x/4 bis x/3 der hier geborenen unehelichen Kinder auf diese Art und Weise „importiert“ worden sind.

Von 10000 Einwohnern starben an: Diphtherie: Scharlach: Typhus: - Tuberkulose:

Die Entwicklung der Stadt Perleberg usw.

429

Jetzt komme ich zu den

Gesundheitsverhältnissen

Perlebergs, denen ich die auf den ärztlichen Totenscheinen ver¬ merkten Todesursachen zugrunde gelegt habe. Von den zahlreichen Todesursachen, denen ich meine Aufmerksamkeit gewidmet habe, will ich hier nur einige eingehender besprechen:

Von 10000 Einwohnern starben an:

Krebs: Lungenentzündung: Brechdurchfall:

Diphtherie als Todesursache zeigt die höchste Ziffer im Jahre 1893, in dem wie bereits erwähnt nicht weniger als 62 Diphtherietodesfälle vorkamen. Dieses Jahr war zwar das schlimmste, aber zum Glück das letzte einer so starken Diphtherie- Sterblichkeit. Auffallend sinkt die Zahl der Opfer dieser Krankheit von 1893 an und erreichte nie wieder eine auch nur annnähernd

28

Archiv für Soziale Hygiene. VII.

430

Unger,

gleiche Höhe. Das Jahr 1901 ist das einzigste, in dem in Perle¬ berg niemand an Diphtherie starb.

Scharlach forderte die meisten Opfer in den Jahren 1883 und 1884, findet sich dann aber als Todesursache von ver¬ schwindenden Ausnahmen abgesehen fast gar nicht mehr. Nur noch einmal im Jahre 1908 hatten wir wieder eine größere An¬ zahl von Scharlachtodesfällen.

Die Tuberkulose ist in Perleberg erfreulicherweise im Sinken begriffen, wenn auch im Zick-Zack- Wege. Während von 10000 Einwohnern im Jahre 1876 noch 49,97 Personen an Tuber¬ kulose starben, waren es 1910 nur noch 9,29, 1906 sogar nur 6,29. Ein Vergleich mit Preußen auch bezüglich der Tuberkulosesterbe¬ fälle zeigt, daß hier ein günstiges Klima herrscht.

Von 10000 Einwohnern starben an Tuberkulose:

im Jahre

in Perleberg

in Preußen

1901

16,16

19,54

1902

11,30

19,04

1903

7,71

19.69

1904

10,75

19,21

1905

15,79

17,26

1906

6,29

19,13

1907

7,28

17,16

1908

8,35

16,46

1909

8,27

15,59

1910

9,29

15,29

Durch Selbstmord endeten die meisten Personen im Jahre 1911, nämlich 4,3 Proz. aller Gestorbenen.

Die Typhustodesfälle verdienen eine ganz besondere Be¬ achtung, weil sie in geradezu greifbarer Form zeigen, was hygie¬ nische Maßregeln aus Perleberg gemacht haben. Während noch in den achtziger Jahren Typhustodeställe in Perleberg durchaus nicht zu den Seltenheiten gehörten (im Jahre 1880 22 oder 10,3 Proz. aller Todesfälle) verschwanden sie dann fast vollkommen. Seil länger als 20 Jahren gilt ein Typhustodesfall hier als eine Ausnahme; ja sogar die Typhuserkrankungen, die früher in keinem Jahre ausblieben, sind seltener geworden, seit 1906 ist überhaupt keine Typhuserkrankung mehr polizeilich gemeldet worden. Wo liegen nun die Ursachen dieser auffallend günstigen Erscheinung?

Früher durchzogen die innere Stadt mehrere offene Kanäle, die zum größten Teile des Jahres so wenig Wasser mit sich führten, daß der dort trotz allen Verbots hineingeleitete Unrat nicht ab¬ fließen konnte und somit die Luft verpestete. Im Jahre 1892

Die Entwicklung der Stadt Perleberg usw.

431

wurden diese Krankheitserreger beseitigt und durch eine unter¬ irdische Tonrohrleitung ersetzt. Schließlich wurden auch die stets übelriechenden Rinnsteine beseitigt und eine allgemeine Kanali¬ sation eingeführt, der sämtliche Häuser der Stadt angeschlossen sind. Seitdem kann Perleberg den Ruhm für sich in Anspruch nehmen, durch seine Sauberkeit und durch den vorzüglichen Ge¬ sundheitszustand seiner Einwohner ein Muster für viele kleine Städte Preußens geworden zu sein. Hand in Hand mit dem Bau

An Tuberkulose starben von 10000 Einwohnern:

Perleberg: Preußen:

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der Kanalisation wurde eine große zentrale Wasserleitung ge¬ schaffen. Hierdurch konnten die meist nicht einwandfreien Brunnen beseitigt werden, und Perleberg hat ein Trinkwasser bekommen, das auf Grund der häufig vorgenommenen chemischen und bakterio¬ logischen Untersuchungen des Nahrungsmitteluntersuchungsamtes in Berlin als vorzüglich bezeichnet werden muß. Auffallend ist zweifellos das Sinken der Typhuserkrankungen bzw. -todesfälle nach Durchführung dieser hygienischen Maßnahmen.

Hier kann noch erwähnt werden, daß Perleberg seit 1845 ein

eigenes städtisches Krankenhaus besitzt, das erst 1905 durch

28*

432

Unger,

ein neues mit 33 Betten ersetzt wurde; dieses besitzt eine Isolier¬ baracke für Infektionskranke, einen Desinfektionsapparat sowie einen Apparat für Durchleuchtung mit Röntgenstrahlen.

Das städtische Schlachthaus verbunden mit Kühlhaus

und Eiserzeugungsanlage sorgt durch Überwachung des Fleisch¬ verkaufs dafür, daß Perlebergs Einwohnerschaft nur mit gesundem Fleisch versorgt wird.

Die städtische Flußbadeanstalt gibt Gelegenheit, in reinem fließenden Wasser zu baden und zu schwimmen.

Seit dem I. April 1912 ist man in Perleberg auch dazu über¬ gegangen, durch Anstellung eines Schularztes die Gesundheit der Schüler einer ständigen Überwachung anzuvertrauen. Die beiden geräumigen neuen Volksschulen, die mit allen Vor¬ zügen moderner Schulhygiene ausgestattet sind, verdienen es auch, zu den sanitären Einrichtungen Perlebergs gezählt zu werden.

Welche Summen die doch nicht besonders große Stadt für hygienische Einrichtungen aufgewendet hat, mögen folgende Zahlen zeigen :

Kanalisation (1904) 380000 M.

Wasserwerk (1904) 360000 M.

Krankenhaus (1905) 140000 M.

Schlachthaus (1892 bezw. 1911) 220000 M.

Badeanstalt (1896) 12000 M.

Diese Ausführungen dürften zur Genüge dargetan haben, daß das kleine Perleberg es getrost wagen kann, sich bezüglich seiner sanitären Einrichtungen an die Seite seiner größeren und be¬ kannteren Rivalinnen zu stellen.

Die Entwicklung der Stadt Perleberg usw.

4B3

Jahr

Ein¬

wohner¬

zahl

Zahl

der

Geburten

Zahl

der

Lebend¬

geburten

Zahl der

Tot¬

geburten

Zahl der unehe¬ lichen Geburten

Zahl der Ehe¬ schlie߬ ungen

Zahl

der

Gesamt¬

todesfälle

1875

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223

208

15

32

72

212

76

7604

258

244

14

30

58

215

77

7621

234

226

8

31

42

150

78

7638

233

219

14

26

57

180

79

7655

231

223

8

32

56

192

4880

7673 -f

229

225

4

31

62

214

81

7678

224

211

13

26

69

219

82

7684

248

244

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23

66

188

83

7689

218

209

9

24

48

247

84

7694

239

232

7

27

59

226

1885

7698 +

260

245

15

34

59

226

86

7671

227

219

8

28

48

202

87

7644

213

206

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34

65

206

88

7617

276

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196

89

7590

234

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1890

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206

197

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50

150

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7688

215

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8

25

57

157

92

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193

189

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55

159

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230

225

5

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44

236

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196

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31

67

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1895

8180 +

231

225

6

27

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162

96

8235

211

203

8

17

50

162

97

8290

220

214

6

31

73

147

98

8345

235

225

10

25

63

160

99

8400

245

241

4

35

66

168

1900

8456 +

232

229

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29

62

202

01

8665

256

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168

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214

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25

59

169

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26

63

165

1905

9502 -f

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187

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241

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1910

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11

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34

51

184

434

Unger,

Es starben in Perleberg im Alter von

im

Jahre

unter 1 Jahr

über 1 5 Jahren

über 5—10 Jahren

über 10—15 Jahren

über 15 20 Jahren

über 20—30 Jahren

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über 50 60 Jahren

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über 70—80 Jahren

über 80 90 Jahren

über 90 100 Jahren

über 100 Jahren

Insgesamt einschl.

Totgeburteu

1876

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12

10

9

16

17

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215

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30

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14

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180

79

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17

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192

1880

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10

12

16

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1885

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1890

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184

I

Die Entwicklung der Stadt Perleberg usw.

435

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15,3

1905

30,6

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0,5

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12,8

13,2

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20,1

15,5

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30,1

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1,5

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1910

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19,5

10,9

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30,9

436

Unger,

im

Jahre

Auf 1000 Einwohner kommen

an

Auf 1000

Geburten

kommen

Gesamt¬

todes¬

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Von 100

Geburten

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unehelich

in

Perleberg

Von 100

Geburten

waren

unehelich

im deut¬ schen

Reiche

Geburten in

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schließenden Personen in

Gesamt¬ todesfällen in

Perleberg

Preußen

Perleberg

Preußen

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18,1

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28,4

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76

33,9

42,5

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17,1

28,3

27,2

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11,6

8,6

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30,7

41,7

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16.0

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13,2

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78

30,5

40,6

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79

30,2

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25,1

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13,8

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1880

29,9

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31,1

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11,3

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1885

35,1

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15,9

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12,3

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11,1

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1890

26,9

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13,2

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24,8

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1895

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1910

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10,9

11

864

15,5

Die Entwicklung der Stadt Perleberg usw.

437

An Säuglingssterbefällen kommen auf

im

1000 Einwohner

1000 Gesamttodesfälle

1000 Geburten

Jahre

in

in

in

Perleberg

Preußen

Perleberg

Preußen

Perleberg

Preußen

1875

274

279

76

8,9

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279

77

5,0

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168

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306

251

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1880

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198

305

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1885

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252

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1 208

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1 333

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.

- *

96

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01

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172

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194

04

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315

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185

1905

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1910

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216

284

142

157

11

.

250

216

438

Unger,

Es starben in Perleberg

Todesursache

1876

1877

1878

1879

o

CO

CO

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1881

1882

1883

1884

xO

CO

CO

T— 1

1886

i

1887

CO

CO

CO

i-H

1889

1890

Diphtherie

5

1

2

14

17

8

9

30

18

4

26

41

20

3

3

Scharlach

7

4

4

2

2

31

31

1

Typhus

3

3

2

9

22

8

14

7

8

4

3

2

4

2

Krebs

5

8

9

3

7

8

8

12

7

3

5

10

2

4

6

Brechdurchfall

25

6

15

13

8

18

10

14

10

28

23

18

17

18

16

Krämpfe

29

16

20

16

15

24

16

19

20

24

13

12

16

9

8

Bronchitis

7

5

3

2

9

5

5

7

6

9

6

8

18

8

7

im Kindbett

2

2

1

4

_

1

3

2

1

Tuberkulose

38

27

24

26

32

20

12

25

18

32

32

26

19

24

15

Lungenentzündung

9

6

8

12

10

13

15

11

7

22

15

7

14

6

8

andere Lungenkrankh.

11

4

7

10

9

6

4

4

8

5

2

*5

2

3

10

Gehirnkrankeiten

3

5

2

3

2

2

7

2

3

4

5

2

5

2

3

Nierenkrankheiten

4

2

3

1

1

1

2

2

3

2

3

1

1

Wassersucht

7

5

10

7

6

8

6

5

3

5

5

8

4

1

1

Schlagfluß

5

7

6

6

6

5

3

7

6

8

6

6

5

10

11

Altersschwäche

12

9

9

16

12

6

12

21

12

20

16

15

22

18

16

Keuchhusten

2

4

2

2

3

1

1

1

Atrophie

9

10

12

10

14

18

10

8

13

14

6

5

7

9

5

Selbstmord

5

4

3

5

5

1

1

2

4

2

1

1

4

1

Verunglückt

3

2

2

5

3

2

4

1

2

1

1

2

1

2

Herzkrankheiten

2

4

2

2

2

5

3

4

3

2

6

3

4

4

Folgen d. Gelenkrheum.

1

1

1

1

1

2

Masern

/

10

3

Skrofulöse

1

Influenza

1

Knochentuberkulose

Sonstige u. unbekannt

13

15

20

19

26

43

25

24

36

18

22

23

16

17

20

Totgeburten

14

8

14

8

4

13

4

9

7

15

8

7

17

8

9

Gesamttodesfälle

215

150

180

192

214

219

188

247

226

226

202

206

196

156

150

Die Entwicklung der Stadt Perleberg usw.

439

in den Jahren.. ..an....

03

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16

10

21

25

27

26

22

9

14

19

32

24

9

21

10

7

23

9

13

15

13

14

20

7

23

22

19

12

11

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9

14

10

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15

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12

28

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12

11

8

14

16

22

12

8

18

26

8

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13

14

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6

7

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1

3

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2

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2

2

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1

3

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1

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3

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5

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11

14

14

7

16

12

14

18

14

18

16

19

16

9

17

15

18

12

15

17

18

21

16

16

18

22

20

9

11

20

26

20

13

11

18

24

22

19

15

13

24

25

2

1

1

3

1

3

2

1

3

2

6

2

6

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7

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3

1

3

3

3

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5

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1

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1

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1

1

5

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2

1

1

3

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2

3

2

1

1

1

2

5

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6

3

2

3

3

5

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9

4

4

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10

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7

8

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1

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23

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1

1

1

31

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1

21

1

23

18

19

17

16

19

15

18

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26

26

29

35

24

30

19

30

16

24

8

4

5

4

6

8

6

10

4

3

5

10

5

9

12

6

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9

8

6

6

157

159

236

125

162

162

05

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168

202

185

168

169

165

219

193

138

187

138

153

184

440

Unger,

Von 100 i n

P erleberg

Todesursache

1876

1877

1878

1879

1880

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1882

1883

1884

1885

9881

1887

1888

1889

1890

1891

Diphtherie

2,3

0,6

1,1

7,3

7,9

3,6

4,8

12,1

7,9

1,7

12,8

19,4

10,2

1,9

2,0

2,5

Scharlach

3,2

2,2

2,1

0,9

1,1

12,4

13,7

0,5

Typhus

1,4

2,0

1,1

4,7

10,3

3,6

7,4

2,8

3,5

1,7

1,5

0,9

2,5

1,3

Krebs

2,3

5,3

5,0

1,6

3,3

3,6

4,3

4,9

3,1

1,3

2,5

4,8

1,0

2,5

4,0

4,4

Brechdurchfall

11,6

4,0

8,3

6,7

3,7

8,2

5,3

5,7

4,3

12,4

11,5

8,7

8.7

11,5

10,6

7,0

Krämpfe

13,5

10,6

11,1

8,3

6,9

10,9

8,5

7,7

8,8

10,6

6,4

5,8

8,1

5,7

5,3

5,7

Bronchitis

3,2

3,3

1,7

1,0

4,2

2,3

2,6

2,8

2,6

4,0

3,0

3,9

9,2

5,1

4,6

6,4

im Kindbett

0,9

1,3

0,5

1,9

0,5

1,2

0,9

0,6

Tuberkulose

17,7

18,0

13,3

13,5

14,9

9,1

6,4

10,1

7,9

14,1

16,0

12,6

9,7

15,4

10,0

7,6

Lungenent¬

zündung

4,2

4,0

4,4

6,2

4,7

5,9

7,9

4,4

3,1

9,7

7,4

3,4

7,1

3,8

5,3

10,2

andere Lungen¬ krankheiten

5,1

2,6

3,9

5,2

4,2

2.8

2,1

1,6

3,5

2,2

1,0

2,4

1,0

1,9

6,6

3,2

Gehirnkrank¬

heiten

1,4

3,3

1,1

1,6

0,9

0,9

3,7

0,8

1,3

1,7

2,5

0,9

2,5

1,2

2,0

3,2

Nierenkrank¬

heiten

1,8

1,3

1,7

0.5

0,5

0,5

0,8

0,9

1,3

_

0,9

1,5

0,6

0,6

0,7

Wassersucht

3,2

3,3

5,5

3,6

2,8

3,6

3,2

2,0

1,3

2,2

2,5

3,9

2,0

0,6

0,6

0,7

Schlagfluß

2,3

4,6

3,&

3,2

2,8

2,3

1,6

2,8

2,6

3,5

3,0

2,9

2,5

6,4

7,3

7,0

Altersschwäche

5,6

6,0

5,0

8,3

5,6

2,8

6,4

8,5

5,3

8,8

8,0

7,3

H,2

11,5

10,6

13,4

Keuchhusten

0,9

2,2

1,0

0,9

1,6

-

0,5

0,5

0,6

1,3

Atrophie

4,2

6,6

6,6

5,2

6,5

8,2

5,3

3,2

5,7

6,2

3,0

2,4

3,6

5,7

3,3

3,8

Selbstmord

3,3

2,2

1,6

2,3

2,3

0,5

0,4

0,9

1,7

1,0

0,5

0,5

2,5

0.6

0,7

Verunglückt

1,4

1,3

1,1

2,6

1,4

0,9

2,1

0,4

0,9

0,5

0,5

1,0

0,6

1,3

0.7

Herzkrankheiten

0,9

2,6

1,0

0,9

0,9

2,6

1,2

1,7

1,3

1,0

2,9

1,5

2,5

2,6

1,9

Folgen des Ge- lenkrheumat.

_

_

_

0,5

-

0,5

0,4

0,4

0,4

1,0

_

_

___

___

_

Masern

5,3

1,5

Skrofulöse

0,6

Influenza

0,6

Knochentuber¬

kulose

\

Die Entwicklung der Stadt Perleberg usw.

441

Gestorbenen starben an:

03

05

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13,8

25,4

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0,6

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2,4

2,4

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0,6

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1,2

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14,3

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6,5

H,2

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12,5

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14,4

13,1

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6,5

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0,7

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6,1

6,3

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6,1

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7,7

11,8

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5,6

10,5

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6,9

4,8

6,9

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13,1

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4,8

8,2

13,5

5,8

9,1

4,4

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7,6

2,5

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1,6

1,8

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3,1

3,0

3,0

2,2

2,4

2,4

4,8

1,8

1,0

2,7.

3,6

2,6

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3,7

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3,1

1,8

3,0

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3,6

1,1

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1,3

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8,3

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7,7

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11,1

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110,0

6,7

14,4

13,6

12,3

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12,9

10,8

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6,5

10,9

10,9

H,4

13,7

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9,4

15,7

13,6

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1,4

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1,8

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2,2

2,4

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3,6

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4,3

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3,4

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5,4

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2,2

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4,6

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0,6

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1,0

0,5

0,7

442

Unger, Die Entwicklung der Stadt Perleberg usw.

Von 10 OOÜ Einwohnern starben in Perleberg an

im

Jahre

Diphtherie

Scharlach

Masern

Brech¬

durchfall

Typhus

Tuber-

kulose

Lungen-

entzündung

Krebs

1876

6,62

9,21

33,10

3,94

49,97

11,84

6,62

77

1,31

7,86

3,93

35,53

7,86

10,48

78

2,62

5,24

19,65

2,62

31,44

10,48

11,79

79

18,30

5,22

16,98

11,76

33,96

15,66

3,92

1880

22,16

10,42

2867

41,70

13,03

9,12

81

10,42

2,60

23,44

10,42

26,04

16,93

10,42

82

11,71

2.60

13,01

13,02

18,22

15,62

19,52

10,42

88

39,01

40,32

18,20

9.14

32,51

14,31

15,63

84

23,39

40,29

13,00

10,40

23,39

9,10

9,10

1885

5,19

0,00

36,33

5,19

41,53

28,60

3,90

86

33,89

1,33

29,98

3,91

41,71

19,55

6,52

87

53,64

23,58

2,62

34,01

7,26

13,08

88

26,26

3,93

22,31

24,94

18,41

2,63

89

3,95

23,73

5,27

31,63

7,90

5,27

1890

3,98

21,12

2,64

19,91

10.56

7,96

91

5,20

14,3

15,60

20,18

9,15

92

28,17

15,37

12,80

15,37

6,40

93

78,12

2,52

8,82

2,52

22,68

35,28

7,56

94

7,44

12,42

1,24

18,60

19,84

4,98

1895

4,89

19,56

18,33

11,01

12,22

96

1,21

12,10

19,98

20 57

13,31

97

1,21

2,42

25,41

10,89

14,52

8.47

98

1,19

1,19

29,79

2,39

11,91

13,11

3,58

99

1,19

1,19

32,13

1,19

10,71

9,52

10,71

1900

4,73

2,64

34,32

18,48

18,48

9,46

01

4,87

3,43

1,16

3,11

25,42

1,28

16,lfi

19,54

18,48

15,83

13,55

02

2,26

4,05

3,18

2.88

10,14

0,81

11,30

19,04

24,86

16,85

11,30

03

4,40

4,19

3,49

2,73

15,40

0,81

7,71

19,69

13,20

15,25

8,80

04

4,30

3,92

2,83

2,04

20,4

0,79

10,75

19,21

8,60

15,19

15,05

1905

1,05

2,68

_

2,08

_

2,44

33,7

_

0,65

15,79

17.26

18,94

14,14

12,63

06

6,29

3,27

2,03

4,20

1,71

25,16

0,74

6,29

19,13

18,96

15,45

10,49

07

1,04

2,46

2,24

1,83

9,36

1,04

0,57

7,28

17,16

8,32

15,12

8.32

08

1,04

2,55

12,50

2,20

1,92

21,84

0,54

8,35

16,46

17,71

14,96

9,38

09

1,03

2,52

2,07

2,17

4,14

1,70

10,40

0,49

8,27

15,59

6,21

14,55

13,50

1910

2,07

2,45

1,03

1,39

_

1,85

7,24

_

0,48

9,29

15,29

13,45

13,03

11,36

11

23,81

Die fettgedruckten Zahlen zeigen das Gleiche von Preußen.

Ans der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik in Berlin.1)

Sitzung vom 4. Mai 1911.

Herr Guradze trägt vor über „Statistik und Kausalität“. Die Frage, ob die Statistik zurzeit in der Lage ist, über den Kausalzusammenhang der wirtschaftlichen Verhältnisse zweifellosen Aufschluß zu geben, berührt an¬ scheinend das eigenste Wesen dieser Wissenschaft. Die Antwort auf diese Frage ist nicht einfach zu erteilen. Einmal nämlich kann ein und dieselbe Ur¬ sache verschiedene Wirkungen hervorrufen; umgekehrt wiederum hängt oft ein und dieselbe Erscheinung, als Wirkung betrachtet, von mehreren Ursachen ab, ohne daß man weiß, welche dieser Ursachen hauptsächlich maßgebend gewesen ist. Das Gewicht der Ursachen läßt sich schwer bestimmen, denn die wirtschaft¬ lichen Verhältnisse sind eben nun einmal in hohem Grade mannigfaltig und kompliziert.

Hierzu kommt, daß wir zwar die endgültigen Erscheinungen des sozialen Lebens sehen und spüren, aber ohne daß wir wenigstens vielfach ihre Vorbedingungen deutlich wahrnehmen, die manchmal tief verborgen bleiben. Welchen Nutzen leistet uns nun für die Erkenntnis des Kausalzusammenhanges die Statistik?

Keine Wirkung ohne Ursache, so lautet in dürren Worten das Kausalitäts¬ prinzip. Zunächst beschäftigt sich die Statistik mit den Wirkungen, soweit sie durch Zahl und Maß erfaßbar sind. Nehmen wir als Beispiel die Sterblichkeits- statistik. Man zählt die Sterbefälle irgendeines Gebietes, sagen wir der Stadt Berlin, in einem gewissen Zeitraum, etwa im Jahre 1910. Der Fall ist ziemlich einfach, da ja der Tod im allgemeinen, abgesehen vom Scheintode, deutlich kon¬ statierbar und schwierig zu verheimlichen ist; man muß sich nur entscheiden, ob man die Totgeborenen mitrechnet oder nicht.

Ohne Totgeborene starben nun in der Stadt Berlin im Jahre 1910: 30151 Menschen. Die Zahl 30151 besagt zunächst nicht viel für die Ursächlichkeit; an Bedeutung gewinnt sie durch die Analyse, z. B. wenn man sie auf die ein¬ zelnen Kalendermonate verteilt. Man erhält dann 12 verschiedene Zahlen, die

J) Nach den Verhandlungen der Gesellschaft, abgedruckt in Nr. 10, 12 u. 23 der „Medizinischen Reform“, 1911, herausg. von R. Lennhoff.

444 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.

natürlich von dem Mittelwert 30151:12 = 2513 mehr oder minder stark ab¬ weichen, besonders im Sommer, hauptsächlich wegen der Kindersterblichkeit. Diese 12 verschiedenen Zahlen sind aber auch aus einem anderen Grunde nicht ohne weiteres miteinander vergleichbar, nämlich wegen der verschiedenen Tages¬ zahl der Monate, die zwischen 31 und 28, also rund um 10 Proz. (!) schwankt. Man müßte also die Sterbefälle auf den einzelnen Tag reduzieren und dann er¬ hält man, besonders für nicht große Beobachtungsgebiete und unter Berück¬ sichtigung der Geschlechter und Altersklassen zu kleine Zahlen. Die Zahlen ver¬ rinnen einem unter den Händen.

Die kleinen Zahlen nun hindern oft den Vergleich und ohne Vergleich ge¬ langt man im allgemeinen nicht zur Kausalität. Im Grunde genommen gibt es absolute Gesetzmäßigkeiten nur in der Mathematik und in den Naturwissen¬ schaften, die mit ihr Zusammenhängen, besonders also der Physik und Chemie.

Georg v. Mayr sagt zwar im 1. Bande seiner „Statistik und Gesellschafts¬ lehre“ auf S. 121: „Der nach statistischen Gesetzmäßigkeiten Forschende hat die Einzelbestandteile der Verursachungsgruppen unter möglichster Heranziehung einschlägiger Massenbeobachtungen auf das zu prüfende statistische Material, ähnlich wie der Chemiker seine Beagentien anzuwenden, und damit die Tatsache und den Umfang der Einflüsse festzustellen, welche den verschiedenen Ver¬ ursachungsarten zukommen.“ Er gibt aber kein eigentliches Bezept dazu an. Man kann eben hier leider nicht nach der chemischen Methode zu Werke gehen. Wir kommen auf die Experimentierungsfrage noch zurück.

Die Fallgesetze galten, abgesehen vom luftleeren Baum, jederzeit und überall. Das kann man von den Gesetzen, die man für die Volkswirtschaft glaubt auf¬ stellen zu können, nun gerade nicht behaupten. Hier kommt vor allem das M alt h us sehe Bevölkerungsgesetz: „Die Menschen vermehren sich schneller als die Lebensmittel“ in Frage. Es war im großen und ganzen richtig für die eng¬ lischen Verhältnisse zu Malthus’ Zeiten, also um 1800. Mir scheint der Fehler hei Malthus mit darin zu liegen, daß er Bevölkerung und Nahrungs¬ mittelspielraum miteinander in Beziehung setzt, zwei schon organisch aufgefaßt ganz verschiedene Dinge. Wir kommen auf diesen wichtigen Umstand noch später zurück. Außerdem läßt sich nicht ahsehen, wie die Verkehrsmittel, weitere Entdeckungen auf technischem und kulturellem Gebiet Urbarmachung bisher unfruchtbarer Ländereien usw. die Lebensmittelbeschaffung und damit den Nahrungsspielraum in Zukunft verändern. Ferner und das scheint mir gerade der springende Punkt zu sein : Die Wirtschaftskräfte besitzen nicht dieselbe Konstanz, wie die Naturgewalten. Auch lassen sich letztere verhältnismäßig leichter beherrschen als erstere. Den Blitz der Wolken kann man ableiten, jedoch ist man den Blitzen der wirtschaftlichen Kräfte, besonders den Wirtschaftskrisen, gegenüber oft machtlos.

Weiter: Beschreibt der Botaniker eine Pflanze, so hat er gleichzeitig meistens sofort eine ganze Art von Pflanzen mit beschrieben. Anders liegen die Verhältnisse beim Menschen und seinen Eigenschaften, Handlungen, Tätigkeits¬ formen. Die sind fast immer sowohl zeitlich wie örtlich verschieden. Der Mensch im Grunde genommen doch ein Naturprodukt ist eben trotz dieser seiner Zugehörigkeit zur Natur bezüglich seiner Handlungen, die den Hauptgegenstand der Nationalökonomie oder des Gesellschaftslebens bilden, kein Gegenstand der beschreibenden Naturwissenschaft. Das rührt zum Teil von seinem Willen, über¬ haupt seiner Gehirntätigkeit her. Er entzieht sich kraft seines Willens dem

Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 445

Experiment. Wo man aber nicht experimentieren kann, da hält es schwer, zur Kausalität vorzudringen.

Adolf Wagner hatte nur allzu recht, als er bei der Beratung des Kultus¬ etats im Herrenhause am 7. April d. J, erklärte: „Es ist ein völliger Irrtum, daß man glaubt, auf wirtschaftlichem Gebiete, auf dem so viele Momente zusammen¬ greifen, exakte Forschungen treiben zu können, wie in der Naturwissenschaft. Das ist ausgeschlossen.“

Wir sind damit ganz von selbst auf die mathematische Seite unseres Pro¬ blems gekommen. Eigentlich ist es ein Wagnis, wenn man ein auf nicht mathe¬ matischem Wege gewonnenes Material mathematisch zahlenmäßig exakt ver¬ arbeitet. Man denke nur, um ein Beispiel anzuführen, an die Volkszählung. Hier werden an Millionen von Menschen Fragebogen ausgeteilt. Freilich sind diese Fragebogen einheitlich ab gefaßt. Aber sie werden eben nicht einheitlich auf gefaßt. Die Schlüsse, die man aus diesem Material zieht, tragen somit ein Moment der Unsicherheit in sich, obschon das Zählungswerk trotz dieser Unvollkommenheit unschätzbaren, nicht hoch genug zu veranschlagenden Wert besitzt.

Nur in der Mathematik gibt es strenge Kausalitätszusammenhänge, Mathe¬ matik natürlich auch im mathematisch-physikalischem Sinne genommen. Um aber dennoch auch in der Statistik zu gültigen ursächlichen Zusammenhängen zu ge¬ langen, hat man hier den Versuch gemacht, durch Isolierung dem Experiment nahezukommen. Ich meine die monographischen Beschreibungen einzelner Wirt¬ schaftskörper, z. B. Aktiengesellschaften, Fabrikbetriebe, Handelsunternehmungen; in diesem Zusammenhänge sei das von Prof. Ehrenberg gegründete Archiv für exakte Wirtschaftsforschung erwähnt. Man hat auch gewisse kleinere geo¬ graphische Bezirke, z. B. Rittergüter, Dörfer usw., zu schildern begonnen. Auch die Stammbaum- oder Familienforschung sei hier rühmend hervorgehoben. Aber man muß sich bei diesen an sich zweifellos verdienstvollen Arbeiten immer klar bleiben, daß eine Verallgemeinerung der gefundenen Zustände und Verhältnisse so gut wie ausgeschlossen bleibt. Das Entdeckte bezieht sich eben nur auf das jeweilige verhältnismäßig kleine Beobachtungsfeld und entbehrt gewöhnlich der Verallgemeinerung und des Vergleichs, worauf es doch bei Gesetzmäßigkeiten in erster und letzter Linie ankommt.

Vergißt man das, so trifft einen fast mit Recht, möchte ich sagen, der bittere Vorwurf, man könne mit der Statistik alles beweisen. Dieser Vorwurf verdichtete sich vor einigen Jahren zu der im damaligen Reichstage gefallenen, beinahe beleidigenden Äußerung: die Statistik wäre eine feile Dirne. Freilich ist die Statistik ein subtiles Werkzeug, das in der Hand des Unkundigen viel Unheil anrichten kann. Diese Eigenschaft teilt übrigens die Statistik mit jedem Werkzeug, sei es körperlicher oder geistiger Beschaffenheit. Aber für die Mi߬ anwendung muß eben der unkundige Gebraucher haftbar gemacht werden und nicht das statistische Werkzeug.

Mit der Zahl richtig umzugehen, ist und bleibt eine große Kunst; sie ist nämlich verschiedenmäßig deutbar sowie dehnbar und läßt sich leicht so abrunden, wie man es gern möchte.

Angenommen, irgendeine Untersuchung führt zur Relativzahl 4,46. Da könnte einer sagen: ja 4,46, das heißt 4,5 oder abgerundet 5! So darf man natürlich in der Regel nicht verfahren, denn darin ist in der Tat 4 = 5 oder Archiv für Soziale Hygiene. VII. 29

446 Aus (1er Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.

5 = 4, und damit läßt man 5, also ungerade, gerade sein. Das ist natürlich wissenschaftlich unstatthaft.

So sind wir fast unmerklich zu einem Punkt gekommen, der in der wirt¬ schaftlichen oder sozialen Beweisführung, wenn ich mich kurz so ausdrücken darf, eine nicht zu unterschätzende Rolle im Gegensatz zur rein naturwissenschaft¬ lichen Untersuchungsmethode spielt, nämlich zur Voreingenommenheit oder Partei¬ lichkeit. In der Naturwissenschaft geht man in der Regel voraussetzungsloser,, objektiver zu Werke, als bei sozialen Problemen, abgesehen natürlich von den individuellen Beobachtungsqualitäten, also den anatomisch-physiologischen Eigen¬ schaften des Untersuchenden. Wirtschaft und Politik sind leider nahe ver¬ wandt und wo die Politik anfängt, gerät die Objektivität zu leicht in Gefahr und die Leidenschaft gewinnt unwillkürlich die Oberhand, sie, die für exakte Unter¬ suchungen geradezu oft ein Hindernis bedeutet.

Sine ira et studio, das sollte für jeden Wirtschaftsforscher die Parole sein!

Allerdings ist das nicht ganz einfach, zumal ja auch sittliche und moralische Werturteile des einzelnen dabei in Betracht kommen. Über diese Materie hat kürzlich Exzellenz von Schmoller in der Vereinigung für staatswissenschaft¬ liche Fortbildnng einen Vortrag gehalten. Ich möchte mich in Rücksicht darauf hier nicht weiter darüber auslassen, sondern nur eine Bemerkung des Herrn Vor¬ tragenden wiedergeben. Die lautet etwa so: „Bei jedem großen Wirtschafts¬ problem werden wir die Kausalitätsforschung soweit als möglich zu treiben haben, die eigene persönliche sittliche Anschauung als subjektiv, die anderer als gleich¬ wertig so lange zu betrachten haben, als nicht Kausalitätsuntersuchungen das Gegenteil besagen.“ Leider gibt aber Herr von Schmoller keine Anweisung,, wie man derartige Kausalitätsuntersuchungen anzustellen hat.

Weiter. In keiner Wissenschaft wird so oft und so unbewußt Ursache und Wirkung miteinander verwechselt, wie gerade in der Nationalökonomie. Ich habe auf diesen Punkt bereits in meinem Vortrage, der sich auf die Mitwirkung der Arzte bei der Jugendfürsorgestatistik bezog, im vorigen Jahre hingewieseu. Wenn man bei gewissen Berufsangehörigen bestimmte Krankheitsphänomene findet z. B. bei den Schneidern Schwindsucht , so darf man nicht ohne weiteres die Krankheit als Folge des Berufes ansprechen. Häufig ist es nämlich gerade umgekehrt: Der Beruf ist eine Folge der Krankheit; die lungenkranken Schneider sind oft lungenkrank, bevor sie die Schneiderei ausüben und werden von den Eltern oder sonstigen Angehörigen diesem Berufe zugeführt, weil sie eben wegen Defektes in anderen Stellungen schwer untergekommen wären.

Die Schlüsse, die aus der Statistik gezogen werden, ähneln teilweile dem berühmten Reut er sehen Ausspruche: Die Armut stammt von der Pauvrete, d. h. der Laie gelangt manchmal zu selbstverständlichen, ja sogar im Grunde genommen nichtssagenden Ergebnissen.

Wir haben bereits erwähnt, daß zu kleine Zahlen allgemein gültige Schlüsse verhindern. Die großen Zahlen erscheinen zunächst zur Auffindung von Gesetz¬ mäßigkeiten geeigneter. Aber sie haben einen schwerwiegenden Mangel: sie verwischen die Eigentümlichkeiten, sie nivellieren, d. h. sie verdecken die oft vorhandenen Ungleichheiten. Und gerade das Ungleichmäßige wird im sozialen Leben vielfach von Bedeutung und Wichtigkeit. So befindet man sich genau genommen in einem Dilemma: Auf der einen Seite machen die kleinen Zahlen exakte Forschungen unmöglich, auf der anderen Seite werden durch die Massen¬ daten in ihrer Gesamtheit die Symptome verdunkelt. Man sieht oft zwar das.

Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 447

Ganze, aber nicht seine Zusammensetzung aus den einzelnen Teilen. Jedoch vermag diesen Nachteil der statistische Fachmann mehr oder weniger zu beheben.

Ein weiteres Hindernis der klaren Erkenntnis des ursächlichen Zusammen¬ hanges liegt in folgendem Umstande. Man schließt sehr häufig: post hoc ergo propter hoc. Es ist aber durchaus zweifelhaft, ob gerade die beobachtete Zeit¬ folge auch eine kausale Beziehung darstellt. Gewiß hat der Schluß etwas Be¬ stechendes: das ist dem gefolgt, also ist es wahrscheinlich so, natürlich ist es so, gewiß ist es so. Aber er wird darum nicht zwingend. Bei den exakten Naturwissenschaften spielt die Einzelbeobachtung eine große Bolle; da genügt manchmal in der Tat eine gute Einzelbeobachtung. Aber in der Nationalökonomie kann eine Einzelbeobachtung nicht ausreichen. Die Enquete, die oft angewandt wird, ist im Grunde genommen nichts anderes, als eine ausgedehnte wissenschaft¬ liche Einzelbeobachtung. Dagegen ist wissenschaftliche Massenbeobachtung für unser Wirtschaftsgebiet das Kichtige.

Zuzugeben sei, daß die statistischen Zahlen oft große Begelmäßigkeit auf¬ weisen, selbst bei scheinbar willkürlichen Handlungen, z. B. beim Selbstmord. Man darf aber nie außer acht lassen, daß gerade hier meist kleine Zahlen vor¬ liegen. Derartige Zahlen können nie eine Sicherheit, sondern nur eine Wahr¬ scheinlichkeit geben. Hier spielen ja auch die Motive eine bedeutende Bolle, und Motive richtig zu erkennen, ist für die Statistik fast ausgeschlossen. Man sieht das ja gerade bei den Schülerselbstmorden. Wen hat man dafür nicht alles verantwortlich gemacht! Die Lehrer, den Unterrichtsplan, das Elternhaus, die Empfindlichkeit, überhaupt das Temperament des Schülers, seinen Entwicklungs¬ zustand, die Schundliteratur, den Verkehr in schlechter Gesellschaft usw. Könnte man Motive erkennen, so hätte man die Wurzel vieler Übel gefunden. In diesem Zusammenhänge sei auch die Neigung zum Verbrechen, das penchant au crime, erwähnt. Endlich können die statistischen Begelmäßigkeiten, die sich besonders bei Massenbeobachtungen eben infolge der Eigenschaft der Nivellierens bei der Masse ergeben, wie beispielsweise die Geburten- und Sterbehäufigkeiten, durch irgendein die Menge beeinflussendes Ereignis, wie z. B. eine Epidemie, eine Wirtschaftskrisis, im umgekehrten Sinne auch durch eine medizinische Entdeckung, wie Serum und dergleichen, leicht aufgehoben werden. Sie sind also nichts für die Dauer Bestehendes.

Und nun noch eins. Gerade bei den am meisten sprechenden Gesetzmäßig¬ keiten, wie bei dem berühmten Überschuß der Knabengeburten, ist man von der Erkenntnis der Ursachen weit entfernt. Kausalität, Gesetz und Tatsache sind eben verschiedene Begriffe.

Müssen wir also der Statistik zurzeit die Fähigkeit absprechen, Kausal¬ zusammenhänge in der wundervollen Klarheit erkennen zu lassen, wie es die Mathematik vermag, so haben wir unserer Zahlenwissenschaft damit noch lange nicht das Todesurteil gesprochen. Denn einmal ist im Bereich der weltlichen Tatsachen im Gegensatz zum Gebiete des abstrakten Denkens der Begriff der Notwendigkeit umstritten, worauf besonders David Hume hingewiesen hat, dessen auf den 26. April d. J. gefallenen 200jährigen Geburtstag ja die ganze gebildete Welt gefeiert hat; zum anderen Male besteht ja auch die Auf¬ gabe der Statistik wesentlich darin, zu schildern, was ist und wie es ist, nicht aber, warum oder wieso es ist. Das Schlußziehen überlassen wir Statistiker den Konsumenten. Uns liegt nur daran, richtige Zustandszahlen sachgemäß fortlaufend zu sammeln und zu verarbeiten, also zu produzieren. In

29*

448 Alls der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.

dieser wichtigen, ja vielleicht unentbehrlichen Tätigkeit dürfen und werden wir uns durch keine Vorwürfe der Unzulänglichkeit beirren lassen.

Sitzung vom 18. Mai 1911.

Herr A. Crzellitzer, Berlin, trägt vor über ?rDie Berliner städtischen Eamilien-Stannnbticher und ihre Ausgestaltung für die Zwecke der Yer- erbungsforschung und der sozialen Hygiene44. Der preußische Staatsbürger bildet vom ersten bis zum letzten Augenblick seines Lebens unzähligen Behörden gegenüber das Objekt eines Personal attestes. Vom Geburtsschein angefangen, über den ersten Impfschein, den Annahmebefund des Schularztes, den zweiten Impfschein, den Schulentlassungsschein, die Militärpapiere, den Trauschein bis schließlich zum Totenschein gibt es so viele Formulare, daß eine stattliche Do¬ kumentenmappe mit diesen zu füllen wäre. Ist das Individuum öfters krank, so kommen noch hinzu eventuell die Bescheinigungen der Säuglingsfürsorgestelle, der Ferienkolonie - Annahme- und -Entlassungsschein, desgleichen von Wald¬ erholungsstätten; Entlassungsscheine aus einem Krankenhaus; Unfallmeldungen bei beruflichen Verletzungen , Invalididätsbescheinigung ; eventuell Schein einer Tuberkulose- oder Trinkerfürsorgestelle und andere mehr. Dabei habe ich nur die¬ jenigen Scheine erwähnt, die sich auf Personenstand und Körperzustand beziehen und ganz beiseite gelassen alle auf die berufliche Ausbildung, auf erworbene Titel oder Hechte bezüglichen. Ganz abgesehen davon, daß die Vielheit aller dieser Personalpapiere ihre Aufbewahrung recht erschwert ein Arbeiter mit karger Habe und engem Raum wird kaum so leicht alle geordnet beisammenhalten können ganz davon abgesehen stellt diese „Verzettelung“ auch eine außer¬ ordentlich unpraktische Vergeudung von Zeit und Mühe der ausstellenden Be¬ hörden dar. Genau dieselben Fragen nach Geburtsort und Geburtstag, nach Stand und Namen der Eltern, deren Geburts- und ev. Sterbedaten müssen so ziemlich von allen Behörden immer aufs neue erkundet und aufs neue aufnotiert werden. So und so viele andere Angaben, die nicht auf den Scheinen selbst, aber in den ent¬ sprechenden Journalen der Behörden notiert werden, sind einfach verloren und vergraben. Wenn sich der Impfarzt eine Notiz macht, die den Fürsorgearzt der Säuglingsfürsorgestelle höchlichst interessieren würde, bleibt sie doch diesen ewig unbekannt, weil der nur seine eigenen Journale, aber nicht das der Impfstelle vor Augen hat. Eine Angabe des Fürsorgearztes könnte dem Schularzt wichtige Fingerzeige geben, aber sie ist wieder diesem unerreichbar; dasselbe gilt für die militärärztliche Untersuchung, die nicht auf dem Schülergesundheitsschein fußen darf, obgleich ihr das viele Mühe abnehmen könnte. Was im Totenschein des Vaters steht, kann der den Sohn behandelnde Arzt höchstens erfahren, wenn er den Antrag auf Einsicht in die Standesamtsregister stellt und (nach Tarif A 1) für jeden eingesehenen Jahrgang 50 Pfg. zahlt. So arbeiten alle diese Behörden oder Institutionen nicht m i t einander, sondern neben einander, ohne amtlich von¬ einander zu wissen, ohne aus der Existenz der andern Nutzen zu ziehen, in einer ungeheuerlichen Verschwendung von Mühe, Papier und Tinte. Schon oft und von verschiedenen Seiten ist auf diesen Mißstand hingewiesen und der Versuch zu seiner Abhilfe gemacht worden.

Zweierlei ganz verschiedene Wege boten sich dar; der eine war der, all diese jetzt von verschiedenen Behörden resp. Ärzten gemachten Erhebungen möglichst in einer Hand, an einer Stelle, in einem Journal zu konzentrieren. So

Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 449

entstand die Gott st ein sehe Idee der Gemeindebezirksärzte (vgl. Deutsche med. Woch. Nr. 13, 1908 und Mediz., Eeform S. 517, 1908); für 40000 50000 Ein¬ wohner ein Bezirksarzt (mit 1—2 Assistenten und eventuell noch Volontären), der zugleich Armenarzt, Schularzt, Ziehkinderarzt, Impfarzt, Fürsorgestellenarzt, Unter¬ sucher für Heilstätten und Ferienkolonien sein soll. Gegen diese Idee erhob sich nicht bloß der Widerspruch der praktischen Ärzte, die in fliesen Vorschlägen den Anfang und Keim zur Verstaatlichung ihres Standes befürchteten, sondern auch der Einwand, daß beim Verzug aus dem Bezirk die Einheitlichkeit des Be¬ obachters doch nicht gewahrt sei und bei der starken Binnenfluktuation unseres Proletariates ohne eine Mitteilung der Notizen an die Zentrale nicht auszu¬ kommen sei.

Die andere prinzipielle Abhilfemöglichkeit war die, nicht ein und den¬ selben Arzt dem Individuum mitzugeben, sondern nur ein und dasselbe Journal resp. den „Gesundheitspaß“, in den sich die verschiedenen Behörden einzeichnen.

Der erste und zugleich radikalste Vorschlag wurde von Schallmayer schon 1891 gemacht und in den beiden Auflagen seiner preisgekrönten Schrift über „Vererbung und Auslese“ 1903 und 1910 wiederholt: Für jede Person sollten von Geburt an gewisse zur Erkennung ihrer Erbanlagen dienliche Be¬ obachtungen durch ärztliche Staatsbeamte festgestellt und auf einen obligatorischen erbbiographischen Personalbogen notiert werden.“ Die Summe dieser Angaben „würde allmählich zu Familienstammbüchern führen, die nicht nur über Krank¬ heitsanlagen, sondern auch über nicht pathologische Eigenschaften einer Familie Aufschluß geben“. Schall mayer setzt also für diese seine Idee die Verstaat¬ lichung des Ärztestandes als Grundlage voraus und geht im übrigen gar nicht ein auf die so außerordentlich wichtigen technischen Fragen, wo diese seine ob¬ ligatorischen Personalbogen aufbewahrt, wie sie dem (dank der Freizügigkeit stark fluktuierenden) Beobachtungsobjekt nachtransportiert werden, bei welchen Anlässen die Kontrolluntersuchungen vorzunehmen seien und dergleichen mehr. „Leicht beieinander wohnen die Gedanken, doch hart im Baume stoßen sich die Sachen.“ So leicht es ist, derartige umfassende Pläne aufzustellen, so schwer türmen sich die Hindernisse vor ihrer praktischen Verwirklichung. Bei weitem bescheidener und daher vorläufig leichter ausführbar sind die Vorschläge, die nur eine Verbindung zwischen wenigstens einigen der vorhin genannten Untersucher anstreben. Den Anstoß zu einer wertvollen Diskussion gab im Kreise dieser Gesellschaft der Vortrag, den Boas im Dezember 1907 über „Ärztliche Auskunfteien“ hielt. Er wollte allerdings hauptsächlich dem Praktiker die Möglichkeit schaffen über einen Patienten authentisches anamnestisches Material aus der Auskunftei zu erhalten. Daher müßten an diese (mit Bewilligung der Kranken) von allen der Auskunftei angeschlossenen Ärzten regelmäßige Auskünfte eingesandt werden. In der Diskussion prägte Denn hoff den wichtigen Begriff des „Gesundheits¬ nationale, das den Arbeiter begleiten solle“ und in das „Kurze Notizen über Krankheiten usw. einzutragen wären.“ May et führte den Bo a s sehen Vorschlag bis in seine letzteu Konsequenzen. Bei einer einheitlichen Zentralauskunftei für ganz Deutschland würden von Hebammen, Impfärzten, Schulärzten, Waisenhaus-, Fürsorgerziehungs-, Militär-, Krankenkassen-, Berufsgenossenschafts-, (d. h. Unfall¬ meldungen), Lebensversicherungs-, Lungenheilstätten-, Klinikassistenz-, Blinden- anstalts-, Tanbstummenanstalts-, Entbindungsanstalts-, Wöchnerinnenheim-, G e- fangenenanstalts-, Polizei-, Armenärzten und Leichenbeschauern im ganzen jährlich ca. 27,3 Millionen Meldungen einlaufen; das würde bei 60 Millionen Menschen also

450 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin. Hygiene und Medizinalstatistik.

heißen, für ein Individuum ca. in zwei Jahren eine Meldung. Etwas später schlug Fürst vor, die Schüler-Gesundheitsscheine an die Militärärzte zur Musterung einzureichen; Hahn: außer diesen auch noch die Impfscheine nebst Bemerkungen über die Art der Säuglingsernährung. Hugo Neumann plädierte energisch für Inbeziehungsetzung der Säuglingsfürsorge mit der schulärztlichen Fürsorge, den Ferienkolonien und dergleichen. Schließlich erweiterte Tugendreich (Ber¬ liner klin. Woch. 1908, Nr. 23} alle diese Vorschläge zur Forderung des Kranken¬ passes im S c h allm a y er sehen resp. L ennh off sehen Sinne, für den er aber den wohlklingenderen Namen „Gesundheitskarte“ erfand. Auf dieser Karte sollten alle beamteten Arzte , wie Impfärzte, Schulärzte , Militärärzte in ein¬ heitlicher Weise ihre Befunde eintragen. Wer in Säuglingsfürsorge tritt, nach Ferienkolonien, Lungenheilstätten oder in Krankenhäusern verschickt wird, er¬ hielte dort ebenfalls einen Eintrag, Wer es wünscht, könnte schließlich von seinem Privatarzt auch einen Eintrag erbitten. Diese Formulierung von Tugend¬ reich kommt sehr nahe an das heran, was uns allen wohl als ideale Lösung des Problems vorschwebt. Nur einige praktische Schwierigkeiten sind es, die von ihm nicht erörtert wurden, die aber vielleicht die Ursache sind, daß bis heute der Vorschlag wohl nirgends verwirklicht wurde. Zunächst, wer soll diese Gesundheitskarte kerstellen ? Soll man sie kaufen ? Das setzt einen Grad sozial- hygienischer Einsicht voraus, der heute nicht vorhanden ist. Die Ausgabe selbst weniger Pfennige wird von der großen Masse gescheut, weil sie nicht weiß, wo¬ zu und warum. Aus demselben Grunde würden die Karten ohne Zwang auch nicht aufbewahrt werden ; sie gehen verloren, werden verbummelt, eventuell auch bewußt vernichtet, wenn ihr Inhalt dem Träger nicht konveniert. Ferner, wenn der Impfarzt z. B. wie bisher sein Journal führen soll, außerdem den Impfschein ausstellen und dann noch die Gesundheitskarte nebenbei, so erwächst ihm eine Mehrarbeit, die er nicht leistet, wenn sie nicht bezahlt wird; gleiches gilt für Schulärzte. Der einzige Fehler des Tug endreich sehen Vorschlages war eben der, daß er auf privater Initiative auf baut, wo die Voraussetzungen fehlen, nämlich die Durchtränkung der öffentlichen Meinung mit dem Bewußtsein des Wertes derartiger Aufzeichnungen für jeden einzelnen.

Nun haben aber derartige fortlaufende Registrierungen keineswegs nur privaten Wert. Sie nutzen gewiß dem Individuum, aber ebensosehr und vielleicht noch mehr der Allgemeinheit, der Hygiene, der Medizin, der Vererbungsforschung und der Staatswissenschaft. Bei dieser Sachlage ist ein Fortschritt nur zu erhoffen, wenn nicht private Initiative, sondern diejenige des Staates oder der Kommune zum Ausgangspunkt genommen wird.

Sollen wir darum etwa eine besondere Behörde, etwa kommunale oder pro¬ vinzielle Gesundheitsämter vorschlagen? Mit einem riesigen Etat an Beamten, an Papier und Porti für Korrespondenzen mit allen den Einzel-Untersuchungs¬ stellen, womöglich mit Bezahlung an diese für ihre Mehrarbeit? Das wäre sehr aussichtslos und würde am Widerstande verantwortlicher Finanzmänner scheitern! Wohl aber erscheint ein gangbarer Weg anzuknüpfen an eine bereits vorhandene Institution, die nur in einigen Stücken auszubauen wäre, um alles zu leisten, was verlangt wird. Diese Institution sind die städtischen Familien¬ stammbücher, wie sie die Stadt Berlin im Jahre 1897 eingeführt hat. Da diese offenbar noch nicht allzusehr bekannt sind, beschreibe ich sie zunächst, wie sie jetzt aussehen, und zwar nicht bloß in Berlin selbst, sondern auch in einer großen Zahl seiner Nachbargemeinden, die genau dieselben Bücher eingeführt

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haben. Jedes neuvermählte Paar erhält auf Wunsch vom Standesbeamten gegen Entrichtung von 50 Pfg. ein solches Buch, gleich versehen mit Eintragung und Beglaubigung der Eheschließung. Es ist von Oktavformat, in festem Pappdeckel mit der Goldprägung „Familienstammbuch“ gebunden und enthält 55 Seiten. Nach einem Vorwort, in dem auf die urkundliche Beweiskraft des Buches für die Zwecke des täglichen Lebens hingewiesen wird, folgen ein paar Seiten, auf denen Namen, Stand und Wohnung der Eheschließenden, sowie ihrer Eltern, Geburts¬ tag, Geburtsort, sowie Religion der ersteren einzutragen sind. Daneben ist Raum für die Beglaubigung des Standesbeamten, für die Eintragung des Tages und Ortes der kirchlichen Trauung, sowie für die Beglaubigung durch den voll¬ ziehenden Geistlichen, schließlich für die Angabe von Sterbedatum, Sterbeort und ein schmaler Raum für „sonstige Bemerkungen“. Dann folgt Teil II, betitelt ..die Kinder“; und zwar ist für zwölf Platz gelassen; für jedes einzelne ein Streifen von ca. 7 cm. Höhe und 42 cm. Länge reserviert; auf diesen soll resp. kann eingetragen werden: Namen, Geburtstag und -orts, Beglaubigung des Standes¬ beamten, Tag und Ort der Taufe, Religion mit Beglaubigung des vollziehenden Geistlichen , Sterbetag und -ort mit Beglaubigung des Standesbeamten , Namen der Taufzengen, Tag und Kirche der Konfirmation, Tag, Ort, Standesbeamte und Kirche der Trauung und eine schmale Rubrik: sonstige Bemerkungen. Teil III (betitelt „Großeltern der Ehegatten“) enthält auf einer Seite die Großeltern des Bräutigams, auf der benachbarten diejenigen der Braut, und zwar für jede dieser acht Personen Namen, Stand, Wohn- oder Sterbeort. Dann kommt weißes Papier betitelt : „Gedenkblätter“) 11 Seiten; als Anhang schließlich ein Auszug aus den gesetzlichen Vorschriften über die Anmeldung und Be¬ urkundung der Geburten und Sterbefälle sowie ein Gebührentarif.

T)ie ganze Einrichtung hat, wie im Vorwort angegeben, den Zweck, die An¬ gaben über Eheschließung, Eheeinsegnung, Geburten, Taufen und Sterbefälle in amtlich beglaubigter Form für alle möglichen ZAvecke, private wie auch den Be¬ hörden gegenüber, zusammenzufassen. Nur diese Angaben werden amtlich ein¬ getragen, alle anderen Rubriken, also die Angaben betreffend Konfirmation und Verehelichung der Kinder, sowie insbessondere diejenigen betreffend die Gro߬ eltern und Eltern des Brautpaares, bleiben der freiwilligen Selbsteintragung über¬ lassen, die allerdings warm empfohlen wird. Der Ausbau hätte meines Erachtens nach zwei Richtungen zu erfolgen; einmal kann die Zahl der Rubriken um einige wichtige Vordruckspalten vermehrt werden; sodann aber zweitens muß an Stelle der fakultativen Abgabe des Buches die obligatorische an alle Brautpaare, an Stelle des fakultativen, völlig unkontrollierten Eintrags durch die Inhaber die obligatorische, durch die Beamten beratene Eintragung in alle Rubriken und schließlich an Stelle des Verbleibens der Bücher in der Privathand die Rück¬ lieferung an die Behörde treten, sobald die Familie aufgehört hat, als solche zu existieren. Was zunächst die Abgabe der Bücher anlangt, so ist der Preis von 50 Pfg. zwar sicherlich niedrig genug. Nichtsdestoweniger gibt es genug Braut¬ paare, die freiwillig das Buch nicht anschaffen. Aus einer Mitteilung im Ge¬ meindeblatt der Berliner Stadtverwaltung entnehme ich, daß im Jahre durch¬ schnittlich 22000 Ehen geschlossen, aber nur 15000 Stammbücher abgesetzt werden, also nur 68% der Eheschließenden von der Einrichtung Gebrauch machen. Hierzu mag beitragen, daß nicht alle Standesbeamten mit gleicher Wärme und gleichem Eifer den Absatz propagieren. Zweckmäßigerweise hätte die Abgabe der Bücher bereits bei der Anmeldung des Aufgebots, für die eine Gebühr von

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50 Pfg. erhoben werden könnte, zu erfolgen. Es würde alsdann der Schein ver¬ mieden, daß man die Eheschließenden zwingt, ein Buch zu kaufen. Während der Zeit bis zur Trauung hätte dann das Brautpaar Muße, die Personaldaten betreffend Eltern und Großeltern durch Rückfragen und dergleichen zu ermitteln und in das Buch einzutragen. Der Standesbeamte geht dann während des Trau¬ aktes die Eintragungen durch und kontrolliert ihre Rubrizierung. Eine wesentliche Mehrarbeit für ihn bedeutet das nicht, denn er ist schon heute genötigt, für sein Register fast alle diese Fragen zu erheben. Der beste Ansporn zu sorgfältiger und ordnungsgemäßer Beantwortung der Personalfragen läge in dem Zwange, das Buch ausgefüllt vorlegen zu müssen, um getraut zu werden.

Ein weiteres prinzipielles Novum bedeutet die Rücklieferung der Bücher an die Behörde. Gewiß kann die Einrichtung, wie sie heute besteht und erst recht, nachdem sie obligatorisch gemacht und inhaltlich bereichert ist, schon segensreich genug wirken, auch wenn die Bücher ihrem Inhaber beliebig und unkontrolliert überlassen bleiben. Der Familiensinn, der dem Proletariat der Großstadt in so erschreckender Weise abhanden gekommen ist, wird zweifellos auch durch frei überlassene Familienbücher wirksam angeregt. Alle die Er¬ leichterungen im Wirtschaftsleben, in den Fällen, wo Urkunden vorgelegt werden müssen oder bei der Gesundheitspflege der einzelnen Familienglieder, wo es sich darum handelt, gewissermaßen eine beglaubigte Anamnese jederzeit zur Hand zu haben, alle diese Erleichterungen und Vorteile kommen gewiß (solange der Familen- vater das Buch aufbewahrt !) zur Geltung. Aber es dient doch sozusagen nur der Einzelfamilie. Die Allgemeinheit, die Wissenschaft, und zwar sowohl die Statistik, wie die soziale Medizin, wie die Vererbungsforschung; sie gehen leer aus, solange das in den Familienbüchern sich aufhäufende Material in tausend privaten Schränken der Vergessenheit und der Vernichtung anheimfällt. Soll dieses Material nicht bloß der individuellen Hygiene dienen, sondern auch der sozialen, so ist es erforderlich, daß die Bücher zu irgendeinem Zeitpunkte an die Behörden zurück¬ fließen und so der wissenschaftlichen! Bearbeitung zugänglich werden. Das Natürlichste ist, diesen Zeitpunkt dann anzusetzen, wenn die Familie als solche ihren natürlichen Zusammenhalt verloren hat, d. h. wenn beide Gatten tot sind. Im allgemeinen sind alsdann die Kinder erwachsen, eventuell verheiratet und selbst Inhaber eigener Familienbücher geworden. Das individuelle Interesse am Buch und seinem Inhalt ist nunmehr meistens so gering geworden, daß unbe¬ denklich bei der Sterbemeldung eines Witwers oder einer Witwe das Familien¬ buch auf dem Standesamt zurückbehalten und an die Zentrale eingesandt werden kann. Den etwaigen Hinterbliebenen bleibt es natürlich freigestellt, vor der Rück¬ lieferung im eigenen Interesse wichtige Daten zu kopieren. Auch kann jederzeit nachträglich, ebenso wie heute die Standesamtsregister zur Einsicht gegen mäßige Gebühr freistehen, Einsicht in bereits erloschene Familienbücher, eventuell ein beglaubigter Auszug aus denselben an Nachkommen oder Interessenten gewährt werden.

Soviel über die Ausgestaltung der Familienbücher- Abgabe und -Einforderung.

Nun käme ich zur Ausgestaltung des Inhalts. Schon heute werden Gro߬ eltern und Eltern der Brautleute erfragt. Nur ist die Anordnung dieser Fragen, resp. ihre Zerstreuung auf Teil I und Teil III nicht sehr praktisch, statt dessen empfiehlt es sich vielleicht, diese Angaben geordnet voranzustellen, und zwar so, daß Seite 1 und 2 der Aszendenz des Bräutigams, Seite 3 und 4 derjenigen der Braut gewidmet sind. Ich denke hierbei an einen Vordruck, wie ich ihn

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für meine Familienkarten vorgeschlagen habe, und hier können mühelos neben dem Bräutigam, seinem Vater und seiner Mutter die Geschwister, und zwar in der Geburtsreihenfolge eingezeichnet werden. Diese letztere Forderung wird vielleicht heute noch auf Widerstand stoßen. Würde sie erfüllt, so wäre, neben¬ bei gesagt, für die Kinder der das Buch begründenden Gatten ohne weiteres die Sippschaftstafel gegeben, denn eine Familienkarte stellt eine halbe Sippschafts¬ tafel dar, insofern die Gleichung besteht : Inderselben Weise enthält Seite 3 und 4 die Braut, ihre Geschwister, Brauteltern, deren Geschwister, sowie Brautgro߬ eltern. Für jede Person gebe ich ein Feld, eckig für Männer, rund für Frauen; in dieses ist neben dem Vordruck: Vorname, Familienname, Geburtstag, Geburts¬ ort, Stand, Sterbetag, Sterbeort, die entsprechende Ausfüllung zu setzen. Ich bitte Sie, nicht zu erschrecken über diese vielen Fragen, denn es sind genau dieselben, wie sie heute schon in den Familienbüchern, allerdings unübersichtlich und ver¬ streut stehen. Seite 5 und 6 dient, genau wie in den vorliegenden Büchern, der Registrierung des Eheschlusses, der Religion, der kirchlichen Trauung und der Sterbemeldung der Ehegatten. Nur der Raum für die letztere wäre eventuell durch Einbeziehung der jetzigen Rubrik „sonstige Bemerkungen“ zu vergrößern, damit Raum gewonnen wird für einige der aus dem ärztlichen Totenschein zu kopierenden Angaben, insbesondere unmittelbare Todesursache und mittelbar zum Tode führende Krankheit. Die Schreibarbeit würde übrigens bei Sterbefällen nicht vergrößert, sondern verkleinert werden, denn ich darf daran erinnern, daß heute in Groß-Berlin drei Urkunden ausgefüllt werden, I. ein ärztlicher Totenschein, II. ein Eintrag in das Standesamtsregister, III. eine standesamtliche Beschei¬ nigung, auf die hin die Beerdigung erfolgen darf. Mindestens diese letztere kann in Fortfall kommen und durch den Eintrag in das Familienbuch ersetzt werden, sobald dieses obligatorisch gemacht ist. Alle Fragerei und Schreiberei betr. Eltern, Gatten und Kinder eines Verstorbenen fällt eo ipso fort bei Vorlegung des Buches. Die Angabe der Todesursache könnte zunächst als eine Inhumanität gegen die Hinterbliebenen und ein Verstoß gegen die ärztliche Schweigepflicht angesehen werden, doch halte ich gerade diese Angabe für enorm wichtig, sowohl praktisch in Krankheitsfällen der Hinterbliebenen wie theoretisch für Erblich¬ keitsforschung und Medizinalstatistik. Eventuell könnten die Krankheiten durch Chiffre bezeichnet werden, wie das die Militärbehörde bei der Musterung tut. Ob für die Ehegatten außerdem noch wichtigere Krankheiten hier vermerkt werden sollen, ist eine Frage, die ich zur Diskussion stelle, aber nicht zu ent¬ scheiden wage. Gewiß wäre es leicht möglich, in einer Spalte Raum zu lassen für die Registrierung jedes Krankenhausaufenthaltes. Schon heute gibt jedes Krankenhaus einen Entlassungsschein , der diverse Angaben enthält. Hier im Familienbuch würde der Stempel des Krankenhauses, Aufnahme- und Entlassungs¬ tag und die (event. chiffrierte) Krankheitsbezeichnung genügen. Auch Heilstätten- Fürsorgestellen könnten, wenn man will, ihren Stempel nebst Datum einfügen. Die hygienischen Vorteile eines so vervollständigten „Gesundheitspasses“ liegen auf der Hand. Ebenso klar sind aber auch die Widerstände, die in der Scheu wurzeln, vor Gatten und Kindern oder gar dritten Personen gegenüber blo߬ gestellt zu werden. Von Seite 7 ab beginnt der den Kindern der Familie gewidmete Raum, den ich insofern vergrößere, als ich für jedes der „amtlich vorgesehenen 12“ Kinder zwei volle Seiten beanspruche. Mit dreißig gleich großen Seiten wäre also im Ganzen auszukommen, d. h. genau derselben Seitenzahl, wie sie jetzt für Großeltern, Eltern und Kinder vorgesehen sind nur, daß jetzt

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ein Teil der Seiten schmälere Halbseiten sind. Alle für die Kinder jetzt vor¬ gesehenen Rubriken sollen bestehen bleiben, also: Vornamen, Tag und Ort der Geburt, Standesamtsvermerk darüber, Religion, Tag und Ort des Todes, Standes¬ amtsvermerk darüber, sowie die als Anfänge einer Familienchronik gedachten: Tag und Ort der Taufe, Vermerk des taufenden Geistlichen, Taufzengen, Tag und Kirche der Konfirmation, Verheiratung (Tag, Ort, Standesamt, Kirche; Name des Gatten). Zu diesen jetzt vorhandenen Rubriken, die bequem etwas enger gedruckt werden könnten, schlage ich vor, folgende neue hinzuzufügen:

1. Impfvermerk durch den impfenden Arzt; Datum und Unterschrift. Auf dem Polizeirevier, wie jetzt der Impfschein, gegengestempelt. Daneben der Vermerk für die Wiederimpfung mit 12 Jahren. 2. Vermerk der ev. konsul¬ tierten Säuglingsfürsorgestelle, die ihren Stempel eindrückt, das Datum, die Nummer ihres Journals und ev. wichtigere Befunde. Angabe der Still¬ dauer entweder durch den Impfarzt oder durch den Fürsorgearzt oder schließlich durch den Schularzt. 4. Schularzt vermerk bei der Einschulung mit Angabe der Schule, der entsprechenden Nummer in seinem Journal und eventuellen wichtigen Angaben über bestimmte körperliche Abweichung von der Norm. 5. Vermerk der Ferienkolonie, Walderholungstätte oder sonstigen, event. aufgesuchten derartigen Institutionen. Immer so wenig Worte wie möglich. Stempel, Datum, Journalnummer. 6. Abschlußvermerk des Schularztes beim Verlassen der Schule. 7. Eintrag des Ergebnisses der militärärztlichen Unter¬ suchung bei der Gestellung (mit der Chiffre). Dem Militärarzt wird durch die Vorlegung des Buches so viel Mühe abgenommen, daß dafür die kleine Mühe¬ waltung des Eintrages, den ja doch der Sanitätsunteroffizier aus der Stammrolle kopieren kann, wohl beansprucht werden darf.

Ein Präzedens liegt vor in dem Erlaß betr. „Mitteilung an die unteren Verwaltungsbehörden zur Einleitung eines Heil- oder Vorsorgeverfahrens“ vom Jahre 1907. Dieser Erlaß galt doch nur irgendwie körperlich Defekten, denen Heilfürsorge verschafft werden soll. Ein weit erheblicheres Interesse aber, als an diesen, hat die Militärbehörde an der Förderung der Familienstammbücher. Sind doch die großen und wichtigen Fragen der Tauglichkeitsstatistik , der Differenz zwischen Stadt und Land mit Sicherheit nur dnreh Familienforschung zu lösen. Es ist selbstverständlich, daß jedes Familienbuch eine laufende Aus¬ gabenummer bekommt; jede in Berlin geborene Person wäre dann durch die eigene Ordnungsziffer innerhalb der Buchnummer eindeutig und für immer charakterisiert z. B. „Kind Nr. III aus Familie 1910 Nr. 318“. Eine Eintragung dieser Familien¬ buchnummer in öffentliche Journale, Akten und Register, (wie Waisenhaus- Auf¬ nahme-Journal, Polizeiakten, Gefängnisakten etc.) würde die event . später not¬ wendig werdenden Nachforschungen sehr erleichtern, sei es für wissenschaftliche Zwecke, sei es für praktische, z. B. die Frage, ob erbliche Belastung da ist und in forensischen Fällen zu mildernden Umständen führen soll usw. So wünschens¬ wert es wäre, für jeden Deutschen ein derartiges Buch zu schaffen, so utopisch wäre heute ein solcher Wunsch. Für Groß-Berlin ist es möglich, weil nichts Neues zu schaffen, sondern nur Vorhandenes auszubauen ist. Vielleicht ginge es sogar ohne die Umständlichkeit einer Gesetsesänderung durch bloße Verständi¬ gung zwischen den Polzeiverwaltungen , dem Oberpräsidenten und den Einzel¬ magistraten. Es ist klar, daß andere Großstädte folgen würden, wenn die Möglich¬ keit und Durchführbarkeit erst erwiesen ist. Natürlich müßte für ganz Groß- Berlin die Aufbewahrung an einer Zentralstelle erfolgen, und zwar am besten in

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streng alphabetischer Folge der Familienväter geordnet. Als Ergänzung dienen Jahresregister, die neben der Buchnummer den Namen enthalten, so daß jeder¬ zeit aus der bloßen Nummer die Familie festzustellen ist. Bas Ganze bietet weniger Schwierigkeiten als heute ein Einwohnermeldeamt, da ja eine größere Anzahl von Einwohnern in einem gemeinsamen Familienbuch enthalten, also viel weniger Bücher aufzubewahren sind, als heute Personalkarten. Ich bin am Schlüsse. Heute wollte ich nur die Einrichtung als solche mit wenigen Strichen skizzieren. Es ist unmöglich, auf alles das einzugehen, was durch solche Insti¬ tution geleistet und genützt werden könnte.

Heute isf fast alles, was an sozialmedizinischer Statistik bis jetzt gearbeitet worden ist, Einzelforschung und Enquete. Nicht nur meine eigenen Erblichkeits- Untersuchungen sind Stückwerk und dürfen nicht verallgemeinert werden, sondern auch, was Andere auf diesem Gebiet versucht haben, bleibt zur Erfolglosigkeit vorläufig verurteilt. Wenn z. B. vor drei Jahren Grub er in München versucht hat, aus der Beantwortung einer Bundfrage bei dortigen Ärzten über die Gebürtigkeit und über die eventuelle Lebensunfähigkeit der vom Lande nach der Großstadt verpflanzten Familien Schlüsse zu ziehen, so war das eben nur Einzelforschung. Und wenn unser Mitglied Herr W e inberg aus den Stuttgarter Familienregistern gewiß außerordentlich wertvolle Schlüsse gezogen hat, oder wenn neuerdings ein Buch von Schott über alte Mannheimer Familien (auf Grund alter Familien¬ karten aus den Jahren 1807 bis 1900) herausgekommen ist , so sind doch solche Untersuchungen, ob aus München oder Stuttgart oder Mannheim , schon dadurch stark in Nachteil gesetzt, daß aus einer solchen Stadt wie Mannheim oder Stutt¬ gart viele Familien fortzieheu und daher die ohnehin viel zu kleine Zahl dieser Familienkarten noch stark vermindert wird;

Ganz anders liegt das aber bei Groß-Berlin. Zwar ziehen auch aus Berlin Menschen fort, aber die Eigenart unserer Binnenwanderung bringt es mit sich, daß die übergroße Anzahl der Menschen, die alljährlich aus dem weiten Vater¬ lande der Hauptstadt Berlin zufluten, auch hier bleibt. Bleiben sie nicht in der Stadt Berlin, sondern wechseln sie wie man beim Wild sagt über die Grenze und ziehen von Berlin S nach Bixdorf oder von Berlin N nach Beinickendorf, so bedeutet dies keinen Unterschied für Groß-Berlin. Wenn man Groß-Berlin im weitesten Sinne faßt oder die Provinz Brandenburg, so ist das Verhältnis der sich der Untersuchung Entziehenden für Groß-Berlin ganz außerordentlich besser als für andere Städte. Eine ganze Beihe von Problemen und Fragestel¬ lungen , die jetzt in der Luft liegen und unerledigt bleiben , ließe sich dann er¬ ledigen. So z. B. wird jetzt auf den rassenhygienischen Gesichtspunkt hinweisend von den verschiedensten Seiten beim Beichstag um eine Vorschrift petitioniert, die jeden Menschen, der sein Aufgebot beantragt, zwingen soll, ein Gesundheits¬ attest beizubringen. Diese Einrichtung ist in einigen Staaten Nordamerikas be¬ reits verwirklicht. Man hofft die Gattenwahl, die bisher durch ganz außerhalb hygienischer Erwägungen liegende Gesichtspunkte orientiert wird, nach dieser neuen Bichtung zu beeinflussen. Nun ist fraglos, daß eine obligatorische Führung von solchen Familienbüchern dieses rassenhygienisch wünschenswerte Interesse erhöhen werde. Ferner! Man diskutiert über Stillfähigkeit; ob sie dauernd ab¬ nimmt oder nicht. Ob die Langlebigeit sich vererbt, die Lebensalter der verschie¬ denen aufeinanderfolgenden Generationen abnehmen. Uber Lebensalter der ersten Eheschließung; über die Dauer des Zeugungsalters; über Kinderzahl, heute ver¬ glichen mit den früheren usw. Einen Teil der soeben aufgeführten Probleme hat

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Schott vergeblich versucht zu lösen. Alles das würde aber aus dem umfang¬ reicheren Material von Groß-Berlin ohne weiteres zu beantworten sein.

Ebenso ergäben sich sichere Schlüsse über die Vererbung gewisser Anomalien und Krankheiten. Genug für heute! Lassen Sie mich schließen mit einem Ver¬ gleich. Jeder Mensch, der heutzutage mit Familienforschung sich beschäftigt^ und zwar nicht bloß in Deutschland, sondern in der ganzen Welt, ist ungefähr in derselben unangenehmen Lage , in der sich vielleicht einstmals die Maler be¬ funden haben, als sie noch gezwungen waren, ihre Farben selbst zu reiben, ihre^ Leinwand selbst zu spannen und den Rahmen seihst zu zimmern. Wer heut¬ zutage auf irgendeinem Gebiet, sei es dem der Augenkrankheiten oder irgendeinem andern, arbeiten will, muß sich erst den Rahmen seiner Arbeit, das Gerüst, herbei¬ schaffen. Das ist aber eine Mühe, die so groß ist, daß viele gar nicht darüber hinauskommen. Wenn es gelingt, durch ausgestaltete Familienbücher der Familienforschung den Rahmen zu zimmern und die Grundlage zu bieten, auf der sie dann weiter arbeiten kann, so ist der Zweck dieses Vortrages in vollem Maße erfüllt!

Sitzung vom 2. November 1911.

Herr 0. Ju li usburger, Steglitz-Berlin, trägt vor über „die soziale Be¬ deutung der Psychiatrie44. In einer Zeit, zu deren Lichtseiten es gehört, die sozialen Aufgaben der Gesellschaft immer mehr und mehr zu erkennen, und sich der hohen Verpflichtung immer bewußter zu werden, an die tatkräftige Lösung jener heranzugehen, dürfte es sich von selbst verstehen, Klarheit zu gewinnen über die soziale Bedeutung der Psychiatrie. Noch in seinem klassischen „Grund¬ riß der Psychiatrie“ konnte Karl Wernicke im Jahre 1900 die bedeutsamen Worte aussprechen: „Leider ist die Lehre von den Geisteskrankheiten zugleich dasjenige Gebiet, welches in seiner Entwicklung zurückgeblieben ist und noch jetzt auf einem Standpunkt steht, wie vor etwa einem Jahrhundert die gesamte übrige Medizin.“ Freilich hat Wernicke selbst, kraft seiner Genialität, die Psychiatrie als Wissenschaft mächtig gefördert, und ich brauche nur noch die Namen Kräpelin, Ziehen und Sommer zuzufügen, um sofort zum Bewußt¬ sein zu bringen, welche außerordentlichen Fortschritte in den letzten Jahren die wissenschaftliche Erkenntnis der Geistesstörungen gewonnen hat. In der Tat, man muß Wernicke Recht geben und kann seine Ausführungen nur in dem Sinne verstehen, daß man sich klar macht, welch außerordentlich schnelles Tempo die Entwicklung der Psychiatrie bis zu ihrem gegenwärtigen Stande eingeschlagen hat. Das ist wichtig festzuhalten gegenüber den zahlreichen Angriffen, welchen gegenwärtig die Psychiatrie als Wissenschaft und ihre Vertreter ausgesetzt sind. Freilich handelt es sich hier nicht um eine ausschließlich neuzeitliche und der Gegenwart allein zukommende Erscheinung. Schon Wernicke sah sich ver¬ anlaßt, in seinem erwähnten Grundriß der Psychiatrie die Anfeindungen, welche sie zu erleiden hat, zu berühren und wenigstens auf eine Kategorie der Wider¬ sacher kurz einzugehen. Auch jetzt kann man unter den Wortführern des Kampfes gegen die Psychiatrie die von Wernicke bereits gekennzeichnete Gruppe herausheben. Es handelt sich um Personen, welche das Unglück hatten, geisteskrank zu werden und zu ihrer Verwahrung und Behandlung in eine Irrenanstalt gebracht werden mußten. Nun ist es eine bekannte Tatsache, daß etliche der Geisteskranken wieder entlassen werden können, teils soweit wieder

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hergestellt, daß sie keine krankhaften Erscheinungen mehr darbieten oder nur insofern gebessert, daß sie zwar, namentlich für den Kenner der Hinge noch psychotische Symptome zeigen, aber durch diese nicht gehindert werden, in der Gesellschaft zu leben, ohne diese durch antisoziales Verhalten zu stören oder zu ver¬ letzen. Beide Gruppen von Personen, welche die Irrenanstalt verlassen durften, können aber in zahlreichen Fällen eine gemeinsame und folgenschwere Eigenschaft besitzen, nämlich, es war ihnen nicht vergönnt, für die Zeit ihrer Aufnahme und ihres ferneren Verbleibens in der Irrenanstalt die erforderliche Krankheitseinsicht zu gewinnen. Von der jeweiligen Individualität und der Eigenart ihrer Tempe¬ ramente wird es abhängen, ob die mangelnde Krankheitseinsicht in ihrem Seelen¬ leben gewissermaßen eine ruhende Größe darstellt und, abgesehen von kleinen, von ihr ausgehenden Erschütterungen des seelischen Mechanismus, keine Kraft entfaltet, oder aber, ob der Ausfall an Krankheitseinsicht aus seiner Negativität heraustrit und zu einer stark positiven Größe sich auswächst, welche dann zu einer Kraftentladung drängt, durch die nicht nur das Seelenleben des Individuums nachhaltig ergriffen und immer aufs neue verändert, sondern auch mehr oder weniger dauernd die Gesellschaft in Mitleidenschaft gezogen wird.

Nun ist aber in der Neuzeit doch noch eine bemerkenswerte Erscheinung hinzugetreten. Der Kreis der Widersacher der Psychiatrie beschränkt sich nicht nur auf frühere Geisteskranke, welche mit mehr oder weniger großen Defekten entlassen werden konnten, sondern er hat auch einen weiteren Umfang ange¬ nommen. Das Mißtrauen gegen die Psychiatrie ist gewachsen und erfüllt heut Kreise, welche früher dem Vorurteile ferner standen. Das Laienpublikum ist beunruhigt und auch aus den Reihen der Gebildeten erheben sich ängstliche und kritisierende Stimmen. Wir Irrenärtzte müssen es uns zunächst offen und ehrlich eingestehen: wir sind nicht sehr beliebt in der allgemeinen Meinung, und ins¬ besondere stehen wir mit einer ganzen Richtung der Juristen auf etwas gespanntem Fuße. Es wäre sehr unrichtig und unklug und geradezu verhängnisvoll, wollten die Psychiater auch fernerhin zu allem schweigen und ruhig auch weiterhin alle Angriffe über sich ergehen lassen ; denn, wie man sofort emsehen wird, handelt es sich eben hier nicht nur um eine individuelle Angelegenheit dieses oder jenes Psychiaters, um eine lokale Affäre dieser oder jener Irrenanstalt, sondern die Sache hat ihre weittragende und einschneidende soziale Bedeutung. Ich verfüge nicht über eine statistische Aufstellung, aber das kann ich sagen und wird mir ohne weiteres zugegeben werden: man liest in häufigen Fällen wenigstens als einen der Gründe zum Selbstmord Angst und Scheu vor der Irrenanstalt. Unter meinen Augen spielte sich erst jüngst folgender Fall ab: Eine Dame befand sich wegen einer Erkrankung an Melancholie in der Anstalt. Es ließ sich mit Sicherheit Voraussagen, daß der Fall günstig verlaufen würde. Unter den fort¬ gesetzten Angriffen der Tageszeitungen auf die Psychiater wurden die Verwandten ängstlich und erklärten, sie wollten lieber die Kranke zu Hause weiter behandeln lassen, damit sie nicht in der Anstalt zurückgehalten würde. Trotz meines Einspruchs und meines energischen Hinweises auf drohenden Selbstmord wurde ich nicht gehört. Nachmittags um drei wurde die Kranke aus der Anstalt heraus¬ genommen; um fünf bereits stürzte sie sich aus dem Fenster in ihrer Wohnung und blieb tot liegen. Solche traurige Fälle gehören keineswegs zu Seltenheiten, und ich muß die Schuld an ihnen denjenigen ins Gewissen schreiben, welche fortgesetzt die Psychiatrie zum Gegenstand ihrer Angriffe machen.

Aber liegt denn wirklich ein Grund zur Beunruhigung und Beängstigung

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vor, als bildeten die Psychiater einen geheimen Eing und eine dunkle Gesellschaft, vor deren Machenschaften man ängstlich auf der Hut sein müßte? Eine Zeitlang hatte man fast ausschließlich die Privatanstalten aufs Korn genommen und in den leitenden Ärzten Leute erblickt, denen nur der Geldgewinn am Herzen liegt Es bildete sich die Meinung, daß es keine Schwierigkeiten haben könnte, wenn man nur das nötige Geld rollen ließe, Kranke in eine Privatanstalt zu bringen und dort sie nach Belieben festhalten zu lassen. Nun hat man auch sein Augen¬ merk auf die Staatsanstalten gerichtet. Hier, meinte man, fiele zwar das Geld¬ interesse fort, dafür aber trieben die Staatsorgane ihr unsauberes Spiel und ließen die lästigen Menschen unter dem Vorwände, sie litten an Querulantenwahn, hinter den Mauern der Irrenanstalt verschwinden. Das Motiv wechselt also die äußere Form, dem Wesen nach bleibt es sich gleich. Man scheut sich nicht, über eine ganze Kategorie von Männern, deren Beruf zu den schwersten und aufreibendsten aller Tätigkeiten gehört, kurzerhand den Stab zu brechen. Nun aber bleibt immer noch der Fall ab zu warten, welcher wirklich ohne Grund und also widerrechtlich das Opfer gewissenloser Irrenärzte geworden ist.' Jedesmal hat sich herausgestellt, daß die Dinge in Wirklichkeit ganz anders liegen, als sie zunächst durch die Tageszeitungen der Öffentlichkeit mitgeteilt werden. Aber das tut nichts. Man gibt sich nicht die geringste Mühe, vor Kundgebung einer neuen Affäre die be¬ treffenden Ärzte über die Lage des Falles zu befragen, sondern ungetrübt von jeder Sachkenntnis wird eine sogenannte Irrenhausaffäre nach der andern bekannt gegeben. Man verlangt immer lauter und stürmischer nach einem Irrengesetz, welches die Aufnahme von Menschen in die Irrenanstalt erschweren soll. Man will möglichst viele Kautelen schaffen, welche unmöglich machen sollen, daß kurzerhand jemand wider seinen Willen in eine Irrenanstalt gebracht werden kann.

Es bedarf keiner Auseinandersetzung, daß Laien ganz und gar unfähig sind, wie das vielfach verlangt wird, Geistesstörungen zu beurteilen, das kann und soll lediglich die Aufgabe von Fachleuten sein. Wer aber auch nur einiger¬ maßen Erfahrung auf unserem Gebiete besitzt, weiß zur Genüge, daß zur Not¬ wendigkeit der Unterbringung eines Menschen wegen Geistestörung in die Irren¬ anstalt immer mehr oder weniger plötzlich sich einstellt. Es ist in fast allen Fällen tatsächlich Gefahr im Verzüge, teils insofern, als der Kranke auf grund irgend welcher psychotischer Erscheinungen sich gefährlich wird, teils im Hinblick auf das antisoziale Verhalten, weches die Folge einer Seelenstörung ist. Das Publikum kann gar nicht genug darüber aufgeklärt werden, wie gefährlich ein Geisteskranker werden kann und eigentlich immer ist, sofern es sich nicht etwa um Fäll ehandelt, welche die wissenschaftliche Auffassung als abgelaufen bezeichnet.

Gegenwärtig ist zur Unterbringung in die Irrenanstalt das Attest eines Arztes und die Zustimmung des Kreisarztes bzw. des Direktors einer öffentlichen Anstalt erforderlich. Unter besonders zwingenden Umständen kann die Aufnahme auf Grund des Attestes eines Arztes sofort erfolgen, nur muß binnen 24, höchstens 48 Stunden der Kreisarzt den Kranken innerhalb der Anstalt gesehen haben. Ich halte diese Maßregel für durchaus genügend und ausreichend. Jede Er¬ schwerung in dieser Dichtung dürfte einen unberechenbaren sozialen Schaden nach sich ziehen; denn die Gefahr des Selbstmordes einerseits und die tätliche Bedrohung der Umgebung anderseits ist immer im Auge zu behalten und kann gar nicht scharf genug in Betracht gezogen werden. Sollte wirklich den Drängern und Schreiern einmal nachgegeben werden, auf gesetzlichem Wege, so würde

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das Publikum aus ersichtlichen Gründen einzig und allein den Schaden zu tragen haben.

Nur in einem Punkte kann man zur Beruhigung der Gemüter etwas bei¬ tragen. Man setze dem von der Regierung zur Beaufsichtigung der Aufnahme bestimmten Arzte einen Juristen an die Seite, welcher die Aufgabe zu erfüllen hat, die Rechtsverhältnisse des wider seinen Willen internierten Kranken zu prüfen und zu wahren. Dadurch kann die Angst behoben werden, es könnten arglistige und egoistische Verwandte, um sich fremde Besitztümer anzueignen, einen unliebsamen Angehörigen in die Irrenanstalt abschieben Will man nicht einen dem beamteten Arzte analogen Juristen mit einer entsprechenden Tätigkeit betrauen, so mag man die Prüfung der Rechtslage und die Ordnung der Ver¬ mögensangelegenheiten des Internierten etwa dem Vormundschaftsgericht oder einer anderen Abteilung überweisen. Ich glaube, daß durch eine solche einfache Ma߬ nahme jede Besorgnis gehoben werden kann. Freilich ist als eine notwendige Voraussetzung zu verlangen, daß der Jurist, welcher die Sache des Geisteskranken und die xlngelegenheiten der Anstalt von seinem juristischen Standpunkt aus zu prüfen und zu beurteilen hat, auch hinreichende psychiatrische Kenntnisse besitzt. Diese lassen sich aber nicht erwerben durch das Studium eines Kompendiums der Psychiatrie, sondern es ist dringend zu wünschen, daß unsere Juristen, sofern sie sich an der Beurteilung von Geistesstörungen zu beteiligen haben, eine Zeit¬ lang unter der Leitung von Fachleuten an Irrenanstalten sich betätigen, um so einen genauen Einblick in das Wesen und Treiben einer Anstalt zu gewinnen und durch dem Umgang mit den Kranken auch Verständnis für die Seelenstörungen sich zu verschaffen. Das dürfte auch der zweckmäßigste Weg sein, um die Spannung zwischen Psychiatern und Juristen aufzuheben. Denn ich habe immer gefunden, daß die Mißverständnisse zwischen diesen beiden Fakultäten sich darauf zurückführen lassen, daß gewissermaßen zwei Sprachen gesprochen werden. Der Psychiater wird eben nicht verstanden, weil auf der andern Seite die notwendigen Grund¬ lagen für ein Verständnis fehlen. Man kann doch nur unsern Darlegungen und Ausführungen wirklich folgen, wenn man das nötige Wissen und vor allen Dingen die lebendige Anschauung besitzt, welche man eben nur durch den Umgang mit den Kranken gewinnen kann.

Die Richtigkeit meiner Ausführungen ergibt sich ohne weiteres, wenn man diejenigen Entmündigungsrichter in Betracht zieht, welche reichlich Gelegenheit hatten, in Verkehr mit Geisteskranken zu treten. Man sieht, wie ein solcher Richter gleich ganz anders an den Kranken Fragen stellt und mit ihm Fühlung gewinnt. Den Sachverständigen fällt es dann auch nicht schwer, mit dem Richter in Einklang zu kommen; denn Beide stehen auf gleichen Boden und arbeiten auf Grund sich nicht widerstreitender Vorstellungen vom Wesen der Sache. Hätten schon jetzt die Strafrichter die genügende psychiatrische Kenntnis vieler Ent¬ mündigungsrichter, so würden wir nicht immer wieder erleben, daß in der Beurteilung der Kriminellen zwischen Richter und Psychiater vor Gericht oft so scharfe Gegensätze zum Ausdruck kommen. Würde also im Studiengang der Juristen die Psychiatrie eine wesentlich andere Stellung finden, als sie gegenwärtig besitzt, so würden meiner Überzeugung nach viele Stimmen aus dem Kreise der Juristen verstummen, welche gegenwärtig sich gegen die Psychiatrie erheben.

Aber freilich, es kommt noch ein anderes wichtiges Moment hinzu. Man hegt heute in weiten Kreisen die Meinnng, daß es wenigstens vielen Psychiatern unter allen Umständen darum zu tun sei, namentlich wenn sie als Privatgut-

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achter auftreten, den Angeklagten dem rechtmäßigen Richter zu entziehen und vor das Forum des nur allzu leicht zur Verzeihung geneigten Arztes zu bringen.

Auch hier wieder spielt der Verdacht seine grobe Rolle, das Geld sei der treibende Faktor, und wer es sich eben leisten könne, sich einen Gutachter zu nehmen, der sei fein heraus, weil unbefugter Weise mit den Mitteln der Wissen¬ schaft für ihn gearbeitet werde. Nun läßt sich auch hier meiner Meinung nach sehr leicht dem Vorurteil die Spitze abbrechen und die schweren Anschuldigungen beseitigen, wenn man sich auf den Standpunkt stellt, den ich in meiner Arbeit „Über die Stellung des Psychiaters zur Strafreform“ a) vertreten habe. Ich habe nämlich die ganz allgemein gültige Forderung gestellt, daß in jedem kriminellen Falle das Urteil eines Sachverständigen gehört werden soll. Jeder einzelne Fall soll auf seine zugrunde liegende Seelenverfassung untersucht werden. Ich habe ausdrücklich hervorgehoben und ich wiederhole es, daß ich keineswegs den Straf¬ richter durch den Arzt ersetzt wissen will. Ich wünsche nur, daß der zukünftige Sachwalter des Rechts anthropologisch gründlich geschult ist, eine tüchtige Aus¬ bildung in Biologie, Gehirnphysiologie und Psychologie, sowie Soziologie sich erwirbt und Gelegenheit erhält, in Gefägnissen und Irrenanstalten praktische Studien zu treiben. Ich kann diese früher von mir geäußerte Ansicht nur wiederholen und befinde mich in weitgehender Übereinstimmung mit Staatsanwalt Wulffen.

Die hier vertretene Anschauung findet aber schon Gelegenheit, aus dem Bereich theoretischer Erwägungen in das Feld praktischer Betätigung überzugehen. In dem bekannten Vorentwurf zu einem deutschen Strafgesetzbuch 1909 heißt es in § 81 des achten Abschnitts über die Strafbemessung: „Bei Bemessung der Strafe innerhalb der vom Gesetz vorgeschriebenen Grenzen sind alle für eine höhere ödere geringere Strafe sprechenden Umstände zu berücksichtigen, insbesondere die in der Tat hervortretende, verbrecherische Gesinnung, die Beweggründe des Täters, der von ihm verfolgte Zweck, der zur Tat gegebene Anreiz, die persön¬ lichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters, der Grad seiner Einsicht, die Folgen der Tat und das Verhalten des Täters, nach ihr; namentlich die bewiesene Reue und das bewiesene Streben, die Folgen wieder gut zu machen.“

Wenn wir diese erfreulichen Ausführungen im Vorentwurf zu einem deutschen Strafgesetzbuch recht ins Auge fassen und den Dingen auf den Grund gehen, so müssen wir sagen, daß die von dem Gesetz vorgeschriebene Prüfung des Indi¬ viduums nur dann zweckmäßig und erschöpfend wird vorgenommen werden können, wenn die hiermit betrauten Persönlichkeiten diejenigen Kenntnisse und Erfahrungen besitzen, welche ich in meiner erwähnten Arbeit als notwendig hin- gestellt habe. Hier springt ohne weiteres in die Augen, welch hohe soziale Auf¬ gaben der Psychiatrie erwachsen.

Nun aber weiter. Der Vorentwurf zu einem deutschen Strafgesetzbuch ver- langt in seinem § 63, dem bisherigen bekannten § 51: „Nicht strafbar ist, wer zur Zeit der Handlung geisteskrank, blödsinnig oder bewußtlos war, so daß dadurch seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen wurde.“

Im § 65 fügt der Vorentwurf nun die sozial höchst bedeutsame Forderung hinzu: Wird jemand auf Grund des § 63 Abs. 1 freigesprochen oder außer Ver¬ folgung gesetzt, oder aber auf Grund des § 63, Abs. 2 wenn nämlich die freie Willensbestimmung des Individuums nur in hohem Grade vermindert anzusehen

*) 0. Juliusburger, Die Stellung des Psychiaters zur Strafreform, Journ. für Psychologie und Neurologie 1908 S. 86.

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ist zu einer milderen Strafe verurteilt, so hat das Gericht, wenn es die öffent¬ liche Sicherheit erfordert, seine Verwahrung in einer öffentlichen Heil- oder Pflege¬ anstalt anzuordnen.“

Ich habe wiederholt auf die Unhaltbarkeit der Zustände hingewiesen, die sich daraus ergeben, daß in einer großen Anzahl von Fällen die Anwendung des § 51 dem Individuum keinerlei Beschränkung seiner Freiheit, keinerlei Eingriff in seine antisoziale Persönlichkeit einträgt. Grade weil ich die rächende Strafe grundsätzlich verwerfe, dagegen die Heilerziehung und Heilbehandlung bezüglich Verwahrung der kriminellen Individuen beanspruche, muß ich selbst als eine unglaubliche Verirrung ansehen, wenn bei Zubilligung des § 51 . . ., wenn auch nur in einer gewissen Anzahl von Fällen, dem Individuum nunmehr das Hecht zuerkannt wird, weiter ungehindert und unverändert, womöglich in denselben Lebensverhältnissen verbleibend, zu schalten und zu walten. In diesem Gedanken¬ gange ist es auch nicht recht ersichtlich verständlich, warum mildernde Umstände befürwortet werden sollen Man bedenke doch, daß gerade die sogenannten Psycho¬ pathen mit ihren verschiedenen Konstitutionen im hohen Maße antisozial und sehr gefährlich für die Gesellschaft sind. Also die Absicht, nach Zubilligung des § 51 oder eines ihm entsprechenden Paragraphen, bezüglich bei Eintritt einer Strafmilderung für besonders antisoziale Elemente eine nachträgliche Verwahrung in individuell geeigneten Anstalten eintreten zu lassen, ist auf das nachhaltigste zu unterstützen. *)

Es liegt klar auf der Hand, daß durch diese in Aussicht gestellte und sehr zu begrüßende Meßnahme die soziale Bedeutung der Psychiatrie wiederum in ein helles Licht gesetzt wird. Und wiederum kann der § 65 nur dann seine Ver¬ wirklichung erleben, und seine ungeschmälerte Betätigung erfahren, wenn nicht nur ein gedeihliches Zusammenwirken von Richtern und Irrenärzten erfolgt, sondern der Sachwalter des Rechts die oben als erforderlich hingestellte Vorbildung besitzt.

Des Ferneren enthält der § 65 des Vorentwurfs zu einem deutschen Straf¬ gesetzbuch folgende wichtige Sonderbestimmung: „War der Grund der Bewußt¬ losigkeit selbstverschuldete Trunkenheit, so finden auf den Freigesprochenen oder außer Verfolgung Gesetzten außerdem die Vorschriften des § 43 über die Unter¬ bringung in eine Trinkerheilanstalt entsprechende Anwendung.“

Der § 43 nun bestimmt: „Ist Trunksucht festgestellt, so kann das Gericht neben einer mindestens zAveiwöchentlichen Gefängnis- oder Haftstrafe die Unter¬ bringung des Verurteilten in eine Trinker-Heilanstalt bis zu seiner Heilung, jedoch höchstens auf die Dauer von zwei Jahren, anordneu, falls diese Maßregel erforder¬ lich erscheint, um den Verurteilten wieder an ein gesetzmäßiges und geordnetes Leben zu gewöhnen.“

Auch diese Bestimmungen können selbstverständlich nur dann ihren Zweck wirklich erfüllen, wenn Richter unb Arzt auf dem gleichen Boden der An¬ schauung und Erfahrung stehen.

Nun sind in allerjüngster Zeit zwei höchst erfreuliche Maßnahmen zu ver¬ zeichnen. Im Fürstentum Lippe hat das Staatsministerium folgende, sozial außer¬ ordentlich wichtige Bestimmung getroffen: „Nach Anhörung der zuständigen

x) Juliusburger: Stellung des Psychiaters zur Strafreform, Journal für Psychologie und Neurologie Bd. 13 S. 86, sowie Bemerkungen zu dem Vorent¬ wurf zu einem deutschen Strafgesetzbuch, allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie Bd. 67 S. 471.

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Behörden soll mit gnädigster Genehmigung des Durchlauchtigsten Fürsten in ge¬ eigneten Fällen das Pollard’sche System im hiesigen Lande versuchsweise zur Anwendung gebracht werden, indem dem Trünke ergebenen Verurteilten, zumal wenn die betreffende Straftat in der Trunkenheit begangen ist, die völlige Be¬ gnadigung unter der Bedingung in Aussicht gestellt wird, daß sie innerhalb der gesetzlichen Bewegungsfrist des Alkoholgenusses sich gänzlich enthalten und in der freien Zeit weitere Verfehlungen sich nicht zu schulden kommen lassen. Das Staatsministerium rechnet hinsichtlich der Durchführung dieser Maßregel auf die Unterstützung der im hiesigen Lande vorhandenen Blaukreuz-Vereine und der hiesigen Guttempler-Loge.“

Und eine ähnliche Bestimmung hat in Hessen das Großherzogliche Ministerium der Justiz getroffen und an sämtliche Justizbehörden die entsprechende Anweisung gegeben. Aus den Bestimmungen hebe ich hervor: „Zur guten Führung gehört auch, daß der Täter sich- nicht dem Trünke hingibt. Irn Falle der Gewährung des bedingten Aufschubs mit Enthaltsamkeitsanweisung ist dem Mäßigkeitsv.erein oder dem sonstigen auf Bekämpfung des Alkoholismus gerichteten Vereine, der die Zuchtaufsicht zu übernehmen bereit ist, Mitteilung von dem Strafaufschub und den Bedingungen, unter denen er gewährtist, zu machen. In den geeigneten Fällen kann auch bei Mäßigkeitsvereinen und anderen auf Bekämpfung des Alko¬ holismus gerichteten Vereinigungen Auskunft über die Führung des Verurteilten eingezogen werden. Es hat dies in der Regel zu geschehen, wenn dem Ver¬ urteilten die Enthaltun vom Alkoholgenuß oder vom übermäßigen Alkoholgenuß zur Bedingung gemacht worden und der Verurteilte der Zuchtaufsicht eines Ver¬ eins der vorgenannten Art unterstellt ist.“

William Jefferson-Pollardist am Polizeigericht in der Stadt St. Louis, im Staate Missouri (Nord- Amerika) Richter. Pollard sagt selbst: „Vor mehr als 10 Jahren begann ich als Hilfsrichter und in den letzten 8 Jahren als ordent¬ licher Richter dieses Gerichtes fast täglich an Stelle der- Geld- oder Gefängnis¬ strafe freiwillig Unterzeichnete Ehrengelübde auf gänzliche Enthaltsamkeit ent¬ gegenzunehmen, und ich machte diese Methode zu einem Teil der Arbeit des Ge¬ richts bei Tätern, die wegen Trunkenheit oder leichter Verfehlungen, die auf Trunkenheit beruhen, an geklagt sind. Der Täter unterzeichnet ein Gelübde, daß er sich vom Gebrauch geistiger Getränke jeder Art und Beschaffenheit auf die Dauer eines Jahres verpflichtet. Dieses freiwillige, vom Angeklagten nicht be¬ schworene Ehrengelübde wurde in jedem Falle durch den Richter in öffentlicher Sitzung abgenommen, so daß der Täter dem Gericht persönlich zu berichten hatte, sei es bei Gericht oder sonstwo, zu einer Zeit und an einem Orte, den der Richter bestimmte, damit der Täter keine Zeit für seinen Beruf verlor. Wird das Ge¬ lübde gehalten, so wird weder Geld, noch Gefängnisstrafe vollzogen. Die Strafe wird, obwohl zugemessen, ausgesetzt auf das Versprechen guten Verhaltens hin das der Beschuldigte durch Unterzeichnung des Gelübdes ablegt.“

Der Gedanke Pollar ds hat in Amerika auch anderweitig Anklang ge¬ funden, und wie er selbst berichtet, wird das System auch in Holland in veränderter Form bereits mit bestem Erfolge angewandt. Nun haben wir die Freude, daß man auch in Deutschland versucht, ein großes Stück Strafreform zur Tat werden zu lassen, wie es aus dem großartigen Vorgehen der Regierungen in Lippe und Hessen erhellt. Bedeutsam ist an den deutschen Verfügungen auch, daß bestimmte Vereine mit der Schutzaufsicht betraut werden. Dies begrüße ich um so lebhafter*

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als ich bereits 1907 *) in meiner Arbeit „Zur Behandlung der forensischen Alko- holisten“ auf die Straf reform energisch hingewiesen und die Heranziehung der entsprechenden Vereine als notwendige Maßnahme bezeichnet habe. Es wird dem Psychiater wiederum ein neues Stück sozialer Betätigung und Verpflichtung auf¬ erlegt; denn es wird für die erste Zeit, wo wir mit der bedingten Verurteilung bzw. mit der bedingten Strafaussetzung Versuche machen werden, sehr darauf ankommen, die geeigneten Fälle auszusuchen, damit das gute und gesunde Prin¬ zip nicht etwa in Mißkredit gerate. Hier ist nun scharf im Auge zu behalten die genaue Untersuchung, ob der Alkoholismus des Täters eine primäre und allein ausschlaggebende Bedeutung besitzt oder aber, ob der Alkoholismus des Individuums nur eine sekundäre Bolle spielt, ein Symptom darstellt, während eine hinter dem Alkoholismus bestehende geistige Störung die letzte Triebfeder zum antisozialen Verhalten ahgibt. Es erhellt ohne weiteres, daß zur Feststellung dieses wich¬ tigen Tatbestandes Bichter und Irrenarzt Hand in Hand gehen müssen und dies wieder nur dann fruchtbringend tun können, wenn die oben eingehend dar¬ gestellten Voraussetzungen zutreffen, mit anderen Worten, wenn Bichter und Irrenarzt die genügende Sachkenntnis besitzen.

Wenn wir in Deutschland herangehen, das Pollardsystem 2) einzuführen, so werden wir auch die bereits in gedeihlicher Entwickelung begriffenen Trinkerfür¬ sorgestellen zu berücksichtigen haben. Ich habe bereits 1910, auf der I. Deutschen Konferenz für Trinkerfürsorgestellen in Berlin darauf hingewiesen 3), daß unseren Fürsorgebestrebungen in der Strafreform eine große Aufgabe erwächst, insofern auch sie es übernehmen müßten, eine Aufsicht über jene freigesprochenen Per¬ sönlichkeiten auszuüben und anderseits dafür zu sorgen, daß sie in Enthaltsam¬ keitsvereine eintreten. Wenn die Bemühungen der Trinkerfürsorge ersprießlich wirken und gedeihen sollen, so wird es von Wichtigkeit sein, darauf zu achten, die Fälle nicht unterschiedslos in Behandlung zu nehmen, sondern jeden Fall genau individuell daraufhin zu untersuchen, ob der Alkoholismus als der allein oder wenigstens ausschlaggebende Faktor anzusehen ist, welcher die fraglichen antisozialen Handlungen erzeugte, oder aber ob der Alkoholimus nur eine sympto¬ matische Bedeutung in dem einzelnen Falle besitzt, insofern der Alkoholmißbrauch erst seinerseits durch seelische Störungen determiniert wurde, welche als erstes Glied in der Kausalverknüpfung anzusehen waren. Von der richtigen Diagnose hängt natürlich auch hier die bessere Prognose des Falles ab, und es liegt auf der Hand, daß bei fachmännischer Beratung durch den Irrenarzt mancher Irrtum und mancher Fehlschlag sich wieder vermeiden läßt.

Nun wird man aber doch bei aller Anerkennung der Tragweite und Wert¬ schätzung der individuellen Fürsorge nicht verkennen dürfen, daß auch die Wohl¬ fahrt der Allgemeinheit über die Gegenwart hinaus in die Zukunft nicht aus dem Augen verloren werden darf. Gerade die zuletzt berührte Frage über das Ver¬ hältnis des Alkoholismus zu den seelischen Störungen, inwieweit ihm eine primäre oder sekundäre Bolle zugeschrieben werden kann, läßt uns ohne weiteres den

J) Juliusburger, Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie, Bd. 64 S. 394 u. f.

2) Siehe „Das Pollard-System und seine Einführung in Deutschland“ von Dr. jur. Otto Bauer, Verl. f. Dtsch. Kultur und Sozial-Hygiene, Beutlingen, sowie William Jefferson-Pollard, „Bedingte Verurteilung“, Verl. Neutraler Guttempler, Heidelberg.

3) Siehe „Trinkerfürsorge“, Mäßigkeitsverlag, Berlin 1910.

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Blick auf die soziale Bedeutung der Heredität werfen. Die verhängnisvolle Ein¬ wirkung des Alkoholmißbrauchs auf das Keimplasma und damit auch auf die Nachkommenschaft ist zu bekannt, als daß ich an dieser Stelle darauf eingehen müßte. Und nicht minder steht die Tatsache fest, daß Geistesstörungen in der Aszendenz die Deszendenz nicht nur gefährden, sondern direkt schädigen. Ich will auch hier nicht auf die einschlägigen Verhältnisse weiter eingehen und die bekannten traurigen Reihen der Degeneration erwähnen, ebenso wenig die ver¬ hängnisvolle kriminelle Veranlagung im Hinblick auf die Nachkommenschaft zum Gegenstände einer breiteren Ausführung machen. Wir müssen mit der Tatsache rechnen, daß wir es mit Abnormen allerlei Art in bedenklichem Maße zu tun haben, und daß wir wirklich unter den Lasten seufzen, welche uns die Strafanstalten aller Art, die Idiotenhäuser und die Irrenanstalten fort und fort aufbürden. Da drängt sich gebieterisch die Fragen auf, ob wir diesen unnatürlichen Steuern nicht wenigstens in gewisser Hinsicht und bis zu einer gewissen Grenze Einhalt gebieten können. Leider müssen wir bei dieser außerordentlich wichtigen sozialen Frage unser Augenmerk zunächst von Deutschland weg und auf das Ausland hinlenken.

In Amerika und in der Schweiz ist man aus dem Stadium theoretischer Erwägungen zur wirkungsvollen Tat übergegangen. In sechs Staaten von Nord¬ amerika bestehen Gesetze zur Verhinderung der Eheschließung von Geisteskranken, Schwachsinnigen, Epileptikern und teilweise schweren Trinkern. Im Staate Michigan bestimmt das Gesetz: „Geisteskranke, Idioten und Menschen, die an Syphilis oder Gonorrhoe leiden und davon nicht geheilt sind, dürfen keine Ehe eingehen. Jeder, der an Syphilis oder Gonorrhoe leidet und nicht davon geheilt ist, der heiraten will, soll deshalb als Verbrecher mit einer Strafe von 500—1000 Dollar oder mit Gefängnis bis zu 5 Jahren oder mit Beidem zusammen bestraft werden .... Niemand, der in einer Anstalt als epileptisch, schwach¬ sinnig oder geisteskrank verpflegt wurde, darf eine Ehe eingehen, ohne daß er vorher ein beglaubigtes Zeugnis von zwei staatlichen Ärzten beibringt, daß er vollständig von der Geisteskrankheit, Epilepsie oder Schwachsinn geheilt ist, und daß keine Wahrscheinlichkeit besteht, daß eine solche Person diese Defekte oder Krankheiten auf die Nachkommenschaft überträgt. Jede geistesgesunde Person, die die Ehe eingehen will mit einem Geisteskranken, Blödsinnigen oder einem Menschen, der als epileptisch, schwachsinnig oder geisteskrank in einer Anstalt verpflegt wurde, ohne das obengenannte Zeugnis beizubringen, und die von diesen Tatsachen wußte, und jeder Mensch, der zu einer solch verbotenen Heirat hilft, sie unterstützt, sie verursacht oder dabei anwesend ist, der soll als Verbrecher mit einer Strafe bis zu 1000 Dollar oder mit Gefängnis von nicht unter einem Jahre bis zu 5 Jahren oder Beiden bestraft werden.“

Dr. Hans Maier, welcher die nordamerikanischen Gesetze gegen die Ver¬ erbung von Verbrechen nnd Geistesstörung und deren Anwendung in einer lehr¬ reichen und verdienstvollen Arbeit zusammengestellt hat, wünscht eine Ergänzung der amerikanischen Vorschriften in folgender Art: „Wenn ein Eheverbot wegen geistiger Krankheit oder Defektes eines Verlobten ausgesprochen werden muß, so gilt dieses Verbot nur so lange, wie der Betreffende fortpflanzungsfähig ist. Läßt er sich dauernd sterilisieren, so wird die Ehe gestattet, vorausgesetzt, daß der Betreffende überhaupt die Handlungsfähigkeit zur Eingehung eines Kontraktes besitzt.“

Der Zusatz von Dr. Maier ist zweifellos außerordentlich wichtig und zu begrüßen, denn es liegt auf der Hand, daß das Ehegesetz, so vorzüglich es auch

Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 465

ist und so sehr seine Einführung überall anzustreben ist, naturgemäß in seiner Wirkung beschränkt bleiben wird. Die Sterilisation der Elemene, deren Fort¬ pflanzungsfähigkeit im Interesse der Gesellschaft nicht erwünscht ist, erweist sich als eine unumgängliche und sozialnotwendige Forderung. Diese Konsequenz hat man in Amerika auch bereits gezogen, und der Staat Indiana hat im Jahre 1907 nach den vorbereitenden Versuchen von Dr. Sharp ein derartiges Sterilisations¬ gesetz erlassen. Bisher sind so 873 Defekte, meist Verbrecher, fortpflanzungs- unfähig gemacht worden. Bereits hat ein zweiter Staat, Connecticut, die Be¬ stimmungen von Indiana übernommen und sie, wie Dr. Maier berichtet1), von den Klassen der schweren Verbrecher und der Schwachsinnigen auch auf gewisse Kategorien von Geisteskranken im engeren Sinne ausgedehnt. Bereits 1909 hatte Na ecke im Neurologischen Zentralblatt von der ersten Kastration aus sozialen Gründen auf europäischem Boden in der Irrenanstalt des Kantons Asyles in Wyl Mitteilungen gemacht. Naecke war in Deutschland der erste, der in wertvollen Arbeiten mit allem Nachdruck auf die Notwendigkeit hingewiesen hat, gewisse antisoziale Elemente fortpflanzungsunfäbig zu machen. Auf dem IX. Internationalen Kongreß gegen den Alkoholismus in Bremen 1903 hat Dr. Ernst Rüdin in seinem Vortrage „Der Alkoholismus im Lebensprozeß der Rasse“ die Forderung auf- gestellt, daß man einer gewissen Kategorie von Trinkern die Heirat gestatten könne unter der Bedingung, daß sie vor Eingehung der Ehe sich der Vornahme einer kleinen Operation zum Zwecke der Sterilisation unterzögen. Ich selbst 2) habe auf dem XI. Internationalen Kongreß gegen den Alkoholismus zu Stock¬ holm 1907 in der Diskussion zu dem Vortrage Aschaff enburgs „Alkoholismus und Zurechnungsfähigkeit“ verlangt, daß man die unverbesserlichen Elemente möglichst frühzeitig fortpflanzungsunfähig machen solle 3). In der Schweiz ist seit vielen Jahren Forel für diese wichtigen Fragen auf das Entschiedenste ein¬ getreten. Nunmehr hat sich Dr. Ob er holz er4) das große Verdienst erworben, in einer außerordentlich wertvollen Arbeit 19 Fälle zusammenzustellen von Kastration und Sterilisation von Geisteskranken in der Schweiz. Die Fälle bieten eine solche Fülle interessanten Materials, daß ein Studium der Schrift von Ober¬ holzer auf das dringendste anzurateh ist. Die Maßnahmen der Sterilisation und Kastration erweisen zunächst ihre Vorzüge in sozialer Hinsicht dadurch, daß es möglich ist, internierte Individuen früher als unter anderen Umständen zu entlassen, da die Fortpflanzungsfähigkeit eben bei ihnen aufgehoben ist. Fälle z. B., die wegen Kindesmord interniert werden mußten, konnten eher entlassen werden, weil die Möglichkeit einer neuen Konzeption nicht mehr bestand. Gleich¬ zeitig verringerten sich die Kosten für Staat und Gemeinde. Die Individuen waren ja vielfach in der Lage, außerhalb der Anstalt ihrem Broterwerb nachzu¬ gehen. Also auch in rein materieller Hinsicht stellte sich ein Erfolg nach ein¬ getretener Sterilisation ein.

Während in dieser Richtung und im Hinblick auf die Ausschaltung der ver¬ derblich wirkenden Aszendenz auf die Deszendenz der Erfolg auf der Hand liegt,

1) Maier, Verlag von Karl Marhold 1911.

2) Juliusburger, Neurologisches Zentralblatt 1909 Nr. 7.

3) Vgl. auch meine Arbeit „Zur Frage der Unzurechnungsfähigkeit und ihrer sozialen Bedeutung“, Medizin. Klinik 1910 Nr. 14.

4) Oberholzer: Kastration und Sterilisation von Geiseskranken in der Schweiz. Verlag von Karl Marhold J911.

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ist der Nutzen in rein medizinisch individueller Hinsicht noch ein Problem. Um hierüber ein definitives Urteil geben zu können, bedarf es erst noch ausgedehnter Versuche. Oberholzer berichtet aber auch über Fälle, wo zweifellos für das Individium selbst ein eklatanter Erfolg nach der Kastration erzielt wurde, inso¬ fern als durch diese Maßnahme der gefährliche und antisozial wirkende Sexual¬ trieb mit der Zeit immer schwächer wurde, wobei zugleich die Individuen ihre antisoziale Schädlichkeit verloren. Besonders lehrreich ist ein Fall, wo nach der Kastration aus medizinischen Gründen im Jahre 1907 ein antisoziales Individuum tatsächlich zu einem brauchbaren Mitgliede der Gesellschaft gemacht wurde, welches sich heute in den Dienst einer sozialen Betätigung gestellt hat. Der Anstaltsdirektor Schiller bezeichnet im Hinblick auf diesen Fall die Operation als eine der segensreichsten.

In der Schweiz kann die Sterilisation nur geschehen im Einverständnis mit den zuständigen Behörden, den Eltern resp. dem Vormund und dem Kranken selber. Es ist keine Frage, daß die Entwicklung weiter gehen wird, und die zwangsweise Sterilisation dürfte nur eine Frage der Zeit sein. Da liegt es auf der Hand, daß dem Irrenarzt eine neue und außerordentlich weittragende soziale Aufgabe sich darbietet; denn in jedem Falle wird die Meinung des Irrenarztes oder einer Kommission von Irrenärzten angehört werden müssen.

Bei einer so einschneidenden Maßnahme aber werden natürlich in der Kommission auch Juristen ihre Stimme erhalten. Zu einem ersprießlichen Zu¬ sammenwirken von Irrenarzt und Jurist wird es aber auch dann nur wieder kommen können, wenn beide die hinreichende Vorbildung und Sachkenntnis besitzen. Für unsere deutschen Verhältnisse bleibt zur Zeit nichts anderes übrig, als die Frage der Sterilisation erst aufzurollen und ihre große soziale Perspektive in das Bewußtsein der Allgemeinheit zu rücken. Wir können zuerst nur die Diskussion hierüber eröffnen und können nur den Wunsch aussprechen, daß Deutschland bald dem sozial bedeutsamen Beispiel von Amerika und der Schweiz folgen möchte. Die soziale Bedeutung der Psychiatrie ergibt sich aufs Neue und auf das Schlagendste.

Ich weiß sehr wohl, daß die Psychiatrie noch über die von mir erwähnten Gesichtspunkte hinaus ihre soziale Mission bereits erfüllt hat und noch erfüllen wird. Ich wollte aber an dieser Stelle keine abschließende, umfassende Arbeit über die ganze soziale Bedeutung der Psychiatrie geben, sondern nur einige wichtige Gebiete herausgreifen. Das Eine wird aber aus meinen Ausführungen hervor¬ gehen: Die Psychiatrie braucht sich in ihrer sozialen Betätigung nicht hinter die anderen Wissenschaften stellen; sie kann neben und mit ihnen zum Wohle der Gesellschaft arbeiten. Allen Anfeindungen können wir Irrenärzte getrost gegen¬ überstehen; wir überlassen das Urteil der gerecht denkenden Mitwelt und der Nachwelt, welche die Früchte unser Arbeit genießen wird.

Sitzung vom 7. November 1911.

Herr E. Bies als ki- Berlin, trägt vor über: „Die Entwicklung der neueren Krüppelfürsorge44. Die Krüppelfürsorge ist das jüngste Gebiet der sozialen Medizin, das der Arzt sich erobert hat oder doch zu erobern im Begriffe steht. Schuld daran ist der Umstand, daß diejenige ärztliche Spezialdisziplin, deren soziale Betätigung die Krüppelfürsorge ist, erst seit Hoffa in ihren Grenzen scharf Umrissen und zur Selbständigkeit, gleichzeitig damit aber auch zu bemerkens¬ werten Erfolgen aufgestiegen ist.

Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin. Hygiene und Medizinalstatistik. 467

Die geradezu glänzende Entwicklung, welche die deutsche Krüppelfürsorge in den letzten Jahren genommen hat, ist von der im Jahre 1906 durch die deutschen Bundesstaaten veranstalteten Statistik jugendlicher Krüppel ausge¬ gangen. Es ist mir eine persönliche Freude, daß ich die Ehre habe, vor dieser Gesellschaft hierüber sprechen zu dürfen, denn ihr verehrter Vorsitzender, Herr Geheimrat M a y e t , daneben auch Stadtrat Dr. Gottstein und Prof. Lennhoff haben an der Wiege des Kindleins gestanden, und wenn nicht Herr Geheimrat May et ihm die richtige Diät verordnet hätte, so wäre es vielleicht an Atrophie oder Überfütterung eines frühzeitigen Todes verstorben.

Als ich den für einen jungen, an der Peripherie Berlins hausenden Doktor ungeheuerlichen Plan faGte, eine das ganze Reich umfassende Statistik vorzu¬ schlagen, sagte ich mir, daß die zwar sehr verdienstvollen, aber doch nur örtlich bedeutungsvollen Statistiken in einzelnen Bezirken (Rheinland, Schleswig-Holstein, Braunschweig, Schlesien, Provinz Sachsen, nördliches Bayern), die von verdienten Geistlichen und dem ärztlichen Vorkämpfer Dr. Leonhard Rosen feld in Nürn¬ berg veranstaltet waren, nicht auf Allgemeingültigkeit Anspruch erheben könnten, daß anderseits aber zur Belebung des öffentlichen Interesses Zahlen gebracht werden müßten, denen bei allen sonstigen Mängeln, doch nicht das eine bestritten werden konnte, daß sie nämlich die Mindestzahlen ihres Heimatsbezirkes dar¬ stellten. Der weitschauende Gedanke hätte nicht zur Ausführung kommen können, wenn ich nicht das Glück gehabt hätte, auf drei Männer zu stoßen, die das Bedeutungsvolle der Absicht sofort erkannten und mich nun in jeder Weise unter¬ stützten, das warHoffa mit seiner jugendlichen Begeisterungsfähigkeit, das war Geheimrat Dietrich mit seiner klugen Einsicht und seinem weitgreifenden Ein¬ fluß, das war Geheimrat May et, der beste Sachkenner der medizinal-statistischen Technik. Seinem wertvollen, stets hilfsbereiten Rat ist es zu danken, daß das Werk in allen Stadien seiner Entwicklung sich gesund hielt, weil es eben auf der richtigen Bahn blieb, und schließlich dazu brachte, die erste cum grano salis vollständige und durchgearbeitete Statistik des jugendlichen Krüppeltums einer Nation zu werden. Es ist mir eine Herzensfreude, ihm dafür heute, nach¬ dem wir in ansteigender Linie feine erfreuliche Höhe erreicht haben, noch einmal herzlich zu danken.

Nun kann es nicht meine Aufgabe sein, hier die seit 5 Jahren bekannten Ergeb¬ nisse dieser Statistik noch einmal in extenso durchzusprechen, obwohl die intimen statistisch-technischen Reize, der Aufbau der Einteilung, die Technik der Zählung und ihre Organisation von unserer Berliner Zentrale bis in die kleinsten Dörfer hinein, das Zustandekommen des Textes der Zählkarte, ihre ärztliche und büro¬ mäßige Bearbeitung, die Herstellung des Kopfes der Tabellen und vieles andere schon genügend Reiz böte, um es gerade in dieser Gesellschaft zu erörtern und zur Kritik zu stellen. Vielmehr will ich nur die leitenden Gedanken hervorheben, die den Anstoß zur Entwicklung der Krüppelstatistik gegeben haben und die für die Zukunft den Keim von Entwicklungsmöglichkeiten in sich tragen.

Das erste war der Umstand, daß allein durch die Veranstaltung der Zählung sämtliche Behörden von der Reichskanzlei bis zum .kleinsten Ortsschulzen, vom Ministerialdirektor bis zum Stadtsergeanten, von der Medizinialabteilung im Ministerium bis zum Kreisarzt und durch alle Häuser, Schulen, Pastorate und Familien mit einem schlage daß Wort „Krüppelfürsorge“ ertönte. Das war nicht allen, aber doch sehr vielen ein Novum, es konnte nicht mehr verhallen, die Massenwirkung hatte, wie überall in unserer Zeit, ihre Schuldigkeit getan.

468 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.

Das zweite war, daß die Zählung sich nur auf Jugendliche beschränkte, einfach darum, weil Krüppelfürsorge überhaupt nur an dem körperlich wie seelisch leicht formbaren Kinde Erfolge erzielt und weil die Hineinbeziehung der er¬ wachsenen Krüppel, von andern z. B. technischen Schwierigkeiten der Statistik abgesehen, uferlose Zahlen ergeben mußte, deren gräßliche Wucht jeder Fürsorge von vornherein ein Lasciate ogni speranza zurufen mußte. Hatte doch die Kreuz- nacher Krüppelanstalt im Jahre 1902 in der Rheinprovinz neben 8580 Krüppeln unter 16 Jahren, 40928 Krüppel über 16 Jahren gezählt, d. h. nahezu 5 mal so¬ viel Erwachsene als Jugendliche. Das hätte für das ganze Reich mindestens 600000 Krüppel ergeben, d. h. eine Zahl, vor der auch der freigiebigste Volks¬ wirt erstarrt seinen Beutel zugezogen hätte mit der Begründung, daß es soviel Geld überhaupt nicht gäbe, als zur Bewältigung solcher Massen nötig sei.

Ein anderes bedeutsames Moment war die Aufstellung einer neuen Begriffs¬ bestimmung und zwar neu nach 3 Seiten.

Erstlich wurde der Krüppel kurz heraus als ein Kranker bezeichnet, weil jedes Krüppelgebrechen durch eine wohlumgrenzte und bekannte Erkrankung her¬ vorgerufen wird und weil der Arzt, will sagen der Orthopäde, inzwischen gelernt hatte, diese Krankheit, zum Teil in. vorher ungeahnter Weise, zu bessern, ja zu heilen; ich erinnere nur an die Einrenkung der angeborenen Hüftverrenkung, an die Muskel-, und Nerven Verpflanzung. Diese Hervorkehrung des Krankheits¬ momentes hatte die erfreuliche Wirkung, daß die Orthopäden sich mit lebhaftem Interesse neuen Sachlage zivwandten, sie hatte aber auch die Folge, daß die bis¬ herigen Vertreter der Krüppelfürsorge darin einen Vorwurf erblickten. Das lag* natürlich ganz fern; die Geistlichen können in ihrer segensreichen und vor¬ bildlichen Tätigkeit auf dem Gebiet der Krüppelfürsorge von niemand mehr an¬ erkannt und gewürdigt werden, als von denen, die heute in ihren Spuren wandeln. Als es noch keine Heilung der Krüppelgebrechen gab, konnte nichts anderes ge¬ schehen, als daß man den Krüppel pflegte, ihn ausbildete und mit soviel ärztlicher Hilfe versorgte, als es eben gab und das ist überall geschehen ; als aber eine neue Krüppelheilkunst aufkam, war es Recht und Pflicht der Arzte, an ihrem Teile mitzuhelfen. Im übrigen sind in Deutschland Laien die Begründer der ältesten Krüppelheime gewesen; erst viel später folgte in Norddeutschland die innere Mission, und interessant ist, daß noch vor der 1832 begründeten Münchener Anstalt, in Berlin ein Dr. J. G. Blömer, Spittelbrücke 2 und 3 eine „Heilanstalt für Verwachsene“ im Oktober 1823 eröffnete, in der er schon alle Einrichtungen eines Krüppelheims unserer Tage hatte, ärztliche Behandlung, Unterricht durch einen besonderen Lehrer und passende Beschäftigung der Kranken J).

Das zweite entwicklungsfähige Moment in der Begriffsbestimmung war die Hineinbeziehung der sozialen Frage. Nicht das Krüppelgebrechen allein bestimmte die Hilfsbedürftigkeit, sondern die Wechselwirkung zwischen ihm und den sozialen Begleitumständen oder Nebenkrankheiten, Armut, Verwaisung, Schwachsinn, Blind¬ heit u. a. Dadurch wurde die Krüppelfürsorge von den Krüppeln der Wohl¬ habenden entlastet, dafür aber die wirtschaftlich Schwachen und körperlich Elenden herangeholt, auch wenn ihr Krüppelgebrechen an sich leicht war. Der Fabrikanten¬ sohn mit einem Arm geht uns nichts an, wohl aber der taubstumme, imbezille, verwaiste Skoliotiker.

1 ) Literaturangabe siehe Kirmsse, Zur Geschichte der frühesten Krüppel¬ fürsorge, Zeitschrift für Krüppelfürsorge, Band IV, Heft 1.

Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 469

Und nun machte die Begriffsbestimmung noch eine wertvolle Unterscheidung, nämlich die in Heimbedürftige und Nichtheimbedürftige Krüppel, wodurch wiederum die Hälfte aus der teuren Anstaltsfürsorge ausgeschaltet und der billigen poli¬ klinischen Behandlung zugewiesen wurde ein Vorgehen, das schließlich Zahlen zutage brachte, über die selbst mit einem knausrigen Volkswirt zu reden war, weil sie sich in Grenzen hielten, die mit erschwinglichen Mitteln zu bewältigen waren.

Es gab im Jahre 1906 in Deutschland rund 100000 Krüppel unter 15 Jahren, davon waren nach ärztlichem Urteil 56000 heimbedürftig. Auf je 10C00 Menschen gibt es 15 Krüppelkinder, von denen 8 heimbedürftig sind und 12 ärztlicher Hilfe bedürfen. Unter 10 000 Menschen gibt es 36 Krüppel. Diese allein standen also zunächst zur Diskussion, und darüber ließen nun die Leute mit sich reden. Zwar war für sie 1911 in 36 Anstalten noch nicht 5C0 Betten vorhanden, aber es boten sich doch nun von allen Seiten hilfreiche Hände an, die mitarbeiten wollten.

Die häufigsten Leiden sind:

Lähmung mit Tuberkulose - Scoliose Bachitis

Diese 4 allein machen mit 53,1 °/o schon mehr als die Hälfte aus.

Das platte Land liefert weniger Krüppel als die Städte und Industriebezirke, Königreich Sachsen ist fast in allen Kategorien am schlechtesten dran. In dem Maße als die Bevölkerungsdichte zunimmt, häuft sich die Rachitis. Hier hegen Winke für die Zukunftsarbeit, die von allgemeinen hygienischen Maßnahmen, Bodenreform u. a. abhängen.

Eine wichtige Frage, auf welche die Statistik mit Nachdruck hingewiesen hat, ist die des Krüppeltums im vorschulpflichtigen Alter. Kein Lebensalter ist verschont, schon unter den Säuglingen sind 457 Krüppel gezählt, dann steigt die Kurve steil bis zum 13. Lebensjahr, um ebenso steil bis 15. auf die Hälfte ab¬ zufallen. Von 100C0 Vorschulpflichtigen sind 2 verkrüppelt, im ganzen über 15 000. Hier hätte vor allem die Aufklärung unter Hebammen, Wochenpflegerinnen, Gemeindeschwestern zu sorgen. Die Zahl von 10000 durch Unfall verkrüppelter Kinder weist auf die Gefährlichkeit des Verkehrs und der industriellen Kinder¬ arbeit. Komplizierend traten zum Krüppelleiden hinzu in 6556 Fällen Krämpfe, Taubstummheit, Blindheit, Tuberkulose innerer Organe, Blutarmut und sonstige chronische Krankheiten: davon waren allein 1153 vorschulpflichtige; nur ein kleiner Teil befand sich in Heimpflege. Allen diesen Zahlen wohnt eine werbende Kraft schon dadurch inne, daß ihre Nennung allein jedem Einsichtigen die Wege erhellt, welche zur Abstellung des durch sie ausgedrückten Elends führen.

Nun lassen Sie uns weiter die großen werbenden, zur Entwicklung und zum Ausbau drängenden Gedanken in der Krüppelfürsorge verfolgen. Das Endziel unserer Arbeit ist, den Krüppel erwerbsfähig oder wie ich es oft gesagt habe, ihn aus einem Almosenempfänger zu einem Steuerzahler zu machen. Dies Schlagwort hat die Armenverwaltungen aufgerüttelt, und es ist des verstorbenen Stadtrats Münsterberg unsterbliches Verdienst, daß er, der gesagt hatte, man könne dem Armen nicht besser helfen, als dadurch, daß man ihn gesund mache, als erster den ortsüblichen Krankenhaussatz für unser Berliner Heim bewilligte. Der genannte Satz schlug umsomehr durch als die Krüppelfürsorge im Ggensatze zu

470 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.

der Fürsorge an Epileptischen, Idioten, Taubstummen und Blinden, die zu- sammengenommen so zahlreich sind als die Krüppel, ärztliche und pädagogische Kunst viel mehr erreichen können denn 88,6% aller Krüppel und. 97,8% der schul¬ pflichtigen sind geistig gesund.

Der älteste ärztliche Vorkämpfer der Krüppelfürsorge, mein vortrefflicher Freund Dr. Leonhard Rosen fei d in Nürnberg, hat vor wenigen Wochen eine umfangreiche Arbeit in der Zeitschrift für Krüppelfürsorge auf Grund einer Rundfrage veröffentlicht, worin er über den Unterhalt der Krüppelkinder und die von den Armenverwaltungen aufgebrachten Kosten handelt. Er hat gefunden, daß die öffentliche Armenpflege die Krüppel bisher noch nicht ausreichend ver¬ sorgt, namentlich nicht genügend ärztlicher Behandlung zuführt (nur 15 Proz. statt 57 Proz.) dagegen viel zu häufig zu reinen Zwecken der Versorgung unter¬ bringt (30 Proz. statt 6 Proz.). Die Versorgung in fachärztlicher Behandlung kostet zwar 40 Proz. mehr, denn der durchschnittliche Aufwand für armenunter¬ stützte Krüppel beträgt 224 Mk., während die durchschnittlichen Anstaltskosten sich auf 890 Mk. stellen, aber dieser Mehraufwand wird dadurch wett gemacht, daß nach 3 Jahren ein Drittel bis die Hälfte der Krüppel als wirtschaftlich selbsttätig aus der Anstaltsbehandlung ausscheiden.

Die Unkosten für Armenpflegen oder Anstaltsbetrieb machen nicht mehr als jährlich 400 Mk. aus, ebensoviel kann ein erwerbsfähig gemachter Krüppel min¬ destens verdienen. Die Ersparung der einen Summe, die Neuproduktion der anderen ergeben zusammen einen national-ökonomischen Nutzen von jährlich 44 Millionen Mark für Deutschland. Das ist zweifellos ein Geschäft, und darauf hin können die Armenverwaltungen jede Summe in die Krüppelfürsorge stecken, sie wird sich immer rentieren, von den ethischen Werten ganz abgesehen. Diese Exempel sind nunmehr überall anerkanut und haben auch die Laien zu großen Stiftungen an¬ geregt, die zwischen J/4 und 4 72 Millionen für die einzelne Anstalt schwanken.

Wie macht nun die Krüppelfürsorge ihre Pfleglinge erwerbsfähig?

Durch das Krüppelheim, das heißt einen Organismus, in dem Klinik, Schule und Handwerkslehre gleichzeitig neben- und ineinander arbeiten. Was die Klinik leistet, kann ich hier nicht näher auseinander setzen; es würde zu weit führen, wenn auch die vortrefflichen Erfolge z. B. auf operativem Gebiete und im Bau von Apparaten dazu verlockt. Dagegen bitte ich Sie, mir in die Schule zu folgen. Hier hat sich neben der den Lehrplan einer Volksschule nachgehenden Klassen vor allem in neuerer Zeit eine Hilfsklasse für die Schwachsinnigen und mit starken Lücken in ihrem Wissen hereinkommenden Kinder etabliert. 6481 Krüppel waren im Jahre 1906 schwach- oder blödsinnig, von den Heimbedürftigen 5 Proz., 6423 Krüppel hatten, obwohl schulpflichtig und bildungsfähig, überhaupt noch keinen Unterricht erhalten. Die Krüppelschule, die in einer klinischen Anstalt arbeitet, hat den Vorteil, daß sie die behandlungsfreie Zeit, während der ein Kind sonst im Krankenhause oder zuhause beschäftigungslos daliegt, mit Unterricht ausfüllen kann. Wer nicht in die Schule gehen oder gefahren werden kann, wird im Bett unterrichtet. Dadurch wird es möglich, daß die Krüppel in einem Heim das Schulziel zu gleicher Zeit erreichen, wie ihre gesunden Altersgenossen. Haupt¬ prinzip des Unterrichts ist heute wohl das des Werkunterrichts und der Arbeits¬ erziehung, d. h. jener Methode, die den Kindern ihr Wissen nicht nur durch Einpauken und Auswendiglernen, sondern durch Vermittlung der Sinne durch Nachmodellieren, Nachmalen usw. beibringt. Die Kinder „begreifen“ so in des Worts verwegenster Bedeutung schneller, und der Lehrer kann schon früh im

Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 47 1

Hinblick auf ihre spätere Erwerbsfähigkeit Beobachtungen anstellen und die Handfertigkeit üben.

Es schließen sich an Fortbildungschulen und Fachunterricht für die Lehrlinge. In unserer Berliner Anstalt sind wir in neuerer Zeit daran, das Leben der Kinder außerhalb der Schule zu regeln, indem unser Erziehungsinspektor Herr Wuerz sozusagen Betätigungsgenossenschaften unter den Kindern begründet hat. die sie selbst verwalten müssen, und die doch im Dienste der Erziehung stehen. Ähnliches hat Pastor PI in seiner Zehlendorfer Anstalt uns vorgemacht. Da ist ein Lesekränzchen, ein Gesang-, ein Theaterverein, eine Jugendwehr, ein Turnverein usf. Es soll dadurch vor allem die Selbständigkeit der Kinder, die namentlich für den Krüppel von hoher Bedeutung ist, gestärkt werden. Ein weiteres Prinzip bei uns ist die gemeinsame Erziehung der Geschlechter; nur die größeren schlafen getrennt, sonst besteht in Unterricht, Spiel, beim Essen keine andere Trennung, als sie die Kinder selbst vornehmen. Bisher haben wir nur gute Erfahrungen gemacht. Überhaupt keine zwecklose Einengung ! Frohsinn und Lebensfreudigkeit, getroste Aussicht in die Zukunft herrscht in unserem Hause; wie denn auch die vergrämtesten Kinder, die zu Hause unter dem Mitleid der Erwachsenen und dem Spott der Jugend gelitten haben, bei uns sich aufschließen, weil die andern es ja noch schlimmer haben und der Vergleich kein Gefühl des Neides aufkommen läßt ein wichtiges und köstliches Geschenk ! Aus der Schule gehts in die Handwerks¬ stube alle unter einem Dach, aber der Übergang ist nicht so plötzlich. Wie die Grenzen zwischen Klinik und Schule sich verwischen, so zwischen Schule und Handwerkslehre. Ein Junge, der insgesamt vielleicht nur 7 Finger hat und Schneider werden soll, macht schon vor der Konfirmation eine vorbereitende Lehrlingszeit, indem er nach den Schulstunden in die Werkstatt geht und sich schon in den Anfangsgründen der Schneidertechnik übt. Das geht manchmal schwer und kostet manche Träne, aber wenn er dann als Lehrling bei der Innung eingetragen wird, kann er doch schon soviel, daß er zur gleichen Zeit, wie seine gesunden Freunde außerhalb der Anstalt, die Gessellenprüfung besteht. An der Spitze jeder Werkstatt steht ein Meister, der ausschließlich der Ausbildung der Zöglinge lebt.

75 Erwerbsmöglichkeiten werden heute in deutschen Krüppelheimen gelehrt, diese Zahl allein zeigt den riesigen Aufschwung der letzten Jahre; 1908 waren es nur 55. Die Zahl der Fertigkeiten für Knaben ist von 33 auf 49 gestiegen, die für Mädchen von 31 auf 26 gesunken. Immer mehr wird die alte Forderung des Pastor Knudsen verwirklicht, daß bei der Krüppelarbeit die Qualität die Quantität ersetzen müsse darum tritt immer mehr, entsprechend dem ver¬ feinerten Gaschmack des Publikums, der künstlerische Wert der Arbeiten im Korbflechten, Holzschnitzen, Buchbinderei, Weben, Klöppeln, Sticken usw. hervor.

Und wie im Handwerk, ist in allen Beziehungen ein zum Teil glänzender Fortschritt in den Zahlen vom Jahre 1910 gegen die von 1908 zu verzeichnen. In den in Betracht kommenden 39 Anstalten werden 35 Schulen mit 66 Klassen unterhalten, dazu 14 Klassen für Schwachsinnige gegen 4 in 1908. Die Zahl der Schulen ist um 6 gestiegen, die der im Hauptamt tätige Lehrer um 5, die der geprüften Lehrerinnen um 9, die der Kindergärtnerinnen um 2. In gleichem Maße ist die Zahl der Diakonen, Diakonissen und Theologen, die früher pädagogisch tätig waren, gesunken.

Auch in der Krüppelklinik ist es vorwärts gegangen. Jedes Krüppelheim hat ärztliche Versorgungen, 21 mal durch einen orthopädischen Spezialisten,

472 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.

darunter 4 Professoren. 22 Anstalten haben eigne Operationssäle, davon 3 sogar 2, 13 Heime haben eigne Assistenten, 11 eigne Consiliari; die Zahl der medico- mechanischen Einrichtungen ist von 15 auf 25, die der Röntgenlaboratorien von 4 auf 19 gestiegen, die der orthopädischen Werkstätten von 4 auf 16! Alles in

3 Jahren.

Die Zahl der Krüppelheime ist von 39 auf 50 gestiegen, ja wenn man die dem¬ selben Besitzer gehörigen Anstalten einzeln zählt auf 56. Außerdem gibt es noch 21 Vereine, die ohne Anstalt Krüppelfürsorge treiben oder eben ein Heim bauen, d. h. es wird in Deutschland an 77 Stellen Krüppelfürsorge getrieben. Evangelisch sind 26, katholisch 5, interkonfessionell 19.

Die Plätze haben sich von 3371 auf 4188 vermehrt; das kleinste Heim hat 6, das größte 500 Betten, im Durchschnitt 100 Betten gegen 86 1908. Die evan¬ gelischen Heime haben 2819, die katholischen 425, die interkonfessionellen 944 Betten. Alle Heime nehmen Kinder jeden Bekenntnisses auf.

Auch die obere Grenze der Pflegegelder hat sich gehoben, sie schwankt zwischen 120 Mk. jährlich und 1095, im Mittel 415 gegenüber 381 in 1908. In einem Heim, dem Angerburger in Ostpreußen, sind sämtliche 400 Betten Freiplätze.

Leiter der Anstalt ist 21 mal ein Geistlicher, 5 mal ein Arzt, 2 mal ein Lehrer, 11 mal ein Laie als Vorsitzender des besitzenden Vereins, 6 mal eine Schwester.

Unsere Berliner Anstalt hat als erste einen neuen Typ aufgestellt: Leiter ist der Chefarzt der klinischen Abteilung, für die Schule ist ein besonders vor¬ gebildeter Erziehungsinspektor angestellt, die Verwaltung leitet ein Verwaltungs¬ beamter, beide unterstehen dem ärztlichen Leiter. Das Haus ist interkonfessionell, die Schwesternschaft eine dem Hause eigne, aus Töchtern gebildeter Stände. Diese Organisation, die Freiheit für jede Entwicklungsmöglichkeit zuläßt, ist bisher

4 mal nachgeahmt und wird noch weitere Nachfolger finden, denn alle neuen Heime, die im Bau sind, nehmen, soweit sie nicht von der Kirche ausgehen, diesen Typ an.

Nun haben wir noch die große Gruppe der nichtheimbedürftigen Krüppel zu betrachten, die im wesentlichen unter den Begriff der Prophylaxe fallen. Der Ausbau von Fürsorge- und Beratungsstellen, verbunden mit orthopädischen Poli¬ kliniken ist der beste Weg zur Abhilfe und nimmt einen enormen Aufschwung.

Während es 1908 nur 3 solcher Stellen gab, sind es heute 18, ohne die, die geplant oder in Bau sind. Man kann geradezu sagen, daß hier für die nächsten Jahre der Schwerpunkt der Arbeit liegen wird, zumal wenn man sich der aus¬ sichtsreichen vorschulpflichtigen Fälle mehr als bisher annimmt. Hier sind noch enorme Aufgaben zu lösen, ich erinnere nur an das Problem der Massenbehandlung der Skoliose. In deutschen Schulen stecken über 3 Millionen Kinder mit Skoliose oder Haltungsanomalien, in den Berliner Volksschulen allein über 60030! Nur vom Boden der Krüppelfürsorge aus, wo Elternhaus, Schule, Arzt, Volkswirt, Gesetz¬ geber sich zusammenfinden, ist Besserung zu hoffen; ähnlich steht es mit der Rachitis, dem Plattfuß, der angeborenen Hüftverrenkung usw.

Aufklärung ist Parole und Feldgeschrei für die nächste Zukunft! In erster Reihe unter den Ärzten, von denen die älteren von orthopädischen Erkrankungen nichts auf der Universität gelernt haben. Aber auch heute gibt es einen ortho¬ pädischen Lehrstuhl nur an 5 deutschen Universitäten, 2 in Bayern, 1 in Sachsen, 1 in Baden, 1 in dem großen Preußen.

Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 473

Deshalb verlangen Orthopäden und Krüppelfreunde immer wieder die Ein¬ richtung von Extraordinariaten für Orthopädie. Das ist keine rein ärztliche An¬ gelegenheit, sondern durchaus eine Frage der öffentlichen Wohlfahrtspflege; denn erst, wenn jeder Arzt über die reichen Heilungsmöglichkeiten der Orthopädie unterrichtet ist, wird das Krüppelelend abnehmen. Je früher ein Krüppel¬ gebrechen in die Behandlung kommt, desto mehr Aussicht hat es auf Heilung. Deshalb muß die Aufklärung auch in die Kreise der Lehrer, Geistlichen, Beamten und des Publikums dringen.

Die poliklinische Behandlung der Krüppel hat neben anderen die Vorteile der Billigkeit; der Johanniterorden in Bayern hat über 90 Proz. Heilungen und Besserungen erzielt und nur 140 Mk. pro Kopf jährlich ausgegeben. Dänemark betrieb bis in die neueste Zeit seine ganze Krüppelfürsorge fast nur poliklinisch. In Nürnberg haben sich alle Chirurgen und Orthopäden zu einer Art G. m. b. H. zusammengetan. Einzelne Bundesstaaten unterhalten Landesverbände, so Kgr. Sachsen, Baden.

Eine Frage taucht hier auf, die viel diskutiert wird, nämlich die, ob es zweckmäßig ist, die Krüppelfürsorge zu verstaatlichen. Ich für meine Person möchte das verneinen, weil der bureaukratisclie Schematismus da viel Schaden anrichten kann. Aber während die Verstaatlichung in Preußen sowieso in ab¬ sehbarer Zeit ausgeschlossen ist, hat man sie in Oldenburg in diesem Jahre eingeführt und debatiert im bayerischen Landtag stark darüber, als er plötzlich geschlossen wurde.

Mit der Beratung und Behandlung in einer solchen Fürsorgestelle hängt nufs engste die einer Arbeits Verteilung und einer ambulanten Krüppelschulen zusammen.

Das Ausland ist da weiter als wir, in London, Mailand, New York werden die Kinder morgens durch Omnibusse aus ihren Quartieren abgeholt, über Tag unterrichtet, behandelt, gespeist und abends wieder nach Hause gebracht. Eine Dame, die mitten in dieser Arbeit steht, sagte mir, daß in London kein Krüppel¬ kind unversorgt sei so vortrefflich arbeitet der Apparat. In Frankreich gibt es Arbeitshäuser, in welche die Krüppel tagsüber kommen, um dort Arbeit zu finden und einen geringen Verdienst, der nicht durch Kundschaftsbesuch und andere Wege geschmälert wird.

Es scheint mir, daß auch Berlin einmal vor solche Frage gestellt werden wird, daß es sie aber wohl erst dann mit Aussicht auf Erfolg in Angriff nehmen können, wenn die unendlich zersplitterte Wohltätigkeit zentralistisch zusammen¬ gefaßt ist. Vorderhand hat die Berliner Anstalt am Kottbuser Tor eine Fürsorge- und Beratungsstelle eröffnet und wird dort allmählich eins nach dem anderen versuchen.

So sind wir durch das große Gebiet schnell und flüchtig durchgewandert aber das wichtigste und namentlich das neueste und zukunftverheißende haben wir gesehen. Sie werden mir recht geben, wenn ich gesagt habe: Aufklärung ist das Wichtigste.

Um sie in weite Kreise zn tragen, hat die deutsche Vereinigung für Krüppel¬ fürsorge, welche die Trägerin der eben entwickelten Ideen ist, einen Leitfaden der Krüppelfürsorge schreiben lassen, von dem ich einige Exemplare mit anderen Drucksachen mir für die Bibliothek des Vereins zu überreichen gestatte.

Sie hat aber noch mehr getan, nämlich auf der Dresdener Hygieneausstellung einen eigenen Pavillon errichtet, in dem das ganze Gebiet übersichtlich dargestellt

474 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.

war. Welches Interesse dieser Pavillon erregt hat, obwohl er in der äußersten Ecke des Ausstellungsgeländes lag, mögen Sie daraus ersehen, daß während des Sommers über 320000 Besucher hindurchgegangen sind, an einem Sonntag 5288!

Die meisten Ausstellungsgegenstände sind nach Berlin überführt und werden als provisorisches Museum der Krüppelfürsorge in der Bayreuther Str. 13 Auf¬ stellung finden. In 2—3 Jahren wird sich auf dem Gelände des Neubaues unseres Berliner Krüppelheims ein eigner stattlicher Museumsbau erheben, in dem das gesamte Anschauungsmaterial übersichtlich aufgebaut, jedem Laien eindringlich vor Augen führen wird, was die deutsche Krüppelfürsorge will und kann.

Für diese unsere Arbeit, insonderheit aber für das Museum, möchte ich mir das freundliche Interesse Ihres Vereins erbitten, wie ich denn überhaupt es als eine besondere Auszeichnung betrachten würde, wenn Sie bei Gelegenheit unserer Anstalt einen Besuch abstatten würden.

Wer einmal in dieses so schön abgerundete und so erfolgreiche Gebiet der sozialen Medizin hinein geschaut hat, der bleibt ihm immer Freund!

Namenverzeichnis

A.

Abelsdorff 187.

Achard 292.

Adler, Fr. 80.

Ammon, Otto 146. 147. 148. 149. 173.

Aschaffenburg 465.

Ascher 126. 127.

B.

Baker 28.

Baiser 397. 398.

Bassenge 188.

Bauer, Otto 463.

Baum, Marie 46. 60. 64. 65. Becher 107.

Behla 34. 37. 38. 39. 230. 398.

Bender 80.

Beneke 125.

Bergmann, v, 366. Bertheau 398.

Beyer, Ernst 290.

Bieling 283.

Biesalski 466.

Billroth 366.

Bindewald 187. 274. Binswanger 288.

Binz 282.

Biresford 365.

Bleuler 289.

Bloch 393. 398.

Blömer, J. Gr. 468.

Rfioq 4-49

Bockendahl 371. 398. Bonne 300.

Briegleb 285.

Brigbt 197.

Brüning 398.

Bücher 302. 315. Buttermilch, W. 335. Buyse 9.

C.

Camerer 126.

C'arozzi 28.

Cartier 126.

Chauliac, Guy de 348. Conrad, J. 302. 315. Crzellitzer, A. 448. ,

Curschmann 222. 224.

1).

Dannehl 254.

Defferenz 9.

Deiters 290.

Delbrück 285. 290. Dettweiler 294.

Deutsch 297.

Devoto 17. 28.

Dietrich 367. 398. 467. Dietz 289. 290. 295. 297. Dollinger 36. 42.

;• ••

E.

Ecker, A. 146.

Ehrenberg 445.

Ehrlich 345. 353.

Elben 229.

' Eulenberg 71. 197.

F.

Fehlinger 400.

Fernet 295.

Finkeistein 46. 51. 63. 65. Fischer, Alf. 301.

Fischer, R. 197. 214. 216. 222.

Flesch, Max 247. 329. Flügge 61. 65.

Forel 465.

Franc-Nohain 368.

Funke 383. 398.

Fürst 149. 450.

Gr»

Gaillard 292.

Glibert 9.

Gottstein 51. 65. 305. 345.

449. 467.

Grawitz 295.

I Groth 395.

Gruber 393. 398. 455. Guradze 443.

Gutzeit 268.

H.

Hahn 450.

Haifort 3.

Haller 348.

Hanauer 46. 51. 65. 136. 398. i Haussen 46. 295. 365. Hausmann 62.

Hawer 28.

Hegar 393. j Heim 10.

Heinzerling 71.

Helenius 286.

Heller, J. 103.

Heller, Marie 343.

Hensler 369 389. 394. 398. Hermberg 398. j Heymann 203. 206.

Heyn 367. 398.

Hirt 3, 43, 282.

Hirth 197.

Hoffa 467.

Hoftke 299.

Holey 296.

Holitscher 282. 288. 297. Holtzm ann 15. 67. 69. 71 . 76.

, Hoppe 286. 291.

Hufeland 135.

Hume 447.

Hunt 292.

j-

Jeske, E. 290.

Joens 398.

Juliusburger 456.

Jurisch 76.

K.

Kahler 27. 28.

Kaup 18. 132. 134. 191. Keller 51. 65.

Kern, Walter 292.

Kirmsse 468.

476

Knudsen 471.

Kolb 35. 36. 37. 38. 39. Kölsch 1. 230. 235.

Koppe 116.

Kraepelin 286. 288. 290. Kraß 295.

Kruse 151.

Kunkel 72. 76.

Künne 71 72.

Kuzuya 110. 115.

L.

Laitinen 292.

Landois 125.

Landsberger 128.

Lassar 72. 73.

Legge 6. 200.

Lehmann 24. 197.

Lennhoff 73. 449. 450. 467. Lessenich 134.

Lewin 18. 72.

Leymann 218. 219. 220. 222. 223.

Liebe, Georg 281.

Lief mann 64. 65.

Loth 38.

Löwenfeld 392, 398.

M.

Maier, Hans 464.

Malthus 444.

Manouvrier 71.

Martius 281.

Mayet 353. 449. 467.

Mayr, von 302. 315. 3 16. 444. Meinert 46. 62. 65. Meinshausen 253.

Merkel, von 14.

Messimy 392.

Millerand 365.

Mircoli 292.

Mittelhäuser 398.

Mombert 381. 399. Monac-Lesser 299.

Mugdan 227.

Müller, E. Herrn. 287. Munter, D. 107.

N.

Naecke 465.

Naumann Eriedr. 302. 315. 316.

Neißer 353.

Vpf pv QQQ

Neumann 46. 342. 344. 354. 450.

Notthaft 348.

O.

Oberholzer 465. 466.

Ogle 197.

Namenverzeichnis.

Ohlenberg 367. 399. Oesterlen 371. 399.

Ott 141. 143. 152. 253 ff.

P.

Flasche 367. 399.

Pare, Ambr. 348. Parkinson 293.

Pauli 112. 399.

Peiper 109. 375. 399. Peiser 336.

Pignet 138 ff. 253 ff.

Pistor 367. 397. 399.

Plaß 471.

Pollard 462.

Prinzing 32. 110. 152. 187.

274. 305. 349. 399. Puppe 238.

Q.

Quetelet 125. 127. 128.

R.

Rademacher 116. Radestock 237.

Ramnzzini 2.

Ranke, Joh. 146.

Redder 399.

Redgrafe 28.

Rietschel 46. 47. 65. Roders, Dr. C. T. Graham 13. Rohwedder 399.

Romberg 282.

Römer, F. 243.

Rosenfeld 23. 285. 286. 287.

293. 467. 470.

Rösle 240.

Ross 292.

Roth 11, 71.

Rüdin 465.

Rußow 116.

S.

Schaeffer, R 354. Schallmayer 449.

Scharr 296.

Schelble 239.

Schellmann 295.

Scheurlen 14.

I Schiller 466.

Schjerning 186. 189.

Schloß 291.

Schmid-Monnard 118. 125. 126.

Schmidt 134.

Schmieden 72.

Schmoller, von 446.

Schule 243.

Schüler, Frid. 11. 28. j Schultze, Ernst 66. 276. 279.

Schwiening 140. 141. 143. 148. 150. 151. 173. 182. 253 ff.

Sehring 367.

Seitz 128.

Servino 292.

Seyffarth 141. 143. 253. Seyfferth 76.

Sharp 465.

Sichel 287.

Simon 138. 253. 254.

Snell 286.

Solbrig 133.

Sommer, R. 84. Sommerfeld 18. 197. 229. Sternberg 18.

Stewart 293.

Stolte 64. 65.

Sturge 296.

Süßmilch 302.

T.

Teleky 19. 24. 200. 227. Theilhaber 42.

Thomsen 300.

Tugendreich 46. 49. 65. 308. 336. 373. 381. 393. 399. 450.

ü.

Ullrich 77.

Ulrich 69.

Unger 419.

y.

Virchow, Rud. 146. 189. Vogelsänger 11.

Vogl, von 110.

W.

Wagner, Adolf 311. 445. W ard well 299.

Wegmann 11.

Weinberg 455.

Wellmann 187.

Wernicke 456.

Wessel 298.

Westergaard 349. Westphal 300.

Wilser 146.

Wintgens 7.

Wolf, J. 43.

Wolff 287. 385. 399.

Wood 199.

Wright 286.

Wulffen 460.

Wunschheim, von 12.

Z.

Zadek 4.

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