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ARISTOTELES UND SEINE WELTANSCHAUUNG

VON

FRANZ BRENTANO

1911 VERLAG VON QUELLE & MEYER IN LEIPZIG

Alle Rechte vorbehalten.

70G230

Altenburg

PiererfAe Hofbudidru&erei

Stephan Geibel & Co.

Vorwort.

Unter den Erkenntniffen übertrifft nach Äriftoteles diejenige, welche er „Weisheit" nennt, alle anderen an Wert und Würde; ja, bei ihren Betrachtungen ver- weilend, follen wir nach ihm der höchflen Glückselig- keit, deren der Menfch überhaupt fähig ift, teilhaft fein. Alle Berichterflatter find hierin einig ; aber wenn fie dann zur Darlegung der ariftotelifchen Weisheitslehre fchreiten, fo bieten fie uns etwas, was fo unharmonifch und fo voll von greifbaren Abfurditäten ift, daß keiner fich anders als abgeftoßen fühlen kann.

Muß nun fchon diefes Mißtrauen erwecken, fo noch mehr die ganze Weife ihres Verfahrens bei der Ermittelung der ariftotelifchen Lehrmeinungen. Wenn fie bei ihrer For- fchung auf Sätje flößen, die aufs auffälligfle einander zu widerfprechen fcheinen, fo nehmen sie ohne weiteres an, daß hier wirklich Unvereinbares gelehrt werde, und fragen daraufhin nur noch, ob man fich bei der Darfteilung mehr an diefe oder jene Behauptung zu halten habe. Und doch liegt hier die Vermutung nahe, jene Stellen möchten fich auch in einem anderen Sinne deuten laffen, der die eine mit der anderen in Einklang bringt, wo dann das, was dem Verftändnis eine Schwierigkeit zu bereiten feinen, ihm vielmehr zur Erleichterung dient. Denn die Not- wendigkeit, fcheinbar entgegengefe^ten Äusfprüchen gleichzeitig gerecht zu werden, dient als ein wichtiger Anhalt für die Interpretation der einzelnen. Ja, noch mehr ! Vielleicht verlangt die Erklärung des Zufammen- hangs des einen mit dem anderen Ausfpruch gewiffe

m

vermittelnde Glieder, und fo enthüllt fich uns dann das Ganze der ariflotelifchen Lehre in viel größerer Voll- fländigkeit.

Diefen Weg habe ich nun felbfl eingefchlagen, und ich glaube fo unter Benützung mannigfacher, in den ver- fdiiedenen Werken eingeflreuter Andeutungen zu einem Ergebnis gelangt zu fein, welches fich einerfeits fchon durch feine Einheitlichkeit, andererfeits insbefondere auch dadurch empfiehlt, daß man daraufhin wohl begreift, wie Ärifloteles mit hoher Befriedigung bei der Be- trachtung einer in diefer Weife ausgeflalteten Welt- anfchauung verweilen konnte.

Gewiß iffc die Weisheitslehre des Ärifloteles heute als Ganzes unhaltbar, und manche Teile erfcheinen als vollfländig überlebt. Dennoch bin ich überzeugt, daß man, wenn man fie richtig auffaßt, noch gegenwärtig durch ihr Studium wahrhaft gefördert werden kann; wie ich denn felbfl nur eine Dankespflicht erfülle, wenn ich be- kenne, daß, als ich mich als Jüngling in einer Zeit tief flen Verfalls mit der Philofophie zu befchäfKgen begann, ich durch keinen Lehrer mehr als durch Ärifloteles in eine entfprediendere Forfdiungsweife eingeführt worden bin. Es galt freilich, das von ihm Empfangene mit einer Menge von wiffenfchafllichen Errungenfchaflen fpäterer Zeiten in Verbindung zu bringen, und fo erhielt vieles, wenn nicht alles, eine wefentlich veränderte Geflalt. Doch heute noch könnte ich die Zeilen unterfdireiben, die ich einfl einem meiner Hörer an der Wiener Univerfität, als er freundlich nach folchen verlangte, in feine Blätter fchrieb :

Welchem Gefchlecht ich entfprang, ihr Wappengekrönten, ver- nehmet !

Sokrates' Same bin ich, welcher den Plato gezeugt. Plato zeugt' Ärifloteles' Kraft, die nimmer gealtert,

Wie nicht welkte die Braut, die er fich liebend erkor. Zwei Jahrtausende flohn, noch blüht und fproffet die Ehe;

Denn nicht anderem Bund rühm' ich mich heute entflammt.

rv

Didi, Eudemus, du frommer, begrüß' im als Bruder, und dich

auch, Göttlichen Mund's, Theophrafl, fuß wie der Lefbifche Wein. Weil ich fpät ihm gefchenkt und der Jüngfle im Kreife der

Seinen, Hat vor anderen mich zärtlich der Vater geliebt.

Sehr lehrreich iffc fdion die vielfache Annäherung, ja Ubereinftimmung der ariflotelifchen Weisheitslehre mit der unferes großen Leibniz. Man hat deffen hoch- gemuten Optimismus verfpottet, fängt aber heute an, die Bedeutung feiner Lehre wieder beffer zu würdigen. Dem kann es nur förderlich fein, wenn man fleht, wie die Philofophie der alten Hellenen in ihrem höchften Vertreter diefelben Überzeugungen ausfpricht und hoch- hält, welche der eminente moderne Denker aufs ein- dringlichfte gelehrt, und in welchen er die Grundlage eines wahrhaft menfchenwürdigen Lebens erblickt hat.

Ich fuchte die Darflellung möglichfl gedrängt zu geben ; doch bei dem tiefgreifenden Gegenfatj, in welchem fie fich oft zu der Auffaffung, die gang und gäbe ifl, befindet, war eine eingehende Begründung und eine Widerlegung der hauptfächlichflen Einwände nicht überall vermeidlich. Ja, ich hätte noch ausführlicher fein muffen, wenn ich nicht bezüglich einiger der flrittigflen Lehrpunkte, wie z. B. der Lehre vom voos -oitjtixoc und der vom Wirken des ariflotelifchen Gottes, fowie der von der Befeelung des Menfchen und vom Urfprung des Menfchengefchlechts, auf die betreffenden Erörterungen in meiner „Pfychologie des Ärifloteles" und in meiner eben erfcheinenden Ab- handlung „Ariftoteles' Lehre vom Urfprung des menfch- lichen Geiftes" hätte verweifen können.

Franz Brentano.

Inhalt.

Seite

Leben 3

Schriften 9

Weisheit 22

Das Objekt der menfdilidien Weisheit 24

Verdeutlichung der Termini 28

Unmittelbare Erkenntniffe 29

Zwei Klaffen unmittelbar evidenter Wahrheiten, von denen die

erfle die der unmittelbar evidenten Tatfachen ifl 30

Axiome 33

Mittelbare Erkenntniffe 41

Urfprung der Ideen 42

Die Tranfzendenz der fubflanziellen Definition 53

Subflanzielle Umwandlungen. Materie und Form 55

Der Mangel kontinuierlicher fubflanzieller Umwandlungen ... 60

Kein Entftehen aus nichts und kein Vergehen zu nichts 61

Das Gefetj der Synonymie 62

Exiftenz eines fchlechthin Notwendigen 67

Es ifl unbewegt 69

Es ifl ein einheitlicher, zwecktätiger Verfland als erfte Urfache

der ganzen Weltordnung 71

Diefer Verftand ifl die erfle Urfache nicht bloß aller Ordnung,

fondern auch alles Seins 75

Er ifl, indem er (ich felbfl fchaut, allweife und vollkommen feiig, und fein Wefen ifl feine Weisheit und feine Weisheit feine

Seligkeit 79

Er ifl die Liebe alles Guten und der allmächtige Wille, der das

Befle will 82

Er ifl unendlich gut und als Gutes Prinzip 86

Die Gottheit 89

Die Gottheit des Arifloteles und die platonifche Idee des Guten.

Das „Begehren" der Materie 90

Die Gottheit des Arifloteles und der anaxagoreifche Noü; .... 94 Die ariflotelifche Gottheit im Lichte feiner Lehre von den Prin- zipien der Bevorzugung 97

VII

Seite

Gottes einheitlidie Tätigkeit, fein rein theoretifdies Leben. . . 103

Die Gottheit und die angebliche Unmöglidikeit felbfllofen Wollens 113

Aporien zur Theodicee 114

Die Teleologie der himmlifdien Welt 119

Die korruptiblen Elemente und was zur wirklichen Entfaltung

ihrer Kräfte und Anlagen führt 123

Veredelnder und befeelender Einfluß der Geftirne 125

Stufen des Lebens. Überlegenheit des Menfchen durch feine

teilweife geiftige Natur 128

Wechfelwirkung zwifchen Geifl und Leib 131

Mitwirkung der Gottheit zur Entftehung des Menfchen 133

Das Auftreten des Menfchengefchlechtes s. z. s. die Fülle der

Zeiten 141

Das Diesfeits als Vorbereitung für ein allbefeligendes und jedem

gerecht vergeltendes Jenfeits 142

Unbegrenztes Wachstum des in (ich Guten. Unendliche Verviel- fältigung des in Weisheit gottbefeligenden Lebens 148

Teleologifcfae Unentbehrlichkeit der Körperwelt 149

Schlußbemerkungen. Die Philofophie des Ariftoteles im Ver- gleich mit anderen Weltanfchauungen 150

VIII

Ariftoteles und feine Weltanfdiauung

Leben.

Wenn wir die wiffenfdiaftlichen Forfcher zu den hohen Wohltätern des Menfchengefchlechts rechnen, den einen aber mehr als den anderen, fei es, weil er in reicheren und mannigfaltigeren Arbeiten oder auf einem er- habeneren Gebiet fich betätigt, fei es, weil er fachlich größere Erfolge erzielt oder in weiterer Ausdehnung und nachhaltiger fördernd die Mit- und Nachwelt beeinflußt hat: fo hat aus allen diefen Gründen vielleicht keiner mehr als Ariftoteles auf folche dankbare Verehrung An- fpruch.

Er war geboren 384 v. Chr. zu Stageira, einer griedii- fchen Pflanzfladt in Makedonien, deffen Königen fein Vater und feine Vorfahren weiter hinauf als Leibärzte gedient hatten. Geiftig konnte er aber viel mehr Athen feine Heimat nennen, das er als siebzehnjähriger Jüng- ling zum erftenmal betrat, um es erft nach zwanzig Jahren und auch dann für kaum mehr als ein Dezennium zu verlaffen. Seine ganze Einführung in die Wiffen- fchaft hat er dort empfangen, trat dort zuerfl als Lehrer auf und fcheint dort alle die Schriften verfaßt zu haben, die wir von ihm befiijen.

Für alle edlen Anregungen, die Athen damals geben konnte, waren feine Sinne offen. Doch vor allem zog Piaton ihn an, deffen Schule er sofort auffuchte und deffen Einfluß trotj aller Äufmerkfamkeit, die Ariftoteles fpäter auch den älteren Philofophen und namentlich denen der jonifchen Schule fchenkte, fich in feiner theo-

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retifdien wie praktifchen Philofophie weit mehr als jeder andere fühlbar macht. Kein Zweifel auch, daß er fleh ihm allezeit zu innigflem Danke verpflichtet fühlte. So berichtet uns Olympiodor von einer von Ariftoteles zu Piatons Ehren gefchri ebenen epideik- tifchen Rede, und aus dem elegifchen Gedichte, worin Ariftoteles feinen verdorbenen Freund, den Kyprier Eudemus, gefeiert, hebt er uns eine Stelle aus, welche in das Lob des edlen Toten den Ausdruck höchfter Be- wunderung für den damals noch lebenden Piaton ein- mifcht:

Doch zu der Kekropsfladt flrahlender Schwelle gelangt, Höhet er dem fromm ehrend den Altar heiliger Freundfchaft,

Welchen zu preifen fogar Themis den Böfen verwehrt, Der als der Sterblichen erfler, ja einziger, klärlich erwiefen

Durch fein Leben zumal und das erzwingende Wort, Wie ein Weg zu Tugend uns führt und feiigem Glücke.

Keinen doch findet bereit heute die Kunde des Heils 1).

Und diefes Gefühl höchfter Verehrung iffc nie erlofchen. Man kann fleh nicht nachdrücklicher dem Lehrer, der in die Weisheit eingeführt, durch eine nie abzutragende Dankesfchuld verbunden bekennen, als es Ariftoteles am Abend feines Lebens in den Büchern von der Freund- fchaft tut. Es fei, fagt er, der Fall hier ähnlich wie bei den von den Eltern und von der göttlichen Vorfehung empfangenen, nie voll und eigentlich zu vergeltenden Wohltaten. Daß er bei foldier Gefinnung Piaton, deffen Lehre er in feinen erflen fdiriftflellerifchen Verfuchen fo gut wie durchwegs fich angefchloffen zu haben fcheint, fpäter in gar manchem, fehr wefentlichen Punkt be- kämpft, erklärt er felbffc mit dem fchönen Wort, daß gegenüber jedem anderen, auch dem innigfl verbundenen Freunde, die Wahrheit immer noch als die liebere Freundin gelten muffe; und um ihretwillen dürften wir

*) Im Zufammenhang mit dem eben gefdieiterten legten Reform- verfuche Piatons war Eudemus in Sizilien gefallen.

auch der eigenen Meinungen nicht fchonen. So gereicht ihm denn folche freimütige Kritik, die er in feinen reiferen Jahren auch perfonlich Piaton gegenüber nicht fcheute, nur zur Ehre, wenn fie auch epikureifchen Läster- zungen zu üblen Nachreden, die, wie ihn, auch Piaton in ungünftigftem Lichte erfcheinen laffen würden, den An- laß bot.

Es iffc eine Erfahrungstatfache, die Arifloteles felbfl gelegentlich erwähnt und erklärt, daß erwiefene Wohl- taten mehr noch als empfangene den Menfchen zur Liebe bewegen. Darum dürfen wir wohl nicht zweifeln, daß Arifloteles auch für Alexander den Großen, deffen Erziehung ihm König Philipp anvertraut und deffen Geifl und Gemüt er vielfach aufs wohltätigfle beeinflußt hatte, immer eine warme Teilnahme bewahrte. Aber auch hier hat er fich dadurch nicht verleiten laffen, die Weife, wie diefer als Herrfcher waltete, in allen Stücken zu billigen. Ja, wenn man darauf achtet, fo kann man kaum ver- kennen, daß mancher wichtige Ausfpruch in feinen Büchern vom Staate wie gemacht fcheint, um die Ziele, die Alexander verfolgte , als falfche und verwerfliche zu kennzeichnen. Diefer, in feiner Eroberungsfucht , ging auf nichts mehr als auf Krieg und weitere und weitere Ausdehnung feines Reiches aus. Arifloteles aber erklärt, daß alle Staaten, deren Einrichtungen hauptfächlich den Krieg im Auge haben, fchon im Prinzip verfehlt feien, und warnt vor einer Ausdehnung des Staates ins Un- begrenzte. Denn im Gegenfa^ zur Gottheit, deren Walten das unermeffene Weltall zu ordnen wiffe, fei der Menfch in feiner Kraft befchränkt; fo habe denn der Staat, ähnlich jeder Art von Organismen, ein gewiffes und relativ enges natürliches Maß, deffen Überfchreitung für ihn keinen Zuwachs, fondern nur eine Abnahme der Vollkommenheit mit fleh bringen muffe. Auch hat des Arifloteles und feiner Vorfahren perfönliche Beziehung zum makedonifchen Königshaus ihn keines- wegs behindert, das Erbkönigtum für etwas der

Wohlfahrt des Staates wenig Entfprediendes zu er- klären.

Das Leben des Ariftoteles war mannigfach bewegt. Früh zur Doppelwaife geworden, hatte er das Glück, in Proxenos und feiner Gattin liebevolle Pflegeeltern zu finden, welche feine erften Schritte auf dem Wege der Tugend leiteten und fein nicht unbedeutendes väterliches Vermögen ihm treu bewahrten. Noch in feinem Tefla- ment gedenkt er ihrer dankbar. Nach Piatons Tode einer Einladung des Fürflen Hermeias nach Atarneus folgend, war er dort Zeuge des jähen Sturzes und Unterganges diefes edlen Freundes. Hermeias' Nichte und Pflegetochter Pythias rettete er durch Flucht und nahm fie zur Gattin. Auch fie wurde ihm frühe durch den Tod geraubt. Doch obwohl er inzwifchen mit Herpyllis aus Stageira eine neue Verbindung einge- gangen, gedenkt er ihrer noch liebevoll in feinem Tefla- ment.

Manche wollen glauben machen, jene zweite Ver- bindung fei ein bloßes Konkubinat gewefen; aber was immer die gefellfchaftliche Stellung der Herpyllis von der, welche einft Pythias innegehabt, unterfcheiden mochte, an ein Verhältnis wie das, was wir mit dem Namen zu bezeichnen pflegen, dürfen wir dabei nicht denken. Die Ungerechtigkeit, die darin für den weiblichen Teil liegt, widerfpricht durchaus feinem uns bekannten Sinn für Recht und Freundfchaft. Gewiß war die Erziehung einer Tochter, die ihm die erfle Gattin gefchenkt, Herpyllis, von der fein Sohn Nikomachus flammte, als zweiter Mutter anvertraut. Und fo finden wir ihn denn auch in feinem Teflament durch eine für unfere Frage fehr be- deutfame Beflimmung für die Zukunft der Verwitweten Sorge tragen. Man folle, heißt es da, falls fie es wünfche, fie abermals, doch nur mit einem Manne, der feiner würdig fei, vermählen. Wir fehen, für diefe feine zweite Verbindung muß auch eine Sanktion und vor allem die des Gewiffens beflanden haben.

Überhaupt enthält fein Teftament vieles, was uns feine edle PerfÖnlichkeit näherbringt; fo insbefondere gewiffe Verfügungen auch in bezug auf die von ihm hinterlaffenen Sklaven. Sie zeigen, daß, wenn er in feiner Ethik in dem Sklaven nicht bloß den Sklaven und fo eine Art lebendigen Werkzeuges, fondern auch den Menfchen zu erblicken gebietet, sein eigenes Verhalten diefer Lehre in fdiönfler Weife ent- fprochen hat.

Noch kurz vor feinem Ende wurde Äriftoteles von fchweren Sdiickfalsfchlägen betroffen. Er mußte es er- leben, daß Alexander feinen edlen Neffen Kalliflhenes in trunkenem Zorn niederftieß; und als Alexander flarb und die Nachricht Athen erreichte, da follte er, deffen Herz fo treu und für jede Wohltat dankbar gewefen, auch von diefer Stadt, zu deren Gunflen er wiederholt feinen Einfluß am makedonifchen Hofe geltend gemacht, den fchwärzeften Undank erfahren. Man erhob auf Grund eines uns erhaltenen Gedichtes, das feinen ver- dorbenen Freund Hermeias als Spiegel aller Tugend feiert, gegen ihn die Anklage, einem Menfchen göttliche Ehre erwiefen zu haben. Als Kenner der Volksleiden- fchaft entzog fich Arifloteles dem Prozeß durch die Flucht und wurde dann auch wirklich in feiner Abwefenheit zum Tode verurteilt. Daß er der Regierung Alexanders völlig ferngeblieben, hatte nicht verhindert, daß der Aus- bruch eines lang verhaltenen Haffes gegen die make- donifche Herrfchaft fleh feindlich auch gegen die Person des großen Stagiriten kehrte.

Man hat diefen Mangel jeden Verfuches, praktifch in die Politik Alexanders einzugreifen, mit dem Verhalten Piatons in Gegenfatj gebracht, der zu wiederholten Malen nach Syrakus reifte, um dort den Staat nach feinen poli- tifchen Grundfätjen zu reformieren. Doch man hat gewiß fehr geirrt, wenn man dies aus der relativen Hoch- fchätjung, die Äriftoteles für das kontemplative gegenüber dem praktifchen Leben hegte, erklären wollte. Gerade fie

ifl ja etwas, was bei Piaton ebenso wie bei Ärifloteles gefunden wird. Und wenn Piaton tr ordern dafür hielt, daß der Philofoph (ich um die Staatsverwaltung kümmern muffe, weil es im Staat nicht eher gut werden könne, als bis der Philofoph König werde oder der König in rechter Weife philofophiere , so war Ärifloteles aus- gefprochenermaßen derfelben Überzeugung. Und fo iffc denn wohl kein Zweifel, daß er einen Teil der ihm fo lieben Muße willig aufgeopfert hätte, wenn Alexander geneigt gewefen wäre, auch als Herrfcher noch auf die Lehren und Ratfchläge feines Erziehers zu hören. Sicher wären diefe auch nicht fo wie manche revolutionäre Ideen Piatons von den durch die Erfahrung als wahr- haft gangbar erwiefenen Wegen abgeirrt. Hätte Äriflo- teles fich wirklich von vornherein ganz auf die Forfchung befchränken und keinen Einfluß auf die politifchen Ver- hältniffe nehmen wollen, wie wäre er dann fo bereit- willig der Einladung König Philipps gefolgt? Nicht zum Forfcher, zum Lenker des Staates sollte ja doch Alexander erzogen werden. Und ficherlich nicht wegen eines Lohnes, den er von Philipp erhoffte, ging er auf deffen Antrag ein, fondern weil ihm der Verfuch aussichtsvoller fchien, das Herz eines jungen Prinzen als, wie Piaton es gehofft, das Gemüt eines Tyrannen auf dem Throne für feine politifchen Ideen zu gewinnen.

Ärifloteles flarb, zweiundfechzig Jahre alt, in Chalkis auf Euböa, das den Flüchtigen aufgenommen, im Sommer 322 v. Chr. Wie unter ihm felbfl feine Schule im Lyceum, von deffen Wandelbahn (Peripatos) fie den Namen der peripatetifchen erhielt, die Akademie unter Speufippus weit überflrahlt, fo auch noch unter feinen nächflen Nachfolgern, deren erfler Theophrafl gewefen ifl. Neben ihm ifl Eudemus, der Verfaffer der nach ihm be- nannten Ethik, als der vorzüglichfle feiner unmittelbaren Schüler zu nennen.

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Schriften.

Wenden wir uns nun zu den Schriften des großen Mannes.

Schon zu Lebzeiten Piatons als Schriftffceller aufge- treten, hatte er (ich damals vielfach auch in der Form der Darflellung feinen Lehrer zum Mufler genommen. Er fchrieb mehrere Dialoge, von denen wir aber nur unbedeutende Bruchflücke befitjen. Es war ein gefähr- liches Verfangen, hier, auch was die Schönheit der Dar- flellung anlangt, Piaton nacheifern zu wollen. Aber Arifloteles fcheint, wenn er ihn auch nicht ganz erreichte, doch vieles von feinen Vorzügen jich eigen gemacht zu haben. Denn wohl nur auf Grund diefer uns verlorenen Schriften konnte fich Cicero veranlaßt fehen, ihn nächfl Piaton vor allen alten Philofophen wegen der vorzüg- lichen und nicht bloß didaktifch, fondern auch äflhetifch vollendeten Darftellungsweife zu rühmen. Was die uns erhaltenen Schriften anlangt, fo gibt ihnen zwar die Gedrängtheit und Prägnanz des Ausdrucks außer dem fachlichen Intereffe nicht feiten einen eigentümlichen Reiz. Sonfl aber laffen fie (und gerade die wichtigften unter ihnen am allermeiflen) unter dem Gefichtspunkt der Darflellung gar viel vermiffen. Es kommt zu läfligen Wiederholungen; es hinkt eine Erörterung, die an früherer Stelle beffer am Platje gewefen wäre, weit hinten nach; und felbfl der erflen Forderung, welche der Lefer zu machen hat, nämlich der Deutlichkeit, wird höchfl ungenügend Rechnung getragen. Bald wird eine Stelle durch eine übertriebene Kürze, bald durch die Vieldeutigkeit der Ausdrücke unverfländlich. Kommt es doch nicht allein vor, daß Arifloteles das- felbe Wort anderwärts in anderem Sinne gebraucht, fondern er erlaubt (ich folchen Wechfel der Bedeu- tung fogar in derfelben Erörterung , ja in demfelben Satje.

Ganz befonders mißlich ifl es, daß jenes Übermaß von Kürze, über das wir klagten, fich gerade da am meiflen bemerklich zu machen pflegt, wo es fich um die allerwichtigflen und fchwierigflen Fragen handelt; ein Umfland, der manche fchon im Altertum auf gar felt- fame Meinungen geführt hat. Man wollte darin eine Abficht erkennen, unver {ländlich zu fein, indem einige meinten, er habe gewiffe hohe Wahrheiten nicht zum Gemeingut machen, fondern feiner Schule vorbehalten wollen, andere aber ihn in Verdacht nahmen, als habe er fich felbfl hier nicht genügend ficher gefühlt, aber flatt dies einfach einzugeflehen, wie ein Tintenfifch vor der Verfolgung, vor der Möglichkeit einer Kritik und Wider- legung fich dadurch zu fchütjen gefucht, daß er künfllich ein Dunkel um fidi verbreitete. Wenn nun auch folche Annahmen, mit dem uns bekannten Charakter des Ariftoteles unvereinbar, jeder Wahrfdieinlichkeit ent- behren, fo geben fie doch dem von uns gerügten Mangel der Deutlichkeit ein fehr beredtes Zeugnis. Und diefe konnte nicht dadurch gewinnen, daß mannigfache Fehler fich in den Text eingefchlichen haben, für deffen vielfache Unsicherheit fchon die große Menge der Varianten in den uns überlieferten Codices fpricht. Nicht feiten aber findet der Interpret fich zu einer Emendation des Textes ver- anlaßt, in dem die fo vielfach variierenden Codices fämt- lich miteinander übereinflimmen ; und diefe kann richtig fein, felbfl wenn fie durch Einfchaltung eines ou den Sinn der Stelle geradezu ins Gegenteil verwandelt.

Hierfür nun können wir den Schriflfleller nicht eigent- lich verantwortlich machen, wenn wir nicht fagen wollen, bei einem Text, deffen Verfländnis fich wegen der Dunkel- heit der Schreibweife dem Kopiflen entzieht, fei das Ein- fchleichen von falfchen Lesarten ganz befonders leicht zu erwarten gewefen. Aber auch im übrigen werden wir über den Fehler der Undeutlichkeit und die anderen in der Darflellungsweife des Ariftoteles hervorgehobenen Mängel milder urteilen, wenn wir darauf achten, wann

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und wie cie uns hinterlaffenen Schriften verfaßt worden find. Man ift heutzutage ziemlich einig in der Annahme, daß fie fämtlich in die Zeit feines zweiten Aufenthaltes in Athen, alfo zwifchen die Jahre 335—322, fallen; und die Kürze diefer Periode fleht in einem gar fchlechten Verhältnis zu der erflaunlichen Fülle und Mannigfaltig- keit der Arbeiten, die in ihr entftanden find. Gehören ihr doch außer denen, die wir von Ariftoteles befitjen, noch andere, uns verloren gegangene, wie namentlich das große Werk, welches eine hiftorifche Darflellung der vor- züglichften alten Staatsverfaffungen enthielt, an. Und nun erwäge man auch noch, daß die Zeit des Ariftoteles zwifchen Sdhriftftellerei und mündlichem Lehrvortrag ge- teilt war, und denke an alles das, was wir von den Er- eigniffen des damaligen öffentlichen und feines Privat- lebens kennen, und was notwendig Störungen mit fleh brachte, und auch daran noch, daß uns erzählt wird, er fei von zarter Gefundheit gewefen: wird man es da nicht nur allzu erklärlich finden, daß Ariftoteles, um in anderen, noch wefentlicheren Stücken der großen Auf- gabe, die er fich im Dienfle der Menfchheit (teilte , zu genügen, auf die volle Entfaltung des Talentes verzichtete, das ihm, wie er in früheren Schriften bewiefen, auch für die Darfteilung gegeben war?

Keine einzige der uns erhaltenen Schriften hat er felbfl herausgegeben, keine einzige erfcheint auch wahr- haft vollendet, wenn auch die eine ungleich mehr als die andere der Vollendung fern. Einen guten Teil davon mag er bei mündlichen Vorträgen sozufagen wie ein Kollegienheft benüijt haben, die eine in öfterer, die andere in minder häufiger Wiederholung. Manche haben aber fo ganz und gar den Charakter von bloßen Brouillons, daß fie felbfl dazu nicht genügt haben würden.

Das alles alfo erfchwert wefentlich das fiebere Ver- fländnis feiner Lehre ; und die Schwierigkeit würde noch wachfen, wenn wir mit einigen namhaften Kritikern es

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für ausgemadit hielten, daß Arifloteles oft Dinge fage, an welche er felbft nicht glaube. Bald foll er nach ihnen gegen feine unzweifelhafte Überzeugung der gewöhn- lichen Meinung die größten Konzeffionen machen; bald wieder bei der Bekämpfung eines Gegners (ich nicht fcheuen, ihm vorzuwerfen, was er felbft ganz ebenfo für wahr hält, wenn er nur Hoffnung hat auf die, zu welchen er fpricht, eine für den Gegner nachteilige Wirkung zu üben; bald wieder durch feine Luft, feine dialektifche Meiflerfchaft in helleres Licht zu fetjen, um mehr noch Gründe auf Gründe häufen zu können, Angriffe auch von folcher Seite machen, auf der er felber gar nicht fleht. Manche halten diefe fchriftflellerifchen Unarten bei Arifloteles für fo unleugbar, daß fie darauf ein ganzes Syflem von methodifchen Regeln aufbauen, deren flrengfle Beachtung geboten fei, wenn nicht die ganze Lehre des Arifloteles als ein Haufen von Widerfprüchen erfcheinen folle. Ja, fie gehen fo weit, zu behaupten, daß, fchon wenn er von einem Sa^e nur gelegentlich Anwendung mache, und wäre es auch, um wichtige Folgerungen daran zu knüpfen, feine Äusfage nicht ebenfo verläffig fei wie an einem anderen Orte, wo er fleh mit der Feflflellung und Begründung des Sa^es felbft befchäftige. Wäre dies wahr, fo hätte es bei der Störung, die (ich aus der Undeutlichkeit der Schreibweife oder aus der mangel- haften Überlieferung des Textes ergeben kann, die traurigflen Folgen. Denn es ifl natürlich, daß der Stellen, welche fich mit der Begründung eines Sa^es befchäftigen, nur wenige find, ja vielleicht nur eine folche fich findet, während die Gelegenheit zur Anwendung häufig wieder- kehrt und der Satj, wenn er von größter Tragweite ifl, den Charakter des Syflems vielleicht in allen feinen wefentlichen Zügen mitbeflimmt. Und es ifl offenbar ungleich leichter möglich, daß durch eine Nachläffigkeit des Ausdrucks oder einen Verderb der Lesart eine Stelle, als in gleichförmiger Weife eine große Fülle von Stellen mißverfländlich werde. In der Tat hat diefer

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Grundfat$ der Auslegung dazu geführt, neben einer ver- fchwindend kleinen Anzahl von Ausfprüchen eine unver- gleichlich größere Menge, die, den verfchiedenften Schriften angehörig, miteinander im Einklang find, jenen wenigen aber, wie man fie gedeutet hat, widerfprechen würden, als Anhaltspunkte zu verwerfen.

Glücklicherweife darf ich auf Grund langer und forg- fältiger, dem Ariftoteles gewidmeter Studien, verfichern, daß alle diefe von vornherein fo fehr befremdlichen Hypothefen durchaus ungegründet, nur aus Mißdeutungen, über die man (ich in Anbetracht der fchon erwähnten Schwierigkeiten des Verfländniffes nicht allzu fehr ver- wundern darf, entfprungen find. Wir werden alfo von diefen hypothetifchen Hilfsmitteln keinerlei Gebrauch machen. Und wenn wir dann trotzdem zu einer ebenfo harmonifchen Darftellung gelangen, fo wird nach den Regeln der Wahrfcheinlichkeit fchon wegen des Entfalls folcher Komplikation der Vorausfet;ungen der Vorteil auf unferer Seite fein; noch mehr natürlich, wenn man beim Vergleich erkennt, daß die Lehren, zu welchen jene Interpreten mit ihren gekünftelten Annahmen ge- führt werden, viel weniger in fleh harmonifch erfcheinen und viel weniger auch mit der Lehre der hiftorifchen Vorgänger und Nachfolger verwandt, fowie denen der großen Denker anderer Zeiten, die vieles mit Ariftoteles gemein haben, ähnlich find. Ja, fo handgreiflich ungereimt erfcheinen fie, daß niemals wohl ein Menfch, der Arifto- teles fo auslegte, eine Neigung gefühlt haben dürfte, (ich ihm anzufchließen. So haben denn auch nachweisbar weder die unmittelbaren Nachfolger des Philofophen, noch Alexander von Äphrodifias, der 200 n. Chr. fich den Ehrennamen des Exegeten im eminenten Sinne erworben hat r), noch Simplicius, der gelehrtefte der alten Kommen-

J) Als fdilagenden Beleg dafür vergleiche man feinen unzweifel- haft echten Kommentar zum 9. Kap. des L Buches der Metaphyfik. Daß der uns unter feinem Namen überlieferte Kommentar zu dem

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tatoren, dem Arifloteles neben Piaton als höchfle Autori- tät gilt, noch die arabifchen Philofophen, noch die Scholaftiker , denen Äriftoteles nach Dantes Wort „der Meifler für die war, welche wiffen", einer ähnlichen Deu- tung wie jene, zu welcher unfere überkritifchen modernen Exegeten gelangen, {ich geneigt gezeigt. Dagegen finden wir fie bei einem Ramus auftreten, der bekanntlich felbfl in der Logik mit Äriftoteles gebrochen, und der auf Grund folcher bis dahin unerhörter Exegefe ihn als Metaphyfiker erfl recht um jedes Anfehen zu bringen hoffte. Und fo müßte man denn fagen, der gewaltige Einfluß, den die ariftotelifchen Schriften auch auf den höchflen Gebieten der Philofophie geübt, komme eigentlich nur einem mißverflandenen Äriftoteles zu, fehen wir doch fchon Leibniz, der, von Ramus verführt, Arifloteles in bezug auf die erhabenflen Fragen eine der modernen Deutung entfprechende Auffaffung zufchreibt, infolge da- von gar verächtlich über die ariflotelifche Gotteslehre urteilen. Und wenn er tro^dem von ihm auch auf dem höchflen Gebiet mächtig beeinflußt ift, fo doch nur mittelbar durch folche, welche den anders verftandenen Philofophen zum Lehrer gehabt hatten. Wie ganz anders wäre das gewefen, wenn er die wahre Lehre des Arifloteles ge- kannt hätte ! Mit welchem Entzücken würde er dann auf fo manchen mit der feinigen über ein flimmenden Zug ver- wiefen haben! Und ähnlich wie Leibniz fieht jich auch noch die gegenwärtige Zeit infolge der modernen Ver- dunkelung der ariflotelifchen Lehre gerade auf dem höchflen Gebiet eines unmittelbaren fegensreichen Ein- fluffes beraubt, fo daß nur in relativ niederen Difziplinen ein folcher fich noch geltend macht.

Wenn man fich hütet, unvereinbar fcheinende Äus- fprüdie des Philofophen ohne weiteres für wirklich ein- ander widerfprechend zu halten und, indem man darauf-

wichtigen Budie Met. A unedit ift, hat Freudenthal („Die durdi Averroes erhaltenen Fragmente Alexanders zur Metaphyfik des Ärifto- teles") in unwiderfprechlicher Weife dargetan.

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hin die einen als minder vertrauenswürdig verwirft, ein fo feltfames Verfahren durch noch feltfamere Hypothefen zu befchönigen, fo wird gerade die Schwierigkeit, die einen mit den anderen in Einklang zu bringen, den fo geretteten Anhaltspunkten einen noch höheren Wert verleihen, und es wird auch hier, um mit Ärifloteles zu fprechen, die aizopla zur zb-nopia werden. Man wird nämlich notwendig nach den Bedingungen forfchen, unter welchen allein die mannigfachen Äußerungen miteinander ver- träglich erfcheinen. Und fo gibt der eine Ausfpruch nicht bloß für die richtige Deutung des anderen Licht, fondern man mag auch zur Kenntnis von manchen Gliedern des arijtotelifchen Gefamtfyftems gelangen, die uns in feinen oft fo knappen und fragmentarifchen Mitteilungen nirgends direkt gegeben, aber nunmehr zur Herflellung des Zu- fammenhangs gefordert find. Der Gedankenbau eines großen Denkers gleicht dem Organismus eines Lebe- wefens, wo die Befchaffenheit eines Teils die des anderen bedingt, und was Cuvier bei den Reflen vorweltiicher Tiere gelang, daß er nämlich aus der Natur der ge- gebenen die Natur der fehlenden Teile aufs treffendfle beflimmte, das wird darum auch bei einem folchen Werke der Philofophie oft recht wohl möglich fein. Und ift man fo zu dem volleren Verfländnis des wahren Charakters des Ganzen gekommen, fo daß die Verwandtfchaft diefes Denkers mit anderen, deren Werke uns vollkommener erhalten vorliegen, unverkennbar geworden ift, fo wird auch der Blick auf diefe neue Hilfe leiflen und uns dazu fuhren, den einen Fall in Analogie zum anderen leichter zu begreifen.

Das alles alfo werden wir uns zur Aufgabe fetjen und hoffen fo ein viel vollfländigeres Bild geben zu können, ohne dabei irgendwie die Grenzen der Wahr- fcheinlichkeit zu überfchreiten. Wenn wir dabei nirgends anzugeben unterlaffen, ob etwas direkt ausgefprochen oder mit Sicherheit erfchloffen oder mit mehr minder Wahrfcheinlichkeit als Vermutung beigefügt ifl, fo wird

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uns von feiten eines verftändigen Kritikers jedenfalls der Vorwurf mangelnder Exaktheit nicht treffen können ; denn felbstverftändlich werden wir, wenn wir folche neue Hilfsmittel in Anwendung bringen, auf keines der von anderen benutzten verzichten, ja fogar noch reicheren und forgfältigeren Gebrauch von ihnen zu machen be- ftrebt fein.

Je mehr (ich infolge des Gefagten unfere Aufgabe erweitert, um fo weniger dürfen wir, fchon wegen der Enge des uns zugemeffenen Raumes, es unterlaffen, fie nach anderer Seite möglichfl einzufchränken l). Es muß uns genügen, wenn wir von der ariftotelifchen Lehre jenen Teil in allen Hauptzügen zur Darflellung bringen, den er felbfl unter Weisheit begreift.

Audi die Frage der Chronologie der ariftotelifchen Schriften und die charakteriftifthe Eigentümlichkeit, welche diejenigen unter ihnen, die man exoterifch nennt, von den fogenannten efoterifchen unterfcheidet, fei hier mit kurzem Worte wenigftens berührt. Die erflere, namentlich wenn Spuren einer Fortbildung der Lehre da- für den Anhalt gäben, gewänne für das Verftändnis und die Zu- fammenordnung der einzelnen Ausfprüche gewiß eine hohe Wichtig- keit. Bei Piaton ift eine allmähliche Entwiddung der Lehre ganz unverkennbar. Sollte Ariftoteles nicht auch zu Änderungen veranlaßt worden fein? Sicher war dies der Fall, wenn man bis auf die Zeit, wo er feine Dialoge fchrieb, zurüdiblidit. Selbft die wenigen uns er- haltenen Fragmente bieten dafür den Beleg. Dagegen hört man ge- wöhnlich fagen, daß in den uns überkommenen fyflematifchen Schriften (ich fo gut wie keine Lehrdifferenzen zeigten und führt dies teils auf die Abfaffung in relativ fich naheliegenden Zeiten, teils darauf zurück, daß Ariftoteles, der keine diefer Schriften felbfl veröffentlicht hat, nachträgliche Berichtigungen anzubringen Sorge getragen haben möge. Allein der Zeitraum von mehr als zwölf Jahren konnte denn doch einen Forfcher, der gewiß nicht fo töricht war, allen feinen Auf- hellungen die Sicherheit mathematifch erwiefener Lehrfätje zuzu-

') Die Abhandlung war urfprünglich für das von Dr. von Afler redigierte Werk „Große Denker" beftimmt. Daher das Streben nach Gedrängtheit, das aber doch fchließlich nicht ausreichte, das Ganze wirklich aufnahmefähig zu machen. Sehr wichtige Abfchnitte, die dort ganz entfallen find, finden fleh in diefer Separatausgabe wieder beigefügt.

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fchreiben, ja, der über die Unvollkommenheit aller menfdilichen Weisheit fidi mit aller Demut äußert, auf mandies Bedenken auf- merkfam machen und zu manchem Reformverfuche anregen. Und wenn kleinere Abänderungen nachträglich leicht zu treffen waren, fo doch nicht folche, welche in ihrer Konfequenz weitgehende Um- bildungen verlangten. Wir finden, daß Arifloteles manchmal eine Ergänzung, die er als nötig erkannt, nicht in die Schrift hinein ver- arbeitet, fondern fie ganz lofe hinten anfügt; ja, manchmal folgen (ich mehrere folche Nachträge ohne innere Ordnung kunftlos aneinander- gereiht. Zu mehr als dem wollte und konnte er, den jetjt andere Fragen befchäftigten , fich die Zeit nicht nehmen. Und wie follte er fie da immer gefunden haben, wo es fich nicht um eine bloße Er- gänzung, vielmehr um eine Korrektur handelte, welche nicht ohne bedeutende Umarbeitungen hätte angebracht werden können? Zu noch nicht herausgegebenen Schriften hätte wohl auch Auguflinus nicht, wie zu den von ihm fchon veröffentlichten, einen liber retrac- tationum zu fchreiben für gut gefunden.

Doch man wird fagen, was verfangen alle diefe Reflexionen, da uns ja doch die Erfahrung zeigt, daß tatfächlich folche Neubildungen in den fyftematifchen Schriften des Ariftoteles nicht vorkommen. Gerade dies, meint man, nehme uns in den meiflen Fällen die Mög- lichkeit, ihre chronologifche Folge feflzuflellen , laffe dies aber zu- gleich als einen nicht fehr fühlbaren Mangel erfcheinen. Doch auch hier glaube ich mich durch einen genauen Vergleich von dem Gegen- teil überzeugt zu haben. Und es war insbefondere einer, und ein fehr wichtiger Punkt, in welchem ich bei Arifloteles eine ganze Reihe fich folgender Veränderungen gefunden habe. Es ifl dies die Lehre von der Definition, über die Arifloteles in der Topik, in den zweiten Analytiken, in den Büchern der Metaphyfik und wieder im vierten Buch der Meteorologie und in der Schrift De Partibus Animalium BefUmmungen gibt, die keineswegs alle miteinander verträglich find, ja fich mehrfach geradezu widerfprechen. Und intereffant ift es dann auch, das praktifche Verfahren des Arifloteles, wenn er irgendwo eine wichtige Definition zu geben hat, zu vergleichen und zu fehen, welche von den in verfchiedenen Schriften ausgesprochenen Anflehten ihm dabei maßgebend ift- Daß die Topik unter den uns erhaltenen logifefaen Schriften die frühefle fei, wird allgemein anerkannt. Die Lehre von der Definition in den zweiten Analytiken enthält denn auch ganz neue Momente. Hier wird ;die Definition mit der Er- kenntnis aus dem Grunde, wie fie der wiffenfcfaaftliche Beweis geben (oll, in engfle Beziehung gebracht und eine Rückfiditnahme auf die Urfache in ihrem vierfachen Sinn, als Materie, Form, wirkende und Endurfache gefordert. Davon, daß es eigentlich nur von Subflanzen eine Definition geben könne, wird aber hier fo wenig als in der

2 Brentano, Arifloteles. 17

Topik nur mit einem Worte etwas angedeutet; im Gegenteil werden die Beifpiele durchweg aus dem Gebiete der Akzidenzien genommen. So geht denn das fiebente Budi der Metaphyfik, indem es die Mög- lichkeit einer Definition im flrengen Sinne auf die Subflanzen be- fchränkt, wefentlich über die Lehre in den Analytiken hinaus. Und deutlich widerfpricht es der Topik , denn hier war gelehrt worden, daß in der Definition die fpezififche Differenz den Begriff der Gattung nicht enthalten dürfe, in dem Buch Met. Z dagegen wird das Gegenteil ausdrücklich gefordert. So foll auch jede folgende Differenz die vorausgehende enthalten und die le^te darum der ganzen Definition inhaltlich gleich fein. Ohne dies, heißt es in der Metaphyfik, würde dem Ganzen die reale Einheit fehlen. Im Zufammenhang damit kommt aber Arifloteles zu einer weiteren merkwürdigen Beftimmung. Es gehe nicht an, meint er, daß man, nachdem man eine Klaffe von Tieren als „Füße habende" unterfdiieden hat, dann etwa „geflügelte, Füße habende Tiere" als Unterart unterscheide und fie fo durch die Differenz „geflügelt" als „geflügelte, Füße habende Tiere" fpezißziere. Denn hier würde ja eben die niedere Differenz die höhere nicht enthalten. Richtiger alfo fei es, an diefe anknüpfend „gefpaltenfüßige Füße habende Tiere" als Unterart aufzuhellen ufw., beim Fortfehreiten der Definition immer an denfelben Teil des Tieres fich haltend. Man wird hier etwas an die künflliche Klaffifikationsmethode bei Linn6 erinnert. Aber die Regeln, die Arifloteles in der Schrift De Partibus Animalium für die Klaffißkation uns gibt, verwerfen dies in Met. Z empfohlene Verfahren aufs ausdrücklichste und gelangen vielmehr, indem fie eine gleichmäßige Berückfichtigung aller Teile fordern, zu etwas, was dem natürlichen Klaffifikationsverfahren bei Linne ähnlich ift. Und noch eine andere bedeutfame Differenz fcheint hier die Schrift De Partibus Animalium von Met. Z zu fcheiden, die auch fchon in einer Stelle des Schlußkapitels vom vierten Buche der Meteorologie hervortritt. Met. Z, das die Definitionen im flrengen Sinne des Wortes auf die einzige Kategorie der Subflanz befchränkt, gibt nirgends deutlich der Überzeugung Ausdruck, daß wir tatfächlich nicht im Befi^ von fubflanziellen Differenzbegriffen feien. Vielmehr hat es den Anfcfaein, als meine Arifloteles in den von ihm gewählten Beifpielen uns wirklich folche anzugeben. Dem entgegen lehrt die Meteorologie auf das beflimmtefle, daß die fubftanziellen Differenz- begriffe uns durchwegs fehlten, und daß diefelben durch akzidentelle BefUmmungen, welche fie als Eigentümlichkeiten begleiten, und namentlich durch die Angabe eigentümlicher Tätigkeiten, welche die betreffende Spezies übt, erfe^t werden müßten. Diefe träten bei den lebenden Wefen am markanteren hervor, und darum feien auch die Arten lebender Körper beffer als die Arten leblofer von uns zu definieren. Hier hat fich in den Anflehten des Arifloteles nicht bloß

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ganz fiditlich bezüglich der Weife, wie man zu definieren habe, fondern, wie es fdaeint, auch hin fichtlich der Erkennbarkeit der Sub- flanzen eine Fortbildung vollzogen, und wir fehen ihn nunmehr der Lehre von Locke und Leibniz in ihren Verfuchen über den menfch- lichen Verfland fehr nahe flehen. An den gleichen Überzeugungen hält dann auch die Schrift De Partibus Animalium fefl. Nicht die Differenzen der Subflanzen felbfl, fondern Eigentümlichkeiten, die, an fie geknüpft als für fie cfaarakterifUfch , in ihrer Gefamtheit uns eine Art Erfatj dafür bieten, follen wir bei den Definitionen ver- wenden, und dabei fleht nichts im Wege, daß fogar negative Be- ftimmungen mit zur Charakteriflik herangezogen werden. Wir werden wohl nicht irren, wenn wir annehmen, daß die Studien, aus denen die Hifloria Animalium hervorgegangen, zu diefen mächtigen Fortfehritten gegenüber der Definitionslehre in Met. Z geführt haben.

Als eine Art Vorzeichen der fpäteren Umbildung der Lehre von Met. Z darf aber vielleicht die Stelle 3. p. 1029 a 11, betrachtet werden, wo gefagt wird, wenn die Akzidenzien weggenommen würden, fcheine nichts übrig zu bleiben. Ja fchon gewiffe Stellen der Analytica Pofleriora, wo von dem Auffuchen der Definition als letytem Grunde der Eigentümlichkeiten gefprochen wird, fcheinen fie anzubahnen.

So habe ich denn, glaube ich, den Wahn, als ob in den uns er- haltenen fyftematifchen Schriften des Arifloteles nirgends eine Spur von wesentlicher Fortbildung feiner Lehre zu finden fei, zerflört, und leicht erkennt man auch aus dem Gefagten für einige feiner wichtigflen Schriften die chronologifche Folge. Dabei ergibt (ich im Gegenfatj zu dem, was man gemeiniglich annimmt, daß gewiffe naturwiffenfehaft- liche Werke fpäter als ein Teil der Bücher der Metaphyfik geschrieben find. Und nicht bloß für De Partibus Animalium und das vierte Buch der Meteorologie ifl eine fpätere Zeit der Abfaffung anzufetjen, fondern, indem fie für diefe gefiebert, ifl fie auch für die Schrift De Generatione Animalium gewiß und für die Hifloria Animalium wahr- fcheinlich geworden. Weiter noch können wir, und dies fogar mit Gewißheit, erfchließen, daß auch die zu den naturwiffenfehaftlichen Schriften gehörigen, fo überaus wichtigen drei Bücher von der Seele und dann natürlich auch die an fie fida anfchließenden fogenannten Parva Naturalia fpäter als die erwähnten Teile der Metaphyfik ge- fchrieben fein muffen. Man erkennt dies fofort, wenn man darauf achtet, wie wenig das Verfahren des Arifloteles bei der Definition der Seele den Forderungen des Buches Z der Metaphyfik, wie voll- fländig dagegen es den Lehren im Schlußkapitel des vierten Buches der Meteorologie entfpridit. Auch wäre, wenn Arifloteles, als er die Bücher von der Seele fchrieb, noch auf dem in Metaphyfik Z ein- genommenen Standpunkt beharrt hätte, feine Lehre von den eigen-

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tümlidien und gemeinfamen Sinnesobjekten (atathjtÄ Iota xal xotvöc) un- begreif lieh , denn da, wie wir hören werden, nach feiner Meinung alle unfere Begriffe aus der Wahrnehmung gefchöpft find, fo müßten, wenn wir Begriffe von fubflanziellen Differenzen hätten, unter den eigentümlichen oder gemeinfamen Sinnesobjekten neben den akziden- tellen auch folche fubflanzielle Differenzen (ich aufgezählt finden. Sie fehlen aber vollfländig. Indes bilden die in der Metaphyfik ver- einigten Abhandlungen kein einheitliches Werk, und fo wäre der Gedanke nicht ausgefchloffen, daß, was von anderen Büchern, nicht ebenfo von dem vor allen wichtigen Buch A gelten möge, das allein eingehend bei Unterfuchungen über das erfte Prinzip aller Dinge verweilt. Es ifl fehr fkizzenhaft geschrieben und enthält nichts von den die Erkenntnisprinzipien betreffenden Unterfuchungen, und auch mit der Frage von der Definition finden wir es nirgends befchäftigt, fo daß uns diefer Anhalt zur Zeitbeftimmung fehlt. Dafür fehen wir daraus, daß neben der Aftronomie des Eudoxus auch die des Kallippus berückfichtigt wird, daß es jünger fein muß als die Bücher De Coelo. Und hinfichtlich der Ordnung der in ihm und den voraus- gehenden, ausführlicheren metaphyfifchen Unterfuchungen gemeinfam behandelten Materien fehen wir es diefen überlegen. Und fo möchte ich kaum bezweifeln, daß das Buch A der allerreifflen Zeit des ariftotelifchen Philofophierens angehört. Es ifl aber ficher nur als Vorbereitung eines ausführlichen Werkes über denfelben Gegenfland zu betrachten, zu dem es nie gekommen ifl.

Diefem Werk hatte Arifloteles eine entfprechend ausgeführte Behandlung gewiffer Probleme vorbehalten, die er hie und da in den naturwiffenfchafllichen Schriften flreifl, aber auf die er, da fie der erflen Philofophie angehören, betreffenden Orts nicht weiter ein- zugehen für gut findet. Und daraus erklärt fleh aufs einfachfle das, was fo viel Staunen erregt und Ärgernis erweckt hat, daß Arifloteles gerade da, wo er auf die allerwichtigflen und fchwierigflen Fragen zu fprechen kommt, durch Wortkargheit ganz befonders dunkel wird. Selbfl in den drei Büchern von der Seele verweilt er bei ihrem vor- nehmflen, intellektiven Teile im Vergleich zum vegetativen und fenfi- tiven ganz unverhältnismäßig kurz. Und über manche der ein- fchlägigen Fragen, die wir in den Büchern von der Seele gar nicht berührt finden, gewinnen wir nur aus gelegentlichen Bemerkungen der Ethik einigen Auffchluß ; und dies kommt daher, weil nach Ariflo- teles die drei Bücher von der Seele zu den naturwiffenfehaftlichen Schriften gehören follen, der intellektive Seelenteil aber nach ihm nicht dem phyfifchen, fondern metaphyßfchen Gebiete angehört. So findet fich denn auch unter den intereffanten kleinen Abhandlungen, wozu die über Sinn und Sinnesobjekte, Gedächtnis und Erinnerung u. dgl. gehören, die wie ein Anhang zu den Büdiern von der Seele

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zu betrachten find, nicht eine einzige, welche den intellektiven Seelen- teil anginge, fo fehr man doch gerade hier wegen der Spärlichkeit des in den Büchern von der Seele Gefagten dafür dankbar wäre. Einmal lehnt er in den Büchern von der Seele (III, 7. Ende) es ge- radezu ab, in eine nahegelegte Frage einzugehen, indem er fie einer fpäter zu führenden Unterfuchung zuweift. Er dachte dabei fichtlich an die Metaphyfik, und niemals ift er dazu gekommen, fein hier ge- gebenes Wort einzulöfen. Auch dies alfo muß man zur gerechten Würdigung der Eigentümlichkeiten, die wir bei Ariftoteles als Schrift- fteller beobachten, nicht überfehen.

Einige andere, denen wir insbefondere in feinen praktifcfaen Schriften wie Ethik, Politik und Rhetorik begegnen, find leichter verftändlich. Das Ziel, das er hier im Auge hat, liegt ausgefprochener- maßen nicht eigentlich in der Erkenntnis felbft, die er mitteilt, fondern in der Frucht, die fie durch Anwendung auf das Leben des Einzelnen und der Gefellfchaft tragen foll. So möchte er fie auch den weniger für Theorie Intereffierten in möglichft weitem Umfang zugänglich machen. Und darum nimmt er fich ausgefprochenermaßen vor, von allen tieferliegenden metaphyfifch-pfychologifchen Problemen Umgang zu nehmen. Man hat fie wegen diefer Berechnung auf einen weiteren Kreis als exoterifche bezeichnet, während diejenigen, welche eine ähnliche Popularität nicht anflreben, efoterifche genannt werden. Freilich fehen wir Ariftoteles feinem Vorhaben im Verlaufe der Dar- legung gar oft untreu werden, fei es, daß er fidi von feinem eigenen Intereffe und der Gewohnheit, bei den höchflen Fragen zu verweilen, unvermerkt fortreißen läßt, fei es (was fich namentlich im Verlauf der Ethik zu zeigen fcheint), daß es ihm nicht wohl möglich ift, in jenen Schranken fich zu halten, ohne auf eine volle Befriedigung auch des praktifchen Bedürfniffes zu verzichten. Das Schaufpiel, das Ariftoteles in diefer feiner Inkonfequenz gibt, ift fehr intereffant und gibt einen tiefen Einblick in fein innerftes Leben; auch wenn er die Probleme nicht feflhalten will, fo laffen fie ihn nicht los. Vielleicht dürfen wir neben vielem anderen aber auch hierin ein Zeichen fehen, daß diefe praktifchen Schriften, ähnlich den metaphyfifchen, wenn auch nicht in gleichem Maße, nicht zu ihrer definitiven Geflalt gelangt find. Sie gehören unzweifelhaft den reifften Jahren des Philofophen an; aber dies heißt eben, daß fie kurz vor feinem Lebensende ihn beschäftigt haben, und wenn ihnen als Erzeugniffen der reifften Zeit ein befonderer Vorzug zukommt, fo verbindet fich damit der Nachteil "eines fichtlichen Mangels an Vollendung. Schon in der Ethik läßt die Anordnung gar viel zu wünfchen übrig, und in der Politik ift fie fo unvollkommen, daß Barthelemy St. Hilaire und andere die Bücher umftellen wollten. Auch ift es unverkennbar zu gewiffen beabfichtigten Ausführungen gar nicht gekommen.

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Weisheit.

Die Erkenntnis, die wir von einem Dinge haben, ift oft eine bloß tatfächlidie, wie wenn ich es wahrnehmend erfaffe. In anderen Fällen erkenne ich aber nicht bloß, daß es befteht, fondern kann auch einen Grund, warum es befteht, angeben. Vielleicht ift diefer Grund felbfl für mich etwas bloß Tatfächliches, was in einem anderen feinen Grund hat, und wofür, folange diefer nicht er- kannt ift, die Erklärung fehlt. Und fo wird es fein, fo lange man nicht auf etwas gekommen, was, als unmittel- bar notwendig, felbfl einer weiteren Erklärung weder fähig noch bedürftig ifl. Erft wer eine Tatfache auf diefen ihren erflen Grund zurückgeführt, hat eine ab- fchließende Erklärung von ihr gegeben.

Mag man nun auch den, der zu einer der Zwifchen- flufen gelangt ift, bereits als einen einigermaßen Wiffen- den und dem, der bloß wahrnimmt, der Erkenntnis nach Überlegenen bezeichnen, fo kommt ihm doch der Name des Weifen noch nicht zu. Die Weisheit befleht in der Erkenntnis des unmittelbar Notwendigen und der Er- klärung des mittelbar Notwendigen aus ihm, was Äriflo- teles in der Nikomachifchen Ethik mit den Worten aus- drückt, die aocpi'a fei voD? xal iiciernjpi}.

Wir machen viele Wahrnehmungen und auch eine Vielheit von Wiffenfchaften läßt fleh unterfcheiden. Sollen wir fagen, daß es ebenfo auch mehr als eine Weisheit gäbe? Die Beantwortung der Frage wird davon ab- hängen, ob das, worin fein erfler Grund zu erblicken ifl, für alles durch etwas anderes bedingte Sein dasfelbe ifl. Und dies ifl nach Arifloteles der Fall, denn, wie wir fehen werden, gibt es nach ihm ein einziges unmittelbar not- wendiges Wefen, durch welches im letjten Grunde alles übrige Sein beflimmt ifl, nämlich den göttlichen Verfland. Wer diefes Prinzip vollkommen erfaßte, der hätte darum den Schlüffel zur apriorifchen Erkenntnis aller Dinge.

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Und fo find denn auch diefem göttlichen Prinzip, welches ein Erkennen ifl, das (ich felbfl zum Gegenflande hat, in diefer einen Erkenntnis zugleich alle anderen Dinge offenbar. Er befitjt eine rein apriorifche All- wiffenheit.

Darin, daß diefes unendlich vollkommene Wefen es ifl, auf welches wir bei der Frage nach dem erflen Grunde überall geführt werden, liegt ganz befonders der überragende Wert der Weisheit. Arifloteles erhebt ihn über alle anderen Werte. Die höchfle Seligkeit foll in ihren Betrachtungen gefunden werden und das ganze praktifche Leben des einzelnen und die ganze Ordnung des Staates in letzter Hinfidit nur ihren Intereffen dienen. Dennoch verkennt er nicht, daß zwifchen der Art, wie fie dem Menfchen, und der, wie fie der Gottheit eigen ifl» ein mächtiger Unterfchied befleht. Ifl für fie das un- mittelbar Notwendige auch unmittelbar als Gegenfland gegeben, fo ifl für uns vielmehr jene Erkenntnis der Ordnung nach die frühere, die ihrer Natur nach die fpätere ifl. Und für die mangelnde Änfchauung eines unvergleichlich erhabeneren Wefens bildet alles, was wir aus den Elementen unferer Erfahrung svorflellungen zufammenfe^en mögen, einen gar unvollkommenen Erfat}. Wenn Gott durch die Erkenntnis feiner felbfl allwiffend ifl, fo wird darum uns, wenn wir dazu gelangt find, alles auf ihn als erflen Grund zurückzuführen, nicht ebenfo die Einficht in alle Wahrheit erfdiloffen, aber das bleibt richtig , daß dadurch ein gewiffes Licht auf alles und jedes geworfen wird. Und fo trifft denn das, was man auch gemeiniglich unter einem Weifen fich vorflellt, mit dem, was wir über die Erkenntnis aus dem erflen Grunde gefagt haben, zufammen. Denn man denkt fich unter einem Weifen einen, der erkennt, was zu erkennen befonders fchwierig ifl, das aber ifl das, was am meiflen von den Sinnen abliegt; ferner einen, deffen Erkenntnis auf dem ficherflen Grunde fich auf- baut; das aber ifl das unmittelbar Notwendige, das

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alles andere bedingt; und wieder einen, deffen Er- kenntnis irgendwie auf alles fleh er flr eckt; und einen, deffen Wiffen gewiff ermaßen göttlich ifl, fowohl weil es auf das Erhabenfle und Göttlichfle fich bezieht, als auch weil es ein Wiffen von folchem ifl, wovon in vollkommener Weife nur Gott ein Wiffen zukommt.

So ifl denn die Weisheit eine. Nicht bloß im zweiten Kapitel des erflen Buches der Metaphyflk , welches ich hier befonders berückfichtigt habe, auch im zehnten Kapitel des zwölften Buches erfcheint fie als eine einzige, und auch die Nikomachifche Ethik (teilt fie als einheitliche der ebenfo einheitlichen praktifchen Klugheit (cpp6v7)ai<?) gegenüber, um fie als die im Vergleich mit diefer vornehmere dianoetifche Tugend darzutun. Aller- dings hören wir Ärifloteles an manchen Orten auch von einer erflen und zweiten Philofophie, von denen die eine auf die geifligen, die andere auf die körperlichen Wefen gehe, fprechen. Doch hier handelt es fich, flreng genommen, nur um Teile, wie er denn gelegentlich auch noch engere Abgrenzungen macht, indem er z. B. die Aflronomie als eine Philofophie, welche den mathematifchen Wiffen- fchaften vorzüglich nahe flehe, unterfcheidet. Daß ein Wiffen von der Natur, losgetrennt von dem Wiffen, das fich auf die geifligen Wefen bezieht, noch den Charakter der Weisheit haben könne, ifl dadurch aufs deutlichfle ausgefchloffen, daß Ärifloteles ausdrücklich lehrt, daß die geifligen Subflanzen die Vorbedingungen aller, auch der ewigen körperlichen Subflanzen feien, fo zwar, daß, wenn jene nicht wären, gar nichts wäre *).

Das Objekt der menfdilidien Weisheit.

Es fragt fich nun vor allem, welches für uns das Objekt der Weisheit fei. Würden wir fo wie Gott alle Wahrheit von vornherein erkennen, fo ifl es klar,

') Met. E, 1. und Met. A, 6.

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daß das erfle Prinzip aller Dinge felbffc das Objekt auch der menf etlichen Weisheit fein würde. Nun aber ifl das nicht der Fall. Und fo werden wir denn etwas anderes als Objekt der Weisheit zu bezeichnen haben, und, da der Umkreis deffen, was von dem erflen Prinzip ab- hängt, allumfaffend ifl, fo werden wir keinen anderen Begriff als den des Seienden im allgemeinen als den Begriff des Objektes der menfehlichen Weisheit anzu- fehen haben.

Doch hier ergibt fich eine Schwierigkeit, denn der Name des Seienden fcheint nicht in einheitlichem Sinne gebraucht. Seiend nennt man alles, was ifl, aber gerade dies bedeutet nicht in jedem Fall dasfelbe. Wenn wir fagen, ein Menfch ifl, eine Pflanze ifl, fo wird nach Arifloteles das Wörtchen „ifl" im eigentlichen Sinn ge- braucht. Aber fchon wenn wir fagen, ein Zweifchuhiges ifl, ein Tugendhaftes ifl, würden wir uns nach ihm ent- fprechender ausdrücken, wenn wir fagten, ein Ding ifl zweifchuhig, ein Ding ifl tugendhaft. Und dasfelbe wird fichtlich, wenn wir fagen, ein Nichtmenfch ifl, wo wir nichts anderes fagen wollen, als irgendein Ding fei nicht Menfch. Wieder kommt es vor, daß wir, wenn einer fragt, ob ein rundes Viereck unmöglich fei, antworten: „So ifl es". Nichts offenbarer, als daß hier kein Ding anerkannt wird. Die Unmöglichkeit eines runden Vierecks ifl nicht ein Ding, das außerhalb unferes Geifles beflände, aber wer ein rundes Viereck als unmöglich in Abrede flellt , urteilt richtig , und das ifl , was ich mit meinem „fo ifl es" ausdrücken wollte. Wenn wir von einem Körper, der die Kubusgeflalt hat, fagen, er fei ein in Möglichkeit Rundes, weil es nicht unmöglich ifl, ihn zur Kugel umzubilden, fo weift auch hier Arifloteles darauf hin, daß man es mit einem fehr uneigentlichen Gebrauch des Wortes „Seiendes" zu tun hat. Und auch wenn wir in abftrakten Ausdrücken von Würfelgeflalt, Zweifchuhig- keit u. dgl. fprechen, fo bezeichnen wir nicht etwas, was in Wirklichkeit ifl, und wir würden eigentlicher fprechen,

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wenn wir fagten, es fei etwas würfelförmig durch die Würfelgeflalt und zweifchuhig durch die Größe von zwei Schuh. So ift denn auch, wenn ich etwas Kaltes erwärme, nicht eine Wärme das, was entfleht, und eine Kälte das, was vergeht, fondern ein Warmes entfleht aus einem Kalten. Wenn zwei Menfchen beflehen, fo fagen wir vielleicht auch von beiden zufammen, es fei ein Paar Menfchen, aber was ifl diefes Paar? Gewiß doch nicht ein Seiendes im felben Sinn wie jeder einzelne diefer Menfchen, fo daß nun nicht zwei Dinge, fondern drei Dinge in gleich eigentlichem Sinn vorhanden wären. Zwei Dinge find nie ein Ding, und umgekehrt ifl darum auch ein einheitliches Ding nicht mehrere Dinge1). Und wenn z. B. ein Körper ein wahrhaft einheitlicher Körper ift, fo find darum die beiden Hälften zunächfl nicht ebenfo wirkliche Dinge wie der Körper, fondern fie können nur vielleicht zu wirklichen Dingen werden, wenn man den einheitlichen Körper in zwei zerteilt. Bis dahin find fie nur, um einen fchon gebrauchten Ausdruck zu wieder- holen, in Möglichkeit feiend. Gerade dies zeigt dann aber auch recht deutlich, daß ein Ding, das hier ifl, als Hierfeiendes nicht fo eigentlich ein Seiendes ifl wie als Körper, wenn anders derfelbe Körper bald hier, bald dort ifl. Denn der Körper felbfl ifl ja ein Ding, und zwar jenes, das er war, ehe er hier war. Und diefes Ding fleckt als Teil in dem Hierfeienden. Da alfo der Teil ein wirkliches Ding ifl, fo kann das Ganze nicht felbfl als ein einheitliches Ding betrachtet werden. Der Unterfchied diefes Falles von dem früher befprochenen eines Paares von Menfchen ifl nur der, daß von den beiden Menfchen jeder für fich fein konnte, hier aber nur der eine Teil ; denn der Körper bleibt, ob er hier ifl oder nicht hier ifl, derfelbe Körper, während das, was

]) Ein für die ganze ariftotelifche Philofophie hödiffc bedeutungs- voller Ausfpruch. Met. Z, 13. p. 1039 a 3 vgl. auch Phys. VI, 5. p. 250 a 24.

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noch hinzukommt, nicht ein zweites Ding für fich ifl, das auch getrennt von diefem Körper beflehen könnte. Ent- fernt fich der Körper und tritt ein anderer an feine Stelle, fo haben wir nicht individuell dasfelbe Hier- feiende. Man fleht daraus, meint Ariftoteles, recht deut- lich, daß, wenn man von Hierfein redet, man nicht im felben Sinne von einem Sein redet, wie wenn man von einem Körperfein redet. Auch wenn einer ein mufi- kalifcher Grammatiker ifl, kann es fich bei diefem Kom- positum nicht bloß darum nicht um ein Seiendes im eigentlichen Sinne handeln, weil wir es mit Eigenf (haften zu tun haben, die einem Dinge anhaften, einem Menfchen nämlich, der, was er ift, fchon war, ehe er fie erlangte, fondern auch weil ihnen die Einheit fehlt, indem fie nichts anderes als das zufällige Zufammentreffen in demfelben Subjekt miteinander gemein haben. Diefer Mufikalifche ifl, wie Ariftoteles fich ausdrückt, xatä oujißs- ßr,xo? (vermöge eines Mitzukommenden) ein Grammatiker und umgekehrt. Und auch das Ganze ifl ein Sv xa-a ao(ißeßTjxo€, nicht ein an fich, nicht ein als folches Seiendes (ov xaO' auto).

So ifl denn das „Seiende" vieldeutig. Im eigentlichen Sinn ifl es ein wirkliches Wefen wie Menfch, Pflanze, eine wirkliche Subflanz. Dagegen zeigen die anderen für die Anwendung des Namens „Seiendes" angeführten Beifpiele einen Gebrauch im uneigentlichen Sinn. Wenn wir nun fagen, das Objekt der Weisheit fei das Seiende als Seiendes, fo ifl felbflverfländlich der Ausdruck in einer feiner vielen Bedeutungen zu nehmen. Wenn aber dies, fo fcheint vieles zu bleiben, was außerhalb ihres Bereiches fällt, und da auch diefes eine Rück- führung auf feinen erflen Grund verlangt, fo fcheint der Umfland, daß diefer hier und dort dasfelbe unmittelbar notwendige Wefen ifl, nicht zu verhindern, daß die Auf- gabe der Rückführung einer anderen Wiffenfchafl zu- fällt. Denn zur Einheit der Wiffenfchaft gehört nicht bloß eine Gemeinfamkeit der Prinzipien, fondern auch

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eine begriffliche Einheit des Objektes. Im Gegenfotj zu der Einheit der göttlichen Weisheit hätten wir darum, wo es fleh um menfchliche Weisheit handelt, eine Vielheit zu unterfcheiden.

Doch wenn der Name des Seienden nicht eindeutig ift, fo gleicht feine Vieldeutigkeit nicht der von Worten, mit welchen fleh ganz zufällig mehrere Bedeutungen ver- bunden finden. Es gibt andere Fälle, von metaphorifchem Gebrauch, für welchen teils die Analogie, teils eine enge Verbindung mit dem, was im eigentlichen Sinne den Namen trägt, maßgebend ift. So nennen wir gefund nicht bloß einen Menfchen, der die Gefundheit hat, fondern auch eine Speife, eine Arznei, eine Gefichtsfarbe ; die eine, weil fie zur Erhaltung oder Herftellung der Ge- fundheit dient, die andere, weil fie davon ein Zeichen ift. Zu diefen Fällen gehört nun auch der Fall der Viel- deutigkeit des Seienden; fo vielfach die Bedeutungen find, fo flehen fie doch alle zu einer in Beziehung, und entfiele das, dem der Name in diefem Sinne zukommt, fo würde auch alles, dem er in anderem Sinne zu- kommt, entfallen. Jede Wiffenfchaft geht zwar nur auf eine Gattung von Objekten, ftellt aber für diefe alles das, was ihr als folcher zukommt, feft. Und fo wird denn auch die Weisheit, wenn fie das Seiende im eigentlichen Sinne zum Objekt hat, alles im un- eigentlichen Sinne feiend Genannte einheitlich mit um- faffen.

Verdeutlichung der Termini.

Der Geometer beginnt feine wiffenfehaftliche Dar- legung mit der Erklärung gewiffer Termini und der Auf- flellung gewiffer Sätje, die als fiebere Wahrheiten vor- ausgefetjt werden. Auch für den Philofophen ift das eine wie andere Bedürfnis, und Arifloteles unterläßt nicht, dem Rechnung zu tragen.

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Der Erklärung von Terminis ift das ganze fünfte Buch der Metaphyfik gewidmet, ob es auch in der Unvollfländigkeit , mit welcher es die Aufgabe löfl, ein recht fichtlicher Beleg dafür ift, wie wenig Arifloteles jemals zu einer vollendeten Ausarbeitung des beab- fichtigten metaphyfifchen Werkes gelangt ift. Dabei zeigt fich zwifchen der Weife, wie die Geometer, und der, wie Arifloteles verfährt, ein auffallender Unter- fchied. Während nämlich die Geometer der Deut- lichkeit wegen es vermeiden, einen Ausdruck in mehr- fachem Sinne zu gebrauchen, findet fleh Arifloteles, wie er meint, außerflande, dies zu tun. Er hätte zu fehr von der gemeinüblichen Sprache fleh entfernen, zu viele Termini neu prägen und damit das Ge- dächtnis belaflen muffen. Und fo fucht er den Nach- teil dadurch nach Möglichkeit auszugleichen, daß er von den mit einem Wort verbundenen vielfachen Be- deutungen eine Zufammenflellung macht und jede gegen- über der anderen genau präzifiert. Wir verfagen es uns auf die betreffenden Erörterungen näher einzu- gehen, um unfere Aufmerkfamkeit fogleich dem, was er von den grundlegenden Wahrheiten fagt, zuzu- wenden.

Unmittelbare Erkenntnifle.

Wenn wir die der Natur nach erfle Wahrheit nicht unmittelbar erkennen, find wir dann wenigflens in un- mittelbarem Beflt$e irgendwelcher anderer Wahrheiten? und welcher Art find diefe ? Jede Wiffenfchafl fe^t folche voraus ; keine andere aber als die erfle be- schäftigt fleh damit, ihren allgemeinen Charakter feflzu- flellen und ihre Sicherheit gegen fkeptifche Angriffe zu verteidigen.

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Zwei Klaffen unmittelbar evidenter

Wahrheiten, von denen die erfte die der

unmittelbar evidenten Tatfachen ift

Wir befitjen nun wirklich unmittelbar fichere Erkennt- niffe, und fie find von doppelter Art : erflens unmittelbar evidente Tatfachen (Wahrnehmungen), zweitens allge- meine Urteile, die etwas von vornherein als unmöglich verwerfen.

Die erfteren find uns gegeben, fo oft wir empfindend oder denkend tätig find, indem wir in der pfychifchen Tätigkeit, worauf auch immer in erfler Linie fie fleh richte, flets nebenher eine untrügliche Wahrnehmung unferer felbfl als pfychifch Tätiger haben. Indem wir z. B. etwas Farbiges fehen, nehmen wir in dem Akte des Sehens felbfl zugleich wahr, daß wir es fehen. Und nicht bloß dies gefchieht, fondern wir unterfcheiden auch, indem wir eine mehrfache pfychifche Tätigkeit üben, mit Evidenz die eine von der anderen, fowohl in anderen Beziehungen, als ihrem Objekte nach. So z. B. bemerken wir, wenn wir zugleich fehen und hören, daß das Sehen, indem es auf eine Farbe, nicht auf einen Ton, das Hören, indem es auf einen Ton, nicht auf eine Farbe gerichtet ift; und, wenn wir urteilend etwas anerkennen und etwas verwerfen, daß wir uns zu dem einen und anderen in entgegengefet^ter Weife verhalten. Hinfichtlich der primären Objekte dagegen haben wir, was ihren wirk- lichen Beftand angeht, keine unmittelbare Evidenz. Wir mögen eine noch fb flarke Gefichtsempfmdung haben, wir können darum nicht unmittelbar ficher fein, daß das Farbige, wie es uns erfcheint, in Wirklichkeit beflehe. Und ebenfo bürgt keine auch noch fo lebhafte Erinnerung mit unmittelbarer Evidenz für die Wahrheit deffen, woran wir uns erinnern; nur die jetjt gegebene Tätigkeit des Erinnerns ift Gegenfland jener fekundären Wahrnehmung,

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von der wir fagten, daß ihr eine untrügliche Evidenz zu- komme.

Was die Verläffigkeit anlangt, welche Arifloteles auch in bezug auf die Außenwelt unferen Wahrnehmungen zuzufchreiben pflegt, fo muß man fleh wohl hüten, feine Worte zu mißdeuten. Wir hören ihn von einem Drei- fachen, was wahrgenommen werde, fprechen. Das eine nennt er das „eigentümliche Wahrnehmbare" (töiov aia$rr

tov), weil feine Wahrnehmung auf einen Sinn befchränkt ift, wie z. B. Farbe oder Ton; das andere das „gemein- fame Wahrnehmbare" (xoiv&v ateBijtdv), weil wir es durch mehrere Sinne, ja durch alle wahrnehmen, wie z. B. Be- wegung und Ruhe. Das dritte Wahrnehmbare ifb ein folches, was uns die Wahrnehmung eigentlich nicht felbfl zeigt, was wir aber auf Grund früherer Erfahrungen damit verbunden glauben, wie z. B. wenn ich fage: ich fehe den Sohn des Diares. Arifloteles nennt es „aWbjt&v xa-a 0U(j.ßeffa)x6c". Von den beiden letjteren Arten der Wahrnehmung fagt nun Arifloteles, daß fie fehr häufig täufchten, und namentlich bei der zweiten Klaffe fei dies der Fall. In der Tat fcheint, wenn wir felbfl bewegt find, das Ruhende bewegt und ein Bewegtes vielleicht ruhend, und je nach der Entfernung und Lage zu uns erfcheint etwas in anderer Größe und Geflalt. Dagegen fei die Sinneswahrnehmung in bezug auf das eigen- tümliche Wahrnehmbare immer verläffig. So könnte man denn meinen, Arifloteles habe auch der äußeren Sinnes- wahrnehmung, wenn auch mit gewiffer Reflriktion, eine unmittelbare Evidenz zugefchrieben. Freilich wäre diefe unmittelbare Evidenz etwas fehr Merkwürdiges, denn, da uns in derfelben Empfindung etwas als rotfarbig, irgend- wie ausgedehnt und ruhend oder bewegt erfcheint, fo wären Evidenz und Nichtevidenz in innigfler Weife ver- bunden. Und fo hören wir ihn denn auch anderwärts in bezug auf das eigentümliche Wahrnehmbare nicht von einer allgemeinen, fondern nur der Allgemeinheit fich nähernden Wahrheit des Sinnes eindrucks fprechen. Bei

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gefundem Sinnesorgan und bei einer paffenden Ent- fernung fowie fonfligen normalen Bedingungen foll das eigentümliche Wahrnehmbare richtig wahrgenommen werden. Da alle diefe Bedingungen nun doch nicht felbft- verfländlich erfüllt find, fo zeigt fich deutlich genug, daß er bei der Wahrheit, die er der Wahrnehmung in bezug auf das eigentümliche finnlich Wahrnehmbare zufchreibt, an keine unmittelbare Evidenz gedacht haben kann. Völlig deutlich wird uns aber feine wahre Meinung, wenn wir ihn an verfchiedenen Stellen und namentlich in der Schrift über die Empfindung und das Empfundene er- klären hören, daß, wenn es kein Sehendes gäbe, keine Farbe einem Körper wirklich zukommen würde; beffcehe doch fein Farbig fein in nichts anderem als darin, daß er die Empfindung von etwas Farbigem in uns errege oder fie zu erregen vermöge. Nur wenn er fie errege, fei er in Wirklichkeit, fonft in bloßer Möglichkeit farbig. Und ähnlich fei etwas, was wir als füß oder bitter oder warm empfinden, nur wenn wir es empfinden, wirklich füß und bitter und warm. Die Dinge draußen find alfo unferen primären finnlichen Phänomenen in bezug auf das eigen- tümliche Sinnesobjekt gar nicht ähnlich. Und wenn wir das, was wir fehen, wie es uns erfcheint, als Eigenfchaft einem Äußendinge zufchreiben würden, fo würden wir gerade in bezug auf das eigentümliche Wahrnehmbare am vollfländigften im Irrtum fein. Denn daß es in Wirklichkeit ausgedehnte, irgendwie geflaltlich begrenzte, ruhende und bewegte Körper gebe, wenn auch nicht ge- rade einen, der meiner Sinneswahrnehmung in allen Stücken genau entfpricht, hat, wie wir fehen werden, Arifloteles nicht geleugnet. Und wir finden darum, wenn wir das, was er über den Unterfchied des eigentümlichen und gemeinfamen Wahrnehmbaren lehrt, mit der Lehre von Descartes und Locke in bezug auf die fekundären und primären Qualitäten vergleichen, eine volle Über- einflimmung. Die von ihm behauptete Wahrheit der Sinneswahrnehmung in bezug auf das eigentümliche

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Wahrnehmbare läuft auf nichts anderes hinaus, als daß er in der Sinneserfcheinung hinfichtlich diefes Momentes ein wie auch immer ganz unähnliches, doch unter nor- malen Umfländen konftantes Zeichen für etwas außer uns Beflehendes zu befugen glaubt. Man fieht alfo, daß man Äriftoteles gänzlich mißdeutet, wenn man ihn auch der äußeren Sinneswahrnehmung, wenigftens in bezug auf das eigentümliche Sinnesobjekt, eine unmittelbare Evidenz zufchreiben läßt. Nichts ficherer, als daß er eine folche nur der inneren Wahrnehmung und Unter- fcheidung zuerkennt1).

Axiome.

Zu diefen unmittelbar evidenten Wahrnehmungen kommen nun aber auch, wie gefagt, unmittelbar evidente negative Urteile, die etwas nicht bloß als tatfächlich falfch, fondern als fchlechterdings unmöglich verwerfen. Ein folches ifl der Sat$ des Widerfpruches in feiner allge- meinflen Faffung, in der er alfo lautet: es ifl unmöglich, daß ein und dasfelbe zugleich ein und demfelben, in ein und derfelben Beziehung (und was fonfl noch beizufügen ifl zum Ausfchluß fophiflifcher Nörgeleien, fei auch noch hinzugedacht) zukommt und nicht zukommt. Man hat neuerdings behauptet, Äriftoteles glaube, daß diefer Satj durch Erfahrung und Induktion gewonnen fei. Doch das vierte Buch der Metaphyfik fagt aufs deutlichfte, daß er unmittelbar von jedem eingefehen werde, und die Niko-

*) Außer der Schrift De Sens. et Sensib. ift auch noch zu ver- gleichen Met. T, 5. p. 1010 b 19 u. 30, wo Äriftoteles fleh bei der Ver- teidigung gegen die Skeptiker auf das Gebiet der inneren Wahr- nehmung zurückzieht, und auch De Part. An., wo er das Wärmere im Sinne deffen, was wir als wärmer empfinden, von dem, was wärmer ifl, weil es anderen Körpern mehr Wärme mitteilt, und dem, was eine größere natürliche Wärme hat, unterfcheidet, und De Coelo, wo er von den Geflirnen, welche nach ihm Wärme geben follen, ohne warm zu fein, und von der Beziehung der Wärme zu gewiffen bei der Reibung gegebenen Bewegungen handelt.

3 Brentano, Arifloteles. 33

machifche Ethik lehrt von den mathematifdien Axiomen, daß fie unabhängig von der Erfahrung feftflehen, und er- klärt daraus, warum junge Leute, die infolge mangelnder Erfahrung zu phyfikalifchen Erkennungen , nicht ebenfo zu mathematifdien unvermögend find. Sie alle follen an dem Charakter des Sa^es des Widerfpruches parti- zipieren, indem fie nur in einem fpeziellen Fall etwas als fich felbffc wider fprechend verwerfen. Dies gilt auf arithmetifchem und geometrifchem Gebiet gleichmäßig. Wir fehen, Ari|loteles teilt nicht das Bedenken von Kant, daß der Sa^: keine Linie kann kürzer fein als die gerade, nicht ein Fall des Sa^es des Widerfpruches fein könne, weil das Merkmal „gerade" nicht ebenfo wie das Merkmal „kurz" die Größe der Linie betreffe. Wenn die Größe nicht eine Geftalt, und die Geflalt nicht eine Größe ifl, fo find die beiden Begriffe doch innigfl mit- einander verbunden; fonft könnte ja nicht einmal der Sa^: es gibt unmöglich einen Kreis, der keine Größe hat, als Fall des Sa^es des Widerfpruchs einleuchten. Es ifl intereffant, daß Arifloteles einmal im befonderen auch auf die in neuerer Zeit viel erörterte Frage von den Parallellinien zu fprechen kommt, die fichtlich auch zu feiner Zeit fchon Anlaß zu Meinungsverfchiedenheiten gegeben hatte. Und auch hier fleht es ihm fefl, daß derjenige dem Widerfpruch verfällt, welcher die Möglich- keit von geraden Linien, die in gleicher Entfernung neben- einander fortlaufen, beflreitet.

Es handelt fich alfo hier nicht um einen einzigen uns von vornherein einleuchtenden, angeborenen Sa^, fondern um eine ins Unendliche gehende Menge von Sä^en, die, fobald ein Widerfpruch zwifchen Terminis bemerkt wird, mit derfelben Evidenz wie der allgemein gefaßte Sa^ des Widerfpruchs als wahr erkannt werden.

Daß der Sa^ des ausgefchloffenen Dritten dazu ge- hört, hebt Ärijloteles felbfl hervor. Und in der Tat, wenn etwas zugleich weder A wäre, noch nicht A wäre, fo wäre es Nicht und nicht Nicht -A zugleich. Auch

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der Sa^, daß ein Korrelativ nidit ohne das andere fein kann, alfo z. B. ein Größeres nidit ohne Kleineres und eine Wirkung nidit ohne Urfadie, ifl ebenfalls nach ihm ein Sa^, der den Charakter des Kontradiktionsgefe^es trägt. Freilich ifl das eine Korrelativ nicht das andere, aber wie Figur und Größe, ohne dasfelbe zu fein, doch im Denken zufammengehören, fo ifl es fichtlich, daß Kor- relativ mit Korrelativ im Denken und, wie im Denken, auch in der Wirklichkeit unlöslich verbunden ifl.

Auch den Sa^ , den Leibniz als principium indiscer- nibilium aufgeteilt hat, kennt Ärifloteles und flimmt auch darin mit Leibniz überein, daß er ihn als einen Fall des Sa^es des Widerfpruches betrachtet. Gänzlich unter- fchiedslos und doch auch nicht dasfelbe fein, widerfpricht. Auch der Subjektivismus, welcher lehrt, es könne, was für den einen wahr, zugleich für einen anderen falfdi fein, erfcheint mit der Evidenz des Kontradiktions- gefe^es als von vornherein verwerflich. Die Wahrheit befleht ja in der Übereinflimmung mit dem, was ifl, und fo müßte dasfelbe fein und nicht fein, wenn entgegen- gefe^t Urteilende beide im Recht wären.

Bei einer fo reichen Fülle von a priori einleuchtenden Sä^en, die Ärifloteles mit dem Sa$ des Widerfpruchs in Verbindung bringt, haben manche fich gewundert, nicht auch dem fogenannten Sa^e der Identität zu begegnen, welchen man je^t in der Formel „A ifl A" auszudrücken hebt. Allein diefe Formel ifl zweideutig. Entweder fagt fie fo viel wie „es gibt kein Ä, welches nicht Ä ifl" ; dann haben wir einen negativen Sa$, der wahrhaft ein- leuchtend ifl, aber mit dem Sa^ des Widerfpruchs felbfl zufammenfällt. Oder fie wird in pofitivem Sinne ge- nommen; dann aber ifl der Sa^ in feiner Allgemeinheit kemeswegs von vornherein einleuchtend, da z. B. ein Pferd nur fo lange Pferd ifl, als es ifl. Es müßte alfo von vornherein einleuchten, daß irgendein Pferd ifl, da- mit es von vornherein einleuchten könnte, daß irgend- ein Pferd Pferd ifl.

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Ein wichtiger Satj, den Ariftoteles als einen Fall des Kontradiktionsgefetjes begreift, ifl der, daß es in Wirk- lichkeit kein Allgemeines außer den ihm entfprechenden Einzeldingen geben könne, alfo z. B. nicht außer den einzelnen Löwen einen Löwen an fich, wie ihn Piaton gelehrt hatte. In der Tat, was wäre unter einem fbichen Löwen im allgemeinen zu verftehen, wenn nicht etwas, dem alles das zukäme, was von allen Löwen gilt, nichts aber von dem, was dem einen im Unterfchied vom anderen zukommt? Aber gerade das ifl allen einzelnen Löwen gemeinfam, daß fie einzelne Löwen find. Und fomit wäre der allgemeine Löwe vielmehr felbfl zu- gleich nur ein einzelner Löwe. Und fo müßte er auch an irgendeinem Ort fein, freffen und trinken und einem Stoffwechfel unterliegen, weil dies ja allen gemeinfam eigen ift.

Wieder ein wichtiger Sa^, dem wir fchon früher ein- mal begegnet find, ifl der, daß ein wirkliches Ding nicht zugleich viele wirkliche Dinge fein könne. Auch diefen Satj hat Ariftoteles mit Leibniz gemein; während er aber diefen zu feiner Monadologie führt, will Ariftoteles wohl eine einheitliche, ausgedehnte Subftanz, die teilbar ifl, gelten laffen, aber von den Hälften, in die fie zer- fällt, foll keine vorher ein Ding in Wirklichkeit, fondern nur in Möglichkeit gewefen fein, wie umgekehrt die Mehrheit von ausgedehnten Subflanzen, in welche die eine, einheitliche zerfallen ifl, nicht anders als der bloßen Möglichkeit nach ein Ding zu nennen wäre1).

*) Wenn es abfurd ifl, mit Leibniz das Kontinuum als eine un- endliche Vielheit wirklicher Punkte zu faffen, fo geht es doch auch nicht an, mit Ariftoteles bei einem wirklich einheitlichen Kontinuum einen Teil feiner Wirklichkeit nach einfach dadurch wechfeln zu laffen, daß der andere entfällt. Recht deutlich fleht man dies an den Kon- fequenzen, die fich für ein einheitliches Zeitkontinuum ergeben würden. Auf die erfle Hälfte eines Verlaufes kann der Unterfchied von Fort- fetjung oder verfrühtem Ende durch Entfall der zweiten Hälfte un- möglich einen Einfluß üben. Kaum minder befremdlich aber würde

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Audi daß es eine in Wirklichkeit unendliche Zahl von Dingen gebe, hält Ärifloteles als (ich felbfl widerfprechend für ausgefchloffen. Nur eine ins Unendliche wachfende Menge von Dingen ift nach ihm möglich; wie denn auch kein Widerfpruch darin läge, wenn ein Körper endlos in kleinere und kleinere Teile zerteilt würde, während die Annahme einer wirklich vollzogenen unendlichfachen Teilung in unendlich kleine Teile widerfpricht. Wie der Begriff einer unendlichen Zahl von wirklichen Dingen, fo ift auch der eines einheitlichen grenzenlos ausgedehnten, wirklichen Körpers von vorherein als fich felbfl wider- fprechend zu verwerfen.

Dagegen müht er (ich viel, die berühmten Zenonifchen Argumente, welche jeden Gedanken einer Bewegung als widerfprechend dartun wollen, zu entkräften. Wie ver- dienftlich es aber auch war, hierbei an die Unterfchiede der Teleiofe bei ruhigem Verweilen und Durchlaufen eines Ortes und an die Unterfchiede der Plerofe, je nach- dem ein Grenzpunkt nach einer oder mehreren Richtungen Grenze ift, gerührt zu haben, zu einer fehlerfreien, voll befriedigenden Löfung der Schwierigkeiten ift er wohl nicht gekommen.

Auch bei dem Streben, alle von vornherein ein- leuchtenden Sätje als Fälle des Kontradiktionsgefetjes zu begreifen, ift er wohl jicher zu weit gegangen, wenn er die fämtlichen Sätje von pofitiver Oppofition einfach dem Sat$ des Widerfpruchs zu fubfumieren fucht. Er ftütjt fich dabei auf den Gedanken, daß wie bei laut und leife,

es fein, wenn einer bei einem einheitlich en , Millionen von Meilen fich erftreckenden, räumlichen Kontinuum mit dem Entfall eines, eine Kubiklinie großen Teils an der einen Grenze einen folchen Einfluß für die entfernteren Teile an der anderen unmittelbar gegeben glaubte. So find denn hier Ärifloteles und Leibniz gleichmäßig im Irrtum. Doch fei dies hier nur eben erwähnt. Die Darlegung der Weife, wie man über das Kontinuum, wenn man es von jedem Widerfpruche freihalten will, zu denken habe, würde hier viel zu weit führen.

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fo auch bei hell und dunkel und in allen anderen Fällen pofitiver Oppofition das eine weniger pofitiv fei als das andere ; was vielleicht felbffc für fchwarz und weiß und fichtlicher noch für zwei gefättigte Farben, wie z. B. ein gleich helles Violett und Grün, nicht richtig ift. Aber auch hier finden wir fpäter Leibniz demfelben Fehler ver- fallen. Immerhin bleibt Arifloteles das nachzurühmen, daß ihm die unmittelbare Evidenz der Sätje von pofitiver Oppofition fo wenig als die der Sätje von kontradiktori- fcher entgangen ifl. Auch den Satj, daß nicht zwei Dinge zugleich denfelben Raum einnehmen können, hält er für von vornherein ficher und muß ihn darum als einen Fall des Kontradiktionsgefetjes gedacht haben, während es fchwer zu verflehen ifl, wie er von feinem Standpunkte aus auch nur als ein Fall pofitiver Oppofition zu be- greifen fein foll. Hält er doch die Ortsbeftimmtheit für ein Akzidens des betreffenden Körpers, und wie follte ein Akzidens, das in dem einen Körper ifl, ein gleiches Akzidens, das in dem anderen Körper ifl, durch pofitive Oppofition unmöglich machen?

Der Gedanke, das alles, was unmöglich ifl, vermöge einer Kontradiktion unmöglich fei, fleht Arifloteles fo fefl, daß er, wie er die mathematifchen Axiome fämtlidi für Fälle des Kontradiktionsgefetjes hält, nicht bezweifelt, daß auch die Naturgefetje , die wir nur etwa durch In- duktion feftflellen, ficher uns nur darum nicht von vorn- herein auf Grund des Satjes des Widerfpruchs ein- leuchten, weil wir die eigentliche Natur der Dinge nicht anfchaulich zu erf äffen vermögen. Sonft würden uns die induktiv konflatierten Eigentümlichkeiten fo notwendig mit diefer Natur verknüpft erfcheinen wie mit dem Be- griff des Dreiecks die Eigentümlichkeit, daß es zur Winkel- fumme 2 R hat. Auch hier volle Übereinflimmung mit dem, was Leibniz in neuerer Zeit gelehrt hat.

Auch die Gefetje über das, was um feiner felbfl willen als gut und beffer zu betrachten ift, können nach Ariflo- teles nur Fälle des Kontradiktionsgefe^es fein; natürlich

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aber wieder auf Grund von gewiffen Anfcttauungen und Begriffen, zu denen wir durch Wahrnehmung gelangen. Auch auf dem Gebiet des Begehrens gibt es nach Arifto- teles ein Richtig und Unrichtig, und die Richtigkeit eines Begehrens macht fich in gewiffen Fällen als ein ihm eigentümlicher Zug bemerklich. Und wenn ein Begehren von etwas um feiner felbft willen ohne weitere Be- dingung richtig ift, fo kann es nicht anders als allgemein richtig fein. Das betreffende Begehrte ift liebwürdig und gut. Es wäre ein Widerfpruch, wenn es jemals nicht fo wäre. Und ähnlich kommt es zu Erkenntniffen von einem mehr und minder Guten, wofür Ariftoteles in der Topik und Rhetorik mancherlei Gefetje ausgefprochen hat, die er bei feinen erhabenften Unterfuchungen in entfcheidender Weife zur Anwendung bringt.

Arifloteles fpricht aufs klarfle das allgemeine Kaufal- gefetj aus. Wo die fämtlichen Bedingungen, welche ein Ereignis ermöglichen, gegeben find, da tritt diefes Er- eignis ausnahmslos fofort ein l). Ja, er kennt auch den Leibnizfchen Sat> der ratio sufficiens in feinem doppelten Sinne. Auch hier muß die Notwendigkeit im tiefflen Grunde in einem Kontradiktionsgefe^e wurzeln. Eine andere Frage aber ift die, ob er uns als notwendig von vornherein einleuchtet oder ob wir wegen Mangels der dazu erforderlichen Anfchauungen vielmehr auf den Weg der empirifchen Bewährung verwiefen find. Wir werden fpäter darauf zurückkommen, wie wir denn auch Arifto- teles' Begriff der wirkenden Urfache uns noch etwas zu verdeutlichen haben werden.

Noch einige Bemerkungen zu der Lehre des Arifloteles von den unmittelbar als notwendig einleuchtenden Wahr- heiten fcheinen nötig. Da fie alle den Charakter des Kontradiktionsgefetjes tragen follen, fo erfcheinen fie den Sätjen verwandt, welche Kant als analytifche Urteile a priori bezeichnet hat. Doch follte es nach Kant auch

>) Eth. Nie. X, 4.

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affirmative Urteile a priori geben. Ja, diefe vor allem entfprechen feinem Gedanken, daß beim analytifchen Ur- teil das Prädikat im Subjektsbegriff enthalten fei; gerade darin foll nach ihm die Erklärung für die Mög- lichkeit ihrer apriorifchen Evidenz liegen. Da ift es nun intereffant zu fehen, wie wenig diefe Erklärung genügt, indem, wie Ariftoteles mit Recht erkannt hat, der Sat> „Ä ift A", im affirmativen Sinne genommen, gar nicht von vornherein als allgemeine Wahrheit ausgefprochen werden kann.

Aber auch noch etwas anderes ift bei der Lehre, daß nur negative Urteile von vornherein als notwendig wahr einleuchten, nicht mit Stillfchweigen zu übergehen. Es ergibt fich nämlich daraufhin als notwendige Folgerung, daß, wenn uns nur einzelne pofitive Tatfachen gegeben find, um fie neben den allgemeinen negativen Sätjen bei einem Schlußverfahren als Vorausfetjungen zu benähen, wir überhaupt nie allgemein und nie affirmativ fchließen könnten, wenn nicht die Regeln des Sdiluß Verfahrens wefentlich andere wären, als Ariftoteles fie in feiner Syllogiflik dargelegt hat.

Endlich fei auch noch des Tadels gedacht, den Kant über die ariftotelifche Faffung des Kontradiktionsgefetjes ausfpricht, nämlich daß fie durch Aufnahme der Be- flimmung „zugleich" das Gefetj reftringiere, indem fie es nur auf das, was in der Zeit ifl, einfchränke. Gerade für den ariflotelifchen Standpunkt erfcheint diefer Vor- wurf wohl berechtigt; denn nicht alles, was ifl, foll nach Ariftoteles in der Zeit fein. Aber bei einer richtigeren Auffaffung der Zeit, als er fowohl als Kant fie gehabt haben, erweift (ich vielleicht das Gegenteil als wahr, und die Einfügung des „zugleich" erfcheint dann vielmehr als eine Entfdiränkung , indem es andeutet, daß der Satj nicht bloß für das, was ift, und mit dem Temporalmodus der Gegenwart, fondern auch für das, was mit einem beliebigen Temporalmodus der Vergangenheit oder Zu- kunft vor gefl eilt wird, Geltung hat.

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Mittelbare Erkenntniffe.

Wenden wir uns nun zu feiner Lehre von den mittel- baren Erkenntniffen. Wir gewinnen fie teils durch Syllo- gismen, teils durch Induktion und Analogie. Von dem Syllogismus fei hier nur gefagt, daß Ärifloteles darunter ein Verfahren verfleht, durch welches auf Grund zweier ficherer Urteile ein drittes feftgeftellt wird, deffen Leug- nung mit der Annahme der Prämiffen in Widerfpruch flehen würde. Hier zeigt fleh, daß die heute fo ver- breitete Behauptung, ein folches Verfahren könne zu keiner Erweiterung der Erkenntnis führen, fchon im Altertum aufgetreten war. Schon damals hatte man gefagt, die Leugnung des Schlußfatses könne nur dann mit der Annahme der Prämiffen im Widerfpruch flehen, wenn, was jener fage, in diefen ebenfalls enthalten fei. Dann aber erfcheine er nicht als ein wahrer Zuwachs der Erkenntnis. Doch wir fehen auch, wie Ärifloteles, der in der Überzeugung von der Fruchtbarkeit des Syllo- gismus mit Leibniz übereinflimmt , fie treffend mit dem kurzen Wort widerlegt, daß der Widerfpruch zwifchen dem Schlußfat) und den beiden Prämiffen vereinigt, nicht ebenfo zwifchen ihm und je einer der Prämiffen beflehe. So war denn, was der Schlußfatj fagt, weder in dem einen noch anderen Urteil und fomit noch gar nicht ge- urteilt und erkannt worden.

Was die Induktion anlangt, fo erkennt Ärifloteles wohl, daß ihre Beweiskraft geringer ifl als die des Syllo- gismus. Ja, er [teilt das Verfahren der Induktion per enumerationem simplicem als einen allgemeinen Schluß in der dritten Figur dar, in welcher doch nach ihm nur partikulär zu fchließen erlaubt ifl. Hienach müßte man alfo konfequent alle folche Schlüffe als regelwidrig ver- werfen, und es fcheint geradezu befremdend, daß Äriflo- teles es nicht tut. Er fchreibt dem Induktionsfchluß durch enumeratio simplex eine mit der Zahl der Fälle wachfende

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Wahrfcheinlichkeit zu, und es leitet ihn dabei der Ge- danke: „mit der Wahrheit iffc alles im Einklang; dem Falfchen aber widerfpricht alsbald das Wahre." Das „als- bald" ift ein fehr verfchwommener Ausdruck, und Ariflo- teles hat fleh fogar getäufdit, wenn er auf Grund des Zeugniffes, daß feit Menfchengedenken Sonne und Mond und der Fixfternhimmel diefelbe Regelmäßigkeit der Be- wegung gezeigt hätten, auf die Notwendigkeit diefer gleichförmigen Bewegung, mit deren Annahme fo lange wiederholte Beobachtungen nicht im Widerfpruch ftanden, fchloß. So hat ihn das übergroße Vertrauen auf die Induktion durch einfache Aufzählung ausnahmslos gleich- förmiger Vorkommniffe noch gar vielfach getäufcht. In den zweiten Analytiken verweilt er da und dort beifpielsweife bei einem Induktions- oder Analogiefchluß, der berechtigter ift, wie bei dem Schluß von den Phafen des Mondes auf feine Kugelgeflalt; und auch ihm dürfte das, was dem Schluffe hier eine fo außerordentlich hohe Wahrfchein- lichkeit gibt, denfelben eindrucksvoller gemacht haben. Aber zu einer vollen Verdeutlichung durch logifche Ana- lyfe iffc es dabei nicht gekommen. Gewiß war es einer viel fpäteren Zeit vorbehalten, mit der Ausbildung der Wahrfcheinlichkeitsredinung in die Lehre von dem Maß des berechtigten Vertrauens auf Induktion und Analogie das volle Licht zu bringen, wenn dies dann auch das Urteil des fogenannten gefunden Menfchenverftandes, welches der mathematifchen Analyfe vorausgegangen war, vielfach beftätigt hat.

Urfprung der Ideen.

Da nach Ariftoteles alle apriorifdien Prinzipien der Erkenntnis den Charakter des Satzes des Widerfpruchs tragen, fo fällt es ihm natürlich nicht ein, nach Grenzen, innerhalb deren fie Gültigkeit haben, zu fragen. Da- gegen können fie nicht angewandt, ja gar nicht gedacht werden, wenn die betreffenden Begriffe nicht gegeben

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find. Und wir haben Begriffe nur, infoweit wir fie aus den Wahrnehmungen fchöpfen. Denn, daß uns einer an- geboren wäre, wie Piaton geglaubt hat, ift nicht riditig. Und fo entfällt denn für den von Geburt an Blinden auch die Möglichkeit des Begriffs der Farbe und aller Axiome, denen Farbenbegriffe zugrunde liegen. Ähnlich ift überhaupt unfer Wahrnehmungsvermögen für die Grenzen der uns möglichen Erkenntnis von wefentlicher Bedeutung, und es gilt der Sat}, daß nichts im Verflande ift , was nicht irgendwie der Wahrnehmung entflammt. Wollen wir eine Uberficht der elementaren Begriffe ge- winnen, welche uns als Baumaterial bei allen unferen Gedankenkonflruktionen dienen, fo haben wir darum auf ihren Urfprung aus den Wahrnehmungen zu achten. Ariftoteles erkennt dies fehr wohl, und wir finden auch bei ihm die erflen Keime jener Unterfuchungen, mit welchen fich in neuerer Zeit Locke und Leibniz fo ein- gehend befchäftigt haben; doch ift er zu einer ähnlich forgfältigen Behandlung der Frage nicht gekommen. Wohl finden wir ihn in den Büchern von der Seele Ideen unterfcheiden, welche uns durch einen Sinn allein, und andere, welche uns durch alle Sinne gemeinfam ver- mittelt werden, und es ift deutlich, daß er dabei an die primären Objekte der Empfindung denkt, alfo an folches, was nach Locke nicht zu der Reflexion, fondern Senfation gehören würde. Daß er uns aber auch in der inneren Wahrnehmung begriffliche Elemente finden läßt, welche, zu den vorgenannten hinzukommend, das Bereich unferer Begriffselemente wefentlich erweitern, ift außer Zweifel. In den Büchern von der Seele hat er von dem durch die Sinne gemeinfam uns Gegebenen drei Paare von Klaffen unterfchieden , von welchen je eines einer der mathe- matifchen Difziplinen entfpricht: Arithmetrik, Geometrie, welche fich auf das Räumliche befchränkt, und eine dritte Meßkunft, welche mit dem Räumlichen auch noch die zeitliche Kontinuität berückfichtigt; Einheit und Vielheit, Raumgröße und Figur und Ruhe und Bewegung. In der

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Nikomadlifchen Ethik1) bemerkt er aber, daß es noch andere gemeinfame Wahrnehmbare gebe außer jenen mathematifchen Elementen. Und er deutet hier auf folches hin, was dem Gebiet, das Locke fpäter als das Gebiet der Reflexion bezeichnet hat, angehört. So findet fich hier noch manches andere Intereffante und Anregende, worauf wir nur im allgemeinen aufmerkfam machen können.

Nur einige wenige Bemerkungen können wir uns nicht erfparen. So denn vor allem die, daß man irren würde, wenn man glaubte, Ariftoteles habe in feinen Kategorien, /Subflanz, Quantität, Qualität, Relation, Ort, Zeit, Tun, Leiden, Stellung und Bekleidung2), zehn Klaffen von einfachen Ideen aufteilen wollen. Nichts ifl fichtlicher, als daß die „Bekleidung" eine folche nicht fein kann. Und ebenfo erfcheint nicht bloß die „Stellung" (öecic), fondern auch die Orts- und die Zeitbeftimmung, wie fie in der Kategorientafel aufgenommen find, fehr kompliziert. Für den Ort wird das Merkmal „auf dem Markt" als erläuterndes Beifpiel gegeben. Die Zeit- beftimmung foll eine MaßbefKmmung für das Später und Früher fein, die man in Rückficht auf die flets gleich- mäßige Drehung des oberften Himmelsgewölbes gewinnt. Und fo erfcheint auch das, was er „Leiden" nennt, keines- wegs als ein einfaches Begriffselement. Jede Bewegung und auch das Denken werden von ihm als ein „Leiden" betrachtet, weil es zu ihrer Natur gehört, von einem Wirkenden produziert zu werden. Und diefe Beziehung, die in der Anfchauung von Bewegung und Denken fleh

») Eth. Nie. VI, 8 Sdiluß.

-) Arifloteles erklärt diefe Kategorie durch: ifl befchuht, ifl be- waffnet. Man könnte fragen, ob nicht auch ift umrahmt, ijl ver- goldet, ifl bemoofl, ifl bewaldet, ifl beritten, ifl befrachtet, ifl be- mannt, ifl befpannt, ifl gefüllt, ifl bewohnt, ifl bevölkert, ifl begleitet, ja, ifl begütert und ifl beweibt dem „f^eiv" irgendwie fubfummiert werden könnten. Sie find alle, ähnlich dem „ifl befchuht", zu dem zu rechnen, was die Scholafliker als denominatio extrinseca be- zeichneten.

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gar nicht darflellt, erfdieint in dem Prädikat „Leiden" mit aufgenommen. So kommt denn hier zu dem, was die eine Anfchauung zeigt, noch ein anderes Moment hinzu, und man muß diefem Umftand einer Komplikation von abfoluter und relativer Beftimmung Rechnung tragen und auch der Sorgloflgkeit gedenken, mit welcher Ärifto- teles beim Gebrauch eines Namens die Bedeutung variiert, um es zu verftehen, wie er dazu kommen kann, das „Leiden" (und ähnlich dann das „Tun") als eine Kategorie neben der Relation aufzuführen, der (le mancher unter- geordnet erachten möchte , und obwohl er das Denken für ein „Leiden" erklärt, wohl das Denkende als folches, nicht aber das Leidende als folches bewirkt werden läßt.

Bei den Kategorien hat man es mit den höchften Klaffen von pofitiven Prädikaten zu tun, welche (ich fchon in der Frageform in ihrer Verfchiedenheit verraten, und von welchen manche (wie es nach dem, was das Buch der Kategorien über eine vierfache Bedeutung der Qualität lehrt, Ariftoteles wohl bewußt ifl), noch äquivok find, und manche als fehr kompliziert erfcheinen. Sie mögen recht wohl dienen, die Mannigfaltigkeit der Be- deutung des Seienden darzutun. Wie könnte fie mehr in die Augen fpringen, als wenn einer einmal als Menfch, ein anderes .Mal als „auf dem Markt befindlich" als feiend bezeichnet wird? Aber über die legten einfachen Ideen geben fie uns keine Belehrung. So fehen wir ihn denn auch im zweiten Buch von der Seele, wo er von dem eigentümlichen und gemeinfamen Wahrnehmbaren fpricht, gar nicht auf fie Rückficht nehmen.

Nach dem, was wir von dem Mangel einer ausführ- lichen Erörterung des Urfprungs der elementaren Vor- ftellungen aus der Wahrnehmung gefagt haben, fcheint es mißlich, zu fragen, wie Ariftoteles hinfichtlich gewiffer Begriffe gedacht, die in diefer Beziehung in neuerer Zeit ganz befonderes Intereffe erregt haben: über den Begriff „Subflanz" und über den Begriff „Urfache".

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Den Begriff der Subflanz im allgemeinen glaubt er in jeder Anfchauung mitgegeben. Die fogenannten äußeren wie inneren Wahrnehmungen bieten ihn alfo nach ihm gemeinfam, und es iffc eben darum klar, daß es ein Reales im akzidentellen Sinne, losgelöfl von der Subftanz, nicht geben kann.

Der Begriff, den wir mit dem Worte „Urfache" verbinden, ifl aber nach Ariftoteles ein mannigfacher, und wollen wir nach feinem Urfprung forfchen, fo wird die Frage für jede der Bedeutungen aufzuwerfen fein.

Ariftoteles fpricht von einer Urfache, die er „Materie" nennt; über den Urfprung diefes Begriffes gibt er uns genau Auffchluß. Wir gewinnen ihn im Hinblick auf den Wechfel, den wir auf phyfifchem. und pfychifchem Gebiet wahrnehmen, wie wenn ein Körper fich bewegt oder in der Seele Gedanken beginnen und aufhören. Wir er- kennen aus der Tatfache wechfelnder BefKmmungen, daß es nicht unmöglich iffc, daß ebenfowohl die eine als andere Beflimmung dem Körper oder der Seele zukommt. So bekommen wir den Begriff der Fähigkeit zu Entgegen- gefe^tem, und eben das iffc, was Ariftoteles materielle Urfache nennt. Sie findet fich analog in jeder anderen Gattung des Seienden. Durch den Hinweis auf die Er- kenntnis, daß etwas nicht unmöglich ifl, fehen wir uns auf das Gebiet des Urteils, wo die Negation und der modale Charakter der Unmöglichkeit gefunden wird, verwiefen. Es kommt alfo diefer Begriff nicht ohne Be- nütjung von dem, was die innere Wahrnehmung bietet, zuflande.

Gilt dies von dem Begriff der Urfache im Sinne der Materie, fo offenbar auch von dem im Sinne der Form, die zu ihm in nächfler Beziehung fleht. Soll fie doch nichts anderes fein als die Wirklichkeit, wodurch jenes in Möglichkeit Seiende ein Wirkliches ifl, das, was ihm inwohnend, es zum wirklichen Dinge ergänzt.

Nach dem, was wir fchon über die Unmöglichkeit ge- hört haben, daß ein Teil eines wirklichen Dinges felbfl

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ein wirkliches Ding fei, ift die Form fo wenig in Wirk- lichkeit als die Materie. Nur das Kompofitum aus beiden ifl in Wirklichkeit. Und fo könnte man denn recht wohl fagen, daß beide, und darum auch ihre Zufammenfetjung, eigentlich Fiktionen feien, die Arifloteles macht, indem er dem gemeinen Spradigebrauch folgt. Bedienen wir uns doch neben den konkreten auch der abflrakten Namen, wie z. B. neben dem Namen „groß" des Namens „Größe" und fagen, das Große fei durch feine Größe groß, und ebenfo, wenn ein Großes wächft oder abnimmt, es höre auf, die eine, und fange an, die andere Größe zu haben.

Daß der Begriff, den Ariftoteles in einem dritten Sinn mit Urfache verknüpft, nämlich der der Zweckurfache, ebenfalls dem Gebiet der inneren Wahrnehmung ent- nommen ift, bedarf kaum erfl bemerkt zu werden. Wie aber verhält es fleh mit dem Begriff der Urfache im Sinne des wirkenden Prinzips, einer vierten Bedeutung, die Arifloteles mit dem Namen verbindet? Es ifl dies bei ihm ein Begriff, der fleh keineswegs mit der Gefamt- heit der zeitlichen Antezedenzien , auf welche ein zeit- liches Konfequens ausnahmslos folgt, deckt. Dies liegt fchon in dem Vorgefagten; hörten wir doch von einer Fähigkeit fprechen, die, als eines der Antezedenzien vor- handen, doch nicht als Teil der wirkenden Urfache, fondern als materielle Urfache bezeichnet wird. Und wie nach Arifloteles eine Fähigkeit zwar in anderem Sinne Ur- fache werden, aber keineswegs wirken oder mitwirken kann, fo kann es auch nicht ein Negatives oder Privatives als folches, während wir negative Beflimmungen in Menge zu dem rechnen, was wir als regelmäßiges Antezedens bezeichnen. Noch mehr. Nach Arifloteles kann das, was einmal wirkt und als einzige wirkende Urfache wirkt, ein andermal geradefo gegeben fein, ohne zu wirken; darum eben, weil zu feinem Wirken die Erfüllung ge- wiffer Mitbedingungen, welche nicht wirkende Urfachen find, erforderlich fein mag. Und fo kann es allerdings

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gefchehen, daß es fogar beträchtlich in der Zeit der Wirkung vorangeht; allein es ifl dann auch noch nicht wirkende Urfache. Als folche ifl es nach Ariftoteles nie vor der Wirkung. Es wäre darum nach ihm fchlechter- dings falfch, die wirkende Urfache als folche auch nur in einem einzigen Falle als zeitliches Antezedens anzu- fehen, felbft wenn das Ding, das fpäter wirkende Ur- fache wird, vorher beftanden hatte. Und andererfeits ift auch dies gar nicht allgemein der Fall. Sind vielmehr die fämtlichen Mitbedingungen fchon vorhanden, wenn das, was wirkend verurfacht, ins Dafein tritt, fo tritt nach Ariftoteles die Wirkung zugleich mit ihm ein. Und würde die Wirkung felbffc wieder etwas wirkend ver- urfachen können und auch für diefe Wirkung keine der nötigen Mitbedingungen fehlen, fo würde fogar die zweite, mittelbare Wirkung mit der erflen, mittelbaren Urfache in ein und demfelben Zeitpunkte beginnen. Wir fehen alfo, wie wenig die Analyfe von David Hume auf das, was Ariftoteles unter feiner wirkenden Urfache denkt, fich anwenden ließ, und der Aufweis von befonderen Wahrnehmungen, aus denen er den Begriff gefchöpfl glauben kann, ift darum bei ihm, der ja weder Be- griffe für angeboren, noch fonflwie für a priori gegeben hält, unerläßlich, um uns feine Meinung deutlich zu machen.

Glaubte Ariftoteles den Begriff „wirkendes Prinzip" vielleicht einfach dem Gebiet der äußeren Wahrnehmung entnehmen zu können? Da, wo er im zweiten Buche von der Seele das aufzählt, was durch einen Sinn allein und das, was gemeinfam durch alle wahrgenommen wird, finden wir „leiden" und „tun" nicht erwähnt. Und wenn man danach vermuten möchte, er glaube auch diefen Begriff nur unter Zuhilfenahme von folchen, was die innere Wahrnehmung zeigt, gewonnen, fo ftimmt es dazu recht wohl, wenn er uns durch das Denken zum Begehren bewegen läßt. Man ift fich ja dabei des Motives fehr wohl bewußt. Und auch die Art und Weife, wie er von

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der Notwendigkeit fpricht, mit welcher fich der Glaube an das Kontraktionsgefetj jedem, der es denkt, auf- dränge, fcheint zu zeigen, daß er auch hier in dem Denken der Termini, aus welchen der Satj uns ein- leuchtet, das, was jenen Glauben bewirke, als folches wahrzunehmen glaubt. Dann aber dürfte er auch in dem Denken der Prämiffen, wenn aus ihnen der Schluß- fatj einleuchtet, eine wirkende Urfache anfchaulich vor fich zu haben glauben, wie denn einer der berühmteflen Peripatetiker des Mittelalters, Thomas von Aquin, in feinen Kommentaren zu Ariftoteles dies geradezu aus- fpricht. Wenn nun dies, fo fehen wir auch hier Arifto- teles mit Leibnitz in einer Stelle der Nouveaux Essais fich berühren.

Die erwähnten vier Bedeutungen des Namens „Urfache" find die, welche Ariftoteles am häufigften zur Anwendung bringt. Genau befehen freilich ifl bei ihm gar manchmal von einer Weife urfächlicher Beziehung die Rede, die fich mit keiner von ihnen vollkommen deckt. Eine folche ift die der Subftanz als Trägerin der Akzidenzien und zunächfl gerade auch jenes akzidentellen Vermögens, welches beim Wechfel akzidenteller Wirklichkeiten als Materie zugrunde liegen foll. So ift die Seele Subjekt des Verbandes, eines Denkvermögens, dem bald diefes bald jenes Denken als Wirklichkeit innewohnt. Der Be- griff des fubftanziellen Subjekts ifl nicht der der Materie der Akzidenzien, aber auch es ifl Vorbedingung für fie, fo zwar, daß Ariftoteles einmal geradezu fagt, daß die Urfachen der Subflanzen Urfachen von allem, auch der Akzidenzien, feien, weil diefe ohne die Subftanz nicht beflehen könnten.

Ein anderes urfächliches Verhältnis, welches, wenn man es einigermaßen genau befieht, von dem der Materie im eigentlichen Sinn fehr verfchieden ifl, ifl das einer Wirklichkeit, welche, in der Materie vorhanden, fie zum Entftehen eines wirklichen Dinges aus ihr prädisponiert, zu diefem Dinge. Der Hengfl erzeugt ein wefentlich

4 Brentano, Ariftoteles. 49

anderes Tier, je nachdem er mit einer Stute oder einer Efelin fidi paart. Und bei dem Prozeß der Erwärmung oder Abkühlung iffc der vorbeftandene Wärmegrad nicht gleichgültig. Hier handelt es fleh nicht um etwas, was, wie die Materie im flrengen Sinne des Wortes, als bleibend dem Wechfel der Formen unterliegt.

Und wieder haben wir etwas wie eine Urfache, welche aber mit keinem der fchon erwähnten Begriffe jich recht decken will, vor uns, wo es zu einer von den Bewegungen kommt, die Äriftoteles als natürliche Bewegungen der Elemente von dem, was er gewaltfame Bewegungen der- felben nennt, unterfcheidet. So foll z. B. ein gewaltfam in die Luft geworfener Erdklumpen durch eine der Erde natürliche Bewegung nach unten zurückkehren. Fragt man nach dem wirkenden Prinzip diefer Bewegung, fo will Äriftoteles ein folches nur in dem erkennen, was, die Erde erzeugend, ihr mit ihrer Natur auch eine Ten- denz zu dem ihr natürlichen Ort gegeben hat, infolge deren fie, wenn fie dort iffc, ruht, wenn fie aber an einem anderen Ort fleh findet und nicht behindert wird, fich zu ihm hin bewegt. Daß Äriftoteles diefe Bewegung ohne gleichzeitiges wirkendes Prinzip zu denken fcheint, da er doch ein folches für die gewaltfame Bewegung fort und fort verlangt, erinnert etwas an die Weife, in welcher man in der Zeit der Aufteilung des Gefetjes der Träg- heit über den durch fie charakterifierten Fortbeftand der Bewegung dachte1). Von dem wirkenden Prinzip, das

1) Vielleicht wird mancher jeijt geneigt fein, bei dem Fortbeftand einer Bewegung nach dem Gefetj der Trägheit von den zeitlich auf- einanderfolgenden Teilen der Bewegung felbffc den einen den anderen bewirkend zu denken. Nach Äriftoteles wäre dies eine Sache der Unmöglichkeit, da, wie wir eben auseinanderfetjten, Verurfachen und Gewirktwerden gleichzeitig find, und fo die ganze Bewegung vom Anfang bis zum Ende kein zeitliches Nacheinander zeigen würde. Mit unferen Erfahrungen bekannt, würde er den Vorgang fo haben deuten muffen, daß der angefloßene Körper eine gewiffe Qualität (eine 2£tc) bekomme und, wenn nichts alterierend auf ihn einwirke, bewahre, woran eine konflante Tendenz zu geradliniger und gleich-

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den Körper neu in diefe Bewegung verfetjt hatte, nahm man an, daß es eine Tendenz zur Fortfetjung diefer Bewegung, ohne daß noch weiter etwas gewirkt werde, gegeben habe. Auch bei elafKfchen Körpern fprach man manchmal, als kehrten fie, gewaltfam in ihrer Form ver- ändert, vermöge ihrer natürlichen Tendenz von felbffc wieder zur alten Form zurück. Dies hatte noch größere Ähnlichkeit mit der uns jetjt fo befremdlichen Vorftellung der ariflotelifchen Phyfik. Stellen wir uns nun aber auf ihren Standpunkt, fo wird man nicht leugnen können, daß, wenn hier nicht von dem fortdauernden Eingreifen eines gegenwärtig begehenden wirkenden Prinzips, doch von einem fortdauernden Einfluß der Natur des Körpers, an welchen diefe Tendenz fidi knüpft, gefprochen werden muß *). Und auch daß diefe nicht einfach mit dem Ver- hältnis des Subjekts zu den Eigenfchaflen, die es trägt, zufammenfällt, ift nicht zu verkennen.

Vielleicht wird fleh mancher wundern, daß ich mit längeren Worten auch bei diefer veralteten Vorftellung des Äriftoteles verweilt habe; aber wir werden im Ver- laufe der Betrachtungen finden, daß ihre Kenntnis zum Verfländnis fehr wichtiger Momente der ariflotelifchen Lehre unentbehrlich ift. Daß es fleh hier nicht um Be- griffe handelt, die aus äußeren Wahrnehmungen ge- fchöpft werden konnten, daß vielmehr zu ihrer Kon- flruktion auch wieder Elemente verwendet worden find, welche dem pfychifchen Gebiet entflammen, wäre un- fchwer darzutun.

mäßig fdineller Fortbewegung geknüpft fei, ähnlich wie er, wir werden es noch fehen, an die Natur feiner Himmelfphären eine Tendenz zu gleichmäßiger zirkularer Bewegung geknüpft gedacht hat.

]) Wir werden fpäter hören, daß Äriftoteles den Beftand der Dinge durch einen fortwährenden Einfluß der Gottheit bedingt fein läßt; und fo ift denn allerdings der Erde und jedem anderen Element nicht bloß von etwas, was vielleicht felbft nicht mehr ift, feine Natur gegeben worden, fondern es wird auch, folange es fie hat, von etwas wirklich Beflehendem wirkend darin erhalten. Und hiedurch er- fcheint die Lehre in etwas anderem Licht.

4* 51

Nur mit kurzem Wort fei erwähnt, daß Äriftoteles den Namen „Ur fache" auch auf jene allgemeine Be- {Kmmung eines mehrgliederigen Begriffs anwendet, an welchen etwas zunächft als untrennbare Eigentümlichkeit geknüpft ift. So iffc bei einem gewiffen rechtwinkeligen Dreieck die BefUmmung, daß es ein Dreieck ift, Urfache davon, daß es zur Winkelfumme 2 R hat, während die BefHmmung, daß es ein rechtwinkeliges Dreieck ift, Ur- fache davon ift, daß das Quadrat der Hypotenufe gleich ift der Summe der Quadrate der Katheten. Und ähnlich ift beim Cajus die BefHmmung als lebender Organismus Urfache davon, daß er fterblich ift, die des tierifchen Lebewefens Urfache davon, daß er ein Begehrungs- vermögen hat, und die des Menfchen Urfache davon, daß er ein Vermögen zu fchließen befrtjt. Mit dem Entfall der BefHmmung als rechtwinkeliges Dreieck würde auch die dafür von Pythagoras nachgewiefene Eigentümlich- keit entfallen, und darum fagt auch Äriftoteles, weffen Sein die Urfache für das Sein, deffen Nichtfein fei die Urfache für das Nichtfein. So erlaubt er fleh auch einzelne Male zu fagen, das Fehlen der wirkenden Urfache für etwas bewirke das Fehlen der betreffenden Wirkung, ein Fall, den fpätere Peripatetiker als Fall der causa deßeiens von dem Fall der causa efficiens unter- fchieden.

Auch das fei noch erwähnt, daß Äriftoteles wie die Materie auch die Privation als ein Prinzip des Werdens bezeichnet1), womit er nichts anderes fagen will, als daß, wenn das Fähige fchon in Wirklichkeit das wäre, was es zu fein fähig ift, es dasfelbe nicht werden könnte.

All unfer Denken muß fich aus Elementen aufbauen, die der Erfahrung entnommen find; doch fdiließt das nicht aus, daß wir zur Erkenntnis gelangen, daß es etwas gibt, was in fich felbft für uns unvorftellbar ift, und daß

J) Vgl. z. B. Met. A, 2. Ende. 52

wir auch darüber manches mit Wahrheit und Sicherheit ausfprechen. Dies wird fofort deutlicher werden, wenn wir uns nach den vorangegangenen Betrachtungen über die Erkenntnislehre des Arifloteles zu feinen ontologifchen Unter fuchungen wenden.

Die Tranfzendenz der fubflanziellen Definition.

Wir haben gefehen, daß nach Arifloteles der Begriff der Subflanz direkt in unferen Anfchauungen gegeben ift, ja, daß keine Vorflellung eines Akzidens ohne ihn fein kann. Auch wenn wir uns als empfindend und denkend felbft erfaffen, erfaffen wir uns als empfindende und denkende Subflanz. Die Exiflenz von Subftanzen ift daher keine hypothetifche Annahme, fondern durch un- mittelbare Evidenz gefiebert. Allein ebenfo ficher fcheint es Arifloteles, daß wir diefen Begriff nur in äußerfler Allgemeinheit erfaffen, während uns alle fpezififchen Differenzen für ihn fehlen. Die Akzidenzien, die der Subflanz anhaflen, dürfen nicht als folche betrachtet werden. Obwohl nun aber die fubflanziellen fpezififchen Differenzen uns nicht ebenfo wie der Gattungsbegriff in einer Anfchauung vorliegen, fo können wir an ihrer Exiflenz doch nicht zweifeln, da ja, wie wir gefehen haben, die wirkliche Exiflenz eines bloßen Univerfale ohne Abfurdität nicht angenommen werden kann. Und fo ge- langen wir denn hier zu der Erkenntnis von etwas Tranfzendentem. Und Arifloteles begnügt fich nicht da- mit, diefes erfchloffen zu haben, fondern er glaubt auch noch manches Weitere über feine eigentümliche Natur feflflellen zu können, indem er dabei einesteils den Ge- danken, daß die induktiv von uns konflatierten allge- meinen Naturgefe^e in den fubflanziellen Differenzen ihren Grund haben, fo zwar, daß fie, falls die Subflanz uns anfehaulich wäre, als Fälle des Kontraktionsgefetjes

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fich erweifen würden, und anderenteils die Analogie mit den Akzidenzien als Anhaltspunkte verwertet. So kam Arifloteles zu feiner Lehre von den fubflanziellen Defini- tionen, die in der vom legten Kapitel der zweiten Ana- lytiken angegebenen Weife mit Hilfe der Induktion er- mittelt werden. Das fiebente Buch der Metaphyfik er- klärt die in den Analytiken gemachten Bemerkungen für unvollfländig und geht .tiefer in die Frage ein. Wir lernen hier in der fubflanziellen Definition eine viel- gliederige Reihe von mehr und mehr fleh fpezifizierenden Begriffen kennen, in der jede folgende fpezififche Differenz den vorhergehenden Begriff enthält, und fomit die letjte Differenz der ganzen Definition gleich iftj ähnlich wie es bei der akzidentellen Begriffsreihe: finnliche Qualität, Farbe und Röte, der Fall ifl. An einer Stelle J) tritt da- bei auch nicht undeutlich hervor, daß wir von diefen fubflanziellen Differenzen nicht eigentlich eine Vorflellung haben, was fleh im legten Kapitel der Meteorologie und in den Büchern De Part. An. als Überzeugung des Ariflo- teles ausfpricht. Und fo greift er denn auch in den Büchern von der Seele, wo es fich um eine fubflanzielle Definition handelt, zu dem Mittel, die fukzeffiven Glieder durch Gruppen von Tätigkeiten, welche fich daran knüpfen, nämlich der vegetativen, die der Menfch auch mit der Pflanze, der fenfitiven, die er auch mit dem Tier gemein hat, und der intellektiven , die ihm allein eigentümlich find, erfatjweife zu charakterifieren. Wie in anderen Teilen feiner Lehre, fo ifl Arifloteles auch in diefem meifl nicht genügend verbanden worden, und man wollte daraufhin in feiner Lehre von der induktiven Feflflellung der Prinzipien in den Analytiken einerfeits und feiner Lehre von der unmittelbaren Evidenz des Kontradiktions- gefetjes in der Metaphyfik anderfeits unver föhnliche Gegenfä^e erblicken. Wie für fubflanzielle Definitionen, muß auch für manche akzidentelle, die uns tranfzendent

J) Met. Z, 3 p. 1029 a 11. 54

find, aber fleh durch Gruppen von Eigentümlichkeiten, die fich an die einzelnen Glieder knüpfen, verraten, ein Er- fatj gefucht werden.

Die uns tranfzendenten Definitionen von Subftanzen unterfcheiden (ich in einem Punkt von den akzidentellen, die, wie in dem oben gegebenen Beifpiel, uns anfehaulich vorliegen. Jeder akzidentelle Begriff fchließt, wie fchon gefagt, den Subflanzbegriff ein und hält fich darum in feinen BefHmmungen nicht durchwegs in einer Gattung. Bei den fubflanziellen Definitionen ifl das der Fall, und fo ift hier allein der Definitionscharakter in vollkommener Weife gewahrt. Arifloteles verfäumt nicht, im fiebenten Buch der Metaphyfik (Met. Z) dies hervorzuheben.

Subftanzielle Umwandlungen. Materie und Form.

Folgen wir Arifloteles noch etwas weiter bei diefen feinen tranfzendenten Unterfuchungen! Da nach ihm, wie wir fahen, nur die innere Wahrnehmung evident ifl, fo hätte er, wenn er den ganzen vermittelnden Weg uns hätte darlegen wollen, eigentlich überall von ihr den Ausgang nehmen muffen. Da der allgemeine Begriff der Subflanz in der Vorflellung eines jeden Akzidens, alfo auch der Akzidenzien, die uns die innere Wahrnehmung zeigt, befchloffen ifl, fo war es auf Grund ihrer leicht, zu jenem feinem Schluffe auf die Exiflenz einer tran- fzendenten fubflanziellen Differenz zu gelangen. Auch hätte er, auf ihre Grundlage allein bauend, alsbald die Exiflenz von einer doppelten Klaffe von Subflanzen, von denen die eine körperlich, die andere geiflig ifl, er- fchließen können; denn wie aus gewiffen Erörterungen der Bücher von der Seele zu erfehen ifl, fcheint es ihm widerfprechend, daß ein Akzidens, welches kontinuierliche Teile unterfcheiden läßt, in einer unausgedehnten Sub- flanz und ein unausgedehntes Akzidens in einer aus-

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gedehnten Subftanz als Subjekt fleh finde. Unfere Sinnes- wahrnehmungen, wie z. B. das Sehen, zeigen aber kon- tinuierliche Teile ; denn jedem anderen Teil des gefehenen Bildes entfpricht ein anderer Teil des Sehens. Alfb, fchließt er, ift das fubflanzielle Subjekt unferes Sehens aus- gedehnt. Umgekehrt ift, wenn ich einen allgemeinen Begriff, wie den des Dinges, der Verneinung u. dgl. denke, das Denken fo wenig aus kontinuierlichen Teilen zu- fammengefe^t als das Objekt, wie es von mir gedacht wird. Und fomit ift das Subjekt diefes Denkens in uns geiflig. Allein Arifloteles zieht es vor, fofort an die Exiflenz einer körperlichen Außenwelt als an etwas, was keiner ernftlich in Abrede ftelle, anzuknüpfen. Die er- drückende Fülle von Erfahrungen, die dafür fpricht, fcheint ihm mächtiger zu wirken als unfere beflen Beweife; wie er denn aus ähnlichem Grunde denen gegenüber, welche fagen, daß man nicht zwifchen Traum und Wachen zu unterfcheiden vermöge, nur auf das Zeugnis ihres eigenen Benehmens verweift: „Keiner, der in Lybien geträumt hat, er fei in Athen, geht daraufhin ins Odeon." So hat er denn die Exiflenz von räumlich ausgedehnten Subflanzen auch außer uns als etwas von allen Zu- geflandenes unbedenklich fchon bei der Lehre von der fubflanziellen Definition benü^t und bleibt diefem Ver- fahren auch noch im weiteren treu. Ebenfo nimmt er es für zugeftanden, daß fie mannigfachen, akzidentellen Umwandlungen unterliegen; fo nach dem Ort, nach dem Maß der Ausdehnung, indem fie wachfen und abnehmen, und nach der Qualität. Aber auch der Subftanz nach, meint er, können wir vernünftigerweife nicht an einem Wechfel zweifeln. Die fubflanziellen Differenzen ver- raten fich ja durch die an jede von ihnen geknüpften eigentümlichen Tätigkeiten. Und was kann da mächtiger fein als der Wechfel, welcher infolge von chemifchen Umwandlungen und noch auffälliger bei der Umwand- lung von Leblofem in Lebendiges, vegetativ oder zugleich vegetativ und fenfitiv Tätiges, und umgekehrt beim Tode

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und der Auflöfung eines Organismus auftritt1)? Die Lehren der Atomiflen, welche alles aus bloßen örtlichen Umlagerungen erklären wollen, fcheinen ihm alfo voll- kommen ungenügend, und auch bloße Veränderungen der Ausdehnung oder den Wechfel von qualitativen Akzidenzien anzunehmen, genügt nicht; vielmehr muffen wir eine analoge Umwandlung der Subftanz felbft er- fchließen. Und fo kommt denn der fubflanzielle Wechfel bei diefen Körpern als eine vierte Klaffe zu den drei angegebenen akzidentellen Umwandlungen hinzu.

Wo bei den Akzidenzien eine Umwandlung ftatthat, finden wir, daß Entgegengefe^tes an die Stelle von Ent- gegengefet)tem tritt, und folches ifb entfchieden auch bei

*) Man beachte hier die Beschränkung der Umwandlung auf die vier hier angegebenen Kategorien. Gewiß findet fleh ein Wechfel auch in betreff aller anderen, wie z. B. hinfichtlidi der Relation, wenn etwas einem anderen bald näher, bald ferner ifl, oder wenn jemand feine Stellung oder Kleidung wechfelt. Allein zur Änderung jener örtlichen Relationen kommt es nicht durch einen befonderen Um- wandlungsprozeß, vielmehr einfach infolge der abfoluten Änderung, die wenigflens an einem der beiden Körper, die in örtlicher Relation flehen, vollzogen wird. Und ähnlich find es denn bloße Trans- lokationen, welche zugleich in bezug auf Stellung oder Bekleidung eine Änderung zur Folge haben. Man fieht daraus, daß Arifloteles fleh fehr wohl bewußt ifl, daß es fleh nicht bloß in der Kategorie, die er rcptfs ti nennt, fondern auch in den anderen, welchen er eine befondere Umwandlung abfpricht, um eine Einmengung relativer Be- fUmmungen handelt oder um eine Mehrheit, welche, wenn die Ein- heiten entftehen, ohne weiteres mitgegeben ifl. Diefe drei akziden- tellen Kategorien flehen alfo nach Arifloteles' Meinung derjenigen, welche im erflen und eigentlichen Sinne feiend ifl, am nächflen. Was unter die Kategorie des „Leidens", fällt, mit Abflraktion von der Be- ziehung zum Wirkenden, immer auch zugleich in eine der genannten Kategorien, wie z. B. die Ortsbewegung in die Kategorie des Ortes, und unfer Denken, das nach Arifloteles auch ein „Leiden" ifl, würde vielleicht bei folcher Abflraktion noch zu den Qualitäten gerechnet werden können. Doch ifl das Denken kein „Leiden" im Sinn einer eigentlichen Umwandlung von Wirklichem in Wirkliches, fondern nur in dem einer fortdauernden Aufnahme eines Einfluffes, der etwas, was in Möglichkeit ifl, zum Wirklichen macht. Vgl. De An. II, 5 p. 417 b 2. Wir werden fofort darauf zurückkommen.

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der fubflanziellen Umwandlung anzunehmen. Ferner finden wir beim akzidentellen Wechfel, daß bei ihm etwas bleibend dem Wechfel unterliegt. Es ift dies die Subflanz, infofern fie fähig ift, den einen oder anderen akzidentellen Gegenfatj in fich aufzunehmen. Und fie be- ftimmt die Individualität ; denn, wenn ein Körper auch an genau denfelben Ort kommt, den ein anderer ver- laffen hat, fo ift das Hierfeiende doch individuell ein anderes Hierfeiendes. Und wenn zwei völlig gleich denken, fo find fie doch auch als Denkende nicht individuell der- selbe. Dem fubflanziellen Wechfel kann nun freilich nicht wieder eine wirkliche Subftanz als bleibendes Subjekt unterflehen. Dennoch werden wir auch hier fagen können, daß die Fähigkeit zu beiden Gegenfätjen nach wie vor gegeben fei; und zwar zu diefen individuellen Gegen- fä^en, denn wird das Waffer in Feuer und das Feuer wieder in Waffer verwandelt, fo bekommt man indivi- duell dasfelbe Waffer, das man früher hatte, während aus einem gleichen Waffer, welches ebenfalls in Feuer verwandelt wurde, bei der Rückwandelung nur eben wieder diefes individuelle Waffer, aus dem es geworden, unmöglich aber das wird, zu dem die Umwandlung jenes anderen Feuers geführt hat. So hat denn hier wie dort die Fähigkeit, von der wir fagen, fie bleibe, eine Be- ziehung zu einem befonderen Individuationskreife1). Es

1) Ein Akzidens kann auch ein anderes werden, indem es nicht feine Spezies wechfelt, fondern nur individuell ein anderes wird. Dies wird dann der Fall fein, wenn die Subflanz korrumpiert, da die Individualität des Akzidens durch das Subjekt bedingt ift. Was die Subflanz anlangt, fo könnte es dagegen fcheinen, als ob bei ihr, die kein korruptibles Subjekt hat, nur fpezififche Umwandlungen vor- kommen könnten; und in der Tat faßt Ariftoteles diefe hier allein ins Auge. Aber was follen wir fagen, wenn, was nach Ariftoteles vorkommen kann, ein einheitlicher wirklicher Körper in zwei zerteilt wird, die dann zu derfelben Spezies wie der vorher wirkliche Körper gehören, wie z. B„ wenn ein Tier oder eine Pflanze in zwei gleich- artige zerlegt wird? Hier zeigt die Theorie des Ariftoteles eine Lüdse. Wir haben fchon auf das Bedenkliche feiner Lehre über Ein- heit und Vielheit beim Kontinuum aufmerkfam gemacht.

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bleibt die Fähigkeit zu denfelben Individuen, und darum kann man von einem Fortbefland der Fähigkeit in in- dividuo fprechen. Natürlich nur in jenem ganz uneigent- lichen Sinne des Beflandes, in welchem er einer bloßen Fähigkeit zukommen kann, die ja nichts in Wirklichkeit ift. Ich erinnere daran, daß es fleh, wie wir früher fagten, hier eigentlich nur um Fiktionen, die durch die Natur der Sache nahegelegt find, handelt. Wir würden die dadurch ausgedrückte Meinung unverfälfcht .wieder- geben, wenn wir fagten, daß Ärifloteles, obwohl er nicht wie die Atomiften eine Subftanz bleibend der Umwand- lung unterliegen denkt, doch ganz wie fie an die Be- fchränkung der Umwandlungen auf einen gewiffen In- dividuationskreis glaubt, worin der Glaube an den Fort- beftand eines gewiffen Gleichmaßes der Maffe inbegriffen liegt. Würde er in diefem Stücke nicht ebenfo wie die Atomiften gedacht haben, fo hätte es ja auch dazu kommen können, daß, wenn aus einem Feuer ein gewiffes in- dividuelles Waffer geworden und ein anderes Feuer zu demfelben individuellen Waffer würde, dasfelbe Indivi- duum zweimal beftände l).

*) Die Kritik könnte dagegen hier wohl unfchwer zeigen, daß in Rückficht auf den befonderen Individuationskreis , für den (ich die Fähigkeit erhält, eine befondere Klaffe von wirklichen, tranfzendenten Beflimmungen hätte angenommen werden muffen, welche in ihren letjten fpezififchen Differenzen fo vielfach gedacht werden müßte, als Individuationskreife unterfchieden werden können. Das Individuum ergäbe fleh daraufhin aus der Verbindung zweier fich kreuzender, letjter, fpezififcher Differenzen, und gegenfeitig würden fie durch ein- ander individualifiert. Wir hätten dann ähnliches, wie wenn in unferem Gefichtsfeld zwei Punkte, die gleichmäßig rot find, doch durch die Verfchiedenheit der Stelle des Gefichtsfeldes als zwei erfcheinen, während ein blauer Fleck, der an die Stelle eines roten Fledts tritt, darum ein anderer ift, weil die Farbenfpezies eine andere ift Die Feftftellung einer folchen Kreuzung von Differenzen, die doch beide fubftanziell wären, würde aber dann zu einer tiefgreifenden Umbildung der ganzen Kategorienlehre nötigen; ein Gedanke, der hier nur angedeutet und nicht bis ins einzelne ausgeführt werden kann.

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Der Mangel kontinuierlicher fubftanzieller Umwandlung en.

So entfchieden Arifloteles fich für eine Umwandlung auch auf dem fubflanziellen Gebiet ausfpricht, fo denkt er fie doch in einer Beziehung von den drei genannten akzidentellen Umwandlungen verfchieden. Diefe, wie z. B. die örtliche, finden kontinuierlich flatt; auf fubflanziellem Gebiet dagegen foll eine kontinuierliche Umwandlung nicht vorkommen, vielmehr foll fie fich in einem oder auch in einer Reihe fich folgender Momente abrupt voll- ziehen, durch dazwifchen liegende kontinuierliche ak- zidentelle Veränderungen angebahnt. Was Arifloteles zu diefer Lehre fünrt, ift unfchwer zu erkennen. Gäbe es eine kontinuierliche fubflanzielle Umwandlung , wie es eine örtliche gibt, fo wäre die Menge der fubflanziellen Arten unbegrenzt, ja, es wäre gar nicht zu erwarten, daß uns die Erfahrung jemals zwei fubftanziell wahr- haft fpezififch gleiche Individuen zeigte. Ähnlich wie wir auch heute nur darum in der Chemie es zu völlig gleich- artigen Verbindungen kommen fehen, weil fich die Ele- mente nur in gewiffen, nicht aber ebenfo auch in jedem beliebigen, dazwifchen liegenden Verhältnis mifchen- Whewell hat daraufhin gefagt, daß man auch vor der experimentellen Feflftellung die Befchränkung der Mifchungen, welche zu fo tiefgreifenden Änderungen führen, im Gegenfat$ zu der unbegrenzten Mannigfaltig- keit der Gemenge im voraus hätte erfchließen können. Es ift nun intereffant zu fehen, daß Arifloteles in feiner Lehre von den diskreten, momentanen fubflanziellen Umwandlungen verrät, daß er eine Erwägung, wie fie Whewell als von vornherein möglich bezeichnet, wirklich angeftellt hat. Sein Schüler Theophraft, der ihm hier nicht treu geblieben, hat offenbar die hohe Bedeutung diefes Momentes nicht erkannt.

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Kein Entftehen aus nichts und kein Vergehen zu nichts.

Daß Arifloteles, wenn er über das tranfzendente fub- flanzielle Gebiet nach Analogie des auf akzidentellem Gebiet der Erfahrung Gefundenen urteilt, nicht ohne weiteres eine Wiederkehr ähnlicher Verhältniffe an- nimmt, wird auch noch in einem anderen Beifpiel ficht- lich. Arifloteles findet auf akzidentellem Gebiet Fälle von Werden, welche nicht Fälle von Umwandlung im engeren Sinne find 1). Es hört vielmehr hier entweder ein wirkliches Akzidens einfach auf, fo daß in dem Sub- jekt nur noch die Fähigkeit dazu fortbefteht, oder es fängt einfach an, indem vorher kein entgegengefet$tes wirkliches Akzidens, fondern nur die betreffende akziden- telle Fähigkeit in dem Subjekt beftanden hatte. So iffc es z. B. , wenn, nachdem wir gehört haben, Stille ein- tritt, oder ein Ton die Stille unterbricht. Und nicht bloß nicht in diefem Falle, auch in keinem anderen, wo Hören dem Hören folgt, haben wir es, genau befehen, mit einer Verwandlung von Wirklichem in Wirkliches zu tun. Das folgende Hören wäre geradefo aufgetreten, wenn das vorausgehende nicht gewefen, und diefes hätte gerade fo aufgehört, wenn jenes nicht gefolgt wäre. Arifloteles nennt diefe Fälle, Fälle von einfacher Vollendung und Verwirklichung deffen, was der Möglichkeit nach gegeben war, und von einfacher Privation. Daß aber auch zu diefen Vorgängen auf fubflanziellem Gebiet ein Analogon fich fände, flellt er entfchieden in Abrede. Was bliebe denn auch bei dem Eintreten einer einfachen fubflanziellen Privation zurück? Kein Akzidens, denn diefes hat die wirkliche Subflanz zur Vorausfet>ung ; alfo ein reines Nichts, und wie könnte mit diefem irgendwelche Fähig-

») Vgl. Anm. S. 57.

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keit zu einem Individuationskreife mehr als zu einem anderen verbunden fein? Mit dem einfachen Entfall jeder wirklichen Subflanz wäre alfo ein völliges Zu-nichts- Werden, wie denn auch umgekehrt mit dem einfachen Beginn einer Subftanz ein völliges Äus-nichts- Werden ge- geben. Das aber find Gefchehniffe , für welche die Er- fahrungen, die wir machen, nicht ebenfo wie für die fubftanziellen Umwandlungen fprechen. Und wir werden bald erkennen, warum Ärifloteles fie für fchlechterdings ausgefchloffen halten muß.

Das Gefe^ der Synonymie.

Noch etwas anderes bemerken wir auf akzidentellem Gebiete. Wir finden, daß etwas Kaltes warm wird durch den Einfluß von etwas, was felbfl warm ifl. Ebenfo wird etwas Warmes kalt durch die Einwirkung von etwas Kaltem, etwas Trockenes durch den Einfluß von Feuchtem feucht, etwas Feuchtes in der Berührung mit Trockenem trocken. Das Wirkende ifl alfo hier dem, was es be- wirkt, fynonym. Bei den Gruppen von Akzidenzien, welche für eine gewiffe Art lebender Subftanz charakte- riflifch find, finden wir nun auch, daß fie diefelbe charakte- riflifche Gruppe in einem Körper, der fie bis je^t nicht zeigte, durch ihre Einwirkung entflehen laffen, und wir muffen daraus fchließen, daß auch diefe Subjtanzen ihnen fynonyme Subflanzen erzeugen; ein Pferd erzeugt ein Pferd, ein Löwe einen Löwen.

Neben diefer Weife der Synonymie zwifchen Wir- kendem und Gewirktem finden wir in der Erfahrung noch eine andere bei Prozeffen, die Ärifloteles von den eben betrachteten als Werden durch Kunfl oder Ver- fland im Unterfchied vom Werden durch Natur unter- fcheidet, wie z. B., wenn ein Baumeifler ein Haus baut entfprechend der Idee, die er in feinem Verflande hat. Auch da bringt in gewiffem Sinne das Haus, welches im Verfland des Künfllers ifl, ein ihm gleiches, wirkliches

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Haus hervor. Und ähnlich ifl es auch, wenn einer mit Abficht ein Feuer entzündet. Freilich beftehen zwifchen der Synonymie beim Werden durch Natur und durch Verftand bedeutende Differenzen. Etwas anderes ift ja, als allgemeiner Begriff im Verftande fein, und als wirk- liches Individuum unter den Begriff fallen. Und fo macht denn auch das einen großen Unterfchied, daß der, welcher den Begriff der Gefundheit im Verftande hat und mittels feiner die Gefundheit einem kranken Körper gibt, ein anderes Mal vermöge feiner vielmehr einem Gefunden die Gefundheit raubt. Das eine wie andere hängt von der Wahl des Wirkenden ab. Es kann aber zu diefer kommen, weil wir, indem wir wiffen, was dazu gehört, gefund zu fein, durch eben diefe Kenntnis auch wiffen, was dazu gehört, der Gefundheit beraubt zu fein. Und fo gefchieht auch das letztere Wirken immer noch unter Herftellung einer ge wiffen Synonymie.

Arifloteles fpricht oft, als glaube er, fie fei ein allge- meines Gefetj. Selbfl in jenen Fällen, wo wir nicht von natürlichem, noch künfllichem Werden fprechen, fondern von Entflehen durch Zufall oder durch Glück reden, findet er es bei näherer Betrachtung gewahrt. So fagen wir z. B., wenn ein Kranker durch eintretende warme Witte- rung gefund wird, er fei zufällig und durch einen Glücks- fall gefund geworden, weil es ohne das Zutun eines Arztes gefchehen ifl. Aber was ihm eben zur Gefundheit fehlte, war eine gewiffe Wärme, und diefe wurde ihm unter Herftellung einer Synonymie gegeben. Und fo geht auch bei einer Kreuzung von Kräften, welche das Gefamt- refultat keinem der beiden Faktoren ganz ähnlich werden läßt, jede doch auf eine Verähnlichung aus, und man hat im legten Grunde Fälle von natürlichem oder künfllichem Wirken. Was durch Zufall oder Glück bewirkt wird, wird per akzidens gewirkt. Allem, was per akzidens gewirkt wird, Hegt aber ein Wirken per se zugrunde. Und fo hat man es immer mit einem Wirken durch Natur oder Verftand zu tun.

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Nach dem früher Gefagten ifl es aber offenbar, daß es, auch im Falle der höchflen Verähnlichung der Wirkung mit der wirkenden Urfache nur zu fpezififcher Gleich- heit, nicht zu individueller Unterfchiedslofigkeit kommt. Menfch erzeugt Menfch, nicht Sokrates Sokrates, weil ja bei allem Wedifel, dem die Subftanz unterliegt, ihr In- dividuations kreis nicht verlaffen wird oder, um der ariftotelifchen Ausdrucksweife uns zu bedienen, die fub- flanzielle Materie diefelbe bleibt. Und hierauf ifl es denn auch zurückzuführen, daß, wenn ein Feuer zwei Stücke Holz in Feuer verwandelt, die von ihm erzeugten Subflanzen nicht ein und dasfelbe, fondern zwei fpezififch gleiche Individuen find. Nicht die umwandelnde wirkende Urfache, fondern die aufnehmende fubflanzielle Fähig- keit, die Materie, ifl das Prinzip der Individuation 1). Trotjdem hält Ariftoteles es für nicht unwichtig hervor- zuheben, daß wegen der Gleichheit der Form im Wir- kenden mit der im Gewirkten, ftatt von vier Prinzipien, die zur Umwandlung gehören (den beiden Gegenfät>en, zwifchen denen der Wechfel flattfindet, der Materie, die als Fähigkeit zu beidem dem Wechfel zugrunde liegt, und dem wirkenden Prinzip), gewiffermaßen auch von drei Prinzipien gefprochen werden könne, indem die Form im wirkenden Prinzip und in dem, was gewirkt wird, als eins gefaßt wird.

Wir haben oben von der eigentümlichen Art ge- fprochen, in welcher Ariftoteles fich weigert, die von ihm fo genannte natürliche Bewegung eines Elements an feinen natürlichen Ort als durch die Subflanz desfelben

]) Als ein fchwerer Verfloß gegen feine Lehre von der Materie als Individuationsprinzip erfdieint es, wenn Arifloteles in den Büchern von der Seele (De An. II) fpridit, als wenn der Stoffwedifel bei Er- nährung und Wachstum die Subftanz des Organismus noch als in- dividuell diefelbe beflehen ließe. Indem er fich hier an die gewöhn- liche Weife, beim Organismus wie bei einem Fluffe von einer indivi- duellen Einheit zu fprechen, hält, ifl er unvermerkt feinen allgemeinen Lehren über Materie und Form untreu geworden.

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bewirkt, zu bezeichnen. Vielleicht hängt dies mit dem Gedanken an das Gefetj der Synonymie zufammen. Denn was für eine Ähnlichkeit könnte zwifchen diefer Art Sub- flanz und diefer Art Ort gefunden werden? Dagegen verfloßt man nicht gegen das Gefetj der Synonymie, wenn man, wo Feuer Feuer erzeugt, eine Subflanz mit der Tendenz nach oben eine Subflanz mit gleicher Tendenz hervorbringen läßt. Indes läßt fleh der Saij der Syno- nymie, der wegen des wefentlichen Unterfchiedes im Falle des natürlichen und künfllichen Werdens ohnehin nicht recht einheitlich erfdieint, doch nicht in der Art all- gemein aufrecht halten, daß er auf jeden Fall des Wirkens und bei einer Kette von Wirkungen, wenn auch vielleicht auf das erfle Glied im Vergleich zum legten, auch ebenfo auf jedes unmittelbar vorausgehende im Vergleich zum unmittelbar folgenden Anwendung finden könnte. Eine Pflanze erzeugt nicht unmittelbar eine Pflanze, fondern zuvor einen Pflanzenkeim, der, wie Arifloteles anerkennt, noch nicht diefelbe Natur hat. Wir hören auch, daß, wenn es zur Umwandlung einer Subflanz kommt, diefe durch lokale und qualitative Ver- änderungen vorbereitet werde , und wie foll man dies verflehen, außer wenn man annimmt, daß auch die Qualitäten zur Umwandlung einer Subflanz wirkfam find? Da nun aber die Fähigkeit zu einer Subflanz von der Fähigkeit zu einem Akzidens verfchieden ifl, fo be- wirken die Qualitäten s. z. s. inflrumental etwas, was ihnen nicht fynonym ifl. Recht auffallend find auch Fälle wie die, welchen, wie wir fahen, gerade der Be- griff des Wirkens entnommen fcheint, wie z. B. , wenn wir uns bewußt find, etwas, durch diefen oder jenen Gedanken dazu beflimmt, zu fuchen oder zu fliehen. Das Suchen oder Fliehen ifl nicht felbfl ein Denken und auch nicht wie die betreffende Wirklichkeit dem Gedachten fynonym fondern man kann nur etwa fagen, daß es die Synonymie zwifchen dem Gedanken und dem, was der dadurch bewirkte Wille wirkt, vermittele. So wäre

5 Brentano, Arifloteles. 65

noch anderes geltend zu machen ; und auf dem Stand- punkt der ariflotelifchen Lehre begegnen wir einem be- fonders wichtigen Fall, wo eine Subflanz eine fub- flanzielle Umwandlung bewirkt, die weder künftlich (da fie kein Bewußtfein hat) noch natürlich (weil die wirkende Subflanz inkorruptibel iffc, die gewirkte aber, wenn des Entflehens, auch des Vergehens fähig fein muß) durch Synonymie zur Gleichartigkeit führen kann. Ich meine den des fubftanziell umbildenden Einfluffes der Sonne. Es iffc wahr, daß Arifloteles auch hier an eine gewiffe Verähnlichung des Leidenden mit dem Wirkenden glaubt, aber zu einer eigentlichen Synonymie kann es doch nicht kommen. Und fo fagt er denn Met. A ausdrücklich, die Sonne fei Urfache als wirkendes Prinzip, fei aber nicht eine fynonyme Urfache. Wenn alfo Arifloteles tro^dem auch wieder von dem Sa^e der Synonymie als einem flreng allgemeinen fpricht, fo Hegt dabei der Gedanke zugrunde, daß die Fälle von zunächfl mangelnder Syno- nymie nach einer allgemein gültigen Ordnung immer doch der Herflellung einer folchen dienen, fie vermitteln, wie der Wille des Künfllers die zwifchen feiner Idee und dem ausgeführten Werk und der Same und Keim die zwifchen dem zeugenden und erzeugten Organismus. So können wir, wo bei einem Wirken zunächfl keine Syno- nymie zutage tritt, immer mit Sicherheit auf ein früheres Prinzip fchließen, in bezug auf welches das Gefe^ fich bewährt findet, wie dies das zweite Buch der Phyfik aus- drücklich betont1).

*) Nicht ohne Interefle find die Bemerkungen des Alexander von Aphrodifias über die Fälle, in welchen das Gefe^ der Synonymie eine Ausnahme erleidet. Vgl. Freudenthal, Die uns von Averroes erhaltenen Fragmente Alexanders von Aphrodifias zur Met A Kap. 4 Ende.

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Exiflenz eines fchledithin Notwendigen.

Wenden wir nun unfere Aufmerkfamkeit jenen Unter- teilungen zu, welche Ärifloteles zu einer anderen tran- fzendenten Annahme, nämlich zu der eines durch fleh felbft notwendigen, unendlich vollkommenen, denkenden Geiftes als erften Grundes alles Realen geführt haben! Wir werden fehen, daß er als wirkendes Prinzip er- fchloffen wird, und da es das erfte von allen Prinzipien fein foll, fo kann es fich nur um ein Wirken per se, nicht um ein Wirken per akzidens handeln, und das Ge- fetj der Synonymie muß aufs deutlidifle in feinem Falle gewahrt erfcheinen. Ärifloteles hebt dies auch da, wo er im vierten Kapitel des zwölften Buches der Meta- phyfik 1) das Gefet$ der Synonymie ausfpricht, ausdrück- lich hervor und weift ebenfo ausdrücklich im zehnten Kapitel 2) darauf zurück, wie er denn auch in der Phyfik im zweiten Buch3), wo er vom Glück und Zufall handelt, die Wahrung des Gefetjes der Synonymie bei der erften Urfache des Alls aufs beflimmtefle behauptet.

Freilich wird bei diefem durch Analogie erfchloffenen Falle die Weife, wie fie gewahrt wird, die fchon bei den empirifchen Fällen des Wirkens durch Verftand anders war als beim Wirken der Natur, wieder um ihre Be- fonderheit zeigen. Und fo fagt er denn, nachdem er von der Weife der Wahrung der Synonymie beim Wirken durch Natur und durch künfllerifchen Verftand gefprochen : „Hiezu kommt ferner auch noch die Weife, wie das allererfte Bewegende alles ift."

Vor allem ift hier folgende Erwägung von Wichtig- keit. Wenn etwas ift , aber nicht durch fleh felbft not- wendig ift, fo muß es in etwas anderem feinen Grund

') Met. A, 4 p. 1070 b 34.

2) Met. A, 10 p. 1075 b 10.

3) Phyf. n, 6 p. 198 a 10.

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haben1). Ohne dies könnte es zu irgendwelchem regel- mäßigen Verlauf der Ereigniffe nicht kommen, denn, wenn das, was an und für fleh ebenfowohl fein als nicht fein kann, ohne jede weitere befUmmende Urfache wäre oder nicht wäre, fo könnte es auch von felbft anfangen und von felbft aufhören, und es käme weder zu einem konftanten, gänzlich unveränderten Beftand noch zu einem kontinuierlichen Verlauf, vielmehr infolge der Störungen durch das, was von felbft wird und aufhört, von Moment zu Moment zu abruptem, fprunghaftem Wechfel. Nun gibt es aber auf dem Gebiet der uns umgebenden phyfifchen Welt vieles, was feiner Natur nach fowohl fein als nicht fein kann, fehen wir es doch entftehen und vergehen. Alfo muß diefes in etwas anderem feine be- ftimmende Urfache haben. Nehmen wir an, auch diefe Urfache fei des Seins wie Nichtfeins fähig, fo wird uns dies auf eine frühere Urfache zurückweifen, und von ihr, wenn fie nicht notwendig ift, wird dasfelbe gelten. Doch wenn wir fo eine Reihe von Urfachen, von denen jede an und für fich fowohl fein als nicht fein kann, fogar ins Unendliche zurücklaufen ließen, fo würde dies noch keineswegs genügen. Wie jedes einzelne Glied, fo er- fcheint ja auch jede Vielheit aufeinanderfolgender Glieder als etwas, was fowohl fein als nicht fein kann, und fo- mit auch die ganze unendliche Reihe. Sie erfchiene in ihrer Totalität als etwas Tatfächliches , aber nicht Not- wendiges. Es wäre nicht abfurd, wenn fie nicht beftünde. Wenn fie alfo trotjdem ift, fo muß dafür in etwas

x) Inftruktiv für die Weife, wie Arifloteles zu diefer Überzeugung gelangt, find insbefondere die letjten Kapitel des erflen Buches De Coelo, wo er gegen diejenigen argumentiert, welche lehren, daß die Welt einen Anfang gehabt habe. Er weif! hier auf die unendliche Unwahrfcheinlichkeit hin, daß, was nach der Meinung diefer Philo- fophen erffc gefchieht, nachdem es eine unendlich lange Zeit hindurch, Moment für Moment, ganz ebenfo gut hätte gefchehen können, in keinem der unendlich vielen Momente, die in ihr zu unterfcheiden find, fchon gefchehen wäre.

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anderem der beflimmende Grund gefucht werden. Und fo gibt es denn, fo gewiß es etwas Wirkliches gibt, was feiner Natur nach fowohl fein als nicht fein kann, als Urfache dafür etwas, was durch (ich felbfl fehle chterdings notwendig iffc.

Es ift unbewegt.

Wie haben wir uns nun diefes fchlechthin Notwendige zu denken? Etwa als eine ewig gleichmäßige Bewegung? Oder eine Subflanz, der diefelbe natürlich ifl? Manches könnte diefen Gedanken empfehlen. Die lokale Ver- änderung ifl bei jedem anderen Umwandlungsprozeß mitbeteiligt; fie ift entfehieden die erfte von allen in der Körperwelt. Bei den himmlifchen Geflirnen ifl fie die einzige, die fleh bemerklich macht. Der Fixflernhimmel fcheint wirklich in voller Gleichmäßigkeit zu rotieren, und nach den angefehenflen Aflronomen zu Arifloteles' Zeit follte die Bewegung der übrigen Geflirne fleh auch aus einer Komplikation gleichmäßig rotierender Sphären begreifen laffen. Der Einfluß der Geflirne aber konnte dann die fonfl an ihren natürlichen Orten ruhenden Elemente in Bewegung gebracht und zu mannigfachen qualitativen, quantitativen und fubflanziellen Umwand- lungen geführt haben. Dazu kommt, daß Arifloteles wirklich, in Analogie zur natürlichen Bewegung, welche nach ihm die Elemente haben follen, auch den Himmels- fphären eine natürliche Bewegung zufchreibt und die- felbe als rotierende Bewegung faßt. So fcheint fleh denn die Hypothefe, daß die himmlifchen Sphären von felbfl in einer ihnen natürlichen, gleichmäßigen Bewegung be- griffen, die erfle Urfache für alles Entflehen und Ver- gehen in der fublunarifchen Welt feien, vor allem zu empfehlen.

Dennoch verwirfl Arifloteles fie aufs entfchiedenfle, und zwar aus folgendem Grunde. Eine Bewegung ifl nie anders als unvollkommen wirklich. Es laffen (ich in

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ihr immer Teile unterfdieidcn, nach welchen fie nicht ifl, fondern nur war oder fein wird. Sie befleht, folange fie befleht, nur einem ihrer Momente nach, bald nach diefem, bald nach jenem. Da fie nun keinem ihrer Teile und keinem ihrer Momente nach fchlechthin notwendig ifl, fo kann fie überhaupt nicht fchlechthin notwendig fein. Sie müßte, um fchlechthin notwendig zu fein, allen ihren Teilen und Momenten nach fchlechthin notwendig fein, während fie offenbar nach keinem fchlechthin not- wendig und, einen einzigen ausgenommen, nach keinem auch nur wirklich ifl. Keine Bewegung kann alfo das fchlechthin Notwendige fein, auf welches das Entflehen und Vergehen als erfle Urfache zurückzuführen ifl ; viel- mehr muß jede Bewegung felbfl eine wirkende Urfache haben.

Machen wir dies noch fpeziell an dem Fall einer Kugelfchale, welcher eine Drehbewegung natürlich fein foll, anfchaulich ! Ein gewiffer Punkt Ä auf ihrem Äquator ändert fort und fort feine Stellung. Er kann alfo hier und nicht hier fein. Warum alfo ifl er gerade hier? Sagt man: weil er vorher dort war, fo kehrt die Frage, warum er dort war, wieder. Und wenn ich dabei auch ins Unendliche nur immer frühere und frühere Pofitionen als Grund angebe, fie erfcheinen doch, wie im einzelnen, fo in ihrer Gefamtheit gleich unerklärt. Wir hätten etwas Tatfächliches, was weder unmittelbar not- wendig wäre, noch in Rückficht auf etwas anderes auf- hörte, grundlos zu erfcheinen. Die erfle erklärende Ur- fache dafür wird alfo in etwas anderem als in der be- wegten Sphäre felbfl zu fuchen fein. Das gleiche gilt augenfcheinlich allgemein für jeden bewegten Körper. Und fo fehen wir denn, daß nicht in einem folchen die erfle Urfache der Umwandlung, welche uns die Körper- welt zeigt, Hegen kann, daß wir fie vielmehr in einem völlig Unbewegten fuchen muffen.

Arifloteles macht hier noch die Bemerkung, die Er- fahrung zeige uns, daß es Dinge gebe, die bald ruhen,

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bald (ich bewegen und außerdem andere', er meint die Geflirne, die immer in Bewegung begriffen find. Warum füllten da nicht auch, als dritte Klaffe, Dinge angenommen werden, welche immer und ihrer Natur nach unbewegt find? Freilich einen naturnotwendig ewig unbewegten Körper wird einer kaum anzunehmen geneigt fein. Denn wäre felbft, wie anderen Körpern eine Bewegung, fo ihm die Ruhe natürlich, fo könnte er doch wie ein Erd- klumpen, wenn er nach oben, ein Feuer, wenn es nach unten bewegt wird, oder eine Himmelsfphäre, wenn fie dem Einfluß einer anderen unterliegt, von etwas anderem in Bewegung gefetjt werden. Und fo finden wir denn auch, daß Arifloteles feine naturnotwendig unbewegte Subftanz geiflig denkt. Und ein Argument, das er dafür erbringt, dürfte, mit der von uns hier gemachten Be- merkung in Verbindung gebracht, verfländlicher werden. Es fcheint ihm nämlich die ewige Unveränderlichkeit bei einem Einfluß, der fleh endlos mächtig erweift, auf eine unendlich überlegene Kraft zu deuten. Eine folche aber kann einem begrenzten Körper gegenüber einem anderen nicht zukommen, aber auch keinem unbegrenzten, weil eine wirklich unendliche Ausdehnung , ähnlich wie eine wirklich unendliche Zahl, etwas in fich felbft Unmög- liches ifl.

Es ifl ein einheitlicher, zwecktätiger

Verfland als erfle Ur fache der ganzen

Weltordnung.

Blicken wir nun auf die Erfahrung und fragen, wo fleh etwas zeige, was unbewegt bewege, fo begegnet uns ein folches einzig und allein in dem Falle, wo etwas Gedachtes um feiner felbft willen gut befunden und be- gehrt wird. Dabei ifl das Gedachte und Begehrte ein und dasfelbe, und es zeigt (ich zwar ein doppelter Fall, indem wir entweder etwas begehren, weil es uns beffer

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dünkt, oder es uns beffer dünkt, weil wir es begehren. Aber auch in diefem Falle muß es vor allem gedacht fein, und fo ifl hier durchwegs das Denken erftes Prin- zip a). Das Denken wird fo zur Urfache der Wahl von Mitteln, die dann, eines um das andere, handelnd ver- wirklicht werden. So werden wir auf die Vermutung geführt, daß jenes Unbewegte, welches als erfle Urfache für die Bewegung verlangt wird, in analoger Weife zu denken fei, als ein Denkendes, das etwas um feiner felbfc willen gut findet und begehrt2).

Und was wir nach Arifloteles fo vermuten muffen, findet nach ihm die reichfle Beftätigung, wenn wir das, was die Erfahrung uns zeigt, näher befichtigen. Es er- fcheint ihm als eine kaum begreifliche Blindheit, was von den Philofophen vor Anaxagoras keinen erkennen ließ, daß die Schönheit und Ordnung des Weltalls nicht anders als die eines Kunftwerkes, das ein menfch- licher Verfland hervorbringt, auf einen ordnenden Ver- band hinweifen. Und die Ähnlichkeit mit dem, was wir bei menfchlichen Kunflwerken finden, fpringt bei ge- wiffen Erfcheinungen auf dem Gebiet der lebendigen Natur noch ganz befonders in die Äugen. So beim Auf- bau eines Organismus, wo Stufe um Stufe zur Voll- endung emporgeklommen wird, welche dann als die eigentlich angeflrebte Löfung einer Aufgabe erfcheint, wie das fertige Haus, um deswillen eine lange Reihe von Arbeiten ausgeführt worden find, die nur in Rück- ficht auf das Endergebnis Wert vnd Bedeutung haben. So fchon bei der Pflanze, die doch gewiß felbft nichts

1) Met. A, 7 Anf. gewöhnlich falfch ausgelegt. Man verfäumte den Vergleich mit dem dritten Buch von der Seele und insbefondere mit der Nikom. Eth. II u. VI, 5, aus welchen man erfieht, daß nach Ariflo- teles' Meinung fowohl der eine als der andere Fall vorkommt, der, daß das Gutgefundene für das Begehren, und der, daß das Begehren für das Gutbefinden maßgebend wird. Die rfiovrj gehört ja zum Be- reich der £pe£ic im weiteften Sinne des Wortes.

2) Vgl. dazu Theophrafls metaphyfifches Fragment.

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mit Verftand zu einem Zwecke ordnet, da fie alles Be- wußtfeins ermangelt. Freilidi mag das, was auf der Höhe ihrer Entwicklung erreicht ift, nicht etwas um feiner felbft willen Gutes fein l). Das gilt aber auch beim Auf- bau des Haufes; aber wenn fichere Zeichen auch nur für die Hinordnung zu einem untergeordneten Zweck vor- liegen, fo weifen fie mit gleicher Sicherheit auf das Streben nach einem legten Zwecke, nach etwas, was, um feiner felbft willen geliebt, gut ift oder wenigftens gut fcheint, hin. Ein Begehren, das nichts um feiner felbft willen, fondern jegliches nur um eines anderen willen begehrte, ginge als grundlos ganz ins Leere; es erfchiene als völlig unmotiviert. Dies zur Verwahrung gegen den Einwand, als ob jene fo fichtlich tele olo gifchen Erfchei- nungen auf dem Gebiet der Natur für unferen Fall, wo es fich um den Nachweis eines um feiner felbft willen Geliebten als erften Grundes der Bewegung handelt, nicht brauchbar wären. Auch der Inftinkt der Tiere erklärt fich nur in Rückficht auf eine verftändige Berechnung von Bedürfniffen, welche das Tier felbft anzuftellen gar nicht fähig ift. So geht Ärifloteles im zweiten Buch der Phyfik, wo er die Frage nach einer Zweckordnung in der Natur befpricht, noch mehrfach auf Erörterungen ein, welche die Ähnlichkeit der Ordnung in der Natur mit einer verfländigen Zweckordnung in helleres Licht fetten. Und im zehnten Kapitel des zwölften Buches der Metaphyfik fagt er, daß nicht bloß im einzelnen Organismus ein Glied dem anderen angepaßt erfcheine, fondern daß auch die verfchiedenen Arten von Organismen in teleologifcher Beziehung zueinander flünden, ja daß alles in der Welt mit allem durch gewiffe Zweckbeziehungen verknüpft fei. Und fo wird denn die Hypothefe, daß der unbewegte Beweger, welchen alle Bewegung in der Welt als erfle Urfache verlangt, ein Verftand fei, aufs mannigfachfte und glänzendfle beftätigt.

r) Vgl. dazu Theophrafls metaphyfifches Fragment.

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Die zuletjt erwähnte Tatfache, nämlich daß fogar alles zu allem in teleologifdier Beziehung fleht, läßt uns zu- gleich auch noch erkennen, daß das denkende Prinzip, von welchem die Ordnung in letjtem Grunde herflammt, ein einheitliches ifl. Oder könnte man trot$ der Einheit- lichkeit der Ordnung an eine Vielheit der erften be- wegenden Prinzipien glauben? Sicher nicht; denn weder von einander verfchieden noch völlig unterfchiedslos könnten fie fein. Nicht voneinander verfchieden, denn das führte zu Störungen; nicht unterfchiedslos, weil es eine Vielheit ganz unterfchiedslofer Dinge überhaupt nicht geben kann.

Auch wenn wir das Gefe^ der Synonymie in Er- wägung ziehen, welches, wie gefagt, für alles Werden gilt, finden wir uns auf die Annahme eines Verbandes als erflen Grundes verwiefen. Nach diefem Gefetje geht im einzelnen zwar die Möglichkeit der Wirklichkeit vor- an; aus etwas, was nur erfl fähig ifl, ein Pferd zu werden, es aber noch nicht wirklich ifl, wird das wirk- liche Pferd; aber fein Werden verlangt den Vorbefland eines anderen wirklichen Pferdes, welches das, was bloß in Möglichkeit Pferd ifl, zum wirklichen Pferd umbildet. Doch da diefes felbfl früher in Möglichkeit als in Wirk- lichkeit Pferd war, fo kommen wir, folange wir in der Kette der natürlichen Zeugungen verweilen, nicht dazu, den eigentlichen Grund der Tatfache, daß Pferde be- flehen, einzufehen. Es kann dies nur gefchehen im Hin- blick auf einen Fall von Synonymie, bei welchem die Wirklichkeit des Pferdes als definitiv früher als die Möglichkeit erfcheint. Und fo ifl es, wenn wir es als Teil des Gedankens der Weltordnung im erflen allbe- wegenden Verflande enthalten denken. Dann zeigt fich, daß, ob auch in der Kette der natürlichen Zeugungen im einzelnen das, was in Möglichkeit ifl, dem, was in Wirklichkeit ifl, doch alles in allem genommen und fchlechthin die Wirklichkeit der Möglichkeit voran- geht. -

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Nodi greifbarer wird die Notwendigkeit diefes Re- kurfes, wenn wir an die Fälle fogenannter fpontaner Zeugung denken. Ariftoteles war der Meinung, daß eine folche bei niederen Pflanzen- und Tierarten noch jet*t in der Erfahrung gegeben fei, und billigt , wir werden darauf zurückkommen, auch die Meinung derer, welche an ein vormaliges fpontanes Entflehen auch der höchften Arten von Organismen glauben. Doch diefe beifeite ge- laffen, find nicht auch die niederflen Organismen in ihrem Aufbau etwas, was allen Vergleichs menfchlicher Kunft- werke fpottet? Etwas Derartiges auf bloßen Zufall, ein blindes Zufammentreffen fleh gegenfeitig hemmender Kräfte zurückzuführen, geht ficher nicht an. Das Gefei} der Synonymie muß voll gewahrt fein. Voll gewahrt erfcheint es aber nur dann, wenn wir in unferen Ge- danken von den nächften wirkenden Urfachen, die fozu- fagen nur Handlangerdienfte tun, auf den Plan in dem Geifle des ewigen Baumeifters , in deffen Auftrag fie arbeiten, zurückblicken.

Diefer Verftand ifl die erfle Urfadie nicht bloß aller Ordnung, fondern auch alles

Seins.

Wir erkennen aber leicht, daß Ariftoteles diefes erfle unbewegte Prinzip der Bewegung auch als die erfle ur- fachlofe Urfache der Subflanzen der bewegten Körper gedacht hat, und daß er es fo denken mußte. Soweit es die korruptiblen Körper anlangt, fleht dies fchon darum außer Zweifel, weil dasfelbe Argument, welches für die lokale Veränderung gilt, (ich auch direkt auf die fub- ftanzielle Umwandlung anwenden läßt. Für die in- korruptiblen (und als folche galten ihm die Himmels- körper) ifl es aber ebenfo klar. Ihre Bewegung foll ja nach Ariftoteles' ausdrücklicher Beflimmung ihnen ebenfo natürlich fein wie den niederen Elementen die Bewegung

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nach ihrem natürlichen Orte v). Und hiemit ift gefagt, daß fie keine andere wirkende Urfache hat als die Ur- fache der Subflanz. Nur das, was einem Körper die Natur des Feuers gibt, foll nach Äriftoteles die wirkende Urfache für feine natürliche Bewegung nach oben fein; und fo kann er denn auch nur das, was einem Himmels- körper feine Natur gibt, als Urfache feiner natürlichen Bewegung betrachten. Wir dürfen uns darum gar nicht mit Schwegler und anderen modernen Interpreten dar- über wundern, wenn Äriftoteles es in unzweideutigftem Worte ausfpricht, daß es, wenn es eine geiflige Subflanz nicht gäbe, keine Himmelskörper geben würde2), wie er denn daraufhin an anderer Stelle 3) auch die korruptiblen Subflanzen mit einbegreifend fagt, wenn es jenes un- bewegte Prinzip nicht gäbe, fo würde gar nichts fein. Es ift alfo auch gänzlich unzuläffig, wenn man die Worte, die Äriftoteles für feinen erften Beweger anwendet: „Das Prinzip und das erfte der Dinge"4), anders als in feinem nächflliegenden Sinne deuten will, indem man fagt, Äriftoteles meine hier nur das Prinzip für die Be- wegung und Ordnung der Dinge und fpreche von einem erften Dinge nur wegen eines Vorranges, den es vor anderen Dingen habe.

Allerdings ift es richtig, daß Äriftoteles die Subftanz der Himmelsfphären ohne Anfang beflehend denkt. Es ifl mir aber fchwer be greif lieh, wie man dies damit un- vereinbar finden kann, daß fie ihrer Subflanz nach ver- urfacht find. Sonfl müßte ja aus demfelben Grunde auch ihre Bewegung nicht verurfacht gedacht werden können; foll doch auch fie nach Ärifloteles ohne Anfang fein. Wenn man alfo auch nicht die eben geführte einfache Erwägung anftellte, wonach den Himmelskörpern ihre natürliche Bewegung nur von dem, was ihnen ihre Natur

') De Coelo I, 2 p. 268 b 14—16.

2) Met. E, 1 p. 1026 a 17.

3) Met. A, 6.

4) Met A, 3 p. 1073 a 23.

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gibt, gegeben werden kann, fo hatte man doch nicht den geringflen Anlaß, wegen des ewigen Beflandes der Himmelsfphären es für ausgefchloffen zu halten, daß fie ihrer Subflanz nach verurfacht feien. Wir erinnern an das früher Gefagte. Man muß fich hüten, den Begriff der wirkenden Urfache, den in moderner Zeit ein Hume mit dem Namen verknüpfte, in Arifloteles hineinzu- tragen 1). Nach Ariftoteles enthält der Begriff der wirkenden Urfache nicht den eines zeitlichen Ante- zedens, und es widerfpricht darum nach ihm nicht, wenn die Wirkung fo lange befleht wie das, was die Wirkung übt. Wo von allen außer der wirkenden Ur- fache erforderlichen Bedingungen keine fehlt, muß nach ihm, fobald die wirkende Urfache eintritt, die Wirkung zugleich eintreten. Wo aber gar keine Mitbedingung verlangt ifl, ift notwendig, fobald das wirkende Prinzip da ifl, alles zum Eintreten der Wirkung Notwendige da; alfo kann fie bei einem ewigen und unveränder- lichen wirkenden Prinzip in folchem Falle nicht anders als anfangslos beflehen. Sie ifl ebenfo von Ewigkeit wie diefes.

Wie wenig tief diejenigen, welche den Verfland, den Arifloteles als erfles Prinzip für die Weltordnung be- zeichnet, nur als Urfache der Bewegung und Ordnung, nicht aber als Urfache des Seins der Subflanzen gelten laffen wollen, in feinen Gedanken eingedrungen find, mag auch aus folgendem erfehen werden. Wenn dem Verfland die Himmelsfphären von ihm unabhängig ge- geben vorliegen, fein Einfluß aber ihnen die Ordnung und alfo doch vor allem die geordnete Lage gibt, fo muffen fie, an und für fich der geordneten Lage ent- behrend, aus einem Zufland der Unordnung in den der Ordnung verfemt werden. Die Himmelsfphären, die regel- mäßig ineinander gefchachtelt find, würden alfo durch ihn aus irgendwelcher anderen, weniger guten Lage in

]) Vgl. oben S. 48.

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diefe Lage gebracht werden. Aber wie könnte dies ge- fchehen? —Jede ift gefchloffen. Wie könnte die kleinere Sphäre, wenn fie draußen ift, ins Innere gelangen? Nie- mals könnte es alfo zu diefer Ordnung kommen, wenn nicht die eine Subftanz innerhalb der anderen verurfacht würde. Ja eine noch einfachere Erwägung genügt. Denn offenbar müßte die Überführung von ungeordneter zu geordneter Lage entweder in einer einzelnen beftimmten Zeit ftattgefunden haben oder von Ewigkeit her und un- aufhörlich flattfmden. Aber im erfteren Falle wäre die Ordnung nicht von Ewigkeit, was der ausdrücklichen Lehre des Ariftoteles widerfpricht. Das andere aber hieße, wie Ariftoteles felbft einmal hervorhebt1), eine greifbare Abfurdität annehmen; müßten doch die Sphären dann fort und fort zugleich in ungeordneter und geord- neter Lage befindlich fein.

So haben wir denn in jenem einheitlichen Verftande, den Ariftoteles als erftes Prinzip für die Bewegung und Ordnung in der Welt erwiefen zu haben glaubt, un- zweifelhaft auch die erfte wirkende Ur fache für die Sub- ftanz aller zu ihr gehörigen Körper und aller zu ihr ge- hörigen Dinge überhaupt zu erkennen, mögen fie nun einen zeitlichen Anfang haben oder nicht3). Im letzteren Falle wird ihnen allerdings von Ariftoteles ein Entftehen (denn diefer Begriff fchließt ein Anfangen ein) abge- fprochen, keineswegs aber darum fchon ein Verurfacht- fein oder ein Sein infolge von Verurfachung , wie man fleh nach Ariftoteles in gewiffen Fällen, und insbefondere fo oft es fleh nicht um ein in Wirklichkeit Seiendes, fondern um eine dazugehörige Form oder eine daran geknüpfte Fähigkeit zu Wirklichem handelt, auszudrücken haben wird.

') Vgl. dazu De Coelo I, 10 p. 280 a 6.

2) In ausführlicherer Erörterung habe ich neuerdings in meiner Schrift „Ariftoteles' Lehre vom Urfprung des menfehlichen Geiftes" (Leipzig, Veit & Co., 1911) II. Teil, IV. die ariftotelifche Gottheit als erfle fchöpferifche Urfache aller Dinge dargetan.

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Wir erkennen alfo in dem Verfland, der die erfle Urfache alles Gefchehens und aller Ordnung in der Welt ifl, ein Wefen, welches die erfle Urfache von allem ifl, was außer ihm wirklich ifl, fo zwar, daß auch gar nichts außer ihm denkbar ift, was wäre, ohne von ihm als erfter Urfache hervorgebracht zu fein. Alle andere pofi- tive Wahrheit ifl von feiner Exiflenz als erfler unmittel- bar notwendiger, pofitiver Wahrheit als Folge unab- trennbar und würde darum von uns, wenn uns fein Wefen anfchaulich, und un] er Verfland zu weitgehendfler Ableitung der in dem Prinzip enthaltenen Konfequenzen befähigt wäre, von vornherein aus ihm erkannt werden können. Doch offenbar ifl von diefen Bedingungen fchon die erfle tatfächlich nicht erfüllt, und der Gedanke an eine folche apriorifche Erkenntnis alles Seienden aus feinem erflen Prinzipe darum vollfländig für uns aus- gefchloffen.

Er ifl, indem er (ich felbft fdiaut, allweife und vollkommen feiig, und fein Wefen ifl feine Weisheit und feine Weisheit feine

Seligkeit.

Aber was für uns unmöglich ifl, das, glaubt Arifloteles, fei in vollkommenfler Weife wirklich in bezug auf den welturfächlichen Verfland felbft; fein Denken laffe (ich nicht anders verflehen. Denn einerfeits muß nach ihm der Verfland ein Objekt haben, das in Wirklichkeit ifl. Nur Wirkliches ifl durch fich erkennbar, während das nicht Wirk- liche nur vermöge eines anderen erkannt werden kann. Und da nun der welturfächliche Verfland allem anderen Wirklichen gegenüber als das der Natur nach Frühere erfdieint, fo kann auch nichts anderes als er felbfl fein Objekt fein. Nur er kann unmittelbar von fich erkannt werden. Ebenfo klar aber ifl, daß er nicht bloß fich,

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fondern auch das Weltall aufs vollkommenfle erkennen muß. Könnte doch fonfl nicht fo, wie es verlangt ifl, die ganze Ordnung der Welt auf fein Denken als erfles be- flimmendes Prinzip zurückgeführt werden. Somit bleibt nichts übrig, als anzunehmen, daß er, indem er fleh un- mittelbar, alles andere aus (ich als feinem erften Grunde erkenne. Und darum bezeichnet ihn Äriftoteles als weife im vollendeten Sinne des Wortes; denn die Weisheit befleht in der Erkenntnis des erften Prinzips und der von ihm bedingten fekundären Wahrheiten aus ihm, als ihrem erften Grunde. Sie ifl darum, wie Ärifloteles in der Ethik fagt, voDc; xal iTuaxVj'r/;.

Da es (ich im Falle des welturfächlichen Verflandes um die Erkenntnis eines Prinzips handelt, welches das einzige, erfle Prinzip aller Dinge ifl, fo bedeutet feine Weisheit eine Allwiffenheit im höchflen und vollendeten Sinne des Wortes.

Wenn wir hören, daß das Erkennen des erflen Ver- flandes Weisheit fei, und daß die Weisheit mit der Er- kenntnis unmittelbarer Wahrheit auch die von mittel- barer Wahrheit verbinde, fo dürfen wir aber darum nicht glauben, daß bei ihm die letztere wenigflens eine erworbene Erkenntnis fei. Sie ifl ihm mit der Erkenntnis der unmittelbaren Wahrheit anfangslos und fchlechthin notwendig gegeben. Der welturfächliche Verfland darf ja nicht als ein Denkvermögen gedacht werden, das Ge- danken in fich aufnimmt. Er ifl vielmehr eine reine Wirk- lichkeit des Denkens. Und diefer Umfland zeigt noch deut- licher den gewaltigen Äbfland zwifchen unferem Denken, felbfl in feinen höchflen Äugenblicken, und dem jenes erflen Prinzipes.

Die Äugenblicke, in welchen wir zu unferen höchflen Erkenntniffen uns erheben, find feiige Augenblicke. Und folchen feiigen Glückes nicht bloß für kurze Zeit, fondern ewig teilhafl zu fein, das erfcheint als etwas Bewunderns- wertes; noch bewundernswerter aber, eines unvergleich- lich vollkommeneren Erkennens in alle Ewigkeit fich zu

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erfreuen. Erkennen aber ift Leben, und fo haben wir denn dem erflen Prinzip ein ewig feiiges Leben zuzu- fchreiben, ja zu fagen, daß es in diefem fdüechthin not- wendigen, ewig feiigen Leben beftehe.

Von der Luft, die unfer Erkennen, wenn es voll- kommen ift, begleitet, lehrt Ariftoteles in der Ethik1), daß fie nicht felbfl ein Denken fei, vielmehr, wie immer innig mit dem Denken verbunden, eine pfychifche Tätig- keit von anderer Gattung. Sie ift offenbar analog zu denken der Luft auf finnlichem Gebiete, welche Arifto- teles mit anderen Affekten zu der Klaffe zählt, die er „Begehren" (efpefrc) nennt, und wir haben fo hier einen deutlichen (zudem nicht einmal alleinflehenden) Beweis für das, was manche Interpreten noch heute leugnen, daß nämlich Ariftoteles auch auf dem Gebiete des in- tellektiven Seelenlebens neben der Denktätigkeit eine Gemütstätigkeit angenommen hat. Indem er nun aber in Analogie zu unferem Verftande von einem erften ur- fächlichen Verftand fpricht und auch ihm fowohl Denken als eine mit dem Denken verbundene Seligkeit zufchreibt, identifiziert er beide, wie er bei ihm ja auch Subflanz und Denken, die bei uns nicht dasfelbe find, identifiziert. Dies wäre ein Widerfpruch , wenn die Begriffe des Denkens und der Gemütstätigkeit in völlig gleichem Sinn feflgehalten würden, und nicht vielmehr etwas bloß Ana- loges, das in überragender Weife ihre Vollkommenheit einfchließt, ihnen fubflituiert würde. Selbft von dem Begriffe der Subflanz muß gefagt werden, daß er nicht im gleichen, fondern nur in analogem Sinn auf das erfte Prinzip übertragen werden dürfe; fonfl müßten wir ja zu ihm eine fpezififche Differenz hinzutretend denken, während Ariftoteles ausdrücklich leugnet, daß der Be- griff jenes welturfächlichen Wefens aus Gattung und Differenz zufammengefe^t fei. Er denkt es alfo für uns vollftändig unanfchaulich und nur durch negative und

>) Eth. Nie. X, 5 p. 1175 b 34.

6 Brentano, Arifloteles. 81

analoge Beflimmungen zu charakterifieren. Theophrafl verweilt in dem uns erhaltenen metaphyfifchen Frag- ment eingehend bei diefer Weife der Benennung in bloß analogem Sinne. So dürfen wir denn nicht weiter daran Anfloß nehmen, wenn Arifloteles, obwohl er dem erflen Prinzip Subflanz und Denken und Luft und, infofern es denkt, unmittelbare Erkenntnis und Wiffen zufdireibt, doch zugleich von ihm als etwas Einfachem, einer völlig einheitlichen Tätigkeit fpricht. Es befleht eine Wechfel- durchdringung aller ihm zugefchriebenen Attribute. Sein Erkennen der Welt gehört notwendig zu feinem Er- kennen feiner felbft, ja zu feinem Wefen felbfl und wird erkannt, indem diefes erkannt wird. Und fo ifl, wenn die Welt nicht als Objekt ihm vorliegt, doch fein apriorifches Erkennen der Welt fo gewiß als Objekt für ihn gegeben, als dies von feinem Wefen gefagt werden muß.

Vielleicht ift es zum Verfländnis der Widerfpruchs- lofigkeit folcher Wechfeldurchdringung nicht ganz un- dienlich, wenn ich auf das hinweife, was uns felbfl in gewiffen Fällen innerer Wahrnehmung gegeben ifl. Wir nehmen wahr, daß uns etwas fchmerzt, und es würde uns nicht fchmerzen, wenn wir den Schmerz nicht wahr- nähmen; aber umgekehrt würden wir ihn natürlich auch nicht wahrnehmen, wenn er nicht wäre. Ja, man kann fagen, daß es uns fchmerzt, daß wir den Schmerz wahr- nehmen, wie daß wir wahrnehmen, daß das Wahr- genommene uns fchmerzt. Das Verhältnis ifl alfo hier nicht fo, wie wenn wir erkennen, daß jemand geflorben ifl, und über feinen Tod trauern, wo zur Erkenntnis des Ereigniffes das darauf bezügliche Leid als etwas Zweites hinzukommt, das bei gleichmäßig gegebener Erkenntnis ohne Widerfpruch entfallen könnte. Wenn Arifloteles die an ein Erkennen geknüpfte Luft bei uns als eine zweite hinzukommende Tätigkeit anderer Art betrachtet wiffen wollte, fo ifl es doch gewiß nicht anzunehmen, daß er nicht wenigflens das mit der Lufl verbundene

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Erkennen der Lufl mit ihr felbfl in folcher Wechfel- durdidringung und darum als einheitliche Tätigkeit mit ihr gefaßt habe.

Er ift die Liebe alles Guten und der allmächtige Wille, der das Befte will.

Diefe Erörterung bereitet uns für das Verfländnis auch noch weiterer Momente der ariftotelifchen Gottes- lehre vor. Wie nämlich Arifloteles im göttlichen Ver- bände mit der Erkenntnis der erften, unmittelbar not- wendigen Wahrheit auch die aller mittelbaren verbunden denkt, fo auch mit der Liebe, die das erfle Prinzip zu (ich felbft hat, die Liebe zu allem anderen Guten. Und diefe muß geradefo jedes einzelne Gute in der Welt berühren, wie die Erkenntnis jedes einzelne Seiende, und muß fich geradefo zu der Liebe des erften Prinzips zu fich felbfl als Mittelbares zu Unmittelbarem verhalten, wie die Erkenntnis aller fekundären Wahrheiten zur Einficht der erften und unmittelbaren Wahrheit. Man darf dies nicht fo verftehen, als werde etwas von dem, was das erfte Prinzip will und wählt, gewollt und ge- wählt um eines Vorteils willen, der ihm felbfl erwüchfe, oder gar damit es felbfl erfl wirklich werde. Das eine wie andere wäre abfurd. Aber dennoch wird, was Gott außer fich felbfl Hebt, von ihm nur geliebt nach Maß- gabe feiner Ähnlichkeit mit ihm. Das ihm Ähnlichere wird mehr l), das ihm Ähnlichfte am meiflen geliebt und darum allem anderen vorgezogen.

Es erfcheint dies nicht bloß im Einklang mit feinem Verfahren auf dem Gebiet des Denkens, fondern war auch notwendig verlangt, wenn fein welturfächlicher Ver- fland fich irgendwie als Verfland wirkfam erweifen follte. Arifloteles hob ja, wie wir uns erinnern, da, wo er den Fall des Wirkens durch Natur dem des Wirkens durch

!) Vgl. Eth. Nie. X, 9.

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Verftand gegenüberflellte, als für den letjteren charakte- rifHfdi hervor, daß dasfelbe Denken das Prinzip ent- gegengefet$ten Wirkens werden könne. Vermöge des- felben Begriffs der Gefundheit mag ein Arzt Gefundheit geben und Gefundheit rauben, während bei der natür- lichen Erzeugung das erzeugende Pferd ftets nur die Natur des Pferdes gibt, nie fie raubt. Ob beim Wirken durch Verftand das eine oder andere der Fall fei, hängt von dem Willen des Denkenden ab. Und fo wird es denn ohne ein Wollen in dem einen oder anderen Sinne niemals zu dem Wirken eines Verbandes als Verfland kommen können. Es war alfo unabweislich geboten, in Analogie zu unferem Wollen auch jenem erflen denkenden Prinzip ein Wollen und Wählen in bezug auf das, was durch es gewirkt werden füllte, zuzufchreiben und zu fagen, es muffe nicht bloß fleh felbfl lieben und diefe Liebe in ewiger Freude an (ich felbfl betätigen, fondern es muffe auch, wie mit der Erkenntnis des eigenen Seins die Erkenntnis aller anderen Wahrheit, fo mit der Liebe feiner felbfl die richtige Wertung von allem anderen, worauf fein Denken fleh bezieht, verbinden; wobei dann eines vor dem anderen bevorzugt, und das, was als das Vorzüglichfle erfcheint, gewollt wird.

Wie es bei uns ein richtiges und unrichtiges Denken gibt, fo auch ein richtiges und unrichtiges Lieben und Wollen. Bei jenem erflen Verfland ifl aber, wie das Denken ohne Irrtum, fo auch das Lieben und Wollen ohne Fehl; hängt doch die Richtigkeit auf dem Gebiet der Gemütstätigkeit mit der auf dem Gebiet des Denkens eng zufammen1). Dem irrtumslos Ällwiff enden kann nichts anderes gut dünken, als was wirklich gut ifl. Gut- dünken und Begehren entfprechen aber einander, möge nun diefes für jenes oder jenes für diefes maßgebend fein. Und fo kann es denn nicht anders fein, als daß, wie die Liebe des erflen Verflandes zu fich felbfl, auch

*) Eth. Nie VU, 5. 84

feine Liebe zu allem anderen, was er liebt, auf ein wirk- liches Gut gerichtet ifl, daß er durchwegs das Beffere vor dem Minderguten bevorzugt und in jeder Beziehung mit feinem Willen für das Befle entfchieden ifl. Das ifl, was wir von Theophraft in klaren Worten ausgefprochen finden, wenn er den erflen Verfland bezeichnet als „das Erfle, Göttlichfle, das alle beflen Dinge will" (ib irpco-ov 02toTc<Tov -«Vra -A o.[Az~n [jouXoaövov). Und bei der Be- kämpfung einer Lehre der zeitgenöffifchen Platoniker weifl er eine Meinung zurück, weil aus ihr etwas folge, was wohl ficher nicht der weltordnende Verfland „vor- gezogen haben würde" (ttposi'Xoito). Das allein ifl es ja auch, woraus fich die, wie wir fehen werden, für Äriflo- teles unerfchütterlich feflflehende Überzeugung erklärt, daß die Weltordnung tadellos vollkommen ifl, und jede andere ihr an Vollkommenheit nachflehen würde. Auch zeigt fich, warum Arifloteles in der Topik, wo er dar- legt, daß nicht die Macht Böfes zu tun, fondern nur das wirkliche Schlechthandeln etwas Böfes fei, dies mit dem Hinweis, nicht bloß auf den tugendhaften menfchlichen Machthaber, fondern auch auf die Gottheit begründet. Die Macht, das Böfe zu tun, fagt er, habe auch der Gott und der Tugendhafte, aber fie feien nicht böfe. Um böfe zu fein, müßten fie nicht bloß die Macht, fondern den Willen zum Böfen haben. Denn, wenn man einen böfe nenne, fo beziehe fich das auf fein Vorziehen. Das entfpricht ganz dem, was er von jedem Wirken eines Verflandes fagt. Derfelbe Gedanke kann Prinzip für Entgegengefetjtes fein, und nur von dem Wollen hängt es ab, ob das eine oder andere gefchehe. Die heutigen Interpreten des Arifloteles fcheuen fich nicht, hier, wie an vielen anderen Stellen anzunehmen, daß Arifloteles fage, was er felbfl nicht glaube, da ja feine Lehre von der fehle chthinigen Notwendigkeit des erflen Prinzipes damit in Widerfpruch flehe. Doch Leibniz be- hauptet ganz fo wie Arifloteles, daß die Gottheit fchlecht- hin notwendig fei, und lehrt doch auch ganz fo, wie

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Arifloteles es hier tut, daß Gott nicht darum, weil es nicht in feiner Macht und Freiheit flehe, fondern nur wegen feiner vollendeten Güte nichts Böfes tue. Der Umfland, daß diefe Philofophen beide aus ihrer Gottes- lehre die Lehre von einer beflmöglidien Welt ableiten, hätte, follte man meinen, für das Verfländnis ihrer UbereinfKmmung auch noch in anderen Punkten vor- bereiten und davor fchü^en muffen, bei dem einen zu behaupten, er glaube nicht, was er fagt, während von dem anderen, der dasfelbe fagt, niemand den guten Glauben in Abrede [teilt. Diefer wäre, wenn bei dem einen, offenbar auch bei dem anderen und aus dem gleichen Grunde, unmöglich. Er zeigt fich aber als nicht unmöglich, fobald man nur die wahre Bedeutung ihrer Ausfprüche fich klar macht.

Er ift unendlich gut und als Gutes Prinzip.

Als fehle chthin notwendig , alle Wahrheit in feiner Erkenntnis und alles Gute in feiner Liebe, alles außer ihm denkbare Reale in feiner Macht umfaffend und im Bewußtfein feiner felbft befeligt, erfcheint das erfle Prinzip aller Dinge nun erft recht als die unendliche Vollkommenheit. Und wenn wir darum fagten, es werte alles nach dem Maß feiner Güte, fo bedeutet das nichts anderes, als es werte alles nach dem Maß der Ähn- lichkeit mit ihm felbfl, dem Inbegriff aller Vollkommen- heit. Und fo erfcheint denn die Liebe feiner felbfl bei ihm als maßgebend für die Liebe von allem anderen, was es liebt, wie die Erkenntnis feiner felbfl als Grund der Erkenntnis aller mittelbaren Wahrheit. Und wegen diefer Beziehung alles feines Wollens zur Liebe feiner felbfl als des unendlich Guten erweifl es fich, daß es vermöge feiner Güte alles bewegt; ein Ge- danke, dem Arifloteles in den Worten Ausdruck gibt: „Es ift fchlechthin notwendig, und infofern es notwendig ift , gut und fo Prinzip." Es ift die Urfache von allem

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außer ihm, des Unbewegten wie des Bewegten, des Ewigen wie deffen, was Anfang und Ende hat, im Sinne des Zweckes, d. h. im Sinne des Guten, um deswillen alles ift.

Doch hiegegen könnte ein Einwand erhoben werden, und Arifloteles verfäumt nicht, ihn zu berückfichtigen. Wie kann in einem fdilechthin Unveränderlichen der Grund Hegen, weswegen etwas gefdiieht? Wie kann um feinetwillen etwas erflrebt werden? Das völlig Un- veränderliche kann nichts gewinnen. Somit fcheint auch der Grund, weswegen etwas gefdiieht, nicht in ihm liegen zu können. Arifloteles erledigt das Bedenken, wie fo häufig, in folcher Kürze, daß er unverftändlich zu werden droht. Es gebe, fagt er, ein Weswegen in zweifachem Sinn, im Sinne deffen, wofür und im Sinne deffen, wo- nach begehrt wird. Im erfteren Sinn könne ein Wes- wegen in dem völlig Unveränderlichen nicht fein. Wenn etwas ein für allemal ift, wie es ift, kann ihm weder etwas gegeben noch genommen werden. Wohl aber könne ein Weswegen im zweiten Sinne, im Sinne deffen, wonach begehrt wird, in ihm fein.

Suchen wir uns die Anwendung , die er von diefer Unterfcheidung machen will, noch etwas mehr zu ver- deutlichen. Zunächfl konnte man meinen, es genüge dazu der Hinweis auf einen Menfchen, der in felbfllofer Liebe darauf ausgeht, einem Freunde eine Wohltat zu er- weifen. In diefem Fall ift der, für den er tätig ift, der Freund außer ihm; in dem Tätigen felbft aber der Ge- danke an das ihm zu bereitende Glück, und diefer wird als Ziel, deffen Erreichung erflrebt wird, beflimmend. Auf das, was in dem erflen unbeweglichen Weltprinzip fich findet, angewandt, würden wir hienach die Welt- ördnung , infofern fie in dem unendlich vollkommenen Geifle vorbedacht befleht, als Zweckurfache für ihre Ver- wirklichung zu denken haben. Doch wenn Arifloteles in dem erflen Verfland den legten Grund der Welt, der als Gutes Urfache für fie werde, gegeben denkt, fo fcheint

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er dabei nicht allein an die Güte der Weltordnung, fondern auch an das noch unvergleichlich größere Gut, als welches (ich das erfte Reale felbffc darflellt, zu denken. Als gedacht befleht ja nicht bloß das Glück des Freundes, nach welchem geflrebt wird, fondern auch der Freund, für welchen es erflrebt wird, in dem, welcher felbfllos nach feinem Glücke verlangt. Und fo hätten wir in diefer Beziehung keinen Unterfchied zwifchen dem Weshalb im Sinne des Wofür und dem Weshalb im Sinne des Wonach zu machen. Damit diefer hervor- trete, muffen wir alfo zeigen, wie etwas unveränder- lich real Gegebenes und nicht bloß etwas, was in ihm als gedacht befleht, aber als veränderlich gedacht wird, als das betrachtet werden kann, weshalb etwas ifl oder gefchieht; nicht zwar im Sinne deffen, wofür er- flrebt wird, wohl aber im Sinne deffen, wonach ge- flrebt wird.

Zunächfl fcheint auch dies ausgefchloffen; ifl doch das völlig Unveränderliche und ewig Notwendige kein durd. Handlung oder Kunfltätigkeit zu erreichendes Gut. Dennoch kann es gefchehen, daß in der Liebe zu etwas, was nicht verwirklicht werden kann, der leijte Grund für ein Handeln liegt. Ärifloteles in feiner Ethik fpricht von der Glückfeligkeit als etwas, was für jedermann Ziel des Strebens fei; wenn aber für jedermann, dann offenbar auch für folche, welchen es unmöglich ifl, ihrer teilhafl zu werden. Denn nicht in jeder Lage (das gibt Ärifloteles im Gegenfat> zu den Stoikern zu) können wir glückfelige Menfchen werden. Es dünkt ihm lächerlich, daß ein tugendhafter Mann mitten in den größten Qualen für glückfelig gelten folle. Doch vielleicht fleht fich ein folcher außerflande, fleh ihnen zu entziehen. Und wenn nun auch für ihn gilt, daß die Glückfeligkeit als letztes Ziel des Strebens ihm vorfchwebe, fo offenbar darum, weil er einen ihr möglichfl angenäherten Zufland zu er- reichen fucht. Es bleibt ganz richtig, daß nicht die Liebe zu dem Zufland, den er zu erreichen fucht, fondern die

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Liebe zu der als unerreichbar gedachten Glückfeligkeit das letjte Motiv feiner Handlung ift. Wenn nun dies, fo kann offenbar dasfelbe gelten für ein Gut, deffen Ver- wirklichung darum ausgefchloffen ift, weil es als fchlecht- hin notwendig von Ewigkeit wirklich gegeben ift. Denn um diefes Guten willen wird alles ihm mehr oder minder Ähnliche nach dem Maß diefer Ähnlichkeit mehr oder minder gut gefunden und geliebt, und das ihm Ähnlichfle allem minder Ähnlichen vorgezogen werden können. Und wenn dies, fo wird die Folge fein, daß ein folches, wenn es (ich erreichbar zeigt, auch zur Wirklichkeit geführt wird, und daß dabei doch nicht im legten Grunde es felbft, fondern etwas von Ewigkeit und notwendig Wirk- liches als geliebt Urfadie des Werkes wird. Die eben von uns geführte Erörterung über die Liebe Gottes zu fleh felbffc und zu allem anderen Guten nach dem Maß feiner Ähnlichkeit mit ihm enthebt uns der Mühe, dies noch weiter auszuführen.

Die Gottheit.

Welches alfo ift das Ergebnis der ganzen Erörterung? Wir fehen, daß Ariftoteles dazu gelangt, ein fchlechthin vollkommenes erftes Prinzip alles Seienden als unzweifel- haft erwiefen zu betrachten. Es ift dies ein Denken, welches Denken eines Denkens ift; denn es ift Gegen- ftand feiner felbft. Es ift aber, indem es fich felbffc er- kennt, allerkennend; denn diefes Denken gleicht nicht dem eines befchränkten Kopfes, der, im Befit^e des Prin- zipes, nichts von dem ahnt, was in notwendiger Folge daran geknüpft ift, fondern dem eines Weifen im voll- endeten Sinn des Wortes. Ariftoteles nennt es vo^aso»? votjOic, fagt aber anderwärts, daß diefe vor,cj'.; uocpia fei, fo daß wir die erfte Beftimmung durch crocpia« voTjai« zu erklären ein Recht haben. Es gilt ihm als Denken nicht bloß, fondern auch als Freude. Und es gilt ihm als einziger Gegenftand feines Denkens und feiner Freude

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und doch zugleich als allwiffend und mit feiner Liebe alles Gute umfaffend, alles in (ich Beffere dem in fidi minder Guten vorziehend, alles Nütjlichere vor dem weniger Nützlichen wählend, in feinem Willen für das befte aller denkbaren Werke (ich entfcheidend ; wobei trotz aller Fülle der Erkenntnis und Liebe doch alles eine einzige einheitliche Tätigkeit ifl. Es iffc fchlechthin not- wendig, nicht fo, wie man etwas, weil es zu etwas anderem erforderlich ifl, oder gar etwas Erzwungenes notwendig nennt; vielmehr ifl feine fehle chthinige Not- wendigkeit zugleich die vollendetfle Freiheit. Und fo, wie in fleh völlig ungehemmt und frei, ifl es auch in feinem Wollen allmächtig. Für all fein Wirken ifl aber im legten Grunde feine Liebe zu fich felbfl als dem un- endlich vollkommenen Gut beflimmend. Und fo ifl es denn der Inbegriff alles Guten und als Gutes erfles Prinzip aller Dinge, ja alles Seienden im eigentlichen wie uneigentlichen Sinne. Daß feine Krafl unendlich ifl, beweifl, daß es nicht körperlich ifl, und diefe wie auch andere negative Beflimmungen, z. B. Unveränderlichkeit, Anfangslofigkeit, kommen ihm im eigentlichen Sinne zu. Dagegen kann keiner von allen Namen, mit welchen wir es pofitiv benennen, felbfl nicht der der Subflanz, im eigentlichen, vielmehr nur im analogen Sinne darauf an- gewandt werden; denn es ifl für unfere Anfchauung völlig tranfzendent, und keiner unferer Begriffe, die ja alle aus Anfchauungen flammen, kann es in fich be- greifen. Und darauf find die fcheinbaren Widerfprüche in den Benennungen, die wir ihm geben, zurückzuführen, die, fo gewiß fie, wenn man die Worte im eigentlichen Sinne nähme, vorhanden wären, beim analogen Gebrauch nicht mehr ebenfo beflehen. Diefes erfle Prinzip ifl es, das Arifloteles allein des Namens der Gottheit würdigt, wenn er diefen in feiner erhabenflen Bedeutung ge- braucht.

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Die Gottheit des Ariftoteles und die plato- nifche Idee des Guten. Das „Begehren" der

Materie.

Die Gottheit erfcheint nach Ärifloteles gewiß als ein idealifches Wefen, aber (Ärifloteles verwahrt (ich aus- drücklich dagegen) darf nicht dem Gegenfland des all- gemeinen Begriffs des Guten gleichgefetjt werden. Diefer findet (ich in jedem Guten verwirklicht, während der der Gottheit nur Einem zukommen kann, und fein Gegen- fland befleht für fich, während folches bei dem Begriff des Guten unmöglich ifl. Gäbe es aber fogar ein für fich beflehendes Gutes im allgemeinen, fo würde es darum nicht mehr gut fein, als ein einzelnes wahrhaft Gutes; wie auch ein Kreis im allgemeinen, wenn er an fich beflände, nicht runder wäre als jeder einzelne wahre Kreis, der in beflimmter Größe hier oder dort fich fände. Und wenn man auch annähme, daß jener ewig und notwendig, die anderen aber zeitlich und vergäng- lich wären, fo würde ihn dies nicht runder machen als fie \).

So protefliert denn Ärifloteles gegen eine Identifikation feiner Gottheit, die als Gutes Urfache alles Seienden wird, mit der platonifchen Idee des Guten -).

Diefe Verwahrung konnte wohl nicht überflüffig er- fcheinen, da ja auch Piaton feine Idee des Guten als das denkbar Befle und als dasjenige galt, wodurch alles andere durch Verähnlichung urfachlich bedingt ifl. Und Ärifloteles begnügt fich nicht damit zu zeigen, daß es einen folchen allgemeinen Begriff als Ding für fich nicht gibt, und wenn es ihn gäbe, kein Vorzug ihm zukommen würde, fondern betont zugleich, daß er auch darum nicht als erfle Urfache zur Erklärung des Seienden würde

]) Vgl. Eth. Nie. I, 4. {

-) Vgl. zum Folgenden Met. A, 6.

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dienen können, weil ihm jede wirkende Kraft und Be- tätigung abginge ; denn nur das Einzelne wirkt, wie auch nur das Einzelne gewirkt wird. Es ifl darum erflaunlich, wenn neuere Interpreten der ariftotelifchen Gotteslehre diefelbe fo darflellen, als ob nicht die Liebe der Gottheit zu fich felbfl und ihr allmächtiger Wille es feien, welche die Verähnlichung der Dinge mit ihr verurfachen, fondern als ob nach Arifloteles eine außer ihr gegebene bloße Fähigkeit zum Sein aus Liebe zur Gottheit fpontan (ich ihr zu verähnlichen flrebe und durch diefes Streben zum wirklichen Sein gelange. Danach würde ja die Gottheit in der Tat ganz die Rolle einer platonifchen Idealurfache fpielen. Sie wäre etwas Gutes, welchem die der Mög- lichkeit nach ihm ähnlichen Dinge durch Nachahmung (ich annäherten. Arifloteles fagt ausdrücklich, der Ausdruck „Teilnehmen", den Piaton an die Stelle des pythago- reifchen „Nachahmen" gefetjt, habe dem Sinne nach nichts geändert. So fcheint denn heutzutage der Proteft des Arifloteles gegen die Verwechslung des von ihm gelehrten göttlichen Einfluffes mit dem, den Piaton feinen Ideen zufchrieb, ganz befonders als Verdammungsurteil über diefe modernen Mißdeutungen wertvoll.

Doch unfere modernen Interpreten werden erwidern, ich verkenne eine Differenz, die zwifchen der von ihnen der ariflotelifchen Gottheit zugefchriebenen Urfächlichkeit und der der pythagoreifchen Zahlen und der platonifchen Ideen beflehe; denn wenn die Pythagoreer von einer jxiti^aic und Piaton von einer fil&ects gefprochen habe, fo ließen fie Arifloteles lehren, daß die Dinge infolge einer opsci?, eines Begehrens, das fie nach der Gottheit trügen, fich ihr verähnlichten. Aber diefelben fehen nicht, daß hier wieder nur ein unklarer Ausdruck an die Stelle eines anderen unklaren gefegt wird, wenn man nicht noch Schlimmeres fagen foll. Denn wenn man meint, die körperliche Materie gelange zur Wirklichkeit vermöge eines eigentlichen Begehrens nach der Gottheit, fo muß man annehmen, daß fie vor allem die Gottheit

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denke und, indem fie fie denke, gut finde, ihr ähnlich zu fein, und fo nach ihr begehre ; denn in diefer Weife [teilt jich nach Ariftoteles jeder Fall des Begehrens im wahren Sinne des Wortes dar. Man braucht hieran nur zu er- innern, um erkennen zu laffen, wie unmöglich die ganze Auslegung iffc. Soll doch nach Ariftoteles der erften Materie gar kein Denken, nicht einmal das von fen- fiblen Dingen, gefchweige denn eines von einem in- telligiblen Dinge, wie die Gottheit es ift, zukommen. Ja, ausdrücklich fpricht er jedes Begehren, im eigent- lichen Sinne des Wortes, nicht bloß der ganzen leb- lofen Welt, fondern auch noch der Pflanzenwelt ab, um es erft auf dem Gebiet des tierifchen Lebens in Ab- hängigkeit von der Empfindung auftreten zu laffen.

Wenn es nun klar ift, daß Ariftoteles, wenn er in der Phyfik von einem Begehren der Materie fpricht und auch anderwärts folchem, was die Gottheit nicht zu denken vermag , ein Begehren nach ihr und nach einer Verähnlichung mit ihr zufchreibt, kein Begehren im eigentlichen Sinn gemeint haben kann, fo können wir diefem Worte, wenn wir nicht zu etwas ganz fo Sinn- lofem wie bei den Ausdrücken [U^ais und ;isih;-.c gelangen wollen, nur jenen metaphorifchen Sinn geben, von welchem Theophraft in feinem fchon mehrfach angezogenen meta- phyfifchen Fragment fpricht. In diefem Sinn fprechen auch wir noch oft von einem Wollen und Streben in folchem, was von einem Verftande zu einem Ziele ge- ordnet iffc. Statt zu fagen, der Schübe, der einen Pfeil abfchoß, habe das Streben gehabt, die Scheibe zu treffen, fagen wir, der von ihm abgefchoffene Pfeil ftrebe nach diefem Ziel oder gehe darauf aus, die Scheibe zu treffen. Und ftatt zu fagen, der Wagner habe, um die Reibung der Räder zu vermindern, fie mit einer gewiffen fetten Maffe beftrichen, fagen wir, die an ihnen angebrachte Wagenfehmiere fuche die Reibung zu verhindern. Diefer metaphorifche Gebrauch weift alfo deutlich auf etwas anderes hin, dem im eigentlichen Sinne das Streben zu-

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kommt, und dies kann in dem Fall, wo es fleh um ein Streben nach Verähnlidiung mit der Gottheit handelt, nach unferer Darflellung der ariflotelifchen Lehre nur der Wille des die ganze Natur ordnenden Gottes fein. Bei jenen modernen Interpreten aber läßt fleh weder diefer noch etwas anderes als das im eigentlichen Sinn Begehrende angeben, und fo erfcheint denn, wie gefagt, das ganze Gerede von der ope£t« fo nichtsfagend wie das von der pi&s&c und uiV^atc, das Arifloteles aus diefem Grunde verurteilt.

Die Gottheit des Arifloteles und der anaxagoreifdie N&vq.

Arifloteles hat nicht bloß auf die platonifche Ideen- lehre, fondern auch auf die Lehre von dem Verfland, den Anaxagoras als weltbildendes Prinzip annahm, einen kritifchen Seitenblick geworfen1). Und auch diefer ift höchfl bedeutfam für die Beurteilung der Richtigkeit der in der modernen Zeit vorherrfchenden Auslegung der ariflotelifchen Gotteslehre; und zwar fowohl durch das, was Arifloteles hier tadelt, als durch das, was er un- beanflandet läßt.

Nach unferen modernen Interpreten foll das Denken des ariflotelifchen Gottes ganz auf fleh befchränkt fein; von nichts außer ihm, weder von etwas, was ift, noch von etwas, was war oder fein wird, foll er auch nur das mindefte wiffen. Dies würde ihn zum anaxagoreifchen vofo in den flärkflen Gegenfatj bringen ; hatte doch Anaxagoras gefagt: alles, was war, ifl und fein wird, erkannte der Verfland. Hiegegen vor allem, follte man alfo meinen, muffe die ariflotelifche Kritik fich kehren. Aber flehe da, Arifloteles beanflandet diefen Punkt mit keinem Wort.

') Met A, 10. 94

Und wenn diefes Schweigen, fobald man fleh auf den Standpunkt unferer modernen Interpreten (teilt, höchft feltfam erfcheinen muß, fo fchier noch mehr ein Vorwurf, den Arifloteles dem Anaxagoras tat- fächlich macht. Er tadelt es nämlich, daß Anaxagoras nicht, ähnlich wie Empedokles feiner Freundfchafl den Streit, feinem voos ein anderes Prinzip entgegengeflellt hat. Gewiß muß das zunächfl fehr befremdlich er- fcheinen, da ja auch Arifloteles kein anderes Prinzip feinem vou? entgegenftellt, ja die Exiftenz eines folchen wiederholt und auf das entfchiedenfle leugnet. Da fcheinen wir denn einen herrlichen Beleg für jene ihm zugefchriebene Unart zu haben, die anderen etwas zum Vorwurf macht, wovon er doch felbfl gerade fo wie fie überzeugt ifl. Und nun gar hier dicht nebeneinander die Indulgenz gegenüber dem, was er nach den neuen Interpreten wirklich für einen Fehler halten würde und die energifche Rüge für das, was er ganz ebenfo wie Anaxagoras für richtig hält! Ein groteskeres Schaufpiel könnte man fleh gar nicht denken.

Doch alles Wunderfame verfchwindet wie mit einem Schlage, wenn man nicht bloß in einem, fondern in zwei fehr wichtigen Punkten die jetjt übliche Auffaffung der ariflotelifchen Gotteslehre nach Maßgabe der von uns gegebenen Darlegung berichtigt. Wir haben nämlich nicht bloß gezeigt, daß man mit Unrecht dem ariflo- telifchen Gott die Allwiffenheit abfpricht, fondern auch daß man fehlt, wenn man ihn nicht als einziges erfles Prinzip der Welt, vielmehr nur als Beweger und Ordner für unabhängig von ihm gegebene Stoffe betrachtet. So gab man feinem vous hier eine Ähnlichkeit mit dem anaxagoreifchen , die er nicht hat, wie man dort eine Ähnlichkeit, die er hat, ihm raubte, und alterierte die Lehre des Arifloteles von den erflen Prinzipien der Dinge in der Art, daß das Bedürfnis nach einem dem vous ent- gegengefe^ten wirkenden Prinzip für ihn felbfl unab- weislich zutage treten würde. Wem etwas zur Ordnung

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vorliegt, dem kann es nicht anders als in einer gewiffen anderen Pofition als jener, die er gibt, vorliegen ; wie wir denn fagten, wenn der ariflotelifche Gott die Himmels- fphären nur ineinander fchachtelte, fo müßten fie unab- hängig von ihm irgendwelche andere Pofition gehabt haben, aus der fie in die dem Guten mehr entfprediende verfemt werden. Info weit hatte auch Anaxagoras richtig geurteilt und für die unendlich kleinen Körperchen, die er den Allfamen nannte, die vollkommenfle Mifchung als Ausgangspunkt der weltordnenden Tätigkeit des Ver- bandes angenommen. Aber warum waren fie in diefer Mifchung, da fie doch auch getrennt fein können? Hier fehlt bei Anaxagoras jeder erklärende Grund, und fo erscheint denn Empedokles mit feiner alles einigenden Freundfchafl im Vorteil. Und wenn Arifloteles für feine Lehre nicht ebenfo das Fehlen eines Gegenfa^es zum Verflande als einen Vorwurf fürchtet, fo eben nur, weil feinem Verftand kein ungeordneter Stoff zum Ordnen vorliegt, vielmehr er felbfl, wie wir zeigten, die einzige erfle Urfache der Welt, wie in bezug auf Be- wegung und Ordnung, fo in bezug auf das fubflanzielle Sein ift.

Auch ein anderer Vorwurf, den Ariftoteles der anaxa- goreifchen Gotteslehre macht, der nämlich, daß fie das weltordnende Prinzip zunächft feiner Natur nach zwar als Verftand, aber nicht als von vornherein wirk- liches Denken aufflellt, hängt mit der Befchränkung auf bloße Bewegung und Ordnung eines Gegebenen zu- fammen. Denn um das von ihm unabhängig außer ihm Beflehende zu ordnen, muß es daraufhin dasfelbe vor allem erfaffen, alfo von ihm das Objekt bewegt werden. Und fo erscheint der ordnende Verftand fo wenig als der zu ordnende Stoff als das verlangte fchlechthin un- veränderliche Prinzip. Anders der Verftand des Ariflo- teles, der als einzige erfle Urfache nur fleh felbfl zu fchauen braucht, um alles aus feinem erflen Grunde zu erkennen.

%

Da haben wir einige, wie idi glaube, fehr fchlagende Belege für das vollfländige Mißverfländnis , deffen fich die modernen Interpreten des Ärifloteles felbffc bei der Darlegung feiner fundamentalen Lehre fdiuldig machen, um dann über ihn, als ob er den größten Unfinn fpreche und als Kritiker gegen andere die gröbflen Ungehörig- keiten begehe, den Stab zu brechen. Man könnte hier wohl, die Stelle des Horaz, die von dem Wahne der Achiver Könige fpridit, parodierend fagen:

Interpres quidquid delirat, plectitur auctor.

Die ariftotelifche Gottheit im Lidite feiner Lehre von den Prinzipien der Bevorzugung.

Diefe Belege könnten ins Unabfehbare vermehrt werden; doch will ich, wo die erbrachten mehr als ge- nügend find, nicht länger mehr dabei verweilen. Da- gegen fcheint es unerläßlich , die Argumente zu wider- legen, welche die modernen Interpreten für ihre Meinung anführen, und nachzuweifen, wie es mit ihrer angeblich zwingenden Kraft beflellt ifl.

Vor allem nehmen fie die unendliche Vollkommenheit der ariflotelifdien Gottheit, die auch von ihnen als von Ärifloteles unzweideutig ausgefprochen anerkannt wird, zum Anhaltspunkte. Diefe verlangt, wie er felbft be- tont, daß der Gegenfland ihres Denkens nicht etwas Minderwertiges, fondern das denkbar vollkommenfle Wefen fei. Und fo lehre er denn, fagen fie, und muffe nach den Prinzipien feiner Werttheorie lehren, daß fein Gott nichts anderes erkenne als fich felbft.

Hiegegen ifl vor allem darauf aufmerkfam zu machen, daß Ärifloteles zwifchen folchem unterfcheidet, was durch fich, und was durch etwas anderes erkannt wird, bei welchem lederen nicht es felbft, fondern jenes andere das Objekt ifl. So hören wir im fechflen Kapitel des dritten Buches von der Seele, daß das Negative von uns

7 Brentano, Ärifloteles.

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nicht durch (ich, fondern gewiff ermaßen durch das ihm Entgegengefetjte erkannt werde. Das Pofitive ifl für uns hier Objekt, feine Form nehmen wir im Verflande auf, kommen aber fo auch zu der Erkenntnis des der- felben Entbehrenden. Dies hätte von unferen modernen Interpreten denn doch einige Beachtung verdient, und fie hätten (Ich fragen muffen, ob nicht, wie wir durch die aufgenommenen pofitiven Formen, auch die Gottheit durch die reine Wirklichkeit, die fie felber ifl, zugleich mit fich auch noch anderes denken und erkennen könne ; deswegen, weil es mit ihr als erflem Grund in not- wendigem Zufammenhang fleht, fo daß das eine ohne das andere ohne Widerfpruch gar nicht gedacht werden kann. Alles fekundäre Pofitive und mit ihm felbfl- verfländlich zugleich das Negative wird ihr dann kund fein, ohne daß fie etwas anderes zum Objekt hat als fich felbfl.

Und diefe Erwägung wäre um fo mehr zu erwarten gewefen, als Arifloteles felbfl an dem betreffenden Orte1), ähnlich wie vielfach anderwärts in den Büchern von der Seele, wenn er von unferem Denken fpridit, auf das göttliche Denken, das fich in manchem fo wefentlich von dem unferen unterfcheidet , vergleichend hinüber- blickt. Der göttliche Verfland kann nicht wie der unfrige durch Aufnahme pofitiver Formen, im Hinblick alfo auf pofitive Objekte außer fich, auch das ihnen entgegen- gefetjte Negative erkennen. Wie alfo erkennt er das Negative? Arifloteles gibt die Antwort durch den Hin- weis darauf, daß er das erfle Prinzip von allem und als folches in feiner reinen Aktualität fich felbfl Objekt ifl. Unfere modernen Interpreten haben aber die, trotj aller Kürze des Ausdrucks, dem den Zufammenhang Über- legenden recht wohl verfländliche Äbficht der Bemerkung fo wenig erfaßt, daß fie vielmehr meinen, Arifloteles wolle hier leugnen, daß Gott von etwas Negativem

J) De An. III, 6 gegen Ende.

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Kenntnis habe. Wie aber fände fleh dies hier geleugnet? Doch wohl nicht dadurch, daß er fagt, das erfle Prinzip habe fich felbfl zum Objekt; denn wenn hiemit fchon gefagt wäre, daß Gott keinerlei negative Kenntnis habe, fo wäre diefelbe ja auch für uns ausgefchloffen, da wir, wie Arifloteles zuvor gelehrt, immer nur Pofitives zum Objekte haben. So hat man fleh denn hier nur durch ein fchon gefaßtes Vorurteil behindern laffen, hat in die Stelle hineingelefen, was gar nicht darin fleht, und fie, welche geeignet gewefen wäre, über einen bei der Inter- pretation der ariftotelifchen Gotteslehre begangenen Irr- tum aufzuklären, vielmehr oft geradezu als eine folche angezogen, welche jene aus der Mißdeutung anderer Stellen hervorgegangene Äuffaffung neu als richtig er- härte.

Doch ifl diefer Hinweis auf den Unterfchied, der nach Arifloteles zwifchen „Erkanntfein" und „Gegenfland einer Erkenntnis fein" befleht, vielleicht noch nicht für jeder- mann befriedigend. Vielmehr möchte einer fagen, nach den Prinzipien der ariftotelifchen Güterlehre würde es der Vollkommenheit Gottes nicht bloß widerfprechen, wenn er etwas anderes als das Allervollkommenfle zum Objekte hätte, fondern auch, wenn er, in was immer für einer anderen Weife, etwas anderes als das Allervoll- kommenfle erkannte. Und wenn er zur Begründung des Sa^es, daß es nicht gleichgültig fei, was der voll- kommenfle Verfland zum Objekte habe, fage, es fei ja doch beffer, einiges nicht zu fehen als zu fehen, fo fei er doch ficher nicht minder als andere überzeugt, daß es auch beffer fei, von etwas Unliebfamem keine Kenntnis zu haben, als zu ihr, auf was immer für eine Weife, gelangt zu fein1). So würde denn die Kenntnis von irgend etwas Schlechtem mit feiner vollkommenen Selig- keit unverträglich fein; und fo gewiß es alfo außer dem Guten auch Schlechtes gebe, habe darum Arifloteles

x) Vgl. Eth. Nie. IX, 4 p. 1166 b 13; IX, 11 p. 1171b 4 f.

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feinem Gott die Allwiffenheit abfprechen muffen. Ja, da jedes minder Gute, mit dem Befferen verglichen, be- reits fchlecht zu nennen fei, fo habe Ariftoteles nach den Prinzipien feiner Güterlehre, um das göttliche Denken und feine Seligkeit in höchfler Reinheit und Vollkommen- heit zu erhalten, jede Erkenntnis von etwas anderem von ihm ausgefchloffen.

Damit fcheinen nun aber zwei Stellen1) im Wider- fpruch zu flehen, worin Ariftoteles die empedokleifche Erkenntnislehre ad abfurdum geführt zu haben glaubt, weil nach ihr fein „allerglückfeligfler Gott" keine Kenntnis von dem Streite (dem bei Empedokles die Rolle des böfen Prinzips zufallen foll) haben würde. Und fo haben fich denn fchon im Altertum die Kommentatoren den Kopf darüber zerbrochen, wie die eine Stelle mit den anderen zu vereinigen fei.

Die richtige Löfung der Schwierigkeit ift aber ohne Zweifel diefe: fowohl das würde Gottes Vollkommen- heit entgegen fein, wenn irgendwelche Wahrheit von feinem Wiffen ausgefchloffen, als auch, wenn ihm von dem, was er erkannte, irgend etwas nicht lieb wäre; und fo könnte denn der empedokleifche Gott nach dem Ur- teil des Ariftoteles in keinem Fall ganz vollkommen fein, weder wenn er von der ihm unliebfamen Exiflenz des Streites wüßte, noch wenn er fie ignorierte. Allein nach der Anficht des Ariftoteles gibt es eben ein folches dem guten Prinzip entgegenflehendes böfes Prinzip nicht; vielmehr nichts anderes als Gott und die Welt, die als Ganzes, mit unendlicher Weisheit geordnet, als das denkbar vollkommenfle Werk erfcheint. Mag immer etwas, was ihr als Teil zugehört, losgelöfl vom Ganzen gedacht, tadelnswert erfcheinen; im Zufammenhang mit dem Ganzen betrachtet, erfcheint es aufs vollkommenfle gerechtfertigt. Nur in diefer Weife aber, die allein der Wahrheit entfpridit, denkt es der notwendig Ällwiffende.

J) Met. B, 4 p. 1000 b 3 und De An. I. 5 p. 410 b 4.

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So ift es denn nicht richtig, daß Gott, wenn er allwiffend ift, auch etwas ihm Unliebfames erkennen muß, da viel- mehr gerade feine Allwiffenheit es verhindert, daß ihm irgend etwas anders als in der begehrenswerteren Weife geordnet erfcheint.

Wenn aber gefagt wird, nach ariflotelifchen Prinzipien erfcheine jedes kleinere Gut mit dem größeren verglichen fchlecht, und wenn es zu diefem hinzukomme, fo erfcheine darum das Ganze fchlechter als der eine feiner Teile, fo läuft dies dem, was Arifloteles tatfächlich lehrt, fchnur- flracks zuwider. Das Prinzip der Summation von Gütern zu einem größeren Gut foll vielmehr nach feiner in der Topik, Rhetorik und auch fonft vielfach ausgefprochenen und geltend gemachten Überzeugung durchwegs, und möge auch der eine der Addenden noch fo groß, der andere noch fo klein fein, zu Rechte beftehen. Und fo fieht man denn, daß, fo gewiß die Welt, und infolge da- von auch die Erkenntnis der Welt von Arifloteles als etwas Gutes gedacht wird, fo gewiß auch die Erkenntnis Gottes von fich felbffc, wenn fie nicht die Erkenntnis einer Weisheit wäre, die alle auf die Welt bezügliche Er- kenntnis mit umfaßt, nicht als die allerbefle Erkenntnis gelten könnte. Ja, wie kann einer verkennen, daß auch von der Gottheit felbft derjenige eine relativ unvoll- kommene Kenntnis haben würde, welcher nicht wüßte, daß es als wefentliche Eigentümlichkeit ihr zukommt, erftes Prinzip aller Dinge zu fein und ihnen die voll- kommenfte Ordnung zu geben? Die Erkenntnis, welche die Gottheit von fich felbft hätte, erfchiene fo nach ge- wiffer Seite hin"fogar hinter jener, die wir von ihr haben, zurückzugehen. So fchlägt denn die Reflexion auf die ariflotelifchen Prinzipien der Bevorzugung geradezu in das Gegenteil von dem um, was die modernen Inter- preten daraus folgern wollen.

Und wie in diefem Punkte, fo zeigen fie auch in jedem anderen Stücke fich mit dem, was wir über feine Lehre von der Gottheit fagten, im Einklang, während jede Äb-

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weichung von dem, was wir fagten, ihnen widerfprechen würde. So z. B. wäre nicht bloß eine Befchränkung der Erkenntnis auf die Gottheit allein ein Mangel, fondern als ein Mangel erfchiene es auch, wenn (was freilich auch aus anderem Grunde ausgefchloffen ifl) die Welt als Objekt von Gott erfaßt würde, ftatt von ihm in der Weife, daß er felbfl fein Objekt ifl, erkannt zu werden. Denn nur indem Gott die Welt auf diefe Weife erkennt, erkennt er fie aus dem Grunde , und fo , daß das der Natur nach Erfle auch das in der Ordnung feiner Er- kenntnis Erfle ifl. Arifloteles hatte alfo den triftigflen Grund, aufs energifchfle zu betonen, daß nicht Gott und die Welt, fondern Gott allein Gegenftand der göttlichen Erkenntnis fei ; nicht bloß, weil die von feinem Erkennen bedingte Welt ihm unmöglich fchon als Gegenftand mit vorliegen kann, fondern auch, um die Vollkommenheit des göttlichen Erkennens ins rechte Licht zu fetten. Ruhte doch feine Erkenntnis fonfl, foweit fie die Welt betrifft, auf dem Erfaffen eines bloßen Daß; nun aber ifl fie von vornherein eine Erkenntnis aus dem Grunde, welche, wie Arifloteles fleh einmal ausdrückt, im Vergleich mit jener etwas Ehrwürdiges (xtaiov) ifl1).

Ebenfo fpricht es Arifloteles aufs entfchiedenfle aus, daß jede Macht zum Guten gehöre, und fomit würde fein Gott nicht unendlich gut fein, wenn er nicht all- mächtig wäre. Er fpendet einmal dem Dichter Agathon Beifall, wenn diefer fagt, nur das Eine fei felbfl für die Gottheit unmöglich, Gefchehenes ungefchehen zu machen. Und wie wenig es ihm einfallen konnte, geringer als diefer Dichter über die Macht der Gottheit zu denken, mag einer, dem felbfl nach diefem Worte noch ein Zweifel bleibt, aus dem erfehen, was fein Schüler Theo- phrafl in dem uns erhaltenen Bruchflück feiner Meta- phyfik fagt: „Wir werden doch von der Macht der Gottheit nicht Geringeres glauben, als weffen Zeus in den Verfen

J) Met. A, 1 p. 981 a 31. Anal. Poft. I, 31 p. 88 a 5. 102

des Homer fich rühmt: ,0, wenn ich wollte, ich würde das Meer und die ganze Erde aus der Tiefe empor- heben.'"

Zur Macht gehört aber Wille und Freiheit, und fomit würde, wenn Ärifloteles diefe feiner Gottheit nicht zu- erkannt hätte, abermals eine Diffonanz zwifchen feinen Grundfätjen für die Beflimmung des Guten und Befferen und feiner Lehre von der unendlichen Vollkommenheit Gottes beflehen.

Gottes einheitliche Tätigkeit, fein rein theoretifches Leben.

Doch die modernen Interpreten berufen fich noch im befonderen auf einige Ausfprüche, in welchen fie der Gottheit jede Werktätigkeit abgefprochen glauben, und die Wichtigkeit der Sache nötigt uns, keinen von ihnen unberückfichtigt zu laffen.

Einer davon darf wohl als bereits erledigt gelten. Ärifloteles fagt nämlich, der Gottheit komme eine einzige Tätigkeit *) zu. Man wollte hieraus fchließen, daß Äriflo- teles, da er feiner Gottheit ein Denken zufchreibt, ihr nicht ebenfo ein Wollen zugefchrieben haben könne. Aus dem, was wir früher dargelegt, geht hervor, daß, wenn dies Argument zutreffend wäre, es bewiefe, daß dem ariflotelifchen Gott nicht einmal mit dem Denken auch ein fich Freuen zugefchrieben werden dürfle; denn bei uns ifl, wie Ärifloteles ausdrücklich lehrt, die Freude am Denken eine andere Tätigkeit als das Denken felbfl2). Doch wir zeigten auch, daß eine Einheitlichkeit, die bei Anwendung der Begriffe Denken und Freude in dem uns anfchaulichen empirifchen Sinn unmöglich, bei ihrem

3) De Coel. II, 12 wird daraufhin die einfädle Bewegung des oberften Himmels mit der Tätigkeit Gottes verglichen. Vgl. auch Eth. Nie. VII, 15 p. 1154 b 26.

£) Eth. Nie. X, 5 p. 1175 b 34.

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tranfzendenten Analogon nicht undenkbar ifl; und fo denn auch nicht eine Verbindung von Wollen und Denken in einer ftreng einheitlichen Tätigkeit, wie Ärifloteles (aber auch andere große Theiften) fie allerdings aufs entfchiedenfle behaupten.

Wenden wir uns alfo zu den anderen Stellen, auf die man fich beruft! Ärifloteles fagt von der Gottheit:

1. fie führe kein poietifches Leben, d. h. keines, das fich. Werke zum Zweck fe^t1);

2. fie führe auch kein praktisches Leben, ähnlich dem Politiker und demjenigen, welcher fich in den Tugenden der Gerechtigkeit, Tapferkeit, Enthaltfamkeit ufw. übt2);

3. fie und das Weltall hätten keine Tätigkeit, die nach außen geht3);

4. ihr Leben fei vielmehr ein theoretifches, d. h. das ganze es befeligende Gut beftehe in der Erkenntnis famt der daran geknüpften Luft4).

Solche Äußerungen fcheinen ihnen ein in der Art zwingender Beweis dafür, daß der Gottheit nichts unferem freiwilligen Handeln und Wirken nach außen Ähnliches zukommen könne, daß fie fich durch noch fo zahlreiche dem widerfprechende Stellen nicht im mindeflen mehr belehren laffen. Und es muß, wenn man auf diefe hinweift, wieder die Hypothefe herhalten, daß Ärifloteles vielfach das Gegenteil von dem fage, was er denke. Aber auch hier hätte man, wenn man nur ein wenig in den allgemeinen Geifl der ariflotelifchen Lehre eingedrungen wäre, oder auch nur den nächflen Zufammenhang der Stellen genugfam berückßchtigt hätte, die ganze Schwierig- keit alsbald verfchwinden fehen.

Wenn es z. B. (1) heißt, Gott führe kein poietifches Leben, fo leugnet Ärifloteles von der Gottheit nichts, was

x) Eth. Nie. X, 8 p. 1178 b 20.

-) Ebend.; vgl. audi De Coel. II, 12 p. 292 b 5.

3) Pol. VII, 3 P- 1325 b 29.

4) Eth. Nie. X, 8 p. 1178 b 20.

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er nicht ebenfo von jedem Menfchen, namentlich von jedem, der nur einigermaßen vernünftig lebt, in Abrede (teilt Denn auch für uns kann es nicht richtig fein, wenn wir unfere Glückfeligkeit in einem außer uns liegenden Werke fuchen. Nicht der Befitj eines folchen Werkes, unfere eigene edle Tätigkeit, fei es die der Betrachtung oder der Gerechtigkeit im weiteflen Sinne des Wortes, kann uns nach Ariftoteles glückfelig machen. Es ift nur felbft- verfländlich, daß darum Ariftoteles folches auch von der Gottheit nicht annehmen kann. Ja, für fie ift es um fo mehr ausgefchloffen , als bei ihr eine Rückwirkung des Werkes auf den Werkmeifter unmöglich ift.

Wenn Ariftoteles aber (2) weiter fagt, die Gottheit führe auch kein praktifches Leben, fo muffen wir uns auch hier zunächft das, was damit gefagt ift, voll ver- deutlichen. Er will fagen, daß ihr Leben nicht dem eines Mannes ähnlich fei, der in der Übung ethifcher und politifcher Tugendakte feine Glückfeligkeit findet. Die Klugheit bei der Beratung von praktifchen Fragen, die zu entfcheiden find, und die Tapferkeit in Gefahren, welche am fchönften hervortritt, wo einer um des Edel- fchönen willen das Leben felbft dahingibt; die Enthalt- famkeit, welche fich ebenfo am glänzendften bewährt, wenn wir der mächtigften Anlockung einer Luft aus Liebe zum Edlen widerftehen; die Gerechtigkeit, die fich am fchönften da offenbart, wo es in der Macht eines Armen läge, fich ungeftraft durch Beeinträchtigung eines Anderen überfchwänglich zu bereichern; die Freigebigkeit, welche am herrlichften fich zeigt, wenn man anderen zuliebe die größten Opfer an allen niederen Gütern bringt: diefes und ähnliches find die edlen Betätigungen, in welchen das praktifche Leben feine Seligkeit findet. Ariftoteles hält es nun für lächerlich, wenn man die Seligkeit der Gottheit in die Seligkeit eines folchen praktifchen Lebens fe^en wollte. Schriebe man ihr Tapferkeit zu, fo fagte man damit, daß es auch für fie Gefahren gebe ; fchriebe man ihr Enthaltfamkeit zu, fo fagte man damit, daß es

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auch Gelüfte für fie gebe, welche fie zum Böfen anregten ; fchriebe man ihr Gerechtigkeit zu, fo erklärte man da- mit, daß auch zu ihrer Glückfeligkeit äußere Dinge bei- trügen und fie, da diefe nicht alle ihr gehörten, in die Verfuchung komme, die Rechtsgrenze zu überfchreiten, während fie, von keinem ihrer Werke eine Rückwirkung empfangend, in keinem von ihnen etwas unferem Eigen- tume Ähnliches befitjt, und andererfeits, da ja alles außer ihr ihr Werk ifl, als unbefbreitbar unumfchränkte Herrin von allem erfcheint. Auch freigebig fie zu nennen, wäre nach Arifloteles lächerlich. Und er begründet dies mit einem in feiner Kürze manchem vielleicht rätfelhaften Worte. Er fagt nämlich: wem aber follte fie geben? Es könnte einer fich verfucht fühlen, auf fich felbft als einen hinzuweifen, der gar manches von höheren und niederen Gütern fich von ihr erbitten möchte ; und fpricht nicht in derfelben Ethik Arifloteles von einem Gefchenk Gottes (iteoo owf/^xa)? ja, lehrt er nicht darin, daß wir für alle edlen Güter und auch für die niederen, ja für die Exiftenz felbft, der Gottheit zum Danke verpflichtet feien? Dodi das Rätfei löfl fich fofort, wenn wir er- wägen, daß diefes alles, was wir von der Gottheit empfangen, nicht mit den Gütern fich vergleichen läßt, um die es fich bei der Freigebigkeit handelt. Das find ja folche, welche bis dahin dem Freigebigen felbft als Güter angehört hatten, und deren er fich, indem er fie dem anderen fchenkt, entäußert. Je größer dabei das Opfer und der perfönliche Verlufl, um fo fchöner der Akt der Freigebigkeit. Für Gott aber, wie immer er für uns der Quell der höchflen Güter ift, ifl es doch unmöglich, etwas von dem, was fein Gut ausmacht, an uns abzu- treten, fowohl weil er nichts verlieren, als auch (und das ift, was Arifloteles hervorhebt) weil wir des gött- lichen Wefens, in welchem Gottes ganzes Gut, fein Denken und feine edle Liebe und ihre Seligkeit befteht, teilhaft zu werden nicht fähig find. Und was von uns, muß von jedem, was außer Gott befleht, gefagt werden. So ent-

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fällt denn bei dem ariflotelifchen Gott die Möglichkeit eines Lebens wie unfer praktifches Leben und auch einer Seligkeit, wie wir fie in unferer Opferfreudigkeit er- fahren, vollfländig.

Aber auch ein Beraten kann man ihm nicht zu- fchreiben. Bezieht {ich doch alle Beratung auf bloß Tat- fächliches, nicht auf Notwendiges, und, wie Ärifloteles in feiner Phyfik fagt, hat, felbfl in Sachen der Kunfl, der, welcher alles weiß, was das Befte ift, eine Beratung nicht mehr nötig. Wir haben nun aber gefehen, daß der ariflotelifche Gott, wie er in feinem notwendigen Selbfldenken notwendig alles denkt, in feiner not- wendigen Selbflliebe notwendig alles nach dem Maß der Ähnlichkeit mit (ich liebt und das Befhnögliche als Befl- mögliches eo ipso mit Notwendigkeit am meiflen liebt, und alfo ohne jede vorbereitende Beratung die befl- mögliche Welt jeder anderen vorzieht und für fie fich von Ewigkeit entfchieden findet. Seine Erkenntnistätig- keit ift alfo durchaus nicht unferer beratenden ähnlich. Sie ift vollendet und in aller und jeder Beziehung , um mich modern auszudrücken, fo apodiktifch, wie in bezug auf ihr eigentliches Objekt, nämlich das göttliche Denken felbft. Damit, daß, wie das Denken auch die Liebe Gottes, die mit ihm identifch ift, auf alles Gute fich erftreckt und als allmächtiger Wille die Urfache von allem Guten außer ihm ift, fleht es alfo keineswegs im Widerfpruche, wenn Ärifloteles fagt, daß das Leben der Gottheit nicht unferem praktifchen Leben analog zu denken fei.

Verlangte diefer Einwand eine etwas längere Er- läuterung, fo zeigt fich dagegen (3) die aus der Politik an- gezogene Stelle, wo Ärifloteles fagt, Gott und die Welt hätten keine Aktionen nach außen, um fo einfacher ver- fländlich. Er macht nämlich diefe Bemerkung zur Illuflra- tion des Gedankens, daß ein Staat auch ohne Verkehrs- beziehungen zu anderen Staaten, wie z. B. wenn er ganz abgefchieden auf einer Infel läge, recht wohl fein Selbflgenügen haben könnte. Diefen Staat vergleicht er

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nun mit dem von der Gottheit regierten Weltall. Das Weltall iffc nicht im Verkehr mit einem anderen Weltall, zu welchem fein Fürft Beziehungen anknüpfte. Die Aktionen, die hier Gott abgefprochen werden, find folche, die über die Grenzen feines Reiches hinausgehen würden. Diefer Vergleich mit dem Fürflen einer ifolierten Infel ift nicht bloß nichts, was dem widerfpricht, daß Gott mit Bewußtfein und Wille die Welt regiert, fondern etwas, was diefer Lehre Zeugnis gibt1).

Und noch deutlicher und unverkennbarer wird diefes Zeugnis durch das, was unmittelbar nachfolgt. Denn da hören wir Arifloteles von der für einen Staat wünfchens- werteflen Größe fprechen. Er darf nicht zu klein fein, meint er, aber doch auch nicht eine übermäßige Größe haben, wo dann menfchliche Kraft nicht mehr ausreichen würde, ihn genugfam ordnend zu beherrfchen. Wenn wir die Macht der Gottheit hätten, dann wäre freilich gegen die Ausdehnung eines Staates über die ganze Erde nichts mehr zu fagen; und tatfächlich bringt ja auch die Kraft Gottes, indem fie Himmel und Erde beherrfdit, ein Reich von gewaltigfter Ausdehnung zu vollkommenfler Ordnung. Kein Wort kann klarer der Werktätigkeit Gottes Zeugnis geben als das, welches Arifloteles hier anwendet, indem er von der gottbeflimmten Weltordnung fagt, fie fei „Werk einer göttlichen Macht" (Osia? ouvau-eco? epyov 2)).

*) Idi will nicht unterlagen , auch noch darauf aufmerkfam zu machen, daß es (ich bei den Igtorspixal jrpsE$eic, von denen die Stelle fpricht, um gewinnbringende Unternehmungen, vorteilhafte Verkehrs- verbindungen handelt, und daß folche dem Gott nicht bloß nicht als Fürflen der Welt in bezug auf eine andere Welt, die nicht unter feiner Herrfchaft ftände, fondern auch nicht dem Gott für (ich allein betrachtet in bezug auf die eigene Welt zukommen, fo da\i auch bei folcher Deutung die Stelle keinen Einwand abgeben könnte. Auch die Wirkfamkeit Gottes in bezug auf die Welt ifl keine Unter- nehmung, die darauf ausgeht, einem eigenen Bedürfnis abzuhelfen, weshalb auch De Coel. II, 12 p. 292b 5 fagt: oü&sv 8et 7ipa!-eio;.

2) Polit. VII, 4 p. 1326 a 32.

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Wie nun aber hier die von unferen Gegnern an- gezogene Stelle, wenn man den Zufammenhang erwägt und das unmittelbar Nachfolgende mitbeachtet, nicht bloß aufhört für fie zu fprechen, fondern geradezu gegen fie Zeugnis gibt, fo gilt das Gleiche (4) auch von jener, wo Ariftoteles von der Gottheit fagt, daß ihr Leben ein theoretifches Leben fei. Man will aus ihr fchließen, daß der ariftotelifche Gott nichts wirke, oder (da dies denn doch zu auffällig feinen beflimmteften Äußerungen auch in dem Buche A der Metaphyfik felbft, welches am ein- gehendften von der Gottheit handelt, widerftreitet), ihr wenigflens jede Vorfehung und Fürforge für etwas zur Welt Gehöriges abgefprochen wiffen. Doch der Zu- fammenhang der Stelle ifb diefer: Ariftoteles will den Vorzug des theoretifchen Lebens vor dem praktifchen erweifen und führt dafür an, daß jenes dem Leben der Gottheit am ähnlichften fei. Und hieran knüpft (ich ihm eine doppelte wichtige Folgerung. Einmal iffc immer das dem Vollkommenflen Ähnlichere felbft das Vollkommenere. Dann aber liebt unzweifelhaft, ähnlich wie auch wir es tun, die Gottheit die ihr Ähnlidiften am meiften; fomit wird fie diejenigen, welche das theoretifche Leben führen, einer befonders liebreichen Fürforge teilhaft werden laffen. Diefe zweite Folgerung aus dem Satje, daß das Leben der Gottheit ein theoretifches fei, iffc von der Art, daß fie, fo möchte ich meinen, jedem die Augen öffnen muß, der verfucht ifb, die Lehre von dem theoretifchen Leben der Gottheit fo zu deuten, als ob fie die Für- forge Gottes ausfchlöffe. Ariftoteles hält fie fo wenig für damit unvereinbar, daß er daraus geradezu zu- gunften ihrer argumentiert. Nun hat man freilich die Kühnheit gehabt zu behaupten, in diefer Erörterung fei die Prämiffe ernft zu nehmen, die Folgerung aber nicht. Sie fei nur eine populäre Anpaffung an die Meinung derer, die nicht darüber aufgeklärt find, daß das Leben der Gottheit ein rein theoretifches iffc. Allein was iffc offenbarer, als daß Ärifloteles in der Folgerung

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zu fbichen fpricht, welche er in der Prämiffe felbfl eben mit feiner Lehre, daß das Leben der Gottheit ein theo- retifches fei, bekannt gemacht hat? Und er muß doch wohl vorausfetjen , daß fie die Thefe noch im Bewußt- fein haben, wenn er fie auf Grund ihrer die Folgerung felbft ziehen läßt.

Den wahren Sinn der von Arifloteles fo energifch geltend gemachten Behauptung, daß Gottes Leben ein theoretifches und kein praktifches oder poietifches fei, habe ich fchon im Vorflehenden dargetan, will ihn aber, da von ihrem Verftändnis das der ganzen Gotteslehre wefentlich bedingt ifl, noch einmal wiederholen und ein- gehender erläutern. Arifloteles nennt ein Leben theo- retifch oder praktifch oder poietifch, je nachdem es fein höchfles Gut, in Rückficht worauf alles andere begehrt wird, in dem Erkennen oder in der Betätigung ethifcher Tugend oder in Werken, die durch Kunfl hervorgebracht werden, erblickt. Wäre Gottes Leben ein poietifches, fo beflände fein höchfles Gut in Werken, die er hervor- bringt, und diefe müßten beffer fein als die göttliche Tätigkeit felbft. Das fcheint Arifloteles aber handgreiflich abfurd. Wäre Gottes Leben praktifch, fo beflände fein höchfles Gut wohl in einer gewiffen inneren Seligkeit, aber in einer, die wefentlich als eine fchöne Opfer- freudigkeit zu begreifen wäre, wie wir fie im Falle einer edlen Entfagung gegenüber lockendem Genuß, einem mutigen Beflehen höchfler Gefahren, einer Hingabe und Aufopferung von dem, was wir haben und find, erfahren mögen. Aber auch diefes wäre abfurd. Kein Gut der Gottheit kann veräußerlich fein, und Lockungen und Ge- fahren können für fie nicht beflehen. Sagt man da- gegen, Gottes Leben fei theoretifch, alfo fein höchfles Gut Erkenntnis, fo fagt man etwas, was vollkommen dazu flimmt, daß er felbft fein höchfles Gut ifl. Denn er ifl ja, wie wir hörten, eine Erkenntnis und beflißt in ihr die unendliche Seligkeit. Ihr Gegenfland ifl er felbfl, und nur er felbfl; was aber, wie wir fahen, nicht ausfchließt,

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fondern wegen der Vollkommenheit feines Erkennens fogar einfchließt, daß nichts feiner Erkenntnis entzogen ifl, vielmehr alles aufs allervollkommenfte in feinem erflen Grunde erkannt wird. In Rückficht auf feine All- macht erkennt er alles Mögliche und liebt es mehr minder nach dem Maß feiner Ähnlichkeit mit ihm felbft und wählt und will von Ewigkeit in Rückficht darauf die befl- mögliche Welt, und ifl eben dadurch das erfte und totale Prinzip ihres Seins. Tro^dem die höchflmögliche Ähn- lichkeit mit ihm dabei maßgebend ifl, erfcheint aber fein Wirken ganz felbfllos, denn er gewinnt nichts da- durch; er gibt nur, ohne wieder zu empfangen. Die Exiflenz der Welt macht keinen Teil feines Lebensgutes aus; und wenn er fie gewiß auch mit Wohlgefallen erkennt, fo ifl doch dies Wohlgefallen, wie die Erkenntnis felbfl, ein apriorifches. Und wie die Erkenntnis der Welt in der Erkenntnis feiner felbfl, fo ifl das Wohlgefallen an der Welt in der Seligkeit, die er in dem Bewußtfein feiner felbfl empfindet, mitgegeben. So ifl denn die Seligkeit des Lebens Gottes nur der Seligkeit unferes theoretifchen Lebens vergleichbar, wenn diefe auch endlich und be- fchränkt, die Seligkeit des göttlichen Lebens dagegen un- endlich ifl.

Und die Ähnlichkeit befleht nicht allein darin, daß feine Seligkeit eine Freude am Erkennen ifl, fondern auch an einem Erkennen, das unferem theoretifchen Er- kennen mehr gleicht als unferem praktifchen. Denn Gott erkennt, was er erkennt, als notwendig; nicht bloß fich, fondern auch alles andere, was als Werk feines freien Willens zur Wirklichkeit gelangt. Denn es ifl unmöglich, daß das unendlich vollkommene Wefen anderes als das Beflmögliche will; und wer etwas darum aus ihm als letztem Grunde erkennt, erkennt es als notwendig. Und fo wird denn von Ärifloteles die Erkenntnis Gottes auch nicht als ~£yyrt oder ?pov7,ai<; oder stickt] txr, TCpaxnxiQ, fondern als cooi'a bezeichnet, die nicht auf Kontingentes, fondern auf ewig Notwendiges geht. Ja, unfere ao?ta geht fogar

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auf eben das, worauf die göttliche aocpi'a geht; fie ifl die Philofophie von den göttlichen Dingen und die Philo- fophie und die Wiffenfchafl , die der Gottheit felbfl zu- zufchreiben ifl 1). Wie alfo könnte man noch bezweifeln, daß der, welcher in ihren Betrachtungen feine Seligkeit findet, mehr als der, welcher in der Philofophie der menfchlichen Dinge und in ihrer Anwendung im prak- tifchen Leben fein höchfles Gut erblickt, der Gottheit ähnlich lebe?

Daß der theoretifdi lebende Menfch gar keine fegens- r eiche Einwirkung auf andere habe, ift nicht die Meinung des Arifloteles. Er mag andere belehren und fo ihr höchfler Wohltäter werden. Wenn die Gottheit trotj ihrem rein theoretifchen Leben der Quell alles Segens für die Welt wird, könnte man dies alfo nur eine neue Ähnlichkeit nennen. Auch ifl der höchfle Segen unter allem Guten, was fie fpendet, nach Arifloteles eben jene Weisheit, deren die Gottgeliebteflen fich erfreuen. Und wie die ganze niedere Welt vorzüglich um des Menfchen willen da ifl, der wie ein irdifdier Gott in ihr thront, fo foll, wie Arifloteles in der Politik lehrt, die ganze menfchliche Gefellfchafl wieder das Leben der Weisheit zum Ziele haben, fo daß die ganze Ordnung der niederen Natur in dem Leben des Weifen gipfelt.

Und hiemit, fo bedeutungsvoll es erfcheinen muß, ifl noch nicht einmal alles gefagt, wodurch man zeigen kann, daß der Vergleich der Gottheit mit dem ein theoretifches Leben führenden Menfchen nach der Weltanfchauung des Arifloteles der denkbar zutreffendfle ifl. Um dies zu erkennen, muß man wie das Diesfeits auch das Jenfeits berückfichtigen. Wir können dies erfl an fpäterer Stelle tun und werden darum darauf zurückkommen. Wenn wir finden follten, daß nicht bloß die ganze unorganifche Welt und das ganze Reich der niederen Lebewefen um

l) Vgl. Met. A, 2. 112

des Menfchen willen, fondern auch das ganze diesfeitige Leben um des jenfeitigen Lebens willen da ift, und das jenfeitige Leben ein rein theoretifches und ein Teil- nehmen an der Erkenntnis Gottes felbfl ift : dann werden wir es zugleich erfl voll verfländlich finden, wie die Äbficht des Weltalls auf die größtmögliche Verähnlichung mit der Gottheit gerichtet ift, und wie das Wirken Gottes nach außen in der Tat nicht dem eines KünfHers oder Politikers, fondern nur etwa eines Lehrers vergleichbar ift , der, was er felbfl erkennt, auch anderen als Er- kenntnis mitteilt. Was Gott fonfl noch wirkt, erfcheint in ganz ähnlichem Lichte, wie beim Lehrer die Bewegung der Luft durch die Stimme oder die eines Griffels, mit dem er das lehrende Wort auf einer Tafel aufzeichnet. Doch, wie gefagt, das mag an diefer Stelle noch rätfel- haft klingen und wird erft fpäter vollkommen deutlich zu machen fein. Auch das bereits Erörterte dürfte aber wefentlich genügen, um diefen, wie gewiffe andere Aus- fprüche des Ariftoteles, die man nur etwa darum un- glücklich gewählt nennen kann, weil fie zu fo großen Mißverftändniffen Anlaß geben füllten, zu rechtfertigen.

Die Gottheit und die angebliche Unmöglichkeit felbftlofen Wollens.

Doch ich habe hier noch einem anderen Einwand zu begegnen und zu zeigen, wie auch er nur daraus feinen Urfprung nimmt, daß man bei der Erörterung eines einzelnen Punktes das Ganze der Lehre des Ariftoteles nicht genügend vor Augen hat. Zeller meint, daraus, daß der ariflotelifche Gott durch das Dafein der Welt nicht das mindefle gewinne, folge nach ariftotelifchen Prinzipien unabweislich , daß er fie nicht wollen könne, indem jedes Motiv zu einem folchen Wollen entfalle. Man könne nach Ariftoteles nichts felbfllos lieben und wollen, vielmehr immer nur, weil und infoweit es die eigene Glückfeligkeit erhöhe. Man muß aber flaunen,

8 Brentano, Ariftoteles. 113

wenn man bei einem gelehrten Kenner des Ärifloteles folche Worte lieft, die mit feinen ausdrücklichen Er- klärungen in der Ethik und insbefondere in den Büchern von der Freundfchafl in Widerfpruch flehen. Da lehrt er, daß man, wenn auch vielleicht (ich felbffc am meiften, doch auch andere um ihrer felbfl willen liebe, und daß man felbftlos ihr Glück anfVrebe, wie dies insbefondere bei der Mutterliebe ofl ganz auffallend hervortrete. Der ift nach ihm kein wahrer Freund, der nur um seines eigenen Vorteils willen und nicht vielmehr ganz felbfllos das Gute des Freundes will und ihm dient. Wenn diefe felbfllofe Liebe des Freundes auch dadurch bedingt fein mag, daß er uns ähnlich und dadurch gewiff ermaßen unfer anderes Ich zu nennen ifl, fo ändert dies nichts daran, daß wir nicht für uns, fondern für ihn das Gute wollen. Vielmehr heißt er gerade darum, weil wir fein Wohl als folches wie unferes als folches wollen, mit vollflem Rechte erft unfer anderes Ich. Daß auch bei Gott eine folche Ähnlichkeit mit dem von ihm geliebten, bevorzugten und felbfllos mit Gütern befchenkten Werke befleht, haben wir gefehen. Diefe ifl aber nach dem Ge- fügten ficher kein Grund, feine Gaben nicht vollkommen felbfllos zu nennen, fondern macht nur deren volle Selbfl- lofigkeit in ihrem Einklang, ja in ihrer innigflen Einheit mit feiner Liebe zu fleh felbfl verfländlich.

Wir fanden übrigens Ärifloteles ausdrücklich den Ein- wand, daß ihm Gott kein vernünftiges Motiv zur Her- vorbringung eines Werkes fein könne, berühren und mit dem Hinweis darauf, daß es auch vorkomme, daß man felbfllos einen Zweck anflrebe, erledigen. Wir verweifen darum auf das früher Gefagte.

Aporien zur Theodicee.

Gott ifl unendlich vollkommen. Er ifl die alleinige, allbeflimmende erfle Urfache der Welt. Die Welt muß darum tadellos vollkommen, eine gleich gute oder beffere

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undenkbar fein. Aber wie flimmt das, was uns die Er- fahrung zeigt, zu diefer Forderung? Ja, fchließt nicht manches, was fchon vermöge des Sa^es des Wider- fpruches an und für fich feflfleht, von vornherein den Gedanken einer beflmöglichen Welt aus? Ärifloteles hält, wie eine unendliche Vielheit, auch eine unendliche Ausdehnung für etwas Widerfprediendes. Aber über jede endliche Grenze hinaus fcheint Größeres möglich. Und wie follte, wo es fich um Gutes handelt, nicht jedes Mehr auch ein Beffer fein?

Bietet dies von vornherein eine Schwierigkeit, fo er- heben fich andere auf Grund der erfahrungsmäßig ge- gebenen Tatfachen oder zum mindeflen auf Grund deffen, was Ärifloteles dafür hielt. Von dem, was zur beflmög- lichen Welt gehört, follte man meinen, muffe jegliches in fich felbfl betrachtet gut fein, wo dann Gutes zu Gutem fich addiert. Oder wenn einiges nur um des Nu^ens willen einen Wert haben follte, fo follte man meinen, muffe doch das an fich Gute hinter dem bloß Nütjlichen an Umfang nicht ganz und gar zurückflehen. Aber tatfächlich fcheinen wir das Gegenteil zu finden. Ein in fich Gutes ifl nur da gegeben, wo Bewußtfein1) ifl, und insbefondere da, wo diefes feine höheren Stufen erreicht. Was im Menfchen als folches Wert hat, ifl darum nach Ärifloteles nur das höhere geiflige Leben des Weifen und Gerechten. Aber blicken wir auf die Welt, fo fcheint neben dem Leblofen das Lebendige in ungleich geringerem Maß gegeben, und insbefondere das Menfchengefchledit, in dem allein die Fähigkeit zu einem höheren Leben in Tugend und Wiffen- fchafl vorhanden ifl, fpärlich ausgeflreut. Und hier wieder, wie wenige gelangen dazu, ihre Geiflesgaben entfprechend auszubilden und in ihrer Betätigung feiig zu fein ! Wenn wir in den Dingen natürliche Tendenzen bemerken, d. h. wenn es den Änfchein hat, als feien fie von einem Ver- band ihrer Natur nach hervorgebracht und zu etwas ge-

a) VgL z. B. Met. A, 9 und Eth. Nie. X, 6 u. 8 p. 1178 b 19. .8- 115

ordnet, und fo ihnen eine gewiffe Aufgabe gefegt: fo fcheinen doch diefe Tendenzen fleh fort und fort zu kreuzen. Und fo kommt es in den häufigjten Fällen, in der fublunarifchen Welt wenigflens, zu Mißbildungen. Und diefelben muffen am meiflen befremdlich fein, wenn fie fleh fogar bei jenen, wie gefagt, der Zahl nach fehr zurückflehenden Wefen finden, welche allein in ihren Tätigkeiten uns etwas in fleh felbfl Gutes zeigen. Denn wenn da und dort ein Menfch in feinem Tun fich als ein fchön-guter erweift und zu der befelig enden Betrachtung der Gottheit erhebt, fo fehen wir bei den meiflen viel- mehr Untugend und Torheit. Und dazu kommt noch eine Fülle von Leid und Bedrückung , von denen ge- rade auch die Beflen nicht verfchont bleiben. Wo ift hier ein Walten der Gerechtigkeit? Wo findet fich der Satj bewährt, daß Gott mit feiner Vorfehung für die ihm Ähnlichflen mit befonderer Liebe Sorge trage? Wie erklärt fich diefe Fülle von Mißfländen? Etwa aus der Freiheit des Willens? Aber wenn diefe Schranken fetjt, wie ifl dann die Gottheit noch allbeflimmend? Wenn fie aber keine fetjt, wie können wir dann überhaupt noch von Freiheit reden? Und erfcheint dann nicht flatt des Menfchen der Gott als der Schuldige?

Ergeben fich diefe Schwierigkeiten in Betracht der fublunarifchen Welt, ifl dafür wenigflens der Blick auf die himmlifche befriedigender? Allerdings zeigen fich hier, wenn man fie mit den Augen des Arifloteles an- fchaut, nicht jene fo häufigen und auffälligen Störungen einer natürlichen Tendenz durch eine andere. Den Fix- flernhimmel denkt er fich im Anfchluß an die gerühmteften Aflronomen feiner Zeit, Eudoxus und Kallippus, als eine Kugelfchale, welche die gefamte räumliche Welt abfchließt und in ihrer flets gleichmäßigen Rotation für uns das Zeitmaß abgibt. Da fie regelmäßig in fich felbfl fich dreht, fo kann fie auch, als wenn fie ruhte, als ein Anhalt zur Ortsbeflimmung betrachtet werden: man braucht nur zugleich die Zeit mit zu berückfichtigen, und nach vier-

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undzwanzig Stunden kehrt diefelbe Lage genau wieder. Aber auch die fcheinbar unregelmäßige Bewegung der Planeten glaubten jene ÄfVronomen aus einer Kombination von mehreren in einander gefchachtelten Kugelfchalen, von denen jede regelmäßig rotiere, die niederen aber zugleich von der Rotation der höheren mitbeflimmt würden, erklären zu können; was alles Ariftoteles auf ihre Autorität hin annahm, indem er nur noch einige refolutive Sphären einfügte, wo dann der Satz, daß jede höhere Sphäre für die niederen mitbefHmmend fei, all- gemeingiltig erfchien, und fo das ganze himmlifche Syftem zu einer größeren Einheit gebracht wurde. Von der niederen Welt her follte die himmlifche einen Einfluß nicht erfahren. Aber wenn fleh fo am Himmel nichts zeigte, was den Mißgeburten und anderen Unregel- mäßigkeiten in der fublunarifchen Welt ähnlich ift, war darum der Anblick in teleologifcher Beziehung fchon be- friedigend zu nennen? In keiner Weife. Die Rota- tionen von Kugelfchalen, die nur in ihrer Richtung und Winkelgefchwindigkeit (ich unterfcheiden, find denn doch ein gar einförmiges Sdiaufpiel. Und ifl denn damit irgendwelches Bewußtfein verbunden? Arifloteles hatte einft in feinen Dialogen den Geflirnen noch Sehen und Hören zugefchrieben , aber in feiner reiferen Zeit war er ganz davon zurückgekommen. Und hatte er auch da wegen eines EinfLuffes, den jede von dem Geifl, der ihr Natur und Bewegung gibt, empfängt, fie zunächft noch befeelt gedacht, fo verbeffert er im zwölften Buch der Metaphyfik auch diefen Ausfpruch und fetjt neben „'}u/V berichtigend den Ausdruck „vou? xal 6'psstc" *). Der be- wegende Verftand als völlig leidenslos, kann nicht durch das, was er da wirkt, gewinnen, in fleh felbfl aber fcheint

l) Daß das Buch A in der Metaphyfik erheblich fpäter gefchrieben ifl als die Bücher De Coelo, ifl, wie fchon früher (S. 20) bemerkt daraus erficfatlich, daß in diefen nur auf die Agronomie des Eudoxus, in jenem auch auf die feines Schülers Kallippus Rückficht genommen wird.

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die himmlifche Körperwelt als unbewußt wertlos. Es bliebe alfo nichts als der Einfluß der großen Himmels- mafchine auf die fublunarifche Welt, der fie als ge- rechtfertigt erfcheinen laffen könnte. Aber wir fahen ja, wie es mit diefer beftellt ift; und die Armfelig- keit des Erfolges erfcheint dann um fo jämmer- licher im Hinblick auf diefen koloffalen Aufwand von Mitteln.

In der knappen Skizze, welche uns Metaphyfik A von dem Ganzen der ariflotelifchen Weisheitslehre gibt, finden wir von diefen Schwierigkeiten das meifte gar nicht, anderes nur mit kurzem Worte berührt. Den eben er- wähnten Unterfchied zwifchen Himmel und Erde erklärt Arifloteles hier durch Vergleicht mit dem Unterfchied der Freien und der Unfreien, wie Sklaven und Tiere in einem Hauswefen: „Zu einem iffc alles geordnet. Aber es ift in der Welt wie in einem Haufe, mit dem es fchlecht beftellt ift , wenn die Freien aus eigner Tendenz nicht auf das Wohl des Ganzen, fondern auf beliebig anderes ausgehen, da fein Gedeihen vielmehr verlangt, daß diefe bei allen oder den meiften ihrer Beftrebungen etwas ihm Dienliches im Äuge haben, während Sklaven und Tiere aus eignem Antrieb wenig tun, was dem Gemein- wefen dienlich ift, mehrenteils dagegen beliebig anderes erflreben. Die Natur eines jeden Dinges ift nämlich das Prinzip für die ihm eigene Tendenz, die, in jedem Dinge vorhanden, doch bei einem Teil vielfach gehemmt, in ihrem Wirken oft nicht zum vollen Ausdruck gelangt; immer aber in gewiffem Maße, wie es denn z. B., wenn auch Gleichartiges nicht immer völlig Gleichartiges er- zeugt, nie vorkommt, daß nicht wenigftens irgendein wirkliches Ding entfteht, und fo anderes [man denke z. B. an die oben, S. 58 f., berührte Erhaltung des Gleich- maßes der Maffe und des Individuationskreifes] namhaft zu machen ift, was, da die natürliche Tendenz dazu immer dem Befte ndes Ganzen entfpricht, niemals eine Ausnahme erleidet."

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Viel mehr geht Theophraft in feinem metaphyfifchen Fragment auf die hier fo naheliegenden Äporien ein; und wie follten fie dem grübelnden Geift des Ariftoteles fremd geblieben fein, der in der Schrift von dem Himmel fogar einmal ein Bedenken gegen die Theodicee aufwühlt, an das weder Leibniz felbfl noch fein fcharf finnig er Oppo- nent Bayle gedacht hat1)? Wäre es zu einer ausgeführten Metaphyfik gekommen, wie ganz anders reiche Er- örterungen würden wir hier befugen!

Gewiß hätten wir auch mit Theophraft ihn geltend machen hören, daß man von uns bei fo vieler Un- kenntnis nicht für jegliches die Angabe des Warum verlangen dürfe. Damit, daß wir dies nicht tun können, ifl, wie auch Leibniz treffend fagt, der Optimismus nicht widerlegt. Doch wenn nicht alles, fo wird wenigflens einiges in feiner teleologifchen Bedeutung fich begreifen laffen, und wir wollen unter Benutjung mannigfacher gelegentlicher Andeutungen zu zeigen ver- fudien, wie Ariftoteles dies wirklich erreicht zu haben glaubte.

Die Teleologie der himmlifdien Welt.

Was die himmlifche Welt anlangt, fo hielt Ariftoteles ihre Sphären auf Grund einer feit Menfchengedenken ausnahmslofen Erfahrung für inkorruptibel und in keiner

*) Es läuft im wesentlichen auf die Frage hinaus, ob die Welt nicht genau fo vollkommen wäre, wie fie ifl, wenn alles in ihr fo, wie es fich in einem Spiegelbilde von ihr darflellen würde, verliefe. Ariftoteles kann felbflverfländlich keinen Grund überwiegender Güte ausfindig machen und hat ein deutliches Gefühl davon, wie wenig befriedigend feine Verfuche in diefer Richtung find. Doch er fchreibt ihr Mißlingen ganz fo, wie es Leibniz getan haben würde, einzig feiner Unfähigkeit, alles zu erklären, zu, ohne deshalb im mindeflen in feiner optimifUfchen Überzeugung erfchüttert zu werden. Nichts kann für die tiefgehende Verwandtfchaft der beiden Syfleme charakte- riflifcher fein.

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anderen Beziehung als dem Orte nadi einer Veränderung fähig. In feiner Sprache ausgedrückt hieß dies, daß fie, der Subflanz nach immateriell, nur eine örtliche Materie hätten. Eine gewiffe Rotation dachte er, wie fchon öfter erwähnt, jeder der Sphären natürlich und den Antrieb zu ihr mit dem Sein felbfl empfangen. Äriftoteles glaubte an ihre Verurfachung von Ewigkeit. Es erfchien ihm dies nicht bloß teleologifch beffer, fondern auch als einfache logifche Folge davon, daß ihre Urfache ewig, und, wo keine der nötigen Mitbedingungen zum Wirken fehlt, die Wir- kung zugleich mit der wirkenden Urfache gegeben ifl. Doch mochte er fleh fragen, ob es wahrfcheinlich fei, anzunehmen, daß die Gottheit den Himmelsfphären unmittelbar oder mittelbar oder teils mittelbar, teils unmittelbar die natür- liche Bewegung gebe. Und er entfehied fich für die letjte Annahme als die wahrfcheinlichfte. Den oberflen Himmel, der durch fo vieles und insbefondere durch die Vielheit der Sonnen, die er trug, und die abfolute Independenz feiner Bewegung vor jeder anderen fich auszeichnete, follte die Gottheit unmittelbar bewegen, die andern aber durch fekundäre Subftanzen bewegen laffen, die ebenfo und aus dem gleichen Grund ewige Produkte find, wie fie ewig produzieren. Sie find völlig unbewegte Intelli- genzen wie die Gottheit, und wie bei diefer fällt auch bei ihnen Sein und Lebenstätigkeit völlig zufammen. Auch fie find für fich felbft Objekt; auch fie find aber zu- gleich allwiffend, und insbefondere find fie auch der Er- kenntnis der Gottheit, die ihr erfter Grund ift, und ohne die fie felbft nicht ohne Widerfpruch gedacht werden könnten, und ihres Weltplans teilhafl, zu deffen Ver- wirklichung fie durch ihren Einfluß auf ihre Sphäre bei- tragen. Um folcher Gründe willen würdigt fie Äriftoteles des Namens „Götter" in einem erweiterten Sinne und lehrt, daß wir nicht bloß der Gottheit, fondern auch den Göttern für Sein, Ernährung und Erziehung (denn das alles, wir werden es fehen, hängt bei der einheitlichen Zufammenordnung von allem mit allem auch von den

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die Geftirne bewegenden Geiflern ab) zum Dank ver- pflichtet feien1).

Tr otjdem befteht zwifchen ihnen und der Gottheit im eigentlichen Sinn ein mächtiger Unterfchied. Wenn fie ebenfalls allwiffend find, fo i(l doch nur bei der Gottheit die der Natur nach erfte Wahrheit auch der Ordnung der Erkenntnis nach die erfte ; und fie erfaffen nicht wie die Gottheit fich felbfl als mit dem erflen Grund aller Wahrheit identifch. Wenn fie den Plan des Weltalls kennen und lieben, fo doch als einen von der Gottheit erdachten, in den fie als Teile mit aufgenommen find. Und wenn fie ewig fchöpferifch wirken, fo doch unmittel- bar nur in bezug auf eine Sphäre, und auch dies nur kraft eines unbewegten Seins, das fie von der Gottheit empfangen2 ). So bleibt denn der Charakter der Monarchie, den Arifloteles für unbedingt gefordert hält3), trotj der An- nahme jener mitwirkenden Sphärengeifler vollkommen gewahrt.

Er fürchtete aber auch nicht den Vorwurf einer über- flüfjigen Annahme, da ja jede folche Intelligenz, in fich felbfl wertvoll, den Wert des ganzen Weltfyftems er-

*) Vgl. Eth. Nie. VIII, 14; I, 10 p. 1099 b 11. Audi die Tugend ift Gefchenk der Götter.

2) Das alles läßt fich als unzweifelhafte Lehre des Arifloteles feflflellen, wenn man darauf Rückficht nimmt, daß er (wir werden noch darauf zurückkommen) auch bei unferem Verfland eine eigent- liche Gotteserkenntnis nicht für unmöglich hält, und wenn man fich von dem Vorurteil freimacht, daß Arifloteles, wo er von einer Für- forge nicht bloß der Gottheit, fondern auch der Götter für Menfchen redet, fich immer nur Vorflellungen der griechifchen Mythologie akkomodiere, die, wenn man die Stellen nur einigermaßen näher befichtigt hätte, fowohl in bezug auf das, was Arifloteles den Göttern zufchreibt, als, was er ihnen ab fp rieht, keineswegs entfprechen. Denn wenn wir nach Arifloteles Sein, Nahrung und Erziehung den Göttern zu danken haben, fo doch nicht einen freundschaftlichen Umgang (Eth. Nie. Vni, 9 p. 1158 b 35), während die mythifchen Götter und Göttinnen mit Sterblichen felbfl das Lager teilen und fich den er- zeugten Kindern und anderen Günfllingen freundfchafllich nahen.

3) Vgl. z. B. Phys. VIH Ende und Met. A. 10 Schluß.

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höhen mußte. Man könnte eher fragen: warum nur fo wenige und nicht mehr? (Denn außer den Sphären- geiflern foll, nach dem Satje, daß alles zu allem ge- ordnet ifl, keine folche ewig unwandelbare Intelligenz beflehen.) Doch Theophrafl würde diefe Frage zu jenen rechnen, von denen er fagt, daß fie zu viel verlangen. Jeder Sphäreng eift muß nach den ontologifchen Grund- lehren des Arifloteles, weil immateriell, von anderer Spezies fein, und da wäre es denkbar, daß die Zahl der Möglichkeiten ähnlich begrenzt wäre wie die Zahl der Arten regelmäßiger flereometrifcher Figuren, wo neben Tetraeder, Hexaeder, Kubus, Oktaeder, Dodekaeder, Ikofaeder und Kugel keine andere ohne Widerfpruch möglich ifl. Aber bei Wefen, die unferer Änfchauung völlig tranfzendent find, entzöge fleh diefer Grund der Befchränkung unferer Änalyfe.

Hiedurch alfo erfchien die ewig vollendete himmlifche Welt Arifloteles in einer der Gottheit würdigen Weife geadelt. Was dagegen die Himmelskörper anlangt, fo kann ihr Beflehen allerdings nur durch einen Nütjlich- keitswert1), den fie haben, gerechtfertigt werden. Für wen aber find fie nütjlich? Für die bewegenden, im- paffiblen Sphäreng eifler ficher nicht, die vielmehr in der Selbfllofigkeit ihres Wirkens ganz der Gottheit gleichen. Wir haben alfo hier nur an eine Nützlichkeit in bezug auf die fublunarifche Welt zu denken. In diefer Be- ziehung gibt es ihnen aber einen Vorzug , daß fie in- korruptibel find und fich darum nicht, wie manches in

*) Theophrafl madit die treffende Bemerkung, daß, da die Gott- heit unbewegt und das Gottähnlichere das Vollkommenere fei, eine bewegte Sphäre an und für (ich nicht vollkommener fein könne als eine unbewegte. Aber das ifl eben gar nicht die Vollkommenheit, um die es fim hier handelt: und nur als bewegte kann fie, wie wir fehen werden, die Dienfte leiflen, deren das Univerfum zur Er- reichung des höchflmöglichen Maßes des in fim Guten bedarf. Darum erfcheint auch Arifloteles die Annahme einer Sphäre ohne Zweck- beziehung zur Bewegung eines Sternes gänzlich ausgefchloffen. Vgl. Met. A, 8 p. 1074 a 17.

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der fublunarifchen Welt, nur vorübergehend nütjlich machen. Und dies fowohl als der Umfland, daß fie die niedere Welt nur beeinfluffen , nicht aber von ihr be- einflußt werden, alfo ihr nur Wohltaten fpenden, ohne felbft eine Förderung von ihr zu empfangen, läßt fie, trotj dem Mangel eines Wertes in (ich felbfl, doch noch in einer befonderen Weife der Gottheit ähnlich er- fcheinen. Und fie werden darum von Äriftoteles als höher als die korruptiblen Elemente, ja als göttliche Körper bezeichnet.

Infolge der Rotation der Himmelskörper kommt es zu periodifchem Wechfel, wie Tag und Nacht, Sommer und Winter, wobei es aber doch niemals zu einer Wieder- holung derfelben Gefamtkonftellation kommen wird. Und fo kann es denn fowohl aus diefem Grunde, als auch weil alle früheren Einwirkungen in Nachwirkungen irgend- wie fortbeftehen, auch in der fublunarifchen Welt nie zu einem Zufland kommen, in dem fich ein früherer genau wiederholt. Eines der „Probleme", welches diefes be- hauptet, verrät fich dadurch als unecht und als Werk eines Schriflftellers, der fich, wie die Stoiker, die Natur- anfchauung des Heraklit zu eigen gemacht hat.

Die korruptiblen Elemente und was zur

wirklichen Entfaltung ihrer Kräfte und

Anlagen führt.

Die fublunarifche Welt, die fich zum Himmel, wie Äriftoteles ihn dachte, fo vielfach im Gegenfatje zeigt, hat doch ebenfo wie er einen Befland von Ewigkeit und da auch für fie die Gottheit die alleinige erfle Urfache ift, aus dem gleichen Grunde. Wo nichts mitbedingt, kann auch nichts Mitbedingendes fehlen. Und fo ift denn auch die fublunarifche Welt von Ewigkeit. Von Gott allein als erfler Urfache bedingt, ift fie doch nicht durch

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Schöpfung entflanden, da fie vielmehr anfangslos fchöpfe- rifch erhalten wird.

Arifloteles unterfcheidet in ihr elementare Körper und folche, die aus ihnen zufammengefetjt find, und hält fleh, wie auch Piaton es getan, an die Vierzahl der empe- dokleifchen Elemente : Erde, Waffer, Luft und Feuer. Die Atomiftik des Demokrit war ja ebenfo für ihn aus- gefchloffen wie, als zwiefach abfurd, die Lehre des Anaxagoras von unendlich vielen, unendlich kleinen elementaren Körperchen.

Jedes Element hat, ähnlich wie der Himmel, ja jede Sphäre des Himmels, einen natürlichen Ort. Die dem Feuer natürliche Region liegt dem Himmel zunächft, dann folgt die der Luft und zu unterfl die der Erde. Wie der Himmel gegenüber der fublunarifchen Welt nur aktiv ift, und jede höhere Sphäre die niederen nur bewegt, nicht von ihnen bewegt wird, fo kommt dem Feuer mehr Aktivität zu als der Luft, und am wenigften hat die Erde. Dafür haben wir in ihr am meiften den Mutterfchoß zu erblicken, in dem, wenn er von oben her befruchtet ift, fidi die mannigfachflen Bildungen erzeugen. Bei den Mifchungen der Elemente, die ja mehr als bloße Ver- mengungen find, kommt es zu neuartigen g leichteiligen Subftanzen, wie denn auch die Umwandlung eines Ele- mentes in das andere nicht unmöglich ift. Aber auch vielgiiederige und doch fubftanziell einheitliche Gebilde können aus den Elementen entflehen. Und fo find felbfl die wunderbaren Strukturen der höchften Organismen der Anlage nach in ihnen enthalten. Pflanzen, Tiere und Menfchen, der ganze reiche Schmuck der Erde ift der Möglichkeit nach in ihnen befchloffen.

Doch nichts von alledem würde ohne den himmlifchen Einfluß fich verwirklichen. Denkt man den Himmel hin- weg, fo hätten wir, einheitlich fich erftreckend, vier ab- gerundete, ruhig übereinander lagernde Körper. Sie könnten nur etwa an ihrer Grenze aufeinander wirkfam gedacht werden. Allein auch diefe oberflächliche Be-

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rührung fo gewaltiger einheitlicher Maffen würde, fcheint es, nach der Meinung des Ariftoteles nicht ausgereicht haben, eine gegenfeitige qualitative und fubftanzielle Änderung herbeizuführen. Noch mehr. Dächten wir fie felbfl in kleinften Parzellen miteinander aufs innigfte vermengt, wo dann der Kontakt zu gegenfeitigen Ein- wirkungen und Umwandlungen ausreichte, fo würde, da dabei durchwegs die Unähnlichkeiten fleh ausglichen, die Umwandlung zu einem einheitlichen Mittleren gelangen, und die ganze Entwicklung in einer Art Ähnlichkeitstod endigen, der an den von neueren Phyfikern gefürchteten allgemeinen Wärmetod erinnern könnte. Und wenn unter allem, was erfonnen worden ifl, um ein folches Verhängnis als nicht ganz unabwendbar erfcheinen zu laffen, fleh nichts als haltbar erweifen will außer dem Gedanken von Maxwell und Lord Kelvin, welche die Möglichkeit eines Eingreifens von Kräften, die von Seiten der Körperwelt keine Rückwirkung erfahren, ins Auge faffen: fo gleicht auch dies ganz dem, was wir bei Aristo- teles finden, da ja, wie wir hörten, die himmlifche Welt, welche der ganzen fublunarifchen die Bewegung gibt und erhält, ihrerfeits von derfelben nicht im mindeflen leidet.

Veredelnder und befeelender Einfluß der

Geflirne.

Dankt fo die fublunarifche Welt dem Einfluß der himmlifchen eine fortdauernde Bewegung, welche fie dazu führt, ihre eignen Kräfte in mannigfacher Wechfelwirkung zu betätigen, fo ift dies doch nicht die einzige Förderung, die fie von ihr empfängt. Die Geflirne üben einen Ein- fluß, der die niedere Welt in gewiffem Maße der himm- lifchen verähnlidit. Wir hörten von der Tendenz der Himmelskörper zu zirkularer Bewegung. Auf die Mit- teilung von etwas ihr Ähnlichem führt Ariftoteles die

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rundliche Geflalt der Lichtflecken zurück, wenn die Sonnen- flrahlen, die durch ein Gebüfch gedrungen, die Erde be- rühren. Und bei dem fo merklichen Einfluß, den der Unter fchied der Jahreszeiten auf die ganze Vegetation hat, glaubt er, daß der veredelnden und in gewiffer Weife ver göttlichenden Einwirkung der Geftirne in tieferem Grunde alle Entftehung von fo viel höheren Produkten, als welche (ich die Organismen in ihren Lebenstätigkeiten erweifen, zuzufchreiben fei.

Die ganze niedere Welt ift infolge der anfangslofen, nachhaltigen Beeinfluffung von feiten der himmlifchen irgendwie für die Entflehung lebender Wefen vorbereitet, ja kann aus diefem Grunde in einem erweiterten Sinne befeelt genannt werden; denn unter Seele verfleht Ariflo- teles die fubftanzielle Wirklichkeit, die Natur eines lebenden Körpers. Doch ift diefe Vorbereitung hier mehr, dort minder gegeben. In gewiffen Fällen nur kommt es dazu, daß einem niederen Körper infolge feiner Ver- ähnlichung mit den himmlifchen eine Bewegung natürlich wird, die mehr der zirkulären der Sphären als der gerad- linigen der niederen Elemente gleicht und fich fo erhält und auf anderes, was damit in Berührung kommt, über- trägt, was dann im weiteren Verlauf zur Entflehung eines lebenden Organismus führt. Arifloteles nennt eine folche Subflanz Tzvzo\ia und fpricht von einer lebenweckenden Wärme (Ocp^otr^ CumxVj), welche von der gemeinen Wärme, wie fie dem Feuer natürlich eignet, wefentlich verfchieden ifl1). Sie findet fich dagegen in der flrahlenden Wärme der Sonne und findet fich auch im zeugungskräfligen Samen; unvollkommener und eigentlich nur entfernt zu der betreffenden Bewegung vorbereitet in den Kata- menien und auch in anderen Teilen des Organismus. Doch werden die Katamenien mit dem Samen in Kontakt ge- bracht, zu der gleichen, ihm natürlichen Bewegung ge- führt. Arifloteles betont an gewiffen Stellen fo flark,

]) Vgl. z. B. De Gen. An. II, 3. 126

daß hier etwas dem Element der Geflirne Ähnliches ge- geben fei, daß manche Ausleger (ich verleiten ließen zu glauben, er lehre geradezu, daß kleine Teilchen, von der Himmelsfubflanz losgeriffen, fo in die niedere Welt hineingeraten feien, um als ein fünftes Element das Wefen der lebendigen Subflanzen mit zu konftituieren. Bei der Inkorruptibilität und Immaterialität der Himmels- fphären iffc dies felbftverftändlich ausgefchloffen.

Ärifloteles glaubt an das fpontane Entflehen gewiffer niederer Pflanzen und Tiere als an eine Tatfache noch gegenwärtiger Erfahrung. Folgerichtig mußte er dahin neigen, denen recht zu geben, welche in letjter Inflanz auch den Urfprung der höheren und höchften Arten, der vierfüßigen Tiere und des Menfchen, als eine fpontane Entftehung aus unorganifchen Körpern begreifen wollten. In den Büchern von der Erzeugung der Tiere deuten fchon gewiffe Bemerkungen im dritten Kapitel des zweiten Buches darauf hin, und ganz unverblümt tritt der Ge- danke im dritten Buch *) hervor, wenn er die Lehre der- jenigen, welche auch die vierfüßigen Tiere und den Menfchen urfprünglich aus dem Schlamm fpontan hervor- gehen ließen, durchaus nicht als unvernünftig abweifen will. Vielmehr beginnt er eingehend die nähere Weife, wie dies gefchehen fein könne, in Erwägung zu ziehen. Eine Hypothefe der Evolution der Arten, wie fie unferer Zeit geläufig ift, kommt ihm dabei wohl nicht in den Sinn. Aber dennoch zeigt fleh fchon eine gewiffe An- näherung, denn auch er ift der Überzeugung, daß ein fo vollkommener Organismus nicht unvermittelt aus dem Schlamme entftehen könne; es muffen niedere Formen die Vorbereitung gewefen fein. ,Und indem er vergleichend auf die Weife blickt, wie fleh je^t bei der Ontogenie eine folche Vorbereitung der höheren Formen durch niedere zeigt, einerfeits durch Eier, anderfeits durch eine niedere Lebensform, wie die Raupe fie gegenüber dem Schmetter-

3) Vgl. De Gen. An. m, 11.

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ling und andern Infekten darfteilt, kommt er dazu, die Möglichkeiten zunächft auf diefe beiden Hypothefen zu befchränken, und fchließlich unter ihnen wieder der der Entflehung aus einem niederen, wurmartigen Lebewefen den Vorzug zu geben. An diefe fidi zu halten, erfcheine als das Vernünftige *).

Stufen des Lebens. Überlegenheit des Menfchen durch feine teilweife geiftige

Natur.

Dabei muß aber natürlich wegen der Vollkommenheit des Enderg ebniff es der Entwicklung an einen Fall ge- dacht werden, wo die unter dem himmlichen Einfluß

x) Trotj der eingehenden Erörterung der Weife, wie die erften Menfchen aus dem Schlamm entbanden feien, wollen die Interpreten gemeiniglich nicht zugeben, daß Ariftoteles an einen Anfang des Menfchengefchlechtes geglaubt habe. Sie berufen fich dabei auf eine Reihe von Stellen, in welchen Ariftoteles lehren foll, daß die Wiffen- fdiaften fchon unendlich oft aufgebaut worden und wieder in Verfall geraten feien. Sieht man genau zu, fo lehrt dies aber keine einzige von ihnen, indem vielmehr eine wie die andere nur fagt, daß jede Wiffenfchaft ins Unendliche oft entdeckt und wieder verloren werde; was genügt, um die Hypothefe, daß unferer Periode fchon eine andere vorausgegangen fei, wahrfcheinlich zu machen. Die Differenz ift aber in anderer Beziehung fehr wefentlich. Da, wie wir hören werden, beim Tode des Menfchen fein intellektiver Seelenteil, der fogenannte voü?, unflerblich fortbefleht, und kein überlebender menfchlicher voüs zum zweiten Male fleh mit einem Leib verbindet: fo müßten, wenn fchon unendlich viele Zeugungen erfolgt wären, gegenwärtig aktuell unendlich viele abgefchiedene Menfchengeifter beftehen, was nach Ariftoteles eine Abfurdität involviert, während die Annahme einer Vervielfältigung ins Unendliche nach ihm keines- wegs abfurd ift. Zu der Lehre von einem Anfang des Menfchen- gefchlechts ftimmt es auch, wenn Ariftoteles in der Politik von einem Menfchen fpricht, der zum erftenmal einen Staat erfunden habe. Vgl. hiezu die ausführlichere Erörterung in meiner eben erfcheinenden Abhandlung „Ariftoteles' Lehre vomUrfprung des menfchlichenGeifles", S. 95 ff., wo ich nachweife, daß in der Stelle Pol. VII, 10 p. 1329 b 26 flatt „eüp^aöac" „e'jpi'axEa&ai" zu lefen ift.

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entstandenen Dispofitionen viel vollkommener waren als bei den, wie Ariftoteles meint, von uns beobachteten fpontanen Erzeugungen. Doch was hindert anzunehmen, daß, wie der Samen verfchiedener Pflanzen und Tier- arten1), auch die Dispofitionen bei der Urzeugung fehr verfchiedenartig waren und fehr große Gradunter- fchiede der Vollkommenheit aufwiefen ? Zu folchen, aus welchen die höheren Tierarten und die Menfchen her- vorgegangen find, konnte es nur unter ganz befonders günfHger Konftellation im Zufammenhang mit den ihnen vorangegangenen Einflüffen kommen. Sie aber genügte für immer; denn wenn fie nicht zu etwas führte, was ewiges Sein hatte, fo hatte die Natur dies durch die Kraft zu endlos fleh wiederholender Erzeugung erfetjt2). Von den drei Stufen: Pflanze, Tier und Menfch, be- frtjt jede höhere gewiffe Lebensfunktionen mit der voraus- gehenden niederen gemeinfam und bringt eigentümliche neue hinzu. Die Lebensfunktionen der Pflanze befchränken (ich auf Ernährung , Wachstum und Erzeugung ; dazu kommen beim Tier auch noch die Funktionen der Emp- findung nebfl Phantafie und Gedächtnis, des Begehrens, worin, in dem weiten Sinne, in welchem es Ariftoteles faßt, die fämtlichen Affekte, wie finnliche Lufl und Un- lufl, Zorn, Hoffnung und Furcht u. dgl. mit befchloffen find, und die willkürliche örtliche Bewegung; beim Menfchen endlich auch noch die Funktionen des Verbandes, welcher begrifflich denkt, urteilt und fchließt, und die höheren Gemütstätigkeiten, welche, fo wie das intellektive Er- kennen dem Empfinden, dem finnlichen Begehren analog find. Auch glaubt ihm Ariftoteles, damit er zu wirklichem Denken gelange, außer der die Gedanken aufnehmenden Fähigkeit eine gewiffe aktive Kraft zufchreiben zu muffen, die er ebenfalls voü? nennt, aber nicht, weil fie denkt (denn das Denken iffc eine Art Leiden), fondern weil fie

x) De Gen. An. II, 3 p. 736 b 31.

2) De Gen. et Corr. H, 10 p. 336 b 27.

9 Brentano, Ariftoteles. 129

denken macht; alfo in ähnlich übertragenem Sinne, wie wir eine Arznei gefund nennen, weil fie die Gefundheit verleiht. Wir werden fogleich beffer verflehen, welchem Bedürfnis er durch ihre Annahme genügen wollte.

Jede folgende Stufe erhebt fich fo hoch über die voraus- gehende, daß diefe ihr gegenüber leblos erfcheint. Die Pflanze, der noch alles Bewußtfein fehlt, hat eben darum noch gar nicht an dem in fich felbfl Guten teil1); fie ifl gut nur im Sinne des Nützlichen. Anderes gilt vom Tier, das unterfcheidet, und in welchem auch der Luft nicht ganz der Charakter eines in fich Guten abgefprochen werden kann, fo gewiß der ihr entgegengefetjte Schmerz, in fich felbfl betrachtet, als ein Übel erfcheint. Doch fo hoch um diefes Umflands willen das Tier über der Pflanze fleht, fo ifl doch der Abfland zwifchen Tier und Menfch noch unvergleichlich größer. Das Tier ifl nach Arifloteles wie die Pflanze allen feinen Teilen nach körperlich, der Menfch aber foll nach ihm ein teilweife körperliches, teilweife geifHges Wefen fein. Ich fage „teilweife körper- liches, teilweife geifliges Wefen" und gebe dadurch zu er- kennen, daß Arifloteles den Menfchen nicht für eine Verbindung zweier wirklichen Subflanzen, vielmehr für eine einzige, einheitliche wirkliche Subflanz hält. Wie die Vielheit von Teilen mit fo tiefgreifenden Unter- fchieden, wie Fleifch, Knochen, Sehne u. dgl. fie zeigen, nach Arifloteles nicht damit unvereinbar ifl, daß fie alle zu einer einzigen einheitlichen wirklichen Subflanz ge- hören und keiner eine wirkliche Subflanz für fich ifl: fo trägt er auch kein Bedenken zu glauben, daß eine fo große Differenz, wie die zwifchen Körperlichem und Geifligem damit vereinbar fei, daß beide als Teile zu- fammen eine einheitliche Subflanz ausmachen.

Eines der Argumente, die Arifloteles dazu führten, das Subjekt der fenfitiven Funktionen für körperlich, das der intellektiven Funktionen für geiflig zu halten,

x) Vgl. Theophrafls metaphyfifches Fragment. 130

lernen wir im erften der drei Bücher von der Seele kennen. Es fcheint ihm widerfprechend, daß ein Akzidens, welches kontinuierliche Teile unterfcheiden läßt, in einer unausgedehnten Subflanz, und ein unausgedehntes Akzi- dens in einer ausgedehnten Subflanz als Subjekt fich finde. Unfere Sinneswahrnehmungen, wie z. B. das Sehen, zeigen aber kontinuierliche Teile, denn jedem andern Teile des gefehenen Bildes entfpricht ein anderer Teil des Sehens : alfo, fchließt er, iffc das fubflanzielle Subjekt unferes Sehens ausgedehnt. Umgekehrt iffc , wenn ich einen allgemeinen Begriff wie den des Dinges, der Ver- neinung u. dgl. denke, das Denken fo wenig aus konti- nuierlichen Teilen zuf ammeng efe^t als das Objekt, wie es von ihm gedacht wird; und fomit iffc das Subjekt diefes Denkens in uns geifbig. Zu diefem fügt das vierte Kapitel des dritten Buches noch weitere Beweisgründe hin- zu, wie z. B. den, daß wir, wenn wir etwas fehr Senfibles erfaßt hätten, daraufhin unfähiger feien zum Erfaffen eines minder Senfiblen, während nicht das Gleiche, viel- mehr eher das Gegenteil für intelligible Eindrücke fich ergebe. Sind nun aber unfere fenfitiven Eindrücke in einem Organ, die intellektiven aber geiftig , fo kann an der Zugehörigkeit von etwas Körperlichem und etwas GeifHgem als Teilen zu ein und demfelben einheitlichen wirklichen Dinge nicht gezweifelt werden, da es ja doch fonfl zu keinem Vergleich der einen mit den andern kommen könnte.

Wedifelwirkung zwifdien Geifl und Leib,

Das fenfitive körperliche Organ und der geifHge Teil des Menfchen flehen natürlich auch in Wedifelwirkung. Doch glaubt Arifloteles diefelbe nur in der Art möglich, daß der Anfang durch eine Einwirkung gemacht werde, die der geiflige Teil auf den leiblichen übt. Die Körper der fublunarifchen Welt können, wir erinnern uns, nicht einmal auf die Geflirne und ihre Sphären einwirken;

«* 131

wie follten fie aus eigner Krafl einen Geifl zu verändern imflande fein? Das körperliche Organ würde dazu fo wenig ausreichen, als ein Feuer einen Geift glühend machen kann.

Da ergibt fleh nun aber eine Schwierigkeit. Die intellektiven Funktionen vollziehen (ich alle in einer ge- wiffen Abhängigkeit von den fenfitiven; in den Phan- tasmen, die der senfitive Teil hat, erfaßt der menfchliche Geifl die darin enthaltenen Begriffe und wird fo erfl aus einem, der denken kann, wirklich denkend. Somit kann er denkend nicht früher auf den fenfitiven Teil eine Wirkung üben, als er die erfle Wirkung von ihm empfängt.

Diefer Umfland nun ifl es, um deswillen Arifloteles, außer der Fähigkeit zu denken und zu wollen, dem menfchlichen Geifl noch jene aktive Krafl zugefchrieben hat, deren wir fchon erwähnten. Er nimmt an, daß vor allem Denken ein Einfluß von dem Geifle auf das fenfi= tive Organ, in welchem die Phantasmen find, geübt werde, welcher diefen zur Rückwirkung befähige. Das und nichts anderes ifl die Funktion des vous tcoi^tixo?, aus welchem manche ein höheres denkendes Vermögen der Seele, manche fo gar eine befondere einheitliche, alle Menfchen- geifler erleuchtende, höhere Intelligenz oder auch die Gottheit felber machen wollten, während der vou? ttoi^tixoc gar nicht denkt, fondern nur durch feine zunächfl auf den finnlichen Teil gerichtete Wirkfamkeit unfer geifliges Denkvermögen aus einem bloß in Möglichkeit Denkenden zum wirklich Denkenden macht1). Ifl dies gefchehen, fo übt der Geifl mit feiner Denk- und Gemütstätigkeit auch bewußt die mannig fachflen Einwirkungen auf den Verlauf der Phantasmen und der Affekte.

J) Vgl. die ausführlidie Darflellung und Begründung in meiner Schrift „Die Pfychologie des Arifloteles, insbefondere feine Lehre

vom voü; 7ioi7]Tixo;."

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Mitwirkung der Gottheit zur Entftehung des Menfchen.

Wenn Arifloteles fo der Schwierigkeit Rechnung trägt, welche (ich für die Einwirkung von etwas Leiblichem auf etwas GeifHges felbffc dann noch zu ergeben fcheint, wenn beide als Teile zu ein und derfelben wirklichen Subflanz gehörig gedacht werden: fo konnte er um fo weniger die überfehen, welche (ich daraus ergibt, daß als Produkt der Erzeugung, die doch ein vegetativer Prozeß ift, beim Menfchen nicht ein rein körperliches, fondern ein teil- weife geiftiges Wefen erfcheint. Wie follte (ich diefes auch feinem geiftigen Teile nach aus dem Samen und den Katamenien, die doch beide nur Überfchüffe ver- arbeiteten Nahrungsfloffes find, entwickelt haben? In der Tat hält Ariftoteles fowohl dies für unmöglich, als auch die Unterflütjung durch andere fekundäre Kräfte für nicht ausreichend und glaubt vielmehr eine unmittelbare Mitwirkung der Gottheit felbfl annehmen zu muffen. In dem durch den Zeugungsfaft gebildeten, körperlichen Produkt, in welchem bei feinem Abgang vom Mutter- fchoß der Same des die Seele gebenden Prinzips mit- abgeht, ifl, lehrt er, wo es fich um eine menfchliche Ge- burt handelt, diefer Same ein doppelter : der eine körper- lich, der andere unkörperlich. Der körperliche ift der Samen des Zeugungsfafles ; und diefer, da er fich auf löft und verdunftet, ift nicht als ein befonderer Teil, fondern, wie der Feigenfaft in der dadurch zum Gerinnen ge- brachten Milch aufgegangen, darin enthalten. Der un- körperliche dagegen ifl ein göttlicher Samen und ifl, da bei ihm von Auflöfung und Verdunflung keine Rede fein kann, im Zeugungsprodukt als ein befonderer Teil zu unterfcheiden. Es ifl dies der intellektive Teil der menfch- lichen Seele, der fogenannte voSc.

Damit diefes Eingreifen der Gottheit nicht zu be- fremdlich erfcheine, verfäumt Arifloteles nicht, darauf

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aufmerkfam zu machen, daß ja fdion zum Entflehen eines Lebewefens überhaupt die Kräfle der niederen Elemente nicht ausgereicht hätten, daß vielmehr die Kraft der himmlifchen Subflanzen in gewiffer Weife ver- göttlichend als Urfache mit beteiligt war. Wir haben alfo in dem Mitwirken der Gottheit zum Entflehen des Menfchen nicht etwas, wofür die Analogie bei der Ent- flehung niederer Lebewefen ganz fehlte.

Aber wie ifl diefes Eingreifen der Gottheit zu denken ? Hat fie, nachdem fie den geifKgen Teil des Menfchen von Ewigkeit fdiöpferifch hervorgebracht hatte x), ihn nun mit einem Embryo in der Art verbunden, daß er, der bisher als befondere geifHge Subflanz für fich befland, nun auf- hörte, ein wirkliches Wefen für fich zu fein, und Teil einer menfdilichen Natur wurde, oder hat fie ihn erfl je^t fdiöpferifch hervorgebracht? Wenn Arifloteles das erfte annahm, fo mußte er glauben, daß derfelbe Geifl wieder und wieder mit anderen und anderen Embryonen verbunden werde; denn das Menfchen- gefchlecht erhält fich nach ihm fortzeugend ins Unend- liche, die Menge der von Ewigkeit beflehenden Geijler kann aber nur eine endliche fein. Alle Ausleger find nun darin einig, daß Arifloteles in der reiferen Zeit feines Philofophierens die Palingenefe verworfen hat 2). Alfo ifl diefe Möglichkeit ausgefchloffen. Und fie fcheint es auch noch aus einem anderen Grunde, den fchon Theophrafl

2) Daß er Gott zur Urfadie hat, fleht nach dem, was wir früher gefehen, fchon darum außer Zweifel, weil Gott die Urfache aller Dinge, die der Sphärengeifler nicht minder als die der korruptiblen Wefen, ifl. Auch weift Arifloteles De An. HI, 5 und 7 ausdrücklich auf das ewig aktuelle, göttliche Wiffen als die erfle Urfache alles menfchlichen Wiffens zurück. Und einen ähnlichen Hinweis auf die Gottheit als das erfle Prinzip der natürlichen Tendenzen des menfch- lichen Geifles finden wir im fiebenten Buch der Eudemifchen Ethik Kap. 14. Es kann fich alfo nur um die Frage handeln, ob der menfchliche Geifl von [Ewigkeit oder nicht von Ewigkeit Gott ent- flamme.

2) Vgl. De An. I, 3 p. 407 b 21.

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geltend macht1). Wie follte es denkbar fein, daß ein gewiffer von Ewigkeit für fich beflehender Geifl fo, wie es im Menfchen der Fall fein würde, mit dem, was fich als Produkt einer embryonalen Entwicklung ergibt, feiner Natur nach zuf ammengehörig wäre? Die Seele diefes Menfchen ift ja nach Arifloteles die Natur diefes Menfchen, und der geifHge Teil diefer Seele alfo ein Teil diefer Natur. Und fo fchließt denn Theophrafl, man muffe den vous nicht als fertig hinzugefetjt, fondern als im Entflehen des Menfchen mitbegriffen denken. Und das flimmt zu dem, was Arifloteles ausdrücklich lehrt, wo er hinfichtlich der menfchlichen Seele, zwifchen Prä- und Poflexiflenz unterfcheidend , die erflere vollfländig in Abrede [teilt, dagegen, als auf etwas ihm offenbar fehr Wichtiges, darauf aufmerkfam macht, daß nichtsdefloweniger ein Fortbefland der Seele nach dem Tode nicht ausgefchloffen fei; nicht zwar der ganzen, wohl aber ihres intellektiven Teils 2).

Aber auch der Annahme, daß Arifloteles den vou? des einzelnen Menfchen bei deffen Erzeugung durch die Gott- heit neu hervorbringen laffe, fleht entgegen, daß wir ja dann ein Werden aus nichts hätten, das Arifloteles aufs entfchiedenfle als unmöglich in Abrede flellt. Und wir kennen ja auch den Grund, der ihm bei diefer Lehre maßgebend war. Ift das wirkende Prinzip gegeben, und fehlt keine der etwa erforderlichen Mitbedingungen, fo muß die Wirkung zugleich mit ihm gegeben fein. Unter diefem Gefichtspunkt betrachtet fcheinen alfo die menfch- lichen Geifler, wenn von der Gottheit gewirkt, ebenfo von Ewigkeit fein zu muffen wie die Geifler der Himmels- fphären.

J) Vgl. Theophrafts Fragment aus dem fünften Buch der Phyfik bei Themiftius zu De Anima III, 5 fol. 91 r.

-) Vgl. Met. A, 3 und die Weife, wie Zell er in feiner „Ab- handlung von der Ewigkeit des Geifles" fich bemüht, diefe Stelle zu entkräften, und feine Widerlegung in meinem „Offenen Brief an Zeller" 1883.

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Doch die ganze Schwierigkeit löft (ich, wenn wir darauf achten, daß, wie immer bei der Erzeugung eines Menfchen etwas neu entfleht, was einem Teil feiner Seele nach geiftig ifl, darum doch nicht gefagt werden kann, daß diefer geiflige Teil der Seele neu entflehe; wie ja auch nicht, daß die Seele neu entflehe. Arifloteles hebt ge- rade auch an der Stelle, an welcher er die Präexiflenz der Seele im Gegenfatj zu ihrer teilweifen Poflexiflenz in Abrede (teilt, ausdrücklich hervor, daß man nicht fagen dürfe, die Seele entflehe, fondern das wirkliche Ding, deffen Natur die Seele fei. Ein Pferd erzeugt ein Pferd, nicht die Seele eines Pferdes: und fo erzeugt auch ein Menfch einen Menfchen, nicht aber die Seele eines Menfchen oder einen Teil diefer Seele. Und wenn er nicht allein, fondern nur unter unmittelbarer Mitwirkung der Gottheit einen Menfchen erzeugt, fo gilt, was von ihm gilt, ganz ebenfo von der Gottheit als wirkendem Prinzip. Was von ihr gewirkt wird, genauer gefagt, was unter ihrer Mitwirkung entfleht, ifl einzig und allein der Menfch, nicht aber die Seele diefes Menfchen oder ein Teil diefer Seele; denn diefe entflehen gar nicht, fondern find nur als zum Menfchen gehörige Teile, wenn er entflanden ifl, mitgegeben. So wenig alfo handelt es fleh hier um ein Entflehen des voös aus nichts, daß es fleh vielmehr gar nicht um ein Entflehen des vouc handelt; vielmehr um die Entflehung eines Menfchen in- folge eines Zufammenwirkens des väterlichen Samens und der fchöpferifchen Kraft der Gottheit, deren Wille hier nicht auf ein durch fie allein unmittelbar bedingtes Entflehen, fondern ein durch die Krafl des Samens und die embryonale Entwicklung Mitbedingtes abzielt. So kann denn, da der Menfch das einzige ifl, was hier ent- fleht, diefer aber nicht aus nichts entfleht, hier keines- wegs von einer Verlegung des Satzes, daß niemals etwas aus nichts entflehe, gefprochen werden. Und daß dies auch dann nicht der Fall ifl, wenn nach dem Tode des Menfchen der geiflige Teil feiner Seele nun allerdings

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als ein wirkliches Ding für {ich zurückbleibt, ifl ebenfo augenfcheinlich. Will man in diefem Fall ihm deshalb, weil er nun zu einem wirklichen Dinge für (ich wird, während er bisher nur Teil der Form des Menfchen war, ein Entftehen zufchreiben, fo doch wahrlich nicht ein Ent- flehen aus nichts; da er vielmehr aus dem Menfchen entfteht, von dem er nach der Korruption des Leibes, ohne felbffc eine Umwandlung in Entgegengefet^tes zu erfahren, als inkorruptibler Reft zurückbleibt1). So zeigen

]) Vergleicht man mit diefer Darlegung das, was ich in meiner Schrift „Über den Creatianismus des Arifloteles", 1882 gefagt habe fo bemerkt man eine wefentliche Korrektur. Gerne bekenne ich, wenn ich Zellers Auffaffung noch heute fchon durch die damals erbrachten Gründe für vollkommen widerlegt halte, daß doch auch meine Auffaffung noch mit einem Fehler behaftet war, mit deffen Berichtigung der einzige wahrhaft bedeutende Einwand von Zell er entfällt. Ich fprach mit Unrecht von einer Schöpfung des geifligen Teiles der menfchlichen Seele, wo ich vielmehr von einem Mitwirken der Gottheit zur Entflehung des einheitlichen, geiflig leiblichen Menfchen hätte reden follen. Auch die Stelle De Gen. An. II, 3 p. 737 a 7 hatte ich mir damals noch nicht in ihrem wahren Sinne verftändlich gemacht.

Arifloteles fagt, unfer geiftiger Teil fei am meiflen unfer Selbfl. (Vgl. Eth. Nie. X, 7 p. 1178 a 2.) Wenn unfer Geifl, fo hätten darum wir felbfl nach ihm keinen Anfang genommen, und es wäre nicht zu- treffend, wenn er Eth. Nie. fagt, daß wir unferen Eltern unfer Sein dankten, da fie vielmehr nur etwa zu den Urfachen unferer Ein- körperung gezählt werden könnten. In Piatons Munde wäre darum ein folches Wort unmöglich. Als ich dies fchon früher mit geltend machte, erwiderte Zeller, daß auch nach meiner Anficht die Eltern nicht als Urfache des totalen Seins des Kindes, fondern nur feines Leibes zu betrachten wären. Die Entgegnung erfchien vielleicht auch damals wenig kräftig, immerhin hätte ja die Erzeugung des Leibes die Schöpfung des Geiftes nach allgemein gültigem kosmifdiem Ge- fetje zur Folge gehabt. Nach der Art, wie ich jetjt meine Darflellung berichtige, ifl fie aber gar nicht mehr am Platje; denn nicht der Geifl wird von Gott und der Leib vom Vater, fondern der einheitliche geiflig-körperliche Menfch durch ein Zufammenwirken beider erzeugt, in deffen einheitlichem Entftehen die Seele ihrem vegetativen, fenfi- tiven und intellektiven Teil nach inbegriffen ifl. Der Vater wie der Gott find alfo Urfache des ganzen Menfchen wenn auch weder der

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fleh denn die allgemeinen Prinzipien, die Ariftoteles für das Entftehen der Dinge aufgeteilt hat, hier in keiner Weife verlebt.

Es iffc für das Verfländnis der ganzen ariflotelifchen Weltanfchauung von höchfter Wichtigkeit, daß man fich diefen Punkt feiner Lehre zur vollen Klarheit bringt und begreiflich macht, wie es nach ihm trotj der Leugnung jedes Werdens aus nichts zu einer nachträglichen Ver- mehrung der immateriellen Subflanzen kommen könne. Man wird daraufhin dann fofort auch erkennen, warum Ariftoteles den menfehlichen vous nicht fchon im Samen des Vaters feinen Anfang nehmen laffen konnte, wenn er diefen Samen nicht fchon geradezu für intellektiv be- feelt halten, d. h. ihn fchon für etwas, was der Natur des Menfchen teilhaft und felbfl fchon ein Menfch fei, erklären wollte. Denn der vouc hätte ja dann anfangs als ein Ding für fich beflanden und als folches für fich und nicht bloß als Teil eines anderen feinen Anfang ge- nommen; mit anderen Worten, wir hätten jenes von Arifloteles für unmöglich gehaltene Entftehen aus nichts. Ja, fowenig der voös nach Ariftoteles fchon im Samen des Vaters, fowenig kann er auch noch in dem Keim vom Augenblick der Befruchtung an gegeben fein, da diefem, wie Arifloteles durch feine fehr beachtenswerten embryologifchen Unterfuchungen feftgeftellt hat, erft nach einer Reihe fehr tiefgreifender Umwandlungen die menfeh- liche Natur zu eigen wird. Zuerfl gilt er ihm auch nach der Befruchtung als im eigentlichen Sinne noch ganz un- befeelt, wenn auch zur Befeelung vorbereitet; dann foll er, einer bloß vegetativen Seele teilhaft geworden, ein bloß pflanzliches Leben führen ; dann zu einer animalifchen

Vater noch der Gott die ausfdiließlidie Urfadie desfelben iffc- Ebenfo erfcheinen der menfchlidie Same und menfefaliche Embryo in feinen früheften Entwicklungsftufen nicht als Menfchenleib in Möglichkeit, fondern als Menfch in Möglichkeit, und es wird von ihnen gefagt, daß fie auch die intellektive Seele der Möglichkeit nach hätten. De Gen. An. II, 3.

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Befeelung gelangen, fo zwar, daß er nunmehr finnliche Lebenstätigkeiten übt; und abermals beträchtlich fpäter noch der intellektiven Seele und mit ihr der wahren Natur des Menfchen teilhafb werden. Hier erfl wird das Zeugungsprodukt unter jener befonderen Mitwirkung der Gottheit ein geiflig-körperliches Wefen1).

*) Zell er meint, nach Arifloteles fei der vous fchon vor der Be- gattung im Samen des Vaters gewefen und werde darum ebenfo wie der Zeugungsfaft zum väterlichen Samen gerechnet. Wenn Ariflo- teles ihn ttetov arepfjia nennt, fo bezeichne dies nicht ein Woher des Samens, vielmehr heiße „göttlich" hier fo viel wie geiflig. Aber die Frage nach dem Woher war ausdrücklich aufgeworfen worden und findet, wenn nicht durch das „Melov", gar keine Beantwortung. Und wenn 9e!ov hier nicht mehr fagen wollte als geiftig , fo würden die Worte : |iiv ywpia-rov ov Otufioroc, oaot; EfiTteptXafißdvexai (nach anderer Lesart ti) OeTov zur nichtsfagenden Tautologie; hieße es doch, ein Teil des Samens fei geiftig, bei jenen Zeugungsprodukten nämlich, worin der geiflige (oder ein geifliger) Samen befchloffen fei. Ebenfo befremdlich ifl es, wenn Zell er meint, die ariflotelifchen Schriften kennten gar nicht den Ausdruck Oeiov als Ausdruck einer kaufalen Beziehung. Ich möchte doch wiffen, welche andere Deutung man den Worten Deia vj-'r/im in der Eudemifchen Ethik geben könnte als die von einem Glücke, das uns durch göttliche Fügung zuteil wird. Arifloteles müßte auch geradezu als ein Mann betrachtet werden, der mit der griechifchen Sprache feiner Zeit nicht genügend bekannt gewefen, wenn er es für untunlich gehalten hätte, das ftetov jemals in kaufalem Sinne zu gebrauchen. Und nun gar in der Verbindung mit az£p(xa, welches die kaufale Deutung fo befonders nahelegt! Daß der Ausdruck Oslo; bei ihm zum eindeutigen Terminus technicus für immateriell geworden fei, kann nicht geltend gemacht werden, da bei ihm feine Bedeutung vielmehr in mannigfacher Weife wechfelt. Ein für die Interpretation erfchwerender Umfland liegt in einer Korruption des Textes, die fleh fchon aus Gründen der Syntaxe merklich machen mußte. Man hat darum in dem Sa^e: oe t^c yovijc scüixo!, s'v w a'Jvar£py£Tat ar£p[xa tt(; 'i/jyr/.r,; äpyr^, jjlev

yiopicrcöv ov awfxaTo;, o' dycuptaTov, toüto C7icpfi.a t^; yovf(;

SiaX-JETat ufw. das le^tere c-epfjia in cwaa emendieren wollen. Diefe Konjektur ifl verfehlt, vielmehr fcheint zu lefen: ö' h. tt^ yovrj« oü)(xa .... dt/iopiaTov, toutw ufw. Die Erklärung der fo emendierten Worte liegt in dem, was ich im Texte gefagt habe. Wenn, wie Zell er meint, der vous im Samen des Vaters gewefen wäre, fo könnte er doch nicht ihn befeelt haben, denn dies wird wieder und

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Für Arifloteles fällt diefer Augenblick der Vollendung mit dem der Differenzierung des gefchlechtlidien Unter- fchieds zufammen l) ; alfo mit dem , in welchem auch Piaton die von der Gottheit gebildete Seele dem Embryo einpflanzen ließ. Diefer, der nicht an die Zugehörigheit des menfdilichen Geifles zur Natur des Leibes glaubte, hatte (ich darum für die Befeelung durch ihn in einem fo fpäten Stadium der Entwicklung entfchieden, weil, je nach der Qualität der Seele, der einen ein männlicher, der anderen ein weiblicher Organismus zum Wohnort angewiefen werden follte. Immerhin iffc die Übereinftimmung als Be- weis dafür, wie überall Spuren des Einfluffes von Piaton bei Äriftoteles fichtbar werden, intereffant.

wieder aufs befUmmtefte geleugnet. Wie anders aber könnte er darin fein? Doch nicht wie ein Körper in einem Körper iffc ; er iffc ja unkörperlich. Alfo nur etwa in dem Sinne, daß er darauf wirkte oder etwas von ihm erlitte oder beides. Wie aber und was würde er wirken, wo es fich um rein vegatative Prozeffe handelt und die noetifche Tätigkeit (päter fogar als die fenfitive beginnt? Und daß er, der unkörperliche, von dem körperlichen Samen leiden könnte, iffc ganz ausgefchloffen. Ferner, wie wäre der voü«, wenn er zunächfl in dem Samen des Vaters war, dadurch, daß der Samen in die Katamenien einging, mit hineingegangen, wenn er nicht zur Natur des Samens gehörte, fondern ein Ding für (ich war ? Offenbar müßte er die Begleitbewegung auch für fich vollzogen haben; aber wie könnte er nach Arifloteles eine lokale Bewegung für fich vollziehen, da doch in der Phyfik bei der Erörterung der Zenonifchen Argumente aufs ausdrücklichfte gelehrt wird, daß nur etwas Ausgedehntes fich lokal fortbewegen könne? So erfcheinen denn auch die Sphären- geiffcer als fchlechthin unbewegte und unbewegliche Subflanzen. Wer dies erwägt, der fleht auch ein, wie unzuläffig die Deutung des (Wpaöev eTTEiaisfvat (De Gen. An. II, 3 p. 736 b 28) iffc, welche es als Aus- druck für ein lokales Verfetjtwerden von außen nach innen begreifen will. Nichts ficherer, als daß es fich um nichts anderes als um ein kaufales Woher handeln kann. So muffen wir denn hier wieder den Vorwurf erheben, daß man es gänzlich vernachläffigt hat, auf den Zufammenhang eines Lehrpunktes mit dem Ganzen der Lehre zu achten. (Vgl. auch meine eben erfcheinende Schrift „Arifloteles' Lehre vom Urfprung des menfchlichen Geifles.") J) Vgl. De Gen. An. II, 4.

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Das Auftreten des Menfdiengefchledits s. z. s. die Fülle der Zeiten.

Ifl der Eintritt des vou? in den Foetus der Augenblick feiner Vollendung, fo kann das Auftreten des Menfchen- gefchlechts in der Gefchichte recht eigentlich als die Fülle der Zeiten betrachtet werden. Der Menfch, und ins- befondere fein geifliger Teil, durch den er fo viel mehr als durch den leiblichen der Gottheit ähnlich ifl, erfdieint ja als das vornehmfte Ziel, auf deffen Erreichung die ganze irdifche Entwicklung und nach dem, was wir früher fagten, wenn diefe, auch die ganze Ordnung und Be- wegung der Himmelsfphären ausgeht. Ariftoteles be- zeichnet ihn geradezu als Gott in der irdifchen Welt. Wenn im Gegenfatj zur Pflanze das Tier fchon etwas an dem in (ich felbfl Guten teil hat, fo verfchwindet dies doch neben dem, was in dem Menfchen (ich verwirklicht findet. Aber diefes Gut liegt bei ihm nicht fowohl in der menfchlichen Natur als foldier oder in dem ihr zu- gehörigen geifligen Teile, als in deffen Tätigkeit. Die Gottheit ifl nach Arifloteles nicht ein biofies Verflandes- vermögen, fondern wirkliches Denken und feiiges Leben. Und fo ifl denn auch der Menfch der Gottähnlichkeit und des in (ich Guten nur teilhafl, infofern er in vollkommener Betätigung feiner geifligen Kräfte begriffen ifl. Hier aber fleht, wie mit der Metaphyfik auch die Ethik und Politik aufs nachdrücklichfle hervorheben, die Weisheit obenan. Sie erfdieint in der Art als der Zweck des Menfchen, daß die Rückficht auf fie und ihre Intereffen nach Arifloteles für die ganze Ordnung des menfchlichen Lebens maßgebend werden foll. In der Nikomachifchen wie in der Eudemifchen und in der fogenannten Großen Ethik wird dies gleich energifch geltend gemacht. In gewiffem Sinn, heißt es hier, fei es die Ethik und prak- tifche Klugheit, in gewiffem anderen Sinn aber die Weis- heit, nach der fich alles zu richten habe. Die praktifche

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Klugheit in dem Sinne, daß fie die Anweifungen gibt; die Weisheit aber im Sinne des Guten, auf deffen Erreichung jene Anweifungen abzielen. Die fittlichen Tugenden follen in einer Mitte liegen zwifchen zwei fehlerhaften Extremen. Fragt man aber, wie diefe Mitte zu beftimmen fei, fo iffc im legten Grunde die Antwort die: so, wie es am beften dem Lebenszwecke des Menfchen, der in der Erkenntnis des Weifen liegt, entfpricht. Audi alle gefelligen Verbindungen, in die der Menfdi eintritt follen daher im legten Grunde zu ihr als Ziel geordnet fein. Bedarf der Menfdi des Staates zur fittlichen Er- ziehung und Führung, fo foll auch der ganze Staat feine hödifle Aufgabe in der Förderung der Weisheit fehen. Die Gerechtigkeit in jenem weiten Sinn, in welchem fie die ganze Sittlichkeit in fich begreift, nennt Arifloteles „fchöner als den Morgenflern und als den Äbendflern". Aber wir fehen, die Weisheit iffc ihm die Sonne, die diefem Morgenflern und Äbendflern den Glanz verleiht.

Das Diesfeits als Vorbereitung für ein

allbefeligendes und jedem gerecht

vergeltendes Jenfeits.

Aber haben wir in ihr fchon den Höhepunkt der ganzen Entwicklung? oder würde unter folcher Annahme die Welt noch weit davon entfernt erfdieinen muffen, die denkbar vollkommenfle, weil gottähnlichfle zu fein? Der Weisheit fehen wir nur relativ wenige teilhafl werden, und auch fie nur mit Unterbrechungen bei ihren er- habenen Betrachtungen verweilen. Ja, auch diefe, mit welchen Unvollkommenheiten find fie nicht behaftet. Sagt doch das zweite Buch der Metaphyfik, wer immer fein Verf affer fein möge, ganz im Sinne des Arifloteles, daß der Verfland des Menfchen dem Auge einer Nachteule gleiche, welches da am wenigflen fehe, wo der Tag am hellflen fcheine. Nur durch Analogiefchlüffe rühren wir an die

142

Gottheit, indem wir fo die an und für fleh unpaff enden Erfahrungsbegriffe verwertbar machen, während uns eine eigentlich anfchauliche Erkenntnis Gottes fehlt.

Arifloteles lehrt, daß unferm Verftand auch die Fähig- keit zu diefer nicht abgehe, und daß wir darum hier nicht einem Blinden, vielmehr einem mit Sehvermögen Begabten in einer Zeit, wo er nicht wirklich fleht, zu vergleichen feien l). Aber im dritten Buch von der Seele wirft er die Frage auf, ob ein noch nicht vom Leibe be- freiter Geifl zur Erkenntnis eines rein geiftigen Wefens fähig fei. Und wäre es zu jener ausgeführten Meta- phyfik gekommen, für die er hier die Beantwortung der Frage verfpart, fo würde er fie im Hinblick darauf, daß alle unfere Begriffe aus den Phantasmen gefchöpft werden, verneint haben. Wenn aber nicht in diefem Leben, fo ifl hienach im jenfeitigen ohne Zweifel ein Er- faffen der Gottheit durch einen menfchlichen Verftand nach ihm nicht ausgefchloffen. Und mit diefem, das wie bei Gott felbfl und den Sphäreng eiflern auch die Er- kenntnis des göttlichen Weltplans mit fich brächte, wäre dann eine Seligkeit erreicht, der gegenüber alles, was das irdifche Leben auch in feinen vollkommenflen Er- fcheinungen bietet, noch unvergleichlich zurückflände. Dort fähen wir dann auch Erzeugniffe der niederen Welt zu wunderbarfler Gottähnlichkeit gelangt. Und die Rück- ficht auf diefes Ziel würde alles, was auf dem Wege dazu in den Mißbildungen der Pflanzen- und Tierwelt nicht allein, fondern auch im menfchlichen Leben felbfl zutage tritt (Leiden, Irrtum, Verbrechen, Verfall des Einzellebens wie des Lebens ganzer Völker und Kultur- perioden), da das alles ja nur einer Art embryonaler Vorbereitung angehörte, von jedem Vorwurf entlaflen.

Wird nun diefe Gotteserkenntnis im Jenfeits allen oder nur einigen Auserwählten zu teil? und gefdiieht dies im Verlauf weiterer Entwicklung oder unmittelbar nach

x) Met. 9, 10 p. 1052 a 2.

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dem Tode? Ärifloteles läßt es auf Erden zu den mächtigften Gegenfä^en von einer unverlierbaren Tugend und einer fchlechthin unheilbaren Verworfenheit kommen J). Er glaubt aber auch an Verdienfl und Miß verdienfl 2) und fleht etwas Schönes in der gerechten Vergeltung3). Man könnte daraufhin vermuten, daß er auch jenfeits einen Tartarus mit ewigen Strafen lehre, zumal auch Piaton dies getan hat. Doch eine Stelle in der Metaphyfik4) deutet ganz anderes an, indem fie darauf anfpielt, daß viele Vorflellungen über das Göttliche von den Gefetj- gebern erdachte Fiktionen feien, um die Menfchen durch die Furcht zu beeinfluffen. Auch iffc er flrenger De- terminifl5); was ihn fo wenig als Leibniz hindert, an Freiheit und Verantwortlichkeit zu glauben. Hatten wir ihn bei der Gottheit die vollkommenfle Freiheit mit fehle chthinig er Notwendigkeit für nicht unvereinbar halten fehen, wie könnten wir uns darüber wundern, daß er auch eine mittelbare Notwendigkeit, wie fie für die Natur unferes Willens unter gewiffen äußeren und inneren Umfländen gegeben ifl, nicht für etwas feiner Freiheit Wider fprechendes gehalten hat ? Unfer Wille entfeheidet fkh immer frei, d. h. nach feiner Neigung, für oder wider ein Tun6), das den Forderungen der Sittlichkeit entfpricht; und fo liegt dies flets in feiner Macht. Und wenn auch

J) Vgl. Eth. Nie. HI, 7. 2) Ebendafelbfl.

s) Vgl. Eth. Nie. IV, 11 p. 1125b 31, p. 1126b 4; V, 7. 8; X, 9 p. 1179 a 28.

4) Vgl. Met. A, 8.

5) Als idi meine „Pfychologie des Ärifloteles" fchrieb, hatte ich dies noch nicht erkannt und glaube einer Pflicht zu entfprechen, in- dem ich, was ich dort gefagt, ausdrücklich berichtige. Namentlich in der Nikomachifchen Ethik, die wir vor anderen als eine gereifte Frucht betrachten muffen, zeigt fleh dies aufs unverkennbarfle , in Verbindung freilich mit der forgfältigflen Bemühung, fchädlichen Folgerungen, die mancher unberechtigterweife an die determiniftifche Lehre knüpfen möchte, vorzubeugen.

6) Vgl. Eth. Nie. III, 3. 7 gegen Ende.

144

die Tugend keinem angeboren, und der eine zum Erwerb derfelben minder gut als der andere beanlagt ifl, fo ift es doch urfprünglich wenigflens in die Macht eines jeden gelegt, wenn er will, die tugendhaften Dispofitionen zu erwerben; eine Macht, die erfl im fpäteren Leben infolge unferes Willensmißbrauches definitiv verloren geht, während die Macht zum gerechten Tun, von der wir gefprochen, auch dann noch zurückbleibt1); ähnlich, wie wir ja hörten, daß nach Arifloteles dem Gotte deshalb, weil fein Wille unabänderlich auf das Gute gerichtet ifl, die Macht, Böfes zu tun, nicht fehle. Aber trotjdem bleibt eine mit dem Determinismus, nach welchem im legten Grunde eine göttliche su-cu/ta oder Suaxuxia» wir können fagen eine Art Gnadenwahl 2), für all unfer Tun und Laffen entfcheidend ifl, verbundene Lehre von ewiger Verdammnis eine unerträgliche Härte.

Wie alfo hat er fich die Sache gedacht? Es fcheint alles darauf hinzudeuten, daß er alle im Jenfeits zu jener Erkenntnis Gottes und feines Weltplans und fomit zu einem Gute gelangen laffe, dem fich alle irdifchen Güter nicht vergleichen. Wenn aber dies, dann auch fogar unmittel- bar im Augenblick des Todes; denn mit der Lostrennung von dem Leibe, die, da es nach Arifloteles keine Wieder- geburt geben kann, endgültig fich vollzogen hat, ifl eine Bewegung in der Seele nicht mehr möglich3). Nähmen wir fogar in ihr eine Kette von fekundären Wirkungen an, fo müßten fie nach dem, was wir über das zeitliche Verhältnis von Wirkung und Urfache gehört, vom erflen bis zum legten Gliede zugleich eintreten.

Aber wie? wird dann der Vergeltungsgedanke nicht ganz und gar zu nichte? Man könnte es meinen,

*) Vgl. Eth. Nie. Ifl, 7.

2) Vgl. Eth. Nie. I, 10 p. 1099 b 11. Die Tugend ifl Öe^aSoxoc

3) Vgl. Met. A, 7 p. 1072 b 8. Die lokale Bewegung ifl die erfle Ton allen. Das Denken ifl keine kontinuierliche Veränderung und be- kommt fein zeitliches Vor und Nadi nur durch die Dependenz von körperlichen Prozeffen.

10 Brentano, Arrftoteles. 145

und dann wäre erklärt, warum Äriftoteles im Gegenfatj zu Piaton in der Ethik gar nicht auf eine Vergeltung im Jenfeits verweift. Doch fo ifl es nicht. Wir erinnern an den Unterfchied, auf den wir bei den Sphäreng eiftern im Vergleich mit der Gottheit aufmerkfam machten. Ähnlich werden denn Unterfchiede auch hier beliehen, und wenn die abgefchiedenen Menfchengeifler den Welt- plan fchauen und fich felbft mit ihrem Erdenleben darein verflochten fehen, fo erkennt der eine (ich als identifch mit einem, der Edles übt, und ein anderer mit einem, der fchmähliche Taten vollbringt. Es ift die Erkenntnis, zu der fie gelangen, zugleich ein ewiges, verherrlichendes oder verdammendes Weltgericht, und ein Weltgericht, das (ich als folches für ewig vor aller Augen vollzieht. Sollte hierin nicht auch eine Vergeltung und eine dem wahren Verdienfl vollkommen proportionale gefehen werden können?

In jüngfler Zeit hat Nie^fche, der auf Grund, ich weiß nicht welches, trügerifchen Berichtes über angebliche Ent- deckungen der Natur wiffenfchaft zu der Überzeugung gelangt war, daß alles, was in der Welt gefchieht, genau fo wie es gefchieht, in regelmäßig wiederkehrenden Perioden fich wiederholen werde, in diefem Gedanken ein Motiv zu finden geglaubt, welches mächtig der Ver- fuchung zu fchlechtem Handeln entgegenwirken muffe. Könne es doch nicht anders als abfchreckend erfcheinen, durch eine niedrige Handlung, die man begeht, fich nicht bloß für einmal, fondern unendlich oft] und von Ewigkeit zu Ewigkeit immer wieder neu gefchändet zu fehen. Er bedachte nicht, daß der, welcher, um einer augenblicklichen Pein zu entgehen, die Sittlichkeit verlebt, fich infolge jener vermeinten unendlichmaligen Wiederholung auch fagen müßte, daß er, wenn er die ihm unleidliche Pein auf fich nähme, folches nicht bloß dies eine Mal, fondern immer und immer wieder werde tun muffen. Aber was er aus folchem Grunde unpaffend fagt, fcheint im Fall des Ärifloteles ganz anders am Pla^e. Das Opfer wird

146

ja nur einmal gebracht, aber das Bewußtfein, mit edlem Sinn der Verfuchung widerflanden zu haben, wird uns in alle Ewigkeit beglücken. Und wer folche eschato- logifche Überzeugungen hegt, könnte darin immer noch ein Motiv mehr erblicken, dem edlen Leben vor dem un- edlen den Vorzug zu geben.

Doch mit der Mißbilligung der eignen Handlungsweife wird fich die Bewunderung des Planes Gottes auch in jenen Fügungen felbft, die zu ihr führen, verbinden. Wenn der Verbrecher verbrecherifch handelt, weil er hintanfetjt, was vorzuziehen ift, und umgekehrt, fo zeigt der Weltplan Gottes (ich als der Plan der beftmöglichen Welt, und es ift alfo von Gottes Seite überall dem Vorzüglichen vor dem minder Guten der Vorzug ge- geben. Und fo find alle doch befeligt durch das, was fie fchauen. Sie find auch, fo verworfen fie waren, s. z. s. bekehrt im Äugenblicke des Todes. Wenn fie früher Schlechtes vor Gutem bevorzugten, bevorzugen fie je^t das Beffere und Befle; in allem, wie in der Erkenntnis, vollkommen mit der Gottheit felbft in Har- monie *). Wenn in irgendeiner religiöfen Lehre, fo erfcheint in der ariflotelifchen Philofophie die Gottheit als die, welche ihre Sonne aufgehen läßt über Ge- rechte und Ungerechte. Auch für die eigne Perfönlich- keit wird, was fie Schlechtes gewollt, vergangen fein. Jetjt ift, was fie erfüllt, die Liebe und Freude an dem wahrhaft Guten.

Sollte man nicht bei folcher philofophifchen Über- zeugung fich den Tod zu geben verfucht fühlen ? Doch hier gilt gewiß auch für Äriftoteles Piatons Wort: es

*) Vergleiche, was die Nik. Eth. VH, 5 gegen Ende über die Weife lehrt, wie es allein zur Hintanfe^ung des Befjeren kommen könne, wo dem jbkratifdien Standpunkt, daß alle Bevorzugung des Smlechten ihren Grund in einer Unwiffenheit habe, ein gewiffes und für unferen Fall fehr bedeutungsvolles Zugeftändnis gemamt wird.

ic- 147

wäre frevelhaft, den von Gott gegebenen Poflen eigen- mächtig zu verlaffen. Es wäre eine Handlung, die wie andere verbrecherifche Handlungen, für ewig unfchön erfcheinen würde.

Unbegrenztes Wachstum des in (ich Guten.

Unendliche Vervielfältigung des in Weisheit

gottbefeligten Lebens.

Ins Unendliche wächfl die Zahl der befeligten Geifter, deren jeder eine Art Leibnizfdien Monadenlebens führt, als ein Spiegel des Univerfums von feinem Standpunkt; doch ein Leben, das wie das der Gottheit ohne Wechfel ift. Und fo hebt fich denn das Bedenken, daß die Welt nicht die befhnögliche fein könne, weil fie endlich fei und jede Endlichkeit eine überfchreitbare Grenze darflelle. Denn fo wahr dies ift, fo wahr wird ja auch jede endliche Grenze wirklich überfchritten. Die körperliche Welt frei- lich erfährt ein folches Wachstum nicht. Aber weit davon entfernt , daß dies ein Tadel fein könnte , erfcheint es als ein Vorzug. Die körperliche Welt (teilt ja nichts an fich Gutes, fondern nur Nüijliches dar, und ein Über- fchreiten des Maßes würde als ein Überfluß erfcheinen, den die fchöne Ordnung der Natur nach dem Sat$e „natura nihil facit frustra" auch nicht auf dem biologi- fchen Gebiete duldet. Warum freilich gerade diefes Maß für die beftmögliche Welt das geforderte war, das ift eine Frage, die wieder zu denen gehört, die wir auf dem Standpunkt unferer je^igen befchränkten Kenntniffe nicht zu beantworten vermögen. Genug für Äriftoteles, daß auch die Gegner des Optimismus nicht imftande fein würden, ein anderes als beffer oder gleich gut zu er- weif en.

148

Teleologifdie Unentbehrlidikeit der Körperwelt.

Doch warum dann überhaupt den ganzen körperlichen Apparat? Man follte meinen, da es ja doch fo gut wie ausfchließlich nur auf jene feiigen Geifter im Jenfeits ankommt, fo wäre wefentlich dasfelbe erreicht, wenn die Gottheit fie fogleich in ihrem Endzuftande hervor- gebracht hätte. Wenn wegen der Äbfurdität einer wirk- lich unendlich großen Zahl dies nur durch eine Sukzefjion von Schöpfungen ermöglicht worden wäre, warum nicht diefe direkt, flatt auf dem Wege einer zeitweiligen Zu- gehörigkeit zur irdifchen Welt, in welcher fo viel in fich Wertlofes, ja in fich betrachtet, Häßliches und Ver- ruchtes? — Doch die Antwort darauf liegt bereits in dem früher Erörterten. Was durch den Willen der Gottheit allein unmittelbar fein erfles Dafein empfängt, das muß nach Äriftoteles ewig fein wie er felbft. Darum ein Entftehen aus nichts unmöglich. Aber wenn alle fukzeffiv in der Gefchichte entflehenden menfchlichen Intelligenzen von Ewigkeit wären, fo würden fie nicht bloß eine fich ins Unendliche vermehrende, fondern eine geradezu wirk- lich unendliche Vielheit darftellen. So wahr alfo die un- endliche Vervielfältigung allein die Gotteswelt als die beft- mögliche erfcheinen laffen kann, fo wahr erfcheint auch die körperliche Welt, als unentbehrliche Brutflätte, wie eine unabweisliche teleologifdie Forderung. Es kommt noch hinzu, daß hier Ähnliches gilt, wie was Äriftoteles hinfichtlich der Tugend fagt, bezüglich deren es ihm als eine vollkommenere Ordnung erfcheint, wenn Gott, der gewiß als Geber diefer guten Gabe zu betrachten fei, fie uns doch nicht anders denn als Folge eigner ver- dienftlicher Anftrengung zu teil werden läßt1). So läßt er denn auch eine gewiffe Auszeichnung , welche die-

») Eth. Nie. I, 10.

149

jenigen, die während ihres irdifchen Dafeins ein edel- fchönes Leben geführt, als etwas erfcheinen, was ihnen als gerechter Lohn vor andern befchieden wird. Auch mögen wir uns hier des ariflotelifdien Ausfpruchs er- innern, daß die Welt nicht einer fchlechten Tragödie gleichen dürfe, die in lauter Epifoden zerfällt1). Die fchöne Ordnung verlangt ein Zufammenwirken von allem mit allem. So fehen wir denn auch von den in fich voll- endeten Sphärengeiflern keinen ohne einen providenti- ellen Einfluß auf den Lauf der niederen Welt. Die ab- geschiedenen menfchlichen Geifter haben ihn nicht mehr und wären darum ohne die Verflechtung damit in dem vorangegangenen Erdenleben ganz ohne jenes Zufammen- wirken mit den übrigen Ereignifjen, wie es nach der Überzeugung des Ärifloteles die künfllerifche Schönheit des Univerfums fordert. Nur infolge ihrer ifl jetjt auch von diefen Monaden jeder recht eigentlich jener be- fondere Standpunkt gegeben, von dem aus fie das Welt- ganze betrachtet.

Sdilußbemerkungen.

Die Philofophie des Ärifloteles im Vergleich mit anderen Weltanfchauungen.

So fehen wir denn, wie im Geifle des Ärifloteles in der Tat die Überzeugung beflehen konnte, daß die Welt- ordnung, wie er fie dachte, wirklich ihres idealifchen Ur- grundes würdig fei.

Ich habe fie nun freilich in der Ausführlichkeit , wie ich fie hier darflellte und erklären und verteidigen ließ, in den Schriften des Ärifloteles nicht finden können, da er felbft leider zu der beabfichtigten ausführlichen Dar- legung feiner Metaphyfik nicht gekommen ifl. Werde ich darum den Vorwurf fürchten muffen, ich habe, ähn-

J) Met. A, 10 p. 1076 a 1 und N, 3 p. 1090 b 19. 150

licii wie Piaton Sokrates, Ärifloteles gar vieles in den Mund gelegt, woran er felbfl nicht gedacht habe? Vielleicht wird mancher ihn machen. Doch wer dann forg- fam auf das achtet, was teils in der Konfequenz der Prinzipien Hegt, teils direkt in vereinzelten, höchfl be- deutfamen Bemerkungen zutage tritt, und ebenfo auch auf die merkwürdigen Aporien des Theophraft hinblickt1), von denen man nicht annehmen darf, daß fie einen Zweifel an der Lehre feines Meiflers bekundeten, deren tieferes Verftändnis fie nur anbahnen follen: der wird, fo fchmeichle ich mir, fein Urteil mehr und mehr in einem mir günfligeren Sinn berichtigen.

Die Theodicee des Ärifloteles fleht hinter der anderer theiflifcher Denker, auch hinter der des Leibniz, keines- wegs zurück. Auch der Vergleich der arifloteHfchen mit der chriflHchenEschatologie überhaupt ifl höchfl intereffant. Er ergibt bei flarken Differenzen auch merkwürdige Über- einflimmungen2). Und es werden die Widerfprüche der indeterminiflifchen Theologen und die Härte derer, die vor einer Prädeflination zu ewigem Verderben nicht zurückfehrecken , glückHch vermieden. Und auch dem Vergeltungsgedanken wird Rechnung getragen. Voll be- währt findet fleh aber auch alles das, was ich zur Er-

*) Außer diefen Aporien ift auch die von ThemifHus uns erhaltene Bemerkung aus Theophrafts Phyfik V zu beachten, weldie allen Irrtum auf leibliche Einflüffe zurückführt, was zeigt, daß er die vom Leib befreite Seele nidit mehr dem Irrtum unterworfen glaubt. Von den Aussprüchen des Ärifloteles felbft ifl außer denjenigen, aufweiche im im Text mim bezogen, auch die Stelle Eth. Nie. X, 7 p. 1177 b 31 erwähnenswert, wo er das betrachtende Leben des Weifen als ein dHava-t'Ceiv, foweit es im flerblichen Leben möglidi fei, bezeichnet. Das ftimmt dazu, daß ein Weisheitsleben höherer Art das Leben ifl, welches wir als Unflerbliche führen werden.

2) So natürlich auch mit den religiöfen Lehren des Judentums, aus denen die des Chriflentums erwachfen find. Wir verflehen daraufhin leimt die Ausdrücke der Bewunderung für das jüdifche Volk, denen wir bei Theophrafl begegnen, worin er dasfelbe geradezu als ein philofophifches Volk rühmt.

151

klärung des fo fchledit gewürdigten Äusfpruches, daß das Leben der Gottheit ein rein theoretifches fei, gefagt habe.

Wenn wir einen vergleichenden Blick von der Welt- anfchauung des Arifloteles auf die von Piaton zurück- werfen, fo zeigt fich eine weitgehende Verwandtfchafl und doch zugleich eine in einheitlichem Sinne durchgeführte, durchgreifende Modifikation. Bei beiden ifb das Gut der Kontemplation das höchfle, und unfer wahres Heil Hegt im Jenfeits. Aber bei Piaton ifl das jenfeitige Leben dem diesfeitigen vorhergegangen. Die Erkennt- niffe, die wir hier gewinnen, find nicht neu, fondern Erinnerungen an das, was wir im Jenfeits gefchaut. Dort, nicht hier iffc die Seele gebildet, und von einer Vermehrung im Diesfeits keine Rede. Nach Arifto- teles empfangen wir hier unfere Begriffe neu, und auch die Seele entfleht erfl im Entflehen des Menfchen. Und um die Bürger des Jenfeits ins Endlofe zu vermehren, ziehen die menfchlichen Seelen, die eine um die andere, aus dem Diesfeits ins Jenfeits hinüber. Nach Piaton möchte man wohl fragen, wozu diefe ganze Körperwelt gut fei, die fo viel Jammer und Greuel enthält und den Bewohnern des Jenfeits nur Anlaß der Verfuchung zum traurigften Sündenfall geworden ifl1). Nach Ariftoteles iffc ein folches Bedenken nicht vorhanden. Sie erfcheint in ihrer Teleologie bewundernswert wie ein Embryo, wenn man auf den fchließlichen Erfolg blickt, auch wenn man, was, ähnlich wie ja auch bei diefem, der menfch- lichen Kraft zu viel zumuten würde, auf das Verfländnis jeder Einzelheit verzichten muß.

Daß das Syflem als Ganzes nicht haltbar ifl, würde freilich unfchwer nachzuweifen fein und bei einzelnen, wenn auch keineswegs bei allen wichtigen Punkten habe

') Nach dem Phädrus. Nadi dem Timäus wäre dies nidit mehr der Fall, dorn hätten wir auch nach ihm in der Körperwelt den Quell alles fittlichen Verderbens zu erblicken.

152

ich eine kurze kritifche Bemerkung nicht unterdrückt. Dennoch dürfte die bisher fo unvollkommen verftandene Weisheitslehre des großen alten Denkers wohl geeignet fein, unferer peffimiftifch angehauchten Zeit die Augen dafür zu öffnen, wie wenig die Hilfsquellen des opti- miftifchen Weltgedankens in dem, was fie in ihrer Ober- flächlichkeit gewöhnlich allein zu berückfichtigen pflegt, erfchöpft find.

153

Von demselben Verfasser erschienen:

Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles. Frei- burg i. Br. 1862, Herder. Preis M. 3.—.

Die Psychologie des Aristoteles, insbesondere seine Lehre vom vovg not.r]Tix6s. Mainz 1867, Kirchheim. (Vergriffen.)

Psychologie vom empirischen Standpunkt. I. Band. Leipzig 1874, Duncker & Humblot. (Vergriffen.)

Über die Gründe der Entmutigung auf philosophischem Gebiete. Wien 1874, Braumüller. (Vergriffen.)

Was für ein Philosoph manchmal Epoche macht. Wien, Pest und Leipzig 1876, Hartleben. Preis Kr. —.50.

Über den Creatianismus des Aristoteles. Wien 1882, Tempsky. (Vergriffen.)

Offener Brief an Herrn Professor Eduard Zeller aus Anlaß seiner Schrift über die Lehre des Aristoteles von der Ewigkeit des Geistes. Leipzig 1883, Duncker & Humblot. Preis M. 1.—.

Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis. Leipzig 1889, Duncker & Humblot.

Preis M. 2.80. Dasselbe in englischer Übersetzung unter dem Titel:

The Origin of the Knowledge of Right and Wrong (translation bei Cecil Hague). Westminster 1902, Constable.

Das Genie. Vortrag, gehalten im Saale des Ingenieur- und Archi- tektenvereins in Wien. Leipzig 1892, Duncker & Humblot.

Preis M. —.80.

Das Schlechte als Gegenstand dichterischer Darstellung. Vortrag, ge- halten in der Gesellschaft der Literaturfreunde zu Wien. Leipzig 1892, Duncker & Humblot. Preis M. —.80.

Über die Zukunft der Philosophie. Wien 1893, Alfred Holder. Preis Kr. 2.—.

Die vier Phasen der Philosophie und ihr augenblicklicher Stand. Stutt- gart 1895, J. G. Cottasche Buchhandlung Nachf. Preis M. 1.—.

Meine letzten Wünsche für Österreich. Stuttgart 1895, J. G. Cottasche Buchhandlung Nachf. Preis M. 1.20.

Zur eherechtlichen Frage in Österreich. Berlin 1896, J. Guttentag.

Preis M. 2. -.

Krasnopolskis letzter Versuch. Wien 1896, Verlag „Die Zeit", Leipzig. In Kommission bei S. S. Arnd.

Untersuchungen zur Sinnespsychoiogie. Leipzig 1907, Duncker & Hum- blot. Preis M. 4.20.

Aenigmatias. Neue Rätsel. Zweite, stark vermehrte Auflage. München 1909, Oskar Beck. Preis M, 3.50.

Geschenkband Preis M. 4.50.

Von der Klassifikation der psychischen Phänomene. Neue, durch Nach- träge stark vermehrte Ausgabe der betreffenden Kapitel der Psychologie vom empirischen Standpunkt. Leipzig 1911, Duncker & Humblot.

Aristoteles' Lehre vom Ursprung des menschlichen Geistes. Leipzig 1911, Veit & Comp. Preis M. 6.—.

Erding 3 28 19791

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B Brentano, Franz Clemens \&s

£85 Aristoteles und seine

B7 Weltanschauung