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ALLGEMEINE ZEITSCHRIFT

PSYCHIATRIE

UND PSYCHISCH-GERICHTLICHE MEDIZIN | HERAUSGEGEBEN VON DEUTSCHLANDS IRRENARZTEN

UNTER DER MITREDAKTION VON

BERZE-Wien, BLEULER-Zürich, BONHOEFFER-Berlin, FISCHER- Berlin-Dahlem, KLEIST-Frankfurt a.M., LAEHR-Wernigerode, MERCKLIN-Treptow a. R.

DURCH © GEORG ILBERG

SONNENSTEIN BEI PIRNA A.E.

NEUNUNDACHTZIGSTER BAND

BERLIN UND LEIPZIG WALTER DE GRUYTER & CO.

VORMALS G. J. GOSCHEN’SCHE VERLAGSHANDLUNG - J. GUTTENTAG, VERLAGS- BUCHHANDLUNG - GEORG BEIMER - KARL J. TRÜBNER - VEIT & COMP.

1928

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Alle Rechte vorbehalten.

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Inhalt.

Originalien. | Seite Über den Einfluß des Greisenalters auf die Gestaltung schizophrener Prozesse. Von Rudolf Jaser, Eglfing .......ccccccccccccccccccees

Die Wurzeln der modernen Populär-physiognomik in der älteren medizi- nischen Psychologie und Konstitutionslehre. Von Erik v. Rutkowski,

Marburg-Lahn 22.222. een 20 Augenbefunde bei Geisteskranken und Epileptikern. Von Dr. S. Kamin. skaja-Pawlowa und Dr. H. Goldbladt, Poltawa........ccesccceccoee 62 Zur Kritik von Freuds Auffassung der Vorstellungen Schizophrener und Primitiver. Von Karl Hüfiker, Miimsterlingen.................006. 97 Das Opiumgesetz vom 30. Dezember 1920 und seine Auswirkungen. Von Oberreichsanwalt Dr. Ebermayer, Leipzig .............cceeccecees 109

Das Opiumgesetz und seine Auswirkungen. Von Prof. F. Sioli, Düsseldorf 121 Über das Wesen der exogenen reaktiven Zustände vom Gesichtspunkt

der Prozesse der Nerven-Physiologie. Von Prof. W. A. Guilarowsky, Moskau 133

Eugenik und offene Fürsorge für Geisteskranke. Von Dr. Max Fischer, Berlin Dahlem u: sucess eal od caretaker we veces

Zur Frage der Brauchbarkeit der von I. S. Harris angegebenen Probe bei progressiver Paralyse. Von &. Spaar, Sonnenstein

Literaturbericht zur aktiveren (Beschäftigungs-) Therapie nach Simon.

m... .. ..Lne.. ee. ."...009, ee 0 ee es oe ee ee 1910er 9 01 tree eo

Von Dr. M. Thumm, KonstanzZ......... cece ca ccccccecssvececes 154 Ober Erkennung und Behandlung der Tuberkulose in den Irrenanstalten. Von Georg Ilberg, Sonnenstein ........ 2. cece ccc c eee c eee cenes 167

Praktisch-psychiatrische Tagesfragen. Von Dr. Maz Fischer, Berlin-Dahlem 174 Die psychiatrisch wichtigsten Bestimmungen des Entwurfes eines neuen italienischen Strafgesetzbuches. Von Dr. Francesco Bonfiglio, Rom 187 Der wirkliche Don Carlos. Von Dr. med. Strubell-Harkort, Dresden ... 216 Hypnose im Strafverfahren. Von Erich Blum, Süchteln (Rhld)-J ohanistal 241 Die Bedeutung der Tuberkulose für die Irrenanstalten. Von Hans Werner, Hochweitzschen (83)... ae ORANE 264 Über den Wechsel affektiven Wertes halluzinatorisch-wahnhafter Erlebnisse im epileptischen Verwirrtheitszustand. Von Berndt Götz, Berlin C(Wuhlearten )'<.0:.cais ened onee sor reren TAE EEEE EEEN

\ Zu der Behandlung schwererregter Geisteskranker mit Hexophannatrium. Von Dr. Ostmann, Schleswig

EE S SE EE TE SE EE 31 81 0 0 91 0 2 000002 e O E O O e E E E E E E E E eee

2 Über die Entstehung von Wahnideen. Von Béla Révész, Sibiu......... 305

V

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Studien iiber Blutbilder bei Geisteskranken. Von Dr. Ostmann, Schleswig 325

Zur Frage von „Progressive Paralyse und Mesaortitis luetica“ (Aorten- : aneurysma). Von Gottfried Jungmichel, Stralsund ..............05 333

Zur Psychologie der Schizophrenie. Ein Nachwort zum Referate von

l. Berze auf der Wiener Tagung des Deutschen Vereins für Psychiatrie. Von Erwin Stransky, Wien ...........c cece cece cena sanecencecers 340

IV Inhalt.

Seite Dominierende Vorstellung, überwertige Idee, Zwangsvorstellung, Wahn- idee. Von Dr. Adam, Regensburg............cceseececccccccecccs 383

Therapeutische Erfahrungen bei chronischen Enzephalitikern. Von W. Kürbitz, Chemnitz-Altendorf.... 2... ccc ccc cece eee e cee eneecaee 390

Gesammelte Notizen über unsere Epileptiker, ein Beitrag zur Kenntnis der Epilepsie. Von Dr. Ostmann, Schleswig............ ee 397

Verhandlungen psychiatrischer Vereine.

Bericht über den 4. Kongreß für Heilpädagogik vom 11.—14. April 1928 AN: LOIDS sekera Traa east 348 1. F. Krueger, Leipzig: Neue Richtungen und Ergebnisse der allgemeinen PSVCNOLORIC oes sustin ane dated a es u 2. H. Kaffka, Dresden: Die Psychologie der Primitiven in ihrer Bedeutung

für eine vergleichende Entwicklungspsychologie.....---...+......- 349 3. E. Neber, Bonn: Über das Nachzeichnen von geschlossenen und von Punktfiguren bei Schwachsinnigen........s.sssesssosssssoseseeseo 349 4. R. W. Schulte, Berlin-Spandau: Die pädagogische Psychologie der : Leibesübungen 53... we anne ne Be 350 5. R. A. Pfeifer, Leipzig: Frühbehandlung von Psychopathie und :- SChwachsinn 0502 ee 350 6. H. Bessau, Leipzig: Epidemische Kinderlahmung.................. 351

7. E. Meltzer, Großhennersdorf: Das Geburtstrauma in seinen Beziehungen

zur körperlichen und geistigen Entwicklung des abnormen Kindes.. 351. 8. W. Jakobi, Stadtroda: Die Bedeutung der Enzephalographie (Hirn-

lufteinblasung) für die Heilpadagogik..............cececccec acces 352 9

. K. Huldschinsky, Charlottenburg: Die Einwirkung der Rhachitis auf die geistige Entwicklung des Kindes .........-....cceccceccscece 35

10. H. Grage, Chemnitz-Hilbersdorf: Über die Notwendigkeit der Anstalten ' für- nervenkranke: Kinder au. us nn en

11. H. Winkler, Leipzig: Motorisch und charakterologisch auffällige Kinder 353 12. A. Gregor, Flehingen: Psychische Hygiene und Erziehung ......... 353 13. S. Kahlbaum, Görlitz: Heilpädagogische Methoden in der Behandlung ` Geisteskranker ...........ccscccccctccteccssscatetacsacueeeuses 354 14. Schröder, Leipzig: Der Begriff der Psychopathie bei Kindern...... . 854

15. F. Stern, Göttingen: Allgemeine Übersicht über Symptomatologie und soziale Bedeutung der epidemischen Enzephalitis, namentlich der `:

chronischen -Form „sur. nenn 355 16. W. Kürbitz, Chemnitz-Altendorf: Behandlungsergebnisse bei chro- -` nischer Encephalitis epidemica.....-...-...cecccccccececesccncee 355 17. W. Lange, Chemnitz-Altendorf: Die Entwicklung der Intelligenz bei Kindern nach Encephalitis epidemica..............ecceeceesscees ‚356 18. W. en Wien: Entwicklung röntgenbestrahlter schwachsinniger sie ee EEE T 19. O. Taube, Schleswig: Beschulung taubstummer Idioten und ihre Vor- |_ bereitung zu angemessener Betätigung im Wirtschaftsleben ........ 357 20. Th. Heller, Wien-Grinzing: Uber atypische Sprachentwicklung...... 357 21. D. Katz, Rostock: Gespräche mit Kindern ................00e0eee 357

22. A. Böttger, Leipzig: Lustbetonte Arbeit als Heilfaktor in der Erziehung Anormaler 45-0 u.a 858

ek IS a oe m

- Inhalt. V

23. F. Giese, Stuttgart: Heilpädagogik und Berufsberatung ............ 358 24. W. Fürstenheim, Frankfurt: Über die derzeitige Form und die Er- gebnisse der Eignungsprüfungen i in der Berufsberatung der Frankfurter Hilisschliler oresar rarka i 2 E aa 358 25. Klemm, Leipzig: Über die Berufsversorgung von Taubstummen und Hailisschulen 4.32.2222 u 0a 359 26. F. Rössel, Hamburg: Zur Psychologie des Arbeitsvorganges bei geistig schwachen Kindern .........ecccececccsccceccccecccteteceseecs 359 27. W. Inhoven, Düsseldorf: Erfahrungen an Lehrwerkstätten für schwach- sinnige Jugendliche ......»..s0rananessnenenneeonanenenann nenn 359 28. E. Furchtwanger, München: Berufswerkstätten für psychisch Defekte 360 29. J. Moses, Mannheim: Seelische Konflikte und Komplikationen im

Berufsleben jugendlicher Psychopathen..............sscccccvccees 361 30. St. Krauß, Heidelberg: Die Bedeutung der Instinkte für die Sozialität und Dissozialität des Kindes............ceccccecccscccccecccsees 361

31. F. Dessauer, Niederschönefeld: Die erzieherische Gestaltung des Strafvollzugs an Jupendlichen ..sr0s.4:0 20er

32. H. Többen, Münster: Heilpädagogik und Strafvollzug.............- 362 33. H. Eofert, Jena: Über die Frage der Gemeinschaftserziehung abnormer T Inder sau nee A T A ee E TE N 2

59. Versammlung des Vereins der Irrenärzte Niedersachsens und West-

falens in Hannover am 7, Mai 1927 ...........ccccccccccccsceces 362 1. H. Korbsch, Münster i. W.: Über das Neurocytom (Marchand)...... 362 2. O. Snell, Lüneburg: Die Aufbewahrung der für die psychiatrische

Erblichkeitsforschung wichtigen Gerichtsakten .............-+0.00. 36 3. Kahle, Langenhagen: Kapillarformen bei Schwachsinnigen ......... 364 4. Dräsicke, Hamburg: Demonstration des Zentralnervensystems einer

Echidn8. 22:43... aa eben 365 5. Rapmund, Wimstorf: Zur Trinkerbehandlung ..............-+..06- 365

6. Reinelt, Osnabrück: Bemerkungen zur gesteigerten Arbeitstherapie 365 7. Fleck, Göttingen: Beobachtungen an alten Fällen von Schizophrenie 367 8. Frensdorf, Hildesheim: Kasuistisches zum $ 1569 BGB............ 368

Bericht über das Irrenwesen des Auslandes.

XV. Der I. allrussische Kongreß der Nervenärzte und Psychiater vom 18.—23. Dezember 1927 in Moskau. Von Dr. W. Guilarowsky, Moskau 71

XVI. Report of the commissioner for mental Hygiene (Union of South Afrika). Von Dr. Nothaaß, Hubertusburg ............eeecceseeees 369

XVII. Das Irrenwesen in Lettland. Von H. Buduls, Riga ..........-. 410

Kleinere Mitteilungen. Deutscher Verein für Psychiatrie: Berichtigung zur Wiener Versammlung 80

Gesellschaft deutscher Nervenärzte: Jahresversammlung 1928 .......... 80 Deutscher Verein für Psychiatrie: Jahresversammlung 1929 ............ 80 Deutscher Verein für reyemetne! Kassenabschluß vom 31. Marz 1928.. 80 Personalnachrichten ........ccicsccccescescccccccccccscceesercescecses 81

Deutsche Forschungsanstalt fiir Psychiatrie ee er ree 236

VI Inhalt. | Seite Kriminalbiologische Gesellschaft: Versammlung in Dresden ............ 237

Internationaler Fortbildungskursus der Wiener medizinischen Fakultät.. 237

Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte: Versammlung 1928 ... 237

Heinrich Hoffmann, Verfasser des Struwwelpeter ............seeeeeees 238 Psychoneurologisches Staatsinstitut in Charkow..............eceeeees 238 Deutscher Verein für Psychiatrie: Versammlung 1929 in Danzig ....... 372 Versammlung der Gesellschaft deutscher Nervenärzte 1929 in Würzburg 372 .Psychotherapeutische Gesellschaft in Leipzig............ssesccceceeee 372 Psychiatrisch-neurologische Klinik Heidelberg: 50jähriges Bestehen..... 372 „Die Familienärztin.“ Von Dr. Bella Müller, München ............... 373 Berichtigung Nothaaß-Bonfiglio ....... ee 382 Pflegerlose Abteilungen .......ccccccccsccccccccesevcnccsscsccceees 413

Personalnachrichten.

Nekrolog Mercklin........ rasen E T T 373

Vorschiedenes...... cc cece ccc cc cece cet cccccetereceseee 81, 239, 381, 416

Nekrolog Flügpe ca an ne 414 Autoren-Register.

Adam 383. Heller, Th. 357. Neber, E. 349.

Bessau, H. 351.

Blum, Erich 241.

Bonfiglio, Francesco 187.

Böttger, A. 358.

Buduls, H. 410.

Dessauer, F. 361. Dräsicke 365.

Ebermayer 109. Egfert, H. 362.

Fischer, Max 144, 174.

Fleck 367. Frensdorf 368.

Furchtwanger, E. 360. Fiirstenheim, W. 358.

Giese, F. 358.

Goldbladt, H. 62.

Götz, Berndt 288.

Grage, H. 353.

Gregor, A. 353.

Guilarowsky, W. 71, 133.

Hilfiker, Karl 97. - Huldschinsky, K. 353.

Jakobi, W. 352. Jaser, Rudolf 1.

Ilberg, Georg 167.

Inhoven, W. 359.

Jungmichel, Gottfried 333.

Kaffka, H. 349. Kahlbaum, S. 354. Kahle 364. Kaminskaja-Pawlowa, S. 62. Katz, D. 357. Klemm 359. Korbsch, H. 362. Krauß, St. 361. Krueger, F. 348. Kürbitz, W. 355, 390.

Lange, W. 356. Meltzer, E.. 351. Moses, J. 361.

NothaaB 369.

Ostmann 294, 325, 397.

Pfeifer, R. A. 350.

Rapmund 365. Reinelt 365. Revesz, Bela 305. Rössel, F. 359.

v. Rutkowski, Erik 20.

Schröder 354. Schulte, R. W. 350. Sioli, F. 121.

Snell, O. 363. Spaar, R. 152. Stern, F. 355.

Stransky, Erwin 340. Strubell-Harkort 216.

Taube, O. 357. Thumm, M. 154. Többen, H. 362.

Werner, Hans 264.

- Wieser, W. 356.

Winkler, H. 353.

Uber den Einfluß des Greisenalters auf die Gestaltung schizophrener Prozesse !).

Von Rudolf Jaser.

Der Streit um die Involutionsmelancholie, der vor allem durch die Ausführungen Hoches und Bumkes lebendig wurde, war der Auftakt zu den modernen Bestrebungen, in den meist verwickelten Aufbau geistiger Erkrankungen einzudringen. Gerade auf dem Gebiete der Erkrankungen des Präseniums aber sind wir über die ersten Anlaufe noch nicht hinausgekommen. Unsere Erkenntnis reicht nicht wesent- lich weiter als bis zu der Tatsache, daß bei der großen Mehrzahl dieser Erkrankungen endogene und exogene Faktoren eine pathogenetische Bedeutung haben. Wie wir uns ihr Zusammenwirken zu denken haben, wissen wir vor allem deshalb noch nicht, weil noch alle vergleichenden Untersuchungen über die wirkliche Bedeutung der einzelnen Alters- stufen für das normale und krankhafte Seelenleben fehlen. Sollen wir hier weiterkommen, so muß die Forschung an wesentlich einfache- ren Fragestellungen ansetzen, um den Kreis der strittigen Punkte mehr und mehr einzuengen.

Vor einigen Jahren hat Lange den Versuch gemacht, den Einfluß einer Reihe von Nebenumständen auf Ablauf und Gestaltung zirku- lärer Krankheitsbilder zu kennzeichnen. Unter anderem wurde auch die Bedeutung des Greisenalters an einem größeren Material Manisch- depressiver untersucht. Unsere eigene Fragestellung geht dahin, wie das hohe Lebensalter auf Prägung und Verlauf von schizophrenen Prozessen wirkt, deren Ablauf schon lange Jahrzehnte hindurch überblickbar ist. In der Literatur haben wir zu dieser Frage nur spär- liche Bemerkungen finden können, und zwar bei Bleuler. Dieser führt in seiner Monographie über die Dementia praecox aus, daß die ver- schiedenen Formen der Altersatrophie des Gehirns die Schizophrenie sehr oft komplizieren.

1) Aus der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing (Direktor: Geheimrat Dr. Vocke f).

Zeitschrift für Psychiatrie. LXXXIX. 1

2 Jaser,

Immerhin sei es nicht die Regel, daB bei Schizophrenen ausge- sprochene Formen der Dementia senilis auftreten. In solchen Fallen kämen zum schizophrenen Blödsinn Störungen der Merkfahigkeit, der Orientierung und der Auffassung hinzu. Die Energie der Wahn- ideen und des Handelns, wenn sie überhaupt noch vorhanden seien, nehme ab. Mitunter komme es zu senilen halluzinatorischen Delirien. Auffallend sei das Verhalten der Affekte. In manchen Fällen sei aller- dings bei dem doppelten Blödsinn nicht mehr viel aus den Kranken herauszubringen. Manchmal aber löse die organische Psychose die Af- fekte; die Kranken würden wieder zugänglicher, „gemütlicher“. In einem gewissen Gegensatz zu diesen Ausführungen steht eine Bemer- kung Bleulers aus dem Jahre 1915, nach der die Dementia senilis auffallend selten zu einer Schizophrenie hinzutrete.

Unser eigenes Material umfaßt alle diejenigen Kranken der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing, die, an schizophrenen Prozessen leidend, das 70. Lebensjahr überschritten haben. Es handelt sich im ganzen um 15 Kranke, zu denen wir aus sachlichen Gründen noch einen wei- teren Schizophrenen hinzugenommen haben, der erst 60 Jahre alt ist. Das Durchschnittsalter errechnet sich danach auf 72,4 Lebensjahre, die durchschnittliche Aufenthaltsdauer in der Heil- und Pflegeanstalt auf 32,1 Jahre (im einzelnen von 15 bis zu 57 Jahren). Unter den Kranken befinden sich 11 Frauen und 5 Männer, zu welch letzteren auch der erwähnte Sechzigjährige gehört. Es entspricht diese Ver- teilung wohl der verschiedenen Lebenserwartung der beiden Ge- schlechter.

Ein eingehender Überblick über die Krankheitsverläufe zeigt, daß in einer ganzen Reihe der Fälle, nämlich fünfmal, das Greisenalter offenbar völlig spurlos an der Gestaltung der schizophrenen Bilder vorbeigeht. Unerbittlich schreitet hier die Krankheit von den ersten Anfängen an bis zu immer tieferen Formen des schizophrenen Zer- falls fort. Dreimal handelt es sich um vorwiegend kataton-manierierte Bilder. Es gelingt hier nicht, zu den Kranken Beziehungen zu ge- winnen, die es gestatten würden, etwa die Merkfähigkeit hinreichend zu untersuchen. In einem Falle ließ sich lediglich auf dem Umwege über das Klavierspiel feststellen, daß zum mindesten noch be-, trächtliche Reste des früheren Gedächtnisbesitzes bewahrt sind und daß die Kranke noch imstande ist, vom Blatt zu spielen. Auch zeichne-

rische Leistungen gelingen dieser Kranken noch in annähernd der |

gleichen Weise, wie vor 50 Jahren. Allerdings handelt es sich dabei um stereotype Frauenköpfe und Blumen, die seit Jahrzehnten immer

q s

Über den Einfluß des Greisenalters usw. 3

wieder gezeichnet werden und daher schwerlich einen Schluß auf Ge- dächtnisleistungen zulassen. Nur aus gewissen Andeutungen läßt sich schließen, daß die Patienten noch imstande sind, neues Gedächtnis- material aufzunehmen. Sie erkennen den Arzt offenbar wieder, kennen sich in den Tageszeiten aus. Von den beiden übrigen Kranken dieser Gruppe läßt sich auch bei der schweren, immer noch fortschreitenden Sprachverwirrtheit mit hinreichender Sicherheit feststellen, daß offen- bar durchaus physiologische Merkleistungen möglich sind. Die Er- krankung hat in den fraglichen Fällen im 16., 33., 35., 45. bzw. etwa 50. Lebensjahre begonnen. Eine Kranke hatte einen rein asthenischen Typ, eine zweite ist asthenisch-athletisch; zwei zeigen neben einem überwiegend asthenischen Habitus einzelne pyknische Züge, die letzte Kranke endlich hat einen vorwiegend pyknischen Körperbau. Sie hat lange vor Beginn ihrer Erkrankung im 50. Lebensjahr schwere Stoff- wechselstörungen gehabt und bietet jetzt die ausgesprochenen Züge des

Myxödems. Im Gegensatz zu den genannten fünf Kranken bietet eine zweite

Gruppe von zwei bzw. drei Schizophrenen augenblicklich fast aus- schließlich die Zeichen des Altersprozesses dar, so daß nichts mehr an die Schizophrenie erinnert. Ich gehe auf diese Kranken im folgen-

den etwas näher ein.

Der im Jahre 1857 geborene verheiratete Bauer K. war ein guter Fa- milienvater, ein tüchtiger Landwirt, als er im Jahre 93 nach längere Zeit vorausgehenden Kopfschmerzen akut an einer ängstlich gefärbten hallu- zinatorisch-paranoiden Psychose erkrankte. Er halluzinierte auf allen Sinnesgebieten, war negativistisch, erregt und beruhigte sich erst all- mählich so weit, daß er zur Arbeit herangezogen werden konnte. Nach einem halben Jahr wurde er ungeheilt von seinen Angehörigen nach Hause genommen. Zwei Jahre darauf mußte er in der gleichen Anstalt wieder aufgenommen werden, da er bedrohlich gegen seine Frau geworden war. Er hatte auch in der Zwischenzeit halluziniert und vor allem einen aus- gesprochenen Eifersuchtswahn entwickelt. Seine Frau, meinte er, halte es mit den Knechten. Die letzten Kinder seien nicht von ihm; man habe ihn vergiften wollen. Nebenbei bestanden offenbar damals schon religiöse Größenideen. In den folgenden Jahren entwickelte sich K. zu einem ein- spännigen, verschlossenen und mißtrauischen, doch fleißigen Anstaltsar- beiter, der nur gelegentlich erregt wurde und sehr bald die Behauptung aufstellte, seine Frau werde auch in der Anstalt verwahrt. Allmählich wurde er immer mürrischer, unzufriedener, blieb wiederholt von der Arbeit fort. Gelegentlich einer Entweichung im Jahre 1913 stellte es sich heraus, daß er fortdauernd weiter halluzinierte und an seinen Eifersuchtsideen gegen die Frau festhielt. In den folgenden Jahren dissimulierte er zu- nächst. Zum Arbeiten war er nicht zu bewegen. Er saß faul und bequem umher, war gänzlich indolent und abgeschlossen. Noch 1920 kamen ge-

1*

4 Jaser,

legentlich eines Schimpfanfalles seine alten Eifersuchts- und Verfolgungs- ideen zum Vorschein. Immer noch hörte er sich fortgesetzt beschimpft. 41924 hatte er einen Ohnmachtsanfall, der zunächst ohne motorische Folgen schien. Er zeigte sich darnach noch interesseloser, hörte aber noch 1922 die Stimme seiner Frau und von Nachbarn in der Anstalt. 1923 ist er meist freundlich und heiter und dabei zeitlich völlig desorientiert geworden. Er glaubt, 5 Jahre in der Anstalt zu sein, und beginnt schon Personal und Ärzte mit früheren Bekannten zu verwechseln. Zugleich wird er immer gebrechlicher, liegt auf dem Sofa herum, zeigt eine ausgesprochene Ri- gidität, die 1927 vor allem die rechte Seite in schwerster Weise in Mit- leidenschaft gezogen hat. Ende 1924 erinnerte er sich eben noch an seinen Aufenthalt in der ersten Anstalt und meint, es sei Zeit, daß er heimkomme, er sei doch nun schon fast 4 Wochen hier. Er verkennt die Personen seiner

Umgebung, kann sich gar nichts mehr merken. September 1926 sind -

eigenartige Gesichtstauschungen vermerkt. Der Kranke behauptet, vor dem Fenster sitze eine Frau auf dem Baume, ist ängstlich, wie sie wohl wieder herunterkommen könne. 1927 ist er indolent und apathisch, spricht spontan kaum mehr. Örtlich und zeitlich kennt er sich gar nicht mehr aus, verwechselt die Personen seiner Umgebung, hat Zwangslachen und Zwangs- weinen. Ab und zu äußert er, er möchte heim. Auf Fragen gibt er an, 31 Jahre alt zu sein. Seine Frau sei ganz recht, es gebe gar keinen VerdruB. Eifersuchtsideen stellt er in Abrede; er habe nie solche gehabt. Er habe ein 4 jähriges Kind. Der Hof sei zwar zerrüttet, aber an der Frau liege das nicht. Er verlangt heim, fragt, wie weit es mit der Bahn von hier aus nach der Bahnstation seines Heimatortes sei. Sich selbst überlassen, lebt er offenbar in deliranten Bildern, die heimatliche Beschäftigungen betreffen, spricht von einer Kuh, die heimgeführt werde, verkennt die Personen der Umgebung als seine Knechte, als den Hausarzt. Sobald man von seiner Familie spricht, bekommt er einen lebhafteren Gesichtsausdruck, erscheint natürlich und ist dafür dankbar, wenn man sich mit ihm beschäftigt. In der allerletzten Zeit macht er den Eindruck eines hilflosen Kindes und ist noch jünger geworden. Er behauptet jetzt, 25 Jahre alt zu sein. Im Juni 27 bekommt er eine Pneumonie, an der er am 13. 6. stirbt. Die Obduktion ergibt neben der Pneumonie und einer Reihe anderer Befunde eine Sklerose der Hirnbasisgefäße und eine deutliche Hirnatrophie, besonders an den Frontalwindungen, sowie eine narbige Schrumpfung des linken Schwanz- kernkopfes.

In dem wiedergegebenen Falle gehen die schizophrenen Krank- heitserscheinungen gänzlich in dem senilen Verblödungsprozeß unter. Alle Erinnerungsbilder werden ausgelöscht, so daß sich der Kranke in die Zeit vor seiner Erkrankung zurückversetzt glaubt. Auch die alten Wahnideen sind völlig verschwunden. Aber auch abgesehen von dem Verlust der Inhalte erscheint die Persönlichkeit abgeändert. Aus dem autistisch ablehnenden Einspänner ist ein hilfloses Kind geworden, das auf äußere Anregungen in adäquater Weise anspricht und für jede Anteilnahme dankbar ist. In dem Zustande, wie er sich Anfang 1927

Über den Einfluß des Greisenalters usw. 5

entwickelt hatte, erinnerte er schlechthin in nichts mehr an den schi- zophrenen Krankheitsvorgang.

Der zweite hierher gehörige Krankheitsfall betrifft ein jetzt 75- jähriges Fräulein, das immer bösartig, zänkisch und streitsüchtig gewesen war und 1893 auf Grund von Beeinträchtigungsideen zum ersten Male interniert worden ist. Damals traten die Krankheitserscheinungen rasch zurück, so daß die Kranke entlassen werden konnte. 3 Jahre später aber führten neue Verfolgungsideen zu ihrer Wiederaufnahme. Viele Jahre hin- durch blieb das Krankheitsbild annähernd gleich. Immer von neuem mußte Pat. von Abteilung zu Abteilung versetzt werden, da sie jeweils nach vorübergehendem geordnetem Verhalten Beeinträchtigungsideen entwickelte, Stimmen hörte, erregt wurde und schließlich so störte, daß sie nicht gehalten werden konnte.... 1913 beginnt sie Sachen zu sammeln und in Schachteln umherzutragen. Nimmt man ihr diese, so wird sie sehr gereizt, schimpft und schreit tagelang. Auch diese reaktiven Erregungen ` treten allmählich zurück. Pat. ist jetzt eine freundliche Alte, die abgesehen von ihrem Sammeln nicht auffällt. Sie gibt gern und ausführlich Auskunft und zeigt noch leidliche Gedächtnisleistungen, wenngleich ihre Zeitan- gaben nicht mehr völlig richtig sind. Selbst ihr Alter gibt sie nicht mehr ganz richtig an. Ihre Merkleistungen sind sehr schlecht; auch eine drei- stellige Zahl kann sie ohne Ablenkung nicht über eine Minute behalten; aber ebensowenig Rechenaufgaben, die sie mühselig und falsch löst. Sie weiß wenige Stunden nach dem Mittagessen nicht mehr, was sie gegessen hat. Wahnideen spielen keinerlei Rolle bei ihr. Sie erinnert sich wohl, daß die Leute in ihrem Hause böse waren und gegen sie gehetzt haben. Von den Beeinträchtigungsideen gegen ihre Mutter, die anfangs eine Haupt- rolle spielten, will sie nichts mehr wissen. Im Gegenteil sie hält die Kleider der Mutter hoch in Ehren und spricht auch gern von ihrer Verwandtschaft, die tatsächlich nicht sehr freundlich gegen sie war. Viel besser erinnert sie sich an die Auftritte mit den Pflegerinnen, die ihre Päckchen nahmen.

Die Kranke ist freundlich, heiter, zugänglich, zufrieden, zeigt keine Manieren. Sie macht den Eindruck einer natürlichen, in leichtem Grade senil-dementen Frau. Es verdient hinzugefügt zu werden, daß die Kranke eine ausgeprägte Pyknika ist.

Auch in diesem Falle also hat der senile Prozeß alles zum Ver- schwinden gebracht, was an die Schizophrenie denken ließe. Aller- dings ist die Wandlung hier keine ganz besonders eindrucksvolle, weil die eigentlichen schizophrenen Zeichen niemals einen sehr schweren Grad erreicht haben. Immerhin scheint doch noch vor wenigen Jahren das paranoid-negativistische Verhalten sehr deutlich gewesen zu sein. Heute erinnert daran höchstens noch das Sammeln, das in diesen Formen aber auch bei Senil-Dementen wohl keine Seltenheit darstellt. Am stärksten ist offenbar die Wandlung im affektiven Verhalten; aus der zänkischen, boshaften und erregbaren Person, welche die prä- morbide Zeit kennzeichnet, ist ein heiterer, freundlicher Mensch ge- worden.

6 Jaser,

Auch in dem folgenden Falle ist es gerade die Persönlichkeits- _ wandlung unter dem Einfluß mehrerer arteriosklerotischer Insulte,

die am meisten in die Augen fällt.

Der jetzt 60 jährige Kranke hatte, als er 1907 eingeliefert wurde, schon seit 15 Jahren nicht mehr gearbeitet. Er war weit in der Welt um- hergekommen und hatte dann Beeinträchtigungsideen gegen seine Ange- hörigen entwickelt, war autistisch und verschroben geworden, hatte halluziniert und war immer sonderbarer geworden. Grund zu seiner Ein- lieferung war ein Angriff, den er ohne äußeren Anlaß auf Mutter und Schwester gemacht hatte. Bei der Aufnahme war er wenig zugänglich, behauptete, man behalte ihm sein Vermögen vor, berichtete unklar von seinen Trugwahrnehmungen und sprach von der übernatürlichen Kraft seines Vaters. Zunächst untätig und ablehnend, wird er rasch ein sehr brauchbarer Arbeiter, der sich in der Schreibstube in ungewöhnlicher Weise nützlich macht. Doch bleibt er immer mißtrauisch und entwickelt sehr bald neue Verfolgungsideen gegen seine derzeitige Umgebung. Vor allem fühlt er sich von einem anderen Kranken beeinträchtigt, der gleich ihm Schreibarbeiten verrichtet. Er vermutet eine systematische Hetze, glaubt sogar vorübergehend, man wolle ihn vergiften, vermutet allenthal- ben Fallen und böse Absichten. Zeitweise ist er in der stärksten Weise paranoid gespannt. Bei seinen Schreibarbeiten ist er äußerst gewissenhaft, aber ebenso umständlich. Er entwickelt alle möglichen stereotypen Ge- wohnheiten, die ein Diktieren gänzlich unmöglich machen. Seine Ma- schinensätze sind immer richtig, aber unglaublich schmutzig. Macht er einen Fehler im Beginne einer Zeile, den er erst später bemerkt, so korri- giert er nicht etwa hinein, sondern radiert die ganze Zeile aus u.a. m, Man findet sich in seinen Zeremonien nicht zurecht. Im allgemeinen ist er durchaus verschlossen und gegen seine gesamte Umgebung miBtrauisch, kann aber auch gelegentlich gegenüber einem Arzt, dem er vertraut, ganz redselig werden und aus seiner Vergangenheit, sowie über seine Verfol- gungsideen sprechen. Auch dann aber hat man den Eindruck, daß er nicht voll aus sich herausgeht und vor allem mit seinen krankhaften Ideen zurückhält. Im Laufe des Jahres 1926 läßt seine Arbeitskraft allmählich nach. Zugleich wird er verschrobener und eigensinniger, zunehmend ge- reizt gegen die Schwestern, sammelt seine Vesperbrote, die er verderben laßt. Im Laufe des Dezember bekommt er mehrfach leichte apoplektische Anfälle, die eine Parese der linken Seite zurücklassen. Nach dem letzten Anfall ist vermerkt: ‚In seinem Wesen nicht wiederzuerkennen. Liegt jovial gemütlich lachend in den Kissen, ein freundlicher alter Herr, der in der Unterhaltung in nichts an einen Schizophrenen erinnert. Nur wenn man ihm zuredet, er solle doch ein Schlafmittel nehmen, wird er auffallend abweisend.“ Er bleibt auch in der Folgezeit in einer ähnlichen Ver- fassung. Nach unserer Anstalt überführt, regt er sich nicht besonders auf. Er meint, es werde nun doch nicht mehr lange dauern, bis er entlassen werde. Vorübergehend wird er wieder leicht mißtrauisch und auch erregt, als er durch einen Besuch aus der alten Anstalt an gewisse unangenehme Vorkommnisse erinnert wird. Seine Mißstimmung ist aber durchaus begründet. In der letzten Zeit ist er dauernd freundlich, heiter, genießt

Über den Einfluß des Greisenalters usw. 7

seine Ruhe, liest in der Zeitung, spricht spontan zwar wenig, ist aber freund- lich und zugänglich bei Ansprache, interessiert für seine früheren Mit- patienten, liebenswürdig und herzlich gegen einen der alten Ärzte. Selbst. auf die unangenehmen Vorkommnisse hingewiesen, bleibt er ruhig, sucht zu verstehen und zu entschuldigen. Neue paranoide Ideen hat er keinesfalls entwickelt. An seinen früheren Hauptfeind erinnert, lächelt er mit einem gewissen Humor. Humorvoll spricht er auch von früheren Ge- pflogenheiten und davon, daß er die Ärzte der früheren Anstalt jahrelang hinters Licht geführt hat. Bei seinen regelmäßigen sonntäglichen Aus- gängen hatte er behauptet, Verwandte zu besuchen, während er tatsächlich immer wieder zum Biertrinken in ein bestimmtes Wirtshaus gefahren war.

In seinem Denken und Sprechen ist der Kranke langsamer und schwerfälliger geworden. Er muß sich auf Worte besinnen, hat lange nach- zudenken, bis ihm Namen, aber auch Vorkommnisse einfallen. Er macht den Eindruck eines eingeengten Arteriosklerotikers, bei dem das Gedächt- nis offenbar mehr gelitten hat als die Merkfähigkeit.

Auch dieser Kranke ist ein klassischer Pykniker.

Ob bei dem letztgenannten Patienten das schizophrene Wesen wieder zum Vorschein kommen könnte, läßt sich natürlich nicht ent- scheiden. Es ist ja darauf verwiesen worden, daß er vorübergehend nach dem letzten Schlaganfall wieder gespannt und erregt war. Immer- hin scheint doch auch damals sein Zustand sich wesentlich von der ge- wöhnlichen Verfassung vor den Schlaganfällen unterschieden zu haben. Vor allem wurden keine neuen Wahnideen gebildet und auch in der Zwischenzeit, nach nunmehr 3⁄4 jährigem Aufenthalt in der neuen Anstalt, haben sich keine Ansätze zu neuen Wahnbildungen gezeigt. Im ganzen wird man also wohl doch annehmen dürfen, daß die Persön- lichkeitswandlung eine entscheidende war, und man kann gerade in diesem Falle schwerlich daran zweifeln, daß es der arteriosklerotische Prozeß war, der diese Wandlung mit sich brachte. Dafür spricht mit aller Entschiedenheit die zeitliche Übereinstimmung.

Wir haben also drei Kranke kennengelernt, bei denen Vorgänge, die zur Involution bzw. zur Zerstörung von Hirngewebe führten, zu- gleich mit den kennzeichnenden Erscheinungen der organischen Hirn- veränderung einen Abbau schizophrener Krankheitszeichen und eine Persönlichkeitsveränderung im Sinne einer Annäherung ans normale Verhalten mit sich brachten. Gerade dies letztere scheint uns von ent- scheidender Wichtigkeit. Es wird hier durch den organischen Krank- heitsvorgang etwas besorgt, was in anderen schizophrenen Krankheits- verläufen durch eine eigenartige Persönlichkeitsspaltung erreicht wird. Das schizophrene krankhafte Seelenleben wird gewissermaßen von der Persönlichkeit abgeschaltet, die, wenn auch in einem engeren Umfang, in ihre alten Rechte eingesetzt wird. Über den Weg, auf dem dies ge-

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schieht, können wir uns freilich keine bestimmteren Vorstellungen machen. Man wird aber sehr wohl daran denken dürfen, daß es die Be- einträchtigung des mnestisch-assoziativen Apparates ist, die in unse- ren Fällen die wesentliche Rolle spielt.

Eine Gruppe von Kranken steht wiederum der ersten nahe, inso- fern, als hier das Greisenalter zwar vielleicht leichte senile Erscheinun- gen mit sich bringt, jedoch an der seit vielen Jahren bestehenden schizophrenen Verfassung keinerlei Veränderung herbeiführt. Es han- delt sich auch in dieser Gruppe um drei Kranke, die, ausnahmslos früh erkrankt, nach Ablauf der anfänglichen akuten Krankheitser- scheinungen schwerste, sich dauernd gleichbleibende schizophrene Störungen zurückbehalten haben, mit diesen sich aber gewissermaßen einrichten, um sich mit wesentlichen Teilen ihres Erlebens auf die Wirklichkeit einzustellen. Ich will wenigstens über einen von diesen Kranken etwas eingehender berichten.

Der 1857 geborene ledige Kaffeebrenner A. muß im Jahre 1884 in die Anstalt aufgenommen werden, da er seine Angehörigen mit dem Messer bedrohte. Erhatte vorher außerordentlich viel getrunken und war zunächst im Anschluß an alkoholische Exzesse besonders reizbar und jähzornig ge- worden. In den letzten Tagen vor der Aufnahme hatten sich unter leb- hafter Angst Gesichts- und Gehörstäuschungen eingestellt, die ebenso wie die Verfolgungsideen einen ausgesprochen alkoholischen Charakter aufwiesen. Dieser Auffassung des Krankheitsbildes entsprach auch der nächste Verlauf. Denn nach wenigen Tagen schien er frei von Trugwahr- nehmungen und völlig geordnet, klar und besonnen. Immerhin blieb auf- fällig, daß der Kranke gelegentlich vor sich hinstarrte und abgelenkt schien. In der Tat wurde der Kranke nach wenigen Wochen dadurch wieder auf- fällig, daß er plötzlich angab, vom Prinzen Arnulf gerufen worden zu sein, und kurz darauf behauptete, im Krankenhause vergiftet zu werden, durch den Kopf geschossen zu sein. Auch gab er an, sein Penis sei mehrfach ab- geschnitten worden. In der Folge suchte der Kranke freilich zunächst zu dissimulieren. Außerordentlich rasch aber stellt sich nun im Ablauf weniger Jahre ein rascher schizophrener Zerfall ein, der den Kranken zu- nächst zeitweise, späterhin dauernd, nahezu unverständlich macht. Das hindert A. aber nicht, von allem Anfang an sich fleißig zu betätigen und sehr bald einer der zuverlässigsten Arbeiter im Maschinenhaus zu werden. Leider findet sich über die einzelnen geäußerten Inhalte sehr wenig in den ersten Einträgen der Krankengeschichte. Immerhin äußert er schon 1890, er habe vor 3000 Jahren 15 000 Kinder gezeugt, und es findet sich die Be- merkung des Arztes, er schwätze viel verrücktes Zeug, das er zum Teil selbst nicht glaube. Das entspricht durchaus dem gegenwärtigen Ver- halten und dem Zustand, wie er gelegentlich immer wieder in der Kran- kengeschichte geschildert ist. So äußert er etwa 1921: „Wenn der Theodor Zankers Drehorgel, auf die er sich eingelassen hat, in der Abteilung, wer- den von Zankers Freunde und Zanker durch Luitpold II. Bruder Schreiber

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Maiers Buben die erste der Irrenanstalt dergestalt bevormundet, daB selbe an der Bahn nachsehen muß, ob die Drehorgel Zankers bestimmt an- kommt. Also der eine ist gestorben als Luitpold und folgerechtlich trifft es den Papst, die von Josef dem Papst geschenkte Prinzeß Ludwig mit- beteiligt sei und über sie mit der Totenmaske herrichten. Das hat sie oft erzählt in der Brennerei.“ Ganz in der gleichen Weise spricht er auch heute noch. Wenn man ihm freilich zusetzt, so gelingt es gelegentlich, ihn zu klareren Antworten zu bewegen. So erfährt man, daß er jetzt 1926 Jahre alt und eigentlich ein Infusorier ist. Im Jahre 1864 sei er zum ersten Male geisteskrank durch den Raubmörder Neubert geworden. Die Maistraße habe damals noch Jerusalem geheißen. Vor 1863 sei er Seiltänzer im Ma- schinenhaus gewesen. Das Seil sei gerissen, so daß er in die Zerstücklungs- maschine gefallen sei. Vorher 6 Schuh, 6 Strich groß, sei er nunmehr nur noch 3V/, Schuh groß gewesen und habe sich infolgedessen die Haare und den Bart abschneiden lassen. Am 7. April 84 (richtig) sei er, zwei Tage vor Benno, ins Narrenhaus gekommen. Närrisch sei er schon ge- wesen. Das Unglück sei beim Kaffeefassen passiert. Er sei an die Decke geflogen, so daß der Hinterkopf 2 cm höher als der Vorderkopf gewesen sei. Aber Dr. Gudden habe es mit einem kleinen Hammer heruntergehäm- mert; seitdem sei es wieder gut. Dann erst sei er ein Infusorier geworden von der Fäulnis der Lüfte. Bumm von der Auerfeldstraße (der Direktor der alten Kreisirrenanstalt) habe das freilich bezweifelt. 6 bis 7 Schuh unter der Erde komme das Wasser. Dann sei es nicht mehr weit in die Luft. Einer, der einen Brunnen gegraben habe, sei in die untere Luft gefallen und verschwunden. Früher habe er Stimmen gehört; jetzt höre er sie nur noch beim Glockenläuten, und zwar das, was er sich denke. Er habe aber später erkannt, daß diese Stimmen vom Gehirn her kämen. Ge- sichtstäuschungen habe er früher auch gehabt. 1884 seien kleine Gestalten um ihn herumgetanzt und hätten gerufen „hin mußt’ werden“. So etwas sei seitdem nicht mehr vorgekommen. Unmittelbar nach solchen klaren Angaben kann der Kranke etwa wieder sagen: „Der Prinzregent ist der Präsident von der Polizei und wurde 1900 von Wien in die Anatomie ein- geliefert; er war ja der Räuberhauptmann Wilder Johann und fiel in ein Spiritusschachterl und ersoff darin.“ Aus zahlreichen gelegentlichen Be- merkungen geht hervor, daß der Kranke ein ausgezeichnetes Gedächtnis haben muß. Auch die Merkfäbigkeit kann schwerlich gestört sein, wenn es auch nicht möglich ist, eine exakte Prüfung vorzunehmen.

Bei seiner außerordentlichen Sprachverwirrtheit und seinen phan- tastischen Wahnbildungen führt der Kranke ein äußerlich völlig geordnetes Leben. Er geht jeden Morgen in aller Frühe zu seiner Arbeit und arbeitet bis 1/26 Uhr abends fort, auch Sonntags. Dabei ist er absolut zuverlässig. Er bewegt sich völlig frei und gibt niemals zu irgendwelchen Störungen Anlaß. Mit den Mitkranken spricht er wenig, ebenso mit den Pflegern. Aber er grüßt immer höflich und entzieht sich niemals der Ansprache. - Dann erscheint er heiter, hat etwas durchaus Joviales in seinem Wesen, zeigt keinerlei Manieren. Er sieht aus wie ein alter Säufer. Vielfach macht es den Eindruck, als kamen ihm seine tollen Reden selbst komisch vor und als wolle er sich über diejenigen, die mit ihm sprechen, lustig machen. Er scheint sich in immer tollere Gedankengänge absichtlich hineinzusteigern.

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Sein Blutdruck beträgt 220/460 R. R. Die Reflexe sind normal. Er zeigt vorwiegend pyknischen Körperbau.

Nachzutragen ist noch, daß A. 1889 und beim Tode der Königin von Bayern 1924 etwas erregter war als durchschnittlich. Während für die erste Erregung ein äußerer Anlaß aus der Krankengeschichte nicht mehr eruierbar ist, muß für jene im Jahre 1921 wohl tatsächlich der Tod der Königin verantwortlich gemacht werden, die A. seit endlosen Jahren für seine Braut erklärte und die auch heute noch in seinen Reden eine große Rolle spielt.

Wir haben hier also einen Krankheitsverlauf vor uns, in dem nach den ersten stürmischen Erscheinungen in wenigen Jahren ein sehr weitgehender Zerfall eintritt, ohne daß sich späterhin noch entschei- dende Wandlungen zeigten. Der Zustand, wie er im Jahre 1890 ge- schildert wird, dürfte, soweit dies aus der Krankengeschichte zu ent- nehmen ist, sich in keiner Weise von dem gegenwärtigen Verhalten unterscheiden. Auch das Greisenalter hat offenbar keinerlei Verän- derung herbeigeführt. Ganz ähnlich ist es bei den beiden anderen in diese Gruppe gehörigen Krankheitsfällen, die sich freilich äußerlich sehr wesentlich von A. unterscheiden. Bei dem ersten Kranken handelt es sich um einen jetzt 77jährigen, der seit 1877 interniert ist und sicher im Beginne der 80er Jahre schon die gleichen unendlich reich- haltigen Trugwahrnehmungen und Wahnbildungen darbot, die er heute noch äußert, wenn man ihn gelegentlich einmal zum Sprechen bringt. Freilich ist er heute noch eben derselbe „große Schweiger‘‘, als der er in den 80er Jahren bezeichnet wird. Auch dieser Kranke hat sehr bald nach seiner akuten Erkrankung zu arbeiten begonnen und arbeitet heute ebenso zuverlässig, wie er dies vor 40 Jahren getan hat. Im dritten Falle handelt es sich um eine zwerghafte 78jahrige, die 89 aufgenommen wurde und noch in demselben Jahre jenen Zustand des Schwachsinns erreichte, der heute zu bestehen scheint, und schon in dem gleichen Jahre ebenso unermüdlich mit Näharbeiten beschäftigt war, wie sie heute an der Nähmaschine sitzt. Damals ebenso wie heute verlangte sie besondere Rücksichten und Beachtung und wird auch jetzt noch durch Kleinigkeiten ebenso gereizt, wie dies zum mindesten schon 93 geschildert ist. Sie hat dies Verhalten bewahrt, obgleich sie seit einer Reihe von Jahren völlig ertaubt ist und sich sprachlich nicht mehr zu verständigen vermag. An ihrer Arbeit ist keinerlei geistiger Rückgang im Sinne eines Altersprozesses zu verzeichnen.

Bei einer weiteren kleinen Gruppe von Schizophrenen macht sich das Alter offenbar nur dadurch bemerkbar, daß die Wahnbildung nicht nur zum Stillstand kommt, sondern daß auch ein großer Teil der In-

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halte, die früher die Kranken beherrschten, keine wesentliche Rolle mehr spielt oder schließlich ganz vergessen wird, ohne daß im übrigen eine erheblichere Änderung im Sinne der senilen Demenz deutlich würde. Auch hier wird ein Lebenslauf die Sachlage am besten kenn- zeichnen.

Die 1847 geborene Tuchmachergehilfensfrau O. wurde mit 40 Jahren in die Anstalt aufgenommen. Schon immer hatte sie unter starken Kopf- kongestionen zu leiden gehabt und seit einer Geburt im 34. Lebensjahre viel über Kopfschmerzen geklagt, die sie mit der während der Entbindung nötigen Narkose in Zusammenhang brachte. Im 36. Lebensjahre führte sie plötzlich verkehrte Reden. Dieser Zustand schwand bald; doch nach einem halben Jahre trat eine neue geistige Erkrankung auf. Infolge ihrer „verkehrten“ Handlungen litt das Hauswesen. Es kam zu Aufre- gungszuständen. Die Kranke stritt mit allen Hausbewohnern und mit ganz Unbekannten auf der Straße und zerstörte Gegenstände. Dabei trank sie sehr viel. In den letzten Jahren machten sich Gehörstäuschungen bemerk- bar. O. meinte, man schimpfe über sie, auch wenn niemand zugegen war. Der Zustand verschlimmerte sich immer mehr, so daß schließlich An- staltsunterbringung nicht mehr zu vermeiden war.

Bei der Aufnahme dachte man auf Grund von Zuckungen im Gesicht, von Mitbewegungen, schleppender Sprache, Rombergs Zeichen, träger Pupillenreaktion und schwerfälligem Gang an Paralyse. Die Kranke war ruhig, geordnet und besonnen, dabei urteils- und gedächtnisschwach und ohne jedes Interesse. Bei den bald eintretenden Menses und in der Folge halluzinierte sie lebhaft sexuelle Beschimpfungen, bezog alle Reden im Saale auf sich und wurde erregt. Nach kurzer Zeit beruhigte sie sich wieder und begann erneut zu arbeiten, was sie von allem Anfang an getan hatte.

Noch 89 denkt man gelegentlich an Paralyse. Später ist davon nicht mehr die Rede. In den langen folgenden Jahren findet sich ein ständiger Wechsel zwischen ruhigen Zeiten voll fleißigster Arbeit und kurzen Perioden heftiger Erregung, in denen die Kranke ungemein viel halluziniert. An den 88 erfolgten Tod des Mannes glaubt sie nicht, da sie ihn immer wieder sprechen hört. Gegen Ende 89 macht man den Versuch, sie zum Dissi- mulieren zu veranlassen. Es gelingt der Kranken aber nicht. Durch die fast fortwährend bestehenden Gehörstäuschungen wird sie sehr häufig zu heftigem Schimpfen veranlaßt. Anfang 90 behauptet sie, ihren Mann vom Fenster aus gesehen zu haben. Von Anfang 91 an hört sie ihr Töch- terchen vor dem Fenster jammern, später auch obszöne Dinge sagen. Fortwährend hört sie sexuelle Beschuldigungen. 91 wird zum letzten Male über profuse Menses berichtet. Danach zeigt sich zunächst noch keine Änderung des Zustands. Immer erneut kommt es zu heftigen Erregungen, angeblich meist unter dem Einfluß halluzinierter sexueller Beschuldi- gungen. Erst im Jahre 92 tauchen Andeutungen von Förderungsideen auf. O. will ihren Sohn studieren, Kunstmaler werden lassen und meint die Mittel leicht aufzubringen. Zugleich verkennt sie den Arzt als alten Bekannten. Bald darauf liest sie aus der Zeitung heraus, daß der Sohn ein gutes Examen in der Kunstschule gemacht habe. Zugleich werden die Er-

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regungen seltener und weniger hochgradig. Die halluzinatorischen Be- lastigungen dauern aber fort. Pat. verbittet sich, daB sich andere Leute „auf ihren Namen einstreiten‘‘, hört viel Geschwätz. Zugleich weiß sie, daß man mit Liebesgedanken von draußen ‚auf sie hereindenke“. Kurz darauf ist der Sohn zum ‚jungen Herrn, Dichter und Künstler“ geworden. November 93 wird die Tante, eine Maurerswitwe, geadelt und zur ,, Kiinst- ler-Kronistin‘‘ gemacht. Der Pat. gehören die Anstalt und zwei Millionen Silbergeld. Das ,,Hereindenken‘‘, durch das Pat. alles mögliche erfährt, dauert fort. Januar 94 erfährt sie durch die Zeitungen, daß der Sohn König von Württemberg, sie selbst Königinmutter mit dem Titel Königin Kreszenz geworden ist, und verlangt die gebührende Achtung. Bayern wird zu Württemberg geschlagen. Sie kommandiert ganze Regimenter Infanterie, welche die Anstalt vernichten werden. Oktober 94 bei Ge- legenheit einer Erkrankung des Zaren kommt heraus, daß sie dessen Frau ist. Februar 95 ist sie nicht mehr bloß Kaiserin von Rußland, sondern auch von der Türkei, von Württemberg und frühere Kaiserin von Frank- reich. 95 gehörte auch Amerika zum Kaiserreich. Ihr Mann und Kaiser- Mitregierer ist der hochgeehrteste Herr von Daller-Zack (will sagen Zar). Schon in dieser Zeit kommt es kaum mehr zu Erregungen, nur noch zu Quereleien, die auch, jedoch nur gelegentlich, noch lange Jahre fortdauern. 4907 ist sie völlig ruhig und harmlos, dabei ganz wie alle die langen Jahre vorher eine unermüdliche Arbeiterin. 1911 wird sie als natürlich, lebhaft geschildert. Aber sie läßt sich nicht ausfragen, will überhaupt von den Ärzten nichts wissen, hält sich für völlig gesund. Die Größenwahnideen finden reichliche Unterstützung durch Erinnerungsfälschungen. Im übri- gen geordnet, besonnen und, außerhalb ihrer Wahnideen, offenbar auch nicht wesentlich zerfahren, ist ihr Wahnsystem reichlich faselig geworden. Sie heißt jetzt von Daller, hat aber vorher den Namen O. geführt. Doch sei sie mit O. nicht positiv verheiratet gewesen, sondern nur in Geldsachen zusammengeschrieben. Dieser O. sei von höherer Abstammung gewesen, Kaiser von Frankreich und Geistlicher zugleich. Nebenbei hat sich ,,als ge- richtlich vorliegend‘‘ der Daller noch als Mann ‚‚hinzugeschrieben“ als Mit- kaiser von Rußland u.a.m. Von nun ab bleibt der Zustand annähernd stabil. Sie wird als die gleiche harmlos demente sehr fleißige Kranke mit ihren alten Wahnideen geschildert. 1922 ist vermerkt, daß ihr Gedächtnis auffallend gut bleibe. Sie kennt die Namen aller früheren Abteilungsärzte, weiß auch ziemlich genau die Zeiten, wann jene jeweils da waren. Für andere Ereignisse allerdings, die offenbar keinen affektbetonten Eindruck auf sie gemacht haben, fehlt ihr ganz die Erinnerung. So haften beispiels- weise die großen Ereignisse der letzten Jahre, obwohl die Kranke täglich die Zeitung liest, nicht in ihrem Gedächtnis. Sie hält diese Dinge für Schwindel und hat kein Interesse dafür. Immer wieder verlangt sie ihre Entlassung, läßt sich aber leicht vertrösten. Mai 25 hat sie einen Schwäche- zustand: die Lippen werden zyanotisch, das Gesicht dunkelrot, der Puls gespannt. Doch erholt sich die Kranke rasch. Von nun ab spricht die Kranke offenbar nicht mehr spontan von ihren Wahnideen, wenn sie auch noch völlig zerfahrene Briefe an ihre Tochter schreibt, die auf deren Fort- bestehen hinweisen.

Auch heute will sie mit den Ärzten nichts zu tun haben. Sie wird

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nicht gerade bése, wenn man sie anspricht, behandelt den Arzt aber iro- nisch, leicht überlegen, dabei durchaus natürlich. Nie mehr spricht sie vor sich hin, wie sie es noch vor einigen Jahren regelmäßig getan hat. Sie ist unermüdlich tätig und leistet gute Arbeit an der Maschine. Dabei ist sie gegen ihre Mitkranken freundlich, verträglich, gutmütig. Nach wie vor liest sie in der Zeitung, und im Gegensatz zu den Angaben von 1922 läßt sich feststellen, daß sie das Gelesene wohl merkt, Interesse entwickelt, ebenso wie für alle Anstaltsereignisse. Bei Fragen nach ihrem Alter weicht. sie aus. Auch von ihren Wahnideen spricht sie nicht. Fragt man sie ge- radezu, so gibt sie wohl zu, sie sei die Kaiserin von Rußland, aber sie habe schon ‚übergeben‘.

Die Krankengeschichte ist deshalb so ausführlich mitgeteilt, weil ernstlich zu fragen ist, ob denn der gegenwärtige Zustand über- haupt von dem Altersprozeß beeinflußt ist, ob er nicht vielmehr einer natürlichen und gesetzmäßigen Entwicklung des lange dauernden Grundprozesses entspricht, eine Frage, die nur mit eingehenderen Un- terlagen beantwortet werden kann. Wir sehen ja eine über lange Jahre sich erstreckende langsame und stetige Wandlung der Krankheits- erscheinungen, die nahezu ungebrochen erscheint. Die anfangs leb- haften Verfolgungsideen und beschimpfenden Halluzinationen ebenso wie die damit verbundenen heftigen Erregungen, die immer wieder Versetzungen der O. nach der Unruhigenabteilung nötig machen, treten langsam und stetig zurück, vielleicht im Zusammenhange mit dem Erlöschen der Sexualfunktionen. Das Übergewicht erlangt all- mählich eine heitere Ruhe, der üppige, wenig zusammenhängende Größenideen entsprechen. Die Kranke hat sich in das Reich der er- füllten Wünsche hineingerettet, in dem sie nicht mehr gestört zu wer- den vermag. Die gegenwärtige Lage denkt sie als eine vorübergehende; sie hat die Machtmittel, um die Anstalt zu vernichten, und wenn sie auch die Tatsache ihrer Internierung immer wieder feststellt, so leidet sie doch nicht darunter. Die Dinge der Außenwelt spielen keine Rolle für sie, so weit nicht ihre eigene sehr tüchtige Arbeit in Frage kommt und die Ereignisse der nächsten Umgebung. Was sonst draußen ge- schieht, dafür hat sie kein Interesse und sie merkt auch das Gelesene nicht. Es ist für sie alles Schwindel.

Hat O. noch vor wenigen Jahren immer wieder von ihren Wahn- ideen gesprochen, so geschieht dies heute nicht mehr. Sie redet auch nicht mehr vor sich hin. Es läßt sich nicht mit Bestimmtheit fest- stellen, ob diese Wandlung in unmittelbarem zeitlichem Zusammen- hang mit dem Schwicheanfall 1925 steht, aber das ist wohl auch un- wesentlich. Auf jeden Fall muß es als auffällig bezeichnet werden, daß die Kranke, nach einem jahrzehntelang stabilen Bild nichts mehr

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von ihren Wahnideen wissen will oder doch nicht mehr dariiber sprechen mag und daß sie, geradezu gefragt, behauptet, es sei wohl so gewesen, aber sie habe ‚übergeben‘, wie der Bauer, der seinen Hof dem Sohn endgültig anvertraut und sich nunmehr von allen Ge- schäften zurückzieht. Es kann kein Zweifel sein, daß zugleich auch die in der Zeitung gelesenen Zeitereignisse mit mehr Interesse verfolgt und gemerkt werden.

Die in der schizophrenen Krankheitsentwicklung aufgebauten Gebilde, die für lange Jahrzehnte neben der Arbeit die wirkliche Welt der Kranken ausmachten, sie schwinden dahin und geben einem lang- samen Einbruch von Inhalten Raum, die der anderen, früher verdräng- ten oder doch nicht beachteten Welt entstammen. Wenn es auch nicht mit aller Sicherheit bewiesen werden kann, so läßt sich die Annahme doch nicht von der Hand weisen, daß es der Altersprozeß ist, der die Pforten der Wahnwelt zu schließen beginnt und jene der Wirklichkeit immer weiter öffnet. An dem Wesen und im sonstigen Gesamtver- halten der Kranken ändert sich damit aber nichts. Mit ihren Hand- lungen hatte die Kranke ja schon unmittelbar nach dem ersten Knick zur Wirklichkeit zurückgefunden. Auch in diesem Falle, ebenso wie übrigens bei der anderen völlig gleichartig sich verhaltenden Kranken dieser Gruppe, verdient der pyknische Körperbau hervorgehoben zu werden.

Es bleiben nun noch drei Kranke übrig, bei denen das Greisenalter nur in Einzelheiten leichte Wandlungen zu schaffen scheint, jedoch in jedem Falle wieder in ganz verschiedener Weise. Bei dem ersten Bei- spiel handelt es sich um eine jetzt 74 jährige Frau, die erst mit 51 Jahren aufgenommen wurde, aber wohl schon erheblich länger krank war, wenn auch über die Vorgeschichte außer der Tatsache, daß einige Jahre vorher eine Verstimmung bestanden hatte, Näheres nicht be- kannt ist. Schon bei der Aufnahme ist diePat. weitestgehend zerfahren, wobei sich diese Zerfahrenheit durch reichliche ideenflüchtige Ele- mente auszeichnet, genau so, wie dies heute noch der Fall ist. Offen- bar hat die Kranke dauernd lebhaft halluziniert. Im allgemeinen drollig und euphorisch, bei der Arbeit leidlich verwendbar, war sie bis vor wenigen Jahren doch dadurch, ganz wie im Anfang, außerordent- lich beschwerlich, daß sie „ein Züchtigungsrecht mitgebracht hatte", d. h. immer wieder urplötzlich auf Pflegepersonen und Mitkranke los- schlug, mit Gegenständen warf oder sonst brutal gewalttätig wurde. Erst seit 1923 findet sich kein entsprechender Vermerk in der Kran- kengeschichte mehr. Es kommt zwar noch gelegentlich vor, daß sie

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wegen lästiger Halluzinationen schimpft, aber sie ist im übrigen völlig harmlos geworden. Auch hier findet sich diese Änderung im 70. Le- bensjahr nach lange gleichbleibendem Verlauf. Man wird wohl ver- muten dürfen, daß das Alter hierbei eine Rolle spielt.

Bei der vorletzten Kranken, die jetzt 72 Jahre alt ist, findet sich ein Krankheitsverlauf, der in vielem jenem der vorangehenden Pa- tientin entspricht. Auch diese Kranke ist in den letzten 20 Jahren allmählich etwas ruhiger geworden, obschon es bei ihr auch heute noch gelegentlich zu Gewalttätigkeiten kommt. Bemerkenswert ist in diesem Falle jedoch der Umstand, daß noch bis in die letzten Monate hinein offenbar ausschließlich Verfolgungsideen und entsprechende Trug- wahrnehmungen bestanden, in der allerjüngsten Zeit aber die ersten Größenideen, und zwar gleich in üppiger Weise und z. T. in einer Form geäußert werden, wie sie für organisch Kranke bis zu einem gewissen Grade bezeichnend sind. Zwar hat auch diese Patientin, wie so viele Schizophrene, die ganze Anstalt zu führen; im übrigen aber besitzt sie sehr viel Geld, so viel, daß man es gar nicht ausdrücken kann, und es gehören ihr für 100000 Mark Kartoffeln und viele Zentner Fleisch. Ihre Gedanken beschäftigen sich mit dem Bett und den Bett- federn, und sie denkt wieder ans Heiraten oder sie will doch wenig- stens die andere Frau wegschicken, die der Ehemann vielleicht jetzt hat. Es liegt nahe, diese wirklichkeitsgebundenen Wahnideen nicht mit dem schizophrenen Prozeß, sondern mit senilen Veränderungen in Zusammenhang zu bringen. Auch die mnestischen Leistungen sprechen für leichte organische Krankheitsvorgänge. Vor 2 Jahren hatte die Pat., die, wie die große Mehrzahl der zuletzt genannten Kran- ken, eine Pyknika ist, einen offenbar sehr leichten Insult, bei dem sie zusammensank, aber nicht gelähmt war.

Bei dem letzten Kranken endlich handelt es sich um einen jetzt 70jährigen Koch, der niemals viel geleistet hatte, aber sexuell sehr aktiv gewesen war (er hatte 7 uneheliche Kinder gezeugt), als er mit 30 Jahren sichtlich erkrankte. Seitdem arbeitete er überhaupt nicht mehr und entwickelte unklare Verfolgungsideen, über die man nie- mals Rechtes in Erfahrung bringen konnte. Erst 1900 kam er in die Anstalt und war äußerst abweisend. Alle krankhaften Ideen stellte er in Abrede. Er blieb dauernd zurückhaltend, abgesondert; lange Jahre hindurch stand er an dem gleichen Platz am Fenster, finster, ant- wortete dem Arzt überhaupt nicht. Späterhin arbeitete er ganz brauchbar, blieb aber völlig ablehnend. Erst 1914 begann er Zeitungs- berichte abzuschreiben. Noch 1919 war er zwar höflich, aber sprach

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zum Arzt immer noch nichts spontan, und auch bei Fragen hörte man nur unklare Angaben über mögliche Trugwahrnehmungen, so daß es schlechterdings unmöglich war, einen Einblick in seine krankhaften Ideen und Erscheinungen zu bekommen. Dagegen erzählte er den Pflegern gern von seinen früheren Reisen. Erst 1919 erfuhr man von zankenden Stimmen, und die letzten Jahre brachten bei dem nunmehr freundlichen und immer zugänglichen Mann eine ungeheure Fülle von krankhaften Phänomenen zutage, die offenbar schon seit vielen Jahr- zehnten bestehen, ohne daß der Kranke davon hatte etwas merken lassen. Heute spricht der Pat. in kurzen Abständen zu seinen Stim- men. Er wird „übersprochen durch die Gewaltwortlaute von den weltgewaltigen Herren, hat den Aufzwang, den Mützenzwang, Tisch- und Militärstörungen, kreuzende Hände. Die arbeitende Brille, Sprachmittel und Patentmedizin quälen ihn. Manchmal erreichen ihn Salmiakzettel. Nachts können die Köpfe verwechselt werden. Heute

ist er Buddha, morgen Brahma, übermorgen Konfuzius“. Sicht-

liche Merkstörungen bestehen dabei nicht. Der Kranke merkt sich sogar Namen, die er nur einmal gehört hat, über eine Reihe von Mo- naten. Nie bestanden anfallsartige Störungen. Der neurologische Be- fund ist anscheinend regelrecht, der Blutdruck 200 :130. Die Wand- lung besteht hier also in der zunehmenden Aufgeschlossenheit, die, bei einer Verbesserung der Stimmungslage, den Kranken die jahrzehnte- lang verschlossenen und wahrscheinlich in dieser Zeit fortgebildeten und zerfallenden verschrobenen Wahnbildungen und Trugwahrneh- mungen der Umgebung mitteilen läßt. Auch hier wird man nicht im- stande sein, den Zusammenhang der ziemlich unvermittelt bei dem 63 jährigen auftretenden Wandlung mit dem vermutlichen Alters- prozeß des Hirns mit Bestimmtheit zu behaupten. Im Hinblick auf alle sonstigen Erfahrungen liegt dieser Gedanke jedoch außerordentlich nahe.

Ein Rückblick auf das mitgeteilte Material zeigt uns Befunde, die annähernd den ausgedehnten Erfahrungen Bleulers entsprechen. Neben Kranken, an deren Erscheinungsbild das Greisenalter ohne jeden Einfluß vorbeizugehen scheint, sei es, daß der schizophrene Pro- zeB unerbittlich fortschreitet, sei es, daß das wesentlich früher erreichte stabile Bild in annähernd der gleichen Weise fortbesteht, finden sich auffallend wenige, deren schizophrene Krankheitszeichen völlig ver- drängt werden durch Symptome, die den Altersprozessen des Gehirns eigentümlich sind. In diesen Fällen erinnert schließlich nichts mehr an den Jahrzehnte dauernden schizophrenen Krankheitsprozeß. In

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Über den Einfluß des Greisenalters usw. 17

anderen Fällen sind es nur einzelne Züge, die, offenbar im Zusammen- hang mit dem Altern, eine Abänderung erfahren. So treten vereinzelt erst im Greisenalter die Wahnideen zurück, sei es, daß sie ganz ver- gessen werden, sei es, daß sie wenigstens keine entscheidende Rolle mehr spielen. Andere Kranke werden durch das Alter anscheinend aufgeschlossener, ruhiger, heiterer. Abgesehen von den wenig zahl- reichen Beobachtungen, in denen der Altersprozeß als solcher in aus- geprägten Erscheinungen unverkennbar zutage tritt, läßt sich sonst ein Zusammenhang der Wandlungen mit den senilen Vorgängen nur vermuten, nicht aber sichern. Gerade diese Beobachtungen zeigen die außerordentlichen Schwierigkeiten der Aufbaubetrachtung selbst bei einer so verhältnismäßig einfachen Fragestellung, wie der unseren. Auffallend groß ist die Zahl der Pykniker unter den günstig beein- flußten Kranken, aber überhaupt unter denjenigen, die das 7. Le- bensjahrzehnt überleben. |

Über die so verschiedenen Befunde werden wir uns nicht zu wun- dern brauchen. Schon die Schizophrenie zeigt ja ganz verschieden- artige Verläufe und Bildgestaltungen, so daß bei den durchschnitt- lichen schizophren verblödeten Anstaltsinsassen der früheren Lebens- jahre denkbar große Unterschiede in der Einzelprägung zutage treten. Auch unabhängig von den Altersvorgängen im engeren Sinne unter- liegen die Krankheitsbilder fortlaufenden, zum Teil sehr tiefgreifenden Wandlungen. Daneben aber ist zu bedenken, daß auch die Alters- vorgänge im Gehirn, selbst die einfachen atrophischen Prozesse, schon bei Gesunden ganz verschiedenartige Wirkungen entfalten. Gleich- bleibend ist allenthalben wohl nur die zunehmende geistige Einengung und Verminderung der Elastizität und das Nachlassen der mnestischen Funktionen. Aber auch diese Alterserscheinungen werden zu ganz ver- schiedenen Zeitpunkten erstmalig bemerkbar und schreiten im ver- schiedensten Tempo fort. Die Wirkungen auf die betrefiende Persön- lichkeiten vollends lassen sich kaum miteinander vergleichen. Macht das Greisenalter die einen moros und verdrossen, mißtrauisch und verstimmt, so gewinnen andere erst am Abend des Lebens eine sonnige Weltanschauung und beginnen ihr Dasein zu genießen. Werden die einen lahm, stumpf und energielos, so macht das Alter andere er- neut aufnahmefähig, beweglich und lebhaft. Der Weisheit der einen steht bei anderen ein verbohrter Eigensinn gegenüber. Finden wir also schon in der Breite der Norm die denkbar größten Unterschiede, so wird es uns nicht in Erstaunen versetzen, daß auch bei Schizophre- nen einheitliche Verhältnisse nicht anzutreffen sind.

Zeitschrift für Psychiatrie. LXXXIX. 2

18 | Jaser,

Die Verschiedenartigkeit der Befunde macht es unmöglich Ge- setzmäßigkeiten abzuleiten über die Wege, auf denen etwaige Wand- lungen zustande kommen. Über Vermutungen, die allenthalben auf der Hand liegen, können wir nicht hinauskommen. So kann es uns nur daran liegen die Beobachtungen festzuhalten. Daß selbst in ein- facheren Dingen unsere Schlußfolgerungen unsicher bleiben müssen, das wird uns zum Gewinn insofern, als es nach anderer Richtung hin unseren Blick schärft. Bei einer so einfachen Fragestellung, wie der unseren, führt uns die Beobachtung an eine Fülle von Gestalten heran, von denen keine der anderen ganz gleicht. Wir werden daraus die Lehre zu ziehen haben, daß wir bei Aufbaubetrachtungen nicht unsere Erwartungen, sondern nur eingehendste Untersuchungen sprechen lassen dürfen. |

Schlußsätze.

Es wurden von uns alle zurzeit in der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing untergebrachten Schizophrenen (15), welche das 70. Lebensjahr überschritten haben, untersucht. Ein 60 jähriger wurde aus sachlichen Gründen in die Untersuchung einbezogen.

Bei der Hälfte der Kranken hat das Greisenalter offenbar keinerlei Wandlung in Verlauf und Zustandsbild herbeigeführt, sei es, daß der schizophrene Zerfall in der gleichen Weise wie bisher unerbittlich fort- schreitet, seies, daß der nach dem Abklingen der stürmischsten Krank- heitserscheinungen in früherer Zeit erreichte relativ stabile Zustand schizophrener Verblödung unverändert fortbesteht.

Bei einer kleinen Gruppe von drei Kranken verdrängten senile bzw. arteriosklerotische Krankheitserscheinungen die schizophrenen Symptome so völlig, daß nichts mehr an das Vorliegen einer Schizo- phrenie erinnert.

Bei einigen anderen Kranken traten die Wahnideen und Trug- wahrnehmungen erst im Alter so weit zurück, daß sie keine wesent- liche Rolle mehr spielten und die Wirklichkeit für die Betroffenen an Bedeutung gewann.

Endlich wurden einzelne Kranke erst im Greisenalter heiterer, weniger erregt, bzw. so weit zugänglich, daß sie nun erst von ihren offenbar seit langen Zeiten bestehenden reichlichen schizophrenen Inhalten erzählten.

Der Zusammenhang der zuletzt genannten Veränderungen mit dem Greisenalter ist jedoch nur zu vermuten, nicht aber zu sichern. Über die besondere Art des Zusammenhanges läßt sich überhaupt

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Über den Einfluß des Greisenalters usw. 19

nichts Bestimmtes ausmachen, wie denn die Untersuchungen ganz allgemein in aller Eindringhchkeit die Schwierigkeiten der Aufbau- betrachtung dartun.

Literatur.

Birnbaum, Der Aufbau der Psychose. Berlin 1923.

Bleuler, Dementia paecox oder Gruppe der Schizophrenien. 1911.

—, Die senilen Psychosen. Corr.-Blatt für Schweizer Arzte 1915, Nr. 1.

Bumke, Uber die Umgrenzung des manisch-depressiven Irreseins. Zen- tralbl. f. Nervenheilk. u. Psychiatr. 32/1909, 381.

Hoche, Die Melancholiefrage. Zentralbl. f. Nervenheilk. u. Psychiatr. 33/1910, 193.

Kretschmer, Körperbau und Charakter. Berlin 1921.

Lange, Katatonische Erscheinungen im Rahmen manischer Erkrankungen. Berlin 1922. |

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Die Wurzeln der modernen Populir-physiognomik in der älteren medizinischen Psychologie und Konstitutionslehre.

Von Erik v. Rutkowski, Marburg-Lahn.

Disposition. Einleitung. I. a) Kurzes Lebensbild des Populär-Physiognomikers Carl Huter.

b) Seine Lehre. |

II. Kurzes Lebensbild anderer Forscher und Wiedergabe ihrer Lehren. a) Lavater. ` b) Gall. c) Die älteren Franzosen. d) Neuere Konstitutionsforscher.

III. Vergleich der Huterschen Lehren mit denen der obengenannten Forscher.

Schlußfolgerung.

Wollen wir den heutigen Zeitgeist in der ärztlichen Wissenschaft charakterisieren, so müssen wir zugeben, daß neben der Blüte höchster Technik und wissenschaftlicher Forschungen, neuen Entdeckungen, und Ergebnissen auf der einen Seite, die Stimmen gewisser Gegner der „Schulmedizin“ auf der anderen Seite mehr als je zu Worte kommen und gehört werden; in einem Maße, daß von berufenster Seite das Wort von der ,,Krisis des gesamten Arzttums‘‘ in wirtschaftlicher, sozialer und erkenntnistheoretischer Hinsicht gesprochen worden ist. In weiten Laienkreisen und nicht nur in diesen allein spielen Naturheilkunde und Biochemie eine Rolle; verwirren Augendiagnostiker und Okkultisten die Gemüter. Das Publikum wird mit zahlreichen Broschüren und Heftchen jeglichen Umfanges überschüttet, wo jeder Autor seine Lehre als die eigenste, originellste, nie dagewesene und allein wahre und wertvolle bezeichnet. Es dürfte von Interesse sein, hier einen Blick auf das Gebiet der Populär-Physiognomik zu werfen und erstens die Frage aufzuwerfen, „was bringt die Populär-Physio-

Die Wurzeln der modernen Populär-physiognomik usw. 21

' gnomik ?““, zweitens eine Untersuchung darüber anzustellen, inwieweit die Verfasser der populär-physiognomischen Werke selbständige und eigene Forschung bringen oder die Lehren vergangener Jahrhunderte als Ergebnisse früherer Forscher bzw. Physiognomiker und Psycho- logen eine Wiedererstehung erleben lassen.

Als einer der Hauptvertreter der heutigen Volksphysiognomik kann neben Burger und Peters Carl Huter angesehen werden. An Hand seiner Lehre und seiner Schriften wollen wir die oben gestellten Fragen zu beantworten suchen. =

I

Carl Huier ist am 9. Oktober 1861 in Heinde bei Hildesheim geboren. Von Beruf Porträtmaler, gab er mit der Zeit mehr als 30 Werke über seine Lehre heraus, darunter eine Zeitschrift „Hochwart‘“, die „alle wichtigen Fragen der Zeit im Licht seiner Psychophysiognomik behandelte‘. Auch begründete er einen Weltbund zur Selbsterziehung. Außerdem verbreitete er seine Lehre viele Jahre lang auf Vortrags- reisen und durch Volkskurse. Huier starb am 4. Dezember 1912 in Dresden. Einer seiner Schüler, Amandus Kupfer, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Lehren Carl Huters zu verbreiten, bezeichnet ihn als „den Begründer der Psycho-physiognomik und der neupsycho- logischen Schule‘.

Huters Lehre.

Davon ausgehend, daß der Mensch, wie auch die übrigen lebenden Wesen, sich aus dem Ei und drei Keimblättern entwickelt, unter- scheidet Huter drei primäre Naturelle. Je nachdem, ob das innere, mittlere oder äußere Keimblatt bei der Entwicklung von der Natur besonders begünstigt oder betont ist, entstehe ein besonderer Typus: das Ernährungsnaturell, das Bewegungsnaturell und das Empfindungsnaturell. Das vorherrschende System gebe den Grundcharakter des Denkens, Fühlens, Handelns und der Form bei Menschen, Tieren und Pflanzen an.

Bei dem in der Hauptsache aus dem inneren Keimblatte sich entwickelnden Wesen steht nach Huter das Ernährungsleben im Vordergrund. Daher nennt Huter diesen Typus das Ernährungs- oder Ruhenaturell. Die Vertreter dieses Typus zeichnen sich beim Menschengeschlecht durch folgende Eigenschaften aus: rundes, breites, volles Gesicht, massige Wangen, volle Lippen, fleischige Nase, kurzer Schädel, niedere bis mittelhohe Stirn, kurzer dicker Hals, ebensolche

22 v. Rutkowski,

Hände, Beine und Füße, ein starker Unterleib und ein gedrungener, voller, mittelgroßer Körper; es sind Rumpf- und Bauchmenschen.

Auch auf die Tiere und Pflanzen wird das Naturell ausgedehnt; erstere zeigen möglichst wenig Bewegung und Gliederung, die Pflanzen haben niedrige Formen, sind breitblätterig und wachsen in der Haupt- sache in Sumpf, Schlamm, Wasser und Nebel.

Geistig und charakterlich lehnen sich die Vertreter dieses Typus in ihren Eigenschaften direkt an die körperliche Form an. Die Menschen haben kein höheres Interesse, das Ernährungsleben steht im Vorder- grund, daneben ist der Sinn für Wirtschafts- und Sexualleben ent- wickelt. Lebensannehmlichkeit, Ruhe, Erhaltung des Seienden und Widerstand gegen Veränderung ist ihm eigentiimlich. Schon bei Kindern läßt sich die Entwicklung zu diesem Naturell nachweisen: sie sind indifferent, naturfaul und träge; daher brauchen sie kräftige Anregung.

Ist das mittlere Keimblatt bei der Entwicklung des Indi- viduums ausschlaggebend gewesen, so entsteht das Bewegungs- naturell (auch „langer, hartförmiger Tat- und Bewegungsform- typus“) mit nachstehenden körperlichen Merkmalen. „Es sind Menschen mit langem, knöchernem Gesicht, harten, langen Wangen, mit großer Nase, vortretendem Kinn und starkem Unterkiefer; mit langen, muskulösen Armen, Beinen und Händen, Füßen, Fingern; der Schädel meist niedrig und lang mit mäßig hoher Stirn.“

Die Tiere dieses Typus haben einen größeren Bewegungstrieb. Wie die Pflanzen des Ernährungstypus in Schlamm, Sumpf und Nebel wachsen, so ist hier wechselnd Nebel und reine Luft und nur zu geringerem Teil Wasser und Schlamm, das die Umgebung und den Boden zum Wachstum bildet (vgl. Abb. Huter S. 25).

In geistiger Beziehung ist der Name ‚„Bewegungsnaturell‘“ in- sofern bezeichnend, als alle Tätigkeit und Energie sich auf dieses zu verkörpern und zu konzentrieren sucht. Die Bewegungsnaturelle sind Tatmenschen, die große Pläne, Ideen usw. durchführen, aktiv vorgehen, sich und ihrer Sache Geltung verschaffen. Siehaben Neigung zum Herrschen, mindestens aber zur Unabhängigkeit. Kulturvölker mit vielen Bewegungstypen haben außerordentliche politische, kriege- rische und individuelle Tätigkeit entwickelt. Assyrer, Römer, Spanier, Engländer mit vorherrschendem Tatnaturell erreichten die Welt- herrschaft und hielten sie Jahrhunderte fest. In bezug auf die Kinder- erziehung gibt Huter hier folgende Lehre: „Hier ist jede Nachgiebig- keit des Lehrers ein Fehler, wenigstens überall da, wo es sich um

Die Wurzeln der modernen Popular-physiognomik usw. 23

ernstere Fragen handelt. Denn auf diese Menschen wirkt nur Härte und Strenge. Jede Weichheit und Liebesseligkeit verachten diese Naturen.*‘

Das dritte primäre Naturell ist das sogenannte Empfindungs- naturell. Es entwickelt sich unter starker Betonung des äußeren Keimblattes, aus der auch die Haut und das Nervensystem ent- stehen. Diese Individuen weisen ein feines Gesicht auf mit schönen leuchtenden Augen, feingeschnittenen Zügen. Die Stirnmassen über- wiegen gegenüber den materiellen Gesichtsmassen unterhalb der Augen; Kinn und Nase sind fein geschnitten, weder so stark hervor- tretend, wie beim Bewegungs- noch so fleischig und wulstig, wie beim Ernährungsnaturell; Hals und Rumpf sind zart und schlank gebaut; desgleichen sämtliche Glieder. Auch die Tiere dieses Typus haben ein feineres Gefühlsleben, sowie graziöse, gewandte und edle Be- wegungen.

Die Pflanzen des Empfindungsnaturells wachsen in der reinen Luft, wurzeln auf trockenem Fels oder Gesteinsboden und stehen zum geringsten Teil in Wasser oder Schlamm; die Gliederung ist auch bei ihnen eine äußerst zarte.

Was die geistigen Eigenschaften dieses Naturells anbelangt, so charakterisiert sie Huter folgendermaßen. Die Empfindungsnaturelle sind Empfindungs- und Ideenmenschen. Sie sind die großen schöpferi- schen Persönlichkeiten im geistigen Leben. Da sie jedoch wenig Tatkraft zur praktischen Durchsetzung ihrer Ideen haben, verfallen sie leicht in Abhängigkeit und in tragische Stimmung, in Tatenunlust und Selbstaufopferung. Aus ihnen entstehen oft Märtyrer, ja zuweilen Verbrecher, die sich für ihre Ideale, die immer im Seelischen und Geistigen liegen, aufopfern können. Als ganze Völker sind sie bahn- brechend in der Schaffung verfeinerter und höherer Kulturhüter, wie Religion, Poesie, Kunst, Psychologie und verfeinerte Lebensart.

Weiter sagt Huter: „Auf Grund dieser drei Grundtypen und ihrer vorherrschenden Lebenskraftentfaltung entwickelte sich auch schon sehr früh mein eigenes Originalsystem psychologischer und biologischer Formbeobachtung und Beurteilung...‘ „Ich fand aber auch nirgends dieses Dreitypensystem der Grund- formen auch nur andeutungsweise vor.“

Außer diesen drei primären Grundnaturellen unterscheidet H uter auch noch zwei Polare, das harmonische und disharmonische Naturell.

2. Das harmonische Naturell hat außerordentlich schöne Körper- und Gesichtsformen, von großer Proportion, Symmetrie

24 : v. Rutkowski,

und edler Fülle. Sie strahlen ein harmonisch-geistiges Zusammen- leben aus. Als Beispiele werden angeführt: Wilhelm-L, Königin Luise, Goethe und Leibnitz. Aus dem disharmonischen Naturell ent- wickeln sich die gemeinen Naturen und Verbrechermenschen. Es sind ein, zwei und drei Systeme nicht harmonisch miteinander ver- bunden. Rein körperlich gibt es disharmonische Gesichts-, Kopf- und Körperformen; geistig zeichnen sie sich durch Härte, Opposition, Zersplitterung, üble Kritik und Zerfahrenheit aus.

3. Die sekundären Naturelle: stets zwei Systeme gleich stark betont, das dritte tritt zurück. Z. B.: Schulter liegt im sekundären Empfindungs-Bewegungsnaturell; Ernährungsnaturell vernachlässigt er. 4. Die tertiären Naturelle: Dazu gehören die Mehrzahl der Durchschnittsmenschen; charakteristisch für sie ist die „geringere Differenziertheit in dem inneren System‘.

5. Die neutralen Naturelle: Sie sind noch indifferenter als die tertiären Naturelle. Sie kommen in großen Massen vor, bei sehr unentwickelten niederen Rassen und bei zerfallenden Völkern. Es sind unfruchtbare, charakterlose Menschen, der Massensuggestion unterliegend.

6. Das geniale Naturell: Es sind intuitivempfindende, feine, hellfühlende Menschen, die Neues und Wahres schaffen.

7. Das sensible Naturell: Mystische und hell- und feinfühlende Menschen; als Beispiel: Seherin von Prevorst.

8. Das ideale Naturell: Es ist „vergöttlichte, menschliche Natur, mit allen, großen, guten, schönen Eigenschaften ausgestattet‘. Beispiele: Buddha, Johannes, Daniel, Jesus, Heilige Elisabeth.

9. Das Verbrechernaturell: Es ist häßlich an Körper und Seele, unwiderstehlicher Drang zum Bösen,

10. Das unentwickelte Naturell: Zeichen von Rassentiefstand.

11. Das degenerierte Naturell: Bei ihm sind die guten und schlechten Anlagen nebeneinander vorhanden.

12. Das gemeine Naturell: Steht zwischen Verbrecher- und degeneriertem Naturell. Ist unverschämt und roh.

13. Das raffiniert intrigante (Mephisto-) Naturell: Ver- einigt seltene geistige Überlegenheit mit gesuchtem Raffinement zum Bösen.

14. Das unbewußt böse Emanations-Naturell.

15. Das diktatorische Naturell: Es ist das „geboren hypno- tische‘ ; geborene Herrschernaturen.

16. Das magische Glücksnaturell.

na

Die Wurzeln der modernen Populär-physiognomik usw. 95

17. Das magische Unglücksnaturell.

18. Das okkulte gute diktatorische Naturell: prophetische Natur; religiöses Genie.

19. Das okkulte diktatorisch böse Naturell: „schwarze Magia‘‘. Huter sagt von diesem Naturell: „Ich erkläre die Anlage aus der angeborenen Einwirkungskraft solcher Naturen auf den Welt- äther, auf ätherische Wesen und bis zu einem gewissen Grade auf die Schicksalskonstellation.‘“

20. Das heilige Naturell: Es sind Menschen von hohem Ge- wissensadel; ethische Genies.

21. Das disharmonisch-männlich-entartete Geschlechts- naturell (Homosexuell).

22. Dasweibliche disharmonisch-entartete Geschlechts- naturell.

23. Das seelisch-indifferente Gcachlechtanaturell

24. Das psychisch-organische indifferente Geschlechts-

= naturell (,,totaler Zwitter‘‘).

25. Das männlich betonte Geschlechtsnaturell (,,ge- schlechtliches Kraftnaturell‘‘; „Don Juan-Natur‘‘).

26. Das weiblich betonte Geschlechtsnaturell (,,das hetärische Venusnaturell‘‘).

27. Das Riesennaturell: Es wird rein körperlich definiert, wie auch die folgenden.

28. Das Zwergnaturell.

29. Das athletische Naturell. Zwischen Ernährungs- und Bewegungsnaturell stehend.

30. Das elastische artistische Naturell.

31. Das fette Naturell.

32. Das magere Naturell.

AuBer den Naturellen unterscheidet Huter noch Ton-Charakter- Typen. Huter führt an, daß die ganze Natur eines Menschen unter einem Leitstoff stehen kann: Eisen, Wasserstoff, Phosphor, Silizium usw. Demnach unterscheidet er ein ,,Natrongesicht, ein Wasser- gesicht, das eiserne Gesicht“ usw. Hierher werden auch bestimmte pathologische Diathesen, wie Rachitis, Gicht, Rheuma, Bleichsucht, Skrophulose, Tbe., Ca. usw. gerechnet. Die Disposition ist am Habitus erkennbar.

Doch ist damit Huters Lehre nicht erschöpft. Er erwähnt in seinen Werken Gall, Scheve, Carus, Blumenbach, Virchow, Lavater und setzt sich zum Teil in bewußten Gegensatz zu ihnen. Besonders

26 v. Rutkowski,

verurteilt er Gall und gibt an, eine neue verbesserte Schädellehre gefunden und aufgestellt zu haben. Galls Fehler sollen folgende sein: 1. daß Gall geglaubt habe, daß in der rechten Schädelhälfte die gleichen Charaktereigenschaften zum Ausdruck kämen, wie in der linken; 2. Gall hätte die Charakterbeurteilung nur aus dem Gehirn und aus dem von ihm geformten Schädel ersehen; das sei sehr einseitig; 3. Gall hätte die Geistesgaben nur nach der Quantität, nicht der Qualität des Gehirns bemessen usw. (vgl. Huter, Ill. Handb. d. prakt. Menschen- kenntnis, S. 88).

Im übrigen will Huter Gall als „bedeutenden Bahnbrecher einer naturwissenschaftlichen anschaulichen psychologischen Tatsachen- forschung‘‘ gelten lassen.

Seine eigene Phrenologie charakterisiert Huter im Gegensatz zu Gall folgendermaßen: „Ich komme hierbei nicht zu den ganz gleichen Resultaten wie Dr. Gall und entwickle aus der Achsenlehre der Kraft- richtungsordnung sowie aus der Physiologie des Gehirns die Psycho- logie desselben.‘ Das neue Hutersche System habe das alte Gallsche längst verdrängt. Auch die heutige gesamte materialistische Medizin nehme an, das Gehirn sei das Geistige selbst; das sei ein Irrtum.

Weiter unten bringen wir nebeneinandergestellt Abbildungen, die einen Überblick über die ‚‚Unterschiede‘‘ der Gallschen und Huter- schen Phrenologie und der rechten und linken Schädelhälfte des Huterschen Schädels deutlicher vor Augen führen sollen als es hier in Worten gesagt werden kann.

Des weiteren spricht Huter von der Temperamentlehre und sagt u. a.: „Lavater hat das Temperament in festen Gesichtsformen zum Ausdruck gebracht; ich habe es mehr in der Körperbewegung charakte- risiert.‘‘

Sehr eingehend beschäftigt sich Huter mit der Formenlehre der Gliedmaßen, des Gesichtes und des Kopfes, aus ihnen Schlüsse auf den Charakter des Trägers ziehend. In wirrem Durcheinander ist von Geschlecht, Impuls, Temperament und Naturell, weiter vom Nervensystem, Muskel- und Knochensystem die Rede. Es folgen Abschnitte über die Stirnregionen der Phrenologie, die Anordnung der Geistesorgane unter dem Schädeldach von oben gesehen; über Graphologie, Deutungen über einzelne Körperformen; wir finden Studien zur „Ätherlehre‘‘, „Entwicklungslehre von Kraft, Stoff und Form in der anorganischen Welt“, vom ersten ätherischen Mutter- stoff der „Medioma‘ bis zum ,,od-strahlenden Kristall‘; über Ent- stehung unseres Sonnensystems aus dem Weltnebel, Lebensstrahlen

Die Wurzeln der modernen Populär-physiognomik usw. 27

„Helioda‘“‘, ein neues Herz- und Kreislaufschema, die Entstehung des Lebens, der Nervenkraft, des Empfindens, der Gehirnorgane und des menschlichen Geisteslebens u. a. m.; schließlich ein Kapitel über Liebe, glückliche Ehe und Familie.

Es würde zu weit führen, noch andere Einzelheiten der Lehre Huters zu schildern. Wir verweisen schon hier auf den dritten Ab- schnitt unserer Schrift, der einen eingehenderen Vergleich der Unter- schiede und Ähnlichkeiten der Huterschen Lehre und der anderer Männer früherer Zeiten bringen soll.

Il.

Bevor wir jedoch diesen Vergleich anstellen, wollen wir uns einen kurzen Überblick über das Leben, die Lehrmethoden und den Inhalt der Lehren jener Männer verschaffen, die für uns in Betracht kommen.

Chronologisch an erster Stelle ist vor allem Lavater zu nennen.

Johann Kaspar Lavater wurde am 15. November 1741 als Sohn eines Züricher Arztes geboren. Von Kindheit an zeichnete er sich durch seine religiös-mystische Veranlagung aus und wurde daher von den Seinigen für den Beruf des Geistlichen bestimmt. Doch hat er sich neben diesem Amt vielseitig beschäftigt und eine Reihe von Werken veröffentlicht, die zum Teil religiösen Inhaltes waren, zum anderen Teil naturwissenschaftlich genannt wurden. Als solche sah er seine „physiognomischen Fragmente‘ an, die uns hier vor allem interessieren, und auf die wir gleich zurückkommen. Lavater ist in Deutschland durch seinen großen Bekannten- und Gönnerkreis viel umhergekommen und war schließlich in seiner Heimatstadt Zürich tätig. Er starb am 2. Januar 1801 an einer während der kriegerischen Unruhen in Zürich erlittenen Verwundung.

Lavaters Hauptwerk, durch das er zur bekanntesten Persön- lichkeit seines Zeitalters wurde, hieß mit vollem Namen: ,,Physio- gnomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und der Menschenliebe‘“‘. Dieses von Lavater „Versuche“ genannte Werk erschien im Laufe der Jahre 1775—1778, wozu Lavater von Zimmer- mann, dem damaligen Leibarzt am Hannoverschen Hof aufgefordert worden war. Schon der Titel der Schrift verrät uns, daß es sich keines- wegs um ein rein naturwissenschaftliches Werk handelt, dessen Zweck und Aufgabe es sein soll, „Dich und Deinen Nebenmenschen und den Schöpfer von beiden besser zu kennen‘.

Wir können die „physiognomischen Fragmente‘ nur aus der Zeit heraus verstehen, in der sie entstanden sind. Unter Physiognomik

28 | v. Rutkowski,

verstand Lavater „alle unmittelbaren Äußerungen des Menschen‘*, „alle Züge, Umrisse, alle passiven und aktiven Bewegungen, alle Lagen und Stellungen des menschlichen Körpers“; sowie „die Fähig- keit durch das Äußere eines Menschen sein Inneres zu erkennen“. (Bd. I Fragment 2).

Lavater sieht seine Lehre als Wissenschaft an, mit der er es sehr ernst nimmt. Damit jedoch verknüpft er moralische Absichten und Tendenzen. Er spricht von der „Harmonie moralischer und körper- licher Schönheit‘‘ (Bd. I S.57). ,,Moralisch schöne Zustände haben schönen Ausdruck, moralisch häßliche Seelenzustände haben häß- lichen Ausdruck‘ (Bd. I Fragment 9). Überall aus jeder Äußerung, aus jedem Abschnitt blickt uns der Theologe und Moralist an. Seine schrankenlose Phantasie verleitet ihn dazu, daß seine an und für sich scharfe Beobachtungsgabe in den bunten Strudel poetischer Stim- mungen und romantischen Übermaßes der Sturm- und Drangzeit hineingezogen wird. Demnach finden wir in seinen Fragmenten neben einer großen Anzahl sehr schöner Kupferstiche und Abbildungen menschlicher Köpfe und Gestalten aller Zeiten vor allem einer großen Anzahl seiner Zeitgenossen, solche von Tieren, Pferden, Hunden, Kamelen; Schattenrisse, zwischendurch langatmige und langstielige Abhandlungen philosophisch-religiösen Inhaltes; zahlreiche Bibel- stellen im Auszug verstreut. Seine empfindsame und enthusiastische Betrachtungsweise läßt ihn überschwänglich ausrufen: ,,Je moralisch besser desto schöner; je moralisch schlimmer desto häßlicher.“ Tugend und Schönheit, Laster und Häßlichkeit sind ihm korre- spondierende Werte; in den äußeren Formen liegt für ihn eine tiefe Symbolik; aus dem äußeren Körperbild schließt er auf das Seelen- leben und den Charakter seiner Träger, fühlt sich intuitiv in die Eigen- schäften der Menschen ein und kommt dazu, was Robert Gaupp als „apriorische Wesenschau’’ bezeichnet.

Frane Joseph Gall wurde am 9. März 1758 zu Tiefenborn in Baden geboren. Mit 19 Jahren ging er nach Straßburg, um Medizin zu studieren und erwarb im Jahre 1785 in Wien den Doktorgrad, wonach er praktischer Arzt wurde. Nebenbei beschäftigte er sich mit anatomischen Untersuchungen und mit den Grundlagen und dem Ausbau seiner Schädellehre. Er legte sich eine Sammlung von Schädeln nebst Gipsabgüssen und Wachsabdrücken an. Seine hieraus gewonnenen Lehren verbreitete er durch Privatvorlesungen, in denen er das Interesse des Publikums und seine Neugierde in starkem Maße an sich zog, da er dieselben in populärster Form vortrug und auch den

Die Wurzeln der modernen Populär-physiognomik usw. 29.

Laien zugänglich machte. Diese Vorlesungen jedoch wurden durch ein Handschreiben des Kaisers vom 14. Dezember 1801 als religions- feindlich verboten und später nur in beschränktem Maße gestattet. Infolgedessen begab sich Gall auf Reisen und hielt an zahlreichen Orten seine Vorträge. Er wurde jedoch bald heftig angegriffen, fuhr nach England, wo er Anhänger hatte und starb dann, nachdem sein Ruhmesstern gesunken und er, ein früher gefeierter Mann, nun als Charlatan verspottet und verlacht worden war, aber immer im Glauben an die Richtigkeit seiner Lehre, am 22. August 1828 auf seinem Land- sitz bei Paris.

Das System Franz Joseph Galls darf in seinen wesentlichen Zügen als bekannt vorausgesetzt werden. Die Resultate seiner anatomi- schen Untersuchungen des Nervensystems hat er in seiner ,,Phreno- logie‘ niedergelegt (Franz Joseph Gall et A. G. Spurzheim: „Anatomie et Physiologie du système nerveux en géneral et du cerveau en parti- culier‘‘, Paris 1810—1819). Namentlich war es das Gehirn, das ihn beschäftigte; er suchte den Faserverlauf der weißen Nervensubstanz vom Rückenmark ins Gehirn zu verfolgen und die Punkte zu be- zeichnen, wo jeder Nerv im Gehirn verläuft. Außerdem aber glaubte. er einen genauen Zusammenhang zwischen den einzelnen Geistes- tätigkeiten und ihrem Sitz und bestimmten Teilen des Gehirns mit der äußeren Schädelform feststellen zu können. Er wandte daher seine besondere Aufmerksamkeit auf die äußere Gestaltung des Schädels. Angefangen hatte Gall mit der Beobachtung, daß Menschen mit hervortretenden Augen besonders redselig seien; solche mit tief- liegenden schloß er daraus, würden verschlossen sein. Diese Beob- achtung suchte er durch Studien an Schädeln und Gehirnen besonders veranlagter Menschen wie Geisteskranker, Verbrecher, Genies und Originale zu bekräftigen. Auf Grund fortgesetzter Beobachtungen lehrte nun Gall, daß, wenn eine geistige Eigenschaft besonders ent- wickelt sei, dieses sich durch eine besondere Vorwölbung an ganz ‚bestimmter umschriebener Stelle der Schädeldecke des Menschen kundgäbe. Gall baute sein System schließlich soweit aus, daß er jeder einzelnen Fähigkeit oder Eigenschaft der menschlichen Psyche einen besonderen und bestimmten, bei jedem Menschen wieder- kehrenden Sitz am Schädel gab. Auf diese Weise wurden Geschlecht- lichkeit, Jungenliebe, Humanität, Gottesglaube, Denkkraft, Dichter- sinn usw. auf der Schädeldecke verteilt. Gall ging dabei so vor, daß er ähnlichen Wortbegriffen aneinander oder naheliegende Stellen des Schädels zusprach. So ließ er sich auf eingehende Charakter-

30 | v. Rutkowski,

deutungen ein, die beim Publikum fast den Eindruck der Wahrsagerei auslösten.

Wir bringen weiter unten eine Abbildung solch eines gefelderten Schädels nach Gall.

Die Konstitutionsforschung hat, wenn auch jetzt wieder stark in den Vordergrund des Interesses gerückt, schon im 18. und 19. Jahr- hundert zur Aufstellung gewisser Typen geführt.

Wir wissen, daß den deutschen Ärzten um die Mitte des vorigen Jahrhunderts Konstitutionsformen geläufig waren.

So unterschied Wunderlich (lebte um 1850) zitiert nach I. Bauer „eine starke, eine reizbare und eine schlaffe Konstitution und subsomierte unter die reizbare die zerebrale, spinale, katarrhalische, biliöse, plethorische, schwächlich-anämische, unter die schlaffe aber die venöse, lymphatische, fette, einfach asthenische und kretinartige Konstitution“.

Wuchsformen hat zuerst Beneke (geboren 27. März 1824 in Celle, gestorben 16. Dezember 1882) als besondere Typen beschrieben. Er ging dabei vom Pathologischen aus und war auf Grund jahrelanger Betrachtungen dazu gekommen, anzunehmen, daß gewisse Körper- formen und -typen von bestimmten Erkrankungen öfters als andere befallen würden. So unterschied er drei Konstitutionsanomalien: 1. die karzinomatöse, 2. die skrophulös-phtisische und 3. rachitische. Wir lesen darüber, zitiert nach Franz Weidenreich „Rasse und Körperbau‘, folgendes:

„Die karzinomatöse Konstitution ist nach ihm (Beneke) durch folgende Eigentümlichkeiten des Körperbaus charakterisiert: das Knochensystem ist kräftig, die Muskulatur gut entwickelt, das Fettgewebe oft sehr reichlich, das Herz ist relativ groß, das Gefäß- system weit, die Lungen sind relativ klein, der Darmkanal relativ lang oder geräumig.

Die skrophulös-phtisische Konstitutionsanomalie zeigt folgende Eigenarten: das Muskel- und Knochensystem ist schwach entwickelt, selten finden sich fette Individuen, das Herz ist relativ klein und die Gefäße sind eng, die Lungen sind groß und der Darm- kanal relativ kurz.

Die rachitische Konstitution deckt sich im großen und ganzen mit der karzinomatösen, nur ist die Pulmonalis bei ersterer weit, bei letzterer eng.“

Die Wurzeln der modernen Populär-physiognomik usw. 81

Beneke legte also das Gewicht auf die Form und die Größen- - verhältnisse der Innenorgane zueinander bei Aufstellung seiner Konstitutionstypen.

Anders verfuhr Stiller, der bei seiner Typenlehre mehr nach der äußeren Erscheinung zu Werke ging. Er befaßte sich genauer mit dem bekannten Typus des sogenannten atonischen oder astheni- schen Habitus oder seines Gegenstückes des hypertonischen oder apoplektischen Habitus. Kurz charakterisiert nehmen sich die beiden Formen folgendermaßen aus.

Der Typus asthenicus: graziles Skelett, langer, schmaler, seichter, herabgesunkener Brustkorb, steil abfallende Rippen, breite Interkostalräume, spitzer epigastischer Winkel, dünne, schlaffe Mus- kulatur, dürftiges Fettpolster, blasse Hautfarbe. Charakteristisch für diesen Typus und dessen besondere Eigenart soll die bewegliche zehnte Rippe sein. Stiller sieht diesen Typus als unternormalen Organi- sationstypus an.

Der Typus apoplecticus: strotzende Fülle, kurzer, stramm emporgehobener breiter und tiefer Brustkorb, mit den in der Flanke fast wagerecht verlaufenden Rippen, enge Interkostalräume und weiter angulus epigastricus.

Diese Typen liegen auch den Konstitutionstypen Violas zu- grunde. Wir finden jedoch bei Viola zwei grundlegende neue Wege: 1. sieht er die Typen nicht wie die vorgenannten Forscher als Kon- stitutions-Anomalien an, sondern als Extreme einer um den Normal- typus schwankenden Entwicklungsreihe. Damit ist Viola von den pathologischen Formen zu den eigentlichen Konstitutionsformen heraufgerückt; 2. hat Viola statt der subjektiven Abschätzung anthro- pometrische Meßmethoden angewandt. So finden wir bei ihm schon eine Art Index. Ä |

Viola unterscheidet zwei Typen: 1. den Habitus megalo- splanchnicus oder Brachytypus und 2. den Habitus micro- splanchnicus oder Longitypus. Es kommt bei diesen beiden Typen auf das Verhältnis zwischen dem Rumpf und seinen Eingeweiden einerseits und den Gliedmaßen andererseits an; im ersten Fall über- wiegt das vegetative, im zweiten das Animalsystem, und zwar über- wiegt immer das eine auf Kosten des anderen. Viola selbst sieht den Makrosplanchnikus als entsprechend der Konstitutionsanomalie Benekes, den Mikrosplanchnicus als dem Habitus phtisicus Stillers an.

Als ein Vorläufer Violas hat der Franzose Manuovrier zu gelten in bezug auf die Anschauung, daß die oben geschilderten Formen

32 v. Rutkowski,

Extreme normaler Wuehsform sind. Manuovrier unterscheidet eben- falls zwei Typen innerhalb der französischen Bevölkerung: die makro- skelen Individuen haben ein langes Skelettsystem lange Glieder, die brachyskelen ein kurzes; demnach unterscheidet Manuovrier einen makroplastischen (langen) Rumpf und einen euryplastischen (kurzen) Rumpf.‘

Eine besondere Gruppe für sich bildet der Franzose Sigaud (1908) und seine Schüler Chaillon und Mac-Auliffe, auf die ich ausführlicher eingehen möchte.

M ac-Aulifje gibt in seiner Arbeit ,,Les origines de la morphologie humaine‘‘ eine tabellarische Übersicht über die Ableitung des franzö- sischen Konstitutionsbegriffs seit dem 18. Jahrhundert und einiger verwandter Begriffe ausländischer Autoren. Die Tabelle sei hier

beigefügt: Hallé (franc.) Type thoracique Type musculaire Type abdominal Type csphaliqu

1797

Cabanis (franc.) Type musculaire Type nerveux 1802

Thomas de Type thoracique Type abdominal Type crânien Troisveure |

(franc.) 1824

Rostan (frang,) Type respiratoire Type musculaire Type digestif Type cérébral 1826

Claude Sigaud Type respiratoire Type musculaire Type digestif Type cérébral (frang,) 1908

Es geht daraus hervor, daß die nachher näher zu besprechenden modernen französischen Konstitutionstypen von Sigaud auf festen älteren Traditionen beruhen, die mit Varianten seit dem 18. Jahr- hundert (Hallé) immer wiederkehren und die bereits bei Rostan im Jahre 1826 die heutige Nomenklatur (Type respirateure, Type muscu- laire, Type digestif und Type cérébral) annehmen. Die einzelnen Theorien der älteren französischen Autoren hat Mac-Auliffe klar dargestellt.

Die drei oben genannten Forscher gehen davon aus, daß der Mensch ein Produkt der Einwirkungen seines Milieus ist. Auf das Individuum wirken ein: Gas Luft, Flüssigkeit Wasser, fester Körper Erde; durch die Respirationsorgane, Nase und Lunge, tritt er zur Luft in Beziehung, durch den Mund und die Verdauungs- organe und deren resorbierende Oberfläche zum Wasser, durch den motorischen Apparat, seine Gliedmaßen und die Hautoberfläche zur Erde. Je nachdem nun das wachsende Individuum sei es durch

Die Wurzeln der modernen Populär-physiognomik usw. 33

seine Beschäftigung, seine Lebensweise oder seinen Aufenthalt mit einem der drei Medien mehr oder weniger eng in Berührung tritt man denke an die Bergbewohner (Luft), an die Bevölkerung der reichen und fruchtbaren Ebene oder der mehr „geistigen“ Stadt resultiert dank den Umweltsbedingungen und dem kosmischen Milieu oder dem Überwiegen eines besonderen Einflusses ein besonderer Typus, bei welchem einmal das Respirationssystem besonders entwickelt ist, ein anderes Mal das Digestivsystem, ein drittes Mal die Muskulatur oder der Kopf und das Nervensystem. So entstehen Sigauds vier Typen, die er, die Tradition seiner älteren Vorgänger übernehmend und sich auf sie berufend, aufstellt.

Ein besonderes Gewicht und das ist etwas durchaus Neues legt Sigaud auf die Formen des Gesichtes und des Schädels. Er teilt das Gesicht in drei Regionen ein, die jede für sich ‚im Kleinen‘‘ den entsprechenden Typus wiederspiegeln. Die obere Etage der Stirn von der Haargrenze bis zur Nasenwurzel repräsentiert den Typus cérébral; die zweite Etage von der Nasenwurzel bis zum Munde reichend und Nase und Wangen sowie Jochbögen einschließend repräsentiert den Typus respiratoire, die untere Gesichtspartie mit Mund, Kinn und Kiefern den Typus digestiv; mit deren hervor- stechender Entwicklung kombiniert sich ein Überwiegen des Kopfes, der Lungen, des Bauches oder, wenn es sich um ein ausgeprägtes Muskelrelief handelt, um eine überwiegende Entwicklung der ganzen Körpermuskulatur. In der ausführlichen Schilderung des so ge- wonnenen Type cérébral, respiratoire, digestif und musculaire zitiere ich Fr. Weidenrerch.

Der Type respiratoire.

„Die Nasen- und mit ihr die Wangenregion, also die mittlere Etage, beherrschen das Gesicht und den Gesichtsschnitt. Die Nase ist groß und besonders in die Länge entwickelt; die Jochbögen sind in die Breite entfaltet und springen stark vor. Da die Stirn und Kiefer schmäler sind, wird das Gesicht in seinem Umriß rautenförmig. Der Rücken der Nase ist selten gerade, sondern scharf konvex gekrümmt, die Nasenwurzel tief eingezogen. Von der Seite gesehen, springt die Nase scharf halbmond- oder giebelförmig vor Adlernase —, was durch eine Prognathie des Oberkiefers noch verstärkt wird. Die Stirn ist schmal und niedrig, die Augen stehen weit auseinander. Die untere Gesichtsetage ist verkürzt und oft von geringer Breite. Diesem Ge- sichtsschnitt entspricht die Gestaltung des Gesichtsskeletts. Die

Zeitschrift für Psychiatrie, LXXXIX. 3

34 v. Rutkowski,

Nasenöfinung ist groß, die Augenhöhlen sind weit auseinandergerückt. Die untere Stirngegend springt vor und die Nebenhöhlen der Nase sind sämtlich sehr weit.

Der Hals ist lang und schmächtig. Die Protuberantia laryngea springt stark vor. Der Rumpf ist trotz der allgemeinen Größe des Körpers klein. Das Muskelrelief ist außer dem der Atemmuskeln und des Serratus nicht entwickelt. Der Brustkorb nimmt den größten Teil des Rumpfes ein, ist lang und geräumig und von vorn nach hinten abgeplattet. In aufrechter Stellung reichen die falschen Rippen bis zum Darmbeinkamm. Das Sternum ist sehr lang und der Rippen- bogenwinkel oft sehr spitz. Die Schultern sind ein wenig gesenkt, die Schulterbreite ist groß. In der Höhe der Schulterblätter ist der Brustkorb weit. Im Gegensatz zu ihm ist der Bauch klein und durch den langen Thorax rautenförmig eingeengt.

Die Glieder sind im allgemeinen sehr lang, aber weder besonders abgerundet noch muskulös.

Der Type respiratoire kommt schon in sehr frühem Alter zur Entwicklung und zeigt sich hier besonders im Bau des Brustkorbs. Er wird das ganze Leben hindurch beibehalten. Manchmal setzt er im Alter etwas Fett an, sehr oft aber tritt auch Abmagerung ein. Unter den Rassen und Völkern der Erde ist er besonders bei den Nomaden (Arabern, Semiten, Kalmücken) und der Bergbevölkerung ausgebildet. Im Gebiete der französischen Alpen, der Pyrenäen und der Auvergue entfallen auf ihn 30%, der männlichen Bevölkerung. Unter den französischen Frauen haben 25%, diesen Typus.

Das Luftmilieu wirkt erregend. Daher werden die betreffenden Individuen durch intensive Gerüche, schlechte Gase und Parfüms belästigt. Die Mimik des Gesichtes spielt sich hauptsächlich im mittleren Gesicht ab.

Zum Type respirateure gehören Athleten, aber auch Denker, unter ihnen Cäsar, Descartes, Spinoza. Der Typus kommt in zwei Varietäten vor. Bei der einen ist das Mittelgesicht sehr breit, die Nase groß und gerade, die Wangen springen stark vor und das Gesicht ist im ganzen verlängert. Die Schädelform ist brachycephal. Bei der zweiten Varietät ist das Gesicht im ganzen schmal, die Nase konvex (Adlernase oder Vogelgesicht). Die Schädelform ist oft dolichocephal.‘“

Type digestif. | „Das Gesicht erhält durch die Ausbildung der unteren Etage und das relative Zurücktreten der oberen und mittleren sein charakte-

Die Wurzeln der modernen Populär-physiognomik usw. 35

ristisches Gepräge. Besonders springt die Gegend der Unterkiefer- winkel weit vor, aber auch die Jochbögen laden nach der Seite aus. Der größte transversale Gesichtsdurchmesser liegt dementsprechend im Bereich der Unterkieferwinkel, und nicht in der Wangengegend. Der Gesichtsschnitt wird dadurch pyramidenförmig mit nach unten orientierter Basis. Die Stirn ist klein und schmal. Die Haaransatz- linie verläuft oft bogenförmig. Die Augen sind klein und von fetten Lidern bedeckt. Die Nase ist von geringer Größe und wie überhaupt die ganze mittlere Gesichtsregion schwach ausgebildet und zusammen- gedrückt. Dagegen ist das Kiefergebiet außerordentlich entwickelt. Der Mund ist groß, die Lippen sind dick, die Zähne lang und regel- mäßig. Das Kinn ist hoch und breit und springt weit vor. Das Profil zeigt oft eine mandibulare Prognathie. Der Hals ist kurz und fett. Der Rumpf ist lang und zylinderförmig. Der Bauch ist der beherr- schende Teil, und läßt den Brustkorb zurücktreten. Dieser ist breit, aber sehr kurz. Die falschen Rippen bleiben weit von den Darmbein- kämmen entfernt. Der Rippenbogenwinkel ist mehr oder weniger stumpf und übersteigt immer 90°. Die Schultern sind leicht gesenkt. Die Schulterbreite ist sehr groß und erreicht Werte, wie bei keinem anderen Typus. Der Bauch ist besonders mächtig und nimmt mit dem Alter an Umfang zu, ebenso verhält sich die Fettentwicklung. Der Nabel liegt tief. Die Glieder sind kurz, fleischig, rund; voll und ohne Muskelrelief. Der Typus bildet sich sehr früh heraus und ist schon beim einjährigen Kinde nachweisbar. Unter den Rassen und Völkern findet er sich vor allem bei den Eskimo, ist aber auch sehr häufig bei den Holländern und Bayern. In Frankreich trifft man ihn besonders da, wo die Nahrung reichlich und wenig kostet, also in der Normandie, in Lothringen, Flandern und der Landschaft Beauce....“

Type musculaire.

„Der Kopf ist im ganzen symmetrisch und harmonisch geformt. ‘Der Schädel leicht abgerundet und bei den Franzosen sehr oft brachy-

cephal. Die drei Gesichtsetagen sind in Längen- und Breitenaus-

dehnungen gleich, so daß der Gesichtsschnitt rechteckig oder qua- dratisch wird. Die Stirn ist von mittlerer Höhe und steil gestellt oder etwas zuriickliegend. Der Ansatz der Haare ist rechtwinklig. Die Brauen sind niedrig und gerade. Die Nase ist von mittlerer Höhe, Breite und Prominenz, ebenso die Augenöffnung. Mund und Kinn sind von mittlerer Ausbildung. Am Schädel sind die Muskelansätze des Kiefergebietes deutlich, aber nicht besonders entwickelt. 5%

36 v. Rutkowski,

Der Hals ist besonders an seiner Basis und im Nackengebiet breit. Seine Höhe wechselt, bei manchen Individuen ist er lang, bei manchen kurz. Die Protuberantia laryngea springt nicht vor.

Der Rumpf hat die Form eines ziemlich regelmäßigen Zylinders. Zwei Horizontale, von denen die eine durch den Schwertfortsatz des Brustbeins, die andere durch den Nabel geht, teilen ihn in drei ziem- lich gleiche Teile. Das Muskelrelief ist gut ausgebildet, die Taille kaum eingeschnürt. Die Schultern sind breit und hoch. Die Schlüssel- beine liegen horizontal. Der Rippenbogenwinkel beträgt etwa 80°.

Die Glieder sind im allgemeinen lang, haben ein stark ausgeprägtes Relief und einen großen Querdurchmesser. Bei manchen Muskulären sind einzelne Abschnitte, wie Hand, Fuß und Vorderarm besonders groß. Die Gelenke sind zierlich. Der muskuläre Typus kommt meist erst sehr spät und zwar in der Pubertätsperiode zwischen 16 und 18 Jahren, wenn die Glieder ihre definitiven Dimensionen erreichen zur Ausbildung. Unter allen Typen ist er der verbreitetste und findet sich mehr oder weniger bei allen Rassen. Er entspricht dem klassischen Schönheitsideal der Griechen. Die Venus von Milo zeigt seinen Typus. Bewegung ist für den Typus Bedürfnis. Nach der allgemeinen Form der Individuen lassen sich zwei Untertypen unterscheiden, ein kurzer und ein langer Typus. Zum kurzen Typus gehören die Untersetzten, weniger graziösen, mit langsamen Bewegungen; beruflich die Athleten, Sackträger, Schmiede usw. Zum langen Typus gehören die leichten Kavalleristen, die Schnelläufer, die Kletterer, die Alpinisten usw.‘

Type cérébral.

„Der Type cérébral ist unsymmetrisch und disproportioniert. Die Statur im ganzen und ebenso die Glieder und die Gliederabschnitte sind klein, der Körper ist mager. Nur der Kopf hat große Dimen- sionen.

Da im Gesicht der obere Abschnitt nach allen Richtungen scharf entwickelt ist, ist der Gesichtsschnitt dreieckig und gleicht einer Pyramide mit nach unten gerichteter Spitze. Die Stirn ist hoch und breit und manchmal vorspringend. Die Haaransatzlinie läuft in der Mitte nach unten aus. Die Augen sind groß und lebhaft. Die Augen- brauen gebogen und voneinander entfernt. Die Nase ist klein oder von mittlerer Größe. Mund und Lippen sind klein. Die Ohren sind relativ groß. Der Gesichts- und Kopfgestaltung entspricht das Skelett. Der Gehirnschädel ist mächtig entwickelt. Der Kopf ist rund, fast immer brachycephal, sehr oft hyperbrachycephal, da die Schädel-

Die Wurzeln der modernen Populär-physiognomik usw. 37

breite das Charakteristische ist. Daher laden besonders die Scheitel- beine seitlich aus. Auch die Ohrhöhe ist beträchtlich.

Der Hals ist kurz, kann aber auch länger scheinen, weil die Schultern oft herabhängen.

Der Rumpf ist in allen seinen Durchmessern reduziert. Die Büste ist schlank und abgeplattet. _

Die oberen Glieder sind klein, die unteren von mittlerer Länge. Der Fuß ist klein, oft sehr klein.

Der Typus tritt erst am Ende der Pubertätszeit deutlich hervor. Denn die zerebrale Prädominanz, die ein Charakteristikum des ersten Lebensalters ist, schwindet bei den Kindern im Laufe der Entwicklung. Die Intelligenz der Individuen ist groß. Die besten Vertreter der Menschheit gehören diesem Typus an, unter anderem Richelieu, Diderot, Kant."

Diese Typen sind nicht immer rein ausgeprägt. Vielmehr können einzelne Individuen die Merkmale verschiedener Typen in sich ver- einigen, so daß mannigfaltige Kombinationen möglich sind und auch in Erscheinung treten.

II.

Nachdem wir uns in kurzem über den Inhalt der Forschungen und Lehren der älteren Physiognomiker und Konstitutionsforscher orientiert haben, wollen wir jetzt zu einem mehr ins einzelne gehenden Vergleich ihrer Lehren mit denen der modernen Populär-Physio- gnomiker speziell Huters schreiten.

Betrachten wir die Methoden Lavaterscher und Huterscher Physiognomik, wie wir sie einerseits in den „Physiognomischen Fragmenten“ und den „Hundert physiognomischen Regeln“, anderer- seits in den Huterschen Büchern der ‚„Menschenkenntnis‘“ finden, so fällt uns, um zuerst die Art der Wiedergabe der Lehren zu erwähnen, als gemeinsame Eigenschaft die ungeheuere Weitschweifigkeit im Schildern ihrer Lehre auf: ein systemloses Durcheinander, unter- brochen durch langatmige ethische, moralisch-belehrende und -wertende Abschnitte, dazwischengestreut scharfe Ausfälle und Angriffe gegen die Gegner. Bei Lavater finden wir z. B. in der Einleitung des II. Bd. der Fragmente eine Klage gegen den Geist der Aufklärungszeit: „In einem Zeitalter, wo alles, Schriftsteller, Leser, Gelehrsamkeit, Kunst und, ach, so wenig Natur, so wenig reine Menschlichkeit, so wenig reines Interesse für Wahrheit, so wenig Durst nach Freiheit ist... .‘“ Lavater selbst will statt dessen die Menschen zum „Gefühl

38 v. Rutkowski,

der Menschenwürde, Freude an der Menschheit, Anschaubarkeit’ Gottes im Menschen, Öffnung eines neuen, unerschöpfbaren Quells der Menschenfreude‘‘ bringen.

Huter wendet sich u. a. gegen die ,,Materialisten“ und „modernen Naturwissenschaftler‘‘, der ‚kalt Beobachter, denkt und urteilt‘. Diese Methode, die von der Mehrzahl, als allein richtig und wissen- schaftlich bezeichnet würde, sei eine irrige. Sie führe wohl zu äußerer, aber nicht zu innerer Wahrheit der Dinge. Sie sei tatsächlich auch zur völligen Verleumdung in der Erkenntnis der inneren Wahrheit vom Geistigen gekommen. Die Menschenkenntnis führe zu neuer Lebens-, Geistes, Moral- und Religionserkenntnis (vgl. Huter, „Menschenkenntnis“, S. 120 ff... Ohne diese ideale Kunst sei das menschliche Gemüt nicht zu erheben zu jenen alle Naturwahrheit übertreffenden Schönheiten und Empfindung, deren die menschliche Seele bedürfe.

Hier wie dort finden wir Berufung auf natürliche Empfindung, Gemüt, Menschenliebe, innere Wahrheit alles in einem gewissen. gefühlvollen Pathos vorgetragen, ohne scharfe Präzision und Klarheit. Stellenweise nehmen die Ausführungen Huters geradezu Lavaterschen Enthusiasmus in Superlativen des Stiles an, z. B. wenn er ausruft: „Man stelle den edelsten, weisesten, gütigsten, tüchtigsten Menschen überall an die Spitze der Staaten, Gesellschaften, Betriebe und züchte: durch Anbahnung glücklicher, harmonischer Liebes- und Ehever- hältnisse heilige, große, göttliche Menschenkinder heran‘ (,,Menschen- kenntnis‘‘ S. 180). |

Was den eigentlichen Kern der Lavaterschen Lehre von der Physiognomik anbetrifft, so hat Huter sowohl was die Art und Weise des Lehrens als auch den gegenständlichen Inhalt anbetrifft, von dem Schweizer Physiognomiker viel übernommen. Wir erinnern uns hier an das oben von ,,apriorischer Wesenschau‘‘ über Lavater Gesagte, an das „Sich-einfühlen‘‘ in das Wesen eines Menschen‘‘, an das ,,in- tuitive Beurteilen‘‘ der Form des Körpers mit Rückschluß auf die Seelen- und Charaktereigenschaften.

Um dieses zu können, soll nach Lavater der Schüler und Physio- gnomiker sein Gefühl üben „beobachten und wieder beobachten, vergleichen und wieder vergleichen‘‘, Bildnisse studieren usw. Dabei geht Lavater auf Einzelheiten der Bogen, Linien, Vorwölbungen der Körperteile ein.

Bei Huter lesen wir auf S. 133 seiner „Menschenkenntnis“ : „Man studiere diesen Kopf lange, jede Form und jede Erklärung der be-

Die Wurzeln der modernen Popular-physiognomik usw. 39

treffenden Form. Dann übe man sich im Sehen und Vergleichen, zuerst bei sich, dann bei anderen Personen, schlieBlich auch an guten Photographien und plastischen Bildwerken, an Gemälden, Kupfer- stichen“ usw. Auf S.181 im Kapitel, das die Überschrift „Aus der Werkstatt des Psychologen‘ trägt, heißt es: „Zunächst ist es wichtig, daß der Laie sehen lernt. Ich öffne ihm zuerst die Augen für die herr- lichen Wahrheiten der geistigen Formensprache und -gesetze der Natur, die am höchsten im menschlichen Antlitz zum Ausdruck kommt.‘ Und weiter, damit seine Autorität und Meisterschaft er- ziehenderweise unterstreichend: „Zuerst bringe man Lust und Liebe, Geduld, Fleiß, Tiefe, Verehrung für die Sache und volle Ergebenheit mit. Jeder sage sich: ich bin ein Nichtwisser, der erst zu lernen be- ginnt. Ich will dem Meister aufmerksam folgen, will ihn gern hören und alles mitsehen lernen, was er sieht, und beim Sehen auch so fühlen lernen, wie er fühlt und aus dieser neuen Methode des Formen- sehens und -fühlens will ich mir meine psychologischen Urteile in Zukunft bilden“ (z. T. von mir gesperrt gedruckt).

Sowohl für Zavater als auch Huter ist die Lehre von der Symbolik der Menschenformen charakteristisch und grundlegend. Der Grund- satz: ein schöner Körper, ein idealer Kopf deutet auf eine gleichartige Seelenbeschaffenheit hin, gilt in hohem Maße für beide. Der Mensch ist aus seiner Körperform zu erkennen. Unsere Menschenkenntnis schöpfen wir aus der Deutung menschlicher Form.

Bei Lavater heißt es: „Sind die Gesichtsteile, sind die Glieder nach angeschlagenen Geraden, nach Perpindikulärlinien ebenmäßig, so ist der Mensch schön, wohlgestalten, klug stark, fest, edel in hohem Grade... jedoch ist zu merken, daß die geradlinigen Pro- portionen ihrer Natur nach vorteilhafter und unverderblicher sind, als die anderen (vgl. Fragmente Bd. IV, S. 142).

Bei Huter lesen wir: „Aus dem disharmonischen Typus ent- wickeln sich die gemeinen Naturen und Verbrechermenschen, aus dem harmonischen die edlen Leitmenschen‘“‘ (vgl. Huter, ,,Menschen- kenntnis‘‘, S. 98). Wenngleich hier auch noch andere Elemente mit enthalten sind, auf die wir weiter unten eingehen werden, so kommt der Grundsatz Lavaters: „Je moralisch besser, desto schöner; je moralisch schlimmer, desto häßlicher‘, deutlich zum Ausdruck. | >

Eine diesen Grundsatz sehr deutlich zur Schau stellende Ab- bildung aus dem „Illustrierten Handbuch der praktischen Menschen- kenntnis‘‘ von Huter geben wir hier wieder (S. 104): =

40 v. Rutkowski,

IX. Ideales Naturell. Gottmensch-Typus, mpeg alles Guten.

X. Verbrecher-Naturell. Teufelsmensch-Typus, Inbegrift alles Bösen.

Man beachte vor allem auch die erklärende Unterschrift Huters !

Doch bleibt es nicht bei dieser allgemein-moralisch-körperlichen Wertung, und darin geht Huter in seinen Behauptungen und Folge- rungen noch viel weiter als Lavater. Nicht nur, daß er mehr ins einzelne geht (Lavater betont freilich auch immer wieder, daß es auf jede Linie, jedes Haar ankäme), die einzelnen Gesichtsteile näher bestimmt, nein, sogar auf die Körperkleidung erstreckt sich sein intuitiver Sinn, und aus einem Bischofshut, einem Strolchzylinder, einem Ritterhelm und einer Sportsmütze können wir nach Huter ohne weiteres auf die Geistes- und Gemütsbeschaffenheit des Trägers schließen.

So lesen wir z. B. auf S.169 u. ff. „Der Verschwender hat etwas schmales, unfestes, flüchtiges, zerfließendes, hochfahrendes, haltloses, sein Hut ist schmal, hochfährtig, unfest und haltlos. Vom hoch-

Die Wurzeln der modernen Populär-physiognomik usw. AL

fahrenden, nicht arbeitenden Menschen bis zum Strolch ist es nur ein Schritt“ (man beachte die moralisierende Warnung ! d. Verf.) oder

„Der Ordenshut zeigt dagegen völlige Abplattung des Ichs, die totale Unterwürfigkeit, eine bis ins Nichts sich auflösende, am Boden kriechende menschliche Seele, gegenüber der dogmatischen Macht und dem Herrschersystem, das unter dem Bischofshut allgewaltig droht.“

„Ein noch anderer Charakter offenbart sich uns im Ritterhelm, er zeigt den frechen, verwegenen, befehlenden Angreifer. Hier ist ‘alles verwegener Egoismus, da wo im vorderen Oberhaupt das Wohl- wollen liegt, ist hier alles abgeplattet, Kampf, Angriff, Herrschaft, das rücksichtslose Kräftemessen bis einer auf der Stelle bleibt. Das ist der Charakter, der in diesem Ritterhelm zum Ausdruck kommt.“

Diese paar Beispiele mögen genügen, um zu zeigen, wohin schließ- lich Huter mit seinem „gemütvollen Sehen“ kommt; eine Symbolik der Form offenbart sich uns hier, die an Phantasie wohl kaum zu überbieten ist.

Im folgenden bringen wir einige Auszüge aus Lavaters Frag- menten, zusammengestellt mit entsprechenden Teilen aus Huters „Ilustriertem Handbuch für praktische Menschenkenntnis“. Wir werden aus ihnen am besten ersehen, wie ähnlich die Gedankengänge beider Autoren sind, wenngleich die Resultate manchesmal nicht völlig übereinstimmen. Bei Lavater heißt es, daß das Hinterhaupt die Beweglichkeit, Reizbarkeit, Elastizität des Charakters ausdrücke. Bei Huter an entsprechender Stelle: „Je stärker das Kleinhirn ent- wickelt ist, was an einem breiten und starken Nacken sowie an einem kräftigen Unterhauptsschädel zu erkennen ist, desto mehr Bewegungs- und Tatenergie besitzt der Mensch‘“ (S. 112).

Bei Lavater: der Scheitel bedeute ‚nicht sowohl die Kraft als den Reichtum des Verstandes“. Das Obergesicht bis zur Nasen- wurzel ist der Sitz der inneren Arbeit, der Gedanken und Entschlüsse, das Untergesicht ist der Sitz der Äußerung (Bd. IV der Fragmente S. 187). Bei Huter: „In der Stirnregion wirken die Verstandeskräfte‘ (S. 112).

Lavater unterscheidet drei Hauptklassen von Stirnen: a) zurück- liegende, b) perpendikuläre, c) vorhängende und zu jeder Abteilung viele Unterordnungen (geradlinigte, gebrochene usw. (Bd. IV). Aufer: „In der ersten Region über dem Stirnrand kommen die Auffassungs- sinne, darüber in der zweiten die Vorstellungskräfte und weiter darüber in der dritten Region das vergleichende praktische und urteilende Denken... zum Ausdruck.“

42 v. Rutkowski,

Nach dem Grade des Vorstehens einzelner Stirnteile schlieBt Huter auf kalten Verstand oder starkes religiöses Gefühl (S. 113). Lavater: Vorhängende Stirn bedeute inbezill, unreif, schwach, dumm. Huter unterläßt diese Beschreibung und Bezeichnung, gibt aber auf S. 92 seines Buches eine Abbildung wieder, bei der die Stirn deutlich vorhängend ist und darunter die Bezeichnung: ,,indifferenter Mensch“.

/

(Zeichnungen aus Huters „Il. Handbuch“ S. 91 u. 92.)

Lavater: die weibliche Stirn sei eine „bogigte‘‘. Huter gibt vom weiblichen Geschlecht eine Abbildung (S. 91), auf der die Stirn eine deutliche und ausgeprägte Wölbung aufweist. |

Lavater stellt das Axiom auf: „Gradheit zu Gebogenheit, wie Kraft zu Schwäche.‘ Vergleichen wir die Abbildung Huters auf S. 91, so finden wir, daß das „weibliche Geschlecht‘ die „gebogene“, das „männliche Geschlecht“ die „gerade“ Stirn zeigt.

Auch ohne Worte kann dasselbe gesagt werden !

Gehen wir nun zu einem anderen Gesichtsteil über, den Augen, so finden wir wörtlich wenig Übereinstimmung, doch fällt uns manches „sprechende“ oder „entsprechende“ Bild auf, das ziemlich dasselbe sagt.

Lavater unterscheidet Augen mit offenen Lidern und solche, bei welchen vor allem das Oberlid die Iris teilweise bedeckt. Das wichtigste sei die Mittellinie des Mundes und die Linie, die das obere Augenlid auf dem Augapfel beschreibt. „Diese verstehen heißt alles verstehen‘ (Bd. IV, S. 148). Dabei behilft sich Lavater oft mit dem

Die Wurzeln der modernen Populär-physiognomik usw. 43

_ Profil, „weil das vom Auge leichter aufzufassen sei, als vom Mund“ (Bd. IV S. 148).

Bei Huter finden wir auf S.157 untenstehende Abbildung mit 12 Augen im Profil gesehen, deren Pupillen dem Oberlid mehr oder weniger genähert resp. von demselben gedeckt sind; je nachdem das Auge nach oben, geradeaus oder herunterblickt.

Carl Huter Augenausdruckskunde zur Erkennung von Charakter und Neigung.

Beobachtender Blick. Augapfel wenig unter der Achse. Beide Lider etwas zusammen, 80, daß nur

Pupille sichtbar.

Vorstellender Blick. Augapfel auf der Achse.

°” Lider mehr geöffnet, halbe

Iris. sichtbar.

Denkender Blick. | Augapfel auf der Achse. Offene Lider.

Juristischer Blick. Aug- apfel herausgedrängt. Iris

- ganz sichtbar. Lider

energisch offen.

Philosophischer Blick. y Augapfel etwas über der Achse nach oben. Lider etwas nach oben.

Weiser Blick. Augapfel noch höher über

Ethischer Blick. Augapfel sehr stark hochgestellt, Oberlid sehr weit darüber.

Religiöser Blick. Der ethische Blick ver- stärkt, Lider sehr auf- wärts

Blick der physischen Liebe. Augapfel etwas unter der Achse. Unter-

lid stark aufgezogen.

Blick der physischen Er-

nährung. Augapfel stark

unter der Achse. Unter- lid normal.

Ordinärer Blick. Aug-

apfel sehr stark unter

der Achse gierig hervor- tend.

Gemeingefährlicher Blick.

Augapfel stark unter der

Achse stehend und unten hervorgespannt.

der Achse, großes Ober- lid, Wimper nach oben.

Aus dem großen illustrierten Lehrwerk ‚Carl Huter Menschenkenntnis, Körserformen und Gesichtsausdruckskunde“.

Die Lidspalte ist dementsprechend mal schmäler oder weiter. Huter unterscheidet nun der Stellung des Augapfels nach den beob- achtenden, vorstellenden, denkenden, den juristischen, philosophischen, den weisen, ethischen, religiösen Blick; den Blick der psychischen Liebe, den der physischen Liebe, den ordinären und den gemein- gefährlichen Blick. Dazu sagt er: „Diese Augenausdrucks- und Blick- richtungen sind unzählig verschieden, sie alle wiederzugeben, dazu würde ein Atlas nicht ausreichen, der 20000 Ausdrucksarten wieder- gibe.... Wer die 12 Hauptgrundrichtungen kennt, ist jedoch schon ein guter Menschenkenner.“

Im Kapitel über Nasen sagt Lavater: „Bei einer schönen Nase finden wir immer einen vortrefflichen, immer ganz außerordentlichen

44 v. Rutkowski,

Charakter (Bd. IV, S. 257). Huter sagt: „Die lange, gerade, stark hervortretende, schön gebildete Nase, wie sie den alten Griechen eigen war usw.... Dieses ist ein Zeichen von guter Denk- und Dar- stellungsgabe, sowie eines stark ästhetischen Gefiihls‘‘ (S. 160).

Bei Lavater: „Oben bei der Wurzel vorgebogene Nasen hingegen, sind vortrefflicher, zum Gebieten, Herrschen, Wirken, Durchsetzen, Zerstören‘‘ (Bd. IV, S. 258). Huter: „Menschen mit römischer Nase, welche einen stark hervortretenden Höcker zeigt, dabei an die Adler- nase erinnert, haben Angrifislust, großen Unternehmungs- und Durch- führungsgeist und wollen unbedingt herrschen und befehlen. Sie drängen sich vor, sind sehr aktiv und wissen sich Geltung zu ver- schaffen. Sich unterzuordnen fällt ihnen: schwer; wenn sie es dennoch tun, dann nur mit Vorrangrechten über noch andere, deren Vorgesetzte sie sein wollen. Der alte Adel, der sich meist durch solche Nasen aus- zeichnete, diente dem Könige, weil er ihm Herren- und Vorrangrechte über das Volk gewährte‘ (S. 162).

Lavater charakterisiert arteigene Nasen bei tartarischen Völkern, bei afrikanischen Schwarzen, bei Juden, Engländern, Holländern, Italienern und Franzosen. Huter unterscheidet: I die Kinder, II slavische, III ungarische, IV deutsche, V englische, VI Gelehrten-, VII griechische, VIII römische, IX arabisch-maurische, X hebräisch- jüdische Nase und deutet von ihnen auf die Entwicklung und Zukunft der „dazugehörigen“ Völker. So deutet z.B. die ungarische Nase auf ein nahezu zur Reife gekommenes jugendliches Volk mit großer Zukunft; die Nase IX und X (arabisch-maurische und hebräisch- jüdische) auf uralte Völker (S. 163).

Gerade bei diesen Beispielen wird der umgekehrte Vorgang, nämlich das Hineinlegen von allgemein-üblichen Anschauungen in eine Körperform sehr deutlich.

Lavater: „Kleine Nasenlöcher sind ein beinahe sicheres Zeichen von ununternehmender Furchtsamkeit‘‘ Huter: ‚Menschen mit kleinen Nasen lassen sich beherrschen“ (S. 162).

Lavater: „Sichtbar atmende offene Nasenflügel ein sicheres Zeichen feiner Empfindung, die leicht in Sinnlichkeit und Wollust ausarten kann“ (Bd. IV, S.257 ff.). Huter: „An den Nasenlöchern prägt sich das Geschlechtsleben aus‘ (S. 162).

Weiter heißt es im Kapitel über Mund und Lippen bei Lavater: „Wie die Lippen so der Charakter: weiche, schnelle, bewegliche Lippen schnell beweglicher Charakter.“ ‚Die Lippen zeigen am vorzüg- lichsten Sanftmut, Zornsucht, Liebe und Haß.‘ Huter: „Die ganzen

Die Wurzeln der modernen Populär-physiognomik usw. 45

Gemüts- und Seelenstimmungen lassen sich in diese fünf Grund- richtungen (gemeint ist des Mundes) einreihen.‘‘ „Die verschiedenen Mundformen und Mundmimik verraten den Gedanken, das Empfinden und Erleben eines Menschen‘ (S. 164).

Lavater: ,,Verbissener, lippenloser Mund, der bloß einer Linie gleicht, sicheres Zeichen von Kälte kalter Eitelkeit, Fleiß Genauigkeit.“ Bei Huter finden wir auf S. 161 eine Abbildung eines geraden Mundes und zusammengekniffener Lippen, darunter er- klärend: „harter“ resp. „grausamer‘‘ Mund. Oder auf S. 164: ,,Ge- kniffene Lippen verschlossen und unnahbar; schmale Lippen nüchtern und fleißig.“

Lavater: ,,Sanft überhängende Lippen sind ein Zeichen von Güte“ (Bd. IV, S. 260). Huter: „Menschen mit stark vorstehender Oberlippe sind aufmerksam und wohlwollend‘ (S. 163).

Beim Kapitel über das Kinn finden wir bei Lavater, um nur einiges zu erwähnen, und damit die Reihe der Beispiele zu schließen, ,,Spitziges Kinn ist viel öfters ein Zeichen von heimtückischer List‘. Huter sagt: „Ein spitzes, stark hervortretendes Kinn verrät Nörgelei und Kritiklust.‘“

Diese Parallelen, die wir hier angeführt haben, ließen sich nach Belieben weiterziehen. Doch dürften diese Beispiele genügen, um zu zeigen, daß zwischen den Deutungen der beiden Autoren, sowohl was die Art und Weise des Vorgehens als auch was den Inhalt an- betrifft, Ähnlichkeiten nachzuweisen sind, und daß die Lavatersche Lehre der Physiognomik in den Huterschen Werken fast unverändert fortgesetzt wird.

Aber dies sind nicht die einzigen Brücken, die von Lavater zu Huter führen. Bei Lavater finden wir einen Abschnitt über ,,medi- zinische Semniotik oder etwas von den Kennzeichen der Gesundheit und der Krankheit“. Mit einer Aufforderung, darüber etwas zu. schreiben, wendet er sich an seinen Freund, den Leibarzt Zimmermann in Hannover, und begründet sie damit, daß doch ohne Zweifel solches am menschlichen Gesicht zu erkennen und von großem Nutzen wäre (Bd. IV). In diesem Abschnitt berührt Lavater die physiognomischen Kennzeichen der Jugend und des Alters, der körperlichen Stärke und Schwäche, von Gesundheit und Krankheit. Huter bringt auf S. 141 und 143 seines Buches je 2 Abbildungen von Personen in ge- sundem und krankem Zustand, deren Ausdruck deutliche Unter- schiede zeigt. Er sagt dazu, seine Vorgänger hätten keine wissen- schaftliche Krankenphysiognomik begründet, er habe in seinem

46 v. Rutkowski,

Museum in Leipzig eine besondere Abteilung fiir Krankenphysiognomik eingerichtet. Die Sammlungen sind jedoch, nach einer Anmerkung © des Verlags, „leider zerstückelt worden".

Aus allen diesen Beobachtungen, Deutungen und Erkenntnissen der Physiognomik ziehen beide, Lavater wie Huter, praktische Folge- rungen in bezug auf die Schließung von „Freundschaften, Ehe und anderer Lebensgemeinschaft“. So sagt Lavater: „Hast du eine hohe Stirn, so mache nie Freundschaft mit einem beinahe kugelrunden Kopf. Besonders taugen solche durchaus nicht zu Ehepaaren‘‘ (Hundert physiognomische Regeln S. 95). Und ähnlich verfährt Huter. Wir : finden bei ihm eine ,,Studientafel zur Naturell-Harmonielehre in der Ehe, in der Familie und in der Gemeinde, und zur Rangordnung des Geistes im Zukunftsstaatsleben‘‘ (S. 173). Darauf sind eine An- zahl von Köpfen im Profil und en face abgebildet. Auf S. 180 wird angegeben, welche Typen miteinander harmonieren und welche nicht: „Man wird vor der Eheschließung auf Grund der Gesetze der Tem- peraments-, Naturell-, Geschlechts- und Charakterharmonietatsachen psychologische Vergleiche zwischen den Verlobten oder den. sich Nähertretenwollenden anstellen, und man wird es verhüten, daß sich zwei Menschen ehelichen, die nicht dauernd miteinander harmo- nieren.‘ Er gibt dazu demonstrierende Abbildungen glücklich und unglücklich verheirateter Ehepaare.

Was das Material an Abbildungen und Köpfen, an denen die Lehre der Physiognomik dargestellt und erklärt wird, betrifft, so sind es bei Lavater und Huter zum Teil klassische Köpfe aus dem Altertum, bekannte historische Persönlichkeiten und vor allem Zeitgenossen, die ein höheres Interesse des Lesepublikums für sich in Anspruch nehmen können. Wir finden bei Lavater Abbildungen von Sokrates, deutscher Kaiser, Schriftsteller und vieler Schweizer prominenter Mitbürger. Bei Huter Apollo, Plato, Shakespeare, Schiller, „zwei Akademiker“, „zwei Autodidakten‘‘ (hier verfällt Huter wieder in Lavaterschen Stil), Bach, Blücher, Papst Leo XIII, ,, Turnvater Jahn“, „Herrscher‘‘, „Reformatoren‘‘, Fürst Bismarck, Kaiser Wilhelm II. u. a. m., nicht zu vergessen sein eigenes Abbild mit der sinnvollen Unterschrift „Pflicht und Treue‘.

Aber auch dieselben Köpfe finden wir: z.B. Zeichnungen von Le Brun und Chodowiecki; bei Lavater schwarze Federzeichnungen auf weißem Hintergrund (Fragm. Bd. IV, Tafel XXXVIII). Bei | Huter genau die gleichen verkleinert als ,,Anschauungsbild aus Staaten vergangener Zeiten ohne Menschenkenntnis“, weiße Zeichnungen

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Die vier Temperamente.

1. Das phlegmatische, 2. das sanguinische,

3. das cholerische, 4. das melancholische.

Allgem. Zeitschrift fiir Psychiatrie Band 89 Tafel I. Ju „Rutkowski, Die Wurzeln der modernen Populär-physiognomik“. Verlag von Walter de Gruyter & Co., Berlin W 10.

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D.

Die Wurzeln der modernen Populär-physiognomik usw. 47

auf schwarzem Hintergrund; hier jedoch ohne Quellenangabe (Huter S. 175).

Einige Kapitel sind bei Huter der Temperamentslehre ge- widmet. Wir sehen als eine ,,Studientafel zur Frage Huters Rassen-, Naturell- und Temperamentslehre‘‘ (darin ohne Quellenangabe), Lavatersche Köpfe; auf S.139 finden wir dieselben vier bekannten Köpfe von Lavater, die vier Temperamente „nach Auffassung zu Lavaters Zeiten‘ darstellend. Auf der vorhergehenden Seite lesen wir: „Lavater hat das Temperament in festen Gesichtsformen zum Ausdruck gebracht, ich habe es mehr in der Körperbewegung charak- terisiert. Auch diese Formen sprechen eine lebhafte Sprache, sie bilden Gegensätze, die auf gewaltige Unterschiede im Geistesleben der vier verschiedenen Persönlichkeiten hinweisen.“

Die nachstehenden vier Bildchen zeigen uns die „von Huter charakterisierten‘‘ Temperamente.

Schlagen wir jedoch den Lavater auf, so finden wir in Bd. IV der Fragmente folgende Charakteristik der vier Temperamente:

„Der Phlegmatiker ist rund, glatt, voll und sitzt.“

„Der Sanguiniker: steht, hüpft, fliegt, ist länglich rund und proportional.‘

„Der Choleriker ist eckiger und drückt und stampft.“

„Der Melancholiker ist eingedrückt und sinkt.“

(Die hier gesperrten Worte sind bei Lavater durch Fettdruck hervorgehoben !)

Eine genauere und besser passende Beschreibung als Lavater sie gibt, würden auch wir beim Beschauen der Auterschen Bilder kaum geben können, und wir sehen das schon früher beobachtete Prinzip bestätigt und wiederholt: Zavatersche Worte und Thesen bildlich auszudrücken.

Was schließlich die ,,naturwissenschaftliche Forschungsmethode über die Entstehung des Menschen‘ und Huters „Entdeckung der Lebenskraft‘‘ (bei Huter unter besonderer Betonung der sexuellen Komponente, der ‚‚Geschlechtskraft‘, um dann moralisch-hoch- wertiger „Weltkraft‘‘, „Quell des Lebens“ und „Liebe“ genannt zu werden). der „Helioda‘‘ anbetrifft, so ist sie auch nichts Neues und findet ihre Analogie in Bonnets!) philosophisch-natur- wissenschaftlicher Lehre, die „eine wunderliche Mischung von ein-

1) Charles Bonnet, geb. 13. März 1720, gest. 20. Mai 1793, berühmter Genfer Naturforscher, Philosoph und Apologet, Verfasser zahlreicher philosophisch-naturwissenschaftlicher Werke (vgl. Literaturverzeichnis).

48 v. Rutkowski,

dringendem nüchternem Forschersinn und naiv-gläubiger Phantasie‘‘ darstellt (,,Lavater als Philosoph und Physiognomiker‘‘ von Heinrich Mater).

Die Lehre vom Keimplasma, von der Entwicklung des organischen Wesens, von der im ganzen Körper sich ausbreitenden seelischen Keimkraft, die unzerstörbar ist (vgl. Huter S. 37, 49, 50 u. 52), die Betonung der Wichtigkeit der Empfindung als Ursache der Ent- stehung des weiteren Lebens, der empfindungsfähigen Materie, die bei Huter „Wurzelkraft‘‘ genannt wird, vor allem auch die Lehre der Erkenntnis, der sinnlichen dann aber auch der „unsinn- lichen, logischen, symbolischen‘ (hierbei Lavaters Einfluß) das alles sind Einzelheiten, die sich bei Bonnet finden und bei Huter wiede r- finden lassen.

Huter begründete einen ,, Weltbund zur Selbsterziehung‘‘, welchen Plan schon Bonnet unter emem anderen Titel als ein Bund der Philo- sophie und Religion gehabt, aber nicht ausgefiihrt hat. Wir sehen selbst darin weitgehende Ubereinstimmung.

Doch wenden wir uns nun dem Vergleich der Gallschen Phreno- logie mit der von Huter zu. Zu dem Zweck werden wir uns die Unter- schiede, die Huter selbst in seinem Werke anführt, kurz ins Gedächtnis zuriickrufen. Es handelte sich um folgende Punkte:

1. Stellte Huter die rechte und linke Kopfhälfte (Seite) ver- schieden dar.

2. Huter hätte den Charakter nicht wie Gall nur aus dem Schädel, was sehr einseitig sei, sondern auch aus den Körpertypen und dem Gesichtsausdruck heraus beurteilt.

3. Huter ziehe zur Beurteilung auch die qualitative Kraft des Geistes in Betracht. |

4. Gall hätte übersehen, daß Gehirn- und Nervensystem sich aus einer hierzu besonders vorgebauten Eiweiß-Substanz der lebenden Zelle nach und nach gebildet hätten.

Die unten abgebildeten Köpfe sind Huters „Dlustriertem Hand- buch der praktischen Menschenkenntnis‘‘ entnommen. Die Auf- nahmen sind von einer Originalausgabe aus dem Jahre 1923 (Verlag Amandus Kupfer in Schwaig-Nürnberg) gemacht. Die Aufnahmen der Gallschen Schädelabbildungen sind einem Originalbande von „Österreichers anatomischen Steinstichen‘‘ aus dem Jahre 1829 in München entnommen.

Die Wurzeln der modernen Populär-physiognomik usw. 49

Dem flüchtigen Beobachter dieser Abbildungen scheinen sich unwillkürlich größere Unterschiede aufzudrängen. Bei den Gallschen Schädeln sehen wir eine im Verhältnis zu Huter nur geringe Anzahl von „Buckelungen‘‘ resp. „Vorwölbungen‘‘; die Felderung Auters ist viel zahlreicher, ungefähr um die Hälfte der Gallschen vermehrt;

38 Irnährungszusland é Durchseltungssinn $

vll sian

bre rechte Kopf und besichlsseile pach der Schödel-und Gesithtsausdruckshunde ron Carl Huler

Rechte und linke Kopfseite des Menschen nach Huter. Die rechte Kopfseite die Wehr- und Widerstandskräfte des physischen und geistigen Lebens.

außerdem macht Huter den schon oben erwähnten Unterschied zwischen der rechten und linken Kopfseite. Wenden wir uns zunächst der letztgenannten Tatsache zu. Zum leichteren Vergleich habe ich die oben in die einzelnen Felder geschriebenen Eigenschaften und „Vermögen“ nebeneinander so aufgestellt, wie sie sich beim Ablesen der Felder in einer bestimmten gleichen Richtung rechts und links ergaben. Die jeweilig entsprechen- Zeitschrift für Psychiatrie. LXXXIX. 4

50 v. Rutkowski,

den Felder sind von mir mit gleicher Ziffer bezeichnet und zu der anlie- genden Tabelle zusammengestellt worden (siehe Tabelle I Seite 53):

Einen Unterschied zwischen den Bezeichnungen rechts und links kann man wohl den Worten, aber kaum dem Sinn nach feststellen: Es sind andere Bezeichnungen derselben ‚Vermögen‘ und Eigen-

Lie tinke Hopf und besichisse/le nach de Schadel-und Cesithtsausdruchshunde von Corl Hayter

Rechte und linke Kopfseite des Menschen nach Huter. Die linke Kopfseite des Menschen soll vorzugsweise die sensiblen und sympathischen, freien, schöpferischen, Liebes- und Gestaltungskräfte darstellen.

schaften. So sehen wir z. B. auf Feld ‚2‘ rechts: ,,freundschaftliche Gebundenheit“‘, links: ,,Liebesgewissen und Gattentreue‘. Auf Feld „4“ rechts: „Heimschutz“, links: ,,Familiensinn‘‘; auf Feld ,,8°‘ rechts: Stolz‘, links: „Selbstbewußtsein‘‘; auf Feld „19 rechts: „Vornehmheit‘, links: ,, Wesensadel‘‘; auf Feld ‚‚29° rechts: „Schlaf“, links: ‚Ruhe‘. |

Die Wurzeln der modernen Populir-physiognomik usw.

4*

51

52

v. Rutkowski,

I Begattungstrieb. II Kindesliebe.

III Freundschaftliche

Anhänglichkeit.

IV Lebenserhaltungs- trieb. V Mordsucht.

VI Schlauheit. VII Gewinnsucht. Diebsinn. VIII Hochsinn. IX Eitelkeit. Sucht zu glänzen.

X Umsicht. XIX Sinn für Mechanik, XI Sach- XX Vergleichender Scharfsinn. XII Ort- Q XXI Tiefsinn. XIII Personen-$ & XXII Witz. = XIV Wort- a XXIII Dichterisches Talent. XV Sprach- XXIV Gutmütigkeit. XVI Sinn für Malerei. XXV Nachahmungstrieb, XVII Musik. XXVI Religiöser Sinn. XVIII Zahlengedächt- XXVII Beharrlichkeit. nis.

Eine Eigenschaft freilich ist rechts und links verschieden! Näm- lich auf Feld ,,41‘‘. Da lesen wir rechts: ,, Nationalsinn‘‘, links: ,,Sozial- liebe“. Außerdem ist die Felderung auf der linken Seite über dem Auge eine differenziertere, ebenso in der linken Scheitelgegend, so daß die Zahl der Felder auf der linken Kopfseite ein wenig größer ist.

Die Wurzeln der modernen Populär-physiognomik usw.

Tabelle 1.

Huter

Rechte Kopfseite

1, Generositat u. Geschlechtstrieb

i Freundschaftliche Gebunden-

heit

. Kleinsinn . Heimschutz

FleiB

. Tüchtigkeit

Wille

. Stolz

. Festigkeit

. Gerechtigkeit, Lauterkeit . Schutzsinn

. Ruhm und Ehre

. Verwaltungstalent

. Verstellung

. Tatkraft

. Eigentumssinn

. Massensinn

. Wissenskraft

. Vornehmheit

. Vervollkommnung

. Hilfsbereitschaft

. Humanität

. Ethik

. Moralphilosophie

. Denkkräfte

. Verstellungskraft

. Auffassung

. Bausinn

. Schlaf

. Nahrungssinn

. Widersetzlichkeit

. Lebenszähigkeit

. Mut und Widerstand . Hoffnung

. Nachahmung

. Darstellungskraft

. Sprache in Schrift und Zeichen-

ausdruck

. Ernährungszustand . Angriffssinn

Religion

. Nationalsinn . Begeisterung und Fortschritts-

sinn

53

linke Kopfseite

. Liebeslust u. Fortpflanzungs-

sinn

. Liebesgewissen und Gattentreue . Kinderliebe

. Familiensinn

. Berufsliebe

. Gewandtheit

. Unternehmungslust

. SelbstbewuBtsein |

. Ideenhochgefühl

. Gewissen

. Vorsicht

. Selbstgefallen

. Grundbesitzliebe

. Geheimsinn

. Arbeitsliebe

. Erwerbssinn

. Sachenliebe

. Wissensdrang

. Wesensadel

. Schönheit

. Herzensgüte

. Mitgefühl

. Ethisches Denken

. Spekulative Philosophie . Logisches Denken

. Praktischer Instinkt

. Gestalt, Raum, Gewicht, Farbe,

Ordnung, Zahl

. Komposition . Ruhe . Feingeschmack für Bo

Nahrung

. Verbesserung

. Lebenslust

. Jugendliebe und Herzensfrische . Hoffnung

. Anbetung

. Gestaltungskraft

. Sprache und Redeausdruck

. Verdauung . Impuls

. Alliebe und Idealwissenschaft . Sozialliebe

. Glaube

. Heiligkeit

í

54 v. Rutkowski,

Die oben gezeigten Beispiele kann der Leser an der Tabelle be- liebig weiter fortfiihren. |

Vergleichen wir nun die Hutersche Felderung mit der Gallschen (Tabelle II, S. 36), so finden wir im großen und ganzen die Haupt- felder bei Huter und Gall gleich und die höheren und umfassenderen Begriffe ebenso lokalisiert.

Huter sagt z. B.: „In der Hinterhauptregion finden wir das Gesell- schafts- und Liebesleben‘. Wir finden auf seiner Tafel auf dem Feld in der bezeichneten Gegend: ,,Freundschaftliche Gebundenheit‘‘, „Kleinsinn‘‘, „Kinderliebe‘‘ und „Familiensinn‘‘. Bei Gall: „Freund- schaftliche Anhänglichkeit‘‘ und ‚Kinderliebe“.

Weiter heißt es bei Huter „im Oberkopf bekundet sich mehr das religiöse Leben, im Vorderhaupt selbst liegt das Verstandesleben“. Sehen wir die Felderung dort am Oberkopf durch, so finden wir die Bezeichnungen: Glaube, Heiligkeit, Alliebe, Religion, Hoffnung; bei Gall: Beharrlichkeit, religiöser Sinn usw.

Es würde zu weit führen, alle Beispiele durchzusprechen; diese paar mögen genügen. Im übrigen sei der Leser auf die Tabelle II verwiesen, die eine Gegenüberstellung der Gallschen und Huterschen Wortbegriffe, nach den Regionen des Schädels geordnet, bringt.

Einzelne Unterschiede ergeben sich aus den detaillierteren weiteren Ausbau der Felder, wobei Huter und das ist ja gerade für das Gallsche System charakteristisch die abstrakten psychologischen Begriffe, die der Physiognomiker und der Phrenologe der Sprache entnimmt, einfach durch Unterteilung und Umschreibung mit anderen Worten vervielfältigt und so zu den ‚‚neuen, schärferen und präziseren Resul- taten‘‘ (vgl. Huter S.109) und „Vermögen“ kommt, deren Sitz er willkürlich nach psychologischem Denken bestimmt.

Wenn Huter zweitens sagt, daß er den Charakter nicht nur aus dem Schädel bestimme, sondern auch aus den Gesichtszügen und dem Körpertypus, so hat er eben die Gallsche Phrenologie mit Lavaters Physiognomik und der Konstitutionslehre der alten Franzosen ver- mengt. Das bezieht sich auch auf Punkt drei.

Was den vierten Punkt betrifft, der Eiweißsubstanz, aus der sich das Gehirn und das Nervensystem entwickelt haben soll, so be- stehen da wieder Beziehungen zu Bonnets naturwissenschaftlich- philosophischen Lehren.

Überhaupt scheint Huter eine große Anzahl medizinischer, natur- wissenschaftlicher, philosophischer und anatomischer Schriften und Werke gelesen zu haben, woran er jedoch sehr verworrene, zum Teil

Die Wurzeln der modernen Populär-physiognomik usw. bb

direkt falsche und äußerst phantastische Darstellungen knüpft; woraus er Folgerungen zieht, die von ihm auf Grund der zu seiner Zeit bereits fortgeschrittenen Kenntnisse über das vegetative, sympathische Nervensystem in kühnster und ungeheuerlichster Weise ausgebaut werden.

Tabelle II.

Huter > Gall Liebeslust und Fort- :

; b Panaungssinn “s (oa eae Fe en Hinterhaupt ?} III Freundschaft. Anhäng- Kinderliebe | lichkeit und Lebens- _

ee haltungstrieb Familiensinn er Grundbesitzliebe Geheimsinn Arbeitsliebe : V Mordsucht

Erwerbssinn : Sachenliebe Schlafenbein Pa ee Dieb Wissensdrang RUE IEN: Wesensadel nn Schönheit Herzensgüte Berufsliebe Gewandtheit Unternehmungslust VIII Hochsinn Selbstbewußtsein Hinteres IX Eitelkeit, Sucht zu Ideenhochgefühl Scheitelbein glänzen Gewissen X Umsicht Vorsicht Selbstgefallen Praktischer Instinkt Be a ee kaum, Ge: XIII Personen- "Gedächtnis

bi XIV Wort-

Farbe, Ordnung, Zahl,{ Gegend über

Musik, Rhythmus und um Auge a ee Malerei ee f XVII Sinn für Musik Ke r XVIII Zahlengedächtnis ia a XIX Sinn für Mechanik Mitgefühl XX Vergleichender Scharf- Ethisches Denken sinn Spekulative Philo- Stirn XXI Tiefsinn sophie XXII Witz

und logisches Denken XXIII Dichterisches Talent

56 v. Rutkowski,

Huter Gall Hoffnung Anbetung XXIV Gutmitigkeit Alliebe Scheitel XXV Nachahmungstrieb Idealwissenschaft aha XXVI Religiöser Sinn Sozialliebe XXVII Beharrlichkeit Religion

Aus technischen Gründen konnten hier von den Huterschen Wort- begriffen nur die der einen (linken) Kopfseite aufgenommen werden.

Es bleibt uns nun noch übrig, den Vergleich der Huterschen .„Näturellehre‘ mit den Körpertypen der älteren Franzosen und der modernen Konstitutionsforscher anzutreten.

Im Gegensatz zur Physiognomik und Phrenologie sind Huters drei Naturelltypen aus einer wissenschaftlich ernstzunehmenden Quelle, der französischen Konstitutionsforschung, geschöpft, an die auch die moderne deutsche Konstitutionsforschung teilweise anknüpft.

Die älteren Franzosen hatten mit Hallé (1797), Cabanis (1802), Thomas de Troisvevre (1821) und Rostan (1826) Typen aufgestellt, die im wesentlichen dasselbe Bild zeigen.

Wenn Hallé von einem ‚Type thoracique“ und Rostan von einem „Type respiratoire“ spricht, so ist darin das wesentliche das Über- wiegen und die Betonung eines bestimmten Organsystems. Einmal wird dieses nach dem anatomischen Begriff bezeichnet, das andere Mal nach seiner physiologischen Funktion. Dasselbe finden wir, wenn Hallé vom „Type abdominal“ spricht und Rostan vom „Type digestif‘‘, und der ‚Type cöphalique‘‘ (Hallé), der „Type nerveux’ (Cabanis), der „Type cränien‘‘ (Thomas de Troisveure) und der „Type cérébral‘ (Rostan) nennt einmal den Schädel, ein anderes Mal das Zentral- nervensystem oder den Kopf oder das Gehirn, also dasselbe Organ- system, als vorherrschend. Wir sehen also dasselbe Prinzip bei den vier genannten Autoren in nur anderen Ausdrücken sich wieder- holen Bezeichnungen, die, wie wir sehen werden, den Huterschen Typen entsprechen und keineswegs Huters Eigengut darstellen.

Diese in der älteren französischen Konstitutionsforschung allent- halben vorgebildeten Typen greifen Sigaud und seine Schüler, die Tradition damit übernehmend und sich auf ihre Vorgänger berufend, auf und kommen zur Aufstellung des Type respiratoire, Type musculaire, Type digestif und Type cérébral. Im folgenden wollen wir eine kurze Zusammenstellung der charakteristischen Eigen-

Die Wurzeln der modernen Populär-physiognomik usw. 57

schaften dieser französischen, bei den älteren französischen Autoren schon vorgebildeten Typen mit denen der Naturelle Huters bringen.

Dem Type digestif können wir das Hutersche Ernährungs- oder Ruhenaturell an die Seite stellen. Letzterer charakterisiert diesen Typus als Rumpf- und Bauchmenschen folgendermaßen: breites Gesicht, volle Lippen, dicker Hals, ebensolche Glieder, starker Unterleib. Der Stgaudsche Type digestif wird charakterisiert: großer Mund, runde Lippen, der Hals ist kurz und fett, der Bauch ist der beherrschende Teil, die Glieder sind kurz und fleischig, rund, voll und ohne Muskelrelief,

Das Bewegungsnaturell Huters entspricht im großen und ganzen dem Type musculaire. Huter sagt von demselben, daß - er lange muskulöse Arme habe, ebensolche Beine, der Schädel sei meist niedrig. In geistiger Beziehung seien die Bewegungsnaturelle Tatmenschen. Die Tiere dieses Typus hätten einen größeren Be- wegungstrieb. |

Sigaud; charakterisiert den Type musculaire kurz gesagt, folgendermaßen: die Individuen sind lang, die Glieder sind im all- gemeinen lang, haben ein stark ausgeprägtes Muskelrelief, Bewegung ist für den Typ Bedürfnis.

Dem Type cérébral der Franzosen entspricht schließlich das Empfindungsnaturell Huters.

Huter charakterisiert es durch folgende Eigenschaften: ein feines Gesicht, schöne leuchtende Augen. Die Stirnmassen überwiegen; Kinn und Nase sind fein geschnitten. Hals und Rumpf sind zart und schlank gebaut; es sind die großen schöpferischen Persönlichkeiten im geistigen Leben. Sigaud sagt vom Type cérébral: die Struktur ist im ganzen und ebenso die Glieder klein. Der Körper ist mager. Nur der Kopf hat große Dimensionen. Die Stirn ist hoch und breit und manchmal vorspringend. Die Augen sind hell und lebhaft. Die Nase ist klein oder von mittlerer Größe. Der Gehirnschädel ist mächtig entwickelt. Der Rumpf ist in allen seinen Durchmessern reduziert. Die besten Vertreter der Menschheit gehören diesem Typus an.

Huter hat mit dem Richtigen auch die wesentlichen Fehler der französischen Autoren übernommen: die Idee der einseitigen Vor- herrschaft bestimmter Körperteile und Organsysteme unter Verkümmerung der übrigen.

Vor allem aber spricht aus der Huterschen Naturellehre sehr deutlich die sehr primitive Psychologie dieser Körpertypen, die wir schon bei der französischen Konstitutionsforschung finden, die eine

58 v. Rutkowski,

unmittelbare Parallele zu den Charaktereigenschaften zieht: ein großer Bauch ist ein Zeichen materieller Gesinnung, ein großer Kopf spricht für großen Geist, starke Muskulatur bedeutet starke Energie und Willen zur Tat.

Durch dieses unrichtige Prinzip trifft Huier mit den älteren Franzosen je nach Zufall einzelnes Richtige und vieles ganz Falsche. Um einige Beispiele aus der Geschichte zu nennen, können wir Peter d. Gr., der über eine große Körperkraft verfügte, als Tatmenschen anführen ; als Tatmenschen können wir aber gewiß auch Cäsar, Karl V., Friedrich d. Gr. und Napoleon bezeichnen. Karl V. war hager, Cäsar von kleiner Gestalt, Friedrich d. Gr. sogar zierlich gebaut und Napoleon, wenn auch in seinen besten Jahren wohlbeleibt (also nach Huter Bauchmensch) klein von Wuchs, und alles andere als ein kraft- strotzender Muskelathlet.

Einen Unterschied zwischen der französischen Konstitutions- forschung und der Huterschen Naturellehre bildet die Theorie der Entstehung der Typen resp. Naturelle. Wenn die Franzosen den Einfluß der äußeren Umwelt (Gas Luft, Flüssigkeit Wasser, fester Körper Erde) betonen, bringt Huter die drei-Keimblätter- Theorie. Doch finden wir bei Huter Anklänge an die französische Theorie in der Ausdehnung seiner Naturellehre auf die Pflanzenwelt, die je nach ihrem „Naturell“ einmal Sumpf, Schlamm, Wasser und Nebel, ein anderes Mal mehr reine Luft, Wasser und nur zu geringerem Teil Schlamm, ein drittes Mal reine Luft und wenig trocknen Boden als beste Bedingung für ihr Wachstum bevorzugt.

Von den 30 übrigen Naturellen, die Huter aufstellt, erinnern einige, besonders die rein körperlich charakterisierten, an Konstitutions- formen deutscher Forscher. So nennt Huter das ,,unentwickelte Naturell‘, das zu dem Stillerschen Typus asthenicus (vgl. Viola, Habitus microsplanchnicus) und der „schwächlich-anämischen‘‘ und „einfach asthenischen‘‘ Konstitutionsform Wunderlichs in Beziehung zu setzen wäre; desgleichen das „fette Naturell‘ der fetten Kon- stitutionsform Wunderlichs. Huter spricht weiter von einem Leit- stoff, unter dem die Natur des Menschen stände, wozu auch patho- logische Diathesen gerechnet werden, wie Rachitis, Gicht, Skrophu- lose, Ca. Hierbei werden wir an die drei Konstitutionsanomalien Benekes (vgl. auch Violas Habitus megalosplanchnicus) der karzinoma- tösen, skrophulös-phtisischen und rachitischen erinnert.

Die Wurzeln der modernen Populär-physiognomik usw. 59

Wir kommen zum Schluß unserer Untersuchung. Am Ende des Huierschen Buches ‚Illustriertes Handbuch der praktischen Menschen- kenntnis‘‘ nennt der Verleger der Huter-Werke, Amandus Kupfer, zusammenfassend folgende Lehren Carl Huters als eigene und neue.

1. Nachweis der Eigenbeseeltheit der Materie, nach der es keinen absoluten Tod der Materie gibt; die Lehre der ,,Helioda‘‘, der ,,Lebens- strahlen‘ und der „Wurzelkraft‘‘.

2. Nachweis der grundlegenden Formtypen in der Natur: die „Naturelle“, wodurch Huter eine neue Klassifikation der organischen Welt eingeführt habe.

3. Nachweis der Gesetze der Harmonie und der Disharmonie.

Alle diese in den drei Punkten angegebenen Lehren konnten wir jedoch als in den Lehren früherer Autoren wurzelnd nachweisen; die in einer mehr oder weniger engen Anlehnung an diese unverkennbar entstanden sind.

Solche sehen wir vor allem bei der Physiognomik und sym- bolischen Deutung der Gesichtszüge mit stark moralisierenden Tendenzen (Lavater), bei der Phrenologie und Lokalisationslehre (Gall) und der „Helioda‘‘- und Keimplasma-Lehre (Bonnet und Lavater), aber auch bei der Naturell-Lehre, dem Empfindungs-, Bewegungs- und Ernährungsnaturell Huters, die in dem Type cérébral (nerveux, crânien, céphalique) musculaire und digestif (abdominal) der älteren französischen Konstitutionsforschung seit dem Ende des 18. Jahrhunderts bis zu Sigaud in verschiedenen Kombinationen immer wiederkehren.

Was die Keimblätter-Theorie, die Entwicklung der drei Naturelle und Systemtypen aus den einzelnen Keimblättern, je nach- dem das innere, mittlere oder äußere Keimblatt bei der Entwicklung eine stärkere Betonung oder Bevorzugung erfahren hat, anbetrifft, so ist diese als eine originelle und naturwissenschaftlich mögliche Idee anzusehen, die von Interesse ist, die jedoch der näheren Nach- prüfung und des Beweises bedarf.

60

Cn we GO

16.

17.

v. Rutkowski,

Literatur.

„IL. Bauer, Die konstitutionelle Disposition zu inneren Krankheiten.

Springer, Berlin 1923.

F. W. Beneke, Die anatomischen Grundlagen der Konstitutions- anomalie. Marburg 1878.

Derselbe, Konstitution und konstitutionelles Kranksein des Menschen. 1881,

. Biographie, allgemeine deutsche, Bd. 8. p . Biographisches Lexikon der hervorragenden Arzte, Bd. 2. . Charles Bonnet, Essai de psychologie du considerations sur les opera-

tions de âme sur l'habitude et sur le’édication. Loudres 1755.

Charles Bonnet, Principes philosophiques sur la cause premiére et sur son effét. 1755.

Derselbe, Consideration sur les corps organisés. 1760.

Derselbe, Contemplation de la nature. Yverdon 1767.

Derselbe, La palingénésie philosophique, du ideés sur létat passé et sur l’état futur des êtres vivans. Genéve 1769.

Derselbe, Philosophische Palingenesie oder Qedanken über den ver- gangenen und zukünftigen Zustand lebender Wesen. Aus dem Französischen mit Anm. von J, K. Lavater. Zürich 1769—70.

Derselbe, Essai analytique sur les facultés de l’äme. (Analytischer Versuch über die Seelenkräfte. Aus dem Französischen mit Zu- sätzen von Chr. A. Schütz.) Bremen und Leipzig 1770 —71.

. Burger-Villingen, Das Geheimnis der Menschenform. 4. Auflage.

Selbstverlag des Verfassers. Berlin W., Steglitzerstr. 32.

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. Gaupp und Mauz, Krankheitsentstehung und Mischpsychosen. Ztschr.

f. d. ges. Neurologie u. Psychologie Bd.I, 1926.

. Georg Geßner, 1, K. Lavaters Lebensbeschreibung. Winterthur 1802. . Wilhelm His, Verhandlungen des 28. Deutschen Kongresses für innere

Medizin. 1914, 8.15.

. Carl Huter, Illustriertes Handbuch der praktischen Menschenkenntnis.

Verlag Amandus Kupfer, Schwaig-Nürnberg 1923.

. I. K. Lavater, Physiognomische Fragmente. Bd. 1—IV. Winterthur

1775 78,

. Derselbe, Hundert physiognomische Regeln. Herausgegeben von

Georg Geßner. Zürich 1802. |

Derselbe, Denkschrift zur 100. Wiederkehr seines Todestages. Heraus- gegeben von der Stiftung von Schnyder von Wartensee. Zürich 1902,

Mac-Auliffe, Les origines de la morphologie humaine. Bulletin de la société d’Etude des formes humaines III, 1925.

Österreichers anatomische Steinstiche. München 1829,

Ve Rutkowski, Die Wurzeln der modernen Populär-physiognomik usw. 61

48, v. Rohden-Halle, Über den Stand der Konstitution und Körperbau- forschung. Sitzung vom 23. II. 1927. 19. C. Sigaud, Essai de interpretation de évolution individuelle de Phomme par la morphologie abdominale. 1904. Derselbe, La forme humaine. 1914. 20. R. Stiller, Die asthenische Konstitutionskrankheit. 1907. 21. Franz Weidenreich, Rasse und Körperbau. Springer, Berlin 1927. 22. Wunderlich, Über die Notwendigkeit einer exaktern Beobachtung der Gesamtkonstitution bei Beurteilung und Behandlung der Krankheiten. Arch. d. Heilkunde 1860, S. 79. Derselbe, Pathologie. II. Auflage. 1852.

Augenbefunde bei Geisteskranken und Epileptikern’). Von

Dr. S. Kaminskaja-Pawlowa, Assistent der Augenklinik und Dr. H. Goldbladt, ehem. Assistent der psychiatr. Klinik.

Die Veranlassung zur vorliegenden Untersuchung boten mehrere Erwägungen, nämlich:

1. Die in der Literatur niedergelegten Angaben über Ergebnisse ophthalmologischer bzw. ophthalmoskopischer Untersuchungen bei Geisteskranken als auch Epileptikern enthalten viele krasse Wider- sprüche, die zum Teil bis auf den heutigen Tag nicht geklärt sind.

So fanden beispielsweise Tyson und Clark bei Kranken mit Dementia praecox seitens des Augenhintergrundes konstante, angeblich dem klini- schen Verlauf des Leidens entsprechende Veränderungen, dagegen konnten die allermeisten Autoren bei dieser Krankheitsgruppe keine oder nur. seltene pathologische Veränderungen am Fundus entdecken.

2. Das vorliegende Thema ist, von kasuistischen Mitteilungen abgesehen, in der neueren Fachliteratur sowohl der ophthalmo- logischen als psychiatrischen fast gar nicht behandelt worden.

Wir glauben das behaupten zu dürfen, da wir für den Zeitraum 1916—1927 nur eine einzige Veröffentlichung, die sich auf systematische

Augenuntersuchungen an einem größeren Material bezieht (Ditroi, s$. u.), ausfindig machen konnten.

3. Die allmähliche Umwandlung der psychiatrischen Diagnostik (im Sinne klinisch-nosologischer Einteilung der Geisteskrankheiten an Stelle symptomatologischer) ist dazu angetan, die betr. positiven oder negativen Augenbefunde heutzutage in anderem Licht erscheinen zu lassen.

Man denke nur an das Absterben der früher so stark vertretenen Paranoiadiagnose und an das gewaltige Anwachsen der als Dementia praecox (Schizophrenie) diagnostizierten Fälle.

1) Aus der psychiatrischen Klinik der Weißrussischen Staats- universität Minsk (Direktor: Prof. A. Lentz).

Augenbefunde bei Geisteskranken und Epileptikern. 63

Die einschlägige Literatur findet sich in den großen Arbeiten von Pilez und Wintersteiner (1904), Wintersteiner (1910), Uhthoff (1915).

Als erster hat 1856 Ludwig Augenspiegeluntersuchungen bei Geistes- kranken angestellt. Seitdem häuften sich in großer Anzahl Mitteilungen über systematische ophthalmoskopische und ophthalmologische Untersuchungen an psychiatrischem Material.

Das größte Material (6400 Fälle) umfaßt die Arbeit von Wollenberg (1889), jedoch durch Zusammenwerfen ätiologisch nicht zusammen- gehöriger Geisteskrankheiten in die Gruppe funktioneller Psychosen „wird ein großer Teil der sonst so wertvollen Statistik Wollenbergs für den angestellten Zweck unverwertbar‘“ (Pilez und Wintersteiner).

Von neueren Veröffentlichungen können wir, wie gesagt, nur die Mitteilung Ditrois (1922) über Augenuntersuchungen an 109 geistes- schwachen Kindern (darunter viel heredo-luetische) nennen,

Unsere Untersuchungen (1927) beziehen sich auf 262 Kranke der Minsker psychiatrischen Universitätsklinik, ferner 15 Epileptiker, welche zur Ergänzung des Untersuchungsmateriales aus der poli- klinischen Ambulanz herangezogen wurden.

Nach den klinischen Diagnosen verteilen sich die untersuchten 277 Fälle (170 M., 107 W.) folgendermaßen:

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Sonstige Psychosen (durch je 1 Fall vertreten). 8

Sämtliche Epilepsiefälle, welche in das klinische Bild der genuinen Epilepsie hineinpassen und weit vorgeschrittene Krankheitsprozesse (mit Demenz, schweren Krampfanfällen oder Aquivalenten) betreffen, gelangten in anfallsfreien Perioden zur Untersuchung. Kaum angedeutete oder zweifelhafte Befunde wurden nicht berücksichtigt. Die Untersuchungsresultate wurden sofort notiert. Die ophthal- mologischen: Untersuchungen sind an beiden Augen, nach Atropini-

64 Kaminskaja-Pawlowa und Goldbladt,

sierung des einen, im umgekehrten Bild bei konkavem Spiegel vor- genommen worden. Von den Refraktionsarten zogen wir bloB die Myopia gravis als entsprechende Anomalie in Betracht und beriick- sichtigten nicht die anderen Refraktionsarten, weil diese ja heutzutage nicht als Anomalien, sondern als Varianten der Refraktion aufgefaBt werden. In den Kreis unserer Untersuchungen schlossen wir einige verschiedenartige Erscheinungen ein, welchen frühere Bearbeiter des vorliegenden Themas keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt hatten. Hierher gehören: I. Erweiterung der Augenspalten (derart, daß zwischen dem Rand des Oberlides und dem oberen Rand der Iris ein Sklerastreifen sichtbar ist); IL Enophthalmus; III. Phlyc- taene conjunctivae; IV. Öffnen des Mundes bei Aufforderung die Lidspalten zu erweitern; V. stark braune Pigmentation der Lider (besonders der unteren).

Die Befunde sind, nach Ausschluß der typischen Pupillenbefunde bei den Paralytikern in beigefügter Tabelle (Nr. I) zusammengefaßt.

Im allgemeinen sind die Ergebnisse unserer Untersuchungen als überaus geringfügig zu bezeichnen: die Befunde fallen geradezu dadurch auf, daß sie meist vereinzelt sind.

Diese Ergebnisse stimmen mit den diesbezüglichen, teils negativen, teils spärlichen Resultaten relativ weniger Autoren überein (Nasse, Manz, Schmidt-Rimpler u. a.).

Die krassen Widersprüche in den Angaben verschiedener Unter- sucher über die Häufigkeit von Augenbefunden bei Geisteskranken be- ziehen sich sowohl auf die organischen als sogenannten funktionellen Psychosen und die genuine Epilepsie. Solch ein krasses Auseinander- gehen, welches auch von Autoren neueren Datums (de Lapersonne et Cantonnet) erwähnt wird und bezüglich der Dementia praecox zu Eingang dieser Arbeit hervorgehoben worden ist, sei durch weitere Beispiele

illustriert:

| Am Augenhintergrund von Paralytikern erhob Hirschberg regel- mäßig positive, Gowers meist negative Befunde. Klein verzeichnet unter 49 geisteskranken Epileptikern in 16 Fällen ophthalmoskopische Ver- änderungen; dagegen behauptet Uhthoff: „im großen und ganzen müssen wir die ophthalmoskopischen Befunde bei der genuinen Epilepsie als sehr wenig markant, ja fast negativ rechnen“. Die selbst bei den funk- tionellen Psychosen angeblich festgestellten Fundusveränderungen (Klein, Borysiekewiez, Lukacs und Markbreiter) werden von den meisten Unter- suchern negiert.

Die Ursachen eines derartigen Wirrwarrs wären, wenn man das in den Arbeiten von Wintersteiner und Uhthoff hierüber Gesagte zusammen- faßt, folgende: Schwierigkeit der Abgrenzung physiologischer Fundus- befunde von pathologischen; verschiedenartige Technik der Spiegelung; Einfluß von Pupillenweite, Zustand der brechenden Medien und Pigment-

Augenbefunde bei Geisteskranken und Epileptikern. 65

gehalt des Augenhintergrundes; EinfluB des Alters des Patienten; Auto- suggestion seitens des Untersuchers durch die Kenntnis feiner anatomischer Gehirnveränderungen bei einigen Psychosen einerseits, durch vorheriges Wissen der psychiatrischen Diagnose andererseits. Diesen Ursachen sind hinzuzufügen: geringe Zahl der untersuchten Fälle; Berücksichtigung prozentuell geringfügiger Augenbefunde, wie sie auch bei Gesunden er- hoben werden; betrefis mancher Augenbefunde unzureichende oder fehlende Kontrolluntersuchungen bei Gesunden.

Schaltet man die organischen Fundusveränderungen bei den Patienten mit Paralyse, Lues cerebri, Oligophrenie aus, Verände- rungen, die, in allerdings verschiedenem Maße, von sämtlichen Unter- suchern hervorgehoben werden, so wären unter den von uns erhobenen Befunden bloß beachtenswert 1):

A. Vereinzelt festgestellte Veränderungen seitens des Fundus und dessen Gefäßen sowie der Pupillen (hinsichtlich Differenz und fehlender Reaktion) in der Schizophreniegruppe.

B. Der Nachweis gewisser Degenerationszeichen in den Gruppen der Schizophrenie, Epilepsie und Oligophrenie. Hierher gehören: Myopia gravis, Astigmatismus, Coloboma iriditis, Strabismus und eventuell einige Bildungsanomalien der Fundusgefäße.

C. Einzelne Sympathikusstörungen bei manisch-depressiven Kranken, als Erweiterung bzw. Verengerung der Lidspalten, En- ophthalmus, Mydriasis.

D. Das Vorkommen von Phlyktäne bei Epileptikern.

E. Starke braune Pigmentation der Lider, besonders der unteren, bei einer leicht debilen Hysterika.

F. Öffnen des Mundes nach Aufforderung die Augen aufzu- sperren bei einigen Geisteskranken.

ad A. Unsere dürftigen Untersuchungsresultate betr. der Schizo- phreniker widersprechen nicht nur den Massenbefunden mancher Autoren (Blin, Tyson und Clark), sondern auch den eingeschränkteren Angaben Wintersteiners, entsprechen vielmehr den Hinweisen von Uhthoff, Albrandt, „daß bei der Dementia praecox keine charakte- ristischen Augenspiegelveränderungen vorkommen“. Die von den Untersuchern offen gelassene Frage, ob die (von uns in geringer An- zahl gefundenen) Veränderungen des Augenhintergrundes und dessen Gefäßen bei diesen Kranken mit dem Wesen des Leidens verknüpft sind oder zufällige Nebenerscheinungen darstellen, wird auch unserer-

1) Von einer Beleuchtung dieser oder jener Befunde in Krankheits- gruppen, die weniger als 20 Fälle aufweisen, ist, mit Ausnahme von einem Fall (Hysterie + Debilitas), Abstand genommen worden.

Zeitschrift für Psychiatrie. LXXXIX. 5

Kaminskaja-Pawlowa und Goldbladt,

66

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Ophtalmoskopische Befunde

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67

Augenbefunde bei Geisteskranken und Epileptikern.

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68 Kaminskaja-Pawlowa und Goldbladt,

seits dahingestellt. Jedoch erscheint uns die erstere Annahme wahr- scheinlich, denn in der obigen tabellarischen Aufstellung fallt der quantitative Unterschied zwischen den positiven Augenspiegelbefunden bei den Schizophrenikern (20:114=18%) und den Manisch- depressiven (1:29 —314%,) auf. Die Erhärtung eines solchen Unter- schiedes in bezug auf diese beiden großen nosologischen Formen- kreise wäre von erheblichem Interesse, insofern als ja beim manisch- depressiven Irresein, im Gegensatz zur Schizophrenie, auch hirn- histologische, serologische und biochemische Untersuchungen nahezu negative Ergebnisse aufweisen.

Die bei Katatonikern selten vorkommende absolute Pupillen- starre, welche in einem unserer Schizophreniefälle (ohne Anzeichen von Lues, mit negativer W.-R.) konstatiert wurde, ist kasuistisch bemerkenswert, da dieser Fall in die paranoide Untergruppe der Schizophrenie gehört.

ad B. Die Feststellung der obenerwähnten Degeneration szeichen seitens der Augen in den Gruppen der Schizophrenie, Epilepsie, Oligo- phrenie, d.h. in Krankheitsgruppen, welche meist auf hereditär- degenerativer Grundlage beruhen, steht im Einklang mit der Be- hauptung von Pilcz und Wintersteiner, daß hierbei ‚eine gewisse Beziehung und ein gewisser Zusammenhang nicht gut geleugnet werden kann‘‘. Die Untersuchungsresultate dieser Autoren sprechen nämlich dafür, „daß bei den Psychosen, welche auf Degeneration beruhen bzw. bei ernstlich belasteten Individuen sich vornehmlich zu entwickeln pflegen, sich auch im Augenhintergrunde relativ viel häufiger angeborene Anomalien finden, von denen die Mehrzahl als Degenerationszeichen gedeutet werden kann, als bei den anderen Geisteskrankheiten, bei welchen Heredität keine Rolle spielt‘“. Allein die entsprechenden Massenbefunde dieser und einiger anderer Autoren wurden an dem von uns untersuchten Krankenmaterial nicht be- stätigt.

ad C. Nicht nur Mydriasis, sondern auch Enophthalmus sowie Erweiterung der Lidspalten bei manchen Geisteskranken sind als Sympathikusstörungen (im Sinne von Reizung bzw. Hemmung) aufzufassen. Solche Erscheinungen bieten in klinisch-psychiatrischer Hinsicht beträchtliches symptomatologisches und physiognomi - sches Interesse, werden aber, mit Ausnahme der Mydriasis, gemein- hin psychiatrischerseits verhältnismäßig wenig beachtet. Sie fanden sich an unserem Material in charakteristischer Weise hauptsächlich

Augenbefunde bei Geisteskranken und Epileptikern. 69

beim manisch-depressiven Irresein 1), also dort, wo die emotionellen Störungen im Vordergrund stehen. (Von den beiden doppelseitigen Enophthalmusbefunden betrifft einer die depressive Phase von manisch-depressivem Irresein, der andere eine depressive Form der Schizophrenie; von den beiden einseitigen Enophthalmusbefunden bezieht sich einer auf Epilepsie, der andere auf einen Mischzustand bei manisch-depressivem Irresein.)

ad D. Phlyetaene conjunctivae, welche unter den untersuchten 60 Epileptikern in zwei Fällen (einmal mit Keratitis), festgestellt worden ist, hat auch einer von uns (G.) in psychiatrischer Anstalts- tätigkeit öfters beobachtet; die Phlyktäne trat gewöhnlich vor Äqui- valenten oder schweren Krampfanfällen auf und hielt durchschnittlich 1—1¥% Wochen an. Die Ansicht einiger Autoren geht dahin, daß die Phlyktäne eine Reaktion der (unter dem Einfluß des Tuberkulose- toxins veränderten) Konjunktivagewebe sowohl auf äußere Reize als innere, u. &. Infektionen und Intoxikationen, darstellt. Da nun für den epileptischen Anfall Autointoxikationsprozesse in Betracht kommen, erheischt der vorliegende Befund Beachtung. (Diesbezügliche Angaben fanden sich nicht in der uns zu Gebote stehenden Literatur.)

ad E. Die bei einer 22 jährigen, leicht debilen Hysterica kon- statierte stark braune Pigmentation der Lider, besonders der unteren, ist u. E. mitteilenswert, weil bei Hysterie eine verhältnismäßig seltene Pigmenterscheinung seitens der Lider, und zwar hauptsächlich der unteren, in Form der sogenannten ,,Chromhidrosis‘‘ beschrieben worden ist (s. Schmidt-Rimpler: ‚Gewöhnlich konstatiert man bläu- liche Färbung verschiedener Nuancierung.... Die Färbung kann auch schwarz oder braun sein‘) 2). In einigen derartigen Fällen konnte Simulation nachgewiesen werden, in den anderen handelte es sich offenbar um pigmentierte Schweißabsonderung, wobei die Verfärbung nach Abreiben mit Öl schwand. In unserem Fall wurde übrigens das Aussehen der pigmentierten Hautpartien nach Abreiben mit Öl, Waschen mit Wasser und Seife, Spiritus nicht verändert.

ad F. Das Öffnen des Mundes bei Aufsperren der Augen in vier Fällen (von denen sich zwei auf Epilepsie und je ein Fall auf Schizophrenie und Oligophrenie beziehen) ist als infantile Erscheinung bei den betreffenden erwachsenen Geisteskranken, d. h. als Regression

1) An dieser Stelle sei auf das von Protopopow beim man.-depr. Irresein beschriebene Syndrom hingewiesen: Mydriasis, Tachykardie, Verstopfung.

2) Dieses Zitat ist hier aus der russischen Übersetzung zurück- übertragen.

70 Kaminskaja-Pawlowa und Goldbladt, Augenbefunde usw.

zu bewerten. Nähere Hinweise auf den infantilen Charakter des vor- liegenden Phänomens sowie die eigenartigen, engen Beziehungen zwischen Öffnen des Mundes und LEN ONOEULE der Lidspalten finden sich in der Arbeit von Villard.

„Für die Hirnpathologie ist er Augenspiegeluntersuchung be- kanntlich ein überaus wichtiges Hilfsmittel geworden. Bei Geistes- kranken dagegen sind ihre Ergebnisse leider noch allzu unsichere geblieben, als daß man ihr heute einen wesentlichen Wert für die Diagnostik zuerkennen könnte.“ Diese Worte Kraepelins haben in praktisch-diagnostischer Beziehung nicht nur für die ophthalmoskopi- schen, sondern auch für sonstige Augenbefunde bei Geisteskrankheiten Gültigkeit. Jedoch darf ein gewisser, wenn auch nicht gerade wesent- licher, diagnostischer Wert, ebenso theoretische Bedeutung all der- artigen Untersuchungen nicht abgesprochen werden.

Literatur.

4. Düroi, Augenuntersuchungen an geistesschwachen Kindern. Sitz. d. Ungar. Ophthalmol, Ges. 5. Juni 1922. Referat: Monatshefte f. Augenheilk., Bd. 69, S. 141, 1922.

2. Kraepelin, Psychiatrie, 8. Aufl., I. Bd., S. 466, 1909. |

3. de Lapersonne et Cantonnet, Manuel de Neurologie oculaire. Masson & Cie., Paris, 2. Edit., p. 312, 1923.

4, Ludwig, Aufforderung zum Gebrauch des Augenspiegels bei Irren. Allg. Zeitschr. f. Psychiatrie Bd. XIII, H. 1, S. 72, 1856.

5. Pilez und Wintersteiner, Über Ergebnisse von Augenspiegelunter- suchungen an Geisteskranken mit besonderer Berücksichtigung der kongenitalen Anomalien. Zeitschr. f. Augenheilk. Bd. XII, H.6, S. 729, 1904.

6. Protopopow, Ein somatisches Syndrom, welches im Verlauf des man.- depr. Irreseins beobachtet wird. Nautschnaja Medizina, 1920, Nr. 7 (russ.).

7. Schmidt-Rimpler, Die Krankheiten des Auges im Zusammenhang mit anderen Krankheiten, 1898.

8. Villard, Le phénomène de Marcus Gunn. Archives d’ophthalmologie Aout 1925, p. 513.

9, Wintersteiner, Die Erkrankungen des Augenhintergrundes bei Psy- chosen. Zeitschr. f. Augenheilk. Bd. XXIII, S.156, 1910.

10. Wollenberg, Uber kongenitale Anomalien des Auges bei Geisteskrank- heiten und deren diagnostische Bedeutung unter spezieller Bertick- sichtigung des Conus nach unten. Charité-Annalen XIV, S, 470, 1889.

11. Uhthoff, Uber die Augensymptome bei den Erkrankungen des Nerven- systems. Graefe-Saemisch-Heß, Handb.d. ges. Augenheilk., 2. Aufl. Bd. IX, Abt. 2 B (S. 31, 1556, 1568, 1586, 1630, 1663) 1915.

Bericht über das Irrenwesen des Auslandes.

XV.

Der I. allrussische Kongreß der Nervenärzte und Psychiater vom 18.—23. Dezember 1927 in Moskau. Von | Prof. Dr. W. Guilarowsky.

Der Kongreß war sehr belebt: 768 Kollegen nahmen an dem Kongresse teil, unter denen sich 288 Nervenärzte, 388 Psychiater und 78 Herren, die sich als Psychoneurologen gemeldet hatten, be- fanden. Es ist ganz natürlich, daß der Kongreß von Moskau am zahlreichsten mit 317 Fachmännern besucht war; Leningrad hatte 72 Vertreter, die Ukraina 149 und der Nord-Kaukasus 35. Es waren auch Kollegen dabei, die aus den entferntesten Gebieten der U. S. S. S. gekommen waren. Alle 25 Universitäten waren vertreten. Auffallend groß war die Zahl der weiblichen Ärzte: 277; das ist eine neue Er- scheinung, die bei den Kongressen vor der Revolution nicht vor- handen war und von unzweifelhaften Fortschritten der medizinischen Frauenbildung zeugt. Aus der großen Zahl der eingeladenen west- europäischen Gelehrten nahmen die Einladung nur der Prof. F. Lewi und Jakobson Lask aus Berlin an. Prof. Förster hatte einen Vortrag über Epilepsie angemeldet, kam aber schließlich gar nicht.

Die Hauptthemata wurden ein Jahr vor dem Zusammenrufen des Kongresses bestimmt. Es waren vielleicht derer zu viel, nämlich die exogenen Störungen, die Neurosyphilis, die Epilepsie, die viszerale Semiotik und die Diagnostik.

Für diese Themata hatten sich zahlreiche Referenten gemeldet und sehr viele Vorträge wurden gehalten; ihre Zahl erreichte 250! Den Themen, die außer dem Programm standen, wurde nur ein Tag gewidmet; an diesem arbeiteten fünf Sektionen gleichzeitig, mehr als 100 Vorträge wurden gehalten. Die übrigen Vorträge wurden in vier Vollsitzungen erledigt. Bei einem so reichen Material ist es

72 Bericht über das Irrenwesen des Auslandes.

selbstverständlich nicht möglich, einen auch nur kurzen Bericht über alle Vorträge zu erstatten. Man ist gezwungen, sich mit einer Mitteilung über die Hauptvorträge zu begnügen und kann nur eine allgemeine Vorstellung von der Arbeit des Kongresses geben, um so mehr, als die bedeutendsten Arbeiten in verschiedenen Zeitschriften gedruckt werden.

Am 18. Dezember wurden die Vorträge: ‚die exogenen Formen der Seelenkrankheiten“ (Prof. D. Frank aus Ekaterinoslaw) und „Über Genesis und Struktur der exogenen Erkrankungen‘ (von Prof. Guilarowsky aus Moskau) gehalten. Der erste berichtete seine Beobachtungen über psychische Veränderungen, die mit dem Hungern und den Infektionen verbunden sind, der zweite gab eine Übersicht verschiedener Bilder, die zu dem sogenannten exogenen Typus der Reaktion Bonhöffers gehören, vom Standpunkte der physiologischen Grundprozesse, die in dem Nervensystem stattfinden: der Erregung, ihrer Irradiation und der Hemmung, der Konzentration im Sinne der Teilnahme der oder jener zerebralen Mechanismen. Der dritte Vortrag von Prof. Astwatzoturow war den exogenen Nervenkrank- heiten gewidmet. |

L. J. Brussilowsky hielt im Namen einer speziellen Kommission, an der noch W. Bruchansky und T. Segalow teilnahmen, einen Vortrag „Über das Erdbeben in der Krim“. E. Krasnuschkin sprach „Von der Psychogenie‘‘. M. Kutanin (aus Saratow) berührte „Die Fragen der Theorie und der Praxis des Morphinismus‘*. Anziferow (aus Tasch- kent) hielt einen Vortrag „Der Haschischismus (Naschismus) in Turkestan“. Professor A. Grünstein und Popowa (aus Charkow) teilten die Resultate der experimentellen Forschungen über die Wirkung des Manganerzes auf das Nervensystem mit. Jewletowa (aus Charkow) sprach von der Wirkung des Bleis auf das Nerven- system der Tiere. J. Robinson (Moskau) berichtete von den Ver- änderungen des Mitochondrium in den Zellenelementen des Nerven- stoffes unter dem Einfluß der Röntgenisation.

19. XII. Der Vortrag des Professors M. Margulis (aus Moskau) berührte die pathologische Anatomie der Neurosyphilis, die patho- logische Anatomie, Morphologie und Biologie der Spirochäte, die Serologie, die klinischen Hauptsymptomkomplexe und die Therapie der Neurosyphilis. Zwei andere Hauptvorträge, der von R. Galant (aus Leningrad) und der von M. Gurewiez (aus Moskau) beleuchteten die psychiatrische Seite der behandelten Frage. Die Hauptthesen des Vortrages von R. Galant (Die Neurolues in der Psychiatrie) waren:

Guilarowsky, Der I. allrussische Kongreß der Nervenärzte usw. 73

Die Syphilis des Gehirnes ruft entweder unmittelbar Geistesstörungen hervor oder sie wirkt in verschiedener Form und verschiedenem Grade auf die Entstehung und die Struktur einer Psychose, die eine andere Pathogenie hat. Aus der Gruppe der syphilitischen Psychose muß man die progressive Paralyse ihres eigenartigen klinischen, sero- logischen und pathologisch-anatomischen Bildes, ihres Verlaufes und Ausganges wegen ausscheiden. Das Vorhandensein der gemischten und der Übergangsformen widerspricht solcher Aufteilung keines- wegs. Die am häufigsten vorkommende Grundform der syphilitischen (nicht paralytischen) Psychose ist die einfache oder demente Form. Die Hauptsymptome dieser Form kommen in verschiedenem Grade bei allen anderen Formen der syphilitischen Seelenstörungen vor; oft sind sie durch akzessorische Symptome maskiert, lassen sich aber leichter oder schwieriger bei der Analyse des Symptomkomplexes entdecken. Die zweite Form der Seelenstörung, die uns fast ebenso oft bei Gehirnsyphilis begegnet, ist die paranoide-halluzinatorische Form, bei der man an die Bedeutung einer angeborenen Prädisposition für ihre Entstehung denken muß. Den Zusammenhang der depressiven, zirkulären und katatonischen Form der sypbilitischen Psychose mit der syphilitischen Verletzung des Gehirnes muß man für minder eng halten. Es ist möglich, daß in diesen Fällen die provozierende Wirkung der Syphilis stattfindet. Die Krampfanfälle treffen sich bei jeder Form der Hirnsyphilis. Die syphilitische Epilepsie kommt seltener vor.

Der Vortrag von M. Gurewiez „Zur Klinik und pathologischen Anatomie der Psychose auf Grundlage der Syphilis“ ist auf der Er- forschung eines großen anatomischen Materials und auf deren Zu- sammenstellung mit der Klinik gebaut. Seiner Meinung nach wird die Syphilis des Gehirnes klinisch sehr oft verkannt. Die Mannig- faltigkeit und Buntheit der syphilitischen Psychosen hängt nicht nur von dem Unterschied der Formen des anatomischen Offenbarens, sondern auch von der Verschiedenheit der Lokalisation ab; bei manchen syphilitischen Psychosen können die neurologischen Symptome fast gänzlich fehlen und im einzelnen kann das Krankheitsbild Ähnlichkeit mit der Schizophrenie haben; dabei erscheinen wiederum von den Eigentümlichkeiten der Lokalisation abhängig katatonische oder paranoide Formen. Besondere Aufmerksamkeit verdient die Invalidität des Gehirnes auf Grund von Syphilis. Infolge einer solchen Invalidität, mit chronischen Veränderungen der Gefäße, welche unspezifisch sind oder ihre Spezifität verloren haben, verbunden, entstehen bei heftigen Infektionen (Pneumonie, Pleuritis, Wochenbetterkrankungen)

74 Bericht über das Irrenwesen des Auslandes.

schwere, oft tödliche Psychosen. Der Vortrag von W. Belezky (Moskau) über die Verteilung der Spirochäte im Gehirn der progressiven Para- lytiker, welcher von einer Demonstration der Diapositive begleitet wurde, ergänzte die Hauptvorträge. Besonders lebhaft wurde von einer großen Zahl der Referenten, die aus verschiedenen Städten kamen, die Frage von der unspezifischen, insbesondere der Malaria- therapie der progressiven Paralyse debattiert, welche bei allen mehr oder weniger günstige Resultate ergeben hatte.

Der 20. Dezember war der Epilepsie gewidmet. Professor L. S. Minor konzentrierte seine Aufmerksamkeit hauptsächlich auf die Bekämpfung der Epilepsie. Der beste Weg dazu ist die kollektive, im universellen Maßstabe durchgeführte Form der Erforschung der Epilepsie in bezug auf Rassen, Nationalitäten, Arbeitsformen, Er- nährung, professionelle Intoxikationen und Infektionen, Wohnungs- verhältnisse, Übermüdung, physische und psychische Traumen usw. Diesem Ziele soll die Internationale Ligue der Bekämpfung der Epi- lepsie, die im Jahre 1909 gegründet wurde, mit dem Generalsekretariat in Amsterdam dienen. Professor W. Choroschko behandelte in seinem Vortrage: „Die Fakta, Begriffe und Probleme in der Pathologie der Epilepsie‘‘ die Fragen der Genesis. Die Epilepsie ist eine Krankheit, die sich durch Anfälle ausdrückt, welche in Beziehung zu einer ganzen Reihe äußerer und innerer Momente stehen beim Vorhandensein einer Prädisposition. Zu den exogenen Momenten der Epilepsie rechnet er die Infektion, die Intoxikation, die Traumen, die kosmischen und atmosphären Einflüsse, die emotionellen und reflektorischen Reizungen. Die endogenen Faktoren der Epilepsie sind: die Alterseigentümlich- keiten, die Störungen der Blutzirkulation, die Veränderungen im Blute, die Störungen des Stoffwechsels, die endokrinen Verstimmungen, die Autointoxikationen. Man kann sich vorstellen, daß die Ent- wicklung des epilepsieformen Anfalles im Organismus bei dem Vor- handensein besonderer Prädispositionen, vieler Ursachen, vieler Beweg- gründe und einer gestörten biologischen Standhaftigkeit des Organis- mus seitens des allgemeinen Stoffwechsels stattfindet. Das Vorhanden- sein eines Lokalprozesses (Enzephalitis, Trauma, Narbe usw.) er- leichtert den Anfang des Prozesses (Aura). M. I. Korotniew hat einige Erfahrungen über die Behandlung der Epilepsie mitgeteilt. Der Schwerpunkt des vierten Hauptreferenten M. Sereyski (Epilepsie und epileptische Konstitution) liegt in der Unterscheidung zweier Typen: der aggressiv-affektiven und der defensiven Epileptiker.

Der vierte Tag wurde der Prüfung organisatorischer und pro-

Guilarowsky, Der I. allrussische. Kongreß der Nervenärzte usw. 75

phylaktischer Fragen gewidmet. Ihre Wichtigkeit fürs ganze Land wurde durch die Anwesenheit des Volkskommissärs des Gesundheits- wesens Prof. N. A. Stemaschko hervorgehoben. Der Einheit des Ein- druckes wegen muß man den Vortrag von L. A. Prosoroff, der den Charakter eines Berichtes trug, an die Spitze stellen: Die gegen- wärtige Lage der neuropsychiatrischen Hilfe in RUFSR. Es gibt in RUFSR 72 psychiatrische Krankenhäuser, Kolonien und Abteilungen für Geisteskranke mit der allgemeinen Zahl von 21100 Betten. Durch diese Anstalten sind während des Jahres 1926 60184 Geisteskranke gegangen (38568 Männer und 21616 Frauen), die 7166546 Tage im Bette verbracht haben. Durchschnittlich hat ein Kranker 119 Tage im Bette verbracht, jedes Bett wurde im Laufe des Jahres in drei Perioden benutzt. Die Zahl der Betten ist äußerst ungenügend. Ein Bett soll 5000 der Bevölkerung dienen, oder genauer gesagt, muß auf 1000 Menschen 0,21 Bett genügen. Aus der Zahl von 1658 Menschen konnte nur ein Kranker behandelt werden. Die Krankenbetten sind sehr ungleichmäßig verteilt; 4570 davon befinden sich im Moskauer Gouvernement und 2910 im Gouvernement von Leningrad. Eine ganze Reihe von Bezirken, Gouvernements und Republiken hat auf ihrem Territorium keine einzige Anstalt für die psychisch Kranken und benutzt die Betten in den benachbarten Gouvernements, die in sehr ungenügender Zahl vorhanden sind. Patronagenbetten gibt es gegen 1400, darunter befinden sich fast 1200 im Moskauer Gouvernement und in Moskau. Unter der Bevölkerung bleibt eine große Zahl der Geisteskranken, die eine stationäre Behandlung bedarf, schwer zu pflegen ist und soziale Gefahren bietet. Besonders schlimm steht es mit der Fürsorge der geisteskranken Kinder.

Nur sehr wenige große psychiatrische Krankenhäuser haben Kinderabteilungen, in den anderen werden die Kinder mit den er- wachsenen Geisteskranken untergebracht. Anstalten für Schwach- sinnige, für Epileptiker gibt es gar nicht.

Die Pflege der Geisteskranken außerhalb der Krankenhäuser beginnt sich erst zu entwickeln. Wir wollen nur die psychiatrische Organisation des Moskauer Distrikts mit der ambulatorischen Be- handlung der Kranken, den Heimbesuchen, der organisierten Ab- sendung der Kranken in die Anstalten, die Organisation der Bezirk- psychiater in Leningrad und in Rostow am Don und die Ärzte-Psycho- neurologen in den Bezirken des Moskauer Gouvernements erwähnen. Zu den Fortschritten der letzten Zeit gehört die Verbreitung eines ganzen Netzes von neuropsychiatrischen Dispensairen nach dem Muster

76 Bericht über das Irrenwesen des Auslandes,

des neuropsychiatrischen Staatdispensairs in Moskau. Dispensaire befinden sich in Wjatka, Woronesch, Leningrad, Ufa, Briansk, Orel, Pensa, Tambow, Twjer, Rostow am Don, Nijni-Nowgorod. Die Gründung eines Dispensairs oder eines Ambulatoriums ‚an einer psychiatrischen Anstalt, die Teilnahme der Ärzte-Psychiater an der allgemeinen Dispensairisation fördert außerordentlich die Arbeit des Krankenhauses.

Was die Frage der Bekämpfung des Alkoholismus und die Organi- sation der Behandlung der Alkoholiker anbetrifft, so muß man die von höheren Regierungsorganen ins Werk gesetzte Durchführung einer Reihe von Verordnungen notieren, welche die prophylaktische Behandlung und die kulturelle Aufklärungsarbeit im Kampf mit dem Alkoholismus zum Ziele haben; dabei muß man erwähnen die Anordnungen über die Beschränkung des Verkaufes der geistigen Getränke, die in den Provinzen erfolgte Gründung spezieller Kom- missionen, welche die Erforschung des Alkoholismus bezwecken, die Berechtigung der Bezirksbehörden zu Verordnungen privaten Per- sonen Branntwein für den persönlichen Gebrauch zu verbieten, die Zwangsbehandlung des Alkoholismus usw. Eine besondere wissen- schaftliche Kommission für die Bekämpfung des Alkoholismus wurde gegründet. Im Kampf mit dem Alkoholismus muß man das Wachs- tum der sanitären Aufklärungsarbeit hervorheben, außerdem wurde vom Volkskommissariat des Gesundheitswesens Platz für 150 Alkohol- kranke geschaffen. In den psychiatrischen Krankenhäusern der Bezirke wurden für solche Kranke 80 Betten reserviert; in der Provinz muß man die Tätigkeit der Narkodispensaire und Narkopunkte der Moskauer Abteilung des Gesundheitswesens und die Arbeit der Alkohol- kabinette mancher neuropsychiatrischen Dispensaire erwähnen.

Die neurologische Hilfe ist ungenügend. In der ganzen RUFSR gibt es 2122 Betten für Nervenkranke in den Hauptstädten der Gou- vernements, 163 Betten in den Provinzen, 609 in den Sanatorien, 15 Betten für die Chroniker (!), 173 Ambulatorien in den Gouverne- ments und Bezirkstädten, 14 in der Provinz und die oben erwähnten 12 neuropsychiatrischen Dispensaire. Anstalten für Epileptiker gibt es gar nicht.

L. M. Rosenstein gab in seinem Vortrage „Die Psychiatrie und die Prophylaxe der nervenpsychischen Gesundheit‘‘ ein umfassendes Programm der Arbeit, das den russischen Bedingungen und dem Übergange von der ärztlichen Behandlung zur Prophylaxe angepaßt ist. Die Hauptpunkte seines Vertrages lauten: Die Lehre von den

a es eua Saag, Tp

Guilarowsky, Der I. allrussische Kongreß der Nervenärzte usw. 77

Grenzzuständen, von den Psychopathien und Psychoneurosen, der enge Zusammenhang der Psychiatrie mit der übrigen Medizin, die psychotherapeutische Bewegung haben die theoretischen Aufgaben der Psychiatrie erweitert und ihren Übergang von den Aufgaben des in Obhut-Nehmens zu der ärztlichen Behandlung und dann zur Prophylaxe bereitet. Die allgemeinen Methoden des Gesundheits- wesens des Sowjetlandes, die Fortschritte der sozialen Hygiene im Kampfe mit den sozialen Krankheiten haben die Wege der prophylak- tischen Neuropsychiatrie bestimmt. Die Anwendung ,,der Dispensair- methode‘ bei den nervenpsychischen Krankheiten erscheint als eine Etappe in der Entwicklung der ,,nervenpsychiatrischen Dispensairi- sation‘, als eines Teiles des ärztlich-prophylaktischen Systems des Gesundheitswesens. Die theoretischen Erwägungen der Psychiatrie, welche mit der sozial-prophylaktischen Richtung verbunden sind, erstrecken sich wie auf die Fragen der Ätiologie, so auch auf die klinische Erforschung der Krankheit selbst und bestätigen in der Psychiatrie wie auch in der übrigen Medizin die materialistische Basis in der vollkommensten Form. Die Psychohygiene muß als eine Synthese der ärztlich-prophylaktischen Psychiatrie mit den allgemeinen sozialen und professionell-hygienischen Zielen erscheinen. Die Prophylaxe der besonderen Formen der Erkrankungen und auch die allgemeine Psychoprophylaxe bilden einen Teil der ganzen ärzt- lichen Front des sozialen Umbaues der Gesellschaft und der Menschen. Die Prophylaxe der neuropsychiatrischen Gesundheit fordert vom Arzte, unbeachtet seiner Spezialität, ein Verständnis der nervenpsychischen Prozesse des Organismus. Darum muß der Unterricht der medizinischen Fakultät die nervenpsychische Sphäre in Betracht ziehen. Die Fürsorge für Mutter und Kind in den Kon- sultationen muß alle Faktoren, die der nervenpsychischen Gesundheit schaden, in acht nehmen. Von der frühesten Kindheit an müssen die nervenpsychischen Besonderheiten der Kinder auf den mikro- psychiatrischen Punkten und in den prophylaktorischen Kinder- ambulatorien in Betracht gezogen werden. Die gerichtlich-medi- zinische und soziale Arbeitsexpertise muß mit Fachpsychiatern ver- sorgt werden, die mit den speziellen Bedingungen der Expertise be- kannt sind. Die wissenschaftliche Erforschung und die Beschützung der Arbeit müssen die Rolle des psychischen Faktors vom patho- psychologischen Standpunkte an in Betracht ziehen. Man muß den Kampf mit dem Alkoholismus, mit dem Tabak und mit anderen Narkotikas nach dem Plane der Sanitarisierung der Arbeit und des

78 Bericht über das Irrenwesen des Auslandes.

Hauswesens, der systematischen Verbannung des Alkohols und des Tabaks, dem Kampfe mit der privaten Bereitung des Branntweines und dem Ubergange zu dem Verbotsystem bauen.

L. J. Brusstlowski und M. P. Nikitin studierten die Fragen der Prophylaktik im Gebiete der Erkrankungen des Nervensystems. N. J. Smielow teilte mit, worin sich seiner Meinung nach die pro- phylaktische Richtung in der Arbeit der psychiatrischen Kranken- häuser selbst ausdrücken kann.

Während der Sitzung des 22. XII. wurden die Fragen der viszeralen Semiotik bei organischen Erkrankungen des Nervensystems (Prof. A. M. Grünstein aus Charkow und Professor B. N. Mogilnizki aus Moskau) und die Erkrankungen der psychischen Sphäre geprüft (J. A. Ratner aus Leningrad). Von ihnen und von den anderen Refe- renten wurde ein kolossales Material über die Symptomatik mit- geteilt, das keineswegs in den Rahmen eines kurzen Berichtes zu- sammengezogen werden kann. In bezug zu den organischen Er- krankungen erklärte es sich, daß die Erforschung der Funktions- störungen des viszeralen Nervensystems kostbares Material für die topische Diagnostik gegeben hat und diese Forschung muß in jedem Falle gleich der des somatischen Nervensystems durchgeführt werden. Von größter Wichtigkeit ist die Untersuchung der Störungen der hautviszeralen Innervation. Der Untersuchung unterliegen die pilo- motorischen, vasomotorischen, sekretorischen, pigmentoforen und trophischen Störungen. Verschiedenen neurotischen Zuständen liegen organische Erkrankungen des vegetativen Nervensystems zugrunde, so kann die ,,Herzensneurose“ z. B. mit der Erkrankung der Nervenknoten, die im Herzen selbst liegen, verbunden sein.

J. A. Rainer hob hervor, daß es keine Möglichkeit gibt, von irgendwelchen Komplexen vegetativer Störungen, die für diese oder jene Psychose charakteristisch wären, zu sprechen. Er deutet darauf, daß nur die verschiedenen vegetativen Störungen im Schädelgebiete und nicht in dem ganzen Organismus von Bedeutung seien.

Am 23. XII. arbeiteten gleichzeitig fünf Sektionen, in denen die Vorträge gehalten wurden, die zu den behandelten Fragen gehörten. Über den Charakter der Vorträge können die Namen der Sektionen eine Vorstellung geben: A. Die klinische Pathophysiologie und die spezielle Pathologie in der Neurologie. B. Die Morphologie, Histo- pathologie, Neurobiologie, hämatoenzephalitische Barriere. C. Die physiologische Psychologie, die Konstitution, die Therapie in der

Guilarowsky, Der I. allrussische Kongreß der Nervenärzte usw. 79

Psychiatrie. D. Die Psychopathologie, die klinische Psychiatrie, die Schizophrenie.

Infolge der außerordentlich großen Zahl der Vorträge bei der verhältnismäßig kurzen Zeit, die der Kongreß dauerte, war es un- möglich, die Arbeit ganz tadellos zu organisieren und in gehöriger Ordnung durchzuführen. Jeder Vortrag außer den Grundvorträgen konnte nicht mehr als 10, sogar 7 Minuten dauern. Viele Vorträge sind deshalb abgekürzt worden und konnten so keine richtige Vor- stellung von ihrem Inhalt und ihrer Bedeutung geben. Aus dem- selben Grunde konnten auch die Debatten nicht in vollem Maße entwickelt werden. Dennoch hatte der Kongreß sehr viel positive Seiten. Wenn er auch keine großen Entdeckungen gebracht hat, so lag seine Bedeutung in der Vervollständigung der Bildung und der Erweiterung des wissenschaftlichen Horizontes der großen Zahl von Ärzten, die aus den abgelegensten Provinzen gekommen waren. Der Kongreß zeigte auch, welch eine große wissenschaftliche und prak- tische Arbeit in der Provinz geleistet wird. Die Ausstellung, die gelegentlich des Kongresses veranstaltet war, zeigte mit den Exponaten aus verschiedenen psychiatrischen Krankenhäusern, mit Kollektionen von Enzephalogrammen, anatomischen Präparaten, Diapositiven, Mikrophotogrammen, den pharmazeutischen Präparaten und der speziellen Literatur die große Produktivität der Arbeit der Kollegen, welche zum Kongreß gekommen waren. Dasselbe muß man von der besonderen Beratung über Organisationsfragen sagen, die das Volks- kommissariat des Gesundheitswesens unmittelbar nach dem Kongreß zusammengerufen hat. Wir hoffen, daß die Assoziation der russischen Psychiater und Nervenärzte, deren Organisation ihren Anfang während des Kongresses genommen hat, größere Einigkeit und Planmäßigkeit in die wissenschaftliche und praktische Arbeit verschiedener Spezia- listengruppen, die über ganz USSR zerstreut sind, bringen und dazu beitragen wird, daß der zukünftige Kongreß völlig harmonisch organi- siert verlaufen wird.

Kleinere Mitteilungen.

Berichtigung zum Versammlungsbericht über die Wiener Versammlung des deutschen Vereins für Psychiatrie (88. Bd. S. 297): |

Forster-Greifswald beantragt: Die Gesellschaft möge über einen Weg beraten, auf dem es möglich ist zu erreichen, daß die psychiatrischen Gutachten vor Gericht auch tatsächlich vom psychiatrisch Sachverstän- digen abgegeben werden. Die Versammlung beschließt, den Antrag unter Zuziehung des Antragstellers der juristischen Kommission zur Beratung zu überweisen.

Die Gesellschaft deutscher Nervenärzte hält ihre diesjährige Jahresversammlung vom 13.—17. September in Hamburg ab. Referate: Über das vegetative Nervensystem und über die somatische Symptomato- logie der Organneurosen.

Die nächste Versammlung des Deutschen Vereins für Psychiatrie soll 1929 am Mittwoch und Donnerstag nach dem Pfingstsonntag in Danzig stattfinden.

Abschluß der Kasse des Deutschen Vereins für Psychiatrie vom 31. März 1928. Bestand am 6. September 1927 ..........cecceeecccees 546,91 RM. Einnahmen: 4. Mitgliederbeiträge:

3 zu 5,— RM. = 45,00 RM.

4 zu 9,80 RM. = .. 9,80 RM.

4 zu 6,— RM. = 6,00 RM.

4 zu 8,80 RM. Bere 8,80 RM.

536 zu 10,— RM. = ... 5360,00 RM.

2. Zinsen von Stolper Bank 0,30 RM.

Zinsen von Stolper Bank 11,80 RM. Zinsen von Stolper Bank 4,76 RM. 5416,46 RM. Gesamteinnahme 5963,37 RM.

Kleinere Mitteilungen. 81

Ausgabe: 4. An den Schatzmeister für Schreibge- | bühren, Porto, Drucksachen usw. .... 182,04 RM. 2. An.den Schriftführer für Schreibge- bühren: USW; 323... Rae eee 380,25 RM.

3. Reisekosten an Vorstandsmitglieder .. 262,30 RM. 4. An die Forschungsanstalt für Psy-

chiatrie München ...........sc2000. 2000,00 RM. 5: Für 1 Kranz ae ee 65,00 RM. 2889,59 RM.

bleibt Bestand 3073,78 RM.

Der Bestand setzt sich zusammen aus: 4. Konto bei der Stolper Bank hier . 566,90 RM. 2. Sparbuch bei der Stolper Bank hier 2373,10 RM. 3:31 DAM years er 133,78 RM.

zusammen wie oben: 3073,78 RM.

Außerdem befinden sich im Gewahrsam des Schatzmeisters: 4. Anleiheablösungsschuld des Deutschen

Reichs . 487,50 RM.

2. Preuß. landsch. Zentral-Pfandbriefe.. 5500,00 RM.

Treptow a. d. Rega, den 3. April 1928. Der Schatzmeister. gez. Dr. Mercklin.

Geprüft und für richtig befunden. Treptow a. d. Rega, den 3. April 1928. gez. Dr. Deutsch. gez. Dr. Mootz.

Personalnachrichten.

Verstorben: Geheimer Sanitätsrat Dr. Carl Eugen Hoestermann in Bonn und Oberarzt

Dr. Joh. Hoffmann-Sorau.

Professor Dr. Siegfried Rabow in Freiburg i. Br. beging am 31. März seinen 80. Geburtstag.

Professor Dr. Berze-Wien ging am 29. Februar als Direktor der Heilanstalt Am Steinhof in den Ruhestand.

Ernannt wurde Dr. med. Hans Knoll, Sekundärarzt der Irrenanstalt Rosegg, zum Direktor

der Irrenanstalt Bellelay.

Zeitschrift für Psychiatrie. LXXXIX. 6

82 Kleinere Mitteilungen.

Versetzt

Oberarzt Dr. Entres-Eglfing nach Werneck.

Dr. Armin Brandt ist am 1, April in die Leitung des Sanatoriums Dr. Amelung Königstein i. T. eingetreten.

Es habilitierte sich Dr. med. Carl Rosenthal an der Universität Breslau für Psychiatrie und Neurologie.

Zum Ehrenmitglied des Vereins der Wiener Ärzte wurde Geheimrat Prof. Dr. Bonhöffer-Berlin ernannt.

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Zur Kritik von Freuds Auffassung der Vor- stellungen Schizophrener und Primitiver.

Von Karl Hilfiker, Münsterlingen (Thurgau).

Eine junge Dame erzählte mir: Nach dem Tode meiner Mutter fühlte ich mich im Gemüt ganz drunten. Ich machte mir Vorwürfe, ich hätte die Mutter nicht sorgfältig genug ge- pflegt. Ich ging zu einem Nervenarzt, zu einem Psychoanalytiker. Der drückte mir eine Schrift über die Totengebräuche primitiver Völker in die Hand. Ich wußte nicht, was ich mit dieser an- fangen sollte, was das, was sich primitive Völker vorstellen, mit mir zu tun habe.

Ich bin derselben Ansicht wie diese junge Dame. Geht es an, unser Empfinden ohne weiteres mit dem primitiver Völker gleichzusetzen? Es ist das große Verdienst von Freud, darauf aufmerksam gemacht zu haben, daß Beziehnngen da sind. Doch um ähnlich wie die Primitiven zu denken, muß man schon tüchtig schizophren sein. Zwischen den unsern und den Vor- stellungen Primitiver bestehen ähnliche Unterschiede wie zwischen unserm gesunden und dem schizophrenen Empfinden. Soweit meine Kenntnis reicht, hat Freuds Totem und Tabu bei der ein- schlägigen Wissenschaft, bei der Ethnographie und Volkskunde, kaum Anklang gefunden. Doch in der Psychiatrie und bei der Klasse von Leuten, die man die Gebildeten zu nennen gewohnt ist, spuken seine Theorien immer noch in alter Stärke. Was unsere Fachliteratur anbetrifft, so erinnere ich an die anerkennenden Be- merkungen, die Kretschmer in seiner medizinischen Psychologie über Totem und Tabu macht. Ich will mich kurz fassen, und vor allem möchte ich Freud um Entschuldigung bitten, daß ich ihn kritisiere. Daß er einer der bedeutendsten Köpfe unsrer Wissen- schaft ist, weiß jedes Schulkind, und bei allen einseitigen en ist

Zeitschrift für Psychiatrie. LXXXIX.

98 Hilfiker,

es ein leichtes, sie zu krtisieren. Hattingberg !) zählt Totem und Tabu zur „psychoanalytischen Scholastik“, und diese Schol- astik ist bei denen, die nichts sind als Scholastiker, bei vielen der Schüler Freuds ins Unerträgliche gesteigert worden. Freud ist in allem, was er schreibt, auch wo man nicht mit ihm einig geht, interessant und lehrreich, und ich möchte mich in vorlie- gender kurzen Darstellung allein auf ihn beschränken, ohne auf die große und eintönige Literatur seiner Schüler einzugehen.

Freud setzt das Empfinden der Primitiven dem der Zwangs- neurotiker und dem unsern gleich. Das ist ein Fehler, und an dem ist Freud nicht Schuld. Es ist das die englische Theorie des Animismus, wie sie vor allem von Tylor, Spencer und später von Frazer aufgestellt und angewandt wurde und wird. Sie macht keinen Unterschied zwischen unserm Empfinden und dem der Primitiven. Durkheim, dieser große Franzose, dessen Buch über die Entstehung der Religionen?) ich für das tiefste und klarste halte, was je über dieses Thema geschrieben worden ist, hat in dem eben erwähnten Werk den Animismus definitiv widerlegt. Der Animismus nimmt an, daß die Primitiven gedacht hätten, alles was um sie sei, sei wie sie, in allem sei eine Seele, wie in ihnen selber. Auf dieser Annahme hätten sie alle ihre komplizierten Vorstellungen aufgebaut, die also darum einfach auf Trugschlüssen und Täuschungen beruheu würden. Durkheim und sein großer Schüler Levy-Bruhl wiesen nach, daß die Primitiven den Begriff Seele gar nicht kennen, und daß sie nicht die Umwelt sich gleich- setzten, sondern sich der Umwelt. Die Primitiven sind keine Philosophen, die sich darüber wundern, daß Sonne und Mond auf und untergehen, und warum die Lebewesen stürben, und sich dazu irgendwelche Erklärung zurecht machen würden. Die Primitiven fühlen sich als Teil der Natur, und was ihr Denken vom unsrigen unterscheidet, ist, daß sie sich als an allem Ge- schehen der Natur teilhaftig empfinden. Sie kennen keine Grenze von Mensch, Tier, Baum, Stein, alles Leben fließt ineinander über. Wie sich auf dieser Grundvorstellung der „Teilhaftigkeit“, „par- ticipation“, alle ihre Vorstellungen verstehen lassen, hat Levy-Bruhl in seinen schönen Büchern erläutert °).

1) Hattingberg in Birnbaums Psychischen Heilmethoden.

2) Durkheim, les formes élémentaires de la vie religieuse. .

3) Les fonctions mentales chez les peuples primitives, 1915. La mentalité primitive, 1921. L'âme primitive 1927.

Zur Kritik von Freuds Auffassung der Vorstellungen Schizophrener usw. 99

So kann die Theorie von Totem und Tabu von vornherein nicht stimmen. Nun hat ja Freud eine besondere Kühnheit der Formulierung, und darum kommt bei ihm auch jemandem, der nicht weiter über die Sachlage informiert ist, leicht der Zweifel, ob all dies auch wirklich sich so verhalte. Ich will jetzt auf die auffälligsten Behauptungen von Totem und Tabu eingehen, und ich bitte um Verzeihung, wenn beim Zerpflücken dieses Buches mein Ton gar zu aggressiv wird.

Alle Vorstellungen des Primitiven entstammen seinem Ge- meinschaftsgefühl. Er ist gleichsam aus seiner Umgebung noch nicht losgelöst. Auf diesem Gemeinschaftserlebnis beruht die Vor- stellung vom Totem. Totem bezeichnet die Gemeinschaft des ein- zelnen mit seinem Stamme und mit einem bestimmten Ausschnitt aus der Natur. Dadurch, daß man sich in einen Teil des Kleides der Natur wickelt, nimmt man an ihrem ganzen Wesen Teil. Durkhem nennt das Totem das Banner der Gemeinsamkeit. Der Primitive fühlt sich einem gewissen Tier, einer bestimmten Pflanze und seltener einer bestimmten meteoristischen Erscheinung identisch. |

Totem bezeichnet also die Wesensidentität zwischen einem Stamme und einem bestimmten Tier oder Pflanze. Drum darf man dieses Tier oder diese Pflanze nicht töten, das wäre ja Selbst-- mord. Aber Wesensidentität besteht auch zwischen den einzelnen Stammesmitgliedern. Eine Frau des gleichen Stammes heiraten, hieße also sich selber heiraten. Darum besteht bei den primi- tiven Völkern das, was man als „Inzestverbot“ zu bezeichnen ge- wohnt ist. De

Nun spielt ja dieses „Inzestverbot“ bei den Primitiven eine komplizierte Rolle, und ich bin mir selber nicht recht über alles, was mit ihm zusammenhängt, im klaren. Freud aber stellt es in den Mittelpunkt seiner Darstellung, und das ist sicherlich sehr anfechtbar. Im Grunde genommen kann ich ja nicht beweisen, daß Freud einfach völlig im Irrtum sei. Was ich möchte, ist, dar- zustellen, daß andre Zusammenhänge ebenso oder wahrscheinlicher sind, und den Tatsachen weniger Gewalt antun.

Freud nimmt im Anschluß an Darwin an, als erste Men- schen habe es eine Urhorde gegeben. Da habe ein Vater Söhne in die Welt gesetzt, und die habe er dann geleitet. Dieses Ge- horchen gefiel den Söhnen nicht, und ferner hatten sie geschlecht-

liche Gelüste nach der Mutter und denen stand der Vater auch 7*

100 Hilfiker,

im Wege'). So erschlugen sie eines Tages ihren Vater und fraßen ihn auf, denn damals waren die Menschen noch Kannibalen. Nun entstand die Frage: Wer darf die Mutter heiraten? Sie fanden eine praktische Einigung: sie führten das Inzestverbot ein, so daß keiner von allen was mit der Mutter zu tun haben durfte, und so konnten sie weiter in Einigkeit zusammen leben. Daß sie aber den Vater aufgefressen hatten, beschwerte ihr Gewissen. Auch hier fanden sie eine Abhilfe. Lebendig konnten und wollten sie den Vater nicht mehr machen, aber zum Gott konnten sie ihn befördern, ihn heilig sprechen, und somit ihre Schuldgefühle beschwichtigen. Merkwürdigerweise verehrten sie den heilig gesprochenen Vater in Form eines Tieres, des Totem- tieres. Zu diesem Schluß bietet nun allerdings die Völkerkunde kein Material. Den Beweis für diese Umwandlung nimmt Freud aus den Kinderphobien. Denn meist, wenn ein Kind vor einem Tier Furcht habe, sei das Tier nur ein Symbol, ein Surrogat für den Vater. „Die Psychoanalyse hat uns verraten, daß das Totem- tier wirklich der Ersatz des Vaters ist,“ sagt Freud am Schluß der Schilderung der Kinder-Tierphobien.

Weiter ward den Söhnen Angst, ihre eigenen Kinder könnten ihnen es auch einmal so schlimm machen, wie sie es ihrem Vater gemacht hatten. Doch auch dagegen wußten sie ein Mittel. Sie schafften das Verbot, den Vater zu töten. Und weil nun der Vater als Tier symbolisiert worden war, entstand das Verbot, das Totemtier zu töten.

So entstand nach Freud die Religion. Nun ist es ja auf- fallend, wie trüb und traurig das Weltbild ist, das Freud zeichnet. Es ist das große Verdienst von Michaelis, in einem schönen Buch, das sich unter andern durch seinen bewundernswert taktvollen Stil auszeichnet, als erster darauf aufmerksam gemacht zu haben?). All das erfreuliche an dieser Welt, und auch all das, was der Däne Andersen in seiner naiven Sprache das Wahre, Schöne und Gute nennt (Märchen vom Schatten), ist nach Freud nur ein schwacher Firnis, unter dem ein Abgrund von Schlechtigkeit sich auftue. Nach ihm ist es einzig die gemeinsame Blutschuld ge- gewesen, die die Söhne des Urvaters zusammengehalten habe. „Die Gesellschaft ruht jetzt auf der Mitschuld an dem gemein-

1) Diese Rivalität von Vater und Söhnen zur Mutter wird bekanntlich bei Tierherden tatsächlich beobachtet.

2) Die Menschheitsproblematik der Freudschen Psychanalyse 1925.

Zur Kritik von Freuds Auffassung der Vorstellungen Schizophrener usw. 101

sam verübten Verbrechen, die Religion auf dem Schuldbewußtsein und der Reue dariiber, die Sittlichkeit teils auf den Notwendigkeiten dieser Gesellschaft, zum andern Teil auf den vom Schuldbewubt- sein geforderten Buß en“?),

Aus dem Schuldgefühl sei die Religion entstanden. Diese Ansicht ist neu. Verbreiteter ist diejenige, die die Religion aus der Furcht entstehen läßt. Auch Nietzsche hat sie des öftern leidenschaftlich vertreten, und Frazer, dieser große Mann, dessen Sammelfleiß und kritischer Sichtung wir die übersichtlichste Dar- stellung der Vorstellungen der Primitiven verdanken, sagt im Vor- wort zum „Golden Bough“: „Ich glaube, daß die Furcht vor den Toten die stärkste Kraft bei der Bildung der Religionen ge- wesen ist.“ Die Theologen dagegen glauben, das (Gefühl der Dankbarkeit sei es gewesen, aus dem die Religionen entstanden seien.

Nun sind die Dinge weder so bös wie Freud meint, noch so gut wie manche Theologen glauben. Sie sind weder gut noch bös. Ich habe an anderer Stelle?) in einer kurzen Arbeit mich bemüht zu zeigen, wie das ursprüngliche religiöse Empfinden nichts mit Gut und Bös zu tun gehabt hat. Die Religionen entstanden weder aus Schuldgefühlen, noch aus Furcht oder Ehrfurcht. Die Religionen entstanden aus dem Gefühl der Gemeinsamkeit, der Wesenseinheit mit Natur und Weltall, und erst eine Zeit, die diese Gemeinsamkeit nicht mehr als tägliches Brot besaß, konnte vor ihr Ehrfurcht empfinden. Das hat zuerst Durkheim erkannt. Levy-Bruhl hat seine Ansicht weiter entwickelt, und mit ihr werden die Tatsachen derart leichter verständlich, daß wohl zu behaupten erlaubt ist, daß sie wenigstens die größte Wahrschein- lichkeit auf Richtigkeit beanspruchen dürfe.

Die Bedeutung des Totem und des Totemtieres habe ich schon geschildert, und daß das Verbot das Totemtier zu töten nicht aus einem Schuldgefühl stammen kann, geht schon daraus hervor, daß die Primitiven glauben, daß ebensowenig, wie sie dem Totem- tier was zu Leide tun, es ihnen, und wenn es ein Krokodil ist, was antun würde. Ferner kann das Totem auch ein Baum oder ein Stein sein. Sie halten sich von der gleichen Wesensart wie ihr Totemtier, wenn dieses stirbt, sterben sie auch. Ein Stamm, der

1) Totem und Tabu S. 196. 2) Schweizerisches Archiv für Volkskunde, Bd. 28. Das religiöse Emp- finden des Volkes,

102 Hilfiker,

einen roten Papagei als Totemtier hat, bezeichnet sich selber als rote Papageien +).

Uns stehen die Haare zu Berge, wenn wir hören, wie man sich als Papagei bezeichnen kann, ohne Federn zu haben. Der Primitive hat seine Aufmerksamkeit auf das „Wesen“ der Dinge gerichtet, die äußere Form beachtet er weniger. Er lebt in einer Welt magischer Kräfte. Die Wirkung der Dinge unter sich ist für ihn nur ein Wirken ihres magischen Gehaltes. Dieser ist überall, in Stein, Baum, Tier, Mensch, Gestirn, und er ist überall derselbe, nur mehr oder weniger wirkungskräftig. Die Polynesier bezeichnen ihn mit Mana, die Huronen mit Orenda, und so gibt es noch eine Reihe Namen fir ihn. Uber seine Beziehung zum indischen Atman und Brahman und zum Schopenhauerschen Willen habe ich mich anderswo ausgesprochen 2).

So ist auch ein Pfeil ein Vehikel von Mana, und nicht der Pfeil ist es, der den Getroffenen tötet, sondern sein Managehalt. Alle irgendwie auffälligen Dinge haben einen besonders starken Managehalt und sind deshalb gefährlich für alle, die einen solchen nicht haben. Daraus entstanden die vielen Tabu-vorschriften, die vor den schädlichen magischen Einflüssen schützen sollen. Jagd und Krieg bestehen für den Primitiven nicht wie für uns im bloßen Erlegen des Tieres oder des Feindes. Er muß sich einer genügend starken magischen Kraft, eines genügenden Manage- haltes versichern, um den Managehalt des Tieres, des Feindes überwinden zu können. Und später muß er sich weiter vor dieser durch den Tod noch wirksamer gewordenen Kraft schützen. Wenn das Gefäß zerstört ist, ist sein Inhalt an keine Stätte mehr gebunden, und kann er sich völlig frei bewegen. Des Toten Wesen wird eins mit dem Tode. Ein Beleg zu dieser Vorstellung ist die Überlieferung, die Anatole le Braz in der Bretagne gesammelt hat *): Der Ankou, die Personifizierung des Todes, der jeweils die Sterbenden auf einem Wagen abholt, wird immer durch den letzt Verstorbenen der Gemeinde dargestellt.

Darum hat jeder, der zu einem Toten Beziehung hatte, Ver- bindung mit dem Tod selber und ist als solcher für seine Mit- menschen gefährlich. Deshalb wird des Toten Habe verbrannt und wird seine Witwe mitverbrannt oder doch für eine gewisse

1) Levy-Bruhl, fonctions mentales S. 77.

. °) Die Schizophrene Ichauflösung im All, Allg. Zeitschr. f. Psych. Bd. 87, S. 439. |

3) Legende de la Mort chez les Bretons Armoricains, I S. 111.

Zur Kritik von Freuds Auffassung der Vorstellangen Schizophrener usw. 103

Zeit lang klausiert. Klausiert wird auch jeder, der eine Leiche berührt hat oder jemanden tötete. So müssen die heimkehrenden Krieger eine Quarantäne durchmachen. Der Name des Toten darf nicht mehr genannt werden, sonst stellt sich der Tote, der ja der Tod selber geworden ist, sofort ein, und nimmt alle mit sich, die mit ihm Beziehung gehabt haben.

Gefährlich für die gewöhnlichen Menschen sind auch die Per- sönlichkeiten, die sich in spezieller Weise mit dem Mana abgeben und besonders stark mit ihm beladen sind. Das sind die Priester und die Hauptlinge. Die Priester- oder Häuptlingswürde verlangt völlige Aufopferung der Persönlichkeit des Häuptlings für seinen Stamm. Denn im Häuptling lebt das Mana des ganzen Stammes. Jede seiner Bewegungen ist daher für diesen bedeutnngsvoll, hat magische Wirkung. So muß er auf jede seiner Bewegungen achten, und ist er einem strengen Zeremoniell unterworfen. Für Unvor- bereitete wirkt wegen der ihm innewohnenden Kraft die Berührung mit ihm tödlich.

Freud vermutet hinter all diesen Tabuvorschriften psycholo- gische Gründe, gleich denen, die er bei seinen Neurotikern mit dem délire du toucher usw. findet. Die Grundlage des Tabu ist für ihn ein verbotenes Tun, zu dem eine Neigung im Unbewußten bestehe. Das Tabu der Toten entstehe so: Jeder freue sich im tiefen Herzen über den Tod seines Mitmenschen, doch schäme man sich dieser gerechten Freude. Man helfe sich mit einer „Projektion“, indem man sage: nicht ich, der Tote ist feindselig, und so könne man ungestraft ihn hassen. Anteil an den Tabu- vorschriften hätten auch unerlaubte Geliiste. Der Tote sei wehr- los, das reize zur Befriedigung feindseliger Gefühle. Die schutz- lose Witwe führe in Versuchung, und darum sperre man sie ein. Das Tabu der Herrscher entstehe dadurch, daß das Volk sich an deren Machtbefugnis rächen wolle und drum würden sie mit mög- lichst quälenden Vorschriften umgeben.

Freud legt all den Tabuvorschriften eine besondere Zweck- bestimmung unter. Die haben sie aber gar nicht, sie sind nur die Folge des Gemeinsamkeitsgefühl, des Glaubens der „Teilhaf- tigkeit“ der Primitiven. Die Primitiven sehen die Welt nicht wie wir, sie sind keine Einzelwesen, die sich zur Welt in Gegen- satz stellen, sie besitzen eine „Kollektivseele“, ein Kollektivemp- finden, und drum geht es nicht an, ihre Vorstellungen mit denen von Neurotikern erklären zu wollen.

104 Hilfiker,

Den armen Primitiven ist lange und viel Unrecht geschehen. Nicht nur hat man sie mit Feuer, Schnaps und Syphilis fast aus- gerottet, sie selber hat man als unmiindige Kinder betrachtet, die sich in lauter Wahnsysteme und Irrtiimer verwickelt hatten, und drum der Aufklärung durch die weisen Europäer dringend be- dürften. Traum und Wirklichkeit sollen sie verwechseln, und daraus soll ihr Dämonen- und Geisterglauben entstehen. Und dabei unterscheiden die Primitiven genau zwischen bedeutungs- vollen und nichtssagenden Träumen. Eben so gut wie man be- hauptet, sie faßten die Träume als Wirklichkeit auf, könnte man behaupten, sie hielten die Wirklichkeit für einen Traum.

Es wird auch des bestimmtesten behauptet, es gebe Völker, die den Zusammenhang von Geschlechtsverkehr und Geburt nicht kennten. Levy-Bruhl hat darauf aufmerksam gemacht, wie vor- sichtig man mit der Wertung solcher Angaben sein muß. Den Primitiven interessiert der Zusammenhang von Zeugen und Geburt sehr wenig. Jede Geburt kommt nach ihm auf magischem Weg zustande, Mana geht in einen Körper ein, und dieses Mana kann ebensogut in einem Windstoß, in einem Apfel, den man ißt oder im Samen sein, den die Frau empfängt. |

Freud hat auch die Vorstellungen Schizophrener zu erklären gesucht. Er macht dabei den gleichen Grundfehler, er setzt das schizophrene Empfinden in allen Teilen dem unsern gleich. Daß dem nicht so sein kann, habe ich in der schon erwähnten Arbeit: „Die schizophrene Ichauflösung im All“ zu zeigen ver- sucht. Seine Theorie erhärtete Freud an dem berühmten Fall Schreber*), dessen große Bedeutung außer ihm auch Bleuler sofort erkannt hat.

Schreber?) glaubt: Nerv sei das konkrete Bild für alles Über- _ sinnliche, „seelische“. Des Menschen Nerven werden nach seinem Tod gereinigt und Gott wieder angegliedert, von dem sie ja auch her stammen. Gott ist nur Nerv. Wie Gott der Toten Nerven zu sich heraufzieht, können eines Lebenden erregte Nerven Gott an- und zur Erde herabziehen. In solche Lage kommt Schreber durch seine Geisteskrankheit. Um sich von ihm zu lösen und der Gefahr des Herabgezogenwerdens zu entrinnen, will ihn Gott blödsinnig machen. Schreber muß deshalb ständig denken, um

1) Psychanalyt. Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia, Jahrb. f. psych. u. psychop. Forsch. Bd. 3, S. 9—68 1912. *) Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken. 1903.

Zur Kritik von Freuds Auffassung der Vorstellungen Schizophrener usw. 105

Gott zu beweisen, da8 er kein Idiot sei. Da ersinnt Gott ein anderes Mittel. Er will Schreber erniedrigen, er will ihn ent- mannen und als Weib Schrebers Rivalen und Arzt Flechsig preis- geben. Fiechsig fängt auch die Gottesstrahlen, d. h. die Nerven der Seligen nebst den Seelen der Sterbenden (=Nerven), die Schreber anzieht, für sich ab. Schreber seinerseits bemüht sich, den Flechsig samt seinen Seelenanhang in sich hinein zu ziehen. Durch die Umwandlung in ein Weib, die wirklich vor sich geht, ändert sich die Lage unverhofft. Als Weib vermag er den Gottes- strahlen die gleiche Wollust und Seligkeit zu gewähren, die sie bei Gott, in der Seligkeit, genießen. So kommt es zu einem Gleichgewicht, die Gottesstrahlen gehn freudig in ihn ein, und Gott versöhnt sich mit der Bindung an Schreber.

An diesem Wahnsystem fällt vor allem auf, wie schön es den Kampf mit der Krankheit symbolisiert. Er wird blödsinnig Gott will sich von ihm lossagen. Er wird „gebessert“ entlassen er konnte sogar seine Bevormundung gerichtlich rückgängig machen —, Gott läßt sich weiter in ihm nieder. Es ist ein Kampf von Kräften, von der Kraft, von der Schreber alle Menschen er- füllt denkt und die er „Nerven“ nennt. „Gott ist ganz Nerv.“ Wir haben schon oben von Leuten gehört, die sich auch so von einer Kraft durchdrungen dachten: die Primitiven. Auch sie glauben sich voll Kraft, voll Mana, und wenn dieses Mana sie verläßt, sterben sie.

Gegen dieses Verlassenwerden vom „Mana“ wehrt sich Schreber. Sein Arzt Flechsig will dieses begünstigen, und so muß er auch gegen diesen kämpfen. Auch hier ist es ein „über- sinnlicher“ Kampf!), er kämpft nicht gegen den Mann Flechsig, sondern gegen die Kraft, den „Managehalt“ Flechsig, und sucht diesen in sich hinein zu ziehen. Dann findet er eine merkwür- dige Lösung: die Verwandlung in ein Weib, das die „Kräfte“ auf- fängt und ihnen derart Vergnügen gewährt, daß sie gern in ihm bleiben. :

Freud hält diese Geschlechtsumwandlung für das wesentliche an der Geschichte. Schreber habe eine homosexuelle Neigung zu

1) Bleuler machte mich bei anderer Gelegenheit auf den Unfug auf- merksam, der mit solchen Worten wie übersinnlich, irrational usw. getrieben werde. Es ist nur schwer gleich einen andern passenden Ausdruck zu finden Es ist so verführend, im alten Schlendrian weiter zu machen, und weiter mit unklaren Begriffen unklare Gedanken zu äußern.

106 | Hilfiker,

seinem Arzt Flechsig bekommen. Dagegen habe sich seine Ver- nunft natürlich gewehrt, und so sei aus der Liebschaft eine Feind- schaft geworden. Um diese erotische Zuneigung zu seinem Arzt plausibel zu machen, nimmt Freud an, Flechsig sei nur ein Surrogat für Schrebers Vater, die homosexuelle Liebe gelte eigent- lich diesem. Um sich mit dieser Liebe zu versöhnen, habe Schreber den Flechsig (- Vater Imago) zu Gott gemacht, denn einem Gott gegenüber sich als Weib zu emfinden sei erträglicher als einem Menschen gegenüber. Die Entmannung habe noch einen andern Sinn: Sie sei die Androhung der Kastration, mit der der Vater seinen onanierenden Sohn verwarne. Daß neben Gott Flechsig weiter aufrecht erhalten wird, sucht sich Freud dadurch zu erklären, daß er annimmt, hinter ihm verberge sich noch jemand. Wenn auch nirgendswo etwas davon zu erfahren sei, so müsse man doch annehmen, Schreber habe einen älteren Bruder gehabt, und der sei es, der sich hinter Flechsig verstecke.

Nun ist es merkwürdig, warum eine homosexuelle inzestuöse Regung ein derart kompliziertes Wahnsystem hervorbringen soll. Die ganze Lehre vom Inzest trägt Freud aus seiner Neurosen- theorie in dieses schizophrene Wahnbild hinein. Manches in ihm ist dem, was Freud bei Besprechung des Totemismus die „psycho- logische Methode“) nennt, sicher zugänglich. Der Rival Flechsig entstammt einer persönlichen Feindschaft. Doch kann man sich diese auch einfacher erklären. Der Anstaltsarzt wird eben oft von den Kranken als ihr unerbittlichster Feind empfunden, als der Mann, der sie einsperrt wie in einem Zuchthaus. Daß aber dieser Feind Flechsig zu einem übernatürlichen Wesen wird, das wird allein verständlich, wenn man bedenkt, wie sehr die ganze Vor- stellungswelt Schrebers sich durch die Erkrankung gewandelt hat, wie er sein Ich als All emfindet, als Nerv (Gott ist Nerv), als magische Kraft, als „Mana“, Und dieses „Mana“ will man ihm entziehen, ihn blödsinnig machen, „kalt und fühllos“ (Lenz) 2). Ich erinnere mich an eine junge Schizophrene, die rasch verblödete, und die eine Zeit lang den ganzen Tag jammerte: „Ich werde ja blödsinnig, ich kann nicht mehr denken“. Dieses Gefühl treibt

1) Totem u. Tabu S. 156.

2) An das Herz: Ach und weder Lust noch Qualen sind ihm schrecklicher als das: Kalt und fühllos! Oh ihr Strahlen, schmelzt es lieber mir zu Glas.

Zur Kritik von Freuds Auffassung der Vorstellungen Schizophrener usw. 107

oft zum Selbstmord, es muß ganz unerträglich sein. So erklärt sich wohl auch der Selbstmord des Dichters Leon Deubel, der unter andern die Verse hinterließ:

Dame la Mort écoutez bien,

je ne posséde d’autres bien

qu'un coeur ne marquant plus rien. und:

Le jour est fané comme une tenture

et je prie dans l’ombre un dieu d’élection

de laisser venir & moi l’impression,

car je ne suis plus que littérature. Thomas Mann prägte für ähnliche Zustände im normalen Seelen- leben den wunderbaren Ausdruck: Verrat des Gefühles (Zauberberg).

Der Stein, auf dem Freud seine ganze Erklärungstheorie aufbaut, ist die Geschlechtsumwandlung. Sie ist merkwürdig. Freud pflegt solche Sachen mit Bestimmtheit als Ausdruck „grobsinn- lichen Verlangens“ aufzufassen. Ich möchte sie hier lieber als Symbol für etwas, wo die Geschlechtlichkeit nicht das wesentliche ist, auslegen. Ich möchte daran erinnern, wie oft bei den Mystikern zur Schilderung ihres Verhältnisses zum All die ero- tische Formel gebraucht wird. So heißt es in den Upanischaden, den indischen Geheimlehren: Denn wie ein Mann von einem geliebten Weib umschlungen die Außen-

welt und Innenwelt völlig vergißt, genau so vergißt die Seele, von dem aus Erkenntnis bestehenden Ich umschlungen, die Innen- und die Außenwelt (1).

Die Seele ist die Braut Gottes. In den Liedern des Angelus Silestus wird diese Formel in allen Varationen verwandt. Wenn nun Schreber sich zur Frau werden fühlt, kann das nicht einfach von diesen mystischen Gefühlen herrühren? Daß er, der die Gottes- strahlen anzieht, empfängt, damit Braut Gottes, ein Weib wird? Das Empfangen der Gottesstrahlen bringt Extase, und Schreber nennt sie Seelenwollust. Aus der Mystik ist genügend bekannt, wie oft sie unter dem Bild der erotischen Extase dargestellt wird. Bekanntlich hat man deshalb angenommen, es handle sich darum um nichts anderes als Erotik. Aber da muß man den Begriff Erotik schon derart erweitern, daß er seinen Namen nicht mehr mit Recht trägt. Jung hat das ja tatsächlich getan. Zu Schrebers Seelenwollust möchte ich drei Verse des jungen Baudelaire zitieren, die beweisen, daß nicht das Mittel, das zur Extase führt, die Hauptsache ist, sondern diese selber:

1) Hillebrandt, aus Brahmanas und Upanischaden.

108 Hilfiker, Zur Kritik von Freuds Auffassung der Vorstellungen usw.

Et j'éprouve au milieu des spames frénétiques l’atroce enivrement des vieux Fakirs Indous, les extases sans fin des Brahmes fanatiques.

Das wissen wir auch von den Primitiven. Askese, Orgie, be- rauschende Getränke, alles mögliche wird benutzt, um die Extase herbeizuführen, und diese besteht in nichts anderem als im Auflösen, im völligen Aufgehen des Ichbewußtseins im All.

Schreber hatte aber zuerst die Vorstellung, er werde in ein Weib verwandelt, um seinem Rivalen Flechsig vorgeworfen, von ihm vergewaltigt zu werden. Zwei Dinge sind hier auseinander zu halten: die Entmannung und die Vergewaltigung. Die Ent- mannung gilt zumeist als das schlimmste, was man einem antun kann. Ich erinnere an die eindrucksvolle Geschichte des Türken aus Bosnien, die Freud!) erzählt: Der sagte, als er eine Störung seiner Sexualfunktion erlitt, zu seinem Arzt: Du weißt ja, Herr, wenn das nicht mehr geht, dann hat das Leben keinen Wert, und Zangger?) erzählte von einem seiner Patienten, dem er wegen Nebenhodentuberkulose die Kastration anriet, und der ihn einige Jahre später anfallen und erschießen wollte, so schmerzte ihn der Verlust seiner Männlichkeit. |

Die zweite große Beschimpfung ist die Vergewaltigung. Später ist dann unter dem Einfluß des durch die Krankheit völlig veränderten Weltbildes diese Geschlechtsumwandlung von Schreber ganz anders gewertet worden.

Ob und wie weit nun noch eine homosexuelle Neigung mitspiele, weiß ich nicht. Doch sicher spielt sie nicht die Hauptrolle, weder ist sie es, die Schreber krank gemacht hat, noch die an der Aus- gestaltung des Wahns allein verantwortlich ist.

In einer ausführlichen Arbeit bin ich tiefer auf die Erklärung der Wahnsysteme mancher Schizophrener eingegangen. Aus Raum- gründen konnte ich dort nicht die psychanalytische Deutung der Fälle berücksichtigen und kritisieren. Ich kann es auch hier nicht weiter tun, und ich glaube, es hat auch keinen großen Sinn. Ich müßte mich noch mehr wiederholen, als ich es schon getan habe, und gegen Dinge streiten, die, wie ich hoffe, heutzutage nur noch von den orthodoxen Freudianern geglaubt werden.

1) Psychopathologie des Alltagslebens S. 7 (3. Aufl.). 2) In seinem Kolleg über gerichtliche Medizin in Zürich.

Das Opiumgesetz vom 30. Dezember 1920 und seine Auswirkungen’), Von Oberreichsanwalt a. D., Honorarprofessor Dr. Ebermayer, Leipzig.

Das Deutsche Opiumgesetz kann, wie sich schon aus seiner offi- ziellen Bezeichnung: „Gesetz vom 30. Dezember 1920 zur Ausführung des internationalen Opiumabkommens vom 23. Januar 1912“ ergibt, nur im Zusammenhalt mit letzterem betrachtet werden.

Im Februar 1909 wurde auf Wunsch der Vereinigten Staaten von Nordamerika eine Konferenz zur Unterdrückung des Opiummißbrauchs nach Shanghai einberufen. Sie verlief ziemlich ergebnislos, führte aber dazu, im Jahre 1911 eine zweite Konferenz einzuberufen, deren Ergebnis die internationale Opiumkonvention vom 23. Januar 1912 war. Durch Art. 9 dieser Konvention haben sich die Vertragsmächte, zu denen auch das Deutsche Reich gehörte, verpflichtet, durch die Erlassung von Gesetzen oder Verordnungen über das Apothekenwesen die Herstellung, den Verkauf und die Verwendung von Morphin, Kokain und deren Salzen auf den medizinischen und gesetzmäßigen Gebrauch zu beschränken und den Gebrauch für andere Zwecke zu verhindern. Als Maßregeln sind in Art. 10 unter anderem vorgesehen: die Einführung eines Erlaubniszwangs für alle, die jene Stoffe ein- führen, ausführen, herstellen, verkaufen und vertreiben, sowie die Ein- führung eines Buchführungszwangs für diese Personen. Nur hinsicht- lich des letzteren wird gesagt, daß es nicht notwendigerweise für die ärztlichen Rezepte und für die Verkäufe durch die gehörig ermäch- tigten Apotheken gelte. Eine Befreiung vom Erlaubniszwang ist nicht vorgesehen; selbstverständlich steht aber nichts im Wege, daß das Gesetz oder die Verordnung für bestimmte Fälle eine Ausnahme von dem Zwang zur Einholung behördlicher Erlaubnis macht und damit für diese Fälle die Ermächtigung ein- für allemal selbst erteilt. In Art. 14 wird im einzelnen bestimmt, auf welche Mittel die zu er- lassenden Bestimmungen in Anwendung gebracht werden sollen.

1) Referat, gehalten in der Jahresversammlung des deutschen Vereins für Psychiatrie in Bad Kissingen am 24. April 1928.

110 Ebermayer,

Wichtig ist dabei, daß dies der Fall sein soll bei jedem neuen Abkömm- ling des Morphins, Kokains und ihrer Salze und bei jedem anderen Alkaloid des Opiums, das nach anerkannter wissenschaftlicher Unter- suchung zu ähnlichem Mißbrauch Anlaß geben und die gleichen schädlichen Wirkungen zur Folge haben kann. Das Abkommen sollte realisiert werden, wenn bis zum 31. Dezember 1913 fünfzehn Staaten unterschrieben hätten. Erst neun Regierungen hatten sich bis dahin auf die Konvention verpflichtet. Im Juli 1913 und Juni 1914 tagten zwei weitere Konferenzen im Haag. Es wurde beschlossen, die Opiumkonvention nunmehr in Kraft treten zu lassen. Der Aus- bruch des Weltkrieges verhinderte die Ausführung dieses Beschlusses. Als er zu Ende ging, verlangte der Rat der Internationalen Vereinigung für den Kampf gegen das Opium in Peking Aufnahme einer Bestimmung in die Friedensverträge, wonach derjenige Staat, der diese genehmigte, ipso facto auch das Internationale Haager Abkommen ratifizierte. Eine dementsprechende Bestimmung wurde in Art. 295 des Versailler Friedensvertrags aufgenommen.

In Ausführung der übernommenen Verpflichtung erließ Deutsch- land das Opiumgesetz vom 30. Dezember 1920, das am 1. Januar 1921 in Kraft trat. Ihm folgte das Gesetz zur Abänderung des Opiumgesetzes vom 21. März 1924 und die Ausführungsvorschriften vom 5. Juni 1924. Selbstverständlich kann keine Rede davon sein, daß Deutsch- land sich zum Erlaß des Gesetzes etwa nur deshalb entschlossen hat, weil es die übernommene internationale Verpflichtung erfüllen mußte. Man hatte vielmehr schon früher und insbesondere während des Krieges die Notwendigkeit einer Überwachung und Regelung des Ver- kehrs mit Opium und ähnlichen Rauschgiften erkannt. Gerade im undnach dem Kriege hatte die mißbräuchliche und für die Volksgesund- heit gefährliche Verwendung von Betäubungsmitteln stark überhand genommen. Das Treiben wurde gefördert durch Entwendungen aus ` den Heeresbeständen. Die Rücksicht auf die Volksgesundheit ver- langte gebieterisch gesetzliches Eingreifen. So erging schon am 22. März 1917 die erste Opiumverordnung. Ihr folgten eine Reihe anderer, die jetzt sämtlich durch das Gesetz gegenstandslos geworden sind. Das OG. bildet jetzt die einzige reichsrechtliche Regelung der Materie. Sein Grundgedanke ist: Freilassung und Sicherung von Opium usw. für medizinische Zwecke; im übrigen im Interesse der Volksgesundheit Ausschluß vom Verkehr. Auf welche Gegenstände das Gesetz sich bezieht, ergibt sich aus $$ 1 und 7. In § 1 werden als Stoffe, deren Ein- und Ausfuhr, Herstellung,

Das Opiumgesetz vom 30. Dezember 1920 und seine Auswirkungen. 111

Verarbeitung und Verkehr der Aufsicht durch das Reichsgesundheits- amt unterliegen, genannt: a) Rohopium, dieses auch in seiner Ge- staltung „für medizinische Zwecke“ und Rohkokain, b) Stoffe, die die Giftbestandteile der Rohstoffe zu a) ausmachen, nämlich Morphin, Diacetylmorphin (Heroin), sowie Kokain, c) die Salze der vorbezeich- neten Grundstoffe, d) gewisse Zubereitungen dieser Grundstoffe und Salze. Während Ein- und Ausfuhr, Herstellen und Inverkehrbringen der in $1 genannten Stoffe nur behördlicher Aufsicht und gewissen Be- schränkungen unterworfen sind, ist die Einfuhr usw. von zubereitetem Opium (Rauchopium) schlechthin verboten, da dieses medizinisch entbehrlich ist und nur dem Laster des Opiumgenusses dient.

In $ 1 Abs.2 und 3 werden dem Reichsgesundheitsamt weit- gehende Befugnisse hinsichtlich der Besichtigung der Örtlichkeiten, wo die in Abs. 1 genannten Stoffe hergestellt, verarbeitet, feilgehalten werden, eingeräumt; desgleichen kann es Auskunft über Ort, Zeit, Menge der Ein- und Ausfuhr und über alle den Verkehr betreffenden Fragen verlangen, auch Einsicht nehmen in die Geschäftspapiere, Bücher, Zollabfertigungen usw.

Zu der Aufsicht und der aus ihr abgeleiteten Auskunftspflicht ($1) tritt in $ 2 als praktisch wichtigster Bestandteil der Verkehrs- regelung der Erlaubniszwang. Nur denjenigen Personen ist die Einfuhr und Ausfuhr der in $ 1 genannten Stoffe und Zubereitungen, ihre gewerbsmäßige Herstellung und Verarbeitung, der Handel mit ihnen, sowie ihr Erwerb und ihre Veräußerung gestattet, denen durch die Landeszentralbehörden im Einvernehmen mit dem Reichs- ministerium des Innern die Erlaubnis hierzu erteilt worden ist. Eine Ausnahme von Erlaubniszwang macht Abs. 4 des $ 2 für die Apotheken. Dort dürfen die fraglichen Stoffe und Zubereitungen ohne die in Abs. 1 erwähnte Erlaubnis erworben, hergestellt, verarbeitet oder abgegeben werden, jedoch nur als Heilmittel. Hierzu wird in II 6 der Ausführungsbestimmungen vom 5. Juni 1924 erläuternd bemerkt, daß die für die Apotheken vorgesehene Befreiung von der Erlaubnis sich sowohl auf den Erwerb durch den Apotheker zwecks Abgabe in der Apotheke als auch auf die Abgabe und den Erwerb auf Grund ärztlicher, zahnärztlicher oder tierärztlicher Verordnungen beziehe; dagegen sei eine Abgabe durch den Apotheker zu anderen Zwecken nicht zulässig. Durch Art. II des Abänderungsgesetzes vom 21. März 1924 wurde dem $ 2 des Gesetzes ein Absatz 5 beigefügt, der die Grundlage enthält für Bestimmungen, durch die eine Überwachung der schriftlichen Anweisungen, die in den Apotheken zum Bezug der

112 Ebermayer,

‚genannten Stoffe vorgelegt werden, sowie des Verkehrs zwischen Apotheker und Verbraucher ermöglicht wird. Auf Grund dieses Abs. 5 wurde die Vorschrift in Nr. IT 4 der Ausführungsvorschriften erlassen, wonach zum Zwecke der Nachprüfung durch die Medizinalbehörde schriftliche Anweisungen eines Arztes oder Zahnarztes, welche die in $ 1 des Gesetzes genannten Stoffe enthalten und nach der Vor- schrift über die Abgabe stark wirkender Arzneimittel ohne erneute schriftliche Anweisung nicht wiederholt abgegeben werden dürfen, in der Apotheke zurückzuhalten sind oder nur nach Fertigung einer Abschrift zurückgegeben werden dürfen.

Zu den einzelnen Bestimmungen des $ 2 des Gesetzes und der darauf bezüglichen Ausführungsbestimmungen mag erläuternd folgendes bemerkt werden. Die Erlaubnis wird nur bestimmten Per- sonen, die auch juristische Personen (z. B. Firmen) sein können, er- teilt; sie ist unübertragbar; sie kann sich auf eine oder mehrere der sieben in $2 Abs. 1 erwähnten Tätigkeiten und auf einen oder mehrere der in § 1 bezeichneten Stoffe beziehen. Beschränkungen auf Zeit und Menge sind nach Ab.2 §2 zulässig; die erlaubte Tätigkeit ist aber nach $2 Abs. 1, Satz 3 auf bestimmte Örtlichkeiten zu beschränken. Ob die Erlaubnis erteilt werden will, steht lediglich im Ermessen der Behörde, die zur Erteilung zuständig ist. Auch Ärzte, Tierärzte, wissen- schaftliche Forschungsanstalten sind dem Erlaubniszwang unterworfen. Nur für Apotheken gilt die im Abs. 4 vorgesehene Erleichterung. Dort dürfen aber die betreffenden Stoffe und Zubereitungen nur als Heil- mittel erworben, hergestellt, verarbeitet oder abgegeben werden. - „Als Heilmittel‘ bedeutet als Mittel zur Beseitigung, Linderung oder Verhütung von Krankheiten bei Menschen oder Tieren. Als Heil- mittel werden die Stoffe abgegeben zur Schmerzstillung, ferner dann, wenn sie von Süchtigen bei nach medizinischen Grundsätzen durch- zuführenden Entziehungskuren verbraucht werden sollen. Dagegen kann von einer Abgabe als Heilmittel keine Rede sein, wenn die Ab- gabe an eine Person erfolgt, die lediglich aus dieser Sucht heraus das Mittel weiter genießt, sei es auch zur Wiederherstellung des körper- lichen und seelischen Gleichgewichts aus einem eben durch die unbe- friedigte Sucht hervorgerufenen, medizinisch als Krankheit anzu- sprechenden Depressionszustand. Von medizinischer Seite, ins- besondere von Scheuerlen in der Arztl. Sachverständigenzeitung 1927 Nr. 21 und auch aus Apothekerkreisen (Apothekerzeitung 1927 Nr. 44) wurde wiederholt das Verlangen gestellt, derartigem Verbrauch, ins- besondere von Morphium und ähnlichen Opiaten, den Heilzweck zu-

Das Opiumgesetz vom 30. Dezember 1920 und seine Auswirkungen. 113

zuerkennen. Das wiirde dem Zweck des Gesetzes direkt zuwider- laufen und zu schweren Mißständen führen. Mit Recht nehmen daher Schneidewin in Stengleins strafrechtlichen Nebengesetzen 5. Aufl. Anm. 17 zu § 2 und Fräb-Wolff, die strafrechtliche und zivilrechtliche Stellungnahme gegen den Rauschgiftmißbrauch, Leipzig 1927, S. 91 ff. an, daß in den letzterwähnten Fällen von einer Abgabe ‚als Heilmittel‘ keine Rede sein kann. Auch das Reichsgericht hat sich im Urteil des 1. Strafsenats vom 5. Oktober 1926, I 184/26, RGSt. 60 S. 368 dieser Anschauung angeschlossen und ausgesprochen, daß unter den Ge- brauch zu Heilzwecken die in ordnungsmäßigen Grenzen sich bewe- gende Anwendung zur Schmerzstillung, sowie die allmählich abneh- mende Verabreichung an Süchtige zur Vermeidung des bei plötzlicher Entziehung auftretenden üblen Erscheinungen zu rechnen sind, nicht aber die regelmäßige Fortgewährung an Süchtige, wodurch diesen Kranken nicht geholfen, sondern geschadet wird. Dabei kommt es in den letzterwähnten Fällen nicht so sehr darauf an, ob für die be- treffenden Personen, die unter dem Druck ihrer Sucht stehen, der Verbrauch der Mittel ein ‚Genuß‘ ist, als darauf, daß das Mittel ihnen eben nicht zu Heilzwecken dient und dienen soll, also nicht als Heil- mittel an sie abgegeben wird. Gl. M. Fraeb-Wolff S. 90 ff. Es ist also davon auszugehen, daß der in $2 Abs. 1 vorgesehene Erlaubniszwang grundsätzlich allgemein gilt, auch für Ärzte und Apotheker. Die Aus- nahmebestimmung des $ 2 Abs. 4 ist ausdrücklich auf die Herstellung und weitere Verwendung ‚als Heilmittel“ beschränkt.

Mit Rücksicht auf die nicht sehr glückliche Fassung der Aus- führungsbestimmungen ergab sich aber eine andere Zweifelsfrage. Es heißt in II 6 der Ausführungsbestimmungen, daß die Befreiung der Apotheker sich sowohl auf den Erwerb durch den Apotheker zwecks Abgabe in der Apotheke, als auch auf die Abgabe und den Erwerb auf Grund ärztlicher, zahnärztlicher oder tierärztlicher Verordnungen beziehe, dagegen sei eine Abgabe durch den Apotheker zu anderen Zwecken nicht zulässig. Daraus wurde von mancher Seite der Schluß gezogen, es sei „der Abgabe auf Grund ärztlicher Verordung‘“ die Abgabe „zu anderen Zwecken‘ gegenübergestellt und es sei deshalb die Abgabe auf Grund ärztlicher Verordnung unter allen Umständen und ohne Rücksicht, zu welchem Zweck sie erfolge, zulässig. Diese Ansicht ist, wie in dem vorerwähnten reichsgerichtlichen Urteil zu- treffend dargetan wird, falsch. Abgesehen davon, daß eine solche Gegenüberstellung an sich unlogisch ist, konnte und wollte die Aus- führungsbestimmung selbstverständlich die im Gesetz selbst ent-

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haltene Beschrankung der Ausnahme nicht beseitigen. Den Gegensatz zur Abgabe „zu anderen Zwecken‘ bildet bei Berücksichtigung der Be- stimmung in § 2 Abs. 4des OG. nicht die Abgabe auf Grund ärztlicher Verordnung schlechthin, sondern die Abgabe zu Heilzwecken auf Grund ärztlicher Verordnung. Anders als zu Heilzwecken dürfen die frag- lichen Stoffe daher auch auf Grund ärztlicher Verordnung in den Apotheken nicht abgegeben werden. Erwerb und Abgabe zu Nicht- heilzwecken, etwa zu Genußzwecken, sind auch dann unzulässig, wenn sie in Apotheken auf Grund ärztlicher Verordnung erfolgen. Der Apotheker, der Kokain wissentlich zu bloßen Genußzwecken oder genauer gesagt: nicht als Heilmittel abgibt, macht sich nach $ 8 Abs. 1 Nr. IOG. strafbar, und zwar auch dann, wenn er dies auf Grund einer von ihm als mißbräuchlich erkannten ärztlichen Anweisung tut. Für den Arzt ergibt sich aber ich folge auch hier dem mehrerwähnten reichsgerichtlichen Urteil folgendes: Die Ausstellung und die Über- gabe von ärztlichen Anweisungen für den Bezug der in $ 1 des Gesetzes genannten Stoffe gehören an sich nicht zu den erlaubnispflichtigen Handlungen, erfüllen also für sich allein nicht den Tatbestand des $ 8 Abs.1 Nr.1. Stellt der Arzt die Anweisung zur Abgabe zu Heil- zwecken nach den Regeln der ärztlichen Wissenschaft aus, so ist er durch $ 2 Nr. 4 des Gesetzes gedeckt; denn diese Bestimmung bezieht sich, wie ihre unpersönliche Fassung erkennen läßt, auf alle Personen, die am Erwerb, an der Herstellung, Verarbeitung und Abgabe in den Apotheken beteiligt sind, also nicht nur auf den Apotheker, der diese Handlungen vornimmt, sondern auch auf den Kunden, der vom Apo- theker erwirbt und auf den Arzt, der die Abgabe durch den Apotheker bewirkt. Der Arzt, der Kokain zu Heilzwecken, nicht nur vorgeblich, sondern nach den Regeln der ärztlichen Wissenschaft verordnet, bringt es also nicht ohne Erlaubnis in den Verkehr. Stellt er aber die Anweisung zu anderen als zu Heilzwecken, insbesondere zu bloßen Genußzwecken, aus, so ist er durch § 2 Abs. 4 OG. ebensowenig ge- deckt, wie der Apotheker, der auf Grund ärztlicher Anweisung Kokain zu Genußzwecken abgibt. Er bringt dann das Kokain durch den Apotheker ohne Erlaubnis in den Verkehr und erfüllt dadurch den äußeren Tatbestand des § 8 Abs. 1 Nr. 1 OG. Je nachdem der Apo- theker gutgläubig ist, also glaubt, der Arzt habe das Mittel ordnungs- mäßig zu Heilzwecken verschrieben oder doch der Arzt ihn dafür hält, oder andererseits der Apotheker bösgläubig ist, der Arzt dies weiß oder ihn dafür hält, ergeben sich folgende Unterschiede. Ist der Apo- theker guten Glaubens und weiß dies der Arzt, so ist der Apotheker

Das Opiumgesetz vom 30. Dezember 1920 und seine Auswirkungen. 115

lediglich schuldloses Werkzeug in der Hand des Arztes, der sich dieses schuldlosen Werkzeuges bedient, um das Kokain ohne Erlaubnis in Verkehr zu bringen und also allein als mittelbarer Tater verantwortlich ist. Das gleiche soll nach Annahme des reichsgerichtlichen Urteils gelten, wenn der Arzt den Apotheker irrigerweise für bösgläubig hält. Handeln Arzt und Apotheker im ausdrücklichen oder stillschwei- genden Einverständnis, so sind sie entweder beide Mittäter, oder der eine ist Haupttäter, der andere Gehilfe, Mittäter, wenn jeder von beiden zugleich für den anderen tätig werden will. Sind endlich beide bös- gläubig, hält aber der eine den anderen für gutgläubig, dann haften beide als Nebentäter, der Arzt als mittelbarer, der Apotheker als un- mittelbarer. Erteilt der Arzt eine Anweisung auf Kokain zu Genub- zwecken in der Absicht, hierdurch eine Abgabe durch den Apotheker an seinen Kunden zu erreichen, verweigert aber der Apotheker wegen der von ihm erkannten Unzulässigkeit die Abgabe, so ist der Arzt wegen Versuchs des unerlaubten Inverkehrbringens nach $ 8 Abs. 1 Nr. 1 OG. strafbar. Außerdem kann sich der Arzt durch Ausstellung und Übergabe von Anweisungen auf Kokain an Kokainschnupfer auch der Beihilfe zum unerlaubten Erwerb von Kokain schuldig machen. Diese Straftat kann mit dem unerlaubten Inverkehrbringen oder der Beihilfe hierzu rechtlich zusammenfließen. Zur inneren Tat- seite wäre noch zu bemerken, daß das Reichsgericht nach seiner aller- dings vielfach angefochtenen Rechtsprechung hinsichtlich der Un- entschuldbarkeit des sogenannten strafrechtlichen Irrtums die Annahme des Arztes und des Apothekers, daß Kokain auf ärztliche Anordnung in Apotheken auch zu Genußzwecken ohne Erlaubnis abgegeben wer- den dürfe, für einen unbeachtlichen Strafrechtsirrtum erklärt, der den Vorsatz nicht ausschließt. Ob letzteres zutrifft, kann dahingestellt bleiben. Fest steht aber jedenfalls, daß Kokain und das gleiche gilt natürlich auch für die übrigen in $ 1 OG. genannten Stoffe auch auf ärztliche Anordnung hin nur als Heilmittel, nicht zu anderen, ins- besondere nicht zu Genußzwecken ohne Erlaubnis in Apotheken ab- gegeben werden darf.

Ob das Opiumgesetz selbst für die Abgabe der in ihm bezeichneten ` Mittel in Apotheken einen Rezeptzwang vorschreibt, ist bestritten. Schneidewin a. a. O. Anm. 18 zu § 20 verneint es, das Reichsgericht in der mehrerwähnten Entscheidung scheint es zu bejahen (RGSt. 60, 369). Die Frage ist nicht von besonderer praktischer Bedeutung, da Rezeptzwang, wenn nicht auf Grund des Opiumgesetzes, so doch

8*

116 Ebermayer,

auf Grund anderer Bestimmungen (vgl. die Vorschriften über die Ab- gabe stark wirkender Arzneien usw.) besteht.

In $ 3 des Gesetzes wird die Bezugsscheinpflicht geregelt, die selbständig neben den Erlaubniszwang tritt. Die Abgabe der in $ 1 bezeichneten Stoffe und Zubereitungen an Personen, die eine Er- laubnis nach $ 2 besitzen, sowie an Apotheken ist nur zulässig auf Grund eines auf den Namen des Erwerbers lautenden Bezugsscheines, der von der Opiumstelle beim Reichsgesundheitsamt abgegeben wird und in dem Art und Menge der abzugebenden Stoffe und Zuberei- tungen genau zu bezeichnen sind. Frei bleibt, wie vom Erlaubnis- zwang so auch von der Bezugsscheinspflicht, derjenige Erwerb ‚in Apotheken als Heilmittel‘, bei dem die Apotheke der abgebende Teil ist. Für alle Veräußerungen und Abgaben, die nicht ‚in Apotheken als Heilmittel“ geschehen, treffen die beiden Verkehrsregelungen zu- sammen; es muß beiden Teilen nach $ 2 die persönliche, regelmäßig ja allgemeine Erlaubnis, weiter aber dem erwerbenden Teil für den besonderen Fall ein Bezugsschein erteilt sein.

In $ 4 wird für die Personen, die eine Erlaubnis nach $ 2 erhalten haben, die Pflicht aufgestellt, ein Lagerbuch nach näherer Bestimmung des Gesetzes und der Ausführungsbestimmungen zu führen. $5 ent- hält Bestimmungen über die Ein- und Ausfuhr. § 6 läßt in Ausführung des Art. 14 des Opiumabkommens die Möglichkeit zu, die Bestimmungen des Gesetzes auf jeden neuen Abkömmling des Morphins, des Kokains oder ihrer Salze oder auf jedes andere Alkaloid des Opiums, das nach wissenschaftlicher Feststellung die gleichen schädigenden Wirkungen ausüben kann, auszudehnen. Bisher ist eine solche Ausdehnungsver- ordnung noch nicht ergangen.

Während die in $ 1 des Gesetzes genannten Stoffe und Zuberei- tungen an sich hergestellt und in Verkehr gebracht werden können, aber, abgesehen von der in § 2 Abs. 4 für Apotheken getroffenen Aus- nahmebestimmung, nur unter Erlaubniszwang und Bezugsschein- pflicht, ist in $ 7 des Gesetzes Ein- und Ausfuhr, Herstellung und In- verkehrbringen gewisser Stoffe, nämlich des zubereiteten Opiums (Rauchopium), des sogenannten Drostes und aller anderen Rückstände von Rauchopium schlechthin verboten. Diese Stoffe sind medizinisch entbehrlich und dienen nur dem Laster des Opiumgenusses, daher rechtfertigt sich ein absolutes Verbot und es ist nur zu wundern, daß nicht auch der Erwerb als solcher, die Verarbeitung als solche und der Handel also solcher verboten und unter Strafe gestellt wird.

In $ 8 des Gesetzes sind die Strafbestimmungen enthalten.

Das Opiumgesetz vom 30. Dezember 1920 und seine Auswirkungen. 117

. Mit Gefängnis bis zu. drei Jahren und mit Geldstrafe (3—10 000 RM.) oder mit einer dieser Strafen wird, sofern nicht nach anderen Straige- setzen eine schwerere Strafe verwirkt ist, bestraft nach Nr. 1: wer die im § 1 Abs. 1 aufgeführten Stoffe und Zubereitungen ohne die in $ 2 vorgesehene Erlaubnis einführt, ausführt, herstellt, verarbeitet, erwirbt, veräußert oder sonst in den Verkehr bringt oder sie in nicht genehmigter Örtlichkeit herstellt, verarbeitet, aufbewahrt, feilhält oder abgibt. Hier wie in allen folgenden Fällen ist anzunehmen, daß sowohl die vorsätzliche als die fahrlässige Zuwiderhandlung strafbar ist. Folgt man der oben schon erwähnten reichsgerichtlichen Rechtsprechung, so ist jeder Irrtum über Bestehen oder Tragweite der Gesetze, der Verbote und Gebote (Auskunftspflicht, Erlaubniszwang, Bezugsscheinpflicht usw.) unbeachtlicher Strafrechtsirrtum. Dagegen sind die Ausführungs- vorschriften grundsätzlich nicht Strafgesetz, sondern Verwaltungsvor- schriften, der Irrtum über sie liegt auf nicht strafrechtlichem Gebiet und schließt den Vorsatz aus; beruht er aber auf Fahrlässigkeit, so kann wegen fahrlässiger Zuwiderhandlung bestraft werden. Die ein- zelnen Tatbestandsmerkmale Einführen, Ausführen, Herstellen usw. zu erörtern, würde zu weit führen.

In Nr.2 des $8 Abs. 1 werden unter die gleiche Strafe gestellt alle Zuwiderhandlungen gegen die Bezugsscheinpflicht, in Nr. 3 die Zuwiderhandlungen gegen die auf Grund der $$ 5 und 9 erlassenen Bestimmungen. Damit werden die gesamten Ausführungs- bestimmungen unter Strafe gestellt. Der in $ 8 angedrohten Strafe unterliegt ferner, wer die in § 1 bezeichneten Stoffe und Zubereitungen entgegen den Bestimmungen der Weltpostvereinsverträge mit der Post nach dem Ausland versendet. Die Bestimmung bezieht sich auf Art. 41 des Weltpostvertrags vom 28. 8. 24, wonach „Opium, Morphin, Kokain und andere Betäubungsmittel‘ in Briefen nicht versendet wer- den dürfen; ferner auf Art. 10 des Wertbrief- und Wertpäckchen- abkommens und Art. 14 des Postpaketabkommens, beide vom gleichen Tage, die ähnliche Verbote hinsichtlich der Wertbriefe und Pakete enthalten. |

In $8 Nr. 5 wird die Übertretung des in $ 7 enthaltenen absoluten Verbots, das sich auf Rauchopium usw. bezieht, unter Strafe gestellt, im $ 8 Nr. 6 Zuwiderhandlungen gegen die Lagerbuchführungspflicht und die Auskunftspflicht. In den Fällen von Nr. 1,' 2, 3, 4, 5 ist der Versuch auch der untaugliche strafbar.

Nach § 8 Abs. 4 des Gesetzes kann auf Einziehung der Gegen- stände, auf die sich die Handlung bezieht, erkannt werden ohne Un-

118 Ebermayer,

terschied, ob sie dem Täter gehören oder nicht. Die Einziehung ist hier nicht Strafe, sondern polizeiliche Sicherungsmaßregel. Daher kann auf sie auch dann erkannt werden, wenn eine Zuwiderhandlung gegen das Opiumgesetz mit einer anderen mit schwererer Strafe bedrohten Straftat rechtlich zusammentrifit und deshalb die Strafe nicht dem Opiumgesetz zu entnehmen ist. Ob aber ein solches rechtliches Zusammentreffen überhaupt möglich ist, ist zweifelhaft und bestritten. Nach § 8 Abs. 1 sollen die Strafbestimmungen des OG. nur Anwendung finden, „wenn nicht nach anderen Strafgesetzen eine schwerere Strafe verwirkt ist‘. Damit ist der subsidiäre Charakter der Strafbe- stimmung ausgesprochen und die Rechtsprechung nimmt in solchen Fällen in der Regel an (vgl. RGSt. 44 1, 59 147), daß das subsidiäre Gesetz hinter das schwerere Gesetz zurücktritt, die Verurteilung nur aus diesem zu erfolgen hat, die Strafe nur aus ihm entnommen werden darf, daß also nicht Idealkonkurrenz, sondern Gesetzeskonkurrenz vor- liegt. Für das Opiumgesetz hat ein Urteil des 3. Strafsenats des Reichs- gerichts vom 2. 5. 27 III 104/27 den gleichen Standpunkt eingenom- men und bei Zusammentreffen von Betrug und Vergehen nach § 8 Nr. 1 OG. nur aus § 263 StGB. verurteilt. Schneidewin a. a. O. Anm. 1 zu $8 möchte in solchen Fällen trotz der Subsidiaritätsklausel Ideal- konkurrenz annehmen, da nur dann neben der Strafe auf Einziehung erkannt werden kann. Dieser Standpunkt würde ohne Zweifel dem praktischen Bedürfnis mehr entsprechen, wird aber der Rechtsprechung gegenüber kaum aufrecht erhalten werden können.

So viel zum Gesetz. Fragen wir nach seinen Auswirkungen, so ist folgendes zu bemerken:

Der Genuß von Rauschgiften, hauptsächlich von Morphin und Kokain, hat, wie oben bemerkt, in Deutschland in der Nachkriegszeit erheblich zugenommen. Wie Fraeb-Wolff S. 86 ff. zutreffend ausführen, führte der Zusammenbruch und der Waffenstillstand viele Morphinisten ungeheilt in die Heimat zurück. Aus dem Heeresgut wurden un- gezählte Kilogramm Morphin in Substanz, Hunderttausende von Am- pullen mit Morphiumlösung gestohlen und gelangten in den Schleich- handel. Neben den Morphinismus und den Spritzkokainismus trat der Schnupfkokainismus, insbesondere in den Kreisen der Halbwelt. Die Prostituierten und ihre Zuhälter fröhnten nicht nur selbst dem Genuß der Gifte, sondern wurden vielfach zu Kleinhändlern mit diesen. Diese Zustände drängten geradezu zu scharfen gesetzlichen Maßnahmen, ganz abgesehen von der im Opiumabkommen übernommenen inter- nationalen Verpflichtung.

Das Opiumgesetz vom 30. Dezember 1920 und seine Auswirkungen. 119

Hat sich das Gesetz als brauchbare Waffe im Kampfe gegen den Mißbrauch der Rauschgifte erwiesen? Die Frage ist bei diesem Gesetz wie letzten Endes bei allen anderen schwer zu beantworten; hauptsächlich schon um deswillen, weil man ja nie feststellen kann, wie viele Zuwiderhandlungen begangen wurden und wie viele begangen worden wären, wenn das Gesetz nicht bestehen würde; sodann aber auch, weil sich statistisch nicht erfassen läßt, wie das Verhältnis zwischen den zur Anzeige, Verfolgung und Verur- teilung gekommenen Fällen, zu der Zahl der tatsächlich begangenen Zu- widerhandlungen sich stellt. Sollte aber selbst die Zahl der Verurtei- lungen gegenüber der immer nur ganz oberflächlich und vermutlich zu schätzenden Zahl der begangenen Straftaten eine geringe sein, so wäre es trotzdem vollkommen verfehlt, hieraus auf die Überflüssigkeit des Gesetzes schließen zu wollen. Diese Methode wird z. B. von den Verfechtern der Strafloslassung der Abtreibung geübt. Sie weisen stets darauf hin, daß die Zahl der Verurteilungen gegenüber der Zahl der in Wirklichkeit begangenen Abtreibungen eine überaus geringe und deshalb die Strafdrohung überflüssig sei. Mit diesem Argument kann man das ganze Strafgesetzbuch über den Haufen werfen. Die Zahl der zur Aburteilung kommenden Diebstähle ist ohne Zweifel gegenüber der Zahl der begangenen gering; trotzdem ist es noch Nie- manden eingefallen, zu verlangen, daß der Diebstahl straflos bleibe.

Gibt sonach die Zahl der Verurteilungen auch kein richtiges Bild von der general- und spezialprävenierenden Wirkung des Gesetzes, so empfiehlt es sich immerhin, einen Blick auf die Statistik zu werfen. Für die Jahre 1923, 1924, 1925 ergeben sich folgende Zahlen:

1923: Verurteilungen 170, davon 37 zu Gefängnisstrafen unter 3 Monaten, 133 zu Geldstrafen. 1924: Verurteilungen 178, davon 13 zu Gefängnis zwischen 3 Monaten bis unter einem Jahre, 31 zu Gefängnis unter 3 Monaten, 133 zu Geldstrafen. 1925: Verurteilungen 313, davon 10 zu Gefängnis von 1 Jahr und mehr, 39 zu Gefängnis zwischen 3 Monaten bis unter einem Jahr, 64 zu Gefängnis unter 3 Mo- naten, 199 zu Geldstrafen. Die Zahl der Verurteilungen und die Höhe der Strafen zeigt sonach im Jahre 1925 eine erhebliche Zunahme gegenüber den beiden Vorjahren, die ihren Grund keineswegs in einer Zunahme der Gesetzesverletzungen zu haben braucht, sondern ihn ebenso wohl in einer strengeren Überwachung des Alkaloidhandels und in schärferer Verfolgung haben kann und voraussichtlich haben wird. Diese beiden letzteren Forderungen müssen aber mit aller Be- stimmtheit erhoben werden. Es ist ernste Pflicht aller Polizei- und

120 Ebermayer, Das Opiumgesetz vom 30. Dezember 1920 usw.

Gerichtsbehörden, den Alkaloidhandel aufs strengste zu überwachen und gegen alle Gesetzesübertretungen streng und rücksichtslos vor- zugehen. |

Fragt man, ob das Gesetz selbst noch Lücken enthält, die aus- zufüllen wären, so könnte man wohl daran denken, alle Suchtstoffe, insbesondere z. B. auch Eukodal, unter das Gesetz zu stellen, die Vermittlung des Verkaufs nicht nur als Beihilfe, sondern als Täter- schaft zu qualifizieren, die Einziehung obligatorisch zu machen. Ob es sich empfehlen dürfte, noch weiter zu gehen, z. B. auch den nicht heilmittelmäßigen Genuß und den Besitz von Suchtstoffen mit Strafe zu bedrohen und ähnlich wie im Geschlechtskrankheitengesetz An- zeigepflicht vonseiten des Arztes, Zwangsbehandlung usw. einzuführen, erscheint zweifelhaft und ist weniger eine juristische als eine medizi- nische Frage.

Daß dem Übel nicht lediglich mit den Mitteln des Strafrechts begegnet werden kann, hier vielmehr eine Reihe anderer Faktoren mitwirken müssen, bedarf keiner Erörterung. Trotzdem kann das Strafrecht an derartigen Mißständen nicht achtlos vorübergehen und es ist deshalb zu begrüßen, daß der Entwurf eines Allgemeinen Deut- schen Strafgesetzbuchs dem Mißbrauch von Rauschgiften in den §§ 57 (Unterbringung in Entziehungsanstalten), 367 (Volltrunkenheit, wobei nicht nur Alkohol in Frage kommt), 368 (Abgabe von Rauschmitteln an Insassen einer Trinkerheil- oder Entziehungsanstalt) eine bisher dem Strafgesetzbuch fremde Beachtung schenkt.

Das Opiumgesetz und seine Auswirkungen ’). Von Prof. F. Sioli, Diisseldorf.

Die ehrenvolle Aufgabe des medizinischen Berichterstatters, zu dem der Vorstand unseres Vereins mich bestellt hat, nach den Aus- fiihrungen eines so prominenten Gastes, wie des Herrn Oberreichsan- walts Ebermayer, zum Opiumgesetz zu sprechen, muß auf die Klä- rung der Frage hinzielen, ob durch die Gesetzgebung und Rechtsprechung eine Lage geschaffen ist, die ärzt- lichem Denken entspricht und mit ärztlichem Handeln vereinbar ist.

Die Durchführung des Opiumgesetzes hat eine gewisse Unsicher- heit und Beunruhigung in die Ärzteschaft gebracht über die Verord- nung der dem Opiumgesetz unterstellten Rauschmittel, insbesondere Morphium und Kokain.

Das ist wohl auch die Ursache für ein besonders dem Opium- gesetz dienendes Referat auf der Versammlung unseres Vereins, ob- wohl erst vor 2"/, Jahren auf der Jahresversammlung in Kassel durch Bonhoeffer und Ilberg in dem Referat über Verbreitung und Be- kämpfung des Morphinismus und Kokainismus auch vom Opium- gesetz in seiner Fassung von 1920 ausführlich gesprochen worden ist. Die neue Fassung des Gesetzes von 1924, die Ausführungsbestim- mungen und die Reichsgerichtsentscheidung vom 5. 10. 1926 mit der in letzter Zeit wachsenden gerichtlichen Verfolgung hat das ärztliche Interesse für das Opiumgesetz außerordentlich erweckt.

Wir als Psychiater müssen berücksichtigen, daß unsere wissen- schaftliche Überzeugung auch die Grundlage für die Beratung anderer Ärzte und der Medizinalbeamten und für die gutachtliche Stellung- nahme vor Gericht abgeben muß. Wir müssen dabei im Auge behalten, daß die Lage des praktischen Arztes, als eines einsamen Kämpjiers

1) Referat, erstattet auf der Jahresversammlung des Deutschen Vereins für Psychiatrie in Bad Kissingen am 24. April 1928.

122 Sioli,

gegen Krankheit und evtl. gegen Kranke eine schwierige ist, daß daher nur einfache Lösungen praktisch brauchbar werden können. Die gut- achtliche Klärung der ärztlichen Lage im Einzelfalle soll bedenken, daß sich vom sicheren Port aus behaglich raten läßt, daß aber ein prinzipieller Radikalismus in unwichtigen Dingen nicht durchgeführt werden kann.

Die verfügbare Zeit verlangt Beschränkung in den sehr zahl- reichen vom O. G. angeschnittenen Fragen und Beschränkung in der Anführung der umfangreich gewordenen Literatur, von der ich nur auf die zahlreichen Arbeiten von P. Wolff, auf die Bücher von Joel und Fraeb-Wolff und auf ein Gutachten von E. Schultze, das dieser Tage erscheint und das er mir im Manuskript zur Verfügung stellte, verweise.

Wenn man, wie wir wohl alle, die Rauschgiftseuche in ihrer neueren Verbreitung als eine soziale Krankheit und das Rauschgift- süchtigwerden als ein Krankwerden betrachtet, so muß man das Vor- handensein eines Gesetzes mit der Bekämpfungstendenz der Rausch- giftsuchten als notwendig betrachten und seine Durchführung aner- kennen und unterstützen.

Der von Ebermayer formulierte Grundgedanke des Opiumgesetzes: „Freilassung und Sicherung von Opium usw. für medizinische Zwecke; im übrigen im Interesse der Volksgesundheit Ausschluß vom Verkehr‘‘ macht das Opiumgesetz zu einem wichtigen Mittel in der Bekämpfung der Rauschgiftsuchten. Es greift an am Bezug der Alkaloide.

Daher hat das Gesetz als Ganzes und in allen seinen einzelnen Teilen ein großes ärztliches Interesse. Dieses ärztliche Interesse ist aber ein nur mittelbares, soweit es die Fragen des Bezugs von Opium usw. ohne Mitwirkung des Arztes betrifft, also die nichtärztliche Bezugsquelle der Rauschgifte. Zu diesen nur mittelbar interessierenden Punkten des Opiumgesetzes hat sich aus ärztlichen Kreisen kein . Widerspruch erhoben. Im Gegenteil ist für sie gerade der Wunsch nach Ausfüllung vorhandener Lücken auch ärztlich vertreten. So z. B. der Wunsch danach, auch andere im Opiumgesetz noch nicht genannte Rauschmittel demselben zu unterstellen wie insbesondere Eukodal, Dicodid, Dilaudid, die aus § 6 des Gesetzes durch eine Ver- ordnung mit Zustimmung des Reichsrats leicht möglich ist.

Weiterhin die Betonung der wichtigen Lücke der Ausführungs- bestimmungen, die nur zahnärztliche und ärztliche Rezepte der Auf- | bewahrungs- und Abschriftsvorschrift in den Apotheken unterstellt, nicht aber tierärztliche, so daß die Kontrolle des Rauschmittelgebrauchs

Das Opiumgesetz und seine Auswirkungen. 123

in den Apotheken erschwert und der Weg einer falschen Erklärung des Bestands-Mankos geebnet wird.

Mittelbares ärztliches Interesse haben alle die Vorschriften über den Verkehr mit den Rauschmitteln und ihre Durchführung, weil Lücken darin die Quellen der Rauschgiftsüchtigen speisen neben dem Bezug aus ärztlichen Rezepten. Dahin sind zu rechnen die verschie- denen Möglichkeiten, Rauschgifte im Fabrikations- und Großhandels- betrieb aus der Kontrolle der Reichsopiumstelle verschwinden zu lassen, die verschiedenen Manöver der Kontrollentziehung durch Transport nach Ländern ohne Einfuhrscheinszwang, die verschiedenen Arten des Schmuggels und Diebstahls und des Schleichhandels, der sich als vielgliedrige Kette manchmal aufklärt, noch öfter im Dunkeln verliert.

Zu den uns nur mittelbar interessierenden Fragen muß man auch die illegale Abgabe des Morphiums in Apotheken und die Abgabe auf gefälschte Rezepte und die vielerlei anderen Arten der klar illegitimen Rauschgiftbeschaffung rechnen, die durch ihre wechselnden anekdo- tischen Züge reizvoll sind.

Diese Punkte des ärztlichen Interesses am Opiumgesetz kann ich nicht ausführen, sondern habe nur einige davon flüchtig angeführt.

Es soll nur erwähnt sein, daß der Bezug der Rauschgifte ohne ärztliches Rezept ungefähr die Hälfte des Verbrauchs auszumachen scheint. In dieser Schätzung stimmen erfahrene Beurteiler wie Joel mit den Angaben überein, die ich von unseren zahlreichen Morphinisten, von Beamten der Medizinalpolizei und der Kriminalpolizei höre.

Die selbständig illegale Verabreichung der dem Opiumgesetz unterstehenden Rauschgifte in den Apotheken scheint keine große Rolle mehr zu spielen, und es scheint mir wichtig gerade in unserem Kreise darauf hinzuweisen und zu betonen, daß es verfehlt wäre, gegenwärtig die Apotheken als die hauptverantwortlichen Quellen des unerlaubten Rauschgiftbezuges anzusehen. Die Standes- und Berufspresse des Apothekerstandes (die pharmaceutische Zeitung und die Apothekerzeitung) leisten in Aufklärungs- und Warnungs- tätigkeit eine unermüdliche und sehr geschickte Arbeit, und die Durch- sicht ihrer Jahrgänge läßt erkennen, daß der verantwortungsbewußte Stand der Apotheker mit seiner guten Orientierung der Medizinal- gesetzgebung und Medizinalpolizei sich real zur Durchführung des Opiumgesetzes zurecht gefunden hat.

Die Erwähnung der uns ärztlich nur mittelbar interessierenden Punkte des Opiumgesetzes kann ich mit der Betonung abschließen,

124 Sioli,

daß jeder Morphiumbezug ohne Erlaubnis der Reichsopiumstelle oder ohne geregeltes ärztliches Rezept illegal ist.

Der legale Bezug des Morphiums usw. fiir den Ver- braucher geht über das ärztliche Rezept. Aber nicht jedes ärztliche Rezept ist legal, sondern das Opiumgesetz bestimmt, daß die ihm unterstellten Mittel nur als Heilmittel verordnet werden können. Der Arzt, der eins dieser Rauschmittel nicht als Heilmittel verordnet, macht sich aus $ 8 des Opiumgesetzes strafbar.

Aus der Diskussion über diese Rechtslage muß ich zunächst einen besonderen Standpunkt erwähnen, nämlich den, daß es überhaupt keine gesetzlichen Beschränkungen der ärztlichen Ordi- nation geben könne, daß die Verordnungen ein „Berufsrecht‘‘ des Arztes seien und daß es ein „unhaltbarer Zustand‘ sei, „daß subalterne Beamte der Polizei und weltfremde Vertreter der Justiz sich anmaßen über die Tätigkeit des Arztes zu urteilen, also in das Berufsrecht des Arztes eingreifen‘‘. Es erscheine „kaum möglich, daß ein Arzt eine so abwegige Medizinalpolizei und Justiz in Schutz nehmen kann“.

Solche, tatsächlich geäußerte Meinungen verneinen die Geltung der Gesetzgebung für das ärztliche Handeln überhaupt. Von diesem Standpunkt ausgehende Meinungen müssen meines Erachtens gerade auch aus ärztlichen Kreisen zurückgewiesen werden, wie das Wolf, StraBmann und andere tun. Von einem durch Gesetze unbeschwerten Berufsrecht des Arztes kann keine Rede sein und Entrüstung wäre ' nur dann angebracht, wenn wir Ärzte im Besitze unfehlbarer Weis- heiten wären.

Daß die Gegenüberstellung der Ausführungsbestimmungen „Ab- gabe zu anderen Zwecken‘ gegen „auf Grund ärztlicher Verordnungen‘ nicht die Legalisierung derärztlichenVerordnungen schlechthin bedeutet, sondern nur die der ärztlichen Verordnungen als Heilmittel, wie es das Gesetz verlangt, hat Ebermayer ausführlich begründet.

Wer auf dem Boden des geltenden Rechts und der Rechtsprechung steht, muß also unterscheiden zwischen der erlaubten Rauschgiftverordnung als Heilmittel und der nicht erlaubten.

Die Definition Heilmittel findet sich in der kaiserlichen Verordnung betr. den Verkehr mit Arzneimitteln vom 22. 1. 1901; Heilmittel sind danach „Mittel zur Beseitigung oder Linderung von Krankheiten bei Menschen und Tieren‘“.

Die Verordnungen der unter das Opiumgesetz fallenden Mittel dient nach der Rechtsprechung des Reichsgerichts Heilzwecken:

Das Opiumgesetz und seine Auswirkungen. 125

1. zur Schmerzstillung bei in ordnungsmäßigen Grenzen sich be- wegender Anwendung,

2. als allmählich abnehmende Verabreichung an Süchtige zur Ver- meidung der bei plötzlicher Entziehung auftretenden üblen Erscheinungen.

Zu diesen Zwecken ist die Rauschmittelverordnung erlaubt, „zu anderen Zwecken, insbesondere zu GenuSzwecken* ist sie nicht erlaubt, und es ist vom Reichsgericht ausdrücklich ausgesprochen, daß unter dem Gebrauch zu Heilzwecken ‚nicht aber die regelmäßige Fortgewährung an Süchtige, durch welchen diesen Kranken nicht geholfen, sondern geschadet wird’ fällt.

Das Reichsgerichtsurteil ist für Kokainverordnungen ergangen, es wird in gleicher Weise auf die anderen, dem Opiumgesetz unter- stellten Rauschmittel übertragen.

Dabei müssen wir die Meinung von Ebermayer, gebilligt auch von Fraeb-Wolff, aufnehmen, daß es bei der regelmäßigen Verordnung an Süchtige nicht so sehr darauf ankommt, ob für sie der Gebrauch „ein Genuß“ ist, als darauf, daß das Mittel ihnen eben nicht zu Heil- zwecken dient und dienen soll, also nicht als Heilmittel an sie ab- gegeben wird.

Aus dieser Rechtsprechung muß man ärztlich folgern, daß der Verordnung der Rauschgifte in ordnungsmäßigen Grenzen bei keiner schmerzhaften Krankheit Fesseln angelegt sind und für das eigentliche therapeutische Bedürfnis keine Beschränkung besteht.

Nur bei den Süchtigen ist der ärztliche Gebrauch eingeschränkt und eine allmählich abnehmende en vorgeschrieben.

Der Arzt kann also nur dann in Verlegenheit geraten, wenn er die Frage der Süchtigkeit nicht prüft und sich bei deren Behandlung nicht nach der allmählich abnehmenden Abgabe richtet.

Die praktische Anwendung für den Arzt hieße also: wenn eine Krankheit die Indikation zur Anwendung der Rausch- mittel gibt, so kann der Arzt sie in ordnungsmäßigen Grenzen verordnen, d. h. nach den Grundsätzen der ärzt- lichen Wissenschaft. Wenn dagegen als Krankheit nur Süchtigkeit vorliegt, so darf er die Mittel nicht regel- mäßig fortgewähren.

In diesen Folgen der Rechtsprechung muß man durchaus einen

126 Sioli,

Weeweiser fiir das arztliche Handeln anerkennen, und ich kann darin keine unerträgliche Zwangsjacke sehen.

Die Schwierigkeiten, die dem Arzte erwachsen, liegen in der Diagnosenstellung der Sucht und praktisch dabei nur bei der Frage der Entstehung der Sucht aus dem ärztlich indizierten Rauschmittelgebrauch heraus bei noch bestehender ander- weitiger Krankheit. |

Hier ist die Heranziehung einer sorgfältigen ärztlichen Denk- bildung notwendig, die immer wieder zurückgeht auf die wahren ärztlichen Indikationen der Rauschmittel. Diese sind für das Kokain nur die Lokalanaesthesie, die als fortgesetzte Gewährung nur bei äußerst seltenen Fällen (schwerer Larynxtuberkulose, inoperablen Carzinomen der Schleimhäute) in Frage kommt, während die bisherige Unersetz- barkeit des Kokains gerade auf der operativen Anwendung beruht, also der nicht regelmäßigen Anwendung. Die Entstehung der Kokain- sucht sollte bei richtiger Indikation nicht durch den Arzt möglich sein.

Die Indikation für das Morphium ist der akute heftige Schmerz als Wundschmerz, als Schmerzanfall bei Nierensteinen, Gallensteinen und anderen Koliken, auch der psychische Chok. Es kann weiter gewährt werden bei Krankheitszuständen, die schmerzhaft sind und ein baldiges Vorübergehen oder ein baldiges Ende erwarten lassen. Morphium ist aber kein Schlafmittel und kein Heil- und Linderungs- mittel für leichte nervöse und psychische Beschwerden.

Die Frage, wann Süchtigkeit vom Arzt berücksichtigt werden muß, ergibt sich praktisch aus dem Bedürfnis des Kranken nach Steigerung der Dosen, ohne daß dafür eine Verschlimmerung der Grundkrankheit vorliegt. Sobald das Bedürfnis des Kranken nach Steigerung der Dosen in Höhe oder Zahl an den Arzt herantritt, muß beim Arzte der Denkmechanismus sich auf die Frage der Süchtigkeit einstellen und beim Fehlen einer Verschlimmerung der Grundkrankheit die Suchtfrage berücksichtigen. Der rechtzeitig daran denkende Arzt hat zur Schmerzstillung andere Mittel zur Verfügung und sollte sich der ungeheuren Bedeutung der Psycho-Therapie gerade bei den Menschen bewußt sein, die durch eine Krankheit leiden und auf dem Wege süchtig zu werden sind.

Die ärztlichen Grundsätze der Morphiumindikation sind zweifellos viel strenger, als es für die Behandlung von schmerz- haften Krankheiten die Rechtssätze des Reichsgerichts- urteils verlangen. Bleibt man sich der strengen Indikation des

Das Opiumgesetz und seine Auswirkungen. 127

Morphiums bewußt, so wird man aus einer Krankheit, die die Mor- phiumanwendung erlaubt, keine Morphiumsucht ärztlich entstehen lassen und ärztlich unterhalten.

Soweit ich sehe, haben sich bisher aus der ärztlichen Morphium- anwendung als Heilmittel bei Krankheiten auch noch keine Schwierig- keiten mit dem Opiumgesetz ergeben. |

Die Schwierigkeiten entstehen nur aus der ärztlichen Behandlung der Süchtigen, und nur darin liegt die Un- sicherheit, in der sich die Ärzteschaft und die Begut- achtung befinden. Anderweitig Kranke, die Morphium wegen fortschreitender Krankheit in steigender Menge bedürfen, werden wir ärztlich nicht als Süchtige bezeichnen und die Verordnung des Morphiums an diese fällt nicht unter die Gesichtspunkte der ein- schränkenden Rechtsprechung. Sicher wird diese ärztliche Lage viel zu oft angenommen, ihre Möglichkeit aber in Abrede zu stellen, wäre falsch.

Bei klar zu durchschauender Süchtigkeit, die nicht auf einer anderweitigen schmerzhaften Krankheit beruht, ist der Tatbestand für die Reichsgerichtsentscheidung gegeben und wir sollten ärzt- lich freudig anerkennen, daß das Gesetz und die Recht- sprechung durch das Verbot der regelmäßigen Fortge- währung uns ein Mittel zur Unterstützung der kausalen Behandlung der Süchtigen in die Hand gibt. Seit Jahr- zehnten kämpfen wir wissenschaftlich dafür, daß die Behandlung des Rauschgiftsüchtigen in der Entziehung und nur immer wieder in der Entziehung bestehen muß und müssen diesen Standpunkt jetzt erst recht festhalten. Ein Recht des Morphinisten auf Mor- phium ist durch seine Sucht vom ärztlichen Standpunkt aus nicht begründet, sondern nur ein Recht auf eine sachgemäße Entziehung.

Da hier nur das Opiumgesetz und seine Auswirkungen zur Erör- terung steht, brauche ich nicht einzugehen auf die genetische Analyse der Süchtigkeit und brauche in unsere Versammlung nicht den Zank- apfel der verschiedenen Entziehungsmethoden zu werfen. Insbesondere, nachdem durch die verdienstvolle Rundirage von Wolff und ihre Aus- wertung sicher gestellt ist, daß die Mehrzahl der Entziehungskuren leitenden Ärzte jetzt für die plötzliche Entziehung eintreten, und die bekannten Gesichtspunkte von Bonhoeffer und E. Meyer stützen. Die Zelebrierung einer langsamen Entziehungskur ist durch die Recht- sprechung unbenommen und der ernstgemeinten Berücksichtigung

128 Sioli,

besonderer Verhältnisse bis zum Beginn einer systematischen Ent- ziehung steht ebensowenig ein Bedenken entgegen. Es erübrigt sich auch, davon zu sprechen, daß nach der jetzt verbreiteten ärztlichen Überzeugung gerade beim Kokain, dessen Verordnung dem Reichs- gerichtsurteil zugrunde liegt, eine langsame Entziehung auf keinen Fall notwendig ist.

In der Literatur über das Opiumgesetz spielt die Frage des unheilbaren Morphinisten eine Rolle; und eine noch größere Rolle wie in der Literatur spielt sie wohl im Denken der Ärzte, die Morphinisten regelmäßig Morphium verschreiben.

Theoretisch gesehen müßte man anerkennen, daß ein unheilbarer Morphinismus durch diese Unheilbarkeit zu einer Krankheit wird, die das Indikationsgebiet der ersten Bedingung des Reichsgerichts- urteils vom 5. 10. 1926 erfüllt, wo dann also dem Morphinisten das Morphium in ordnungsmäßigen Grenzen gegeben werden könnte. Die ordnungsmäßige Menge ist eine im Einzelfall ärztlich indizierte und bestimmte Menge, aber nicht eine Verordnung auf Verlangen des Patienten auf Diskretion oder gar in Substanz.

Praktisch gesehen muß man bezweifeln, daß jemals der Mor- phinismus selbst allein, d. h. die chronische Vergiftung und ihre Folgen, als ein solcher unheilbarer Krankheitszustand betrachtet werden kann. Als Beweis der Unheilbarkeit kann keinesfalls die Ablehnung einer sachgemäßen Entziehungskur durch den Morphinisten aner- kannt werden, es können auch nicht die abgebrochenen Kuren als Beweise angenommen werden und nicht der elende Zustand, welcher durch die Morphiumvergiftung hervorgerufen ist.

Nur andere Krankheiten als der Morphinismus selbst bei Morphinisten können die Annahme der Unheilbarkeit des Morphinismus begründen, wenn sie so sind, daß die Durchführung einer Entziehung oder Reduktion ohne Schaden für die Gesundheit nicht möglich ist. Das zu be- rücksichtigen gibt das Reichsgerichtsurteil genügenden Spielraum. Ich möchte die Formulierung Straßmanns aufgreifen: „Die Voraus- setzung, daß eine Entziehungskur nutzlos ist, wird kaum. in einer das Gericht überzeugenden Weise begründet werden können.“

Die gutachtliche Stellungnahme, welche von Scheurlen in einem solchen Falle eingenommen hat, halte ich für viel zu weitherzig und stimme der Kritik Nordhoffs gegen dieses Gutachten und seine Be- gründung zu.

Bei keinem Süchtigen kann man die Unheilbarkeit der Sucht

Das Opiumgesetz und seine Auswirkungen. 129

durch die Sucht selbst begründen. E. Schultze sagt mit Recht, daß die sogenannten unheilbaren Morphinisten nur ungeheilte sind und ich meine, daB die Kur- und Heilunwilligkeit zu Unrecht mit der Unheilbarkeit verwechselt wird.

Bei solcher ärztlichen Indikationsstellung scheint mir eine Beru- fung auf den Grundsatz des Pflichtennotstandes dann, wenn man Süchtigen Rauschmittel fortlaufend zu geben ärztlich gezwungen ist (ich wiederhole: nur eine theoretische Konstruktion) nicht nötig zu sein, sondern nur die Anwendung in ordnungsmäßigen Grenzen, und dazu gehört auch die Überwachung der Anwendung.

Schließlich müssen wir noch von dem Gebraucher kleiner Dosen der Rauschmittel sprechen, der nicht zum Süchtigen wird, d. h. nicht in Bedürfnis der Dosensteigerung verfällt. Ich zweifle daran, daß es eine solche Anwendung gibt, bei der nicht durch eine zu grunde liegende Krankheit die Suchtfrage in eine andere Sphäre, d. h. die der Krankheit mit der ordnungsmäßigen Anwendung der Mittel verschoben wird und glaube, daß für den Arzt nur die eine Einstellung möglich ist, daß Morphiumgebrauch auch der kleinsten Dosen ohne Krankheit stets als Sucht mit der über kurz oder lang eintretenden Dosensteigerung zu betrachten ist und nicht durch ärztliche Verordnungen unterhalten werden kann.

Wo dem Arzt Zweifel um diese Entscheidungen kommen und er fürchtet durch, oder vielmehr, trotz ordnungsmäßiger Verordnung in Schwierigkeiten verwickelt zu werden, sollte er konsultieren und die ärztliche Indikation mit den Medizinalbeamten und einem in Sucht- fragen praktisch besonders erfahrenen Facharzt protokollarisch fest- legen.

E. Schultze hält ein solches Verfahren für notwendig, und sicher wird es einmal zu einer solchen kommissarischen Verteilung der Ver- antwortlichkeit kommen müssen.

Die bedenkenlose Verordnung der Suchtalkaloide zu unterdrücken, ist Pflicht des ärztlichen Standes; es ist merkwürdig, daß nur einzelne ganz bestimmte Ärzte diejenigen sind, welche die große Masse der ärztlichen Verordnungen schreiben, und daß sich die Verordnungen nicht gleichmäßig auf breite Kreise des Ärztestandes verteilen.

Man kann erwägen, ob der Heilbehandlungszwang der durch die geltende Rechtsprechung mit ihrer Vorschrift allmählich abneh- mender Dosierung in indirekter Weise ausgeübt wird, auch in unmittelbarer Formulierung in das Opiumgesetz bzw. ein ergän-

Zeitschrift für Psychiatrie. LXXXIX. 9

130 Sioli,

zendes Gesetz aufzunehmen ware. Vom 4rztlichen Standpunkt aus ware eine derartige Festlegung der Heilbehandlungsverpflichtung warm zu begrüßen. |

Man muß sich darüber klar sein, daß zu einer wirksamen Be- kämpfung der Rauschmittelsucht und zur Heilung der Rauschgift- süchtigen das Opiumgesetz allein nicht ausreicht und ausreichen kann. Zu seiner wirksamen Ergänzung und Unterstützung bedarf es, worauf Ebermayer schon hingewiesen hat und wofür Fraeb und andere seit langem kämpfen, einer stärkeren als der bisherigen Berücksichtigung der Rauschmittelsüchtigen im B. G. B., im künftigen Strafrecht und in einem kommenden Irrenfürsorge- und schließlich Bewahrungs- gesetz. | | Ich muß schließlich kurz erwähnen, ob sich in den Aufnahme- zahlen der hauptsächlich der Suchtbehandlung dienenden psychia- trisch-neurologischen Anstalten eine Veränderung vollzieht, die auf eine Auswirkung des Opiumgesetzes zurückgeführt werden könnte: Die Mehrzahl der von mir angefragten Kliniken verzeichnet eine sehr beträchtliche Senkung in diesen Aufnahmezahlen für die letzten zwei Jahre. Einige Institute aber weisen eine Erhöhung auf. Die Diskussion darüber kommt also noch gar nicht in Frage.

Bevor ich zum Schluß komme, erwähne ich noch, daß das Opium- gesetz unter dem Zwange des Versailler Friedensvertrages in Eile zustande gekommen ist. Wäre diese Eile nicht nötig gewesen, so hätte man auf dem schon beschrittenen Wege der Verordnungen fortfahren können. Auf dem elastischen Verordnungswege hätte man Gelegenheit gehabt, Erfahrungen zu sammeln, bevor sie in der starren Form des Gesetzes kodifiziert werden mußten.

Jetzt, wo die Kodifikation vorliegt, darf das Opiumgesetz nicht in Gegenwart und Zukunft zu einer Fessel des ordnungsmäßigen und notwendigen Alkaloidgebrauches gemacht werden, sondern muß zur Sicherung gegen Mißbrauch dienen. Ich habe auseinandergesetzt, daß durch das Opiumgesetz und die bisherige Rechtsprechung die ordnungsmäßige Anwendung der Alkaloide, d. h. nach den Grund- sätzen der ärztlichen Wissenschaft, nicht behindert ist und wir sollten daher ärztlich alles tun, um die Durchführung zu unterstützen.

Es ist zu wünschen, daß die in Aussicht stehende Novelle zum Öpiumgesetz die ärztliche Verordnungsnotwendigkeit in einer ausführlicheren Formulierung regeln soll. Das wäre wohl möglich im Anschluß an die Reichsgerichtsentscheidung, d. h. also nur zur

Das Opiumgesetz und seine Auswirkungen. 131

Behandlung und Schmerzbekämpfung bei Krankheiten, nicht zur regelmäßigen Weitergewährung an Süchtige.

Man hat jetzt und wird auch dann bei sauberem ärztlichem Denken

die im ärztlichen Sinne notwendige Handlungsfreiheit haben, nicht aber die zur Ausstellung von Gefälligkeitsrezepten nach dem Verlangen des Süchtigen.

Mit der Durchführung des Opiumgesetzes wird der klinischen

und sozialen Bearbeitung der uns alle interessierenden Suchtfragen ein breites Feld eröffnet, dessen Klärung durch die Bücher von H. W. Maver und Joel und Fraenkel begonnen ist.

Ich fasse zum Schluß meine Ausführungen dahin zusammen:

1. Das Opiumgesetz und die daran anschließende Recht-

sprechung sind vom ärztlichen Standpunkt aus zu begrüßen und anzuerkennen. Sie sind keine Fessel des ärztlichen Handelns, sondern bedeuten nur die notwendige Sicherung vor dem RauschmittelmiB- brauch, auch in den Teilen, in denen sie unmittelbar in das ärztliche Handeln eingreifen.

2. Das Ziel: Die Verhinderung des nichtmedizinalen

Alkaloidbezugs und die möglichste Sicherung gegen den mißbräuchlichen medizinalen Bezug ist weiter- hin auszubauen und klarer zu formulieren.

3. Ärztlich müssen wir die Denkbildung auf eine klare

10. 11.

ärztliche Indikationsstellung und die Berücksich- tigung der medizinalen Gesetzgebung durchführen.

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. —, Die Auswirkungen des Opiumgesetzes für die ärztliche Praxis.

Deutsche Med. Wochenschr. 1927, Nr. 54.

Uber das Wesen der exogenen reaktiven Zustiinde vom Gesichtspunkt der Prozesse der Nerven- Physiologie’).

Von Professor W. A. Guilarowsky (Moskau).

Die Klinik der exogenen Störungen ist im allgemeinen in genü- gendem Umfange studiert worden. In Übereinstimmung hiermit ist der Zweck meiner Arbeit nicht so sehr die Mitteilung irgendwelcher neuer Beobachtungen, als die Durchsicht dessen, was mehr oder weniger bekannt ist, von einem anderen Gesichtspunkte aus, den man im Gegensatz zum rein klinischen als nerven-physiologischen bezeich- nen kann. Die Notwendigkeit der Gegenüberstellung der Resultate der klinischen Beobachtungen mit den Resultaten des Studiums der physiologischen Prozesse, die im Nervensystem vor sich gehen, ist gerade in bezug auf die exogenen Störungen besonders klar, da man hier mit der Einwirkung äußerlicher Reizungen von mehr oder weniger be- deutender Stärke rechnen muß. Während dessen sind die Erregungen im Nervensystem, seine Irradiationen, Konzentrationen und Hemmun- gen eingehend studiert worden und ganz zuerst von der Schule I. P. Pawlows. Es ist deshalb natürlich, daß die von den Physiologen er- rungenen Resultate auch von den Psychiatern beim Studium der exo- genen Störungen beachtet werden müssen. Ganz zuerst müssen ver- schiedene Bilder aus diesem Gebiete einer Durchsicht unterzogen werden vom Gesichtspunkte des Grundcharakters des Prozesses, der Erregung und Hemmung, indem man damit rechnet, daß dem Gehirn nicht nur die Funktionen des Analysators, sondern auch synthetische Eigenschaften eigen sind, eben das, wasCherringtown die integrierende Funktion nennt. Hierbei ist es notwendig die Besonderheiten der Aus- breitung des Prozesses und seiner Lokalisierung in den einen oder

1) Vortrag auf dem Allrussischen Kongreß der Psychiater und Nervenärzte in Moskau am 18.—23. Dezember 1927.

134 Guilarowsky,

anderen Teilen des Gehirns zu berechnen. Weniger Bedeutung besitzt der Charakter der Erregung, da die Gesetze seiner Ubertragung bei verschiedenen Erregern ein und dieselben sind.

Der Begriff des exogenen Reaktionstypus, der von Bonhoeffer aufgestellt worden ist, stellt den ersten Versuch einer Analyse der exogenen Stérungen nicht von seiten der Phinomenologie, sondern vom Gesichtspunkt der zugrunde liegenden Prozesse dar. Es ist aber zweifellos, daß die Gruppe der Zustände, die zu diesem Typus gerechnet werden deliriöse Zustände, Halluzinationen, amentive Zustände, bald mit Vorherrschen von Halluzinationen, bald mit katatonischen Symptomen, der Korsakowsche Symptomenkomplex durchaus nicht einheitlich dasteht. Zuweilen muß man hier mit Erscheinungen von Erregung rechnen oder von Hemmungen, manchesmal mit Störungen der Synthese. Noch verschiedenartiger ist sie in den am meisten berührten hirnphysiologischen Mechanismen. Das Studium der Ge- hirnphysiologie zwingt in gewissem Sinne zu der Konzeption Wernickes zurückzukehren, nach welcher die Symptomatik sich in einer Reihe einzelner Bilder in Abhängigkeit von dem Orte der Beschädigung und davon, welche Gehirnapparate verändert sind, aufrollen kann.

Im Falle der deliriösen Zustände fallen am meisten die Erschei- nungen der Erregung ins Auge. Typisch für dieselben sind massenhafte Gesichts- und Gehörshalluzinationen, die den Charakter von Szenen tragen. : |

Typisch für die deliriösen Zustände ist, daß das Bewußtsein der Persönlichkeit wenig leidet, während das sogenannte Gegenstands- Bewußtsein sehr stark gestört wird. Bei unseren Patienten konnte man als Regel feststellen, daß sie ihren Namen, hin und wieder ihr Alter und ihren Beruf wußten, während sie sowohl über Ort wie Zeit gar nicht orientiert waren, man kann sagen, besonnen, aber vollkommen desorientiert. Der Gedanke muß von selbst kommen, daß einer solchen gegenseitigen Beziehung der Erscheinungen nicht das allgemeine Betroffensein des Gehirns mit allen seinen Mechanismen entsprechen kann, sondern eine mehr oder weniger begrenzte und für gewisse Systeme bestimmte. Gerade diese Meinung spricht mit Bezug auf seine oneroiden Zustände, die im allgemeinen den deliriösen nahe kommen, Mayer Groß aus.

In unserem Bericht, aus dem ein Auszug in der allgemeinen Zeit- schrift für Psychiatrie 1926 veröffentlicht war, haben wir uns bemüht zu zeigen, daß die deliriösen Zustände eine Erscheinung der Erregung der psychosensoriellen Zone darstellen, die eine besondere biologische

Über das Wesen der exogenen reaktiven Zustände usw. 135

Bedeutung haben. Die mit dieser Erregung verbundene Hemmung hilft der Lokalisierung der Erregung gerade in dieser Zone, die mit dem Begriff der Ichferne Schilders übereinstimmt und die eine Aus- breitung derselben auf die in biologischer Beziehung wichtigeren psychischen Schichten Ichnähe verhindert.

Wie muß man von dem von uns eingenommenen Standpunkt die amentiven Zustände sehr häufige Bilder, die dem gleichen exo- genen Reagierungstypus zugezählt werden müssen, bewerten? Es ist zweckmäßig, eine Analyse dieser Zustände unmittelbar nach dem Delir zu geben, da sowohl die einen wie die anderen häufig zusammen be- obachtet werden. Ein und dieselbe Infektion oder Intoxikation kann entweder das typische Bild des Delirs geben oder einen amentiven Zustand oder das eine und das andere gleichzeitig. Hier haben wir natürlich nicht die Amentia im Auge als Krankheit im früheren Sinne, die durch Verwirrung, Halluzinationen und Erregung gekennzeichnet ist, sondern eben den amentiven Zustand. Obgleich für diese die Stö- rung der Aufnahmefähigkeit als typisch angesehen werden muß, so ist doch, wie Hartmann und P. Schilder 1) annehmen, für sie am we- sentlichsten das Fehlen der Fähigkeit zu einfachen Synthesen. Fischer hält die Hilflosigkeit ebenfalls für am charakteristischsten und nimmt an, daß die Bewußtseinstrübung gerade dann eintritt, wenn der Kranke sich noch immer bemüht Herr seiner Beschwerden zu werden. In einem Teil der Fälle sind die amentiven Zustände die Reaktion auf stärkere Grade desselben Erregers wie auch des Delirs. Diesem entspricht, daß Zustände dieser Art am Schluß der Erkrankung auftreten, wenn die toxische Einwirkung der Infektion besonders stark ist. Hiermit steht die Tatsache in Verbindung, daß Fälle von Flecktyphus nach unserem Material, die unter besonders starker Bewußtseinsstörung ver- liefen, eine sehr große Zahl von Todesfällen ergaben. Aber eine noch größere Bedeutung hat vielleicht der besondere Zustand des Nerven- systems, die individuellen Eigenschaften des Gehirns, als eines analy- sierenden und integrierenden Organs. Dieses ist aus den zahlreichen Fällen sichtbar, wenn bei ein und demselben Kranken während seines Lebens einige Male Geistesstörung verbunden mit dem Bild der Amentia beobachtet wurde (rezidivierende und remittierende Amentia der Au- toren). Hier breitet sich der Prozeß auch auf die psychischen Schichten aus, die besonders intim mit unserer Ichnähe verbunden sind. Zu solchen Erscheinungen der Verstimmung muß auch der Korsakowsche

1) Zeitschr. für die ges. Neurologie und Psych. Bd. 92, 1924.

136 Guilarowsky,

Symptomenkomplex zugezählt werden, doch geht die Verbreitung hier wieder in der impressionalen Zone vor sich.

In einer Reihe von Arbeitenhaben wir uns bemüht die Tatsache zu begründen, daß die Störung des Gedächtnisses in einer Reihe psycho- pathologischer Phänomene eine ganz besondere Stellung einnimmt. Sie stellt keine unbedingte Begleiterscheinungen aller Psychosen dar, selbst nicht derjenigen von ihnen, in welchen die psychischen Funk- tionen überhaupt sehr stark gestört sind; ihre Intensität läuft den übri- gen Störungen ebenfalls nicht parallel, im besonderen der Demenz. Bei Versuchen der Lokalisierung müßte man zu dem Ergebnis kommen, daß die anatomisch-physiologischen Korrelate der Gedächtnisstörung andere sein müssen, wie z. B. für die Prozesse der Demenz. Die phy- siologischen Prozesse, die den Gedächtnisstörungen entsprechen, müssen irgendwo in anderen Abteilungen vor sich gehen als z. B. denen, mit denen die Prozesse der Begriffsfähigkeit verbunden sind und gerade in dem System der Nervenzellen und Fasern, die sich in besonders innigem Kontakt mit den Zentren der höheren Gefühls- organe und Sprechzentren befinden.

Besondere Aufmerksamkeit verdienen die Zustände, die von der Zeit der Arbeiten Poppers !) an, zu dem schizophrenen Reaktions- typus gehören. In der Formulierung Poppers sind das die Fälle, wenn, ohne daß man im latenten Zustande irgendwelche Erscheinungen der Schizophrenie annehmen kann, sowie auch ohne daß der weitere Ver- lauf das Recht gegeben hätte an diese Krankheit zu denken, sich Zu- stände entwickeln, die von der Schizophrenie nicht zu unterscheiden sind; in diesen Fällen kann man auch in der Vergangenheit keinerlei schizoide Anzeichen entdecken. Die Geistesstörung wird in diesen Fällen durch irgendwelche äußere Momente hervorgerufen, setzt sich eine Zeitlang fort und endet mit Genesung.

Die neue Konzeption wurde zuerst mitfühlend von Kahn?) auf- genommen, dann auch von anderen Forschern und der Begriff selbst erhielt bis zu einem gewissen Grade das Bürgerrecht.

Gerson?) hat unter dieser Benennung den Fall eines 25 jährigen Mädchens beschrieben, das 5 Fälle mit Erregung und mit Erscheinun- gen der läppischen Verblödung durchgemacht hatte, sowie mit kata-

1) Der schizophrene Reaktionstypus. Zeitschr. f. die ges. Neur. und Psych. 1920 und 1921 Bl. 68.

2) Zur Frage der schizophrenen Reaktionstypen. Zeitschr. f. die ges. Neur. und Psych. 1921 Bd. 66.

3) Archiv f. Psych. u. Nervenkr. Bd. 73 1925.

Über das Wesen der exogeneu reaktiven Zustände usw. 137

tonischen Symptomen, manchesmal mit Verweigerung der Nahrungs- aufnahme, die die Ernährung mit der Sonde erforderte.

Nach der Meinung Poppers stellt der schizophrene Reaktionsty- pus eine spezifische Reaktion, den Ausdruck der exogenen Störung dar. Das Studium der Arbeiten der letzten Zeit läßt annehmen, daß das Hervorheben bestimmter Fälle in der Eigenschaft eines besonderen Typus der Reaktion von der Gruppe der Schizophrenie, welche durch einen bestimmten Prozeß charakterisiert wird, mehr oder weniger festgesetzt ist.

Krisch +) unterscheidet folgende Fälle von Schizophrenie:

1. die vorwiegend idiotypische Schizophrenie,

2. die vorwiegend exogenen symptomatischen,

3. die kritogenen, genuinen.

E. Kahn) unterscheidet ebenfalls die idiotypische oder genuine Schizophrenie von den schizoiden idiotypischen Formen der Reaktion und von den exogenen schizoformen Reaktionen.

Was die Symptomatologie solcher exogenen Schizophrenien oder schizoformen Reaktionen anbetrifft, so stellt sie sich hauptsächlich aus Erregung mit katatonischen Erscheinungen, mit Verweigerung von Nahrungsaufnahme, mit Halluzinationen und Verfolgungswahn- ideen zusammen. Die hervorrufenden Momente sind gewöhnlich In- fektionen, manchesmal psychische Momente. Prof. P. B. Gannuschkin hat in einer Arbeit, die zur Stellung der Frage über die schizophrenische Konstitution 2) gehört, noch vor Popper über den schizophrenen Typus der Reagierung geschrieben, trat an diese Frage aber nicht vom Ge- sichtspunkt der Exogenie, sondern vom Gesichtspunkt der Möglich- keit des Hervortretens versteckter Konstitutionen heran; in dem Falle, den er anführt, hat in der Eigenschaft der reaktogenen das psychische Trauma eine Rolle gespielt.

Die Analyse der Fälle, die in der Eigenschaft des schizophrenen Reaktionstypus beschrieben worden sind, lassen zur Schlußfolgerung kommen, daß man hier kaum von „nicht unterscheidbaren‘“ Zuständen der Schizophrenie sprechen kann, wie Popper sagt. Gewöhnlich sind das akute Zustände, die wenn sie auch eine äußerliche Ähnlich- keit mit dieser Krankheit darstellen, doch ohne klare Anzeichen der Spaltung, der Zerrissenheit des Denkvermögens und der charakteri- stischen emotionalen Störungen sind. Ein größeres Recht der An-

1) Zitiert nach K. Moser. Grundsätzliches und Kritisches zur Endo- genie und Exogenie der Schizophrenien. 2) Zeitgen. Psych. 1914. Russisch.

138 _ Guilarowsky,

näherung an die Schizophrenien geben die Fälle, in denen sich unter dem Einfluß exogener Momente vorübergehende, wenn auch manches- mal verhältnismäßig anhaltende Wahnbilder des physischen Ein- flusses, des Vergiftungswahns, der hypnotischen Einflüsse, der Ein- wirkung der Elektrizität usw. entwickeln. Für sie scheint auch die Benennung selbst schizophrener Reaktionstypus besser zu passen. Wie uns aber scheint, entspricht die Zurechnung aller dieser Fälle zu einer Gruppe mit der Schizophrenie, wenn auch mit dem Hin- zufügen der Epithetas exogene oder symptomatische, nur in einem "Teile der wirklichen Lage der Dinge. Diese Bilder, die als Phänotypen betrachtet werden, sind, wenn sie auch in ihrem genotypischen Teil eine enge Beziehung zu den vererbten Momenten haben, der Exogenie nicht nur in pathoplastischer Beziehung, sondern auch von seiten der Genese verpflichtet. Und hier hat deshalb, ebenso wie in bezug auf andere exogene Störungen, nicht so sehr die Annäherung an ir- gendwelche Erkrankungen Bedeutung, sondern das Studium der zu- grunde liegenden hirnphysiologischen Mechanismen.

Die psychischen Veränderungen bei lethargischer Enzephalitis mit Ausnahme derjenigen, die unmittelbar mit den Erscheinungen des Parkinsonismus verbunden sind, sind verhältnismäßig wenig er- forscht. Besonders bezieht sich dieses auf die bei dieser Krankheit nicht selten beobachteten Wahnbilder. In den Arbeiten von Economo und Kauders befinden sich Hinweise auf Wahnideen, die als Resultat der Erklärung von Empfindungen auftauchen, die mit den Ver- änderungen in der Bewegungssphäre zusammenhängen. Eine genauere Beschreibung befindet sich in der Arbeit J. A. Quints 1), in welcher von einem anhaltenden Vergiftungswahn, verbunden mit besonderen Gefühlen im Munde, berichtet wird; dem Kranken schien es ebenfalls, als ob auf ihn mit elektrischem Strom eingewirkt wird, daß eine Ver- schwörung gegen ihn bestehe.

In der Psychiatrischen Klinik der 2. Moskauer Universität wird zurzeit ein Fall des lethargischen Enzephalits studiert, der von dem Assistenten der Klinik, Dr. A. S. Powitzkaja eingehender geschildert werden wird. Es handelt sich um einen 20 jährigen Bauern, der seit 3 Jahren an Erscheinungen des Parkinsonismus leidet. Zum Krank- heitsbilde gehörte außer der Gebundenheit, der charakteristischen Veränderung der Haltung, noch eine eigenartige Redestörung, die

1) Eine paranoide Variante der postencephal. psych. Zustände. Archiv f. Psych. u. Nerv. B. 78.

Über das Wesen der exogenen reaktiven Zustände usw. 139

zuerst von Souque beschrieben worden ist, beschrieben auch in einigen Arbeiten bei lethargischer Enzephalitis: die Palilalie. Bei diesem Kranken wurden in den letzten Jahren Anfälle von eigenartigen psychischen Veränderungen beobachtet, die mit einer allgemeinen Veränderung des Selbstbefindens begannen und von Halluzinationen und Verfolgungswahnideen begleitet wurden. Solche Anfälle dauern gegen 24 Stunden und enden mit der Rückkehr zum früheren Zustand und vollem Verschwinden der Wahnideen. Sie stellen eine klar aus- gedrückte Periodizität dar. Mit großer Regelmäßigkeit fühlt sich der Kranke jeden dritten Tag schlechter, wobei dies manchesmal mit Kopf- schmerzen und Verschlimmerung des physischen Selbstbefindens ab- geht, manchesmal sich jedoch Bilder von eigenartigen Wahnaus- brüchen einstellen.

„Dem Anfall“ gehen vorher ein allgemeines Unwohlsein, Schlaflosigkeit, Kopfschmerz, unangenehme Empfindungen im ganzen Körper. Während des ,,Anfalls‘‘ Gebundensein fast bis zur völligen Erstarrung, scharfe Transpiration, Salivation, Störung des Atmungs- -rhythmus, Labilität des Pulsschlags, manchesmal Anhalten des Urins.

Gleichzeitig Gesichtshalluzinationen (sieht Teufel, graue Mäuse, eine Greisin tot) und Wahninterpretationen Wahn der physischen Einwirkung, Vergiftung, Verfolgung; ihm scheint es, daß auf ihn irgend jemand durch irgend etwas einwirkt, ihn hypnotisiert, wobei er im ganzen Körper Schmerzen verspürt, ihm scheint, daß ihn Feinde umgeben, man ihn totquälen, vergiften, töten will, daß in der Nahrung Gift enthalten ist. Er verweigert die Nahrungsaufnahme. In der Wahn- bildung in diesem Falle und ihm analog muß man ganz zuerst den ver- schiedenen Empfindungen, die mit dem Wesen der Krankheit, den Veränderungen des Muskeltonus, den vegetativen Störungen verbunden sind, Bedeutung beimessen. Die Auffassung der Umgebung ist ein verwickelter Prozeß, in dessen Formierung die körperlichen Erlebnisse, die organischen Empfindungen eine große Rolle spielen. Das Vor- handensein besonderer Schmerz- oder überhaupt unangenehmer Empfindungen wirkt in bestimmter Weise auf die Auffassungsfähigkeit neuer Eindrücke, indem es in bezug auf dieselben eine neue Aufstellung errichtet, die unter bestimmten Bedingungen zum Wahn werden kann. Diesem hilft besonders das Bewußtsein der Gewalt, des Zwangs, ein- zelner Erlebnisse, der Inhalt von Gedanken und Neigungen, wie dieses oftmals bei lethargischer Enzephalitis der Fall ist.

Die organischen Schmerzempfindungen, die Veränderung der Einstellung des Kranken auf die Umgebung geben, indem sie einen

140 Guilarowsky,

fiir den Wahn der Interpretation giinstigen Boden bilden, zu gleicher Zeit ein plastisches Material fiir die Konstruierung des Wahnes selbst.

Einen solchen Mechanismus der Wahnbildung kann man einen kathestesischen nennen, indem man die groBe Rolle der allgemeinen Empfindungen ins Auge faßt. Eine solche Auffassung des Wahn- mechanismus ist in einigen Fällen eine vollere Entwickelung des mehr allgemeinen Gedankens des somatopsychischen Beziehungswahns, der von Wernicke gegeben wurde.

Einen solchen Wahnmechanismus kann man in Beziehung auf die lethargische Enzephalitis annehmen. Aber ein gleicher ist er, wie man annehmen muß, in vielen Fällen der Schizophrenie. Die Ähnlichkeit der lethargischen Enzephalitis mit der Schizophrenie ist manchesmal so groß, daß man zuweilen annehmen kann, daß in diesen Fällen es sich um die Kombinierung von 2 Erkrankungen handelt (wobei der enzephalitische Prozeß sich in den versteckten schizophrenen Mecha- nismus verflochten hat).

Diese Möglichkeit kann nicht abgeleugnet werden, und es sind durchaus zweifelsfreie Fälle beschrieben worden, die nur auf diese Weise gedeutet werden können. Aber noch zweifelsfreier ist es, daß die Ent- wicklung des Wahns mit ebensolchen Besonderheiten wie bei der Schizophrenie und mit der gleichen Struktur auch bei der Enze- phalitis möglich ist.

Etwas Ähnliches ist wie es scheint auch bei der traumatischen Be- schädigung des Gehirns möglich. Es sind nicht wenige Fälle trau- matischer Psychosen mit Bildern der Dementia praecox beschrieben worden. Als Beispiel kann man auf die Arbeit E. Trautmanns +) hin- weisen. Es ist kaum möglich anzunehmen, daß in allen diesen Fällen das Trauma der hervorrufende Faktor für die latente Schizophrenie ist, da die Rolle des Traumas in dieser Beziehung gerade eine kleine ist. Popelreuter hat in dreitausend Fällen von Kopfbeschädigungen nur zwei Fälle von Schizophrenie beobachtet. Andererseits lenkt Prof. Bumke die Aufmerksamkeit darauf, daß trotz der Massen-Trau- matisierung des Kopfes während der Kriegszeit sich die Zahl der Er- krankungen an Schizophrenie nicht vergrößert hat.

Wenn das Trauma einen schizophrenen Symptomenkomplex in der allgemeinsten Form geben kann, so sind den verschiede- nen chronischen Vergiftungen und vor allem der Alkoholvergiftung

1) Über psychische Folgezustände nach Gehirntrauma. Zeitschr. f. die ges. Neur. Psych. Bd. 93.

ws

Über das Wesen der exogenen reaktiven Zustände usw. 141

zuweilen Bilder eigen, die von dem schizophrenen Wahnaufbau nicht zu unterscheiden sind. Diese Tatsache ist so sehr bekannt, daß ich es nicht für nötig halte ausführlich bei derselben zu verweilen und mache nur auf einen Fall aufmerksam, der vor kurzem von Bonhoeffer beschrieben worden ist 1). Bei einem Kranken entwickelten sich 3 Jahre nach einer Kokainvergiftung Größenwahnideen, hauptsächlich im Sinne von Erfindungen mit Massenhalluzinationen, mit Gedankenlautwerden und Wahn des Gedankenlesens. Nach 1?/, Jahr erfolgte eine volle Korrektion des Wahns.

Zum Verständnis derartiger Fälle erscheint es produktiver, nicht die versteckten Konstitutionen abzusuchen, sondern die zugrunde liegen- den physiologischen Mechanismen aufzuklären. Die Pathologen be- trachten die Prozesse, die bei Infektionen und Intoxikationen vor sich gehen, mehr oder weniger gleichartig. Der Tatsache der Lokalisation selbst geht die eine oder die andere Phase der Zirkulation vor. Aus dem Blut und der Lymphe setzen sich die Bakterien wie auch die Giftteilchen, die in den Organismus eingeführt wurden, im Gewebe fest. Diese Fest-

‚setzung geschieht hauptsächlich beim Vorhandensein von Stauungs- erscheinungen, die sich besonders leicht an einigen Stellen entwickeln. Das Striatum stellt ein Gebiet dar, das sowohl bei Trauma, wie auch bei Infektionen und Vergiftungen besonders oft leidet. Bei einer experimentellen Manganvergiftung leidet, wie es die Forschungen F. H. Lewys und J. Tiefenbachs ?) ergeben haben, besonders das Striatum. Andererseits konstatiert K. Tinley Gayle 3) nach Beobach- tungen von 6 Fällen einer professionellen Manganvergiftung ein an den Parkinsonismus erinnerndes Bild: ein maskenartiges Gesicht, Störung des Ganges, pro u. retropulsiv, Intentionszittern, monotone Rede, in 3 Fällen Atmungsstörungen, in 2 Schläfrigkeit; in 2 Fällen wurden psychische Symptome mit paranoischen Einstellungen ge- funden. Es ist bekannt, wie oft das Pallium bei Kohlensäureoxyd- vergiftungen leidet. In einigen Fallen der Quecksilbervergiftung, die in Moskau im Jahre 1926 beobachtet wurden, erinnerte das kli- nische Krankheitsbild an lethargische Enzephalitis, wie dies auch von einigen Neuropathologen diagnostiziert wurde. In einem Falle, der zur Sektion führte, erwies sich als besonders beschädigt das Striatum.

1) Zur Frage der fortschreitenden und stationären Wahnbildungen bei narkot. Dauervergiftungen. Allg. Zeitschr. f. Psych. Bd. 84, 1926.

2) Die experim. Manganperoxyenzephalitis u. ihre sekundäre Autoin- fektion. Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. 71 Bd.

3) Zitiert aus der Zeitschr. für die ges. Neur. u. Psych. 1927.

142 Guilarowski,

Ob daran die Bedingungen der Blutzirkulation dieser Zone, die bereits von Monakow bemerkt wurden, oder die besonderen Bedingungen der Nervenelemente (ihre Belastung durch Pigment, Kalkaufschich- tungen) schuld tragen, jedenfalls ist die Tatsache, daß sie besonders verwundbar ist, nicht zu leugnen. Deshalb kann man nicht anders als die Wahnbilder der physischen Einwirkungen von Vergiftungen, der Einwirkungen, die oft bei verschiedenen Vergiftungen bemerkt werden, den in den gleichen Fällen oft berührten Zentren dieses Gebietes ge- genüberzustellen. Die Vergiftung gibt aus dem Grunde Wahnbilder, die sehr an die Schizophrenie und die lethargische Enzephalitis erinnern, weil sie dieselben Gebiete berührt, die bei diesen Krankheiten ver- ändert werden, dieselben zerebralen Mechanismen trifft.

Auf diese Weise kann ein und dieselbe Form der Wahnreaktion nicht nur bei der Schizophrenie sondern auch bei anderen Erkran- kungen, die in keinerlei Beziehung zu ihr stehen, beobachtet werden. Sehr häufig tritt sie bei der Schizophrenie auf. Indem man dieser Krankheit die Beständigkeit der Veränderungen der subkortikalen

Zentren im Auge hat, soweit man hierüber nach den vegetativen . Störungen urteilen kann, ebenso wie ihre Ähnlichkeit in dieser Be-

ziehung mit der lethargischen Enzephalitis, kann man eine solche Reaktion für die Schizophrenie als Prozeß sogar als typisch rechnen. Das klinische Bild der Schizophrenie, selbst wenn man solche Fälle, bei denen man über einen bestimmten anatomischen Prozeß sprechen muß, im Auge hat, wird nicht nur durch die histologischen Ver- änderungen erklärt. Man kann hier nicht nur mit ihrer Intensität und den Besonderheiten der Lokalisierung in den verschiedenen Ge- bieten rechnen, sondern muß auch die exogenen Momente und Reak- tionen, hervorgerufen durch die vegetativen Prozesse und die einzelnen hirnphysiologischen Mechanismen, in Betracht ziehen. Einzelne Syn- drome können bei verschiedenen Erkrankungen auftreten, aber für jede Krankheit sind mehr oder weniger bestimmte Syndrome typisch. Für die Schizophrenie in mehr oder weniger geradem Zusammenhang mit der primären Unzulänglichkeit des Gehirns sind bei dieser Krank- heit die obenbeschriebenen Wahnbilder, die katatonischen Erscheinun- gen, sowie auch die amentiven Zustände typisch; es ist andererseits aber kaum ein Zufall, daß man bei ihr kaum dem Korsakowschen Symptomenkomplex begegnet, der sonst bei fast allen organischen Gehirnerkrankungen mehr oder weniger beobachtet wird. In dieser Neigung durch bestimmte ‚Reaktionen zu reagieren, kann man einer- seits die Endogenie sehen, über welche mit Bezug auf den schizo-

Über das Wesen der exogenen reaktiven Zustände usw. 143

phrenen Reaktionstypus Popper spricht, andererseits aber die Beson- derheiten des Gehirnbaus als Analysator, die nach Meinung der Phy- siologen auf die Form der Reaktion einwirken. Neben der Endogenie, die die Neigung zu Erkrankungen an einer bestimmten Krankheit im ganzen bestimmt, muß man noch öfters mit der angeborenen Prä- disposition für einzelne Syndrome und Reaktionen rechnen.

Ohne das Gleichungszeichen zwischen der Schizophrenie und der lethargischen Enzephalitis zu stellen, ebenso wie mit einigen Ver- giftungen, kann man behaupten, daß die einzelnen Mechanismen, die Entstehung einzelner Symptome und ihrer Komplexe identisch sein können. Hierzu muß man hinzuzählen die uns interessierende Form der Wahnbildung, die man, die obenbeschriebene Rolle der Ent- stehung ihrer Gefühle im Auge haltend, eine katesthesische Wahn- bildung nennen könnte; der ganze Komplex der Erscheinungen ist ein subkortikales Syndrom. Es stellt eine bedeutende Ähnlichkeit mit der Schizophrenie dar, doch ist diese Ähnlichkeit in der großen Mehrheit der Fälle eine rein äußerliche, da keinerlei Beziehungen zu dieser Krankheit bestehen. Dieses Syndrom entspricht den Be- griffen der exogenen symptomatischen Schizophrenie, der schizophrenen Reaktion der Autoren, doch kann man diese Bezeichnungen nicht als passende ansehen, da sie nicht den betreffenden zugrunde lie- genden biologischen Mechanismen entsprechen. Sie verdunkeln im gewissen Maße sogar die Sache, da sie in sich einen Begriff irgend einer Schizophrenie enthalten, wenn auch nur einer symptomatischen, irgendwelcher Rudimente oder forme fruste der Schizophrenie, irgend etwas aufgebaut nach Art und Weise der Krankheit, als nosologischer Einheit im früheren Begriff. Währenddessen ist dies nur die Form der Reaktion, die nicht nur der Schizophrenie eigen ist.

Vom Standpunkt der Charakteristik der physiologischen Prozesse für die Zentren des Subkortex aus, muß man an die Erregung denken. Mit ihr ist seinerseits der Prozeß der Hemmung der Rindenmechanis- men verbunden, diejenige intellektuelle Schwächung, die eine der not- wendigen Bedingungen für die Genese der Wahnerscheinungen ist.

Die angeführten Tatsachen, besonders diejenigen, die zu den deliriösen Zuständen, als besondere Form der Abwehrreaktion des primär gesunden Gehirns gehören, und zum Verfolgungswahn, als Form derselben Abwehrreaktion des Gehirns mit den Erscheinungen der primären Schwäche von der Geburt an oder erworben durch ver- schiedene exogene Momente, beweisen, wie mir scheint, wie viel für die Ziele der Psychiatrie die Ergebnisse der Physiologie geben können.

Eugenik und offene Fürsorge für Geisteskranke’). Von Geh. Medizinalrat Dr. Max Fischer, Berlin-Dahlem.

Die hocherfreuliche erfolgreiche Entwicklung der offenen Fürsorge für Geisteskranke in den letzten Jahren, die in Verbindung mit Früh- entlassung und Außenbehandlung für unser ganzes Irrenwesen in den verschiedensten Beziehungen so folgenreich im guten Sinne ist, birgt neben den bekannten großen Vorteilen auch bestimmte, nicht gering zu veranschlagende Gefahren in sich, die wir uns gewissen- hafterweise nicht verhehlen noch vernachlässigen dürfen; vielmehr gilt es, sie, gerade um die neue Bewegung nicht zu schädigen oder zu diskreditieren, klarzulegen, zu kompensieren, ja nach Möglichkeit zu überkompensieren.

Es ist leicht einzusehen, daß unsere ärztliche Vetmi aufs stärkste belastet werden muß, wenn wir einesteils noch ziemlich frische Kranke nach kurzer Anstaltsbehandlung andernteils notge- drungen aber auch chronische Schwerkranke, ferner viele Psycho- pathen, Alkoholiker, Epileptische und Kriminelle ungeheilt, wenn auch gebessert und weiterhin unter unserer Fürsorge stehend, in die Familie und ins freie Leben zurückgeben. Die Selbstgefährlichkeit und Gemeingefährlichkeit unserer Kranken schafft da immer wieder, oft blitzartig neue und unvorhergesehene Situationen, die unsere beständige angespannte Aufmerksamkeit erfordern und trotzdem nicht immer ohne Mißerfolg oder sogar schweren Unglücksfall aus- gehen. Ein starkes Risiko ist also von dieser Seite her mit der freien Behandlung zweifellos verbunden und stellt unser ärztliches Gewissen und unsere Vertrauensstellung der Öffentlichkeit gegenüber auf ernste Proben. Nur größte Umsicht und Besonnenheit, rasche Entschlub- fähigkeit und aktives Eingreifen unserer Fürsorgeorgane, insbesondere

1) Aus dem Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik. Dir.: Prof. Dr. Eugen Fischer.

Fischer, Eugenik und offene Fiirsorge fiir Geisteskranke. 145

des Fürsorgearztes, kann hier die Lage im Einzelfalle und damit auch das ganze fortschrittliche System retten; wie man sieht, ein recht schweres und dornenvolles Amt!

Dadurch ferner, daß unsere Kranken, geheilt oder ungeheilt, wieder das eheliche Leben, den ehelichen oder unehelichen Geschlechtsver- kehr aufnehmen oder eine Ehe eingehen und Kinder zeugen, erhebt sich, insbesondere im Zeichen des heutigen engen Zusammenlebens und der ungeheuren Wohnungsnot, das Gespenst minderwertiger, lebensuntüchtiger oder direkt psychotischer Nachkommenschaft zu seiner vollen Größe. Ich kann verraten, daß unsere Erblichkeits- forscher und Eugeniker diesem unserem Beginnen der Frühentlassung und Außenfürsorge der Geisteskranken mit sehr besorgten Blicken, ja mit ernsten Bedenken gegenüberstehen. Man begreift, daß gerade diese Kreise im Interesse der Gewinnung tüchtiger und der Ausmerzung untüchtiger Nachkommenschaft sich, wenn es anginge, durchaus am liebsten für eine Dauerasylierung sämtlicher Geisteskranken einsetzen würden, insbesondere solange es eine Zwangssterilisierung nicht gibt. Die Verhütung erblich kranker Nachkommenschaft muß ja der Eu- genik als oberster Grundsatz gelten. Ohne solche Bestrebungen wäre eine Einschränkung der Vererbungskrankheiten gar nicht möglich; sie müßten sich vielmehr ihrem Naturgebot gemäß immer mehr aus- breiten.

Es besteht auch gar kein Zweifel darüber, daß durch die seither vielfach geübte lange Zurückhaltung vieler, besonders chronischer Geisteskranker in Anstaltsbehandlung und damit durch ihre oft le- benslängliche Ausschaltung aus der Fortpflanzung in eugenischer Hinsicht viel Unglück verhütet bzw. viel Gutes gewirkt wurde, das jetzt in Frage gestellt erscheint. Wir Psychiater haben somit allen Grund uns mit dieser wichtigen Seite des Problems aufs ernsthafteste zu be- fassen und auseinanderzusetzen. Hier konnte es nur gestreift werden; es verdient aber nach allen seinen Beziehungen, z. B. auch zur Sterili- sierung, zur Zwangssterilisierung und zur künstlichen Unterbrechung der Schwangerschaft in juristischer, ärztlicher und eugenischer Hin- sicht von Grund auf bearbeitet zu werden.

Die zwangsweise Verwahrung unserer Geisteskranken allgemeinhin gegen ihren Willen auf Lebensdauer rein nur aus Gründen der Eugenik widerspräche, ganz abgesehen von den gewaltigen finanziellen Folgen, sowohl der Gesetzeslage (Freiheitsberaubung) als auch den irren- rechtlichen Bestimmungen, und zwar jeweils in dem Zeitpunkte, wo im Einzelfalle die ärztlichen Voraussetzungen zur Zurückhaltung

Zeitschrift für Psychiatrie. LXXXIX. 10

146 Fischer,

und Weiterbehandlung in der Anstalt wegfallen. Sie wäre auch mit den höheren Gesetzen der Humanität unvereinbar.

Darum streben wir Psychiater mit gutem Recht aus der Dauer- asylierung oder Hospitalisierung der Geisteskranken heraus und wollen ihnen, soweit sie nach ärztlicher Indikation einen Anspruch darauf haben, die persönliche Freiheit so früh als irgend vertretbar wieder- geben, allerdings unter Fortdauer ärztlicher Behandlung, Aufsicht und Fürsorge.

In diesem Dilemma wird es darauf ankommen, daß wir gewisse Sicherungen einfügen, die den berechtigten Bedenken der Eugeniker soweit möglich Rechnung tragen, ohne anderseits die freiere Behandlung zu unterbinden. Vor allem werden wir für unsere Fürsorgeärzte und Fürsorgestellen eine Hauptaufgabe darin erblicken müssen, daß sie sich in jedem Einzelfalle der Entlassung die Eheverhältnisse genau ansehen und da, wo sie es nach den Forderungen der Erblichkeits- forschung und der Eugenik für geboten erachten, die Ehepartner dar- über aufklären, wie sie sich bezüglich des ehelichen Verkehrs und der Fortpflanzung verhalten sollen. Häufig wird man gerade in der heutigen Zeit bei der schon herrschenden Aufklärung über sexuelle Dinge wenig Schwierigkeiten bei den Betreffenden begegnen. Wenn sich aus krank- haften Gründen hartnäckiger Widerstand ergibt, wird ärztlicher Takt den richtigen Weg zu finden wissen. Wo der Sexualdrang selbst abnorm oder krankhaft sich gebärdet und die Gefahr von Sittlichkeitsver- brechen nahe rückt, kann dieser Umstand unter anderem oder auch für sich allein ein Grund zur Wiedereinweisung in Anstaltsbehandlung sein.

Der ohnehin weitverbreitete Präventivverkehr wird gerade hier, wo er bei Geisteskranken ärztlicherseits auf Grund der Erblich- keitsforschung angeraten wird, keinem Widerspruch oder Bedenken von moralistischer Seite begegnen. Die Sterilisierung wird zur Zeit weit seltener, jedenfalls nur da, wo sie nach dem neuesten Stande der Wissenschaft allgemein ärztlich und psychiatrisch indiziert ist, anzustreben sein. Bekanntlich drückt sich gerade unser gewiegtester psychiatrischer Erblichkeitsforscher Rüdin in seinem Freiburger Vor- trag (1926) hierin am allerzurückhaltendsten aus. Husarenritte ins Land der unbegrenzten Sterilisation aller Geisteskranken müssen vorerst ab- gelehnt werden. Meinen eigenen vorsichtig abwägenden Standpunkt, den ich vor der „badischen sozialhygienischen‘‘ Gesellschaft in Karls- ruhe im Jahre 1924, also vor den Referaten in unseren Kreisen (Kassel, Freiburg) über diesen Gegenstand einnahm, habe ich gerade auf Grund der neueren Vorträge keinen Anlaß einzuschränken.

)

Eugenik und offene Fürsorge für Geisteskranke. 147

Auch die freiwillige Sterilisierung, die ja nach der Gesetzeslage vorerst allein und zudem mit Reserve in Betracht kommen kann, gehört einer gemischten Sachverständigenkommission zur Entschei- dung vorbehalten. Gerade bei Geisteskranken, die sich der Bedeutung ihres Verzichts selten klar bewußt sein werden und deren Dispositions- fähigkeit meist angefochten werden kann, ist auch die eigene Zustim- mung zur Operation keine einwandfreie Grundlage.

Ist entgegen unserer Fürsorgeabsicht i in der Ehe oder unehelich bei einer Geisteskranken oder durch einen Geisteskranken eine Schwän- gerung, deren Austragung vom Erblichkeitsstandpunkte aus zu ver- werfen wäre, eingetreten, so kann ärztlicherseits die künstliche Un- terbrechung der Schwangerschaft erwogen und je nach Lage des Einzelfalls auch durchaus vertreten werden. Soweit darf meines Erachtens die ärztliche Prophylaxe, die zu unserer Kunst gerade so gut gehört wie die eigentliche Therapie, unbedingt gehen. Jedenfalls gehört auch diese Frage einmal zur eingehenden Erörterung gestellt. Die Indikation zur Einleitung der Frühgeburt wäre allerdings in solchen Fällen durch eine Sachverständigenkommission sicherzustellen.

Vielleicht bedeuten aber gerade wirklich Geisteskranke, obschon ihre Nachkommenschaft erbprognostisch an sich am stärksten be- lastet wäre, einfach aus dem Grunde, weil sie einesteils nicht selten sexuell weniger aktiv sind und bezüglich der Fortpflanzung ärztlichem Zuspruch leichter nachgeben, andernteils aber meist unter unserer be- ständigen Fürsorge stehen, im ganzen eine geringere Gefahr für die künftigen Geschlechter als leichte und schwere Psychopathen, Imbezille und Schizoide, da diese Kategorien einmal in sexueller Hinsicht oft hem- mungsloser, brutaler, zugleich einsichtsloser und unbelehrbarer sind, außerdem aber in der Mehrzahl gar nicht in unsere Fürsorge kommen oder sich ihr absichtlich entziehen.

Im übrigen steht für mich der ganze Komplex der Unfrucht- barmachung Geisteskranker erst im Stadium der Vorbereitung und befindet sich noch viel zu sehr im Flusse und im Streit‘ der Meinungen, als daß schon jetzt definitive allgemeine Festlegungen möglich waren. Der Gegenstand darf aber gerade des hier ge- zeigten Zusammenhangs mit Frühentlassung und offener Fürsorge wegen auch von uns Psychiatern. nicht aus dem Auge gelassen werden, bis wir an der Hand gewissenhafter Forschungsergebnisse, vor allem in der Richtung der wertvollen Rüdinschen Untersuchungen und Luzenburgerschen Berechnungen, zugleich unter ernster Abwägung aller Faktoren in dem von mir früher gezeigten Sinne, zu gültigen Regeln

10*

148 Fischer,

für unser ärztliches Handeln gelangt sind. Wenn dann für alle Psycho- sen Klarheit über die Erbprognose bzw. die Erkrankungserwartung und den Gefährdungsindex bei etwaiger Nachkommenschaft erreicht ist, so werden wir mit größerem Erfolge als seither Fortpflanzungshygiene und -prophylaxe auch auf psychiatrischem Gebiete treiben können. Dann werden auch unsere Fürsorgeärzte die nötigen Unterlagen und die heute noch fehlende Sicherheit für ihr Vorgehen zur Verhütung erb- kranker Nachkommenschaft bei den Geisteskranken in der Hand haben. Im übrigen werden sie aber auch schon jetzt gut daran tun, sich mit den Tatsachen der Vererbungswissenschaft gründlich zu wappnen, um sie einstweilen zur Grundlage ihrer Erwägungen, Ratschläge und Ein- wirkungen bei ihren Klienten zu machen. Ein großes Verdienst können sich die Fürsorgeärzte damit erwerben, daß sie durch ihre Nach- forschungen in den Familien und anderwärts sorgfältige und lückenlose Stammbäume ihrer Pfleglinge anlegen als unentbehrliche Vorarbeit für ihr eigenes Wirken und zugleich für die Zukunft unserer Wissenschaft.

Nach Abschluß dieser vielfältigen unentbehrlichen Vorbereitungen und nach gründlicher Durchschaffung des ganzen weiten Stoffgebiets bis in seine letzten Konsequenzen hinein wird erst die Zeit gekommen sein, wo die Ergebnisse und Erkenntnisse der psychiatrischen Erblich- keitsforschung zu unanfechtbaren Gesetzesvorschlägen für die Regelung der Fortpflanzung und für die Erzielung gesunder Nachkommenschaft verdichtet werden können.

Trotz aller Fortschritte in der freieren Behandlung der Seelen-- störungen in und außerhalb der Heilanstalten wird es nun aber immer Schwerkranke, wenn vielleicht auch in geringerer Zahl als heute, geben, die für sich oder ihre Umgebung eine zu große Gefahr bedeuten, als daß sie Gegenstand der Außenfürsorge werden könnten; hier wird es höchstens zu vorübergehenden und zudem recht vorsichtigen Ver- suchen in dieser Richtung kommen sollen. Für diese Kranken und für die Öffentlichkeit zugleich wird die beste Form der Fürsorge die längerdauernde Zurückhaltung in der Heilanstalt bleiben, wenn auch die Bestrebungen zu ihrer allmählichen Sozialisierung nie aufgegeben werden dürfen. Für die Dauer ihres Anstaltaufenthaltes, der bei den gefährlichsten Lebensdauer annehmen kann, bleiben diese Pfleglinge von selbst der Zeugung von Nachkommenschaft entzogen. Das ist für solche Fälle eine sehr willkommene Zweckverbindung, die den Forderungen der Eugenik wie der psychiatrischen Prophylaxe gleicher- maßen vollkommen gerecht wird. Für sie bildet die geregelte aktive Arbeitstherapie in ihren vielen verschiedenen Abstufungen, die

Eugenik und offene Fürsorge für Geisteskranke. 149

zugleich nach Maßgabe der Besserung und Zuverlässigkeit den Kranken größere Bewegungsfreiheit und Erleichterungen einräumen kann, die Behandlungsform der Wahl, weil sie einerseits diesen Kranken selbst zu einer anregenden Ausfüllung ihrer Zeit, zu einem geordneten vernunftgemäßen Tageslauf, zu einem zweckvollen Dasein mit den inneren Werten geleisteter Arbeit verhilft und weil sie andererseits sonst unnötig brachliegende Menschenkräfte ihren Mitmenschen in der engeren Anstaltsgemeinschaft und so auch mittelbar dem Staats- wohle in durchaus humaner Weise dienstbar macht. Die Beschäftigung akut Erkrankter, die jetzt wieder mehr gepflegt wird, und die, sofern sie nach genauester ärztlicher Indikation verordnet wird, meinen vollen Beifall hat, soll in diesem Zusammenhang nicht erörtert werden.

Wenn ich kurz zusammenfassen darf, so werden wir trotz der hier vorgetragenen Bedenken die Form der offenen Fürsorge der Geistes- kranken einschließlich der Frühentlassung und der organisierten Fa- milienpflege ruhig fortsetzen und sogar nach Möglichkeit allgemeiner ausbauen, weil sie einen fortschrittlicheren und freiheitlicheren Ge- danken in die ganze Geisteskrankenfürsorge hineinträgt, sie von dem Bann und der Vorherrschaft der einseitigen und bequemen Zwangs- asylierung befreit und, verbunden mit sozialer Fürsorge, die freiere, individuelle häusliche Behandlung, wie sie körperlichen Krankheits- zuständen von jeher zukommt, in viel weiterem Umfang ermöglicht als seither. Sie nähert so auch in dieser Richtung beiderlei Kranke einander an gewiß auch vom Standpunkt der Humanität aus ein nicht zu unterschätzender Gewinn.

Den etwaigen Vorwurf der Förderung unbrauchbarer oder direkt geisteskranker Nachkommenschaft, die übrigens auch vor Einführung der offenen Fürsorge zustande kam, durch unser System der Hinaus- gabe vermehrter Geisteskranker in die Bevölkerung werden wir, wie gesagt, dadurch begegnen, daß unsere Fürsorgeärzte sich dieser ebenso heiklen wie wichtigen Aufgabe besonders annehmen. Sie werden sich ihr, dessen sind wir sicher, gewachsen zeigen und ohne Zwang und Härte auf dem Wege der ihnen vertrauten psychischen Beeinflussung, der gütlichen und vernünftigen Überredung weithin vorbeugend wirken. Wir werden daher diesen Zweig der Ehe- und Fortpflanzungsberatung bei unseren Kranken mit Fug und Recht als Aktivposten in die Außen- fürsorge aufnehmen und ihn der Aktivierung der Anstaltspsychiatrie als ein weiteres Glied einfügen dürfen, weil damit in einer überaus wichtigen prophylaktischen Beziehung (Verminderung geisteskranker Nachkommenschaft) der Gesundung des Volkskörpers gedient wird.

150 | Fischer,

Man kann getrost sagen: Wenn überall so wie bei unseren Für- sorgestellen in derart vorsichtiger und doch bestimmender Form auf diesem Gebiete vorgegangen und wenn andererseits in weiten Kreisen bei gesunden Eheleuten der Wille zur Fortpflanzung mehr gepflegt würde, so stünde es besser um die Zukunft unseres Volkes. Von der rapiden Einbürgerung der Präventivseuche, der Abtreibungsseuche und der Sterilisierungsseuche, die alle drei recht bedenklich am deutschen Volksmark zu zehren drohen, haben wir Ärzte allen Grund aufs energischste in Wort und Schrift abzurücken und uns auf die genauestens erwogene ärztliche Indikation zurückzuziehen. Was darüber ist, ist vom Übel.

. Ein grelles Menetekel: In Berlin überwiegt im letzten Jahre zum ersten Male die Sterblichkeitsziffer über die der Lebendgeborenen! Wenn es auch um die mangelnde Progenies aus manchen Großstadt- schichten nicht gerade schade sein mag, so muß doch die Nachfolge, die sich erfahrungsgemäß von da aus unabwendbar auf Stadt und Land ausbreitet, schrecken. |

Mit der Verallgemeinerung der Außenbehandlung der Geistes- kranken durch die offene Fürsorge und mit ihrer Ergänzung durch die vorbeugende Ehe- und Sexualberatung glauben wir nun den Gefahren der Frühentlassung und der vermehrten Entlassungen der Geistes- kranken überhaupt, sowohl was ihre Selbst- und Gemeingefährlich- keit, insbesondere zu Suieid und Sittlichkeitsverbrechen, im allge- meinen, als auch was speziell die Entstehung erbkranker Nachkommen- schaft und damit die Gefährdung künftiger Geschlechter betrifft, so weit es nach Lage der Verhältnisse überhaupt möglich ist, wirksam begegnen zu können, ohne das freiere System der Außenbehandlung einschränken zu müssen. Ja, wir können ruhig noch weiter gehen und der Überzeugung Ausdruck geben, daß bei solchem Vorgehen die Bedenken der Rassenhygieniker über die Gefahren der offenen Für- sorge nicht nur zerstreut, sondern sogar überkompensiert werden, weil dann eben viel weitere Kreise nicht nur von Kranken, sondern auch von Gesunden durch unsere ärztliche Fürsorge und Aufklärungs- arbeit betreut werden als unter der Herrschaft der Asylierung der Gei- steskranken. Die allgemeine Erfassung der Geisteskranken und geistig Abnormen außerhalb der Anstalten und deren fortlaufende sachver- ständige Beratung in psychiatrischer, erbprognostischer und sozialer Hinsicht bannt die beschriebenen Gefahren und sichert die ärztliche Einwirkung auf die Verhinderung erbkranker und auf die Entstehung ‚gesunder Nachkommenschaft in weit höherem Maße als seither.

Eugenik und offene Fiirsorge fiir Geisteskranke. 151

Wir erkennen aus dieser Betrachtung aber auch vice versa klar und sicher, wie unbedingt nötig zur Ergänzung der Anstaltsbe- handlung und als vollgültiger Zweig der Geisteskrankenfürsorge die Ausbreitung der offenen Fürsorge, die bis jetzt nur auf einzelne Punkte konzentriert war, zu einem allgemeinen System, zu einer einheitlichen Organisation über ganz Deutschland hin ist, damit eben mit ihrem eigentlichen Zweck der psychiatrischen Weiterhandlung und sozialen Fürsorge auch die gerade für die Psychiatrie so bedeutungsvollen Forderungen der Rassenhygiene und Bevölkerungspolitik zu ihrem vollen Rechte im Streben nach Gesundung und Vervollkommnung des Menschengeschlechts gelangen können.

Zur Frage der Brauchbarkeit der von I. S. Harris angegebenen Probe bei progressiver Paralyse. Von l R. Spaar, Sonnenstein.

Im British Medical Journal Nr. 3395 v. 23. Januar 1926 hat I. 8S. Harris a simple test of diagnostic value in general paresis (eine einfache, diagnostisch wertvolle Probe bei progressiver Paralyse) beschrieben. Er fügt zu 1 cem Liquor 0,3 ccm Eisessig hinzu, schüttelt kräftig und gibt dann 0,8 cem konzentrierte Schwefelsäure carefully add drop by drop, heißt es im Original hinzu. Es soll dann bei positivem Ausfall der Reaktion die Flüssigkeit eine lila Färbung an- nehmen, bei negativem Ausfall der Probe wird der Liquor braungelb bzw. rotgelb. Die lila Färbung, die angeblich sofort bei Zusetzen der Schwefelsäure auftreten soll, hält sich nach Harris 4 bis 5 Minuten, kann aber auch schon nach einer Minute wieder verschwinden. Der Autor verlangt deshalb, daß die Probe sofort nach Zusetzen der Schwefelsäure kontrolliert wird. |

Harris erzielte mit dieser neuen Reaktion, die angeblich auf der Anwesenheit von Cholesterol i. e. Cholesterin beruhen soll, in 92 Fällen von progressiver Paralyse 97% positive Ergebnisse. Die Wassermann- reaktion war in diesen Fällen in 100% positiv. Pleocytose soll sich in 99% dabei gefunden haben. Zwei beginnende atypische Paralysen ergaben einen negativen Ausfall der Reaktion. Bei Neuro-Lues ohne progressive Paralyse war die Reaktion angeblich in 40% positiv. Auch ein Fall von seniler Demenz reagierte im gleichen Sinne, während . 83 andersartige, nicht metaluetische Psychosen negativ waren. Die Malariabehandlung hat an dem Ausfall angeblich nichts geändert. Ein etwaiger Parallelismus zwischen der Intensität der Schwefel- Eisessig-Reaktion und der Wassermann-Reaktion soll angeblich nicht bestanden haben.

Wir haben in Anlehnung an diese Veröffentlichung die neue Untersuchungsmethode an 33 Fällen verschiedenster geistiger Er- krankungen nachgeprüft. Wir bezeichneten den Ausfall der Reaktion je nach der Stärke mit positiv (+) und stark positiv (++).

Spaar, Zur Frage der Brauchbarkeit usw. 153

Es verteilen sich die Fälle folgendermaßen:

Diagnose Anzahl Positiv stark pos. negativ (+) (++)

Progr. Paralyse ............... 12 2 10 Multipl. Sklerose .............. 1 1 Enceph. epidem. chron. ....... 1 1 Imbezillität (cong. L.) ......... 1 1 Imbezillität aus anderer Ursache 1 1 Centralggl. Erkrankung unklarer

ALG a 1 1 Dementia praecox ............. 14 11 3 Gen. Epilepsie ................ 2 1 1

Aus dieser Aufstellung geht zunächst ohne weiteres hervor, daß, wie auch Harris behauptet, die progressive Paralyse die meisten, in unseren Fällen 100% positive Liquorbefunde mit der neuen Reaktion darbot. Es überwiegen bei ihr ganz ausgesprochen die stark positiven Fälle, d. h. diejenigen, bei welchen die Reaktion sofort und in stärkstem Maße eintrat und mindestens 10 Minuten anhielt. Immerhin bestand doch in zwei Fällen ein deutlicher Unterschied im Intensitätsgrad. Von den Paralytikern waren elf mit Malaria behandelt. Vier von diesen elf Behandelten hatten eine deutliche Remission aufzuweisen. Trotzdem war die Schwefel-Eiweißreaktion bei ihnen deutlich positiv. Die Beendigung der Malariakur lag bei ihnen allen 3 bis 4 Monate zurück. Man sieht daraus, daß eine mit Erfolg durchgemachte Malaria- kur scheinbar keinen nennenswerten Einfluß auf den Ausfall der Reaktion hat. Weithin war bei allen 12 Fällen die Wassermannsche Reaktion durchweg stark positiv. Es bestand ausgesprochene Nonne Phase I Reaktion mit Pleocytose. Irgend ein Zusammenhang mit dem Ausfall der Wassermannschen Reaktion kann also auch nicht konstruiert werden.

Im übrigen sprechen aber die anderen Befunde unseres Erachtens ganz deutlich gegen eine Brauchbarkeit der Schwefelsäure-Eisessig- Reaktion. Wenn man sich klarmacht, daß von 14 Dementia praecox- Fällen 11 positiv, 3 stark positiv waren, und wenn man bedenkt, daß die pathologisch-histologische Untersuchung all dieser zu Tode gekommenen Fälle einen Irrtum in der Diagnose ausschloB, so müssen einem doch die stärksten Zweifel an der Brauchbarkeit dieser neuen Untersuchungsmethode aufsteigen, eine Anschauung, zu der ja auch die übrigen angeführten Untersuchungsergebnisse beitragen.

Literaturbericht zur aktiveren (Beschiftigungs-) Therapie nach Simon. Von

Direktor Dr. M. Thumm, Konstanz. (Abgeschlossen am :15. März 1928.)

Zur geschichtlichen Entwicklung. Die Beschäftigung Geistes- kranker ist so alt wie die Psychiatrie überhaupt. Die hierauf bezüg- lichen Ansichten unserer alten Psychiater haben uns neuerdings Herting 5, Kahlbaum *}, 2, Neißer ® und auch Simon selbst *” in Er- innerung gerufen. Wie schon vor vier Jahrzehnten in dieser Hinsicht Alt-Scherbitz vorbildlich gewesen ist, lesen wir bei Paete% und Schmidt %%. Aber auch in jedem psychiatrischen Lehrbuch besonders eingehend bei Groß fand von jeher der therapeutische Wert der Arbeit Berücksichtigung. Ihren erzieherischen Wert neben der Heil- bedeutung erörterte Haardt !?. Es kann nicht überraschen, daß aus der Zeit des Übergangs von der Zellen- zur Wachsaalbehandlung eine ähnlich günstige Wirkung auf Kranke und Anstaltsbild, wie wir sie jetzt bei der Umstellung auf die aktivere Therapie erlebten, be- schrieben worden ist; siehe bei Kahlbaum #4, Loewenstein 2°, (Neuer- dings hat Groß !! noch einmal Gelegenheit gehabt, diesen Versuch im kleinen Maßstab, aber mit dem gleichen Ergebnis in Emmendingen zu wiederholen, wo infolge der baulich alten Verhältnisse der Anstalt noch das Zellensystem persistiert hatte.) Inzwischen hat seit den %er Jahren die Bett- (und Bade-) Behandlung allen unseren An- stalten ihr Gepräge aufgedrückt, leider aber auch trotz Neißer’s sorg- sam gestellten Indikationen den Abweg in ein einseitig und starr gehandhabtes Schema genommen. Die älteren Anregungen gerieten unter dem Einfluß herrschender klinischer Zeitströmungen in Ver- gessenheit, das therapeutische Handeln des Anstaltsarztes versandete in Skeptizismus und Nihilismus. Simon’s Weckruf “4 war eine not- wendige Reaktion, deren Auswirkung sich heute schon in einer um- fangreichen Literatur spiegelt.

Literaturbericht zur aktiveren (Beschäftigungs-)Therapie nach Simon. 155

Das zweifellos Neue an SIMON‘S „aktiverer Therapie‘ 4—97 ist, daß er mit ebenso großem Optimismus als konsequenter Energie und unter bewußter Ausnützung der Milieuwirkung eine in psychothera- peutischem Sinn verstandene Heilerziehung und Beschäftigung nicht nur auf einen mehr minder großen Prozentsatz, sondern auf alle Anstaltskranken ausgedehnt hat. Der „aktiver“ gewordene Arzt überläßt nicht untätig mehr seine alten Anstaltsfälle ihren Krank- heitsäußerungen, sondern wirkt diesen in jeder Weise entgegen, um die Kranken zu sozialem Verhalten und geordneter Selbstführung zurückzubringen. Neben der allgemeinen Einwirkung wird die Beschäf- tigung zur wichtigsten Beruhigungshilfe und zu einem Behandlungs- mittel nicht nur, wie früher, für die Rekonvaleszenten oder ruhigeren chronischen Fälle, sondern gerade auch für die frischen, erregten, unsozialen und völlig stumpfen. Auf diese Weise erreicht Simon die Ruhigstellung der unruhigen Abteilungen, die als das we- sentliche Ziel der Simonschen Methodik und als ihr tatsächlicher großer Erfolg erkannt werden muß. Die Kranken in der Anstalt sind nach Simon „nur zu einem Drittel das, was die Krankheit aus ihnen gemacht hat“, zu zwei Dritteln Produkt ärztlichen Handelns bzw. Nichthandelns. In seiner Anstalt Gütersloh hat S. eine besonders vorbildliche Organisation 4 der werktätigen Beschäftigung wie der sonntäglichen Unterhaltung zur systematischen Beeinflussung und geistigen Weckung der Kranken geschaffen.

Einwendungen. AufsGanze gesehen, stellt die so charakterisierte aktivere Therapie ohne Frage ein durchgreifendes ,,Regime™ dar, wie Neißer 31 gegenüber zu betonen ist; sie hat das lehrt der prak- tische Versuch die Bedeutung einer sehr fühlbaren „Umstellung“ des Gesamtbetriebes wie der ausübenden Organe. Jedenfalls hat kein anderes Regime bisher eine so weitgehende Beruhigung der un- sozialen Abteilungen zu schaffen vermocht. Kahlbaum ?! verkennt die Sachlage, wenn er der ,,Arbeits‘‘therapie ein wohlgegliedertes System anderer psychotherapeutischer Maßnahmen entgegensetzt; weitaus der größte Teil seiner 30 Punkte, als deren einen er die Arbeit bezeichnet, sind auch unlösbare Bestandteile einer richtig verstandenen „aktiveren‘‘ Therapie. Erhöhte Aggressivität ist nicht, wie Kahlbaum meint, generell eine Gegenindikation gegen Beschäftigung, sondern umgekehrt oft die Folge untätigen und ungeordneten Gewährenlassens. Neigung zu Gewalttätigkeit und Unsauberkeit kann, wie Groß! gegenüber zu bemerken wäre, oft gerade durch Aufgabe der Bett- behandlung und Eingliederung in ein arbeitsames Gemeinschafts-

156 | | Thumm,

milieu erfolgreich bekämpft werden. Insbesondere für den Schizo- phrenen, dem schon der Anstaltsaufenthalt an sich nicht selten zur Gefahr wird, muß die Indikation zur Bettbehandlung eng gezogen, und diese, wenn sie zur Anwendung kommt, besonders sorgfältig dosiert werden. Mit einigem Recht warnen die eben genannten Autoren vor Überspannung der Methode. Es ist klar, daß die Gefahr lässiger oder schematischer Handhabung nahe liegt; nie auch darf der tatsächliche Eindruck des „Arbeitshauses‘‘ entstehen (wenngleich natürlich ein solcher Ausdruck im Mund manches Psychopathen nicht allzu schwer gewogen werden dürfte). Aber Simon, 4” hat selbst schon die mögliche Gefahr erkannt und warnt wie auch Thumm *, 50 dringend davor, wieder in Schematismus und ein neues starres System zu verfallen. Gewissenhaftestes Eingehen auf den Einzelfall muß davor schützen, und Simon bezweckt und erreicht ja gerade den engeren Kontakt mit jedem einzelnen Kranken, auch den sogenannten ,,ab- gelaufenen‘‘, aufgegebenen, liegen gelassenen Fällen.

Berichte von gemachten Erfahrungen. Lediglich referierend berichten über Gütersloh und die Simonsche Methodik Gründler 3, Meltzer ®, Trapet 52, Wiehl5®. Wichtiger sind die Berichte, die auf eigener Erprobung beruhen: So ließ sich nach Müllers 3, Darstellung die Anstalt Lindenhaus wohl als erste ganz in Simon’s Sinn wandeln trotz schwierigen Krankenmaterials und ungünstiger räumlicher Verhältnisse (Fehlen von Tagräumen in den Unruhigenbauten). Ähnlich günstig hat sich Braune #-Altscherbitz ausgesprochen. Auch Clemens 8-Eickelborn bestätigt auf Grund eigener Versuche Simon’s Angaben. Thumm berichtet von der 1925 erfolgreich durchge- führten Umstellung der Anstalt bei Konstanz und deren Auswirkung auf die verschiedenen klinischen Krankheitsformen, schildert die Art des Vorgehens und erörtert die möglichen Einwände gegen Simon’s Methodik. Goetze-Allenberg und Powels-Kortau ? berichten über einen Versuch der Durchführung und dessen günstiges Ergebnis trotz schwieriger Verhältnisse, Nobbe-Tapiau ° von überraschender Ruhig- stellung der meisten Abteilungen. Wickel ®-Haina hatte „ganz offen- sichtliche, zum Teil überraschende Erfolge“; die Wachsäle leerten sich, und die in die Augen fallenden schweren katatonen Erscheinungen verschwanden. Auch Reinelt®-Münster, wenngleich er vor Über- treibung warnt, bestätigt, daß die Abteilungen ein ganz anderes Bild bekamen, daß Ruhe einkehrte, der Medikamentenverbrauch zurück- ging, weniger zerstört wurde. Fast übereinstimmend lauten die Er- fahrungen, welche Ilberg (der sich früher 18 mit einiger Zurückhaltung

Literaturbericht zur aktiveren (Beschaftigungs-)Therapie nach Simon. 157

geäußert hatte) neuerdings auf dem Sonnenstein gemacht hat. Be- züglich der Art seines Vorgehens erwähnt er: Beschränkung der Bett- behandlung auf besondere Indikation, Beschäftigung geeigneter Kranker auch im Bett, Heranziehung von Leibesübungen und Unter- richt; er weist endlich auf die Notwendigkeit hin, für die Durchführung der aktiveren Therapie genügend Ärzte und reichliches Personal zu haben. In Dalldorf hat Bender 2 trotz bedrängter Raumverhältnisse und sehr starkem Krankenwechsel gerade im Hause der unruhigsten Frauen innerhalb ®/, Jahren immerhin 65% der Kranken regelmäßiger Tätigkeit zuführen können und Beruhigung der Abteilungen erreicht. Wenn er allerdings als Arbeit nur „wirkliche plan- und regelmäßige Tätigkeit“ verstanden wissen möchte, so stellt er seine Ansprüche doch wohl etwas zu hoch; auch eine in der Wagengruppe gehende oder unplanmäßig Roßhaar zupfende Katatone darf als beschäftigt gelten.

Anfängliche Meinungsverschiedenheiten bzw. Mißverständnisse über Höhe und Berechnungsart der Prozentzahl Beschäftigter (siehe Bresler ê, Ilberg 19, Reinelt 3, Thumm 5°) dürfen heute wohl als beseitigt gelten. Über die verschiedenen anzuwendenden Beschäf- tigungsarten orientieren außer Simon selbst 4 und den oben zitierten Autoren im besonderen noch Herting M-Grafenberg, van der Scheer 37- Santpoort (Holland) und Schiller -Wil (St. Gallen). Schiller be- spricht besonders Zeitpunkt und richtige Dosierung der Arbeitsthe- rapie, die er „in der Mehrzahl der Fälle, falls nur wirklich dem Be- dürfnis des einzelnen Patienten angepaßt, der Bettbehandlung weit überlegen‘‘ halt; auch werde sie von den Patienten selbst als viel an- genehmer empfunden (eine Erfahrung, die auch Ref. immer wieder gemacht hat). In 40 jähriger Praxis als Arbeitstherapeut hat Sch. noch niemals durch Handwerkszeug, Instrumente, Maschinen einen unglücklichen Zufall erlebt. Damit übereinstimmend fordert auch Thumm ® ein Aufgeben der auf Kranke und Personal suggestiv un- günstig wirkenden verantwortungsscheuen Überängstlichkeit und tritt auf Grund neuerdings gemachter Erfahrungen, die ähnlich auch Hinrichs und Grabow 1” berichten, für eine freiere Gestaltung des gesamten Anstaltsmilieus und Einschränkung des Überwachungs- betriebes als unmittelbare Auswirkung aktiverer Therapie ein; zur notwendigen Erhaltung des so wichtigen ruhigen Milieus empfiehlt er in einzelnen Fällen besonders schwerer Erregung den Dauerschlaf (will man dabei mit Wiethold®* und Hinrichs"* das Klysmenver- fahren verwenden, so wird man sich doch wohl besser auf Paraldehyd

158 Thumm,

beschränken und die regelmäßige Zugabe von Skopolamin vermeiden); ferner wird die Wichtigkeit des Milieus, das ein dem natürlichen Leben möglichst angenähertes sein muß, besprochen, wie auch bei Haas "3, Henderson ”*, Ilberg . -

Erfahrungen i in Privatanstalten. In der Privatanstalt mit ihrer kleineren, familienmäßigeren Gemeinschaft sieht Steger * eine be- sonders günstige Auswirkungsmöglichkeit der Beschäftigung und Milieuumstellung im Simonschen Sinne, die die Psychisch-Kranken wieder unter die allgemein menschliche Wertung, aber ohne Wegfall der für sie nötigen Rücksicht, gestellt habe: Minderwertigkeitsgefühl, Selbstunsicherheit und Isolierung wird dadurch bekämpft; die Beschäf- tigung soll möglichst wenig „kurmäßig‘‘, möglichst natürlich sein. Auch Kahlbaum ? anerkennt in einer eben erschienenen Arbeit in vollem Umfange die günstige psychologische Wirkung der Beschäfti- gung gerade auf Kranke der gebildeten und besser situierten Kreise, wobei er ähnlich wie Price ® die Auffassung vertritt, daß un- produktive Beschäftigung mit Liebhabereien von gleicher Wirkung auf Besserung und Genesung sei wie die mehr gewerbliche oder berufs- mäßige. K. gibt aus der Praxis nützliche Hinweise für die Auswahl der Beschäftigungsarten, wobei er die geistigen für seine Kranken obenan stellt; das: Universalsanatorium (d. h. kombin. geschlossene Psychosen-, offene Nerven- und pädagogisch orientierte Jugend- lichenabteilung) sei dabei in besonders günstiger Lage. Sehr zahl- reiches Heilpersonal hält er für nötig (Görlitz: auf 95 Kranke 60 Heil- personen, einschließlich nebenamtlich tätige), Nach Schreiber * hat sich die moderne Ausgestaltung der Beschäftigungstherapie auch in einer nicht nur die Bevorzugten, sondern alle Stände umfassenden Privatanstalt (Tannenhof) bewährt; er lobt die davon ausgehende ausgleichende Wirkung gerade hinsichtlich der Standesunterschiede und Klassengegensätze. Mit Recht betont Sch., man müsse die Arbeit den Kranken lieb machen, als etwas Selbstverständliches, ja als einen Vorzug darbieten. Auch Bond êt und Chapmann ® fanden die At- mosphäre in der Privatanstalt durch eine individuell gehandhabte Beschäftigungstherapie günstig beeinflußt.

Pflegepersonal. Wie Simon selbst, so betonen alle Therapeuten, die es mit seiner Methode versucht haben, besonders auch IIberg 18,20, die Wichtigkeit der Heranziehung des Pflegepersonals, das von der Rolle des Aufsehers zu der des ärztlichen Mitarbeiters und Erziehers emporgehoben werden solle. Hinweise für die nötige Einführung und Anleitung des Pflegepersonals bieten die Vorträge von Buder”,

Literaturbericht zur aktiveren (Beschäftigungs-)Therapie nach Simon. 159

Malcus 2°, Wickel * und die vom Deutschen Verband für die berufliche Kranken- und Wohlfahrtspflege herausgegebene Broschüre ?, an der Ärzte und Personalvertreter mitgewirkt haben. In der englisch- sprachigen Literatur befassen sich Adams 58, Haas”? und Tiffany” mit der Frage der Gestaltung des Unterrichts für beschäftigungs- therapeutische Gehilfen; Howland ™®, Mac Lachian®, Richardson 8 und Vaux bieten unmittelbare Belehrungen für diese.

Herting 5 und ausführlicher noch ein Anonymus! setzen sich mit den Gegenströmungen auseinander, die neuerdings in gewerk- schaftlich orientierten Kreisen des Pflegepersonals sich gegen die Simonsche Richtung bzw. die Beschäftigungstherapie überhaupt geltend machen und namentlich in einer unlängst den deutschen Länderregierungen vorgelegten Denkschrift des Gemeinde- und Staatsarbeiterverbandes Reichssektion Gesundheitswesen zum Aus- druck kamen.

Finanzielle Auswirkung. Noch verhältnismäßig wenig erörtert ist die Frage der wirtschaftlichen Ersparnisse (Simon *’, Ostmann ®, Wickel 5) durch die aktivere Therapie: Neben dem Wert der von Patienten verrichteten Arbeiten kommt in Betracht die Ersparnis an Medikamenten, Dauerbädern, Bettwäsche, zerstörtem Material. Die Personalersparung in den Vordergrund zu stellen empfiehlt sich nicht, jedenfalls nicht hinsichtlich des Pflegepersonals; wohl aber kann Wirtschaftspersonal eingespart werden. Am wichtigsten wird bleiben, daß die aktive Therapie eine Entlastung der Anstalten durch früh- zeitige Entlassung ermöglicht. Diesem Gewinnkonto steht auf der Verlustseite nur der Aufwand für Zulagen, Belohnungen und der größere Verschleiß an Arbeitskleidung gegenüber.

Stellungin der psychiatrischen Gesamtfürsorge. Die Bedeutung, die die Beschäftigungstherapie nicht nur in der geschichtlichen Ent- wicklung der Psychiatrie gehabt, sondern mehr noch in ihrer heutigen Ausgestaltung durch Simon im Gesamtbild der psychiatrischen Fürsorge vor allem der ,,offenen‘‘ zu gewinnen berufen ist, er- örtert Roemer ®%. Wird von Willige 5” mehr der Zusammenhang mit der Familienpflege hervorgehoben, so von Thumm °! der mit der Offenen Fürsorge, die, richtig geübt, gewissermaßen eine Fort- setzung der aktiveren Therapie der Anstalt sein soll. Auch Frens- dorf“ und Ostmann*® sehen eine wesentliche Bedeutung der akt. Therapie darin, daß sie in Verbindung mit der Offenen Fürsorge die Entlassungsmöglichkeit zu beschleunigen berufen ist. In der Mitte zwischen Familienpflege und Offener Fürsorge stehen Emery’s ®

160 Thumn,

Außenpatienten (einer Art Ubergangsstation), deren gewerbliche Beschäftigung von Ärzten der Poliklinik überwacht wird.

: Berichte aus der ausländischen Literatur. Aus Holland be- richtet Gans 2, wie auf einer unruhigen Frauenabteilung der Provinzial- anstalt Santpoort das Simonsche Verfahren erfolgreich durchgeführt wurde. In Norwegen hat Carrière nach Simon’s Vorgang auch einige der hoffnungslosesten Fälle zur Beschäftigung gebracht; an drei Tagen der Woche läßt er einen jüngeren Arzt sich ganztägig unter den Patienten aufhalten und mit ihnen arbeiten. In Rußland hat Bowno-Rodsevié Simon’s Methodik, in der er die einzige erfolgver- heißende sieht, übernommen. Aus Frankreich berichten Ceiller und Vervaeck®’ über den Einfluß der Arbeit auf epileptische Kranke. In Jugoslavien erörtern Klajn™ und Stojanovie 88 die Möglichkeit und Notwendigkeit einer mehr aktiven Therapie der Geisteskranken durch intensivere Beschäftigung der Ärzte mit den Kranken; neben _kurzdauernden Isolierungen wird farado-suggestive Behandlung und bei stark Aufgeregten Massage im Bad empfohlen. Der Italiener Vidoni” sieht in der Beschäftigungstherapie den Eckstein der An- staltsbehandlung, deren Nutzen nicht durch administrative Rück- sichten eingeschränkt werden dürfe. In Paraguay weist Garmendia™ auf den Wert systematischer Beschäftigung und erinnert dabei an das Vorbild von Altscherbitz. Aus Japan bzw. der Bezirksirrenanstalt Tokio berichtet Schuzo *? über die Einrichtung von ,,Arbeitsstuben‘‘ und mancherlei Hausindustrieen. Ebenso finden sich in den An- stalten Südafrikas® ,,Handarbeitsabteilungen‘‘, ferner Schulen und Kindergärten für jugendliche Kranke; Fußballwettkämpfe werden nicht nur unter den einzelnen Krankenabteilungen, sondern auch zwischen den verschiedenen Anstalten ausgefochten.

Aus den Vereinigten Staaten von Nordamerika können Bond © und Henderson * von sehr frühen (Ende des 18. Jahrhunderts) Angaben über Krankenbeschäftigung berichten. Seit dem Weltkrieg hat die Beschäftigungstherapie in Amerika einen großen Aufschwung ge- nommen (Brodie®, Thomson ®). Nicht nur besondere Abteilungen (Tompkins *), sondern auch Kliniken (Emig °) für Beschäftigungs- therapie, die bis zur beruflichen Wiederertüchtigung führen sollen, wurden geschaffen, einschlägige Schul- und Hochschulkurse (Adams 58) zur Ausbildung weiblicher Hilfskräfte eingerichtet; diese sog. „thera- pists“ sind auch an sehr zahlreichen Hospitälern für körperliche, chirurgische, innere oder Lungen- (Townsend °) Kranke tätig. Adams ® | berichtet, daß es durch richtig geleitete und abgestufte Beschäftigung

Literaturbericht zur aktiveren (Beschaftigungs-)Therapie nach Simon. 161

in vielen Fällen gelinge, völlig unsoziale Geisteskranke zu einer regel- mäßigen Tätigkeit zu erziehen. Humphrey’ unterstreicht den Ge- meinschaftswert: der Arbeit. Nach Byon können Schizophrene nicht frühzeitig genug zur Arbeit herangezogen werden. Humphrey 78 erörtert die besonderen Schwierigkeiten und Möglichkeiten der Arbeits- therapie in den unseren Kliniken und Stadtasylen entsprechenden pyschiatrischen Instituten, Calmels® die in gesicherten Häusern. Vaux % untersucht den Einfluß, den Leibes- und rhythmische Übungen mit Musik auf Geisteskranke ausüben, Pollock &! und Robertson 87 die psychologischen und erzieherischen Grundlagen der Beschäftigungs- therapie: Weckung von Aufmerksamkeit, Interesse, Selbstvertrauen und Stolz bei Beachtung sorgfältigen Individualisierens (so auch Blip 5). Boliz® weist auf die Notwendigkeit emer den Gesichts- punkten moderner Psychopathologie angepaßten Verfeinerung der Indikationsstellung hin.

Zur Theorie. Die wissenschaftlichen Grundlagen der oft so über- raschenden Erfolge bei der Anwendung einer aktiveren Therapie beruhen auf richtiger Einschätzung der Suggestibilität (vor allem in der Masse), Milieuempfindlichkeit und damit Beeinflußbarkeit der Schizophrenen, aber auch anderer, selbst organischer Psychosen, wie sie uns vor allem Bleuler * und seine Schule, so H. W. Maver 2’, Repond ®,% u.a. gelehrt haben. Insbesondere sei an Bleuler’s 5 fruchtbare Unterscheidung zwischen primären und sekundären bzw. physiogenen und psychogenen Symptomen bei der Schizophrenie erinnert. Auch Kogerer ®, Kehrer 4 und Schilder ® haben Wichtiges beigetragen für die Neugestaltung unserer Auffassungen von der psychotherapeutischen Beeinflußbarkeit der Psychosen. Loewen- stein 28 ergänzt sie durch einen interessanten Versuch, auf experimental- psychologischem Wege die reaktiv labile Konstitution oder „sekundäre Reaktionsnorm bei den verschiedenen Psychosen festzulegen und so zu einer wissenschaftlich fundierten Indikationsstellung bei der Psycho- therapie zu gelangen. Seif weist auf die Übereinstimmung von Simon’s Betrachtungsweise und den Anschauungen der Individual- psychologie, welche beide zu einer Revision der allzu pessimistischen Prognosestellung gelangen, den Psychotiker nicht von vornherein als „krank“ und „unverantwortlich‘‘ ansehen, sondern seine psycho- = pathischen Haltungen, ohne das Selbstgefühl zu verletzen, freundlich

. bagatellisieren und Schritt für Schritt seine Einfügung in die Gemein- |

schaft und ihre Aufgaben erleichtern wollen. Zweifellos wird die Aufgabe der Zukunft für die aktivere Rich-

Zeitschrift für Psychiatrie. LXXXIX. 11

162. . Thumm,

tung in der Psychotherapie der Psychosen darin liegen müssen, nicht nur die empirischen Erfahrungen zu erweitern, sondern vor allem auch ihre klinischen und psychologischen Grundlagen vertieft herauszuarbeiten.

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Ne

Über Erkennung und Behandlung der Tuberkulose in den Irrenanstalten ?). Von Georg Ilberg, Sonnenstein.

Die Schwierigkeit einer zweckmäßigen Unterbringung tuber- kulöser Geisteskranker liegt u. a. darin, daß es ruhige ungefährliche, ruhige überwachungsbedürftige und unruhige tuberkulöse Geistes- kranke gibt und daß die Kranken so verteilt werden müssen, daß die Tuberkulösen die Nichttuberkulösen nicht anstecken und daß die unruhigen tuberkulösen Geisteskranken die ruhigen mit Tuberkulose behafteten Geisteskranken nicht stören. Die Zahl der einzelnen Kate- gorien dieser Kranken in einer Anstalt ist z. Z. in der Regel klein. Da ruhige gefährliche wie unruhige tuberkulöse Geisteskranke bei Tag und Nacht guter Aufsicht bedürfen, kostet dies einen großen Aufwand von Pflegepersonal. |

Jeder Arzt kann natürlich klare Fälle diagnostizieren. Bei be- ginnenden Fällen reichen aber Perkussion, Auskultation und Fieber- messung nicht aus. Widerstrebende, stark erregte, benommene Geistes- kranke lassen sich zudem schwer untersuchen, auch erhält man von diesen oft kein Sputum.

Die Krankheit beginnt nicht, wie man bisher annahm, vorzugs- weise in der Lungenspitze. Nach Ranke’s grundlegenden und E.v. Rom- bergs neuen Forschungen (über dieEntwicklung der Lungentuberkulose, Berlin 1927, Verlag v. Springer) tritt die Lungenspitzentuberkulose der Erwachsenen gegenüber dem an den anderen Stellen der Lunge auftre- tenden Frühinfiltrat an Bedeutung zurück. Das Frühinfiltrat ent- wickelt sich folgendermaßen: An der Stelle der Lunge, an der sich die eingedrungenen Bazillen festgesetzt haben, entsteht ein umschriebener Krankheitsherd: der tuberkulöse Primäraffekt. Von diesem aus wandern die Bazillen auf dem Lymphweg weiter, gelangen in die Nachbarschaft, in die Lymphdrüsen, in den Blutstrom und bilden das entzündliche

1) Vortrag, gehalten auf der J nenne des Deutschen Vereins für Psychiatrie in Bad Kissingen am 25. April 1928. `

168 Ilberg,

Frühinfiltrat: oft unterhalb der Schlüsselbeine, oft an den Lungen- pforten, in den unteren oder den hinteren Teilen der Lunge, im Brust- fell. Diese in der Regel mit kurzem Fieber einhergehenden, wichtigen Frühentzündungen, werden in der Praxis häufig als ,,Grippe“* aufgefaßt. Das Sputum enthält aber Tuberkelbazillen; diese sind oft nicht leicht nachweisbar. Bei rechtzeitiger Behandlung heilen die Frühentzün- dungen nicht selten. Oft aber entwickeln sich aus ihnen schnell oder langsam, in der Regel schubweise, Knötchen, Knoten und kleine Lungenentzündungen, die einesteils zur Vernarbung, andernteils aber zum Zerfall, zur Höhlen-, zur Cavernenbildung führen können. Aus den tuberkulösen Herden, besonders den tuberkulösen Cavernen und Drüsen ergießen sich immer neue Ströme von Tuberkelbazillen in den Organismus, insbesondere in die Lunge. Es kommt zu Reinfektionen, die immer neue Krankheitsherde bilden: einmal bei dem betroffenen Kranken selbst, das andere Mal bei seiner Umgebung. So selten die Reinfektion bei der Syphilis ist, so häufig ist sie bei der Tuberkulose; hier stellt sie oft das größte Hindernis für die Ausheilung dar und be- fördert die Entwicklung der tertiären Lungentuberkulose. Die Tuber- kulose der Lungenspitzen führt nach v. Rombergs Untersuchungen viel seltener zur schweren tuberkulösen Erkrankung als die tuberkulöse Frühentzündung, wenn es zur Cavernenbildung kommt und wenn die Fälle mit Cavernenbildung nicht rechtzeitig behandelt werden. Spezialistische Ausbildung gehört nun zweifellos dazu, um den ersten Beginn der Tuberkulose sicher zu erkennen und es ist zu dieser Zeit besonders schwierig, festzustellen, ob der Verdacht auf beginnende Tuberkulose begründet ist oder nicht. Häufige Sputumuntersuchungen sind oft nötig, um die Tuberkelbazillen aufzufinden. Gewichtsschwan- kungen können auch lediglich auf Grund der Psychose eintreten. Wie uns Fuchs kürzlich auf Grund der v. Rombergschen Arbeiten sehr anschaulich in seiner Arbeit: „die neueren Erkenntnisse in der Tuberkulosefrage und ihre Folgerungen für unsere Heil- und Pflege- anstalten“ gezeigt hat (allg. Zeitschrift f. Psych. 88. Bd.), haben Diagnostik und Therapie der Tuberkulose in den letzten Jahren er- hebliche Fortschritte gemacht. Eine bessere Ausbildung der Irren- ärzte in der modernen Pathologie und Therapie der Lungenkrank- heiten und die regelmäßige Mitwirkung von Spezialärzten für innere Krankheiten ist also eine unentbehrliche Forderung für die Irrenan- stalten geworden. In der allerersten Zeit ist die röntgenologische Feststellung eines Krankheitsherdes in der Lunge noch nicht möglich. Bald aber kann die Entscheidung darüber, ob eine tuberkulöse Früh-

Über Erkennung und Behandlung der Tuberkulose usw. 169

entzündung vorliegt, durch das Röntgenbild getroffen werden. Man sieht hier am Orte des Frühinfiltrates Trübungen, Wolken, Schatten; cirrhotische Bildungen treten auf. Höhlenbildungen, Cavernen heben sich später deutlich ab. v. Romberg betont, daß es hierbei nicht allein auf einen möglichst guten Apparat ankommt, sondern vor allem auf einen möglichst gut geschulten Röntgendiagnostiker. Außerdem müssen zur Sicherung der Diagnose allerlei klinische Untersuchungen des Blutes, seiner Senkungsgeschwindigkeit, der Serum- und Plasma- fällung u. a. ausgewertet werden, eventuell ist der Tierversuch not- wendig. Es ist natürlich erforderlich, daß wir Psychiater wie alle anderen Ärzte diese Umstellung von der Entwicklungslehre der Tuber- kulose berücksichtigen, von unserer eigentlichen Tätigkeit würde es uns aber allzusehr ablenken, wenn wir uns praktisch alle mit dia- gnostischen Feinheiten beschäftigen müßten. Die Forschung macht auch hier von Jahr zu Jahr Fortschritte, die wir verfolgen werden, deren Einzelheiten aber nur der Lungenfacharzt genau zu beurteilen und durchzuführen vermag. Fachärzte für innere Krankheiten müssen daher in zweifelhaften Fällen in die Anstalten konsultatorisch herbei- gezogen werden oder wir müssen die Kranken, wenn es möglich ist, zu ihnen hinsenden. Die frühzeitige Erkennung der Tuberkulose ist gerade bei Geisteskranken zwecks Verhütung der Ansteckung von der größten Bedeutung. Geisteskranke mit offener Tuberkulose gefährden ihre Umgebung in höchstem Grade, verbreiten die Krankheit durch Tröpf- cheninfektion, greifen mit unsauberen Fingern überall herum, bringen ihre bazillenreichen Exkremente, Speichel, Sputum, Kot auf den Fußboden, an die Kleidung, an ihre Leib- und Bettwäsche, wie satt- sam bekannt. Daher muß überall, wo tuberkulöse Geisteskranke sind, für peinlichste Sauberkeit und Desinfektion, stete Erneuerung beschmutzter Bettwäsche, Anlegen waschbarer Kleidung, besonderes Eß- und Trinkgeschirr und tunlichste Absonderung gesorgt werden. Absonderung in einigermaßen ausgestatteten Einzelzimmern benötigt freilich bei sich selbst gefährlichen, tuberkulösen Geisteskranken, deren man in einer Anstalt doch nur immer wenige hat, relativ viel Pflegepersonal, die Absonderung unruhiger, tuberkulöser Geistes- kranker in Einzelzimmern verführt die Kranken bekanntlich zu allerlei schlechten Gewohnheiten.

Viele psychisch Kranke atmen oberflächlich, bewegen sich wenig, sitzen in gebückter Stellung umher, essen mangelhaft oder verweigern die Nahrung ganz und sind daher für Ansteckung mit Tuberkulose sehr empfänglich. Zudem verhindern sie durch derartiges Verhalten

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die Ausheilung entstandener tuberkulöser Prozesse. Eine Ausheilung ist aber bei den Frühinfiltraten und auch bei auftretender Höhlen- bildung durchaus möglich. Nicht nur zum Schutz vor Ansteckung der für die Tuberkulose besonders disponierten Geisteskranken, sondern auch im Interesse der Heilung von Tuberkulose befallener Geistes- kranker muß erwogen werden, ob man nicht gut tut und zugleich billiger wirtschaftet, wenn man die in Rede stehenden Kranken meh- rerer Anstalten zentralisiert. Bei der Auswahl des Ortes einer für mehrere Anstalten bestimmten Tuberkuloseabteilung werden selbst- verständlich die klimatischen Verhältnisse von größter Bedeutung sein, außerdem aber auch die Nähe lungenspezialistischer Beratung. Bei der Zentralisierung kann natürlich eine viel eingehendere Behandlung der Tuberkulose stattfinden, die ja wie schon hervorgehoben, gute Aussichten auf Erfolg hat. Siehe E. v. Romberg: Bekämpfung der Tuberkulose nach den jetzigen Anschauungen über ihre Entwicklung, Verlag von vorm. Gebr. Gotthelft, Kassel, 1927.

Wir wissen schon lange, daß noch nicht zu ausgedehnte tuber- kulöse Krankheitsherde ausheilen können, finden wir doch bei den Sektionen recht häufig derartige Narben in den Lungen. Offenbar gibt es von Haus aus einerseits gutartige und andererseits rasch fort- schreitende Fälle. Kräftige Körperkonstitution, guter Ernährungs- zustand, nicht zu jugendliches Alter und die Möglichkeit der Schonung sind bekanntlich prognostisch günstig. Die medikamentösen Maß- nahmen sind auch bei der Tuberkulose dem Wechsel sehr unterworfen. Hat man die betreffenden Kranken zentralisiert, so sind nur einige Ärzte mit ihrer Behandlung betraut, die dann viel besser den Fort- schritten der Therapie folgen und größere Erfahrungen über die Art und Dosierung der in Frage kommenden Medikamente oder über andere Methoden erwerben können. Man wird immer mehr Erfahrung darüber gewinnen, welche Kranken unbedingter Ruhe bedürfen, bei welchen hydropathische Prozeduren und mäßige Bewegung, bei welchen Höhensonne oder Sonnenbestrahlung angezeigt ist, bei welchen nicht. Alle diese Methoden dürfen nicht schematisch angewendet werden, kann doch dem einen schaden, was dem andern nützt. Die Ernährung der Tuberkulösen muß reichlich, aber auch richtig sein, die Neigung der Kranken zu Appetitlosigkeit und zu Durchfällen muß behandelt werden. Bekanntlich spielt die Chirurgie heutzu- tage bei der Behandlung der Tuberkulose eine sehr beachtliche Rolle. Tuberkulöse Knochen- und Gelenkerkrankungen, _,,skrophuldse‘ Lymphdrüsengeschwülste werden vom Chirurgen je eher, desto besser

Uber Erkennung und Behandlung der Tuberkulose usw. 171

beseitigt. Auf Grund des Röntgenbefundes wird der erfahrene Arzt entscheiden, in welchen Fällen die Anlegung eines Pneumothorax oder gar die Sauerbruchsche Resektion mehrerer Rippen von Vorteil ist. Frühentzündung mit Cavernenbildung erfordert in vielen Fällen die Anlegung des Pneumothorax. Diese Maßnahme beeinflußt das Leiden meist in günstigster Weise, während solche Kranke ohne diese Behandlungsart oft chronischer tertiärer Lungentuberkulose verfallen. Der Pneumothorax muß immer wieder aufgefüllt und in der Regel ein, zwei Jahre lang erhalten werden.

In den Irrenanstalten kommt es, auch wenn die offenen Fälle von Tuberkulose eliminiert werden, darauf an, die Disposition zur Tuberku- lose zu verringern. Die Beschäftigungstherapie ist hier vor allem dazu angetan, das Herumsitzen und mangelhafte Atmen melancholischer, stuporöser oder dementer Kranker zu verhindern. Die weitere Ein- führung des Turnens, der Turnspiele und Turnmärsche sowie der Atemgymnastik wird auch zur Verhütung der Tuberkulose dienen. Man tut gut, die Kranken möglichst im Freien zu beschäftigen, zur guten Jahreszeit auch bei Handarbeiten und anderen mechanischen Beschäftigungen, die im Sitzen ausgeführt werden. Daß die Über- füllung der Anstalten die größte Gefahr für die Verbreitung der Tuber- kulose mit sich bringt, leuchtet ein.

In Sonnenstein haben wir am 1. Februar 1928 bei einem Bestand von 710 Kranken 15 Tuberkulöse gezählt, hierunter 2 mit offener Tuberkulose. In sämtlichen sächsischen Landesanstalten für Geistes- kranke wurden bei einem Bestand von 8382 Kranken im Januar 1928 137 Tuberkulöse, darunter 43 mit offener Tuberkulose gezählt. Selbst- verständlich sind unter den 13 Sonnensteiner und den 94 in den säch- sischen Anstalten überhaupt vorhandenen Geisteskranken mit ge- schlossener Tuberkulose Fälle, die jeden Augenblick wieder ansteckungs- fähig werden können, und ich zweifle nicht daran, daß bei manchen blassen und elenden Patienten durch spezialistische, namentlich röntgenologische, durch häufig wiederholte bakteriologische Unter- suchungen von Sputum und Fäcalien und regelmäßige Temperatur- messungen ebenfalls noch Tuberkulose festgestellt werden würde.

In Sachsen würde sich nach alledem eine Zentralisierung der tuberkulösen Geisteskranken des ganzen Landes dringend empfehlen. Ruhige ungefährliche und ruhige überwachungsbedürftige tuberkulöse Geisteskranke wird man eventuell zusammenlegen, vielleicht Männer und Frauen in nebeneinanderliegenden Räumen unter Schwestern-: pflege. Unruhige tuberkulöse Geisteskranke wird man so unterbringen,

172 Ilberg,

daß sie die ruhigen Kranken nicht stören Männer von Frauen ge- trennt, erstere natürlich unter männlicher Pflege, dies auch deshalb, weil die Pfleger nachgewiesenermaßen viel seltener an Tuberkulose erkranken als die Schwestern. In andern deutschen Ländern und Provinzen werden die Verhältnisse ähnlich liegen. Max Fischer hat in seinem leider nicht zur Ausführung gekommenen Bauplan einer Irrenanstalt in Rastatt die Errichtung großer Stationen für die Tuber- kulösen des ganzen Landes Baden vorgesehen (allgem. Zeitschrift f. Psych. 69. Band, S. 43). Ein gutes Vorbild eines Pavillons für tuber- kulöse Geisteskranke ist in der oberbayrischen Anstalt Gabersee vorhanden.

Sehr wichtig ist die Frage, was mit tuberkulösen Ärzten, Pflegern und Schwestern geschehen soll. In den sächsischen Heil- und Pflege- anstalten für Geisteskranke waren im Jahre 1927 außer wenigen Ärzten und Pflegern eine Anzahl Schwestern wegen tuberkulöser Affektionen in Behandlung. Verschiedene von ihnen waren Ende des Jahres bereits soweit hergestellt, daß sie wieder Dienst, eventuell mit Schonung versehen konnten. Andere sind aus dem Dienst aus- geschieden. Selbstredend ist es sehr bedenklich, tuberkulöse Ärzte, Pfleger und Schwestern zu einem Dienst heranzuziehen, bei dem sie in nahe Berührung mit nicht tuberkulösen Personen kommen müssen. Man muß eben einmal den Schutz der Pfleger und Schwestern vor Ansteckung durch Geisteskranke bedenken, aber ebenso die Mög- lichkeit beachten, daß Kranke oder die gesunde Umgebung durch tuberkulöses Personal infiziert werden.

Darüber, wer sich am besten für die Pflege der tuberkulösen Geisteskranken eignet, sind Richtlinien erforderlich: Besonders ge- fährdet sind wohl jugendliche Pflegepersonen, insbesondere solche mit langem, schlankem Thorax, während Personen mit kräftiger, pyknischer Konstitution, mit guter Ernährung weniger in Gefahr sind; zu prüfen ist, ob sich solche, die einen tuberkulösen Prozeß überstanden und sich darnach gut gekräftigt haben, zu derartiger Pflege vorzugs- weise eignen oder ob dies wegen der Gefahr der Reinfektion nicht der Fall ist.

Nach alledem ist es dringlich zu erstreben, daß die als tuberkulös festgestellten Geisteskranken aus mehreren Anstalten heraus in einer Spezialabteilung einer Irrenanstalt zentralisiert werden. Kann man zwischen mehreren zur Aufnahme tuberkulöser Geisteskranker geeigneten Irrenanstalten wählen, so wird man einer in waldiger Gegend, in Gebirgshöhe, fern von Städten und Industrie gelegenen,

Ober Erkennung und Behandlung der Tuberkulose usw. 173

vor Wind und Staub geschiitzten Anstalt den Vorzug geben. Hier muß den Kranken die der Neuzeit entsprechende Behandlung zuteil werden. Außerdem müssen wir alle der Tuberkulose irgend verdäch- tigen Fälle in unseren Anstalten, möglichst mit einem Consiliarius für Lungenkrankheiten, genau untersuchen und mit den positiven Fällen ebenso verfahren. Dann werden wir den von Geisteskrankheit und Tuberkulose befallenen Kranken wesentlich nützen, außerdem aber auch unsere gesunden Mitarbeiter wie die nicht tuberkulösen Geisteskranken unserer Anstalten vor einer großen Gefahr schützen. Diese Gefahr bedroht in erster Linie die schizophrenen Kranken, die nach der jetzigen Diagnostik alle an andern psychischen Krankheiten leidenden Anstaltsinsassen an Zahl so gewaltig überwiegen und die zufolge ihrer oft asthenischen Körperkonstitution wie der bei den Schizophrenen erbbiologisch festgestellten, eigentümlichen Familien- disposition zu Tuberkulose erfahrungsgemäß besonders leicht an Tuber- kulose erkranken.

Die Erkennung der beginnenden Tuberkulose ist bei Geistes- kranken besonders schwierig. Gerade in der ersten Zeit gewährt aber eine Behandlung der Tuberkulose Aussicht auf Erfolg. Jedenfalls dürfen die modernen Behandlungsmethoden sowohl der Tuberkulose wie der Psychose natürlich mutatis mutandis den von Psychose und Tuberkulose zugleich Befallenen nicht vorenthalten werden. Da sich immer mehr herausstellt, daß die Tuberkulose und die Schizophrenie aus derselben Erbmasse hervorgehen, muß in den Irrenanstalten, in denen ja Schizophrene in überwiegender Anzahl behandelt und ver- pflegt werden, die Prophylaxe der Tuberkulose strengstens beachtet werden. Genau wie das Wohnungselend die Tuberkulose in der Be- völkerung begünstigt, sind die Geisteskranken auf überfüllten Ab- teilungen der Erkrankung an Tuberkulose ausgesetzt; zur Verhütung dieser Krankheit brauchen die Geisteskranken keineswegs einen geringeren, nein mindestens denselben Luftkubus wie die körperlich Kranken. Da man weiß, daß asthenisch gebaute Personen besonders empfänglich für die Tuberkulose sind, muß man bei Auswahl des Pflegepersonals, insbesondere des weiblichen, sehr viel Gewicht auf eine kräftige Körperkonstitution legen und muß von Fall zu Fall sehr genau prüfen, welchen Personen die Pflege tuberkulöser Geisteskranker die relativ mindeste Ansteckungsgefahr bereitet. In weitgehendem Maße muß das Pflegepersonal auf einer Abteilung für tuberkulöse Geisteskranke vor Überanstrengung geschützt, reichlich ernährt und unter den besten hygienischen Bedingungen untergebracht werden!

Praktisch-psychiatrische Tagesfragen.

Von Geh. Medizinalrat Dr. Max Fischer, Berlin-Dahlem.

Die beiden Gebiete der praktischen Psychiatrie, denen ich mich vom Eintritt ins Berufsleben ab (1889), zusammen mit dem Anstalts- bauwesen, mit besonderer Vorliebe widmete und denen auch meine ersten Veröffentlichungen !) galten, nämlich die Arbeitstherapie und die Fürsorge für Geisteskranke außerhalb der Anstalten, beherrschen gegenwärtig, wie unsere Wiener Tagung (1927) zeigte, zu meiner Freude das Feld.

In der ersteren Arbeit (1894), also lange vor Simon, habe ich die Beschäftigungstherapie auch für frische Psychosen, wie sie von jeher in Ilenau nach wohlüberlegtem Heilplan und bewährten Grund- sätzen betrieben wurde, begründet und empfohlen, mußte mir aber damals die Belehrung gefallen lassen, daß dieser Standpunkt irrig, daß vielmehr bei akut Erkrankten systematische Bettruhe ohne Be- schäftigung am Platze sei; Beschäftigung komme bei heilbaren Fällen erst viel später in der Rekonvaleszenz in Betracht; es war die be- ginnende Blütezeit der allgemeinen Bettbehandlung. Dies des histori- schen Interesses wegen. Tempora mutantur et nos mutamur in illis! In jener meiner Arbeit finden sich jedoch auch Sätze wie: „Die Aus- wahl zur Arbeit kann nur nach ärztlichen Gesichtspunkten und nach genauer Abwägung der Individualität des einzelnen Kranken er- folgen.“ „Eine Panacee ist damit nicht gegeben“; vor dem Aus- arten in einen „Restraint der Arbeit“ wurde gewarnt. Diese Worte werden auch heute noch zu Recht bestehen, insbesondere für manche beginnenden Psychosen. Neben der Indikation zur Arbeit gibt es eben bei unsern Kranken auch eine ärztliche Kontraindikation nicht nur aus somatischen, sondern auch aus psychischen Gründen, an-

1) 4, „Über a von Geisteskranken“, 1894. 2 „Zur Irrenfürsorge‘‘, 1897.

Praktisch-psychiatrische Tagesfragen. | 175

gesichts deren die Anordnung der Beschäftigung ein ärztlicher Kunst- fehler wäre. Damit soll keineswegs eine Schmälerung der großen Verdienste Simons, die ich gegenteils rückhaltlos anerkenne, aus- gesprochen werden, sondern höchstens eine Warnung vor Über- steigerung des Prinzips bzw. vor Schematisierung durch übereifrige Nachfolge entgegen den Forderungen der Individualisierung.

Um die Entwicklung der Arbeitstherapie in Baden hat sich sodann vor allem Direktor Dr. Haardt-Emmendingen, ein Pätz-Schüler, sehr verdient gemacht. ‚Seine Erfahrungen hat er in einem großen Vortrag vor der Versammlung des „badischen Hilfsvereins für Geistes- kranke“ im Jahre 1909 vorgetragen, aber leider nachher nicht ver- öffentlicht. Einiges darüber findet sich indes in seinem Aufsatze „Die Arbeitstherapie in der badischen Heil- und Pflegeanstalt Emmen- dingen‘ (Allg. Zeitschrift für Psychiatrie, Band 79, S. 47—59 Pätz-Festschrift). In der Heilanstalt Wiesloch ist seit ihrer Er- öffnung (1905) die Arbeitstherapie ebenfalls in ausgedehntem Maß- stabe getrieben worden, worüber unsere Jahresberichte und einige Veröffentlichungen Kunde geben (Dr. Möckel: „Die Behandlung der alten Schizophrenen durch die Arbeitstherapie‘‘, 1922, und „Die Ar- beitstherapie bei Geisteskranken‘‘, 1925). Überall gelangen den Simonschen ganz ähnliche Gedanken zum Ausdruck. In Wiesloch wurden auch die frisch aufgenommenen Kranken von der Aufnahme- station aus und neben der Bettbehandlung her unter genauer ärzt- licher. Dosierung zur regelmäßigen Tätigkeit angeleitet. Allerdings haben wir aus guten Gründen die Beschäftigung im Freien der Werk- stättenarbeit vorgezogen. Neben der Wachabteilung bzw. den Haus- gärten befanden sich Arbeitsgärten für Blumen-, Gemüse- und Beeren- zucht, in denen hauptsächlich akut Erkrankte unter guter Aufsicht stufenweise und schonend in die Gartenarbeit eingeführt: werden konnten.

Im Verein mit der Arbeitstheraipe und als Vorstufe der Früh- entlassung kommt sodann noch die freiere Behandlung in der Anstalt selbst (Offentürsystem, freie Beschäftigung, freier Ausgang, pflegerlose Abteilungen usw.) in Betracht, womit sich zweifellos noch eine größere Zwanglosigkeit und Natürlichkeit in der Pesemahatung der Pfleglinge als seither erzielen läßt.

Für psychiatrisches Denken muß es nun als selbstverständlich gelten, daß nicht etwa eine der beiden genannten Richtungen d.h. der Arbeitstherapie und der Außenbehandlung sich als Selbstzweck auftun oder aber daß an der einen Anstalt diese, an einer anderen

176 Fischer,

die zweite Methode allein oder vorzugsweise gepflegt würde. Unsere Aufgabe besteht vielmehr überall in einem engen Ineinandergreifen und Zusammenarbeiten beider zu dem einen Ziele der Heilbehand- lung, in gegenseitiger Ergänzung und Wechselwirkung zum Zweck erhöhter Gemeinschafts- und Gesamtleistung. Arbeitstherapie und offene Fürsorge haben also beide gleichermaßen Anteil an der Ak- tivierung unseres Anstaltswesens. Dabei stellt die Arbeitstherapie als vornehmstes Heil- und Erziehungsmittel die Wegbereiterin für die offene Fürsorge dar, und die Summe der erzielten jährlichen Ent- lassungen in die Freiheit gibt nach wie vor den Hauptgradmesser für unser ärztliches Wirken ab.

Die offene Fürsorge ihrerseits hat nicht nur die unmittelbare Fortsetzung der Anstaltsbehandlung einschließlich der sozialen Für- sorge bei den Entlassenen zu leisten, sondern auch die Vorbehand- lung der ihr aus dem freien Leben zugehenden Kranken, wobei es sich ebenso sehr um die rechtzeitige Herbeiführung der Anstalts- aufnahme als gegenteils je nach Lage des Falls um die Verzögerung oder dauernde Umgehung derselben durch die offene Behandlung, so z. B. bei vielen Psychopathen, handeln kann; gerade nach dieser letzteren sehr beachtenswerten Seite hin kann unsere ärztliche Für- sorgearbeit noch eine wesentliche Steigerung erfahren.

Auf eine weitere höchst bedeutsame Aufgabe unserer Fürsorge- ärzte habe ich erst kürzlich in meiner Arbeit: „Eugenik und offene Fürsorge für Geisteskranke‘‘ in dieser Zeitschrift hingewiesen. Ich halte es für ungeheuer wichtig, daß wir uns in dieser Richtung der prophylaktischen Ehe- und Fortpflanzungsberatung bzw. der Ver- hinderung erbkranker Nachkommenschaft bewähren.

Man möge es mir nicht verübeln, wenn ich bei dieser Gelegen- heit kurz meine eigenen früheren Veröffentlichungen auf dem Gebiet der sozialen Psychiatrie, die den Koldschen zum Teil voraus-, zum Teil parallelgingen, hier erwähne. Nach den drei älteren Schriften aus den Jahren 1901, 1902 und 1903, die eigentlich schon die Haupt- richtlinien unseres sozialpsychiatrischen Handelns enthalten, sind es vor allem die Aufsätze: „Neue Aufgaben der Psychiatrie in Baden“ (1912), „Gesundheitsaufsicht bei Geisteskranken außerhalb der An- stalten‘‘ (1913) und „Die soziale Psychiatrie im Rahmen der so- zialen Hygiene und allgemeinen Wohlfahrtspflege‘‘ (1919), in denen die wichtigsten Kapitel der Psychiatrie außerhalb der Anstalten einschließlich der psychischen und sozialen Hygiene und Prophylaxe, wie auch der sozialpsychiatrischen Fürsorge und ihrer Beziehungen

ef

Praktisch-psychiatrische Tagesfragen. 177

zu anderen Fürsorgezweigen eingehend abgehandelt und Vorschläge zur Verbesserung und organisatorischen Ausgestaltung gemacht wer- den. An Einzelpunkten seien erwähnt: die Heilanstalten für Geistes- kranke als Zentren für die gesamte Fürsorgearbeit ihres Aufnahme- bereichs, Poliklinik und Beratungsstellen an den Anstalten, Besuchs- reisen der Irrenärzte, offene Fürsorge und Gesundheitsaufsicht bei allen freilebenden Geisteskranken, Fürsorge für abnorme Kinder und Jugendliche mit Beratungsstellen, Schutzaufsicht für gewesene krimi- nelle Geisteskranke, Individual- und Familienfürsorge, Aktivität der Fürsorgearbeit, Ausbreitung der Hilfsvereinsbewegung, Gesamtorgani- sation des ärztlichen Fürsorgewesens, Stammbaum- und Erblichkeits- forschung, Rassenhygiene, Eheerschwerung, Anzeigepflicht, statisti- sche Erfassung und Evidenthaltung aller Geisteskranken und geistig Abnormen durch eine statistische Landeszentrale.

In diesem Zusammenhange sei auch von mir mit allem Nach- druck betont, wie wichtig, ja lebensnotwendig mir für das Gedeihen unserer Wissenschaft allgemein der Beitritt der Psychiater zur Be- wegung der psychischen Hygiene erscheint, die sämtliche freieren Bestrebungen der psychischen Behandlung, Hygiene und Prophylaxe sowie die soziale Fürsorge an unseren Kranken in glücklicher Form zusammenfaßt. Die offene Fürsorge und die Hilfsvereine für Geistes- kranke müssen sich so durch unsere Arbeit zu einem geordneten, alle Kranken und Gefährdeten umfassenden System über ganz Deutsch- land hin ausbreiten. Wir Psychiater aber haben für die allgemeine Einbürgerung dieser Ideen zu sorgen und müssen vor allem darauf sehen, daß wir dabei die Führung unbedingt in unseren Händen behalten, soll unser Stand und unser Wirken nicht unwiederbring- lichen schweren Schaden erleiden.

Die Aktivität einer Heilanstalt für Geisteskranke kann sich nun selbstverständlich in den beiden Aufgaben der Arbeitstherapie und der offenen Fürsorge keineswegs erschöpfen; sie stellen in der Tat ja nur einen Teil bzw. zwei, allerdings sehr wichtige Heilmittel oder Heilmethoden innerhalb der Gesamtbehandlung dar. Als Ärzte schulden wir unseren Kranken in allererster Linie gewissenhafteste Erforschung und sorgfältigste Behandlung ihres psychischen Krank- heitszustandes, also vor allem exakte klinische Untersuchung in somatischer wie psychischer Hinsicht, fortlaufende Beobachtung und dar- auf aufbauend eingehende individuelle Behandlung nach den Forderun- gen der klinischen Psychiatrie und Psychotherapie, diè ja vom Geistes- kranken her ihren Ausgang nimmt. Hierin haben wir Anstaltsärzte

Zeitschrift für Psychiatrie. LXXXIX. 12

178 Fischer,

unser Hauptlebenswerk zu leisten. Psychische Therapie läßt sich aber wie überhaupt so ganz besonders bei unsern Kranken nur treiben, wenn wir Zeit und Geduld, ein warmes menschliches Mitfühlen und Verstehen daranrücken und dadurch dem Vertrauen unserer Klienten. das einzig mögliche Äquivalent entgegenbringen. Gerade Arbeits- therapie und offene Fürsorge lehren uns, daß wir uns vor allem Zeit für unsere Kranken nehmen müssen. Der Arzt, der keine Zeit hat und, so zu sagen, beim Eintritt in die Abteilung schon nach der Tür- klinke schielt, ist von vornherein verloren; denn jeder weiß um seine Zeitnot und sucht ihn deshalb zu interpellieren und aufzuhalten, damit er ihm ja nicht entwische. Der Arzt dagegen, der ruhig und gemessen seine Visite macht, kommt viel unbehelligter durch; und nach seinem Weggang hat jeder einzelne das Gefühl, daß er zu seinem Recht an die Aussprache mit dem Arzte gekommen ist. Freilich muß es dem Geschick und dem Takt des wahren Seelenarztes über- lassen bleiben, über seine Zeit so umsichtig und vorteilhaft wie mög- lich zu disponieren, sie als das wichtigste Heilmittel je nach der Individualität des Kranken genau zu dosieren.

In der klinischen Behandlung unserer Kranken, insbesondere bei akut einsetzenden Psychosen, jedoch auch bei interkurrenten Verände- rungen chronischer Kranken wird aber die psychische Therapie und in Verbindung mit ihr ein vernünftiges Maß der jetzt so stark zurück- gedrängten Methoden der Wachsaal- und Bettbehandlung, der Hydro- therapie und der Dauerbäder immer ihren Platz behaupten. Es wider- spräche auch ganz und gar ärztlichem Denken, wenn man diesen in der Therapie der körperlichen wie der psychischen Krankheiten allgemein erprobten und anerkannten Maßnahmen grundsätzlich ent- sagen würde, obwohl ihre wohltätigen Wirkungen ja nicht aufgehört haben. Daß Gebiet, Form und Grad der ärztlichen Anordnungen großen Wandlungen unterworfen sind, erleben wir auch sonst häufig; es gibt sogar nicht selten redivivi. Ich selbst möchte in der psychischen Behandlung und zwar auch bei den sogenannten schicksalsmäßigen Psychosen die genannten Behandlungsmethoden, zumal bei der Viel- fältigkeit der nervösen wie der körperlichen Krankheitserscheinungen, keineswegs missen; hierin ist Neisser uneingeschränkt zuzustimmen. Manche kranke Psyche erschließt sich unter ihrer Wirkung eher dem Arzte und läßt sich dadurch günstig beeinflussen. Ja, gerade die Gewinnung eines Pfleglings zur ersten Beschäftigung geht mit- unter über die Bettbehandlung oder über die Wohltat eines ver- längerten Bades oder über eine befreiende Aussprache mit dem Arzte.

Praktisch-psychiatrische Tagesfragen. 179

Dazu muß als unerläßlich kommen die freundliche Gestaltung des therapeutischen Milieus, das dem Kranken eine Heilatmosphäre, ein familiäres Innenleben innerhalb der Anstalt gewähren soll, wie es schon vor 90 Jahren Roller gefordert und in seinem Illenau auch vorbildlich eingerichtet hat. Nebenbei sei bemerkt, daß Roller auch der Musik, dem Spiel, dem Tanz und den Leibesübungen, dem Geräteturnen einen weiten Spielraum in der psychiatrischen Therapie und Pädagogik zugemessen hat; es war eine Turnhalle, ein Turnlehrer und ein Musiklehrer vorhanden. Man nannte diesen Teil der Be- handlung Kinesitherapie oder Kinesiatrik. Für mich als alten Ilen- auer, der ich in diesen Traditionen aufgewachsen bin, ist es eine ganz besondere Freude zu sehen, wie die Rollerschen Grundsätze, die für mich von jeher zu den Imponderabilien sine quibus non jeder psy- chiatrischen Behandlung gehören, wieder neu aufgenommen und ge- pflegt werden. Ich könnte noch sehr viel Lehrreiches davon er- zählen. Wesentlich Neues ist somit für mich in den jetzigen Be- strebungen selbst bezüglich der Technik der Ausführung nicht ent- halten.

Unsere Heilanstalten dürfen nun über ihrer Hauptaufgabe, der Untersuchung und Behandlung bzw. der Heilung und Besserung ihrer Kranken, als zweite bedeutsame Leistung die wissenschaft- liche Verwertung ihrer praktischen ärztlichen Arbeit nicht hintan- setzen. Die leidende Menschheit kann von uns diesen wertvollen Dienst verlangen, damit die Ergebnisse mühsamer Untersuchungen und Erfahrungen nicht für den Fortschritt der Wissenschaft und damit für die bessere Erkenntnis und zugleich Bekämpfung dieser Volkskrankheiten verloren gehen. Bei dem öffentlichen Charakter unserer Krankenanstalten darf man hier sehr wohl von einem no- bile officium unserer Ärzteschaft reden. Viele gute Ansätze hierzu . sind vorhanden. An Stoffgebieten fehlt es uns glücklicherweise auch nicht; es darf hier nur etwa an die statistische Bearbeitung des großen Krankenmaterials nach den verschiedensten Gesichtspunkten, an die Familien- und Erblichkeitsforschung, an die Bekämpfung des Alkoholismus, an die Beziehungen zwischen Psychiatrie und Rechts- pflege (Straf- und Zivilrecht), an die wichtige Aufgabe der psychiatri- schen Volksaufklärung u. a. m. erinnert werden. Hierher gehört auch die Auswertung des pathologisch-anatomischen Materials durch Grün- dung einer Prosektur unter einem hauptamtlich angestellten Pro- sektor für die Heilanstalten eines Landes oder einer Provinz, worin

zuerst Wiesloch für Baden und dann Eglfing-Haar für Oberbayern 12*

180 Fischer,

vorangegangen ist. Die Aathologiseh-aintoniehe Grundlage wird so dem Arztekollegium in Vortragen und Demonstrationen am frischen und verarbeiteten Material immer wieder wachgerufen eine durch- aus notwendige Ergänzung unseres wissenschaftlichen Betriebs. Eine große Anstalt soll ja, wie es Schüle einmal halb im Scherze für sein Nlenau in Anspruch nahm, eine eigene medizinische Fakultät für sich darstellen.

All das läßt sich natürlich nur leisten bei einer vollausreichenden Ärztezahl. Wo es daran fehlt, müssen wir eben mit vereinten Kräften dabin streben, daß es anders werde, mit Hilfe unseres deutschen Vereins für Psychiatrie wie unserer Organisation des Reichsverbandes, wie aller Sachverständigen bei den Landes-, Provinzial- oder Kreis- behörden und bei den Volksvertretungen; der Fischersche Index ist ja seit 1900 bekannt; ihn heißt es unter gewissen Modifikationen verwirklichen. Wir müssen erreichen, daß jede unserer Anstalten ein so zahlreiches Ärztekollegium erhält, daß es die hier zu be- sprechenden Aufgaben ohne Überanstrengung erfüllen kann. Vor allem müßte auch verhütet werden, daß die Anstaltsärzte schon allein durch Vertretung beurlaubter Kollegen, d.h. in Wirklichkeit beinahe das ganze Jahr hindurch belastet sind; eine solche Ver- pflichtung kann nicht anerkannt werden. Die wissenschaftliche Be- arbeitung des Krankenmaterials und der daraus sich ergebenden praktischen Fragen der Anstaltspsychiatrie darf unter keinen Um- ständen vernachlässigt werden. Bei Beharrlichkeit in unseren An- forderungen wird uns nach meiner Erfahrung auch der Erfolg nicht fehlen. Und wenn gegenwärtig die Lage im ärztlichen Anstalts- dienste so übel ist, daß kaum Ersatz für Abgang beschafft werden, geschweige denn von einer Auswahl des Tüchtigsten, wie sie nötig wäre, die Rede sein kann, so muß und wird auch diese Zeit der Not, wenn auch nicht so leicht und nicht so schnell wie wünschbar, über- wunden werden. Auch hier heißt es die Ursachen ergründen und beseitigen. Vor allem müssen wir den Anstaltsdienst so begehrens- wert machen, daß wir in der Konkurrenz bestehen können Mit der Berücksichtigung unserer besonderen Stellung innerhalb der Beamten- schaft, der uns auferlegten Lasten einerseits und Entsagungen andrer- seits, durch entsprechende Auswirkung in der Gehaltseinstufung ist aber vielleicht kein anderes Mittel so geeignet, die Anziehungskraft, des Anstaltsdienstes für strebsame junge Ärzte zu heben wie gerade die Aussicht auf freie wissenschaftliche Betätigung an interessantem Krankenmaterial.

Bei dieser Gelegenheit möchte ich die mehr als bescheidenen

we

Praktisch-psychiatrische Tagesfragen. 181

Schriftstellerhonorare so mancher Fachzeitschriften nicht uner- wähnt lassen. Wenn wir auch die schwere Lage des deutschen Buch- handels nicht verkennen, so muß uns andrerseits doch die Gründung von gleich drei neuen psychiatrischen Zeitschriften, die uns als ein Embarras de richesse vorkommen will, stutzig machen. Die einzige

- gute Seite, daß bei so geringer Bewertung unserer Veröffentlichungen

die Einnahmequelle daraus steuerfrei bleibt, weil die Gestehungs- und Werbekosten die ganzen Beträge aufwiegen oder sogar über- steigen, kann die Entwürdigung für uns nicht aufheben. Hier sollte unbedingt, vielleicht mit Hilfe unseres Vereins, Abhilfe getroffen werden. Auch der Verband für psychische Hygiene könnte sich der Frage annehmen; denn für die psychische Hygiene an uns Psychiatern selbst wäre zweifellos die Erlösung aus diesem Minderwertigkeits- gefühl von großer Bedeutung.

Ferner besteht an manchen Anstalten fühlbarer Mangel an Sachverständigen- und Gutachtertätigkeit und zwar deshalb, weil von den Gerichten die Fälle zu einseitig vergeben werden, so daß andernorts wieder ebenso unzweckmäßiger Überfluß mit der unliebsamen Folge der Überbelastung eintritt. Ohne das freie Ver- fügungsrecht der Gerichte bierin irgendwie antasten zu wollen, kann doch ein deutlicher Hinweis darauf, daß an unseren Anstalten auf diese Weise viele tüchtige Sachverständigenkräfte unnötigerweise völlig brachliegen, nicht schaden. Mit anderen Worten: wir möchten für unsere Anstalten mehr Einweisungen zur Beobachtung des Geistes- zustandes sei es in Zivilrechts-, sei es ganz besonders in Straf- rechtsfällen erhalten, wobei zweckmäßigerweise ein regelmäßiger Turnus unter den begutachtenden Anstaltsärzten eingehalten wird.

Dabei darf auch einer Neuregelung der Gebührenordnung mit angemessenen Sätzen für uns das Wort geredet werden; unsere psychiatrischen Sachverständigengutachten sind ihrer ganzen Natur nach als außerhalb des eigentlichen Anstaltsdienstes liegende Sonder- leistungen von besonders schwierigem und wichtigem Charakter zu bewerten.

Zur Bereicherung der ärztlichen Tätigkeit an unseren Anstalten kann die Gründung von Stationen für psychopathische und psychoti- sche Kinder und Jugendliche wesentlich beitragen und zu wissen- schaftlichen Untersuchungen anregen, wie wir dies bei den damit schon ausgestatteten Anstalten erfreulicherweise sehen.

Das gleiche gilt von besonderen Abteilungen für Nervenkranke und psychisch Nervöse mit freierem Aufnahmeverfahren, die

182 Fischer,

eigentlich an keiner größeren Anstalt fehlen sollten. Auch sie er- gänzen das Krankenmaterial und unsere ärztlichen Aufgaben in willkommenster Weise.

Die Schaffung eines fortschrittlichen Reichsfürsorge- und Schutzgesetzes für Geisteskranke würde auch unserem An- staltsleben neue Impulse und ein freieres ärztliches Wirken schenken, z.B. durch Erleichterung des Aufnahme- und Entlassungsverfahrens, durch das System der freiwilligen Aufnahmen, durch Abschaffung bureaukratischen Krams, wenn insbesondere noch sorgfältig ausge- arbeitete liberale und vernünftige Vollzugsbestimmungen hinzukom- men. Allerdings müßte man zum voraus vor einer Fehl- oder Miß- geburt sicher sein können; sonst lieber: ,,Quieta non movere‘“!

Die in der Presse berichtete Verquickung des preußischen Irren- fürsorge-Gesetzentwurfs mit dem sogenannten Verwahrungsgesetz bzw. die Abhängigmachung des ersteren von dem zweiten erscheint gänzlich unbegreiflich, da die beiden Materien auch nicht das Ge- ringste miteinander zu tun haben. Das Irrenfürsorgegesetz ist seiner ganzen Natur nach ein reines Krankenfürsorgegesetz, während man das von dem anderen keineswegs behaupten kann. Es empfiehlt sich, hier eine ganz strenge Trennungslinie zu ziehen. Für unsere Kranken ist ein besonderes Gesetz für ihre Einweisung und Fest- haltung in dem für sie zuständigen Krankenhause nur deshalb nötig, weil sie in der Person krank sind und ihre juristische Persönlichkeit durch den Krankheitsprozeß leidet oder gelitten hat, so daß sie über ihre rechtlichen und sozialen Interessen und über ihre eigene Ge- sundheitsfürsorge nicht selbständig entscheiden können. Aus diesem Grunde, den manche Bearbeiter noch nicht recht erkannt haben, wäre eine baldige Regelung und zwar, wenn irgend möglich, für das ganze Reich einheitlich, unbedingt anzustreben.

Die gegenwärtige Überfüllung der meisten unserer Anstalten bildet, so sehr sie auf der einen Seite auch als Agens zu ver- mehrten, frühzeitigen und selbst gewagten Entlassungen wirken muß, ein großes Hindernis für die freiere Entwicklung unseres Anstaltswesens. Hier muß man trotz der Not der Zeit nach und nach an einen weiteren Ausbau bzw., da die Vergrößerung vor- handener Anstalten sich doch in der Regel als zudem sehr teueres Verlegenheitsmittel und ungenügende Abhilfe erweist, an die Neu- gründung von regionär geschickt verteilten Einheitsanstalten unter kluger Berücksichtigung der unterdessen gemachten Fort- schritte in der Anstalts- und Außenbehandlung (mehr Tagsäle

Praktisch-psychiatrische Tagesfragen. 183

und Werkräume, weniger Bettbehandlungssäle und Wachstationen) herangehen. |

Ein weiterer für die Belebung des ganzen Anstaltsbetriebs ent- scheidender Faktor ist für mich Zahl und Art der Jahresauf- nahmen in unseren Anstalten. Auf diesen Punkt ist deshalb be- sonderer Nachdruck zu legen, weil er mir in erster Linie auch für den Nachwuchs im ärztlichen Dienste unserer Anstalten maßgebend erscheint. Bis vor kurzem und vielfach wohl auch heute noch kommt es vor, daß große Landesanstalten für Geisteskranke sich bei einem Bestande von etwa 1000 Pfleglingen begnügen müssen mit einer Auf- nahmeziffer von 300—400—500 Kranken jährlich, worunter meist nur ein Drittel bis höchstens die Hälfte Erstaufnahmen bzw. frische Fälle darstellen, während die übrigen, sehr oft die überwiegende Mehrzahl, erst aus zweiter Hand (Klinik, Stadtasyle usw.) kommen oder Wiederaufnahmen und chronische Fälle sind. Das ist ein denk- -bar unbefriedigender und ungesunder Zustand für unseren ärztlichen ‚Dienst, da so ungefähr in der Woche nur eine Aufnahme auf einen Arzt kommt, wobei ich als selbstverständlich annehme, daß sämt- liche Ärzte in der Aufnahmefunktion regelmäßig alternieren, also im Jahre ungefähr gleich oft an die Reihe kommen. Gerade streb- same und tüchtige Psychiater werden eine derartige Stabilität des Krankenmaterials, die an Krankenhäusern für körperlich Kranke ganz undenkbar wäre, nicht ertragen und sich interessanteren Be- trieben mit stärker fluktuierendem Krankenmateriale zuwenden.

Es darf dabei auch nicht verkannt werden, daß ein Verfahren, das zunächst die Zuführung eines Kranken in eine erste sogenannte Aufnahmeanstalt und dann die Überweisung aus dieser in eine zweite (Übernahme- oder Pflegeanstalt) vorsieht, einmal eine Verteuerung des ganzen Betriebs und zweitens in dubio doch eine längere Dauer des Anstaltsaufenthaltes im ganzen (in 2 Anstalten nacheinander) bewirkt und somit die Entlassung mehr verzögert, als wenn derselbe Kranke sofort in die Anstalt kommt, die ihn nach Krankheitsablauf bald wieder direkt in offene Fürsorge hinausstellt. Mehr direkte Aufnahmen garantieren kürzeren Anstaltsaufenthalt mit der Folge der Verbilligung der Kosten für den einzelnen und zugleich eine größere Zahl von Entlassungen.

Nun ist zwar sicher, daß die gegenwärtig in Aufschwung be- findliche offene Fürsorge zusammen mit dem Prinzip der Frühent- lassung auch den Landesheilanstalten mehr Aufnahmen und zwar auch von leichteren Psychosen, Verstimmungszuständen im Beginne,

184 Fischer,

Neurosen, Beobachtungsfallen, freiwilligen Aufnahmen usw. zuführen, also eine stärkere Krankenbewegung hervorrufen und damit regeres Leben in die Abteilungen und in den ärztlichen Dienst hineintragen wird. Aber ob dieses Mehr ausreichen wird, den bisherigen Notstand so darf man eine zu geringe Aufnahmeziffer getrost heißen aufzuheben, erscheint mir mehr wie fraglich. Es muß also das ernste- ste Bestreben aller Anstaltsleiter sein und bleiben, im Interesse der Aktivität ihrer Anstalten und des ärztlichen Dienstes für eine richtige und zwar nicht zu karge Bemessung ihres Aufnahmebereichs und damit für eine vermehrte Zahl von Jahresaufnahmen, darunter auch von genügend frischen Psychosen zu sorgen; durch persönliches Ein- greifen und unbeirrte Beharrlichkeit läßt sich da manches erreichen. Und zwar halten wir als Mindestmaß eine Zahl für notwendig, die jedem Arzt der Anstalt in der Woche zwei und mehr Aufnahmen mit der erforderlichen Bearbeitung (Anamnese, status praesens, klini- sche Untersuchung, psychische Analyse usw.) gewährleistet. Je mehr die Jahresaufnahmeziffer dem Bestande an Plätzen sich nähert oder ihn übersteigt, desto besser. Nur durch eine solche Steigerung der Intensität ärztlichen Arbeitens und des Krankenumsatzes innerhalb der Anstalt wird sich das ganze Niveau des Krankenhausbetriebes heben; denn an der Zahl der Heilergebnisse, also der Entlassungen ins freie Leben wird der Erfolg der ärztlichen Bestrebungen und da- mit die Erfüllung der eigentlichen Aufgabe der Heilanstalten ge- messen. Die Lebensfähigkeit unserer Heilanstalten hängt davon ebenso ab wie die Gewinnung und Erhaltung eines tüchtigen Ärzte- standes, die sich ja beide wiederum gegenseitig bedingen. 3 Bei dieser Sachlage wird man allerdings auch zu priifen haben, ob es nicht psychiatrische Betriebe (Anstalten, Kliniken, Stadtasyle usw.) gibt, die unnötig viele Aufnahmen vollziehen, für sich absor- bieren, sie mit anderen Worten den Landesanstalten entziehen. Hierin müssen wir, soweit es der Zweck dieser Institute selbst irgend duldet, im Interesse des Ganzen, d.h. der gesunden Entwicklung der Landesirrenfürsorge entschieden um eine Revision solcher über- großen Aufnahmeziffern, die weder den betreffenden Einrichtungen selbst noch den einzelnen Kranken zum Heil sein können, zugunsten - unserer Anstalten bitten. = Die hier geforderte Regelung des Aufnahmewesens unter den Anstalten eines Landes nach Zahl und Form der Psychosen halte ich sonach für eine der allerdringendsten Aufgaben der Jetztzeit, ohne die mir eine gründliche Sanierung des Anstaltswesens und des ärztlichen

Praktisch-psychiatrische Tagesfragen. 185

Dienstes geradezu undenkbar erscheint. Dieser Punkt diirfte daher von der Tagesordnung gar nicht mehr verschwinden, bis ein gerechter Aus- ‚gleich gefunden ist.

Zwecks Belebung des ärztlichen Anstaltsdienstes hat man schließ- lich auch die Forderung aufgestellt, daß zwischen den Landesheil- anstalten ein häufigerer Wechsel der Ärzte stattfinden solle. Wir in Baden haben davon seit Jahren einen sehr lebhaften, ja beinahe zu starken Gebrauch von seiten der Regierung auferlegt bekommen. Im ganzen kann man aber eine solche Maßnahme im Interesse der geistigen Beweglichkeit und vielseitigeren Ausbildung unserer Ärzte durchaus begrüßen und befürworten. Die Seßhaftigkeit der An- staltsärzte war denn doch seither manchenorts entschieden zu groß, sowohl an den einzelnen Anstalten wie sogar auf den gleichen Ab- teilungen ein und derselben Anstalt; das darf man ruhig eingestehen.

Auch an einen Ärztewechsel zwischen psychiatrischen Kliniken und Anstalten ist gedacht worden. Hiergegen ist gar nichts einzu- wenden, sofern es sich als Regel um jüngere Kollegen mit etwa l- bis 4jähriger klinischer Ausbildung handelt. Ich selbst habe von jeher den aus den natürlichen Verhältnissen gegebenen Standpunkt eingenommen, daß es eine der wichtigsten und vornehmsten Auf- gaben der psychiatrischen Kliniken sein müsse, den ärztlichen Nach- wuchs für unsere Heilanstalten heranzubilden, daß sie mit anderen Worten in der Lage sein sollten, immer eine kleine Auswahl von tüchtigen Bewerbern für uns bereitzuhalten. Eigentlich müßte es so sein und sogar als selbstverständlich gelten, daß keine einzige freie Anstaltsarztstelle gut empfohlenen Schülern und Assistenten der psychiatrischen Kliniken verloren gehen dürfte. Aus solchen Er- wägungen habe ich auch bei Vakanzen an meiner Anstalt mich regel- mäßig an eine Reihe von Vorständen der Kliniken mit der Bitte um Nachweis von geeigneten Kandidaten gewandt, leider aber in der Regel mit negativem Ergebnis. Das ist nach meiner Ansicht ein recht betrübender und beklagenswerter Ausgang, der beiden Teilen zu denken geben muß.

Auf der anderen Seite muß allerdings dafür gesorgt werden, daß die Anstaltskarriere dem angehenden Psychiater auch das bietet, was er bei nicht überspannten Anforderungen verlangen kann, ins- besondere auch an wissenschaftlicher Weiterarbeit; die Verwaltungs- aufgaben dürfen nicht so vorwiegen, daß sie die Bewerber abschrecken. Sonstiges über diesen Punkt ist bereits vorgetragen worden.

Umgekehrt darf freilich der .Anstaltsarzt seinerseits nicht

186 Fischer, Praktisch-psychiatrische Tagesfragen.

verkennen, wie wichtig eine gute Verwaltungs- und Wirtschafts- führung für das Gedeihen der ganzen Anstalt und der Kranken wie auch mittelbar für das Staatswohl ist. Und er tut in wohlverstande- nem ärztlichen Interesse gut daran, sich auch in diese Gebiete hinein- zudenken und einzuarbeiten, unter anderem auch schon aus dem Grunde, damit nicht die Verwaltungsorgane selbst und die fiskali- schen Interessen zu übermächtig werden. Der ärztliche Geist soll vielmehr den ganzen Betrieb durchdringen und ihm das Gepräge verleihen. Auch in den Verwaltungsgeschäften muß also der Arzt die Oberhand behalten; auch dies gehört zu unseren aktiven ärztlichen Aufgaben und ist sicher nicht die geringste unter ihnen.

Man ersieht, von welch verschiedenen Seiten die so unendlich wichtige Frage der Aktivierung der Anstaltspsychiatrie aufgenommen werden kann und man wird erkennen, daß nicht die einseitige Be- vorzugung der einen oder der andern Richtung, sondern erst die In- angrifinahme aller dieser Probleme ein volles Genügen und eine richtige Auswirkung in den uns zukommenden Aufgaben bringen kann. Möge uns dies Werk zum Wohl der uns anvertrauten Kranken und zur Hebung des Anstaltswesens, für das wir als Ärzte der Mit- welt verantwortlich sind, allezeit gelingen!

Die psychiatrisch wichtigsten Bestimmungen des Entwurfes eines neuen italienischen Straf- gesetzbuches.

Von

Privatdozent Dr. Francesco BT Oberarzt an der Provinzialirrenanstalt in Rom.

(Aus dem Italienischen übersetzt von Dr. Xaver Nothaass-Hubertusburg i. S.)

Der Entwurf des neuen italienischen Strafgesetzbuches, dessen Urheber unser Justizminister Alfred Rocco ist, bringt bezüglich der Begriffe der Unzurechnungsfähigkeit, der verminderten Zurechnungs- fähigkeit, der Trunkenheit und auch hinsichtlich der Sicherungs- maßnahmen viele Modifikationen und nicht wenige Neuerungen des gültigen italienischen Rechtes und es wird vielleicht nicht unnütz sein, wenn sie gerade in dem Augenblick, wo zwischen den deutschen Psychiatern über die Entwürfe des Ministeriums und des Parlamentes zu einem neuen deutschen Strafgesetzbuch soviel diskutiert wird, den Lesern der Allg. Zeitschr. f. Psych. bekannt werden.

Ich habe es daher für richtig gehalten, als ich die höfliche Einladung von Prof. Ilberg, des Herausgebers der Allg. Zeitschr. f. Psych., zu diesem Gegenstand mich zu äußern, annahm, in den folgenden Seiten die Paragraphen des neuen Entwurfes Rocco, soweit sie psychiatrisches Interesse haben, zusammenzufassen und diesen, wo es notwendig ist, einen kurzen Kommentar und einen Vergleich mit den entsprechenden Paragraphen des geltenden italienischen Strafgesetzes beizugeben. Der größeren Deutlichkeit halber werde ich meine Ausführungen in folgende Kapitel teilen: 1. Unzurechnungsfähigkeit, 2. verminderte Zurechnungsfähigkeit, 3. Affektzustände, 4a) Rausch durch Alkohol und andere Rauschgifte, b) chronische Vergiftungen durch Alkohol und andere Rauschgifte, 5. Sicherungsmaßnahmen.

I. Unzurechnungsfahigkeit. $ 81. (Fähigkeit der Einsicht oder des Wollens). Niemand kann für eine dem Gesetze nach strafbare Tat bestraft werden, wenn er im Augenblick der Tat unzurechnungsfähig war. Zurech-

188 Bonfiglio,

nungsfahig ist derjenige, welcher die Fahigkeit einzusehen oder zu wollen hat.

§ 82. (Versetzung eines anderen in den Zustand der Willenlosigkeit, mit dem Ziel, ein Verbrechen begehen zu lassen.)

Wenn jemand bei einem anderen den Zustand der Unfähigkeit, einzusehen oder zu wollen herbeiführt mit dem Ziel, ihn ein Verbrechen begehen zu lassen oder ihm eine Ausflucht zu verschaffen, so ist für das von der willenlosen Person begangene Verbrechen derjenige verantwort- lich, welcher den Zustand der Willenlosigkeit herbeigeführt hat und die Strafe wird erhöht.

$ 83. (Mit Willen und Vorbereitung herbeigeführter Zustand von Willenlosigkeit.) Die Bestimmung des 1. Teiles des $ 81 findet keine An- wendung auf denjenigen, der sich selbst, wenn auch nur fahrlässig, in den Zustand der Unfähigkeit der Einsicht oder des Wollens versetzt hat. Wenn dieser Zustand herbeigeführt worden ist, um ein Verbrechen zu begehen oder sich eine Ausflucht zu verschaffen, wird die Strafe erhöht.

$ 84. (Völlige Bewußtlosigkeit.)

Nicht zurechnungsfähig ist derjenige, welcher im Augenblick der Tat infolge körperlicher oder geistiger Krankheit in einem solchen Geistes- zustand sich befand, daß die Fähigkeit der Einsicht oder des Wollens aus- geschlossen war.

Der italienische Entwurf enthält, wie man sieht, das traditionelle Prinzip der „moralischen Verantwortlichkeit‘‘ gegenüber dem der „gesetzlichen Verantwortlichkeit‘‘ und stützt sich dabei auf die Po- sitive italienische Strafrechtsschule, die zwischen den moralisch zu- rechnungsfähigen Verbrechern, auf welche die Strafe anwendbar ist (die die Positive Schule als Züchtigungsmittel bezeichnet), und den moralisch unzurechnungsfähigen Verbrechern, auf die die Strafe nicht anwendbar ist, unterscheidet. Um die bio-psychologischen Bedin- gungen der Unzurechnungsfähigkeit festzulegen, entfernt sich der Ent- wurf nicht wesentlich von der gültigen italienischen Gesetzgebung, welche ihrerseits der gültigen deutschen und jener der zwei neuen deutschen Entwürfe entspricht. Doch bestehen zwischen dem italie- nischen Entwurf, dem geltenden italienischen Recht und den deutschen Entwürfen formale Unterschiede, die vermerkt zu werden verdienen.

Wie bekannt ist, wird der Fall von Unzurechnungsfähigkeit durch Geisteskrankheit im $ 46 des gültigen italienischen Gesetz- buchs abgehandelt, der folgenden Wortlaut hat:

$ 46. Nicht strafbar ist der, welcher in dem Augenblick, wo er ein Verbrechen begangen hat, in einem solchen Zustand von Geisteskrankheit war, daß ihm das Bewußtsein und die Freiheit der eigenen Handlungen fehlte. (Gültiges italienisches Strafgesetzbuch.)

Zwischen diesem Paragraphen und dem entsprechenden $ 84 des Entwurfes ergibt sich ein erster Unterschied in der Fassung, die der Gesetzgeber gebraucht, um die biologischen Grundlagen der Unzu-

Die psychiatrisch wichtigsten Bestimmungen des Entwurfs usw. 189

rechnungsfähigkeit des näheren zu erläutern. Das gültige Recht gebraucht zu diesem Zweck den Ausdruck „Geisteskrankheit‘‘ allein, der Entwurf dagegen spricht außer von der „geistigen Krankheit“ auch noch von ‚körperlicher Krankheit‘. Damit will der Entwurf jedoch nicht sagen, daß die körperliche Krankheit als solche die Ur- sache von Unzurechnungsfähigkeit sein kann, sondern nur in dem Fall, wo sie beim Täter einen „solchen Geisteszustand herbeiführt, daß er die „Fähigkeit einzusehen oder zu wollen“ ausschließt.

Mit anderen Worten, nach $ 84 kann die körperliche Krankheit nur Ursache der Unzurechnungsfähigkeit sein, wenn sie eine geistige Störung auslöst und so selbst zur „Geisteskrankheit‘‘ wird. Man könnte demnach behaupten, daß die Beifügung des Ausdruckes „körperliche Krankheit‘ nichts anderes als eine unnütze, pleonastische Wiederholung darstellt. Dieser Einwurf ist vom streng psychiatrischen Gesichtspunkt aus gerechfertigt; doch man muß bedenken, daß das Gesetzbuch für alle und nicht nur für Ärzte und Psychiater geschrieben ist und es ist alles andere als unnütz, wenn die Richter wissen, daß es nicht nur die Geisteskrankheiten im engeren Sinne sind, welche Un- zurechnungsfähigkeit nach sich ziehen können, sondern daß auch im Verlaufe von gewöhnlichen körperlichen Erkrankungen gelegentlich einmal vorübergehende geistige Störungen sich einstellen können und wenn auch nur von ganz kurzer Dauer. Trotzdem können diese eine solche Stärke erreichen, daß sie Unzurechnungsfähigkeit hervorzu- rufen imstande sind.

Ein zweiter Unterschied zwischen den 2Paragraphen besteht in der Definition der psychologischen Kennzeichen, welche die Geistes- krankheit besitzen muß, um zur Unzurechnungsfähigkeit zu führen. Um das zu erläutern sagt das geltende Recht, daß die Geisteskrankheit so sein muß, daß sie beim Täter „das Bewußtsein und die Handlungs- freiheit“ aufhebt. Der Entwurf jedoch sagt, daß der Geisteszustand so sein muß, daß er beim Täter die „Fähigkeit der Einsicht oder des Wollens‘“ ausschließt.

Darüber besteht kein Zweifel, daß die beiden Ausdrucksweisen denselben Begriff veranschaulichen wollen. In der Tat war der Aus- druck des gültigen Rechtes „das Bewußtsein oder die Handlungs- freiheit‘‘, wie schon Tanzi viele Jahre früher in einer scharfsinnigen Untersuchung über die psychologischen Grundlagen der Unzurech- nungsfähigkeit in seiner Abhandlung über forensische Psychiatrie gezeigt hat, nach der Absicht des Gesetzgebers dazu bestimmt, den genauen Unterschied zwischen „Intellekt“ und „Willen“ auszu-

190 Bonfiglio,

driicken. Und um denselben Unterschied klar herauszuarbeiten, sagt die Fassung des neuen Entwurfes: die „Fähigkeit einzusehen oder zu wollen‘. Und daher führt sowohl die erste wie die zweite Ausdrucks- weise zur Erkenntnis, daß es, um die völlige Bewußtlosigkeit (des gültigen Rechtes) beziehungsweise die zur Unzurechnungsfähigkeit führende Geisteskrankheit (des Entwurfes) zu haben, nicht notwendig ist, daß die geistige Störung umfassend und daher verteilt auf alle Gebiete der Geistestätigkeit sei, sondern daß sie auch umschrieben. und daher auf eine einzige psychische Funktion begrenzt sein kann, entweder auf das Gebiet des Intellektes oder des Willens; und zwar, wohlverstanden unter der Bedingung, daß die Störung so intensiv ist, daß sie beim Täter entweder die Fähigkeit der Einsicht (Bewußt- sein der Tat) oder die Fähigkeit des Wollens (Freiheit des Handelns) ausschließt. Der Gesetzgeber hat die neue Formel an Stelle der alten setzen wollen vielleicht in der Absicht, Zweideutigkeit zu vermeiden, die, und sei es nur scheinbar, bei der alten Fassung von der ganz speziellen Bedeutung herkommen konnte, welche einerseits dem Wort Bewußt- sein in der psychologisch-psychiatrischen Ausdrucksweise und an- dererseits dem Wort Freiheit in der philosophischen Sprache gemäß der Lehre von der Willensfreiheit zukommt. Jede Zweideutigkeit ist jedoch aufgehoben durch die Aufstellung der neuen Formel ,,Fahig- keit einzusehen oder zu wollen‘‘, die eine größere und genauere Unter- scheidungsmöglichkeit zwischen Intellekt und Willen gibt, auf die die italienische Gesetzgebung sich ausdrücklich beziehen wollte, um die psychologischen Grundlagen der Unzurechnungsfähigkeit festzulegen. Der § 84 des italienischen Entwurfes unterscheidet sich vom § 17 des deutschen ministeriellen Entwurfes und vom § 13 des deutschen Parlamentsentwurfes, in denen der Fall der Unzurechnungsfähigkeit durch Geisteskrankheit behandelt ist, besonders in zwei Punkten. Im großen ganzen stimmen die beiden deutschen Entwürfe, was die Charakterisierung der krankhaften Geisteszustände, die zur Unzu- rechnungsfähigkeit führen können, betrifft, in der Aufzählung von drei Gruppen krankhafter Geisteszustände überein: „Bewußtseins- störung, krankhafte Störung der Geistestätigkeit, Geistesschwäche‘“, während, wie man sah, der italienische Entwurf den einzigen Ausdruck „Geisteskrankheit (infermità di mente) gebraucht, der die eben er-

=- wahnten drei Arten von krankhaften Zuständen bestens zusammenfaßt.

An zweiter Stelle sagt der deutsche Parlamentsentwurf, um den Grad, den die Geisteskrankheit erreichen muß, damit Unzurechnungsfähig-

Die psychiatrisch wichtigsten Bestimmungen des Entwurfs usw. 191

keit eintritt, näher zu erläutern, daß der Täter infolge seiner Geistes- krankheit „unfähig, das Unrechtmäßige der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln‘ sein muß und fast dieselbe Formel ge- braucht der deutsche ministerielle Entwurf ‚das Unerlaubte der Tat einzusehen oder dieser Einsicht gemäß zu handeln“. Der italienische Entwurf jedoch sagt, wie wir gesehen haben, daß die Geisteskrankheit so sein muß, daß sie die Fähigkeit einzusehen oder zu wollen, ausschließt (la capacità d'intendere o di volere). Im ersten Fall spricht man von einem einfachen terminologischen Unterschied, dem keine große Be- deutung zukommt. Im zweiten Fall jedoch ist es insofern mehr als ein einfacher Unterschied des Wortes als die beiden deutschen Ent- würfe, um die Grenze der Unzurechnungsfähigkeit für den krank- haften Zustand festzulegen, es für notwendig erachten, die psycho- logische Verfassung des nähern zu erläutern, in der der Täter infolge seiner Geisteskrankheit sich der eigenen Tat gegenüber befinden muß. Der italienische Entwurf jedoch bezieht sich nicht ausdrücklich auf die begangene Tat, aber er legt ganz allgemein die psychologischen Bedingungen fest, in denen sich der Täter befinden muß, um die Vergünstigung der Unzurechnungsfähigkeit genießen zu können. Es würde sicher sehr interessant sein zu prüfen, welche der beiden Formeln vorzuziehen wäre, die deutsche oder die italienische. Aber dazu ist weder Ort noch Zeit geeignet; auch läßt sich die Frage nicht. allein nach psychiatrischen Kriterien lösen. Mich drängt nur fest- zustellen, daß die Fassung des italienischen Entwurfes vollkommen den Absichten des italienischen Gesetzgebers entspricht. Dieser ist, wie klar aus dem Text des $ 86 hervorgeht, augenscheinlich bemüht zu vermeiden, daß die Bewilligung der Unzurechnungsfähigkeit die Grenzen der sicher festzustellenden Krankhaftigkeit überschreitet. Zu diesem Zweck hat er den Ausdruck „Geistesstörung‘‘ vermieden, der nicht nur zu allgemein, sondern auch zweideutig erscheinen könnte, und hat dafür den Ausdruck „Geisteskrankheit‘‘ gebraucht, der auch ein allgemeiner Ausdruck, aber von einer präziseren pathologischen Bedeutung ist. Aus demselben Grund bestimmt er, daß die Geistes- krankheit, um auf die Unzurechnungsfähigkeit ein Recht zu geben, beim Täter die Fähigkeit einzusehen oder zu wollen im allgemeinen aufheben muß, ohne eine bestimmte Beziehung zur begangenen Tat zu fordern. Dadurch wollte er in jedem Fall den Weg zu den Affekt- zuständen verschließen, die das Gesetz, wie im folgenden der $ 86 zeigen wird, von der Wohltat der Unzurechnungsfähigkeit ausnehmen wollte, weil sie nicht aus echter Geisteskrankheit entspringen.

192 Bonfiglio,

Die beiden Paragraphen 82 und 83, welche meines Erachtens dem § 84 folgen und nicht vorausgehen müßten, betrachten ganz allgemein den Fall der Versetzung eines anderen in den Zustand der Unfahigkeit, einzusehen oder zu wollen mit dem Ziel ein Verbrechen begehen zu lassen ($ 82) und den Fall des freiwillig und vorsätzlich herbeigeführten Zustandes der Unfähigkeit einzusehen oder zu wollen ($ 83). Die in diesen beiden Paragraphen vorgesehenen Umstände, die im allgemeinen sehr selten vorkommen, können vor allem beim Rausch durch Alkohol oder andere Rauschgifte eintreten und werden in den $$ 49, 88, 89 einzeln besprochen, über deren Inhalt in den fol- genden Seiten berichtet wird.

II. Verminderte Zurechnungsfähigkeit.

$ 85. (Partieller Geistesdefekt.) _

Derjenige, welcher in dem Augenblick, wo er eine strafbare Tat begangen hat, durch körperliche oder geistige Krankheit in einem solchen Geisteszustand war, daß er die Zurechnungsfähigkeit erheblich mindert ohne sie auszuschließen, ist verantwortlich für das begangene Verbrechen; aber die Strafe wird gemildert.

Uber die Zweckmäßigkeit der Einführung des Prinzips der vermin- derten Zurechnungsfähigkeit in die Strafgesetzgebung ist zwischen Psychiatern und Juristen viel diskutiert worden, ohne daß siezu einer völligen Einigung gelangten. Die Psychiater sind, das läßt sich wohl sagen, der Einführung zum allergrößten Teil günstig gegenübergestanden; aber neuerdings hat Wilmanns gegen sie seine bewährte Stimme er- hoben, indem er seine Sätze mit einer Fülle von Argumenten stützte, die ernste Beachtung verdienen. Es kann nicht meine Absicht sein, eine so komplizierte Frage hier zu erörtern, die auf der anderen Seite mit dem Fragenkomplex der Sicherungsmaßnahmen, die im Falle der verminderten Zurechnungsfähigkeit zu ergreifen sind, innigst verbunden ist. Ich kann nur sagen, daß in Italien alle Psychiater und die Gerichtsärzte!) (vgl. Tanzi, de Sanctis, Ottolenghi) zum allergrößten Teil dem Begriff der verminderten Zurechnungsfähigkeit geneigt sind, so daß sich der italienische Entwurf naturgemäß nach der Tradition richtete und das vom gültigen Strafgesetzbuch mit dem $ 47 aufge- stellte Prinzip annahm. Paragraph 47 bestimmt, daß die Strafe herab- gesetzt werden muß, wenn die Geisteskrankheit so ist, daß sie die Zurechnungsfähigkeit erheblich vermindert, ohne sie auszuschließen.

1) Tanzi, Forensische Psychiatrie Vallardi, Mailand 1912. Otto- lenghi u. De Sanctis, Forensische Psychopathologie, Mailand 1920.

Die psychiatrisch wichtigsten Bestimmungen des Entwurfs usw. 193

Endlich haben nicht nur der italienische Entwurf, sondern auch alle anderen Entwiirfe zu Strafgesetzen im Ausland, eingeschlossen die beiden deutschen, das Prinzip der verminderten Zurechnungs- fähigkeit aufgegriffen, woraus hervorgeht, daB man unter Beiseite- lassung der theoretischen Erwägungen durchaus die Notwendigkeit fühlt, einen Mittelweg zwischen völliger Zurechnungsfähigkeit und völliger Unzurechnungsfähigkeit zu finden.

Zwischen dem italienischen Entwurf und dem deutschen Parla- mentsentwurf ist ein Unterschied, der noch hervorgehoben zu werden verdient. Der italienische Entwurf bestimmt, daß in dem Fall, in dem die psychologischen Bedingungen der verminderten Zurechnungs- fähigkeit vorliegen, obligatorisch die Herabsetzung der Strafe ein- zutreten hat; der deutsche Parlamentsentwurf dagegen ordnet an, daß in diesem Fall die Anwendung der Strafminderung nur fakultativ zu sein braucht. |

Auch in dieser Frage gehen die Meinungen auseinander und man

‘versteht, wie sie auseinander gehen können, je nach dem Gesichtspunkt,

den man einnimmt; sei es, daß man sich rigoros an das Prinzip halten will, daß die Strafe immer der Schuld entsprechen muß, oder sei es, daß man hauptsächlich die Notwendigkeit der sozialen Abwehr gegen die besonders gefährlichen Psychopathen im Auge hat. So erklärt sich, wie Schultze und Herrschmann in ihren jüngsten, fast gleichzeitig erschienenen Kommentaren zu dem deutschen und österreichischen Entwurf die zwei entgegengesetzten Sätze aufstellen konnten: Schultze billigt, Herrschmann miBbilligt die Bestimmung der beiden genannten Entwürfe, nach der die Richter ermächtigt sind, die Herabsetzung der Strafe bei Verbrechern mit verminderter Zurechnungsfähigkeit anzuwenden oder nicht.

Welche Meinung man auch in der Theorie über diese Fragen haben mag, so ist doch sicher, wie auch Herrschmann bemerkt, daß sich in der Praxis große Übelstände ergeben werden, wenn man den Richtern die Wahl läßt, die Strafminderung anzuwenden oder nicht. Jeder Richter wird sich der ihm durch das Gesetz gegebenen Befugnis gemäß seiner persönlichen Überzeugung in dieser Angelegenheit bedienen und so wird unvermeidlich eine Ungleichheit in der Behand- lung der Verbrecher bei demselben Grad der Unzurechnungsfähigkeit in Erscheinung treten, was sich zum Nachteil des Prinzips der Gleich- heit aller dem Gesetz gegenüber auswirken wird. Augenscheinlich hat der. italienische Gesetzgeber, um diesen Übelstand zu vermeiden, sich entschlossen, das Prinzip der obligatorischen Strafminderung in

Zeitschrift für Psychiatrie. LXXXIX. 13

194 Bonfiglio,

allen Fällen der verminderten Zurechnungsfähigkeit zu fordern. Und er brauchte dann auch nicht die Befürchtung zu hegen, damit die soziale Abwehr gegen diese Kategorie von psychopathischen Ver- brechern zu schwächen, weil er für diese Abwehr hernach, wie wir im folgenden sehen werden, in sicher nicht kleinem Ausmaß mit den Verordnungen über die Sicherungsmaßnahmen für alle diejenigen, welche eine Strafherabsetzung für die verminderte Zurechnungs- fähigkeit erlangten, gesorgt hat.

III. Affektzustände.

$ 86. Zustände von gemütlicher und leidenschaftlicher Erregung schließen die Zurechnungsfähigkeit nicht aus, noch vermindern sie dieselbe im Sinne der 2 vorigen Paragraphen.

Streng genommen könnte dieser Paragraph überflüssig erscheinen, weil, wie es die $$ 84 und 85 bindend fordern, die psychologischen Bedingungen, die ein Recht auf die Unzurechnungsfähigkeit und die verminderte Zurechnungsfähigkeit geben können, nur dann erfüllt sind, wenn eine Geisteskrankheit zugrunde liegt. Damit werden von der Wohltat der beiden genannten Paragraphen jene Verwirrungen des menschlichen Geistes klar ausgeschlossen, die keine rein patholo- gische Grundlage haben, und stillschweigend sind daher all jene leiden- schaftlichen Verwirrungen ausgenommen worden, denen normale Individuen infolge Gemütsbewegungen von besonderer Stärke unter- liegen können.

Aber die Erfahrung hat die Notwendigkeit gezeigt, die Absichten des Gesetzgebers in dieser Hinsicht klar herauszustellen. In der Tat hatte das gültige Recht geglaubt, daß es sich mit der Beifügung der Fassung „Geisteskrankheit‘“ in den §§ 46 und 47 genügend gegen die Gefahr verwahrt hatte, den Affektzuständen unter der falschen Aufschrift der Geisteskrankheit die Wohltaten des § 47 oder noch schlimmer die des $ 46 genießen zu lassen. Aber trotzdem ist der Schleichhandel geschehen und geschieht weiter und diese Paragraphen sind, wenn auch nicht von Berufsrichtern, so doch sicher von Laien- richtern bei Leidenschaftsdelikten wohl angewandt worden. Und des- wegen hat der Gesetzgeber es für gut befunden, in dem neuen Ent- wurf den $ 86 einzufügen, in dem ausdrücklich betont wurde, daß die Affektzustände nicht als Geisteskrankheit i im Sinne des § 84 und § 85 betrachtet werden können.

Damit hat der Gesetzgeber nicht den ganzen Einfluß verkennen wollen, den Gemütsbewegungen auf menschliche Handlungen ausüben

Die psychiatrisch wichtigsten Bestimmungen des Entwurfs usw. 195

konnen, aber er gibt diesem Einflu8 nur den Wert von mildernden Umstanden. In der Tat nennt er unter den allgemein strafmildernden Umständen des § 64 unter 1 „Handlungen aus beleidigtem Ehrgefühl oder aus anderen moralischen oder sozialen Motiven‘‘ und unter 2 ‚„Affekthandlungen, die durch eine ungerechte Tat eines anderen und durch schweres Unglück ausgelöst sind".

IV. Rausch durch Alkohol und andere Rauschgifte, chro- nische Vergiftungen durch Alkohol und andere Be- täubungsmittel.

$ 87. (Trunkenheit, herrührend von Zufall oder höherer Gewalt.) Nicht verantwortlich ist derjenige, welcher bei Begehung einer strafbaren Tat infolge völliger Trunkenheit, die auf Zufall oder höhere Gewalt zurück- zuführen ist, nicht die Fähigkeit einzusehen oder zu wollen hatte.

Wenn die Trunkenheit nicht vollständig war, aber doch so, daß sie die Zurechnungsfähigkeit erheblich verminderte, ohne sie jedoch auszu- schließen, so wird die Strafe herabgesetzt.

§ 88. (Freiwillige oder fahrlässige oder vorsätzliche Trunkenheit.) Die Trunkenheit, die nicht von Zufall oder höherer Gewalt herrührt, schließt weder die Zurechnungsfähigkeit aus, noch setzt sie sie herab.

Wenn die Trunkenheit in der Absicht, ein Verbrechen zu begehen oder sich eine Ausflucht zu verschaffen, herbeigeführt war, so wird die. Strafe erhöht.

§ 89. (Unter dem Einfluß von anderen Rauschmitteln begangene Straftaten.) Die Voraussetzungen der 2 vorigen Paragraphen sind auch dann gegeben, wenn das Verbrechen unter dem Einfluß von anderen Rauschgiften begangen wurde.

§ 90. (Gewohnheitstrinker.) In dem Fall, in dem das Verbrechen im Zustand der Trunkenheit und zwar der gewohnheitsmäßigen begangen wurde, wird die Strafe erhöht.

Vom strafrechtlichen Standpunkt aus ist der als Gewohnheitstrinker anzusehen, der dem Genuß von alkoholischen Getränken hingegeben ist und periodisch und häufig sich in betrunkenem Zustand befindet.

Die Straferhöhung, die im ersten Teil dieses Paragraphen gefordert ist, findet auch dann Anwendung, wenn die strafbare Handlung unter dem Einfluß von gewohnheitsmäßig genommenen anderen Rauschgiften begangen wurde.

$ 91. (Chronischer Alkoholismus und Mißbrauch anderer Rausch- gifte.) Auf strafbare Handlungen, die im Zustand chronischer Vergiftung durch Alkohol und anderen Rauschgiften begangen wurden, finden die Bestimmungen der Paragraphen 84 und 85 Anwendung.

$ 49. (Physischer und physiologischer Zwang). Nicht strafbar ist derjenige, welcher eine Straftat unter dem physischen Zwang eines anderen begangen hat, dem er sich weder durch Widerstand noch sonst wie ent- ziehen konnte.

In diesem Fall wird derjenige, welcher mittels Gewalt einen anderen zu handeln gezwungen hat, zur Verantwortung gezogen.

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196 Bonfiglio,

Wenn der Zwang durch Hypnose oder Wachsuggestion oder mittels Alkohol oder anderer Betäubungsmittel ausgeübt wird, findet der $ 82 Anwendung.

Wie man sieht, ist die Behandlung, die der neue italienische Entwurf demjenigen angedeihen läßt, der im Rauschzustand ein Ver- brechen begeht, von einer Härte, welche man in keinem der gültigen Strafgesetzbücher in Europa begegnet, auch nicht in irgend einem anderen Entwurf der jüngsten Zeit.

Während in der Tat die Trunkenheit durch Alkohol und die Berauschung mit anderen Rauschgiften im allgemeinen, sei es auch mit einer gewissen Einschränkung in die Ursachen eingeschlossen werden, die zur Unzurechnungsfähigkeit oder verminderten Zurech- nungsfähigkeit führen können, nimmt der italienische Entwurf mit den §§ 88, 89 und 90 von dieser Wohltat alle Rauschzustände, wenn sie freiwillig oder auch nur fahrlässig sind, völlig aus.

Es kann auf den ersten Blick scheinen, als ob dieser Ausschluß im Gegensatz steht zu den psychiatrischen Anschauungen desselben Entwurfes, wie sie in den Bestimmungen des $ 84 und $85 niedergelegt sind, weil fraglos die Rauschzustände seien sie durch Alkohol- vergiftung oder durch Wirkung von anderen Rauschgiften hervor- gerufen, seien sie wirkliche und echte geistige Störungen vom streng psychiatrischen Gesichtspunkt aus nach den gleichen Grundsätzen wie die anderen Geisteskrankheiten behandelt werden müßten.

Aber der Gegensatz ist nur scheinbar. Der italienische Gesetz- geber leugnet nicht, daß die Rauschzustände die Grundlage für die psychologischen Bedingungen, wie sie von den $$ 84 und 85 gefordert werden, sein können, wenn er ausdrücklich die volle Anwendbarkeit dieser beiden Paragraphen auf die Zustände von Trunkenheit, die durch Zufall oder höhere Gewalt hervorgerufen sind, gestattet. Im Fall der freiwilligen oder fahrlässigen Trunkenheit kommt daher ein neuer Umstand hinzu, der bei der Trunkenheit aus Zufall oder höherer Gewalt nicht besteht und auch nicht besteht im Fall aller anderen Geisteskrankheiten und zwar die Verantwortlichkeit des Täters, wenn er sich selbst durch einen Rausch die psychologischen Voraus- setzungen schafit, aus denen das Verbrechen entspringt. Und gerade diese Verantwortlichkeit ist es, die der Gesetzgeber vor Augen hatte, als er die in den $$ 88, 89, 90 enthaltenen Richtlinien festlegte und die Bestimmung traf, daß derjenige immer strafbar ist, der im Zustand. der freiwilligen oder fahrlässigen Trunkenheit ein Verbrechen begeht, auch wenn er sich unter den in den $$ 84 und 85 betrachteten psycho-

Die psychiatrisch wichtigsten Bestimmungen des Entwurfs usw. 197

logischen Bedingungen befindet, weil er sich selbst in diesen krank- haften Geisteszustand, dem sein Verbrechen entsprang, versetzt hat. Und aus diesem Grund bestraft er ihn fiir seine Schuld und nicht, weil er den Einfluß seines krankhaften Geisteszustandes auf die von ihm begangene Tat verkennt.

Der Gedanke, auf den sich der italienische Entwurf juthat, daß bei den in der Trunkenheit begangenen Verbrechen die Verant- wortlichkeit des Täters bestehen bleibt, ist nicht vollkommen neu. Schon das gültige italienische Recht enthält diesen Gedanken, in dem es der Trunkenheit einen eigenen Absatz in dem weiten Gebiet der Geisteskrankheiten widmet und nach § 48 die im . Rausch- zustand begangenen Verbrechen mit einer geringeren Strenge bestraft als die von Normalen begangenen, aber erheblich stärker als die von Geisteskranken verübten. Und auch der jüngste deutsche Entwurf spricht den Täter im Falle eines im Zustand ‚völliger‘ Trunkenheit begangenen Verbrechens wegen Unzurechnungsfähigkeit frei, verurteilt ihn aber, weil er sich leichtfertig in den Zustand ‚völliger‘ Trunken- heit versetzt hat.

§ 48. Die im 1. Teil des § 46 und § 47 enthaltenen Bestimmungen finden auch auf denjenigen Anwendung, der im Augenblick, wo er das Verbrechen begangen hat, sich infolge zufalliger Trunkenheit in dem in dem genannten Paragraphen festgelegten Zustand befand.

Uber die freiwillige Trunkenheit wird folgendes verfiigt:

4. Beim Vorliegen des § 46 tritt an Stelle von Zuchthaus Gefängnis von 1 bis 8 Jahren und von 3 bis 12 Jahren, wenn die Trunkenheit gewohn- heitsmäßig ist. An Stelle des dauernden Verlustes der bürgerlichen Ehren- rechte tritt der zeitliche und die anderen Strafen werden unter ein Sechstel herabgesetzt, während sie bei gewohnheitsmäßiger Trunksucht nicht we- niger als ein Sechstel und nicht mehr als ein Drittel betragen dürfen.

2. Beim Vorliegen des $ 47 tritt an Stelle des Zuchthauses Gefängnis nicht unter 10 Jahren und nicht unter 18 Jahren bei gewohnheitsmäßiger Trunksucht. Die anderen Strafen werden auf die Hälfte herabgesetzt und bei gewohnheitsmäßiger Trunksucht um ein Drittel.

Bei gewohnheitsmäßiger Trunksucht kann die die persönliche Frei- heit einschränkende Strafe in einer Spezialanstalt verbüßt werden.

Die in dem vorliegenden Paragraphen verfügte Strafherabsetzung findet keine Anwendung, wenn die Trunkenheit herbeigeführt war, um die Ausführung des Verbrechens zu erleichtern oder sich dadurch eine Ausflucht zu verschaffen.

Vollständig neu ist jedoch die Strenge, mit der der italienische Entwurf dem Täter die Verantwortung zuschiebt, wenn er sich selbst in den Zustand der Trunkenheit versetzt hat. Denn er nahm ihm, um diese seine Verantwortlichkeit zu strafen, nicht nur jede Wohltat,

198 Bonfiglio,

die ihm aus dem Grade seiner Geisteskrankheit erwachsen könnte, weg, indem er seine strafbare Tat in allem und jedem der eines normalen Menschen gleichstellt, sondern er verschärfte sogar noch die Strafe, weil seine Verantwortlichkeit dadurch größer erscheint, daß er sich selbst in den Zustand von Trunkenheit versetzt. Mit derselben Strenge wird die gewohnheitsmäßige Trunksucht behandelt, deren sich der Täter enthalten und deren Gefahren er auf Grund seiner langen Erfahrung kennen sollte, desgleichen die Trunkenheit, die zum Zwecke, ein Ver- brechen zu begehen oder sich eine Ausflucht zu verschaffen, absichtlich herbeigeführt wurde, was an und für sich schon eine strafbare Handlung darstellt. | Wie sind diese Bestimmungen des italienischen Entwurfes zu beurteilen? Es besteht kein Zweifel, daß man vom psychologischen Standpunkt aus nicht wenige Einwürfe der Art machen könnte, wie sie schon von Ottolenghi gegen die entsprechenden, aber viel milderen Bestimmungen des gültigen Rechtes erhoben wurden. Aber man darf nicht vergessen, daß das Strafgesetz nicht dazu da ist, um wissenschaft- liche Anschauungen anzuwenden oder zu verteidigen; es ist vielmehr für die große Masse des Volkes, die nichts von Wissenschaft oder Psy- chiatrie weiß und hauptsächlich praktische Ziele hat, geschrieben. Vom allgemein praktischen Gesichtspunkt aus ist es unzweifelhaft, daß die milde Behandlung der in der Trunkenheit begangenen Straf- taten niemals die Billigung der öffentlichen Meinung gefunden hat, die sich keine Rechenschaft darüber ablegt, warum gerade die Trunk- sucht, die in Italien als eines der verwerflichsten Laster gilt, ein ent- schuldigendes und ausgleichendes Moment für ein Verbrechen sein sollte. Außerdem ist es außer allem Zweifel, daß die Strafmilderungen für Trunkenheitsdelikte einen Anreiz für den Verbrecher zu trinken darstellen, wenn er ein Verbrechen vorhat; und weil in der Praxis der Beweis sehr schwer, wenn nicht unmöglich zu führen ist, daß die Trunkenheit absichtlich herbeigeführt war, konnten früher nicht wenige Verbrecher mit solchen Mitteln eine unverdiente Strafmin- derung erreichen. Ganz abgesehen davon sind Erleichterungen irgend welcher Art, die man Trinkern gewährt, unvereinbar mit den von allen Seiten propagierten Zielen, den sozialen Kampf gegen den Al- - koholismus zu verstärken und alle möglichen Mittel zur Vorbeugung gegen dieses schwere Volksunglück anzuwenden. | Aus allen diesen Erwägungen heraus kann man vernünftiger- weise nicht die Strenge mißbilligen, die der neue italienische Entwurf gegen denjenigen anwendet, der ein Verbrechen im Zustand der

Die psychiatrisch wichtigsten. Bestimmungen des Entwurfs usw. 199

Trunkenheit begeht und man muß Enrico Ferri voll und ganz bei- pflichten, wenn er den Entwurf lobt, weil er mit dem Skandal, daß freiwillige Trunkenheit ein Verbrechen entschuldigt, aufräumt.

Die Strenge des italienischen Entwurfes beschränkt sich nicht allein auf die Trunkenheit, wenn sie zum Verbrechen führt, sondern sie erstreckt sich auch auf die Trunkenheit an sich, wenn sie also nicht Ursache eines Verbrechens ist. In der Tat setzt der Entwurf auch Strafen für die, wenn man so sagen darf, unschädliche Trunkenheit fest und für den, der andere in diesen Zustand der Trunkenheit versetzt.

§ 713. (Über die Trunkenheit.)

Wer an einem öffentlichen oder dem Publikum zugänglichen Ort oder bei einer privaten Zusammenkunft, wo das Publikum Zutritt haben kann, im Zustand der Trunkenheit betroffen wird, wird mit Haft bis zu 6 Monaten und mit einer Geldstrafe von 100—2000 Lire bestraft.

Die Strafe beträgt Haft von drei Monaten bis zu einem Jahr, wenn die Trunkenheit gewohnheitsmäßig oder ärgerniserregend ist.

Wenn sich jemand Trunkenheit zuzieht, der bereits einmal wegen Verbrechens gegen das Leben oder die persönliche Sicherheit vorbestraft ist, ist auf Haft nicht unter sechs Monaten zu erkennen.

$ 714. (Versetzung eines anderen in den Zustand der Trunkenheit.) Wer an einem der im vorhergehenden Paragraphen bezeichneten Orte bei einem andern Trunkenheit herbeiführt, indem er ihm alkoholische Getränke verschafft, wird mit Haft bis zu sechs Monaten bestraft.

Dieselbe Strafe wird verhängt über den Inhaber eines Schankbetriebes oder einer andern öffentlichen Gaststätte, welcher an einem der bezeich- neten Orte minderjährigen Personen bis zu sechzehn Jahren alkoholische Getränke verabfolgt, oder solchen Personen, die an Geisteskrankheit oder an schwerem psychischem Defekt oder ganz allgemein an Geistes- schwäche oder geistiger Störung zu leiden scheinen.

Wenn diese Handlung Trunkenheit zur Folge hat, wird die Strafe erhöht.

Eine Strafe von drei bis sechs Monaten Haft wird verhängt über denjenigen, der betrunkenen Personen alkoholische Getränke verschafft.

.. Wir als Psychiater können nicht anders als auch diese Bestim- mungen voll billigen, die der italienische Entwurf vorschreibt, die, wie er sich selbst ausdrückt, als Vorbeugungsmaßregel gegen den Alkoholmißbrauch und gegen die infolge von Trunkenheit begangenen Verbrechen dienen sollen.

Die Trunkenheit wird vom Entwurf nicht als echtes und eigent- liches Verbrechen, sondern als mäßiges Vergehen betrachtet. Auch das gültige italienische Recht setzt Strafen fest für die Trunkenheit als solche, aber nur insofern sie lästig oder ärgerniserregend ist!).

1) § 488 des gültigen Rechts. Jeder, der an einem öffentlichen Ort

200 Bonfiglio,

Der Entwurf verscharft die Bestrafung des giiltigen Rechts und dehnt sie auf alle Fälle von Trunkenheit aus, wenn sie an einem öffentlichen oder dem Publikum zugänglichen Ort festgestellt wird. Es ist zu hoffen, daß die größere Strenge und die weitere Ausdehnung der Bestrafung der Trunkenheit, die der Entwurf festsetzt, stärkere Wirkung in der Bekämpfung der Trunksucht ausüben werden als die Bestimmungen des gültigen Rechts, die in der Praxis tote Buchstaben geblieben sind, vielleicht besonders wegen der Schwierigkeit im einzelnen Fall, den lästigen und ärgerniserregenden Charakter des Rausches zu beweisen. Der italienische Entwurf hat es für angezeigt gehalten den Unter- schied klarzustellen, den man wegen der Gewährung des Schutzes der Unzurechnungsfähigkeit machen muß zwischen den akuten Ver- giftungszuständen durch Alkohol oder andere Rauschgifte und den entsprechenden chronischen, indem es den letzteren den Paragraph 91 widmete. Von diesem Paragraph könnte man wirklich sagen, er sei über- flüssig. Und in der Tat können die chronischen Vergiftungszustände in keinem Fall mit den verschiedenen Rauschzuständen verwechselt werden, welche vorübergehende krankhafte Zustände bei einem normalen Individuum darstellen und es aus diesem Grunde gerecht- fertigt erscheinen lassen, Nachforschungen über die Verantwortlich- keit des Täters, sich in den Rauschzustand versetzt zu haben, anzu- stellen. Die chronischen Vergiftungen jedoch rufen einen dauernden Zustand von Geisteskrankheit mit vielfach fortschreitendem Verlauf hervor und kein Gesetzgeber wird ihnen vernünftigerweise das Recht versagen, im Punkte der Unzurechnungsfähigkeit den andern Geistes- krankheiten verschiedener Ätiologie gleichgestellt zu werden.

im Zustand offenkundiger lästiger und ärgerniserregender Trunkenheit angetroffen wird, wird mit Geldstrafe bis zu dreißig Lire bestraft.

Im Wiederholungsfall ist die Strafe Haft bis zu drei Monaten und der Richter kann anordnen, daß die Haft in einer der im Paragraph 22 vorgesehenen Weise umgewandelt wird.

$ 489. Wer an einem Öffentlichen oder dem Publikum zugänglichen Ort bei einem andern Trunkenheit verursacht, indem er ihm zu diesem Zweck Getränke oder andere Mittel berauschender Art darreicht, oder wer sie einer bereits betrunkenen Person darreicht, wird mit Haft bis zu zehn Tagen bestraft. Wenn die Tat begangen wird einer Person gegenüber, welche das vierzehnte Jahr noch nicht erreicht hat oder welche sich offen- bar in einem anormalen Zustand infolge Geistesschwäche oder Geistes- störung befindet, ist die Strafe Haft von zehn Tagen bis zu einem Monat. Betreibt der Täter einen Handel mit Getränken und andern Mitteln be- rauschender Art, so wird ihm die Ausübung seines Gewerbes oder Berufes untersagt. |

Die psychiatrisch wichtigsten Bestimmungen des Entwurfs usw. 201

Aber in der Praxis hat der Paragraph seine ganz bestimmte Be- deutung, weil er dazu dient, die Aufmerksamkeit der Beamten auf die Notwendigkeit zu richten, bei der Vollziehung der Gesetze den chronischen Alkoholismus nicht mit der Gewohnheitstrunksucht zu verwechseln, wie sie im Paragraph 90 erörtert ist. Dieser beschäftigt sich mit dem dem Mißbrauch alkoholischer Getränke ergebenen Ge- wohnheitstrinker und dem Quartalsäufer.

V. Taubstummheit.

$ 92. Nicht zurechnungsfähig ist derjenige, welcher im Augenblick der Tat auf Grund von Taubstummheit nicht die Fähigkeit der Einsicht und des Wollens hatte.

Wenn die Zurechnungsfähigkeit stark vermindert, aber nicht aus- geschłossen ist, wird die Strafe herabgesetzt.

Die Fassung dieses Paragraphen kann man nicht als im piri trischen Sinn glücklich bezeichnen. Aber von der inhaltlichen Seite ist dieser Paragraph sicher den entsprechenden Paragraphen 57 und 58 des gültigen Rechts vorzuziehen. Denn er erlaubt dem Richter weit mehr sich unseren klinisch-psychiatrischen Begriffen anzupassen als es ihm heute möglich ist bei den im einzelnen ausgeführten Bestim- mungen des gültigen Rechts, das die Bestrafung der Taubstummen nach dem recht unsicheren Kriterium des Alters abstuft und das ihnen, selbst im günstigsten Fall, nur eine Beschränkung der Zurechnungs- fähigkeit gewährt. Der Entwurf entsagt unter anderem all diesen unlogischen und den psychiatrischen Grundbegriffen zuwiderlaufenden Unterscheidungen und erfüllt, indem er von Fall zu Fall die Fest- stellung vorschreibt, ob und wie weit beim Täter zur Zeit der Tat infolge seines Gebrechens die Fähigkeit der Einsicht und des Wollens vermindert war, die vor Jahren erhobene, weitblickende Forderung Ottolenghis. Dieser schrieb 1920 wörtlich: „Es wäre zu wünschen, daß man, anstatt im voraus die Zurechnungsfähigkeit der Taub- stummen festzulegen, nur die Möglichkeit einer geistigen Minder- wertigkeit annimmt und dann von Fall zu Fall beurteilt, wie sich, so weit möglich, die Gegensätze ausgleichen lassen, indem man sich für teilweise oder vielleicht ganze Zurechnungsfähigkeit entschließt.

VI. Geistige Unreife.

$ 93. (Unter 14 Jahren.) Nicht zurechnungsfähig ist derjenige, welcher zur Zeit der Tat das vierzehnte Jahr noch nicht vollendet hatte. $ 94. (Unter 18 Jahren.) Demjenigen, welcher zur Zeit der Tat zwar das vierzehnte, aber noch nicht das achtzehnte Jahr vollendet hatte, kann der Richter entweder die Strafe oder eine Sicherungsmaßnahme zu- erkennen, je nachdem der Minderjährige verantwortungsfähig ist oder nicht.

202 Bonfiglio,

Wenn der Minderjährige zurechnungsfähig ist, wird die Strafe gemäß den Bestimmungen des $ 66 herabgesetzt.

Das gültige Recht betrachtet den Minderjährigen bis zu neun Jahren als unzurechnungsfähig und gestattet die Ausdehnung der Un- zurechnungsfähigkeit von neun auf vierzehn Jahre, wenn nicht erhellt, daß der Minderjährige mit Einsicht gehandelt hat. Von neun bis vier- zehn Jahren, wenn die Zurechnungsfähigkeit bejaht ist, und immer von vierzehn bis einundzwanzig Jahren gewährt das gültige Recht eine Herabsetzung der Strafe im umgekehrten Verhältnis zur Zunahme des Alters.

Der Entwurf hebt alle diese Abstufungen der Strafen auf und schiebt die Grenze der Unzurechnungsfähigkeit durch geistige Unreife auf das achtzehnte Jahr hinaus, indem er festsetzt, daß der Minder- jährige bis zu vierzehn Jahren immer unzurechnungsfähig ist und daß von 14—18 Jahren von Fall zu Fall entschieden werden soll, ob der Minderjährige zurechnungsfähig ist oder nicht. Nach Vollendung des achtzehnten Jahres hält der Entwurf die volle Reife auf jeden Fall für erreicht.

Die Hinausschiebung der äußersten Grenze für obligatorische Gewährung der Unzurechnungsfähigkeit auf 14 Jahre ist eine zu billigende Maßregel, weil es unsinnig ist, das Ende der psychischen Unreife vor dieses Alter zu legen und so ist auch die Einrichtung zu billigen, daß Fall für Fall pflichtgemäß zu untersuchen ist, ob die psychologischen Bedingungen der Unzurechnungsfähigkeit zwischen 14 und 18 Jahren bestehen oder nicht, weil bekanntlich die psychische Entwicklung wie die physische nicht bei allen Menschen mit der gleichen Schnelligkeit verläuft. Nicht ebenso günstig erscheint mir das Fehlen einer Abstufung zwischen der vollständigen Zurechnungs- fähigkeit und der vollständigen Unzurechnungsfähigkeit, weil deren Einführung logischer gewesen wäre, wenn die Annahme richtig ist, daß der Übergang von der völligen Unzurechnungsfähigkeit zur geistigen Reife sich nicht mit einem Schlag vollzieht.

VII. Sicherungsmaßnahmen.

Das gültige italienische Recht kennt nur für geisteskranke Unzu- rechnungsfähige und für minderjährige Unzurechnungsfähige Ver- wahrungsmaßnahmen. Für die ersteren ist festgelegt, daß der Richter in dem Fall, wo die Freilassung des freigesprochenen Täters gefährlich erscheint, dessen Übergabe an die Behörde anordnet, die für die Aus- führung der gesetzlichen Bestimmungen zuständig ist ($ 46, 2. Abs.). Und so kommt der geisteskranke unzurechnungsfähige Täter nach

Die psychiatrisch wichtigsten Bestimmungen des Entwurfs usw. 203

dem giiltigen Gesetz nur dann in eine Irrenanstalt, wenn er vom Richter als gemeingefahrlich erachtet wird. In diesem Fall wird er meistenteils in besonderen, den öffentlichen Irrenanstalten beigege- benen Abteilungen untergebracht. Für die minderjährigen Unzu- rechnungsfähigen gilt die Bestimmung, daß der Präsident des Zivil- gerichtshofs auf Ansuchen des Ministers für öffentliche Angelegen- heiten mit widerruflicher Verfügung anordnen kann, daß der Minder- jährige in einer Erziehungs- und Besserungsanstalt bis längstens zum Eintritt der Volljährigkeit zu verwahren sei ($ 53, Abs. 2).

Der neue Entwurf hat nicht nur die Bestimmungen für die An- wendung der Sicherungsmaßnahmen für unzurechnungsfähige Ver- brecher verschärft und neue für vermindert Zurechnungsfähige und für Gewohnheitstrinker gebracht, sondern er hat auch eine äußerst wichtige Neuerung dem gültigen Recht hinzugefügt, indem er Si- cherungsmaßnahmen in Form der Verwahrung anordnet, die nach Verbüßung der Strafe in Kraft treten, auch bei zurechnungsfähigen und bei jenen besonders gefährlichen Verbrechern, die vom Entwurf in drei Gruppen: Gewohnheits-, Berufs- und Neigungsverbrecher eingeteilt werden.

Ich will mich nicht mit den Bestimmungen, die sich auf die An-

wendung von Sicherungsmaßnahmen bei zurechnungsfähigen Ver- brechern beziehen, beschäftigen, weil sie kein spezielles psychiatrisches Interesse haben und werde mich auf die Sicherungsmaßnahmen bei Geisteskranken, Minderjährigen und Gewohnheitstrinkern beschränken.

Der $ 261 zählt alle Arten von Sicherungsmaßnahmen, die der Entwurf vorsieht, auf. Diese werden in Sicherungsmaßnahmen mit und ohne Verwahrung eingeteilt. Erstere gliedern sich folgender- maßen: 1. Verwahrung in einer landwirtschaftlichen Kolonie oder in einem Arbeitshaus; 2. in einer Fürsorge- oder Bewahrungsanstalt; 3. in einer Irrenanstalt für geisteskranke Verbrecher; 4. in einer Besse- rungsanstalt für Kriminelle. Sicherungsmaßnahmen ohne Verwahrung sind: 1. Schutzaufsicht; 2. Aufenthaltsverbot in einer oder mehreren Gemeinden oder Provinzen; 3. Verbot von Wirtshäusern und öffent- lichen Lokalen mit Ausschank von alkoholischen Getränken; 4. Aus- schluß von den öffentlichen Rechten und Pflichten; 5. Landesverwei- sung bei Ausländern.

Die erste der Sicherungsmaßnahmen mit Verwahrung, die Ver- weisung in eine landwirtschaftliche Kolonie oder in ein Arbeitshaus, ist nur bei zurechnungsfähigen Verbrechern anwendbar ($$ 217, 218, 219) und hat daher hier kein spezielles Interesse. Bei geisteskranken

204 Bonfiglio,

Verbrechern, bei Minderjährigen oder bei chronischen Alkoholisten und anderen Süchtigen sind die anderen drei Verwahrungsmaßnahmen anwendbar und die erste und dritte der nicht verwahrenden.

Die Bestimmungen, welche die Anwendung dieser Sicherungs-

maßnahmen regeln, sind in folgenden Paragraphen niedergelegt: $ 206. (Unbestimmte Dauer der Sicherungsmaßnahmen, Nach- prüfung der Gefährlichkeit.)

Die Sicherungsmaßnahmen werden zeitlich in den Fällen nicht fest- gelegt, wo sie von der Gemeingefährlichkeit abhängig gemacht werden. Bei der Anordnung der Sicherungsmaßnahmen oder im Anschluß daran setzt der Richter einen nicht vor dem Ablauf derselben gelegenen Termin zur Nachprüfung des Zustandes der Gefährlichkeit fest. Hält dieser Zu- stand an, so wird vom Richter ein neuer Termin für eine weitere Nach- prüfung festgesetzt. Jedoch kann der Richter unter Einhaltung der vom Gesetz festgelegten untersten Grenze, wenn er Grund hat anzunehmen, daß die Gefährlichkeit aufgehört hat, zu jeder Zeit zu neuen Erhebungen schreiten.

$ 207. (Widerruf der Sicherungsmaßnahme.)

Die Sicherungsmaßnahme wird aufgehoben, wenn nach den vom Richter gemäß dem obigen Paragraphen gepflogenen Erhebungen die bisher unterstellte Person nicht mehr gemeingefährlich ist. Die Sicherungs- maßnahme wird neuerdings angeordnet, wenn spätere Erhebungen er- kennen lassen, daß die Gemeingefährlichkeit noch weiter besteht. Auch in diesem Fall werden die Bestimmungen der beiden letzten Absätze des obigen Paragraphen unter Einhaltung der untersten Dauer der Sicherungs- maßnahme angewendet.

§ 220. (Einweisung in eine Fürsorge- und Bewahrungsanstalt.) Mit der Strafe für ein nicht fahrlässiges Delikt, die infolge Geisteskrankheit, chronischem Alkoholismus, chronischem Mißbrauch anderer Rauschmittel oder auch infolge Taubstummheit herabgesetzt ist, ist die Einweisung des Verurteilten in eine Fürsorge- und Bewahrungsanstalt für die Dauer von nicht unter 1 Jahr verbunden, wenn die verhängte Strafe mehr als 1 Jahr Gefängnis beträgt. Ist für das begangene Delikt vom Gesetz Todes- oder Zuchthausstrafe oder Gefängnis nicht unter 5 oder höchstens 10 Jahren ausgesprochen worden, so wird die Sicherungsmaßnahme für eine Dauer von nicht unter 5 J ahren angeordnet.

Handelt es sich um ein fahrlässiges oder um ein anderes, nur mit einer Geldstrafe belegtes Delikt oder um eine Vergehen, so wird Unter- bringung in eine Fürsorge- und Bewahrungsanstalt für eine Dauer von nicht unter 6 Monaten angeordnet, wenn Gemeingefährlichkeit vorliegt; auch kann der Richter den Täter unter Schutzaufsicht stellen. Eine solche Unterstellung findet nicht statt, wenn es sich um Verurteilte handelt, deren Strafe wegen Trunkenheit durch Alkohol oder anderer Rauschmittel herabgesetzt ist. Wenn Unterbringung in eine Fürsorge- oder Bewahrungs- anstalt angeordnet wird, kann irgend eine andre Verwahrungsmaßnahme nicht eintreten.

$ 221. (Ausführung der Verwahrungsorder. )

Die Verwahrung eines Verurteilten in einer Fürsorge- und Bewah-

Die psychiatrisch wichtigsten Bestimmungen des Entwurfs usw. 205

rungsanstalt wird erst ausgeführt, nachdem die Freiheitsstrafe verbüßt oder gelöscht worden ist.

Der Richter kann jedoch den besonderen Umständen des geistigen Defektes des Verurteilten Rechnung tragen und die Verwahrung anordnen, bevor die Freiheitsstrafe angetreten oder verbüßt ist.

Die Verfügung wird aufgehoben, wenn die Gründe dafür nicht mehr vorhanden sind, aber nicht bevor die im obigen Paragraph festgelegte unterste Dauer abgelaufen ist.

Ist der Verurteilte aus der Fürsorge- und Bewahrungsanstalt ent- lassen, so wird er dem Strafvollzug unterstellt.

§ 222. (Gewohnheitstrinker.)

Solange nicht eine andere VerwahrungsmaBnahme angeordnet ist, werden die für ein in Trunkenheit sofern sie gewohnheitsmäßig ist oder unter dem Einfluß anderer gewohnheitsmäßig genommener Rausch- mittel begangenes Delikt Verurteilten in eine Fürsorge- und Bewahrungs- anstalt eingewiesen.

Handelt es sich um solche, die wegen Vergehen verurteilt sind, so wird dieselbe Sicherungsmaßnahme angewendet, es sei denn, daß der Richter eine Sicherungsmaßnahme nicht verwahrender Art anordnet.

Im Falle der Nichteinhaltung von Verpflichtungen, die einen uner- läßlichen Bestandteil von Sicherungsmaßnahmen nicht verwahrender Art bilden, ordnet der Richter die Einweisung in eine Fürsorge- und Be- wahrungsanstalt an.

In jedem Fall hat die Einweisung in eine Sonderabteilung stattzu- finden und hat eine Dauer von 6 Monaten.

$ 223. (Verwahrung in einer Irrenabteilung für verbrecherische Geisteskranke. )

Im Fall der Freisprechung wegen Geisteskrankheit oder auch wegen chron. Alkoholismus oder chronischen Mißbrauches anderer Rauschmittel oder auch wegen Taubstummheit ist immer die Verwahrung in einer Ab- teilung für geisteskranke Verbrecher für eine Zeit nicht unter 3 Jahren anzuordnen, es sei denn, daß es sich um Vergehen oder um fahrlässige oder andre Delikte handelt, für die das Gesetz Geldstrafe oder Gefängnis nicht über 2 Jahre festsetzt.

In solchen Fällen ordnet der Richter, nachdem er sich von der Gemeingefährlichkeit der freigesprochenen Person überzeugt hat, die Unter- bringung in einer Sonderabteilung einer öffentlichen Irrenanstalt an.

Wird Verwahrung in einer Irrenanstalt für geisteskranke Verbrecher angeordnet, so ist die geringste Dauer 10 Jahre, wenn das Gesetz für das begangene Verbrechen die Todesstrafe oder Zuchthaus oder auch Ge- fangnis nicht unter 5 oder nicht über 10 Jahren festsetzt.

Im Fall, daß die in einer Irrenanstalt für geisteskranke Verbrecher verwahrte Person eine Freiheitsstrafe verbüßen muß, ist der Strafvollzug für die Dauer des Anstaltsaufenthaltes ausgesetzt.

Die Bestimmungen des obigen Paragraphen finden auch Anwendung bei Minderjährigen von 14 Jahren, die eine strafbare Handlung be- gangen haben, wenn sie sich in irgend einer der hier angegebenen Vor- aussetzungen befinden.

$ 226. (Nicht zurechnungsfähige Minderjährige.)

206 Bonfiglio,

Wenn ein Minderjähriger unter 14 Jahren eine strafbare Handlung begangen hat und gemeingefährlich ist, ordnet der Richter unter besonderer Berücksichtigung der Schwere des Verbrechens und der Umweltbedin- gungen, unter denen der Minderjährige gelebt hat, seine Verwahrung in einer Besserungsanstalt oder seine Stellung unter Schutzaufsicht an,

Wenn das Gesetz für ein Verbrechen Todesstrafe oder Zuchthaus’ oder Gefängnis nicht unter 3 Jahren festsetzt und wenn es sich nicht um ein fahrlässiges Delikt handelt, wird immer Unterbringung des Minder- jährigen in einer Besserungsanstalt für eine Zeit nicht unter 5 Jahren angeordnet.

Die vorliegenden Bestimmungen finden auch Anwendung bei Minder- jährigen, die im Augenblick der Straftat das 14., aber noch nicht das 48. Lebensjahr vollendet haben, wenn sie nicht zurechnungsfähig im Sinne des $ 94 sind.

$ 227. (Zurechnungsfahige Minderjährige.)

Wenn der Minderjährige, der das 14., aber noch nicht das 18. Lebens- jahr vollendet hat, als zurechnungsfähig anzusehen ist, kann der Richter seine Einweisung in eine Besserungsanstalt für Kriminelle nach Verbüßung der Strafe oder Stellung unter Schutzaufsicht anordnen unter Berück- sichtigung der im 1. Teil des vorigen Paragraph genannten Umstände. Immer ist eine der genannten Maßnahmen bei Minderjährigen an-

zuordnen, die für ein Delikt verurteilt sind, das sie während der Durch-

führung einer Sicherungsmaßnahme begangen haben, die an Stelle der

Strafe wegen mangelnder Zurechnungsfähigkeit vorläufig getreten war. $ 229. (Spezialanstalten.)

Wird vom Gesetz die Verwahrung in einer Besserungsanstalt für straffällig gewordene Minderjährige angeordnet, ohne daß die Feststellung: der Gemeingefährlichkeit vorhergegangen ist, so wird der Minderjährige in eine Spezialanstalt oder in eine Sonderabteilung einer gewöhnlichen Besserungsanstalt eingewiesen. |

$ 294. (Unter Schutzaufsicht gestellte Minderjährige oder Geistes-: kranke).

Die Person, welche wegen Minderjährigkeit oder Geisteskrankheit nicht zurechnungsfähig, oder zu einer herabgesetzten Strafe verurteilt ist, wird unter Schutzaufsicht gestellt, es sei denn, daß sie Verwandten oder anderen Personen oder öffentlichen Wohlfahrtseinrichtungen anvertraut: werden kann. `

Ist eine solche Betreuung nicht möglich, so wird, je nach Fall, die Verwahrung in einer Besserungsanstalt oder in einer Irrenanstalt für Verbrecher oder in einer Fürsorge- und Bewahrungsanstalt angeordnet oder aufrecht erhalten.

§ 235. (Anordnung von Verwahrungsmaßnahmen bei in Schutz- aufsicht stehenden Minderjährigen und Geisteskranken.)

Außer den im obigen Paragraphen vorgesehenen Fällen ordnet der Richter die Verwahrung in einer Besserungsanstalt an, wenn der unter Se ea gestellte Minderjährige nicht Zeichen der Einsicht dar-

ietet.

Wenn eine unter Schutzaufsicht gestellte Person wegen Geistes- krankheit nicht zurechnungsfähig oder zu einer herabgesetzten Strafe

Die psychiatrisch wichtigsten Bestimmungen des Entwurfs usw. 207

verurteilt worden ist, kann der Richter Verwahrung in einer Anstalt für verbrecherische Irre oder in einer Fürsorge- und Bewahrungsanstalt an- ordnen, wenn er in Hinsicht auf Gemeingefährlichkeit eine solche Vor- sorge für richtig hält.

$ 237. (Verbot des Besuches von Wirtshäusern oder öffentlichen Lokalen, in denen alkoholische Getränke verabfolgt werden.) Das Be- suchsverbot für Wirtshäuser und öffentliche Lokale mit Schankbetrieb dauert mindestens 1 Jahr. Es ist immer mit der Strafe verbunden, wenn es sich um Trinker handelt, die wegen gewohnheitsmäßiger Trunksucht verurteilt sind, oder um Delikte, die im Zustand gewohnheitsmäßiger

Trunkenheit begangen sind. Im Falle der Überschreitung kann Schutzaufsicht oder Stellung einer Bürgschaft für gute Führung dazu kommen.

Die hauptsächlichsten Neuerungen, die der Entwurf dem gültigen Strafgesetz bringt, sind also folgende:

1. Die Anwendung von Verwahrungsmaßnahmen nicht nur bei geisteskranken, unzurechnungsfähigen Verbrechern, sondern auch bei denjenigen, die als nur teilweise zurechnungsfähig zu erachten sind.

2. Die Anwendung von Verwahrungsmaßnahmen bei Gewohnheits- trinkern und Süchtigen, sei es, daß sie wegen Trunkenheitsdelikten verurteilt sind, sei es, daß sie (im Falle gewohnheitsmäßiger Trunksucht) für Vergehen im Sinne des $ 713 wiederholt verurteilt worden sind.

3. Die Annahme der Gemeingefährlichkeit unterschiedslos bei allen geisteskranken Verbrechern, seien sie unzurechnungsfähig, seien sie vermindert zurechnungsfähig (ausgenommen die Fälle der fahrlässigen oder leichten Delikte, bei denen jedoch die Ele nE der Gefährlichkeit von Fall zu Fall verlangt ist).

4. Die Dauer der Verwahrungsmaßnahme, die unbestimmt ist und von einem Minimum ausgeht, das sich nach der Art der Straftat richtet.

5. Die Verwahrung der unzurechnungsfähigen Verbrecher nicht mehr in öffentlichen Irrenanstalten, wie es heute geschieht, sondern in Spezialanstalten für verbrecherische Irre (ausgenommen die Fälle von Vergehen oder fahrlässigen oder anderen Delikten, die mit Geld- strafe oder mit Gefängnis von nicht mehr als zwei Jahren geahndet werden, Fälle, bei denen nach Feststellung der Gefährlichkeit Ver- wahrung in einer Sonderabteilung einer öffentlichen Irrenanstalt an- zuordnen ist.

6. Die reinliche Scheidung in den verschiedenen Verwahrungs- stellen zwischen Unzurechnungsfähigen, vermindert Zurechnungs- fähigen und Trunksiichtigen. Die Unzurechnungsfähigen kommen

208 Bonfiglio,

in Anstalten fiir verbrecherische Geisteskranke; die vermindert Zu- rechnungsfähigen nach Verbüßung der Strafe in Fürsorge- und Be- wahrungsanstalten; die Trunksüchtigen nach Verbüßung der Strafe in Sonderabteilungen, die den Fürsorge- und Bewahrungsanstalten angegliedert sind.

7. Die Anwendung der Schutzaufsicht auf unbestimmte Zeit bei allen Verbrechern, sowohl den unzurechnungsfähigen als den vermindert Zurechnungsfähigen nach Aufhebung der Verwahrung. (Die Aufhebung kann erst erfolgen, wenn das Minimum der Dauer der Verwahrung bereits abgelaufen ist, und wenn die Gefährlichkeit der verwahrten Person aufgehört hat und diese irgend jemandem anver- traut werden kann.)

Die Behandlung, die der Entwurf den Unzurechnungsfähigen und den vermindert Zurechnungsfähigen angedeihen läßt, ist wie man sieht, von einer Härte, die weder im gültigen italienischen Recht, noch in dem gültigen Strafrecht anderer Länder Europas (ausgenommen vielleicht Rußland), noch in einem der vielen Entwürfe, die heute auch außerhalb Italiens vorliegen, ihresgleichen hat. Alles in allem trennt sich der italienische Entwurf, nachdem er in den Strafen den traditionellen Ausgleich der moralischen Verantwortlichkeit wieder bestätigt hat, durch die Anwendung von Sicherungsmaßnahmen deutlich von den Doktrinen, die die klassische Strafrechtsschule lehrt und die das gültige italienische Recht befolgt. Und so schafit der Entwurf, in dem er zum großen Teil die Forderungen der Positiven Strafrechtsschule sammelt, kühn die Grundlagen für eine wirksame soziale Abwehr nicht nur gegen die zurechnungsfähigen, sondern auch die unzurechnungsfähigen und die vermindert zurechnungs- fähigen Verbrecher.

Wie sind vom streng psychiatrischen Gesichtspunkt aus die Bestimmungen des italienischen Entwurfes, welche die Anwendung von Sicherungsmaßnahmen bei geisteskranken Verbrechern und Gewohnheitstrinkern fordern, zu beurteilen ?

Man kann nicht leugnen, daß nicht alle Bestimmungen des Ent- wurfes die volle Zustimmung der Psychiater finden. Zwei können es sicher nicht: die Unterstellung der Gemeingefährlichkeit und die Festlegung einer zeitlicher Begrenzung der Sicherungsmaßnahmen nach unten.

Die Annahme der Gemeingefährlichkeit, die vom Entwurf unter- schiedslos bei allen geisteskranken Verbrechern, wenn sie unzurech- nungsfähig oder vermindert zurechnungsfähig sind, bejaht wird,

Die psychiatrisch wichtigsten Bestimmungen des Entwurfs usw. 209

verstößt gegen eine der unbestrittensten Tatsachen unserer klinischen Erfahrung, nämlich daß es Geisteskrankheiten völlig vorübergehender Art gibt. Wenn ein Verbrechen in einem vorübergehenden Zustand von Geisteskrankheit begangen wird und wenn diese im Augenblick des Urteils geschwunden ist und keine Neigung zum Rückfall zeigt, so ist nicht nur die Strafe, sondern auch die Anwendung von Siche- rungsmaßnahmen ungerecht und nutzlos. Man versteht also nicht, wie der Entwurf auch bei geisteskranken Verbrechern, die im Augen- blick des Urteils nicht mehr gefährlich sind, eine NEN ANEUNe say: nahme anwenden will.

Dasselbe läßt sich bezüglich der unteren Begrenzung der Siche- rungsmaßnahmen sagen. Die Begrenzung ist vom Entwurf nicht auf Grund von klinischen oder anderen psychologischen differentialdia- gnostischen Erwägungen (Grad, Dauer der Gefährlichkeit) geregelt, sondern wird rigoros auf Grund der strafbaren Tat festgelegt. Der Entwurf trägt also nicht der Tatsache Rechnung, daß die Prognose der Geisteskrankheiten unabhängig von der Art des Verbrechens von Fall zu Fall weitgehendst verschieden sein kann. So wird also die Folge davon sein, daß die Verwahrungsmaßnahme der vom Entwurf geforderten unteren Grenze zuliebe bei einer bestimmten Anzahl der Fälle über das Nötige hinaus verlängert werden muß, trotzdem bereits Heilung eingetreten oder die Gemeingefährlichkeit geschwunden ist.

Abgesehen von diesen zwei Mängeln, welche bei den betreffenden Paragraphen ausgemerzt und verbessert werden könnten, zeigt im großen ganzen das Prinzip der vom neuen italienischen Entwurf ein- geführten Sicherungsmaßnahmen erhebliche Werte, die gebührende Achtung verdienen.

Ein erster und undiskutierbarer Wert, dessen sich der Entwurf dem gültigen Recht gegenüber rühmen kann, besteht ohne Zweifel in der Ausdehnung der Sicherungsmaßnahmen auf die verminderte Zurechnungsfähigkeit. Diese Anordnung ist aus zwei Gründen zu billigen. Vor allem kann man in Ehrerbietung vor dem Grundsatz der moralischen Verantwortlichkeit nicht umhin, den vermindert zurechnungsfähigen Verbrechern in Erwägung der krankhaften Seiten ihrer Psyche irgendwelche Zugeständnisse in der Anwendung der Strafe zu machen; doch ist es im Interesse der sozialen Sicherheit nicht richtig, die Abwehr gegen eine Art von Verbrechern, welche meist aus vorwiegend gemeingefährlichen Individuen mit geringer Neigung zur Besserung sich zusammensetzt, abzuschwächen, wie es das gültige Recht macht.

Zeitschrift für Psychiatrie. LXXXIX. 14

210 Bonfiglio,

Viel glücklicher ist die Lösung, die der Entwurf bringt. Nachdem er sich nach dem gültigen Recht gerichtet hat und den vermindert Zurechnungsfähigen eine Strafminderung zugesteht, verzichtet er darauf, sie nach Verbüßung ihrer Strafe wieder in Freiheit zu bringen, wie es das gültige Recht macht, sondern er weist sie auf eine unbe- stimmte Zeit in eine Fürsorge- nud Bewahrungsanstalt ein.

Diese Einrichtung hat auch noch einen anderen Vorteil. Jetzt erweist sich auf Grund des gültigen Rechtes das Zugeständnis der verminderten Zurechnungsfähigkeit für die Verbrecher als eine be- merkenswerte Wohltat, weil es ihnen eine starke Herabsetzung ihrer Strafe 1) bringt, ohne daß sie, von einigen Ausnahmefällen abgesehen, Gefahr laufen, in eine Irrenanstalt zu kommen.

Und deshalb versuchen auch die Verteidiger unter allen Umständen ihren Klienten das genannte Zugeständnis zu verschaffen, während die Richter aus eigener Vollmacht nicht imstande sind, der Krank- haftigkeit des Geisteszustandes, der Verminderung der Zurechnungs- fähigkeit im Gefolge haben kann, Rechnung zu tragen und so aus Grundsatz Gegner dieses Zugeständnisses sind, weil sie befürchten, daß sie sich von der Verteidigung eine ungesetzliche Strafminderung entreiBen lassen müssen.

All das bringt die verminderte Zurechnungsfähigkeit in Mib- kredit, weil sie vom Laien als ein Mittel, irgend eine Art von Ver- brechern ungehörig zu begünstigen, betrachtet wird, und trägt dazu bei, eine Atmosphäre von Mißtrauen gegenüber der Arbeit der psy- chiatrischen Sachverständigen zu schaffen, die in den Verdacht einer ungewöhnlichen Milde den Verbrechern gegenüber, denen sie ver- minderte Zurechnungsfähigkeit zubilligen, kommen.

Dieser Übelstand wird durch die Bestimmungen des neuen Ent-

1) § 47. Wenn der im vorigen Paragraph bezeichnete Geisteszustand ein solcher war, daß er die Zurechnungsfähigkeit erheblich vermindert, ohne sie aufzuheben, so wird die für die Tat festgesetzte Strafe nach fol- genden Gesichtspunkten ermäßigt: 1. An Stelle von Zuchthaus tritt Ge- fängnis nicht unter 6 Jahren. 2. An Stelle des dauernden Ehrverlustes tritt zeitlicher. 3. Handelt es sich um eine Strafe von über 12 Jahren, so wird sie herabgesetzt in eine solche von 3—10 Jahren. Uberschreitet sie 6 Jahre, aber nicht 12, so wird sie in eine solche von 4—5 Jahren um- gewandelt, in den anderen Fällen in eine Dauer nicht unter der Hälfte der Strafe, die angewendet werden sollte. 4. Geldstrafe wird auf die Hälfte ermäßigt. Handelt es sich um eine Freiheitsstrafe, so kann der Richter deren Verbüßung in einer Verwahrungsanstalt anordnen, solange die zu- ständige Behörde die Verfügung nicht widerruft; in diesem Fall wird der Rest der Strafe auf die gewöhnliche Weise verbüßt.

Die psychiatrisch wichtigsten Bestimmungen des Entwurfs usw. 211

wurfes völlig beseitigt. Danach kommt der Verbrecher, der als ver- mindert zurechnungsfähig im Sinne des $ 851) erkannt wird, nicht nur zu einer Strafminderung, die erheblich geringer ist als die ihm. vom gültigen Recht zugedachte, sondern er muß hernach nach Ver- büßung der Strafe sich noch einer Verlängerung der Verwahrung unterziehen, die ihn im günstigsten Fall zum großen Teil die Vorteile der Strafminderung verlieren lassen wird. Dazu kommt für ihn noch die Gefahr, das ganze Leben in eine Fürsorge- und Bewahrungsanstalt eingeschlossen zu werden und die Gewißheit, nach der Entlassung immer unter Schutzaufsicht zu bleiben. Und deshalb werden die ver- mindert zurechnungsfähigen Verbrecher vom neuen Entwurf mit einer viel größeren Strenge behandelt als die voll Zurechnungsfähigen (ausgenommen, wohlverstanden diejenigen, die aus Gewohnheit, Beruf und Neigung zum Verbrecher werden).

Und da die Zuerkennung der verminderten Zurechnungsfähigkeit nach den Bestimmungen des neuen Entwurfes für den Verbrecher keine Wohltat mehr bedeutet, werden auch die Verteidiger kein In- teresse mehr haben, sie ihren Klienten zu verschaffen und die Richter keinen Grund mehr, gegen dieses Zugeständnis voreingenommen zu sein und die Sachverständigen können mit größerer Seelenruhe ihre Schlüsse formulieren. Doch nicht das allein. Denn während bis heute die Zubilligung der psychologischen Bedingungen der verminderten Zurechnungsfähigkeit aus schon angeführten Gründen nur so zu sagen im ausschließlichen Interesse des Verbrechers erfolgt, muß sie gemäß dem Geist und Buchstaben des neuen Entwurfes nun von dem höheren Ziel der sozialen Abwehr aus gemacht werden und so wird künftig die Initiative für eine solche Zubilligung notwendigerweise von den Aufgaben der Verteidigung verbannt bleiben und von den Richtern, denen die Pflicht, für die soziale Sicherheit zu sorgen obliegt, auf- gegriffen werden.

Ein zweiter Vorteil liegt sicher in der Anwendung von Siche- rungsmaßnahmen bei Gewohnheitstrinkern (von Alkohol und anderen

1) § 85 des Entwurfes sagt nicht, wie die den vermindert Zurechnungs- fähigen zu gewährende Strafminderung zu sein hat; man muß also an- nehmen, daß diese dem im Falle „der allgemein mildernden Umstände“ gemachten Zugeständnis gemäß $ 66 gleichzusetzen ist:

$ 66 (Strafmilderung bei mildernden Umständen.) Liegen mildernde Umstände vor und sieht das Gesetz keine bestimmte Strafminderung vor, so gelten folgende Richtlinien: 1. An Stelle von Todesstrafe tritt Gefängnis von 24—30 Jahren; 2. an Stelle von Zuchthaus Gefängnis nicht unter 40 Jahren; 3. die anderen Strafen werden bis auf zwei Drittel herabgesetzt.

14*

912 Bonfiglio,

Rauschgiften), sei es, daß diese ein Verbrechen im Zustande der Trunken- heit begangen haben, sei es, daß sie wegen Übertretungen bestraft worden sind ($ 713). Diese Maßnahme kann auf den ersten Blick allzu hart erscheinen, sei es in Hinsicht auf die Gewohnheitstrinker, die eine strafbare Tat im Zustand der Trunkenheit begangen haben und die mit Rücksicht auf das Gewohnheitsmäßige ihrer Trunkenheit schon eine Straferschwerung erhalten, sei es hinsichtlich der wegen einfacher Übertretungen verurteilten Gewohnheitstrinker, die ohne ein eigentliches Verbrechen begangen zu haben, sich ihrer persönlichen Freiheit auf unbestimmte Zeit beraubt sehen.

Wenn man jedoch die drohende Überschwemmung auch Italiens mit alkoholischen Getränken und anderen Rauschmitteln (nicht die letzte Ursache des Anwachsens der Kriminalität) bedenkt, wenn man bedenkt, daß der Gewohnheitstrinker ein Süchtiger ist, der fast immer straffällig wird und periodisch und gewohnheitsmäßig in Irrenanstalten landet, kann man nicht umhin, den $ 222 des Entwurfes zu billigen, der die Absicht des Gesetzgebers zeigt, die Kriminalität an ihren Wurzeln zu treffen, indem er, wenn noch Zeit ist, diese gefährlichen Süchtigen zu heilen oder wenigstens die Gesellschaft, soweit wie möglich, vor deren Attentaten zu schützen sucht.

Ein anderer und nicht weniger wichtiger Wert des Entwurfes besteht in der neuen Anweisung, welche die Einrichtungen, die die geisteskranken Verbrecher und Gewohnheitstrinker zu sammeln be- stimmt sind, organisiert.

Das gegenwärtig gültige Strafgesetz wendet, wie gesagt, Sicherungs- maßnahmen verwahrender Art nur bei einer beschränkten Anzahl von geisteskranken Verbrechern an und zwar nur bei den Unzurech- nungsfähigen, die beim Urteilsspruch noch als gemeingefährlich an- gesehen werden und diese Verbrecher können auf Grund des Allge- meinen Regulativs vom Februar 1891 für Straf- und Besserungsan- stalten, in Irrenanstalten für geisteskranke Verbrecher oder in öffent- liche Irrenanstalten eingewiesen werden, die nach dem genannten Regulativ „Isolierräume für die gemäß $ 46 des Strafgesetzbuches freigesprochenen Verbrecher‘ haben müssen. Da aber nur wenige Irrenanstalten für geisteskranke Verbrecher gegenwärtig vorhanden sind, müssen sie auch während des Strafvollzuges geisteskrank gewor- dene Verbrecher aufnehmen und haben so nur wenige Plätze zur Ver- fügung. Die wegen Geisteskrankheit freigesprochenen Verbrecher kommen heute zum größten Teil in öffentliche Irrenanstalten.

Mit dem neuen Entwurf ändern sich diese Dinge völlig, insofern

Die psychiatrisch wichtigsten Bestimmungen des Entwurfs usw. 213

als durch die Anwendung der Verwahrungsmaßnahmen nicht nur bei Unzurechnungsfähigen, sondern auch bei vermindert Zurechnungs- fähigen, ferner durch die „Unterstellung der Gemeingefahrlichkeit‘, unterschiedslos bei den einen wie bei den anderen, wenn sie eine be- stimmte Art von Verbrechen begangen haben, sowie durch die An- wendung der Verwahrungsmaßnahmen auch bei Gewohnheitstrinkern nicht nur die große Masse der in Besserungs- und Verwahrungsan- stalten eingewiesenen Verbrecher eine enorme zahlenmäßige Ver- mehrung erfahren wird, sondern auch sehr viele heterogene Elemente zusammen gewürfelt werden.

Der Gesetzgeber hat also die Notwendigkeit einer Abänderung begriffen, wenn er, um diese neuen Einrichtungen zu verwirklichen, die alten Bestimmungen des gültigen Rechtes verlassen und eine neue Organisation dieser zur Sammlung der geisteskranken und süchtigen Verbrecher bestimmten Einrichtungen geschaffen hat, um sie den wachsenden Anforderungen anzupassen.

Die vom Entwurf zu diesem Ziel vorgezeichneten Richtlinien zeigen hauptsächlich zwei gute Seiten:

1. Vor allem werden den öffentlichen Irrenanstalten alle geistes- kranken Verbrecher (ausgenommen die von $ 223 Abs. 2 vorgesehenen Sonderfälle) weggenommen. Dieser Modus verdient die uneinge- schränkte Billigung der Psychiater, weil, wie wohl jeder aus Er- fahrung weiß, die öffentliche Irrenanstalt nicht der geeignete Platz ist, um geisteskranke Verbrecher aufzunehmen, die in der überwie- genden Mehrzahl rebellische, gewalttätige, erregbare und heftige Individuen sind und so nicht wenig den ruhigen und geordneten Gang der Irrenanstalt stören. Auch erfordern sie oft die Anwendung von Vorsichts- und Zwangsmaßregeln, die jetzt fast ganz aus modernen Irrenanstalten verbannt sind, so daß man ohne zu übertreiben sagen kann, daß bei der heutigen Einrichtung der öffentlichen Irrenanstalt die geisteskranken Verbrecher nicht die Behandlung finden können, welche ihnen zukommt, während ihre Gegenwart andererseits die Pflege der nicht kriminellen Geisteskranken beeinträchtigt.

2. In Anbetracht der Ungleichartigkeit der Verbrecher, bei denen Verwahrungsmaßnahmen angewendet werden müssen, macht man in Hinblick auf ihre künftige Unterbringung nicht nur einen Unterschied zwischen den geisteskranken Verbrechern und den Süchtigen auf der einen Seite und all den anderen Arten von Verbrechern auf der anderen Seite, sondern es kommt auch noch ein weiterer Unterschied bei den ersteren hinzu, wenn man sie in drei Gruppen einteilt, von denen jede

214 Bonfiglio,

einer bestimmten Abteilung der Anstalt zugedacht ist: und zwar kommen die geisteskranken und unzurechnungsfähigen Verbrecher in Spezialanstalten für verbrecherische Irre, die vermindert Zurech- nungsfähigen in Fürsorge- und Bewahrungsanstalten und die Gewohn- heitstrinker in Sonderabteilungen dieser Fürsorge- und Bewahrungs- anstalten. |

Obwohl diese Unterscheidung vom psychiatrischen Gesichtspunkt aus alles andere als vollkommen ist, kann man doch nicht sagen, daß sie nicht im Grunde klinischen Anschauungen entspräche. Denn die reinliche Trennung der Süchtigen von den anderen Arten der geistes- kranken Verbrecher ist nicht nur von streng therapeutischen Kriterien eingegeben, sondern es ist auch die reinliche Scheidung zwischen un- zurechnungsfähigen und vermindert zurechnungsfähigen Geistes- kranken sicher von klinischen Unterscheidungen, die zwischen den zwei Gruppen von Geisteskranken bestehen, getragen. Die ersteren, die unzurechnungsfähigen, sind zum größten Teil geisteskrank im engsten Sinn des Wortes, die letzteren, die vermindert Zurechnungs- fähigen sind jedoch Individuen, die schon mehr auf der Grenze zwischen Gesundheit und dem eigentlichen Irrsinn stehen, und zwischen den einen und den anderen gibt es so tiefe klinische und psychologische Unterschiede, daß sie eine Verschiedenheit der Heil- und Erziehungs- methoden sowie die Verwendung verschiedener Überwachungsmaß- nahmen unerläßlich machen.

Dieses sind in Kürze die hauptsächlichsten Mängel und hervor- stechendsten Werte, wie sie sich aus der einfachen Lektüre der im Entwurf niedergelegten Bestimmungen bezüglich der Sicherungs- maßnahmen ergeben. Aber man muß sich klar darüber sein, daß es ein endgültiges Recht von diesem Gesichtspunkt aus heute nicht geben kann, weil der Wert dieser Bestimmungen zum größten Teil von der Art und Weise abhängt, wie diese in die Praxis umgesetzt werden. Und hier wären viele der von Wilmanns über die Einführung des Prinzipes der verminderten Zurechnungsfähigkeit im deutschen Entwurf und über die geplanten Sicherungsmaßnahmen angestellten Betrachtungen am Platz.

Wie wird also bei unseren Richtern die im Entwurf vorgesehene Ein- richtung der verminderten Zurechnungsfähigkeit aussehen ? Wird man ihr die von Wilmanns gemutmaßte Ausdehnung in der Art und Weise geben, daß sie bei dem größeren Teil der Verbrecher anzuwenden sein wird? Oder wird man sie in der beschränkten Weise anzuwenden fortfähren, wie es bis jetzt in Italien der Fall war? Werden die Richter,

Die psychiatrisch wichtigsten Bestimmungen des Entwurfs usw. 215

denen allein die Initiative auf diesem Gebiet zukommt, imstande sein, im Laufe des Gerichtsverfahrens das Vorliegen der Unzurechnungs- fähigkeit und der verminderten Zurechnungsfähigkeit beim Ange- klagten zu vermuten, um sich, wo immer es nötig sein sollte, der Hilfe des psychiatrischen Sachverständigen zu bedienen? Nach welchen Gesichtspunkten werden die neuen Einrichtungen organisiert werden, die eine so große Anzahl von Verbrechern aufzunehmen bestimmt sind ?

Auf diese Fragen und auf so viele andere dieser Art, die sich bei diesem Gegenstand erheben, kann man jetzt noch keine Antwort geben. Aber abgesehen von der Tatsache, daß erst die Verwirklichung der neuen Bestimmungen des Entwurfes bezüglich der Sicherungs- maßnahmen besser als man es heute sehen kann, die Vor- und Nach- teile zeigen wird, so können wir dennoch bis heute nicht erkennen, daß diese Bestimmungen einen bemerkenswerten Schritt der italie- nischen Gesetzgebung auf die von der Positiven Strafrechtsschule erhobenen und von Enrico Ferri in seinem Entwurf von 1921 ange- strebten Ideale hin bedeutet. Und so hat der bekannte Führer der positiven italienischen Strafrechtsschule Recht, wenn er seine Ein- leitung zur Abhandlung über das Strafrecht aus diesem Jahr, die er dem neuen italienischen Entwurf widmet, mit folgenden Worten schließt: „Schließlich ist der hervorstechendste und tiefste Wert des Entwurfes Rocco der, daß die gerichtliche Systematisierung der Siche- rungsmaßnahmen in so vollendeter Weise durchgeführt ist, daß sie mit Ausnahme einiger Einzelheiten künftigen Gesetzgebern als Vor- lage dienen kann. Diese Lehre von den Sicherungsmaßnahmen stellt sicher einen besonders gewinnreichen Fortschritt dar, den” die zeit- genössische italienische Gesetzgebung in ihren Annalen buchen kann.“

Anmerkung des Übersetzers: Mit den Schlußsätzen will Bon- figlio offenbar sagen, daß der Entwurf die 1921 aufgestellten Ideale noch nicht erfüllt hat, soweit man es heute beurteilen könne, und daß erst die praktische Durchführung die Vor- und Nachteile zeigen dürfte. Der Entwurf sei also wohl noch nicht ein großer Fortschritt in Richtung auf die ge- nannten Ideale hin, immerhin bilde er eine Grundlage zum Weiterbau.

Der wirkliche Don Carlos. Eine historisch-medizinische Studie

von Professor Dr. med. Strubell-Harkort, Dresden.

Seit meiner frühesten Jugend habe ich stets eine glühende Ver- ehrung für unseren großen Dichter Schiller im allgemeinen wie auch für seinen „Don Carlos‘‘ im besonderen in meinem Herzen getragen. Die Personen und die Tendenz dieses „versreichsten‘‘ Dramas haben immer wieder meine Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Kein Wunder! Waren wir doch alle in den Tendenzen und Begriffen einer Toleranz erzogen, welche Schiller in seinem Don Carlos als das erstrebenswerte Ideal hinstellt, im Gegensatze zur grausamen immerhin durch ihn, den Poeten, noch stark idealisierten Wirklichkeit.

Im letzten Sommer fielen mir bei der Lektüre des Don Carlos- Dramas verschiedene Stellen auf, in denen Schiller zweifellos falsch skandiert hat. Ich schrieb daraufhin einen Brief an den mir persönlich bekannten Direktor des Schiller- und Goethe-Archivs in Weimar, wie es denn käme, daß Schiller im Don Carlos manchmal falsch skan- diert habe, offenbar habe er kein Spanisch gekonnt. Ich bekam sehr bald ein liebenswürdiges Antwortschreiben, in dem der Direktor des Schiller- und Goethe-Archivs mir ausdrückte, allerdings habe ich ganz Recht, Schiller habe eben kein Spanisch gekonnt. Er verwies mich auf verschiedene Literaturstellen und auf die historische Novelle von St. Real, aus welcher Schiller die Fabel seines Dramas geschöpft habe.

Die Stellen des Schillerschen Don Carlos-Dramas, die mich zu meiner obigen Frage veranlaßten, waren u.a. folgende:

Don Carlos sagt im 1. Akt in der großen Szene mit Posa:

„Den du hier siehst, das ist der Carl nicht mehr, Der in Alcala von dir Abschied nahm“ während es richtig heißen müßte:

Der wirkliche Don Carlos. 217

„Der einst in Alcalá von dir sich schied‘.

Diese spanische Universität heißt nun einmal Alcalá, mit einem Akzent auf der letzten Silbe. Die bekannteste Straße in Madrid heißt Calle de Aleala.

Weiter:

. Zu einem Stiergefechte Wird schon die Plaza Mayor zugerichtet‘‘ während es heißen müßte: „Wird schon auf der Plaza Mayor jetzt zugerichtet“ (Die Aussprache ist: Plaza Mayör). Die Oberhofmeisterin Herzogin von Olivarez meldet der Königin, die sich mit ihren Damen im Park von Aranjuez befindet: „Der Marquis VonPosa, Ihre Majestät darauf die Königin: Von Posa?

Der Marques tritt ein, die Königin empfängt ihn äußerst cordial mit den Worten:

Ä „Ich heiße Sie

Willkommen, Chevalier, auf span’schem Boden“ und stellt ihn ihren Damen vor: „Der Marquis Von Posa, der im Ritterspiel zu Rheims Mit meinem Vater eine Lanze brach Und meine Farbe dreimal siegen machte Der erste seiner Nation, der mich Den Ruhm empfinden lehrte, Königin Der Spanier zu sein.‘ Was mir an diesen Versen auffiel, war, daß alle deutschen Schau- spielerinnen den Namen Posa aussprachen, als würde er „Pohsa“ geschrieben, während in spanischer Sprache der Name natürlich „Markess de Possa‘‘ ausgesprochen werden mußte. |

Da ich eine Reise nach Spanien ohnehin vorhatte, nahm ich mir vor, die Angelegenheit an Ort und Stelle weiter zu studieren. In der Casa de Ayuntamiento, d. h. dem Rathause in Sevilla, wurde mir ein Brief des Königs Don Felipe II an den Rat von Sevilla vorgezeigt, in dem der König mitteilt, daß er seinen Sohn, den Prinzen Don Carlos, aus staatspolitischen Gründen in „reclusion‘‘ genommen, d. h. ge- fangengesetzt habe. In Malaga sah ich die Renaissance-Cathedrale mit dem Wappen des Don Felipe II an der Wand. In der Alhambra

218 Strubell-Harkort,

in Granada wurde mir der „patio‘‘ gezeigt, in welchem die Infantin Juana la Loca (Johanna die Wahnsinnige), die Gattin des Erzherzogs Philipp des Schönen von Österreich, die Mutter Kaiser Karls V. und Erbtochter der katholischen Könige Ferdinand und Isabella, so lange Zeit gefangen gewesen war. Ganz Granada ist voll von den Erinne- rungen an die katholischen Könige, welche ebenso wie Juana la Loca und Philipp der Schöne in der Kathedrale dort begraben liegen. Der Atem jener historischen Persönlichkeiten weht noch durch die Stadt. In der Schatzkammer zeigte man mir das Kästchen, welches einst die Juwelen enthalten hatte, welche Isabella die Katholische Columbus zu verpfänden gab, als er seine Weltendeckungsreise antreten wollte. In der Bahnhofsbuchhandlung in Granada kaufte ich mir eine Volks- ausgabe des ,,Don Quijote‘‘ in spanischer Sprache. In der Lebens- geschichte des Dichters Miguel Cervantes de Saavedra fand ich die Tatsache, daß der Dichter im Alter von 21 Jahren ein formvollendetes Sonett, fünf Redondillas und eine Elegie auf den Tod der Isabel de Valois, der dritten Gemahlin Philipps II. gemacht hatte. (Datum des Todes der Königin: 24. Oktober 1568). Nicht nur die Tat- sache, daß der nach Meinung Vieler größte spanische Dichter in diesem jugendlichen Alter auf Isabel de Valois’ Tod gefühlvolle Verse gemacht hatte, fesselte meine Aufmerksamkeit, viel mehr noch fiel mir auf, daß Schiller in seinem Don Carlos-Drama ganz offenbar von der poe- tischen Lizenz weitgehenden Gebrauch gemacht hatte, indem im Don Carlos-Drama die im Oktober 1568 verstorbene Isabel de Valois als Königin Elisabeth auftritt, während Schiller in demselben Drama durch den Herzog von Medina Sidonia den Untergang der spanischen Armada dem Könige melden läßt, welcher tatsächlich zwanzig Jahre später, nämlich 1588 erfolgt ist. Alle diese Gedanken bewegten mich sehr bis zu dem Zeitpunkt, wo ich in Madrid im Museo del Prado die Porträts der hier interessierenden Personen, mit Ausnahme der Bilder von Juana la Loca und Philipp dem Schönen studieren konnte. Die reichhaltig vorhandenen Porträts waren interessant genug: nicht nur Kaiser Karl V. und seine Gattin Isabel de Portugal von Tizians Meister- hand gemalt, auch ein Spätbild des Kaisers, ebenfalls von Tizian, während der Schlacht bei Mühlberg, ein Bild des Infanten Don Philipp von Tizians Hand, ein Bild desselben Philipp als König zu Pferde von Rubens, ein Bild des Infanten Don Carlos und das Porträt der Isabel de Valois, die letztere in ihrer spanischen Tracht, schön, aber nicht überwältigend schön, doch mit einem wunderbar seelenvollen Auge. Ich hatte übrigens in Madrid insofern noch Glück, als mir die verschie-

Der wirkliche Don Carlos. 219

dene moderne spanische Literatur über Don Philipp | und Don Carlos in die Hände fiel.

Nach Hause zurückgekehrt, legte ich den künstlerisch ausgezeich- net ausgeführten illustrierten Katalog des Museo del Prado einem Universitäts-Psychiater vor und fragte ihn bezüglich der Porträts Kaiser Karls V.: „Pykniker?‘‘ Diese Frage wurde in Rücksicht auf die spanische Hoftracht, welche die Magerkeit des Kaisers teilweise ver- kleidete, verneint. Vielmehr einigten wir uns beide darauf, daß Kaiser Karl V. schon entschieden in den schizothymen Kreis zu rechnen sei. Bezüglich der beiden Porträts des Don Philipp fragte ich direkt: „Schizophren? ja oder nein?‘ worauf mir die Antwort wurde: „Ja, schizophren‘“. Der Psychiater sagte mir: „Wenn ich meiner Sache ganz sicher sein sollte, dann müßten Sie mir noch ein drittes Porträt von Don Philipp von Rafaels Hand vorlegen, dann wäre ich ganz überzeugt.“ Das letztere konnte ich nun freilich nicht beschaffen, denn Rafael ist 1525, d. h. zwei Jahre früher gestorben als Don Philipp geboren wurde. Aber eines hatte ich vergessen dem Psychiater zu sagen, daß ich im Museo del Prado in Madrid allerdings noch ein drittes Por- trät, nämlich eine Bronzestatue gesehen hatte mit der Inschrift ,,Phi- lippus Angliae Rex“. Bekanntermaßen hatte Don Philipp in zweiter Ehe die Königin Maria die Katholische von England geheiratet und durfte sich bei Lebzeiten dieser Königin „König von England“ nennen. Auf allen drei Bildnissen trat dieselbe asthenische Körperform, die schi- zoide Eiform des Gesichts und der tückische Blick dieser historischen Persönlichkeit hervor. Besonders das Bild des Infanten Philipp von Tizian schien mir wenigstens alle die Charakterzüge zu enthüllen und zu bestätigen, welche wir aus der Geschichte kennen.

Zwischen diesen meinen Feststellungen und der mir nunmehr erwachsenden großen Frage, wie das psychische Verhalten der wich- tigsten im Don Carlos-Drama Schillers vorkommenden Persönlich- keiten in Wirklichkeit und im Lichte der Wissenschaft zu bewerten sei, klaffte zunächst eine ungeheure Lücke, nein, ein Abgrund! Soviel stand fest: der historische König Philipp II. von Spanien hatte im Anfange des Jahres 1568 den historischen Infanten Don Carlos, seinen ältesten und damals einzigen Sohn, unter Aufsehen erregenden Um- ständen gefangengesetzt, zwar allerlei Verwandte und behördliche Instanzen, vom Papste bis herab zu den Gemeindevertretungen großer Städte von dieser Gefangennahme unterrichtet, sich aber in seinen Erklärungen über seine doch gewiß Aufsehen erregende Maßnahme in Ausdrücken bewegt, aus denen man alles oder nichts schließen konnte.

220 .Strubell-Harkort,

Denn was besagt es, wenn König Philipp dem Kaiser Maximilian II., seinem Schwager, und dem damaligen Papste schreibt, „er habe im Interesse des Staates und der Religion seinen Sohn gefangengenommen und es sei zu schmerzlich, näheres darüber mitzuteilen, er behalte sich aber vor, späterhin weitere Einzelheiten bekanntzugeben‘‘. Diese zwei- deutigen Erklärungen des Königs Philipp haben denn auch sowohl in Rom wie in Wien als auch in Lissabon nicht verfehlt, einen höchst eigentümlichen Eindruck zu machen. Der Papst konnte sich nicht enthalten, genaue Erklärungen zu fordern, und erst als ihm solche zweimal vom König Philipp verweigert wurden und auf die immer wiederholte Betonung hin, die Maßnahme sei im Interesse der Religion geschehen, hat der Papst, dem ja die Machtmittel fehlten, nähere Er- klärungen zu erzwingen, sich beruhigt. Der Kaiser Maximilian II. hat durch seinen Gesandten Freiherrn von Dietrichstein nicht nur auf jede Weise versucht, genauere Informationen zu erlangen, sondern auch eine Milderung der großen Härte des Königs durchzusetzen: ver- gebens! Der Kaiserhof in Wien mußte um so mehr über die Hand- lungsweise Philipps II. verschnupft, ja entrüstet sein, als die älteste Tochter des Kaiserpaares, die Erzherzogin Anna, mit dem Prinzen Don Carlos verlobt war. Dem fortwährenden Drängen des Kaiser- paares auf Vollziehung der Vermählung war König Philipp mit allerlei Vorwänden begegnet, welche einen Aufschub der Heirat begründen sollten: ‚Der Prinz sei nicht fähig (Potentia coeundi), der Prinz sei geistig nicht reif‘‘ usw usw. Dabei wurde in Madrider Hofkreisen ganz intensiv eine andere Heiratsschließung propagiert, nämlich mit der Tante des Prinzen, der verwitweten Königin von Portugal Doña Juana, Schwester des Königs Philipp und Erzieherin des Infanten. Natürlich wollte Don Carlos seine um zehn Jahre ältere Tante, der er mit der Liebe eines Sohnes begegnete, nicht heiraten.

Auch die regierende Königin von Portugal hat einen eigenen Ab- gesandten nach Madrid geschickt, nachdem sie mit nichtssagenden Worten abgespeist worden war, um Klarheit über den Fall zu erlangen. Nachdem nun der Prinz in seinem Gefängnis eine Anzahl von Monaten gewesen war, starb derselbe plötzlich im Juli 1568 unter Anzeichen, die auf eine Vergiftung durch seine Umgebung schließen ließen, und zwar. kurze Zeit nachdem in Brüssel die Häupter der Grafen Egmont und Hoorne, der Führer der niederländischen Feudalen, auf dem Schafott gefallen waren und außerdem der eine Abgeordnete des niederländischen Adels, Baron Montigny, nach Ablegung der heiligen Beichte und Emp- fangen der heiligen Sakramente und nach Abfassung eines Testamentes

Der wirkliche Don Carlos. 221

in seinem Bette erwiirgt worden war. Als Erklärung für den Tod des Prinzen Don Carlos wurde damals und wird heute noch von inspirierten spanischen Quellen angegeben, der Prinz habe im Gefängnis so unver- nünftig gelebt, daß er an den Folgen seiner Diätfehler gestorben sei. Der Prinz habe dauernd Schnee in sein Bett getan und gegessen und Schneewasser getrunken, davon sei er gestorben. Natürlich er- wächst sofort die Frage, wie kommt Schnee oder Eiswasser in das Zimmer eines Gefangenen, der mit solcher Sorgfalt bewacht wird?

Der König brauchte sich nicht zu wundern, wenn die offiziellen und offiziösen so vielsagenden und zweideutigen Berichte nicht ge- glaubt wurden und sich im geheimen in Spanien, aber auch an den verwandten und befreundeten Höfen die Legende ausbildete, Don Carlos sei ermordet worden, wahrscheinlich auf Befehl des Santo oficio, d. h. der Inquisition. So fand ich es auch in einem historischen Lexikon vermerkt, das ich in Madrid einsehen konnte.

Welche wirklichen Tatsachen liegen nun der Gefangennahme und dem Tode des Don Carlos zugrunde, dem übrigens seine blendend schöne Stiefmutter Isabel de Valois im Oktober 1568 im Tode gefolgt ist, wobei wiederum behauptet wurde, die Königin sei ermordet worden, während die offizielle Lesart die ist, daß sie, nachdem sie einer Miß- geburt das Leben gegeben hätte, einer Nierenentzündung erlegen sei. Näheres und Tatsächliches ließ sich bisher nicht ermitteln.

Also der Infant Don Carlos wurde im Jahre 1545 geboren als der Sohn des damals 18 jährigen Infanten Don Philipp von Spanien und seiner etwa 16 jährigen Gemahlin Maria de Portugal. Die schöne Mutter starb wenige Tage nach der Geburt im Wochenbett, angeblich nach dem Genuß einer Melone. Sie soll, wie man erzählt, aus dem Wochenbett aufgestanden sein, weil sämtliche mit ihrer Pflege be- trauten Hofdamen und Pflegerinnen sich nicht hatten enthalten können, zu einem Autodefé1), einem offiziellen Glaubensgerichte mit obli- gater Zutodemarterung armer Ketzer zu eilen. Die Anwesenheit bei dem Autodef& wäre nach dieser Legende den betreffenden Hof- beamtinnen wichtiger gewesen als die Gesundheit der hohen Frau, die dem Königreiche soeben den erwünschten Erben der Krone ge- schenkt hatte. Don Philipp soll vollkommen trostlos gewesen sein, sich zwölf Tage in einem Kloster eingeschlossen haben und erst zur Taufe des Kindes Don Carlos wieder erschienen sein. Der Gemüts- zustand des Vaters soll die folgende Zeit, neun Jahre lang, vollständig

1) Der Ausdruck Autodafé ist portugiesisch.

222 Strubell-Harkort,

verdüstert gewesen sein, so daß die Cortes d. h. die Ständeversamm- lung des Reiches sich veranlaßt gesehen haben, dem Kaiser KarlV.. submissest die Bitte zu unterbreiten, der Infant Don Philipp möge doch wieder heiraten, weil dies der Sitte entspräche und im Interesse des Königreichs nötig sei. Der Kaiser hat sich auch die größte Mühe ge- geben und hat für seinen Sohn Philipp eine Partie arrangiert, welche allerdings die Weltherrschaft der Habsburger vollkommen zu sichern versprach: die Heirat mit der Königin Maria der Katholischen von England. Bei dem Heiratsvertrage ist Kaiser Karl V. der Königin Maria von England in einer Weise entgegengekommen, die man von dem mächtigsten Monarchen der Welt kaum hätte erwarten sollen, nur den „Titel‘‘ eines Königs von England hat er für seinen Sohn Philipp ausbedungen, solange die Königin Maria am Leben sei, und hat u. a. das große Zugeständnis gemacht, daß ein eventueller Thronerbe der Königin gleichzeitig auch Herrscher der den Habsburgern gehö- rigen Niederlande werden sollte. Das war eine ungeheure Konzession, sehr zum Schaden des Infanten Don Carlos. Don Philipp verließ 1554 Spanien, lebte jahrelang in England und in den Niederlanden, sein kleiner Sohn Don Carlos wurde von seinen Tanten Maria, der späteren Gattin Maximilians II., und Juana, der verwitweten Königin von Portugal erzogen. Im Anfange scheint man dem Kinde allen Willen getan zu haben, Don Carlos war angeblich sehr jähzornig, soll Tiere gequält haben, auf der anderen Seite wieder sehr aufgeweckt gewesen sein und gelegentlich seinem Großvater Kaiser Karl V. gegenüber einigermaßen vorlaut. Ein hohes Selbstgefühl scheint in der Brust des noch so jugendlichen Prinzen gewohnt zu haben, der als Kaiser Karl 1556 die Regierung in Spanien und den Niederlanden niederlegte und seinem Sohne Don Philipp übertrug als elfjähriger Knabe seinen Vater als König von Spanien vor den versammelten Ständen und dem spanischen Volke zu proklamieren die Ehre hatte. Welch ein Eindruck auf einen so jungen, von hohem Stolz und Ehrgeiz beseelten Königssohn!

Die Studien des jugendlichen Prinzen scheinen aber nach den Berichterstattern aus seiner Umgebung nicht in allen Dingen gleich- mäßig gut vorwärts gegangen zu sein, vielmehr sind mannigfache Klagen an das Ohr des bis zum Jahre 1559 in den Niederlanden wei- lenden und über und über beschäftigten Vaters gedrungen. Die Tan- ten und die Erzieher scheinen mit dem Infanten nicht mehr recht fertig geworden zu sein. Am 8. September 1559 landete der König Philipp II. in Spanien, um gleich am 8.Oktober 1559 dem bei der ganzen Ein-

Der wirkliche Don Carlos. 393

stellung seiner Staatskunst hochwichtigen Autodefé in Valladolid beizuwohnen, bei welchem beiläufig 60 Ketzer angebliche Protestan- ten gerichtet und teils garrottiert und verbrannt oder auch lebendig verbrannt wurden. Bei diesem Autodefé ist es vorgekommen, daß der eine der zum Flammentode Verurteilten, ein Adliger namens Don Carlos de Sesso, dem König Vorwürfe machte, daß er ihn als Adligen den Flammen überliefere, während er dem Gesetze nach doch nur ent- hauptet werden durfte. Da soll Don Philipp ihm geantwortet haben: „Wäre mein Sohn ein solcher Frevler wie Sie, ich würde selbst das Holz herbeitragen, um ihn zu verbrennen!“ Was für einen Eindruck müssen diese Worte des königlichen Vaters auf den daneben sitzenden damals 14 jährigen Sohn gemacht haben? Sehr bald folgte dieser fürchterlichen Regierungshandlung des Königs Philipp das frohe Fest seiner Eheschließung mit der schönen erst 14 jährigen ältesten Tochter des Königs von Frankreich, der ursprünglich für den Infanten Don Carlos bestimmten, durch den Friedensschluß von Cateau-Cam- bresis aber dem königlichen Vater zugesprochenen Isabel de Valois. Die schöne Königin nunmehr schon die dritte Gattin Philipps IL, der damals erst 32 Jahre alt war, weshalb auch die Legende von den grauen Haaren und dem gealterten König bei Schiller sich nicht voll- kommen mit der historischen Wirklichkeit deckt wurde in Spanien mit lautem Jubel begrüßt. Die Ehe gestaltete sich, wenigstens was die äußeren Ereignisse anlangt, zu einer scheinbar glücklichen. Isabel de Va- lois schenkte dem König sehr bald hintereinander zwei Töchter. Das Ver- hältnis der schönen Stiefmutter zu dem gleichaltrigen Stiefsohne Don Carlos gestaltete sich äußerst herzlich, übrigens frei von allen erotischen Beimengungen, die in der Novelle von St. Real und in Schillers Drama in dieses Verhältnis mit hineingewoben sind. Die schöne Stiefmutter bekam Kinder, und der Infant Don Carlos suchte und fand Liebes- abenteuer, übrigens ebenso wie sein so düsterer Vater, dessen sehr in Anspruch genommene Zeit ausgefüllt war, wie der eine Autor schreibt: durch Arbeit, Gebet und Liebeshändel.

Angeblich um ein Rendezvous mit einer Hausmeisterstochter ein- halten zu können, stürzte der Prinz eines Tages die letzten fünf Stufen einer Turmtreppe hinunter und holte sich eine schwere Schädelverletzung, die das ganze Königreich und besonders den Hofin Aufregung versetzte. Neun, nach anderen Berichten elf Ärzte umstanden das Bett des spa- nischen Kronprinzen, über dessen chirurgische Erkrankung sehr ge- naue Berichte der Leibärzte vorliegen. Der kaiserliche Gesandte am spanischen Hofe, Freiherr von Dietrichstein, berichtet zwar an

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seinen Herrn, den Kaiser Maximilian, iiber die unglaubliche Unwissen- heit der spanischen Chirurgen. Die mir vorliegenden Gutachten und Aufzeichnungen der Krankengeschichte des Infanten bekunden aber, daß nach unseren modernen ärztlichen Begriffen die bei dem Prinzen angewandte Therapie eine ganz ansgezeichnete gewesen ist, und daß Don Carlos damals so gut behandelt worden ist wie überhaupt ein Patient in der vorantiseptischen Ära. Sehr interessant ist es für den Arzt zu lesen, wie der durch die ärztliche Kunst erzielte Heilerfolg der Kopfverwundung des Prinzen den Bitt- und Bußgängen und Selbstgeißelungen des Hofes, Adels und so ziemlich aller prominenten Persönlichkeiten Spaniens sowie der Tatsache zugute geschrieben wurde und teilweise noch wird, daß die verweste Leiche eines armen, später aus diesem Anlaß heilig gesprochenen Franziskanermönches auf Veranlassung des Herzogs von Alba, des bekannten Ketzergene- rals, aus der Gruft gerissen und ins Schlafzimmer des hohen Patienten gebracht worden ist, der sich vor dem geöffneten Sarge tief verneigt, ja die verweste Leiche sogar berührt haben soll, worauf er zum ersten Male wieder neun Stunden guten Schlaf verbunden mit Schweißaus- bruch gehabt haben soll. Diese für jeden Mediziner hochinteressante - Feststellung fand ihc in einem in Madrid erstandenen Buche eines in Zara- goza lebenden katholischen Priesters aus unseren Tagen. Wenn ein studierter Mann, und das ist doch dieser katholische Priester, im zweiten Viertel des 20. Jahrhundets etwas derartiges in den Mund zu nehmen wagt, dann kann man sich wohl vorstellen, wieviel Glauben eine solche Darstellung vor 365 Jahren gefunden haben muß.

Genug, der Infant genas, aber mit seinen „Fortschritten‘‘ und mit seiner „Vernunft‘‘ soll es nicht vorwärtsgegangen sein, so daß der König, den die Spanier von damals und von heute als ihren „Rey prudente‘‘ feierten und feiern, dem Kaiser Maximilian gegenüber Zweifel geäußert hat an der Sukzessionsfähigkeit seines Sohnes, und ihn eingeladen hat, seine des Kaisers Söhne an den spanischen Hof zu schicken, damit sie dort als eventuelle Thronfolger erzogen und im Sinne Don Philipps beeinflußt würden. Das letztere hatte seinen guten Grund, denn Kaiser Maximilian II. galt als ein halber oder verkappter Protestant. Der Prinz Don Carlos soll, als er diese Meinung seines Vaters zur Kenntnis genommen hatte, halb verzweifelt gewesen sein, muß sich, wie wir nach allen Schilderungen glauben müssen, sehr unvorsichtig über seinen Vater geäußert haben und wurde dann als eben „nicht vernünftig‘ gefangengesetzt und dadurch un- schädlich gemacht. Sein Tod war nur die natürliche Konsequenz.

Der wirkliche Don Carlos. 225

Was lag hier vor?

Daß der Prinz, als er von seiner N Schädelerkrankung genesen war, nicht im landläufigen Sinne „unvernünftig‘‘ gewesen ist, beweisen die Berichte der Gesandten, die ihm als Rekonvaleszenten ihre Aufwartung gemacht haben (siehe u. a. Bericht des venezianischen Gesandten an die Signoria). Auch daß die lateinischen Kenntnisse des Prinzen nicht so glänzend gewesen sind, wie seine Erzieher es ge- wünscht haben mögen, kann unmöglich eine Rolle gespielt haben. Wenn ein paar Liebesaffären des Infanten dem königlichen Vater Anlaß zu Mißstimmungen gegeben hätten, so hätte es ja gerade nahe- gelegen die Heirat des Kronprinzen mit der Erzherzogin Anna von Österreich, mit der er ja verlobt war, möglichst bald schließen zu lassen. Kaiser Maximilian II., der Schwager Philipps II., drängte ja durch seinen Gesandten, den Freiherrn von Dietrichstein unablässig auf Voll- ziehung dieser Ehe. Die Gründe, warum der König gegen seinen damals einzigen Sohn eingenommen war, müssen vielmehr ganz anderer Natur gewesen sein. Der Infant war bis zu seinem 14. Lebensjahre der milden, vielleicht allzu milden Erziehung durch seine Tanten überantwortet geblieben und gewisse Charaktereigentümlichkeiten: Stolz, ungebän- digte Leidenschaftlichkeit, mögen sich bei ihm stärker ausgebildet haben als an sich günstig war. Der tätliche Angriff auf den ihm ver- haßten Herzog von Alba mit dem Dolche in der Hand spricht dafür. Natürlich hat der starke Herzog den schwächlichen Infanten mühelos entwaffnet. Aber es scheint sich in anderer Weise gezeigt zu haben, daß die Seele des Infanten sich anders entwickelt hatte, als dem kö- niglichen Vater bei seiner Rückkehr im Herbste 1559 lieb war. Don Carlos paßte nicht recht in das „System‘‘ Philipps II. Das System bestand in der rücksichtslosen Bekämpfung der Andersgläubigen und besonders der Ketzer, i.e. der Protestanten oder solcher Personen, die auch nur in den Verdacht kamen diesen nahe zu stehen. Wenn es auch äusgeschlossen erscheint, daß Don Carlos mit dem als Gesandter der niederländischen Stände in Madrid erschienenen Lamoral Grafen von Egmont etwa konspiriert hätte, was schon aus dem Grund un- möglich ist, als jeder Schritt des Grafen von hundert Spionen bewacht war, so war schon der Anspruch, den der Prinz für den Fall seiner Ver- heiratung mit der Erzherzogin Anna von Österreich an seinen Vater hätte stellen können, daß er nämlich als Regent im Namen seines Va- ters in den Niederlanden zu amtieren und hofzuhalten verlangt hätte, dem König Philipp unbequem genug. Es scheint eben, daß Don Carlos nicht in dem Sinne „vernünftig‘‘ war, in dem die Spanier dem König

Zeitschrift für Psychiatrie LXXXIX. 15

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Philipp den Beinamen ,,el Rey prudente“ gegeben haben. Denn die Klugheit des Königs bestand im wesentlichen in der starren Verfech- tung des Glaubensprinzips, wozu ja die spanische Inquisition ein nur allzu brauchbares Instrument war. |

Die spanische Inquisition, wohl bemerkt: die neue Inquisition, im Gegensatz zur alten, welche schon die französischen Könige gegen die Waldenser und Albigenser hatten ausüben lassen, war einige Jahre vor Luthers Geburt von den katholischen Königen Ferdinand und Isabella um das Jahr 1480/82 dem Papste in dem Sinne abgerungen worden, daß die Andersgläubigen (Moriscos und Juden, aber auch die getauften „‚Marranos‘‘ genannten Juden) in den neu eroberten König- reichen Granada, Malaga usw. rücksichtslos verfolgt werden konnten. Der damalige Papst hatte sich ziemlich stark dagegen gewehrt, die „katholischen Könige“ aber hatten die Bewilligung der Inquisition einfach erzwungen, wobei dem Papste eine „Los von Rom-Bewegung“ _ drohte, wenn er sich nicht gefügig gezeigt hätte. Die ungeheure Macht, welche die spanischen Könige mit der Inquisition in ihrem Königreiche in den Händen hielten, wurde nach dem Tode der katholischen Könige von Karl V. in relativ milder, von Philipp II. in der schärfsten Weise gebraucht. Ganz Spanien war in Inquisitionsbezirke geteilt, auf eine einfache Anzeige hin konnte jeder, ob er hoch oder niedrig stand, verhaftet und in die ,,Carceles secretos“ der Inquisition überführt und dort monatelang verhört und auch torturiert werden. Je nachdem Geständnisse erzielt oder Beweise der Schuld erbracht wurden, er- folgte dann die Relaxation der Angeklagten, d. i. die Freigabe an das weltliche Gericht, ein sehr euphemistischer Ausdruck, der weiter nichts bedeutet, als daß das weltliche Gericht den vom geistlichen Gericht Freigegebenen nun entweder lebendig durch Verbrennen oder durch Garrottieren zu töten und danach zu verbrennen hatte. Das weltliche Gericht hatte nicht etwa freie Hand, vielmehr sorgte das Santo oficio sehr genau dafür, daß kein Opfer entrann. Auch mildere Strafen, z. B. hundert Stockhiebe, wurden ausgeteilt, was übrigens ebenfalls eine modifizierte Todesstrafe bedeutet. Oder aber die Inquisiten wurden zu lebenslänglicher Haft begnadigt, was auch in der milderen Form zur Ausführung kam, daß die Verurteilten mit dem San Benito, dem Schandkleid, umhüllt wurden, aber damit sie der Inquisition nicht als Kostgänger zur Last fielen, ohne den San Benito, d. h. in bürgerlicher ‚Kleidung in die Stadt, wo sie nun einmal waren, gehen und sich den täglichen Unterhalt wahrscheinlich kümmerlich genug verdienen konnten. Die Güter der Verurteilten wurden eingezogen zu gunsten

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des Staates und der Inquisition. Die Torturierung erfolgte in einer äußerst raffinierten, durch den Professor Ernst Schäfer in seinem be- rühmten Buche über die „Geschichte des spanischen Protestantismus und der Inquisition im 16. Jahrhundert“ genau geschilderten Weise. Daß die spanische Inquisition auch vor den höchstgestellten Persön- lichkeiten und den höchsten Würdenträgern des Landes nicht Halt machte, beweist die Verhaftung und in Anklagezustandversetzung des Erzbischofs Caranza, des Primas von Spanien, welcher 16 Jahre lang im Anklagezustand war. Anlaß für eine Anzeige boten schon irgend- welche Schwätzereien, welche harmlose Nonnen über irgendwelche kirchliche Institutionen gemacht hatten, so z. B. wenn Zweifel über die Existenz des Fegefeuers geäußert wurden. Selbstverständlich war das Einführen von ketzerischen Schriften, besonders von solchen des schrecklichen Häretikers Luther, von den schwersten Strafen bedroht. Auch nur das Begünstigen von Protestanten war strafbar. So wurden in Almeria zwei Franzosen verurteilt, welche einige protestantische, auf einem in den Hafen von Almeria eingelaufenen Fahrzeuge befind- liche Matrosen gewarnt hatten, spanischen Boden zu betreten. Diese protestantischen Matrosen wären selbstverständlich, sobald sie an Land gekommen wären, der ‚Inquisition zum Opfer gefallen, und dies verhindert zu haben war ein Verbrechen, welches gesühnt werden mußte.

Eine ganz ähnliche Sache aber hatte niemand geringeres als die Königin von Spanien getan, nämlich Isabel de Valois, die dritte Ge- mahlin Philipps IL, welche, nachdem sie durch einen französischen Diener erfahren hatte, daß der Herzog von Alba die souveräne Kö- nigin des Nachbarreiches Navarra Johanna d’Albret, eine Protestantin mit ihrem Sohne, durch die Familiares der Inquisition ausheben und vor das Inquisitionsgericht bringen lassen wollte, die dem französischen Hofe verwandte und befreundete Königin gewarnt hatte. Den An- schlag des Herzogs von Alba vereitelt zu haben, war zweifellos ein schweres Vergehen in den Augen des Generalinquisitors, sodaß zum mindesten die Möglichkeit offengehalten werden muß, daß auch Isabel de Valois auf irgendwelche Weise beseitigt worden ist.

Bei dem. Infanten Don Carlos aber lagen die Dinge noch ganz anders. Dieser hat sich zweifellos in äußerst unvorsichtiger Weise über seinen königlichen Vater ausgesprochen, hat Leuten, die es diesem sofort rapportierten, von seinem Haß gegen Philipp II. ge- sprochen und hat letzten Endes seinem Onkel Don Juan d’Austria, dem Bastardsohne Karls V., den Plan enthüllt, daß er heimlich aus

15*

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dem spanischen Königreiche entfliehen und sich nach den Niederlanden begeben wollte. Selbstverständlich spielte der Held von Lepanto den Verräter und offenbarte dem König das Geheimnis seines Sohnes. Das schlug dem Faß den Boden aus, die Gefangensetzung des Don Carlos erfolgte zu nächtlicher Stunde, und nach einigen Monaten der Gefangenschaft, etwa drei Wochen nachdem die Häupter der Grafen Hoorne und Egmont in Brüssel auf dem Schafott gefallen waren, starb der Prinz in seinem Gefängnis angeblich infolge seiner Diät- fehler, wohl bemerkt, nachdem er gebeichtet und alle seine Sünden bereut und seinen letzten Willen aufgesetzt hatte genau wie der Baron Montigny, dem man auch noch Zeit gelassen hatte ein Testa- ment zu machen und der Rest ist Schweigen.

Es fragt sich nun, inwieweit es möglich ist, auf Grund der Aus- streuungen des spanischen Hofes von damals, nämlich Philipps II. und seiner Großwürdenträger, sämtlich natürlich geschworene Feinde des Prinzen, über die angebliche geistige Erkrankung und über die Todesart des Don Carlos ein Urteil zu gewinnen. Was die letztere an- langt, so stellt der Historiker Viktor Bibl das allerdings sehr kühne Postulat auf, die Leiche des Don Carlos sollte exhumiert werden, damit man sehen könne, ob der Prinz im Gefängnis enthauptet worden sei. Ganz abgesehen davon, daß dies bei der heutigen Stimmung in Spanien, wo man das Zeitalter Philipps II. als das „Siglo de oro‘ der spanischen Geschichte betrachtet, ein völlig unmögliches Begehren darstellt, würde es ja auch gar nichts bedeuten, wenn der Kopf des Prinzen in seinem Sarge genau an der vorschriftsmäßigen Stelle sich befände Gift und Strangulation hinterlassen keine Spuren am Knochengerüst eines vor 360 Jahren Gestorbenen oder Getöteten, Es ist selbstverständlich, daß selbst wenn man es gewollt hätte, man den Kronprinzen von Spanien weder decapitieren noch garrottieren hätte lassen können.

Einem sehr bedeutenden offenkundigen Schwachsinn des Prinzen widersprechen auf das entschiedenste die Gesandtenberichte, hingegen muß selbstverständlich seine ungeheuer schwere hereditäre Bela- stung ohne weiteres zugegeben werden, welche sich aus der nachfolgen- den von Dr. Stephan Kekule von Stradonitz (Archiv für Bye Band 35) zusammengestellten Ahnentafel ergibt:

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Die 16 Ahnen des Infanten Don Carlos:

Kaiser Karl V., Philipp der Schöne von Kaiser Maximilian L.,

t1558 Österreich, t1506 11519 Johanna die Wahn- Maria von Burgund, sinnige, f 1555 T 1482 ( Ferdinand der Katholi- Y sche, T 1516 = Isabella von Castilien, 5 + 1504 Isabella von Emanuel I., König von Ferdinand Infant von Portugal ¢ 1539, Portugal, f 15214 Portugal, } 1470 Maria von Spanien, Beatrix von Portugal f 1517 Ferdinand der Katholi- sche, f 1516 = Isabella von Castilien, = + 1504 A Johann IIl., Emanuel I., König von Ferdinand Infant von 5 König von Portugal, } 1521 Portugal, f 1470 3 Portugal, Maria von Spanien, Beatrix von Portugal 11557 f 1517 Ferdinand der Katholi- 2 sche, f 1516 5 Isabella von Castilien, P t1504 Katharina von Philipp der Schöne von Kaiser Maximilian I., = Österreich, Österreich, } 1506 11519 y 71578 Johanna die Wahn- Maria von Burgund, on sinnige, 71555 T 1482 d Ferdinand der Katholi- = sche, f 1516 Isabella von Castilien + 1504.

Indem wir aber wenigstens vorlaufig die Frage des Schwachsinns des Infanten Don Carlos weiteren genaueren Untersuchungen tiberlassen müssen, gelangen wir nunmehr zu der weiteren höchst interessanten Frage: „War denn der hereditär ebenso schwer belastete Vater, der Rey prudente, nämlich Philipp II. normal? War nicht gerade dieser Mann, von dem uns gewiß genügend auffällige Handlungen bekannt sind, geisteskrank ?‘* Diese Frage ist deshalb so ungeheuer schwer zu be- antworten, weil in jener Zeit die geschichtlichen handelnden Persön- lichkeiten derartig unter für unsere Zeit fernliegenden Einstellungen sich befanden, daß wir gewisse Handlungen individueller Einstellung oder krankhafter Anlage nicht so leicht zu scheiden vermögen (siehe die Hexenverfolgungen, die ganzen Glaubenskämpfe und auch als lo- kale Massenpsychose den Judensturm in Regensburg 1519).

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Zur Beantwortung unserer Frage diene, daß nach Ansicht der Psy- chiater Johanna die Wahnsinnige tatsächlich schwachsinnig gewesen sein muß, ebenso wie Don Sebastian von Portugal,ihr Neffe. Kaiser KarlV. gehörte, wie mir Professor Riidin, Basel-Miinchen, bestätigt, zu den Schizoiden der hyperasthetischen Couleur. Philipp II. war nach Mei- nung dieses hervorragenden Psychiaters Schizoid; Don Carlos Schizoid gepfropft auf Schwachsinn. Die letzten Habsburger Philipp III. und Philipp IV. und Karl II. scheinen bestimmt schizophren gewesen zu sein.

Nachdem es außerordentlich schwierig ist, dieser Frage näherzu- kommen, über welche, wie ich übrigens bemerke, an hervorragendster psychiatrischer Stelle, nämlich in der historischen Abteilung des For- schungsinstituts für Psychiatrie in München, intensiv gearbeitet wird, habe ich mich entschlossen, zu einer Arbeitshypothese meine Zuflucht zu nehmen. Die Arbeitshypothese lautet: „Don Philipp II. von Spanien war nicht nur schizoid, sondern schizo- phren, d.h. geisteskrank!““. Ich werde in dem Folgenden ver- suchen, aus dem Leben des Königs die Beweise zu schöpfen, welche für diese für die Erforschung der Wahrheit mir notwendig erscheinende Arbeitshypothese sprechen.

Philipp II. wurde 1527 geboren, zu einer Zeit, als sein Vater Kaiser Karl V. auf der Höhe seiner Macht, das Zeitalter der Renais- sance auf der höchsten Höhe seiner Blüte stand. Über seine erste Jugend ist mir nichts näheres bekannt. Die Eheschließung mit der schönen Infantin Maria von Portugal erfolgte etwa in seinem 16, Le- bensjahre, die Geburt seines Sohnes Don Carlos, als er 18 Jahre alt war. Nach Bumkes Lehrbuch der Geisteskrankheiten, Verlag von Bergmann 1924, pflegen bei Schizophrenen die erstmaligen Schübe der Erkrankung in 43,5%, der Fälle zwischen dem 15. und 25. Lebens- jahre aufzutreten, nur 18,8%, zwischen 25. und 30. und 15,4%, zwischen 30. und 35. Lebensjahre. Exogene Einflüsse spielen, abgesehen von der Heredität, als pathoplastische Einflüsse in gewissem Sinne eine Rolle. Die Melancholie des Don Philipp nach dem Tode der schönen ersten Frau ist an sich physiologisch-psychologisch durchaus be- greiflich, spielt aber, was ihre Intensität und ihre Dauer anlangt, in bezug auf sein ganzes Verhalten während der nächsten 9 Jahre eine solche Rolle, daß sie sogar den Cortes, der Ständevertretung des Landes, aufgefallen ist. Dies hat den Infanten Don Philipp aber nicht ab- gehalten, geschlechtliche Beziehungen zu schönen Frauen zu unter- halten, wie die Bilder von Tizian zu beweisen scheinen, auf denen

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die eine schöne Frau völlig entkleidet dargestellt erscheint, welche. Don Philipp nahegestanden haben soll; der Orgelspieler auf dem Bilde soll das allerdings verschönerte Ebenbild Don Philipps vorstellen. Wenn das stimmt, dann hat Philipp II. jedenfalls damals noch viel ästhetisches Gefühl besessen. Später scheint es, als wenn um mit den Worten Bumkes zu reden ,,die Blüte von der Persönlichkeit abgestreift gewesen wäre“. „Auch bei guten intellektuellen Leistungen. werden so schreibt Bumke feinere ethische und ästhetische Regungen vermißt.“

Diese feineren ethischen und ästhetischen Regungen vermissen wir bei Don Philipp vollständig bei der Eheschließung mit der so viel älteren Maria der Katholischen von England, mit der er, wie der. eine spanische Autor schreibt, „un matrimonio religioso‘‘, also eine religiöse, auf die Verbrennung von Ketzern eingestellte Heirat ge- schlossen hat, welche die Politik geknüpft hat und welche durch die Unfruchtbarkeit der Königin sehr bald wieder auseinanderfiel. Bereits nach einem Jahre sah sich die Königin, welche vergeblich auf einen Leibeserben hoffte, von Don Philipp verlassen, der in den Niederlanden sich der Politik und dem Umgange mit Frauen niedrigster Kategorien widmete, wie die Königin von England durch ihre Gesandten erfahren mußte. Als Maria die Katholische im Sterben lag, bat sie ihren Gatten Philipp vergeblich, an ihr Krankenbett zu eilen, was er. unter. Vor- wänden verweigerte.

Nach dem Tode dieser seiner zweiten Gattin begann das Intriguen- spiel wegen einer Heirat mit der Königin Elisabeth. Die Spanier be- haupten, Elisabeth sei Don Philipp in der unerhörtesten Weise nach- gelaufen; die englischen Autoren behaupten, Don Philipp habe das- selbe der Königin Elisabeth gegenüber getan!). Die Heirat mit Eli- sabeth kam nicht zustande. Nach der Abdankung Kaiser Karls V. 1556 König geworden, nicht Kaiser, weil die deutschen Fürsten den Fanatiker Philipp nicht haben wollten ordnete Don Philipp die schwierigen Angelegenheiten in den Niederlanden und nahm per- sönlich an der Schlacht von Saint Quentin (1557) teil, weil es für einen König damals für anständig galt, selbst in die Schlacht zu reiten (Kaiser Maximilian, Kaiser Karl V.). Der Feigling Philipp soll sich während der Schlacht gar schrecklich gefürchtet und dem Heiligen Lorenzo den Bau eines großen Klosters gelobt haben. Diesem Gelübde

1) S. Briefe Don Philipps an seinen Gesandten in London, den Herzog von Feria. |

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verdankt der Escorial seine Entstehung. Der Escorial heißt genau:. Monasterio de San Lorenzo el Real de El Escorial. Psychische Traumen dieser Art werden (siehe E. Rubensohn: Medizinische Klinik 1927 Nr. 36, S. 1370 ff.) in der jüngsten Literatur als exogene Faktoren fiir den Ausbruch endogener Geisteskrankheiten, wie es die Schizo- phrenie ist, mit verantwortlich gemacht. Bei einem Falle von Ruben- sohn handelt es sich um einen bei einem Kosakenüberfall erlittenen. Säbelhieb am Hinterkopfe.

Als weitere pathoplastische Momente sind bei dem Fanatiker Don Philipp die schweren Rückschläge zu bewerten, welche sein Vater Kaiser Karl mit seiner Kirchenpolitik erlebt hat: der Tod der Königin: Maria der Katholischen von England und der Verlust Englands als Einflußsphäre für die Rekatholisierung, zweitens die Gefangennahme Kaiser Karls V. in Innsbruck durch den Kurfürsten Moritz von Sachsen 1552, der Vertrag von Passau und der Augsburger Religionsfrieden. Mit diesen Ereignissen, die ich nur kurz erwähne, war tatsächlich die gesamte Kirchenpolitik des Kaisers für Deutschland und England gescheitert und nur ein Land war den rücksichtslosen Glaubensver- folgungen und zwar durch den auf dem Reichstage in Regensburg 1548 geschlossenen Schutz- und Trutzvertrag ausgeliefert: der sogenannte Burgundische Kreis, d. h. die damals spanischen Nieder- lande. Don Philipp trat die Regierung in den Niederlanden bereits 1556 an, kehrte 1559 nach Spanien zurück, und hier scheint sich die pathologisch-psychologische Persönlichkeit bereits vollkommen aus- gebildet zu haben. Sie wirkte sich vor allem aus in Glaubensverfol-. gungen schlimmster Art. Nach dem Tode der schönen dritten Gemahlin Isabel de Valois und dem des Sohnes Don Carlos schließt Don Philipp, der nunmehr bereits über 40 Jahre alt ist, die vierte Ehe mit der 14jährigen Braut seines einzigen Sohnes, der Erzherzogin Anna von Österreich. Die spätere Lebenszeit des Königs ist ausgefüllt von poli- tischen Mißerfolgen, die auf eine Gefühlssteifheit, um den psychia- trischen Ausdruck Bleulers zu gebrauchen, hinweisen könnten (Krieg mit England und den Niederlanden, Verlust der Armada usw.), und unter schwersten Depressionen und immer größerer Entfernung von der eigentlichen Welt geht der König im 72. Lebensjahre zugrunde. Nicht verschwiegen werden darf, daß auch er, wie die anderen Könige von Spanien, stark an der Gicht +) gelitten hat. Ebenso wie er sich geweigert hat, an das Kranken- und Sterbebett seiner zweiten Ge-

1) Der echten oder der deformierenden.

Der wirkliche Don Carlos. 233

mahlin nach England zu eilen, hat er sich auch geweigert, der Bitte seines Sohnes Don Carlos zu entsprechen, der ihn sterbend um ein Wiedersehen, um Abschied und Verzeihung bat.

Ich bin mir vollkommen bewußt, daß das, was ich hier entwickelt habe, nicht als ein endgültiger Beweis für die geistige Erkrankung des Königs in dem von mir angedeuteten Sinne gewertet werden kann. Bei der Schwierigkeit aller solcher Untersuchungen aber nach so langer Zeit glaube ich auf Grund der Geschichte und der Porträts einen so hohen Grad von Wahrscheinlichkeit für meine Annahme in Anspruch nehmen zu dürfen, daß ich, solange eine andere Auffassung nicht wahrscheinlich gemacht wird, dieselbe als wohl zu Recht bestehend betrachten darf.

Ich berufe mich ausdrücklich bei meinem Vorgehen auf das Buch von Ernst Kretschmer: Körperbau und Charakter, 5. u. 6. Auflage (Verlag von Julius Springer, Berlin, 1926), welcher Seite 128 schreibt:

„Die Blüte schizophrenen Innenlebens kann man nicht an Bauern studieren; Könige und Dichter sind gerade gut genug dazu!‘ ,,Es gibt schizoide Menschen, mit ihnen können wir zehn Jahre zusammen- leben und dürfen nicht sicher sagen, daß wir sie kennen. Das Insich- hineinleben, Autismus, wie es Bleuler nennt, ist ihr Kennzeichen. Man kann nicht wissen, was sie fühlen; manchmal wissen sie es selber nicht. Was sie aber fühlen, ob es eine Banalität, eine Schrulle, eine Gemeinheit oder ein Märchenschatz ist, das ist für niemand als für sie allein. Wir können im schizophrenen Formenkreis noch weniger als im zirkulären das Gesunde vom Kranken, das Charakterologische vom Psychotischen trennen. Zirkuläre Psychosen verlaufen in Wellen, schizophrene in Schüben. Es verschiebt sich etwas in der inneren Struktur. Der ganze Aufbau kann in sich zusammenstürzen oder es kann nur ein paar schiefe Linien geben. Aber in den meisten Fällen bleibt etwas, was sich nicht mehr zurückbildet. In den leichten Fällen nennen wir es eine postpsychotische Persönlichkeit, in den schweren eine schizophrene Verblödung; zwischen beiden ist keine Grenze und wir wissen nicht einmal, ob die Psychose abgelaufen ist. Leute, die jahrzehntelang ihren Beruf als etwas originelle und unfreundliche Persönlichkeiten versehen haben, können uns zufällig eines Tages entdecken, daß sie die meiste Zeit phantastische Wahnideen in sich tragen auch hier keine Grenze. Zudem: was ist noch persönliche Verschrobenheit und was ist Wahnsystem? Die Schizophrenie fällt vorzugsweise in die Pubertät. Verändert sich nun in dieser Zeit so ein Mensch etwas stark: Sollen wir ihn dann als postpsychotische

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Persönlichkeit oder als einen nie erkrankten Schizoiden bezeichnen ? Wir können das Präpsychotische, das Psychotische, das Postpsycho- tische und das Nichtpsychotische nur Schizoide nicht psychologisch auseinanderreißen. Nur wenn wir alles ineinander sehen, bekommen wir das richtige Bild. Dazu kommt die methodische Schwierigkeit, daß der schizoide Mensch ebenso wie der schizophrene Geisteskranke immer nur seine psychische Oberfläche zeigt. Bleuler hat den Schlüssel zum schizophrenen Innenleben gefunden und damit den Zugang zu er- staunlichen Reichtümern psychologischer Erkenntnis freigemacht. Hier gibt es keine große Statistik, keine serienweise Exploration ungebildeter Angehöriger; nur durch fein einfühlende psychologische Einzelanalyse kann die Tiefe der Charakterologie erschlossen werden!“

Bilder.

Zur Illustration meiner Studie-benutzte ich die Porträts des spani- schen Herrscherhauses von den katholischen Königen bis zu Don Carlos, von denen leider nur sechs auf Tafel 1 abgebildet werden konnten.

1. Ferdinand der Katholische. | 2. Isabella die Katholische, von J. m (Galeria de San Telmo Sevilla). |

. Juana la Loca, (Bild 1.)

. Kaiser Karl V., von Tizian. (Bild 2.)

. Don Philipp als Infant, von Tizian. (Bild 3.)

. Don Philipp, im spanischen Kostüm mit Pelz (von einem mir unbekannten Meister), Pelzmützenhaar, der verlän- gerte Unterkiefer, verlängerte Eiform des. Gesichts. (Bild 4.)

. Don Philipp, einem Autodefé beiwohnend von D. Valdivieso.

. Isabel de Valois von J. Pantoja de la Cruz.

. Don Philipp (alt), eine Deputation aus den Niederlanden

| empfangend von Sant. Arcos (Escorial).

10, Bildnis des Infanten Don Carlos von Coello (Wiener Kai-

. serl. Gemäldegalerie).

11. Bildnis des Infanten Don Carlos von Goello (Museo del Prado Madrid). (Bild 6.)

` 12. Bildnis des Infanten Don Carlos Kaiserl. Gemäldegalerie Wien (Depot). (Bild 5.)

13. Bildnis eines an Schizophrenie erkrankten Insassen der Tü- binger Psychiatrischen Klinik (aus E. Kretschmer: Körperbau und Charakter, Berlin 1926), welches dem letztgenannten Bilde des Don Carlos wie aus den Augen geschnitten ist.

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Allgem, Zeitschrift fiir Psychiatrie Band LXXXIX Tafel 1

Zu „Strubel, Der wirkliche Don Carlos‘, Verlag von Walter de Gruyter & Co., Berlin W 10

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Für die Zwecke dieser Studie habe ich mich in Spanien direkt mit relativ groBem Gliicke informiert und nach meiner Riickkehr eine große Literatur durchgesehen. Als Berater für Einzelfragen der kom- plizierten Studien standen mir zur Seite eine Reihe namhafter Ge- lehrter: Historiker, Kunsthistoriker, Psychiater, Theologen. Se. Exz. der Wirkl. Geheime Rat Professor Dr. A. v. Harnack-Berlin hatte die - Güte, mir einige kurze, aber inhaltschwere Zeilen in der Sache zu senden. Die Deutsche Botschaft in Madrid und das ihr unterstehende ‚Centro de intercambio intelectual germano-espaniol, Leiter Herr Privat- dozent Dr. Moldenhauer, die Direktoren der Staatlichen Gemälde- sammlungen in Dresden, München und Madrid: die Herren Direktor Posse, Professor Mayer, Dr. Sanchez-Canton, zwei Historiker: die Herren Professor Benno Hilliger von der Universitätsbibliothek in Leipzig und Professor Schäfer, der Verfasser des berühmten Werkes über die spanische Inquisition, jetzt Delegado in Sevilla, zwei Psy- chiater: die Herren Professor Max Lowy, Prag-Marienbad und Pro- fessor Rüdin, Basel-München, der Direktor des Goethe- und Schiller- Archivs in Weimar: Herr Professor Wahle und Se. Magnifizenz der Rektor der Technischen Hochschule in Dresden: Herr Geheimrat Brucks, haben mir freundlichst Ratschläge erteilt, wofür ich ihnen allen auch hierdurch meinen ergebensten Dank ausspreche.

Kleinere Mitteilungen.

Deutsche Forschungsanstalt für Psychiatrie. Wir Anstalts- arzte miissen an der weiteren Entwicklung des deutschen Forschungs- instituts für Psychiatrie in München auch deshalb ein besonders großes Interesse haben, weil die Idee dieser Gründung seinerzeit von einem An- staltsdirektor: Geheimrat Siemens ausgegangen ist. Am 13. Juni 1924 wurde nun des Neubau der deutschen Forschungsanstalt, deren Errichtung vor allem der Umsicht und Energie Kraepelins zu verdanken ist, eingeweiht. Hierbei wurde der tatkräftigen Förderer: Krupp von Bohlen und Halbach, Dr. James Loeb sowie der Kaiser Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften und der Rockefeller-Foundation dankbar gedacht. Haben es doch diese bewirkt, daß neben dem Krankenhause München-Schwa- bing ein prachtvoller Bau entstanden ist, in dem die wissenschaftlichen Arbeiten nunmehr betrieben werden. Ein Neubau für eine psychiatrische Krankenabteilung ist im Werke; einstweilen führt Johannes Lange eine im Krankenhaus München-Schwabing untergebrachte klinische Abteilung. Im Betrieb befinden sich die genealogisch-demographische Abteilung Rüdins, die serologische und experimentell-therapeutische Abteilung Plauts, die Abteilung für Spirochätenforschung Jahnels, die histopatho- logische Abteilung Spielmeyers, die psychologische Abteilung Grafs. Eine chemische Abteilung wird eingerichtet werden. Hörsaal, klinisches Ar- chiv, Bibliothek, psychologische und photographische Laboratorien sind vorhanden. Am Eingang ist die von I. v. Twardowsky geschaffene, ein- drucksvolle Büste Kraepelins aufgestellt.

Bei der Einweihungsfeier sprach der Präsident der Kaiser-Wilhelm- Gesellschaft Adolf von Harnack den Wunsch aus, daß die Forschungs- anstalt stets im Sinne Kraepelins Forschung treiben möge. Professor Spielmeyer gedachte der Rockefeller-Foundation, Oberbürgermeister Scharnagel rühmte die Zusammenarbeit von Stiftern, Reich, Ländern und Stadt, die die Anstalt zum Wohle der leidenden Menschheit ge- schaffen habe. Der Vorsitzende des Stiftungsrats Staatsrat Dr. Haupt- mann berichtete über die Geschichte der Anstalt, Professor Plaut über die Ziele, die Kraepelin vorschwebten. Im Namen der Stifter sprach über deren Motive und Forderungen Krupp von Bohlen und Halbach. An- sprachen wurden noch gehalten von Kultusminister Goldenberger, von Geheimrat Prof. Borst, dem Vertreter der Münchener Fakultät, von Geheimrat Prof. Bumke im Namen des Deutschen Vereins für Psychiatrie und des Vereins bayrischer Psychiater sowie von Professor Markus-

Kieinere Mitteilungen. 237

Stockholm und Professor Bouman-Utrecht. Zum Schluß überreichte Profes- sor Spielmeyer die neu gestiftete goldene Kraepelin-Medaille fir wirk- lich überragende Leistungen auf dem Gebiet der Psychiatrie zum ersten Male Herrn Professor O. Vogt-Berlin für seine gemeinsam mit seiner Frau angestellten wertvollen Forschungen über die architektonische Gliederung der Großhirnrinde.

Den interessierten Anstaltsärzten stehen Arbeitsplätze zur Verfügung, da verschiedene Länder und Provinzen Deutschlands die Miete für solche Arbeitsplätze zahlen, so daß der einzelne keine Unkosten hat.

Die Kriminalbiologische Gesellschaft hält am 1., 2. und 3. Oktober d. J. eine Versammlung in Dresden ab, bei welcher Professor Gruhle-Heidelberg über Wesen und Systematik des biologischen Typs, Prof. Mezger-Marburg über die Bedeutung der biologischen Persönlich- keit für die Strafrechtspflege und Strafanstaltsdirektor Dr. Weißenrieder- Ludwigsburg über Typen im Strafvollzug Referate halten werden. Außer- ` dem sind Vorträge angemeldet von Prof. Carrara-Turin, Ministerialrat Dr. Starke-Dresden, Landgerichtsdirektor Helwig-Berlin, Privatdozent Luxenburger-Basel, Professor Fetscher-Dresden, Gefangenenanstalts-Ober- direktor Grohmann-Zwickau, Professor Kraßnuschkin-Moskau, Professor Michel-Graz und Amtsgerichtsrat Dr. Eichler-Dresden.

Lokalkomitee Professor Fetscher-Dresden, Landgerichtsgebäude am Münchener Platz, Zimmer 156. Teilnehmergebühr 5 M. bzw. 8 M., für die Damen der Teilnehmer 4 M.; allerlei gesellschaftliche Veranstaltun- gen sind vorgesehen.

Der Dekan der Wiener medizinischen Fakultät veröffentlicht das Programm eines internationalen Fortbildungskurses, der vom 24. September bis 6. Oktober 1928 stattfinden wird. Professor Stransky wird über Behandlung der Nervenschmerzen (Ischias usw.), Professor Raimann über Psychotherapie, Professor Marburg über Schlafstörungen und ihre Behandlung, Dozent Gerstmann über Metaluesbehandlung in der Praxis sprechen, in der Klinik Professor Wagner-Jauregg werden Demonstrationen abgehalten werden. Vom 8. bis 20. Oktober wird in einem Gruppenkurs an der Wiener allgemeinen Poliklinik mit De- monstrationen und Übungen u.a. Dozent Dr. Spiegel über Neuropatho- logie vortragen. Anmeldungen an Dr. A. Kronfeld, Wien IX, Porzellan-

gasse 22.

Die Versammlung der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte wird vom 16. bis 22. September 1928 in Hamburg tagen. Die Einführenden der Abteilung für Neurologie und Psychiatrie sind Professor Dr. Weygandt-Hamburg, Friedrichstraße 60 und Dr. Trömner.

Die Gesellschaft Deutscher Nervenärzte wird vom 13. bis 15. September 1928 in Hamburg tagen. Berichtsthemen : I. Das vegetative

238 Kleinere Mitteilungen.

Nervensystem: Brduckner-Hamburg, Schilj-Berlin, J. Karplus-Wien, E. P. Pick-Wien, Frank-Breslau. II. Die somatische Symptomatologie der Organneurosen: Curschmann-Rostock.

In Kirchhoffs: Deutsche Irrenärzte ist seinerzeit eine Biographie Heinrich Hoffmanns, der 1809 geboren, von 1851 bis 1888 die Frankfurter Irrenanstalt leitete, erschienen. H.s Enkel Eduard A. Hessenberg hat nun unter dem Titel: Struwwelpeter-Hoffmann, die Lebenserinnerun- gen Heinrich Hoffmanns im Verlag von Englost und Schlosser (Frankfurt) ein Buch herausgegeben, das für die Geschichte des Irren- wesens und für die Charakteristik dieses liebenswürdigen, bescheidenen Menschen und großen Menschenkenners, der verschiedene wissenschaft- liche Arbeiten verfaßt und die berühmte Frankfurter Irrenanstalt geplant und eingerichtet hat, von größtem Interesse ist. Das Buch bringt allerlei über H.s Familiengeschichte, es verarbeitet manche wertvollen geschicht- lichen Momente, es gewährt einen Überblick über das gesamte Leben H.s und bringt Schilderungen über das wissenschaftliche und künstlerische Leben Frankfurts im 19. Jahrhundert.

Zur Weihnachtszeit hatte H. einmal keine Kinderbücher gefunden, wie er sie für die Erziehung seiner eigenen Kinder und seiner kleinen Patienten in der Praxis benötigte. Er zeichnete, malte und dichtete daher selbst in einer der kindlichen Auffassungskraft entsprechenden, einfachen, anschaulichen und drastischen Form, wie ein Bub oder ein Mädel durch Untugenden in Gefahr kommen kann. Die Zeichnungen und Gedichte waren lediglich als Weihnachtsgabe für die eigene Familie bestimmt, ein- zelne Bilder entstanden am Krankenbett unruhiger Kinder, die er durch seine Zeichnungen beruhigte und ablenkte, so daß sie sich von ihm unter- suchen ließen. Erst auf dringendes Bitten von Freunden wurden die Blätter gedruckt; sie erschienen 1845 unter dem Titel: Der Struwwelpeter im Verlag von Rütten und Löning und hatten einen ungeahnten buch- händlerischen Riesenerfolg; ich habe die 565. Auflage in Händen ! Über- setzung in viele Sprachen und Verbreitung in alle Erdteile fand statt.

H. hat noch ähnliche Schriften verfaßt: „König Nußknacker“, „Im Himmel und auf der Erde“, „Bastian der Faulpelz‘“, „Prinz Grünewald und Perlenfein‘“; aus seinem Nachlaß wurde „Der Besuch bei Frau Sonne“ herausgegeben.

Die Lebenserinnerungen enthalten auch ein amüsantes Beispiel der humorsprudelnden Tafelreden H. Hoffmanns. Der greise Psychiater hat endlich in ungemein anziehender Weise über seinen Verkehr mit berühmten Persönlichkeiten, mit denen er in seinem langen, arbeitsreichen Leben in Berührung gekommen ist z. B. mit Kaiser Wilhelm I. —, berichtet und über allerlei Fragen von Kunst, Wissenschaft und psychiatrischer Anstalts- praxis. Mehrere ausgezeichnete Bilder ich habe H. noch gesehen, er ist 1894 gestorben zeigen H.s sympathische Züge; einige noch nicht veröffentlichte Zeichnungen H.s sind beigefügt. Das sinnige Werk wird manchem Fachgenossen eine angenehme Lektüre in stillen Stunden bereiten. G. Ilberg.

Kleinere Mitteilungen. 239

_ In Charkow ist ein ukrainisches psychoneurologisches Staats: institut seit 1922 in Tatigkeit. Das Institut steht unter der Direktion von Prof. A. Heymanowitsch und umfaßt folgende 5 Gruppen: 1. morpho- logische Gruppe (topographische Anatomie, Anthropologie, Histologie, pathologische Anatomie nebst histopathologischem Kabinett; 2. Gruppe fiir experimentelle Biologie (experimentelle und operative Neurochirurgie, allgemeine und pathologische Physiologie, Laboratorium fiir Elektro- physiologie, Abteilung fir Gehirnforschung und Sektion zum Studium der Blutgruppierungen); 3. Gruppe für Forschungen über die Persönlichkeit (Psychophysiologie mit experimenteller Phonetik und der Lehre von den Reaktionen des Menschen, Psychoneurologie des Kindesalters) ; 4. klinisch- therapeutische Gruppe (Nervenklinik, diagnostisch-klinische Abteilung, klinische Abteilung für Psychoneurologie des Kindesalters, Institut für Physiotherapie); 5. Gruppe für soziale Psychoneurologie (Dispensaire mit Abteilungen fiir Neuropsychiatrie, Pädologie, Psychotherapie, Pathologie der Sprache, Arbeitsuntersuchung; spezielle psychologische Kabinette und Kabinette fiir Narkomanie und Alkoholismus, kriminologische Sektion mit spezieller Anstellung von Massenuntersuchungen außerhalb des In- stituts).

Die diesjährige Tagung der Vereinigung mitteldeutscher Psychiater und Neurologen findet Sonntag den 4. November 1928 in Halle (Hörsaal der Psychiatrischen Klinik) statt.

Personalnachrichten.

Verstorben:

Obermedizinalrat Dr. Adolf Herfeld-München, früher Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Ansbach,

Geheimer Medizinalrat Dr. Mercklin-Treptow a.d. Rega.

Versetzt wurden:

Anstaltsdirektor Obermedizinalrat Prof. Dr. Nitsche von der Heil- und Pflegeanstalt Dösen bei Leipzig nach Sonnenstein b. Pirna, Obermedizinalrat Dr. Wendt von der Heil- und Pflegeanstalt für Epilepti-

sche zu Hochweitzschen nach Dösen bei Leipzig, Med.-Rat. Dr. Flemming von Leubus nach Lüben.

Ernannt wurden:

Obermedizinalrat Dr. Stemmler-Arnsdorf i. S. zum Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Hochweitzschen,

Medizinalrat Dr. Sagel zum stellvertretenden Direktor in Arnsdorf.

Provinzialmedizinalrat Dr. Kunze zum Direktor der Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Lüben,

Oberarzt Dr. Enge zum Direktor der Heilanstalt Strecknitz,

240 Kleinere Mitteilungen.

Oberarzt Dr. Beyerhaus-Bedburg-Hau zum Direktor der Anstalt Galk- hausen,

Med.-Rat Dr. Konietzny zum stellvertretenden Direktor in Liiben,

Med.-Rat Dr. Dodillet zum stellvertretenden Direktor in Freiburg,

Dr. Raether-Bonn zum stellvertretenden Direktor in Bedburg-Hau, '

Geheimrat Prof. Dr. Bumke zum Rector magnificus der Universität München für das Studienjahr 1928/29,

Privatdozent Dr. Spatz zum Oberarzt der Psychiatrischen Klinik München,

Geheimer Medizinalrat Dr. Max Fischer-Berlin zum korrespondierenden Mitglied des Vereins für Psychiatrie und Neurologie in Wien.

Berufen wurden:

Sanitätsrat Dr. Hinrichs-Neustadt zum Direktor der Provinziallandes- heilanstalt,

Privatdozent Dr. Schaltenbrand-Hamburg für 2 Jahre als Lehrer für Neurologie und Psychiatrie an das Peking Union Medical College.

Gewählt wurden:

Privatdozent Dr. Strecker-Würzburg zum korrespondierenden Mitglied der Medizinisch-psychologischen Gesellschaft von Großbritannien und Irland,

Prof. Dr. Wagner v. Jauregg-Wien, Prof. Dr. Mingazzini-Rom und Prof. Dr. Moreira in Buenos-Aires vom ärztlichen Verein München zu Ehrenmitgliedern,

Prof. Dr. Aschaffenburg von der Gesellschaft für Psychiatrie und Nerven- krankheiten in Wien zum Ehrenmitglied.

Es habilitierten sich:

Dr. Alfred Storch in Gießen für Psychiatrie, Dr. Hans Luzenburger in Basel für Psychiatrie und psychiatrische Erbbiologie und Dr. Rudolf Neustadt-Düsseldorf für Psychiatrie und Neurologie.

Professor Bleuler-Zürich wurde zum Ehrenmitglied des Deutschen Vereins für Psychiatrie ernannt. Den 70. Geburtstag feierte Geheimer Sanitätsrat Dr. Benda-Berlin.

a4!

Hypnose im PAE TOr TANTON,

Von Dr. Erich Blum-Süchteln (Rhld. )-Johannistal.

Bevor auf die Bedeutung der Hypnose vor Gericht und damit auch im Strafverfahren eingegangen wird, dürfte es angebracht er- scheinen, kurz auf den Begriff der Hypnose einzugehen. Die in früheren Jahren sehr. verschiedenen Ansichten über die Hypnose sind heute wohl beseitigt, und allenthalben nimmt man unter. Hypnose einen schlafartigen Zustand an, der in allen Fällen eine Bewußtseinsstörung ganz verschiedenen Grades und verschiedener Quälität mit sich bringt. In diesem Zustand kann der die Hypnose Ausführende dem hypnoti- sierten Menschen Dinge einreden, die von diesem in nicht seltenen Fällen ohne jeden eigenen Willen ausgeführt werden. Es gibt na- türlich auch Suggestionen, die erst nach dem Erwachen in Tätigkeit zu treten brauchen im Gegensatz zu denen, die. bereits in, d. h. wäh- rend der Hypnose, zur Wirkung gelangen, ja die Suggestionen können sogar bis in den wachen Zustand hinein anhalten, wie es auch Wach- suggestionen gibt, die einen hypnotischen Zustand gar nicht verlangen. Bezüglich dieser Wachsuggestionen ist die heute in der Wissenschaft allgemeine Ansicht die, daß jede unter dem. vorherrschenden Einfluß eines anderen ausgeführte Tätigkeit bzw. Handlung als eine solche aufzufassen ist. Es sei da nur an die seit Jahren bekannte psychische Therapie erinnert, in der die Wachsuggestionen eine ganz erhebliche Rolle spielen.

Es dürfte zu weit gehen, diese Wachsuggestionen mit den Sug- gestionen in Hypnose schon allein in forensischer Bedeutung auf eine Stufe zu stellen; zu den letzteren gehört unbedingt die Schaffung eines anormalen Zustandes im Gehirn, der unter gewissen Bedingungen für den Betreffenden von Übel sein kann. Eine Aufnahme der Sug- gestion ist erst möglich, wenn das Gehirn durch die Hypnose genügend vorbereitet ist.

Betreffs des Gelingens einer Hypnose sind stets zwei Faktoren

Zeitschrift für Psychiatrie. LXXXIX. 16

242 Blum,

notwendig, und zwar die Eignung des zu Hypnotisierenden und die Eignung bzw. die Geschicklichkeit des Hypnotiseurs. Es bedarf gar keiner Frage, daß ein geschickter Hypnotiseur in der Lage ist, auch einen Menschen, der zunächst Widerstand entgegensetzt, in den Schlafzustand zu versetzen. Es würde im Rahmen dieser Ausführun- gen zu weit gehen, auf die Hypnotisierbarkeit der einzelnen Menschen einzugehen, die Ansichten hierüber gehen noch weit auseinander.

Im Zusammenhang mit der Hypnose bedarf es noch, bevor auf die einzelnen Grade eingegangen wird, der Erwähnung der sogenannten Autosuggestionen, ein Zustand, in welchem der betreffende Mensch durch Gedankensammlung die Rolle des Zweiten übernimmt. Wenn neben vielen anderen Autoren Hübner 2 in forensischer Beziehung diese Autosuggestion von der eigentlichen Hypnose getrennt wissen will, so hat das ohne Zweifel seinen Grund in der Annahme, daß diese Menschen meist als hysterisch mehr oder weniger schwerer Art anzusehen sind.

Forel? hat eine zweckmäßige Einteilung der hypnotischen Zu- stände gegeben, die natürlich Übergänge zwischen den einzelnen Stadien keineswegs ausschließt. Der Somnolenz, d.h. ein Wider- streben gegen die Einredung ist bei entsprechenden Objekten noch möglich, gegenüber steht der leichte Schlaf, in dem der Hypnotisierte allen oder einem Teil der Einredungen folgt bei erhaltener Amnesie. Der dritte Grad ist der tiefe Schlaf, der durch Amnesie nach dem Erwachen einwandfrei gekennzeichnet ist.

Die gewöhnlichen Hypnosen erzielen meist einen leichten Schlaf, wodurch erreicht wird, daß der Hypnotisierte die ihm erteilten Auf- träge ohne Widerstreben ausführt in einem Schlafzustand, der sein Wahrnehmungsvermögen beeinflußt bzw. herabsetzt. Es ist schon erwähnt, daß eine Amnesie nicht besteht. Weit gefehlt, wollte man annehmen, daß in diesem Zustand nun der Hypnotisierte Alles und Jedes ausführt und man geht wohl nicht fehl in der Annahme, wenn man sagt, da das Medium meist dann restlos versagt, will man Handlungen von ihm verlangen, die gegen sein Empfinden sprechen, also Handlungen, von denen er weiß, daß sie strafbar sind oder seinem Ehrgefühl widersprechen.

Und damit komme ich nun zu der forensischen Bedeutung der Hypnose, eine Frage, die gerade in den Jahren nach dem Kriege eine sehr große Rolle gepielt hat und auch heute noch spielt. In einer sehr interessanten Arbeit von Gruhle-Heidelberg 1? wird darauf hingewiesen, daß es keine Schwierigkeiten machen könnte, die

Hypnose im Strafverfahren. 243

Griinde zu finden, die unser Zeitalter zum Geheimnisvollen und Dunkeln stets veranlaßt, ein Zustand, dem auch bereits die Rechts- pflege zu unterliegen scheint. Gruhle 1? gibt dann drei Gründe an, in denen das „Übernatürliche‘“ ins Strafrecht hineinspielt:

1. „Wunderdoktoren müssen daraufhin begutachtet werden, ob sie bewußte Betrüger sind oder nicht.

2. Verbrechen müssen aufgeklärt werden, bei deren Begehung der Täter unter natürlichem, vielleicht sogar hypnotischem oder tele- pathischem Zwange gehandelt hat.

3. Personen müssen gehört werden, die sich dem untersuchenden Richter zur Verfügung stellen, damit er sich ihrer medialen Fähig- keiten bei der Aufdeckung geheimnisvoller Verbrechen bedient.“

Im Lauf der weiteren Ausführungen werde ich auf diese Leit- sätze Gruhles noch einmal zu sprechen kommen müssen.

Auf welche Weise kann nun die Hypnose in der Rechtspflege d. h. im Strafverfahren eine Rolle spielen? Der Einteilung Cramers? folgend werden vier Arten unterschieden:

1. Es wird an der hypnotisierten Person ein Verbrechen be- gangen.

2. Die hypnotisierte Person wird zu einem Verbrechen gebracht.

3. Die Aussagen der hypnotisierten Person führen zu einer falschen ` Anschuldigung.

4. Die hypnotisierte Person wird durch die Hypnose geschädigt.

(Dieselbe Einteilung bringt v. Schrenck-Notzing ”®, einer unserer besten Kenner der Hypnose.)

Im Rahmen der Besprechung des $ 51 des Straigesetzbuches werde ich auf den Begriff der Bewußtlosigkeit im Sinne dieses Para- graphen noch zu sprechen kommen, es dürfte aber für den Sach- verständigen in den meisten Fällen sehr schwer sein, festzustellen, welche hypnotischen Erscheinungen unter die Bewußtlosigkeit im Sinne des Gesetzes fallen. Ob man bei Fehlen schlafähnlicher An- zeichen von einem suggestiven Wachzustand sprechen darf, diese Frage möchte ich vorerst offen lassen. Wenn auch Hübner ®, v. Schrenck- Notzing ”? und andere Autoren den suggestiven Wachzustand nicht als Bewußtslosigkeit aufgefaßt haben wollen, so gehen doch die An- sichten darüber noch auseinander. |

Gerade Hübner, v. Schrenck-Notzing und Loewenjeld° messen den posthypnotischen Aufträgen in forensischer Hinsicht große Be- deutung bei; interessant ist da die Definition Loewen/felds 5°, der diese bezeichnet als ‚eine derartige Formulierung der hypnotischen Ein-

16*

244 Blum,

gebung, daß deren Wirkung die Hypnose überdauert, oder die Reali- sierung überhaupt nicht im wachen Zustand eintritt!“

Zahlreiche Versuche haben gezeigt, daß posthypnotische Auf- träge immerhin möglich sind, sie gelingen aber weit seltener als die hypnotischen; die Ansicht von Oberndorfer und Steinharter ® hat unbedingt etwas Richtiges, wenn sie äußert, daß diesen Suggestionen etwas Zwangsmäßiges anhaftet. Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, daß man allgemein die posthypnotischen Erscheinungen in zwei Gruppen einteilt:

1. die kontinuierlichen, die noch nach. der Hypnose andauern.

2. die Suggestion auf Verfallszeit, was bedeutet, daß der in der Hypnose erteilte Auftrag zu einer bestimmten Zeit ausgeführt werden soll. Amnesie ist dabei wohl möglich.

Um das Verhältnis zwischen Hypnose und Rechtspflege verständ- licher zu machen, bedarf es noch der Erwähnung zweier wichtiger Tat- sachen, von denen eine schon im Anfang der Ausführungen kurz er- wähnt wurde, nämlich der, daß z. B. wiederholtes Erteilen ständig desselben Auftrages (sog. Dressur) in der Lage sein kann, langsam den Widerstand des betreffenden Individuums zu brechen, und mit- hin das hypnotische Wesen auch später solchen Aufträgen Folge leistet, wozu sie im Anfang keineswegs zu bewegen war und weiter, daß es sogenannte hysterische Menschen gibt, die in einem mehr oder weniger stark ausgebildeten Hörigkeitsverhältnis zum Hyp- notiseur durch das häufige Hypnotisieren gelangen können. Wenn nun auch die sogenannte Dressur dem Hypnotiseur das Handwerk erleichtert, so braucht doch diese nicht immer zur Ausführung aller eingegebenen Handlungen tatsächlich zu führen.

Komme ich nun zu den tatsächlichen Verbrechen, die an hypno- tisierten Personen ausgeführt werden können, so spielt da wohl die Hauptrolle der außereheliche Beischlaf ausgeführt an einer Frauens- person, die durch die Hypnose in einen willenlosen Zustand versetzt worden ist. Durch zahlreiche Fälle wird bewiesen, daß Letzteres möglich ist. Ob nun die Frauensperson durch die Hypnose in einen Zustand versetzt wird, daß sie gar nicht weiß, was mit ihr geschieht, oder ob die vorgenommene Einredung jedes Bedenken beseitigt, ist fraglich. Der Umstand, daß solche Versuche an gesunden und sitten- reinen Individuen fehlgeschlagen sind, läßt wohl einen Zustand an- nehmen, der diese nicht wissen läßt, was mit ihnen geschieht. Sieht man sich gerade bei den Fällen, wo der Beischlaf in der Hypnose aus- geführt worden ist, den Charakter der betreffenden Frauensperson

Hypnose im Strafverfahren. 245

einmal näher an, es gilt dies von den meisten veröffentlichten Fällen so kann man nicht umhin festzustellen, daß es sich um Leute handelt, die sowohl sexuell leicht erregbar waren, als auch psychische Defekte mehr oder weniger schwerer Art aufzuweisen hatten. In dem viel er- örterten Falle, Mainone der von Longard * eingehend publiziert worden ist, handelte es sich z. B. um eine Schwachsinnige; im Falle Cynskz.

um eine stark hysterische Frauensperson. ImGroßen und Ganzen sind

Sexualdelikte, wenigstens die, die zur Aburteilung kommen, nicht so häufig. Vorkastner ® hat einmal die ganzen Fälle von Sexualdelikten in der Hypnose gesammelt und konnte feststellen, daß in den ganzen Jahren nur 20 Fälle beobachtet worden sind, wobei er allerdings bemerkte, daß eben nicht alle Fälle zur Anzeige kommen.

Den Beobachtungen Hölthöfers stehen entgegen zwei Fälle, die Raecke®” beobachtet hat; es handelte sich um den sexuellen Mißbrauch zweier junger Mädchen, die leichtschwachsinnig waren, sexuell leicht erregbar, schon in früheren Jahren Neigung zu Bewußtseinsstörungen und phantastischen Erzählungen.

Wie verschieden die Frage der Begehung von Sittlichkeitsverbrechen oder von Verbrechen überhaupt in der Wissenschaft beurteilt wird, mögen die Äußerungen einiger der besten Kenner der Hypnose beleuchten.

Höpler 7 und Schilder”! halten überhaupt die Begehung eines Verbrechens gegen den Willen des Betreffenden für ausgeschlossen, ein latenter Wille sei immer vorhanden. Bezüglich der sexuellen Verbrechen stehen sie auf dem Standpunkt, daß eine Sexualbehandlung zum mindesten gewünscht, wenn nicht gar provoziert sei, sobald man sich unter Um- ständen hypnotisieren lasse, die sexuelle Vorteile ermöglichten.

Auf einem ähnlichen Standpunkt steht Fuchs, der auch die Möglichkeit der Ausführung von sexuellen und anderen Verbrechen gegen den Willen leugnet.

John*5, Kuffner? und Schilder”! kommen auf Grund von Eigen- beobachtungen zu demselben Resultat und gerade der erstere hat einen sehr instruktiven Fall beobachtet, der seine Annahme rechtfertigen könnte. Der Fall, den Kuffner einmal zu begutachten hatte, war insofern von In- teresse, als auf Grund der Äußerung Kuffners, daß keine Person gegen den Willen hypnotisiert werden könne, der Freispruch erfolgte.

Haberda™ hält Verbrechen gegen den Willen theoretisch für mög- lich, mahnt aber zur Vorsicht bei sexuellen Vergehen, dabei erinnernd an das mögliche Hörigkeitsverhältnis zwischen Hypnotiseur und dem Medium.

Auf dem gegenteiligen Standpunkt stehen die Autoren Digest und Libeault42, während Forel ähnlich Haberda einen vermittelnden Standpunkt einnimmt.

Vorstehende Erwägungen werden noch verständlicher dadurch, wenn man einmal überlegt, wie oft junge Mädchen sich gebrauchen lassen, ohne nachher eigentlich zu wissen, wie es dazu gekommen ist,

246 Blum,

und man könnte da unter Umständen ja auch von einer „gewissen“ Hypnose sprechen. Es sei da nur an den Fall erinnert, den Schwabe ® in der Zeitschrift für Medizinalbeamte veröffentlicht hat, wo eine Not- zucht an einem im oberflächlichen Zustand der Hypnose befindlichen Mädchen versucht wurde. Die Frage, ob es sich in diesem Falle über- haupt um eine Hypnose gehandelt habe, ist heute noch nicht geklärt.

Was die Vollziehung des Beischlafs in der Hypnose anbetrifft, so erfordert diese nicht die tiefste Form derselben, es scheint schon das zweite Stadium zu genügen, leichter Schlaf durch den ja schon eine Beeinflussung des Willens eintritt. Es ist wiederholt be- hauptet worden, daß Sexualdelikte an sittlich gefestigten Menschen in der Hypnose kaum ausgeführt werden könnten, ganz gleichgültig, ob es sich um Notzucht oder Ehebruch handelt; diese Annahme dürfte aber doch wohl etwas zu weit gehen. Es gibt sicherlich geeignete In- dividuen, die sittlich vollkommen gefestigt sein können, die in tiefster Hypnose geschlechtlichen Verkehr dulden, weil sie eben den Einwir- kungen der Hypnose einfach nicht widerstehen können.

Hölthöfer® hat ein Sittlichkeitsverbrechen, an einem jungen Mädchen in Hypnose begangen, veröffentlicht; der Hypnotiseur hatte das Mädchen dahingehend beeinflußt, über den Vorfall keine Aussagen zu machen, die Überführung des Täters gelang dann durch dasselbe Mittel (Hypnose), durch das dem Täter seine Tat überhaupt möglich war. Holt- höfer Z betont nachdrücklichst, daß es sich um kein hysterisches oder schwachsinniges Mädchen handelte, das auch weiterhin in keinem Zu- sammenhang mit dem Täter stand, der dann auch verurteilt wurde.

Ich erwähnte schon, daß es sich meistens um hysterische Indivi- duen handelt vielleicht auch verbunden mit einem gewissen Schwach- sinn, die nach Hypnose Anschuldigungen vorbringen, sie seien durch den Hypnotiseur sexuell mißbraucht worden. Daß es sich bei diesen Anschuldigungen nicht um wissentlich falsche Angaben handelt, steht fest, sie werden eben im guten Glauben vorgebracht.

Hübner”? führt in seinem Lehrbuch der forensischen Psychiatrie einen interessanten Fall an, wo eine alte Hysterische einen Zahnarzt beschuldigt, sie in der Hypnose mißbraucht zu haben, ein Vorgang, den sie einem anderen Arzt bald nach dem Erwachen in allen Einzelheiten schilderte, obwohl den ganzen Umständen nach der Zahnarzt nie mit ihr allein im Zimmer gewesen sein konnte. Hübner erwähnt weiter noch, daß er an ein Lügengebilde schon aus dem einfachen Grunde nicht glaube, als die Patientin wiederholt von Ärzten oc worden ist, ohne falsche Anschuldigungen gemacht zu haben.

Einen ähnlichen Fall erwähnt Kaufmann 3, wo ein junges Madchen hysterisch, haltlos, leicht verführbar, unzuverlässig erzählt, in der

Hypnose mißbraucht worden zu sein, ohne daß objektiv auch nur irgend- etwas nachgewiesen werden konnte.

Hypnose im Strafverfahren. 247

Für den Richter dürfte natürlich doppelte Vorsicht geboten sein, in den Fällen, wo eben diese Hysterischen an ihnen begangene Sitt- lichkeitsdelikte bis in alle Einzelheiten schildern, ohne daß etwas Wahres dran ist, was aber nicht eine Lügenhaftigkeit annehmen lassen darf.

' Es gibt auch hypnotische Beeinflussungen, die lediglich zu dem Zweck ausgeführt werden, Schenkungen, Erbschaften Verfügungen usw. von den Hypnotisierten zu erlangen. In Anbetracht der Tatsache, das wir in den letzten Jahren an einer direkten Hypnosemanie leiden, die auch durch die Verfügungen des preußischen Herrn Ministers für Volkswohlfahrt nur wenig eingedämmt worden ist, vor allen Dingen eben die Hypnose in der großen Masse einen solchen Fuß gefaßt hat, sind derart hypnotische Beeinflussungen viel häufiger geworden als früher. Bezüglich des Verdachts der Hypnose ist natür- lich doppelte Vorsicht geboten, wenn man schon einmal bedenkt, daß man dasselbe Ziel erreichen kann, wenn auch langsamer, durch Wach- suggestion.

Bevor die Gesetzesparagraphen, die oben bezeichnete Delikte bestrafen, erwähnt werden, sollen zunächst die Möglichkeiten der durch hypnotisierte Personen ausgeführten Verbrechen behandelt werden. Es muß betont werden, daß es genug Autoren gibt u. a. Hoche ®* Cramer”, die die Möglichkeit von Verbrechen durch hypnotisierte Personen ganz bestreiten. Wenn auch zugegeben werden muß, daß derartige Handlungen sehr selten sind, so können sie doch dann und wann vorkommen, was gerade in den letzten Jahren Friedländer 15 beweisen konnte, in dem

ein unendlich oft hypnotisierter Bankbeamter in der Hypnose Dieb- stähle ausführte und zwar ohne Zweifel im hypnotischen Dämmerzu- stand, obwohl der junge Mann nie Anlage dazu gezeigt und seine Ein- willigung gegeben hatte. Interessant an diesem Fall ist die Tatsache, daß dem ersten Freispruch in zweiter Instanz die Verurteilung unverständ- licher Weise erfolgte. Einer der besten Kenner der Hypnose, W. Preyer, sagte einmal: „Wer geschickt zu hypnotisieren versteht und mit Men- schenkenntnis eine gewisse Fähigkeit im Verfolgen selbstsüchtiger Zwecke verfolgt, ist ein für die menschliche Gesellschaft gefährliche Persönlichkeit.‘

Für den Richter ist es natürlich eine peinliche Lage, wenn er sich zwei Sachverständigen gegenübersieht, die bezüglich der Hypnose ein verschiedenes Urteil haben, wodurch es ihm nicht selten unmöglich gemacht wird, ein Urteil zu fällen. Es mag ja sein, daß an der von Reichardt geiuBerten Ansicht etwas Wahres dran ist, daß sich „ein halbwegs hirngesunder und nicht krankhaft schwachsinniger Mensch“

248 Blum,

nicht durch Hypnose zum Verbrecher machen läßt, es muß aber be- tont werden, .daß der Hypnotiseur es gerade darauf anlegt, für seine Verbrechen solche Menschen zu wählen, die eben geistig und sittlich. nicht hochstehen, um nicht zu sagen minderwertig sind.

Es hätte ja nun auf der Hand gelegen, durch Laboratoriumsver- suche die oben erörterte Frage zu klären und das ist auch weitgehendst versucht worden, diese Versuche dürften aber als wertlos zu betrachten sein, da diese so stark von der Wirklichkeit abweichen, daß sie nicht. in der Lage sind, als Beweismaterial zu dienen. Sie haben aber gezeigt, daß, wenn die Aufträge dem sittlichen Gefühl des Betroffenen wider- sprechen, die Tat nicht ausgeführt wird; entspricht der Auftrag aber dem Wunsche des Hypnotisierten, so wird man Erfolg haben können. Letzteres dürfte auch verständlich machen, wenn bei Notzuchtver- suchen in der Hypnose fast selten Widerstand entgegengesetzt wird.

Der heutigen Auffassung wird es entsprechen, wenn man zwischen Hoche ® und Reichardt einerseits und Forel! und Preyer 6% anderer- seits einen vermittelnden Standpunkt einnimmt, dahingehend, daß die Möglichkeit der Ausführung von Verbrechen durch Hypnotisierte vorhanden ist, wenn es sich um besonders disponierte Menschen handelt ; es ist aber zuzugeben, daß ein ganz eindeutiger Fall bisher in der Li- teratur nicht zu verzeichnen ist. Friedländer 15, der gerade in der letzten Zeit sich sehr viel mit der Hypnose in Beziehung zum Straf- recht befaßt hat, hält an der Möglichkeit von Verbrechen durch Hyp- notisierte fest, während wieder Cramer’ auf Grund eines eigenen Ver- suches diese wieder leugnet.

Cramer” hatte einem hypnotisierten Arzt in der Hypnose den Auf- trag gegeben, seinen Spazierstock mitzunehmen, der Arzt führte aber diesen „Diebstahl“ nicht aus. | ER

Durch Wachsuggestion können natürlich Menschen ebenfalls zu Verbrechen verleitet werden, und es dürfte nicht zu weit gegangen sein, wenn man annimmt, daß diese Wachsuggestionen so stark sein können, daß genau wie in der Hypnose die freie Willensbestimmung aufgehoben oder wenigstens vermindert sein kann. Das Strafgesetzbuch ver- langt keine tiefe Hypnose, sondern nur eine Beeinflussung des Willens: Daß diese Beeinflussung des Willens bei der Wachsuggestion selten ist, ist klar, eine Tatsache, die Többen ®° dazu veranlaßt, Vor- sicht walten zu lassen d.h. nicht jede Beeinflussung des Willens als Suggestion aufzufassen. Többen geht sogar noch weiter und verlangt, daß nur ein völlig willenloser unter dem Einfluß einer Suggestion stehender Mensch als unzurechnungsfähig zu betrachten sei und

Hypnose im Strafverfahren. 249

sagt weiter: „Suggestive Zwangshandlungen sind in Foro zu bewerten wie Zwangsvorstellungen Geisteskranker“. V. Lilienthal und Loewenfeld wollen tiefe Hypnose von hypnotischem Somnambulis- mus getrennt wissen.

Als Drittes seien die falschen Anschuldigungen durch Hypno- tisierte erwähnt. Wenn auch die Möglichkeit besteht durch Sug- gestion beseitigte Erinnerungen durch unter Umständen wiederholtes Hypnotisieren und evtl. Kontrasuggestion wieder wach zu rufen, so muß man doch auf der Hut sein, Aussagen Hypnotisierter d. h. solchen Aussagen, die sie in diesem Schlafzustand erlebt haben, allzugroße Bedeutung beizumessen. Man weiß natürlich nie, was als traumhaft zu gelten hat, und was in Berücksichtigung der enormen Einengung des Bewußtseins haften geblieben ist. v. Schrenk-Notzing hat zuerst nachgewiesen, daß die Lügenhaftigkeit der Hypnotisierten der wacher Menschen um nichts nachsteht. |

Selbiger Autor hat einen Fall veröffentlicht, wo ein Arzt an einem hypnotisierten Kinde ein Sittlichkeitsverbrechen begangen haben soll, ein Fall, der klar und deutlich auf Grund der vorgenommenen Unter-

suchung bewies, eine wie große Rolle eine traumhafte Perzeption der Vor- gänge spielen kann.

Solche ähnliche Fälle müssen Richter wie Sachverständige ver- anlassen, stets größte Vorsicht walten zu lassen und die ganzen Ver- hältnisse Persönlichkeit der Ausführenden und ihr Verhältnis un- tereinander genau zu untersuchen.

Auch hier seien noch einige beobachtete Fälle aus fit Literatur veröffentlicht.

Auf die beiden von Raecke®” beobachteten Fälle wies ich schon einmal hin; auf Grund der Wertung des hypnotischen Ergebnisses und der ganzen Umstände kommt Rascke zu dem Schluß, daß Äußerungen Hypnotisierter kein höherer Grad von Überzeugungskraft zukomme, als ihren Aussagen im wachen Zustand. Man wird auch wohl nicht fehlgehen, wenn man den von Levy—Suhl® veröffentlichten Fall von Verschlep- pung in der Hypnose den Fällen Raecke gleich setzt, da die ganzen Um- stände doch zu abenteuerlich klingen. Recht drastisch drückt sich Moll®? auf Grund seiner Beobachtungen aus, der sagt, daß hypnotisierte Menschen genau so lügen können, wie wenn sie im wachen Zustand wären.

Das wichtigste Kapitel stellen die Gesundheitsschädigungen dir. die durch die Hypnose oder deren Nachwirkungen entstehen können. Es wurde schon einmal darauf hingewiesen, welch ungeahnten Auf- schwung in den letzten Jahren die Hypnose vor allen Dingen in Laien- kreisen genommen hat, und eben diesem Umstand ist es zu verdanken, daß die meisten Gesundheitsschäden durch die Schauhypnosen ver-

250 Blum,

ursacht werden, in zweiter Linie dann durch die überhand nehmenden Kurpfuscher, denen leider in Deutschland noch immer nicht ihr Hand- werk voll und ganz gelegt worden ist. Es würde im Rahmen dieser Ar- beit zu weit führen, auf die zahlreichen Schäden durch hypnotische Experimente einzugehen; neben schweren Dämmerzuständen nach Laienhypnosen (Schauhypnosen) sah man schwere Psychosen, durch ungeschicktes Hypnotisieren (auch durch Ärzte) Wiederauflebenlassen schlummender hysterischer, psychopathologischer oder sonstiger An- lagen, durch Hypnose Ausbruch einer in der Anlage vorhandenen Geisteskrankheit, schwere länger dauernde Verwirrtheitzustände usw. Wie weit in den einzelnen Fällen diese Schädigungen vor allen Dingen durch Kurpfuscher gehen können dem geschulten Arzt wird es ge- legentlich sicherlich auch passieren, daß er an einer ungeeigneten Per- son eine Hypnose ausführt mit nachfolgenden Schäden, er wird aber Mittel und Wege wissen, großen Schaden zu vermeiden beweisen zahlreiche veröffentlichte Fälle, die auch zur Aburteilung gekommen sind und auf die hier nicht näher eingegangen werden kann. Schultz hat 100 positive Fälle von Gesundheitsschäden durch Rundfrage festgestellt bis 1922, davon waren 50 hysterische und 50 psychische Störungen zu verzeichnen. Schäden durch ärztliche Hypnose ganz selten. |

Ich komme nun zu den Gesetzesparagraphen, die die Hypnose betreffen bzgl. der Straffähigkeit. |

§ 177 StrGB.: ‚Mit Zuchthaus wird bestraft, wer ... oder wer eine Frauensperson zum außerehelichen Beischlaf mißbraucht, nach- dem er sie zu diesem Zwecke in einen willenlosen oder bewußtlosen Zustand versetzt hat“. Zunächst ist es ganz selbstverständlich, daß bei einer hypnotisierten Person ein willenloser bzw. bewußtloser Zustand geschafien ist, wobei es ganz gleichgültig ist, ob es sich um einen leichten oder tiefen Schlaf handelt.

Strafrechtlich spielt eine Rolle der Umstand, ob der Hypnotiseur lediglich die Hypnose ausgeführt hat zwecks Ausübung des Beischlafs oder ob ihm erst später der Gedanke zur Ausübung dieser Tat gekom- men ist. Im letzteren Falle findet der $ 176 Absatz 2 Anwendung, der eben Mißbrauch einer Frauensperson bestraft, die sich in einem willenlosen Zustand schon befand (Schändung). Der ohne Wissen des Hypnotiseurs ausgeführte Beischlaf eines anderen Menschen an dieser durch die Hypnose willenlos gemachten Person fällt ebenfalls unter $ 176 Absatz 2. Dasselbe gilt, wenn der Hypnotiseur den Bei- schlaf durch einen dritten duldet, ohne sich selbst zu vergehen, ein

Hypnose im Strafverfahren. 251

Verbrechen, das ihn wegen Kuppelei 81 StGB.) unter Umständen noch mit dem Strafgesetz in Konflikt bringen kann. Besteht Einver- standnis zwischen dem Hypnotiseur und dem beteiligten Dritten betreffs Ausübung des Beischlafs durch beide, dürfte wieder Bestra- fung auf Grund des $ 177 in Frage kommen.

Auf die Möglichkeit des Eintritts des Todes durch Hypnose ist schon hingewiesen; der $ 178 StrGB. sieht hier eine Bestrafung mit Zuchthaus nicht unter 10 Jahren vor.

Die Unterscheidung von Lilienthal * zwischen somnambulen und lethargischen Zustand dürfte wohl bezüglich des Vorhandenseins eines willenlosen Zustandes nicht in Betracht kommen, beide Zustände bedingen bzw. verlangen einen zum mindesten willenlosen Zustand. Ganz ohne Zweifel ist, wie schon im Anfang der Arbeit erwähnt, die Bedeutung der Bewußtlosigkeit im Sinne des Gesetzes nicht einfach und man wird sich in sachverständigen Kreisen noch heute der An- sicht von v. Schrenck-Notzing anschließen müssen, der sagt, der Sach- verständige müsse seine Entscheidungen danach treffen, wie die Zustände des Schlafes und des Wachseins sich zeigen und gezeigt haben. Was den suggestiven Wachzustand anbetrifft, so würde es nicht zu weit gehen, diese Zustände zur Bewußtlosigkeit zu rechnen.

Ob die Möglichkeit besteht der Ausführung eines Vergehens aus § 182 Ausführung des Beischlafs an einem unbescholtenen Mädchen in der Hypnose, welches das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, ist fraglich; von den meisten Juristen wird es be- stritten (s. Ivers 3). Es wäre ja wohl möglich, daß der Hypnotiseur eine andere weibliche Person, von der er weiß, daß sie auf ein 14 jäh- riges Mädchen z. B. Einfluß hat, in der Hypnose veranlaßt, das Mädchen zu bewegen, sich ihm hinzugeben, eine Tat, die Bestrafung ohne weiteres nach sich ziehen wird.

Was nun diese ganzen Handlungen im posthypnotischen Zu- stand anbetrifft, so sind sie strafrechtlich ganz genau als wie in Hyp- nose begangen zu bewerten.

Der $ 223 StrGB. behandelt die Körperverletzung, der Nachweis des Vorsatzes muß natürlich erbracht sein, was bedeutet: „Richtung des Willens auf die äußere Handlung und das Bewußtsein, daß jene das körperliche Wohlbefinden des anderen stören werde! 8°‘ Es ist nun hier die Frage aufgetaucht, ob schon allein die Hypnose als Kör- perverletzung aufzufassen sei oder nicht, oder ob die Hypnose nur dann darunter zu rechnen sei, wenn auch tatsächlich Einwirkungen davon, wenn auch nur ganz gering, zu spüren sind. Die vorherrschende

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Ansicht ist heute die, daß die Hypnose an sich keine Körperverletzung zu sein braucht, da sie wie ein Schlaf zu werten sei, daß sie aber dazu werden kann, werden Beschwerden auch nur ganz geringer Art empfun- den (z. B. Schreckhypnose!). Die Frage, ob bei einer Einwilligung der Körperverletzung die Rechtswidrigkeit auszuschließen ist, läßt sich dahingehend beantworten, daß der: Staat natürlich ein Interesse an der Gesunderhaltung seiner Mitbürger hat und haben muß, und wenn auch die Selbstverletzung an sich nicht strafbar ist, so geht es nicht an, daß von anderen Menschen gesundheitsgefährdende Eingriffe vor- genommen werden, was um so mehr Berechtigung hat, als damit dem Handwerk der sogenannten Schauhypnosen weitgehendst gesteuert werden kann. Handelt es sich aber um Hypnosen zu wissenschaft- lichen oder Heilzwecken durch Ärzte, so dürfte dieser Eingriff nicht als rechtswidrig im Sinne des $ 223, 224 u. ff. aufzufassen sein. Fried- länder 15 hat ganz recht, wenn er sagt, daß von dem $ 223 u. ff. mehr die Ärzte betroffen werden, die es am wenigsten anginge, als die Kur- pfuscher, die nur in den seltensten Fällen davon betroffen werden; bedingt durch den Umstand, daß Laienhypnotiseure sich nie der Rechts- widrigkeit ihrer Handlung bewußt sind; dasselbe gilt auch von schwerer Körperverletzung ($ 224); die Beurteilung des Verletzungs- zustandes ist natürlich Sache des Gerichts, z. B. dürfte Geisteskrank- heit sicherlich darunter fallen.

Fahrlässige Körperverletzung wird im $ 230 StrGB. geahndet; gerade dieser Paragraph sollte bei hypnotisierenden Ärzten nicht allzu häufig Anwendung finden können, während er bei Kurpfuschern, vor allen Dingen den gewerbsmäßigen, große Bedeutung beizulegen wäre. Wird allerdings dem Arzt eine Fahrlässigkeit nachgewiesen, so kann unter Umständen noch eine Erhöhung eintreten, da der Täter zu der Aufmerksamkeit vermöge seines Amtes, Berufes oder Gewerbes besonders verpflichtet war. Bei der Inanspruchnahme des $ 230 ist zu berücksichtigen, daß Strafverfolgung nur dann eintritt, wenn ($ 232) Antrag auf diese gestellt wird; eine Zurücknahme des Antrages ist dann sogar noch zulässig, wenn es sich um einen Angehörigen handelt.

In $ 239 und 240 StrGB. handelt es sich um die vorsätzliche Be- raubung der persönlichen Freiheit. Es sind Bedenken laut geworden, die Hypnose als ein Mittel zur Begehung von Freiheitsberaubung gelten zu lassen; da es sich aber bei der Hypnose um eine Beseitigung der freien Willensbetätigung handelt, dürften auch die oben bezeichneten Bedenken im Sinne der Straffälligkeit beseitigt sein. Es ist natürlich

Hypnose im Strafverfahren. 253

ganz selbstverständlich, daß die Vornahme einer Hypnose straflos bleibt, ist sie mit Einwilligung des zu Hypnotisierenden geschehen. Um Freiheitsberaubung und evtl. Nötigung handelt es sich ($ 239 und 240), wenn diese ohne gegebene Einwilligung ausgeführt wird. Man sollte auch dazu übergehen, eine freiwillige Hypnose nicht als strafmildernd gelten zu lassen, wie es seit Jahren in England und Amerika üblich ist bei Berücksichtigung der traumhaften Zustände und Somnambulismus, die eben nicht mit Willen ausgeführt werden.

Wenn auch Menschenraub ($ 234 StrGB.) in Hypnose ein recht seltenes Vorkommnis sein wird, so sei es doch der Vollständigkeit halber hier erwähnt. Dasselbe gilt von $235, der Kinderraub ahndet.

$ 240 und 249 StrGB. ahndet weiter die Anwendung von Gewalt, wobei „unter Gewalt jede unmittelbare oder mittelbare Einwirkung auf den Körper eines anderen zu verstehen ist, welche geeignet ist und darauf abzielt, die freie Willensbestimmung desselben zu verhin- dern‘. In juristischen Kreisen hat es lange einen Streit darüber ge- geben, ob unter „Gewalt“ auch die Hypnose zu verstehen ist, aber das Reichsgericht hat sich schon. früh der Ansicht Bindings 3! angeschlossen, der als Gewalt jede Einwirkung bezeichnet, die dem Betroffenen die Möglichkeit der Willensbetätigung nimmt. Diese Paragraphen finden eben dann Anwendung (auch §§ 176, 177), wenn Vorsatz beim Hypnotiseur vorliegt. Bestrafung ist natürlich aus- geschlossen, wie schon erwähnt, handelt es sich um ärztliche Heil- behandlung oder Versuche im Interesse der Wissenschaft, bei denen Vorsatz ja immer vorhanden ist.

. Ebenfalls recht selten sind einfache und schwere Urkunden- fälschungen, in Hypnose begangen; sie werden geahndet in $$ 276, 268.

Etwas häufiger sind Betrügereien (Wechsel, Schenkungen usw.) an Hypnotisierten zu verzeichnen und nach Ivers °! ist die Anwendung des $ 263 (Betrug) nicht möglich, da ein Hypnotisierter zu einer selb- ständigen „WillensentschließBung‘‘, die bei Annahme von Betrug recht- lich vorliegen muß, nicht fähig ist. In den meisten Fällen wird man eine Erpressung nachweisen können, die dann auch als räuberische Erpressung aufzufassen ist ($ 255).

$ 249 StrGB. behandelt den Raub und auf Grund der Annahme, daß Hypnose im juristischen Sinne Gewalt ist, wird man einen unter Benutzung der Hypnose begangenen Diebstahl stets als Raub auf- fassen.

Bevor zum Schluß auf den wichtigen $ 51 StrGB. eingegangen

254 | Blum,

werden soll, bedarf es noch der Erörterung der Frage der Abtreibung (§§ 218 Abs. 3, 219 und 220 StrGB.). Neben der Möglichkeit der hypnotischen Suggestion zur Vornahme einer Schwangerschaftsunter- brechung mit Einwilligung der Hypnotisierten ($ 219 StrGB.) kommt § 220 StrGB. dann in Frage, wenn der Täter gegen den Willen der Betreffenden handelt. Gleichzusetzen der Beibringung von Mitteln zur Abtreibung ist die hypnotische Eingabe, solche Mittel zu nehmen und dann nach $ 218, Absatz 3 strafbar. Eine infolge der Hypnose nicht zurechnungsfähige Person kann natürlich nicht bestraft werden.

$ 183 behandelt dann noch die unzüchtigen Handlungen, wobei es bezüglich der Bestrafung gleichgültig ist, ob der Hypnotiseur solche begeht oder ob er seine Opfer dazu veranlaßt.

Im Strafgesetzbuch spielt bezüglich der Hypnose die Hauptrolle der $ 51, der die hypnotisierte Person straflos sein läßt, wenn die freie Willensbestimmung ausgeschlossen ist. In der Literatur ist wiederholt die Frage aufgeworfen worden, ob die vollkommene Aufhebung der freien Willensbestimmung zur Anwendung des $ 51 notwendig ist oder auch schon eine erhebliche Verminderung; die Ansichten gehen auch heute darüber noch auseinander, eine erhebliche Verminderung der freien Willensbestimmung dürfte aber die Anwendung des $ 51 recht- fertigen. Es ist natürlich klar, daß die bloße Anwendung der Hypnose keinesfalls genügt, der Nachweis der Aufhebung der freien Willens- bestimmung muß in jedem Fall erbracht sein.

Ivers ?! vertritt in seiner Besprechung über die Anwendung des $ 51 die Ansicht, daß ein Hypnotisierter nicht straffrei für begangene Taten werden könne, wenn er seine „Hemmungsvorstellungen‘ kampf- los preisgegeben habe, d. h. wenn er, obwohl er dazu in der Lage war, den verbrecherischen hypnotischen Einwirkungen keinen ernsthaften Wider- stand entgegengesetzt hat. Für die Richter ist es schwer, Derartiges fest-

zustellen, es sei denn, daß erwiesen werden kann, daß die Hypnose in direktem Einverständnis ausgeführt worden ist.

Bei der Straffreiheit im Sinne des $ 51 handelt es sich nicht um einen Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit, sondern um einen Zustand von Bewußtlosigkeit; geistesgestört mag ja wohl der Zustand des Hypnotisierten genannt werden können, also Zu- sammenarbeiten zwischen Geist und Körper ist gestört aber es handelt sich kaum um eine im Sinne des $51 krankhafte Geistesstörung. Etwas anders liegt es bei der posthypnotischen Suggestion, wo der Betroffene nicht als bewußtlos, sondern eher als geistesgestört zu gelten hat, wenn man berücksichtigt, daß ein ganz gesunder normaler Mensch plötzlich aus heiterem Himmel die unglaublichsten Taten begeht.

Hypnose im Strafverfahren. 255

Manche Juristen können sich aber dieser Ansicht nicht anschließen und lassen Straflosigkeit eintreten auf Grund des § 52 StrGB., der von unwiderstehlicher Gewalt spricht. Daß die Hypnose nach Lage des Einzelfalles mit unwiderstehlicher Gewalt ausgeführt worden ist, ist einleuchtend, was Bestrafung gemäß $ 52 nach sich ziehen kann. Die Straffreiheit der Jugendlichen betr. in der Hypnose begangener Taten regelt $3 JGG., der Straffreiheit bei Personen von 14—18 Jahren vorsieht, die „zur Zeit der Tat nach ihrer geistigen und sittlichen Ent- wickelung unfähig waren, das Ungesetzliche der Tat einzusehen oder ihren Willen dieser Einsicht gemäß zu bestimmen‘, wobei man mit Recht annimmt, daß ein Jugendlicher gar nicht in der Lage sein kann zu verstehen, daß ein fremder Wille auf ihn einwirkt usw.

$ 48 StrGB., der die Anstiftung zum Verbrechen behandelt, findet auf den Hypnotiseur dann Anwendung, wenn er der oder dem Hypnotisierten solche Handlungen suggeriert; eine Bestrafung wird in jedem Falle erfolgen, ganz gleichgültig, ob der Hypnotisierte be- treffend der Tat straflos ausgeht oder nicht, wie ja überhaupt die Rechtsprechung großen Wert darauf legt, den Hypnotiseur zu be- strafen, um so dem gefährlichen Hypnotismus in etwas endlich steuern zu können.

Welche Verwendungsmöglichkeit hat nun die Hypnose in der Rechtspflege?, eine Frage, die eingehender Behandlung noch bedarf. In einer Arbeit über „die Verwendung der Hypnose und die Mitwir- kung von Medien in der Rechtspflege“ kommt Gruhle-Heidelberg zu der Ansicht, daß die Hypnose in der Hand der gerichtlichen Sach- verständigen ein Mittel zur Beurteilung einer Aussage und zur Er- forschung eines Tatbestandes sein könne, ein Ereignis, durch das dem Richter zur Aufklärung eines Verbrechens wesentliche Dienste ge- leistet werden könnten. Gruhle erörtert dann unter Anführung von Beispielen die Frage, wie sich der Richter verhalten soll (einschl. der psychiatrischen Sachverständigen), wenn in größeren die Öffent- lichkeit interessierenden Prozessen sich weldfremde, meist bisher unbekannte Personen anbieten, mit Hilfe ihrer hellseherischen Fähig- keiten, zur Aufklärung der Tat beizutragen. Er erwähnt dann weiter den an den beiden Heidelberger Bürgermeistern begangenen Mord im Jahre 1921,

wo etwa 10 Tage nach der Tat ein älteres Mädchen aus Frankfurt der Staatsanwaltschaft mitteilt, daß sie das zweite Gesicht habe und nähere Angaben über die ganze Mordaffäre machen könne. Wenn auch zu

bedenken sei, daß der Täter einen Tag vorher verhaftet wurde, so konnte doch festgestellt werden, daß die Briefschreiberin mit dem Mörder nie

256 Blum,

zusammengewesen ist bzw. Beziehungen unterhalten hat. Es war nun nach Auffindung der Leiche interessant festzustellen, daß die Angaben der Briefschreiberin im Großen und Ganzen stimmten, wenn auch Falsches. und Wahres in dieser Vision gemischt war. Bezüglich der Person der Hell- seherin war zu sagen, daß sie intelligent und geistig rege war bei Vorliegen hoher Selbsteinschätzung; sie hatte schon mit 14—16 Jahren sehr viele Träume, 1917 hat sie auf Grund eines bestimmten Vorfalls gespürt, daß. sie ein ,,Medium“ sei.

Auf Grund dieses Ereignisses glaubt Gruhle annehmen zu müssen, daß sich die Rechtspflege der Erfahrung eines Phänomens genau so wenig entziehen dürfe wie die Wissenschaft, dabei betonend, daß die Auswahl des Phänomens allerdings recht schwierig sei.

Es dürfte aber wohl etwas zu weit gegangen sein, wenn man der Ansicht Gruhles zustimmen würde. Ich erwähnte schon, daß gerade in den letzten Jahren nach dem Kriege die Hypnose einen Aufschwung, genommen hat, der im großen Gegensatz zu der Interesselosigkeit in den Jahren vor dem Kriege steht, und daß diese Tatsache eine Über- schätzung der Hypnose nach sich ziehen kann und muß, ist selbst- verständlich. In ärztlichen Kreisen haben die Ausführungen zweier Juristen Fürst und Scholz großes Aufsehen erregt, die glaubten durch die Hypnose Beweismaterial zu erhalten, eine Forderung, die sie noch dahingehend erweiterten, daß Zeugen und Beschuldigte der Hypnose unterworfen werden sollten; eine Handhabe hofften sie hierzu durch die §§ 102 und 103 der StrPO. zu haben, eine Annahme, die aber wohl irrig ist, denn der Gesetzgeber wird wohl in diesen Paragraphen nur körperlich sichtbare Spuren gemeint haben. Vom Standpunkt des Eingriffes in die persönliche Freiheit des einzelnen dürfte dieser Vor- schlag zweier Juristen schon zu verurteilen sein. Des weiteren kann man aber auch Angeklagte ober Zeugen nicht zur Aussage zwingen, ein Recht, das nicht durch Gewalt alias Hypnose genommen werden kann. Fürst und Scholz glauben, daß die Hypnotisierten von „grenzloser Offenheit“ seien, eine Annahme, die schon oben hin- reichend widerlegt worden ist. Und wenn Friedländer 15 sagt, daß den Obengenannten auf Grund ihrer Angaben die Psychologie der Hyp- nose fremd geblieben ist und damit eben das schwierige Problem der ganzen Psychopathologie, so hat er damit. vollkommen recht. „Die im hypnotischen Schlaf befindliche Person ist durchaus nicht regel- mäßig von unbegrenzter Offenheit, sehr oft ist gerade das Gegenteil der Fall!“ (Friedländer).

Die letzte größere Veröffentlichung über die Verwendung der Hypnose in der Rechtspflege unter diesem Titel stammt von Kind-

Hypnose im Strafverfahren. 957

borg-Breslau 3, dessen Standpunkt wohl allgemein anerkannt wird und auch einleuchtend ist; Kindborg widerspricht vor allen Dingen den Anschauungen Gruhles weitgehendst. Zahlreiche Versuche, vor allen Dingen Hellsehversuche, hat Kindborg angestellt und dabei er- fahren, daß ganz einwandfreie Personen vielleicht lediglich nur auf Grund einer lebhaften Phantasie in der Hypnose die tollsten Un- wahrheiten sagten.

K indborg 39 beschuldigte unter anderem 3 Parönen: in Somnam- bulhypnose eines fingierten Diebstahls, und während zwei davon durch nichts zu bewegen waren, den Diebstahl zuzugeben trotz suggestiven Zuredens, hätte der dritten Person ihr Zugeständnis in der Hypnose im Ernstfall zum Verhängnis werden können.

Wenn schon diese Versuche dazu angetan waren, eine Verwendung der Hypnose im Strafverfahren unbedingt außer Acht zu lassen, so stellte Kindborg ® doch noch weitere Versuche an, um festzustellen, wie sich nach wirklichem Diebstahl die Verwendung der Hypnose gestalten würde. Es würde zu weit führen, würde ich auf diese Ver- suche hier eingehen, sie zeigen aber deutlich, daß eine Hypnose zur Feststellung einer Tat nicht zu gebrauchen ist.

Zahlreiche Fälle, die in der Literatur veröffentlicht worden sind, (Stoll 8, v. Schrenck-Notzing , Forel}? u. a.) lassen erkennen, daß es sich bei den hypnotischen Geständnissen meist um hypnotische Phantasien handelt und der Umstand, daß 1924 in Mannheim ein junger Mann auf Grund eines Zigarettendiebstahls sich mit Erinne- rungslosigkeit entschuldigte und infolge ausgeführter Hypnose eine Handlung im Traumzustande tatsächlich angenommen wurde, die seine Freisprechung zur Folge hatte, sollte die Sachverständigen da- von abhalten, zur Feststellung bzw. zur Objektierung des Tatbestandes die Hypnose zu verwenden.

Kindborg ® streift dann auch noch die Verwendungsmöglichkeit der Hypnose in der Rechtspflege in anderer Hinsicht und macht den Vorschlag, die Hypnose nicht zur Diagnose sondern als Therapie zu verwenden. Den größten Erfolg verspricht er sich von der suggestiven Beeinflussung jugendlicher Verbrecher oder sittlich Gefährdeter, eine Behandlung, die auch bei bestimmten Erwachsenen, wenn auch nur ganz geringen Erfolg zeitigen dürfte. Über diese Ansichten Kindborgs gehen die Meinungen allerdings auseinander; daß eine Beeinflussung im Wachzustand sicherlich großen Erfolg und Wert hat, leuchtet ein, dürfte aber trotzdem die hypnotische Beeinflussung in Form von Angaben erzieherischer Grundsätze nicht überflüssig erscheinen lassen.

Zeitschrift für Psychiatrie LXXXIX. 1%

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Zusammenfassung:

1. Sowohl Hypnotiseur als Hypnotisierter können auf die ver- schiedenste Art mit den Strafgesetzen in Konflikt kommen, letzterer allerdings meist nur dann, wenn ein Einverständnis zur Vornahme der Hypnose vorliegt.

2. Begehung von Verbrechen durch Hypnotisierte liegen im Bereich der Möglichkeit, auch wenn die Tat dem moralischen Emp- finden des Hypnotisierten widerspricht; ein Verbrechen ist dann sicher möglich, wenn die individuelle Einstellung hierzu vorhanden ist, also gleichsam gewünscht wird.

3. Ebenfalls sind Vergehen an Hypnotisierten möglich, meist sexueller Natur, ohne Zweifel auch dann, wenn das Medium der Hand- lung Widerstand entgegensetzt.

4. Hypnose ausgeführt von Laien (Kurpfuscher u. Schauhyp- nosen) rufen große Gefahren für die Hypnotisierten hervor; die Ver- fügungen des Herrn Ministers für Volkswohlfahrt vom 6. 10. 1919, 92. 10. 1920 u. 10.3.24 waren und sind nicht imstande, das Übel der Laienhypnose abzustellen.

5. Die Hypnose ist nicht in der Lage, die Individualität eines hypnotischen Mediums, das noch so willfährig ist, zu ändern, was be- deutet, daß dieses Medium sowohl Geschehnisse in der Hypnose verschweigen als auch erlügen kann; mithin ist die Hypnose zur Fest- stellung eines Verbrechens in den meisten Fällen ungeeignet. |

6. Die Ausdehnung der Hypnose im Strafverfahren auch auf Zeugen ist sowohl auf Grund der unter 5. genannten Umstände meist zwecklos als auch würde es sich um Freiheitsberaubung u. evtl. Er- pressung handeln, da Zeugen nicht zu einer Aussage gezwungen werden können bzw. dürfen.

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Die Bedeutung der Tuberkulose für die Irren- anstalten?). 3

Von Dr. med. Hans Werner-Hochweitzschen (Sa).

I

Um die Bedeutung der Tuberkulose für die Irrenanstalten dar- zulegen, ist es nötig, zahlenmäßigen Belege für die Häufigkeit ihres Auftretens in den besagten Anstalten anzuführen; hierbei sollen

besonders die sächsischen Irrenanstalten berücksichtigt werden.

Wollen wir dann die zahlenmäßigen Angaben über die Verbreitung der Tuberkulose in den Anstalten richtig bewerten, so sind wir auf Ver- gleiche angewiesen. Es ist sehr schwer, eigentlich unmöglich, adäquate Vergleichsobjekte zu finden. Nahe liegt, und das ist öfters geschehen, Vergleiche anzustellen zwischen der Häufigkeit des Auftretens der Tuber- kulose in den Konvikten, Arbeitshäusern, Korrektionsanstalten, Gefäng- nissen und dergleichen einerseits und in den Irrenanstalten andererseits. Doch ist leicht einzusehen, daß trotz gewisser Ähnlichkeiten in Hinsicht auf die Einrichtungen und die Insassen dieser Anstalten mit den Irren- anstalten, doch ganz erhebliche Unterschiede bestehen, daß daher solche Vergleiche nur recht bedingten Wert haben und daß nur mit größter Vor- sicht daraus Schlüsse gezogen werden können. Für besser halte ich es, die Häufigkeit des Auftretens der Tuberkulose in der außerhalb der An- stalten lebenden Bevölkerung in Betracht zu ziehen, natürlich nur mit gewissen Einschränkungen. Auch gegen dieses Verfahren läßt sich man- cherlei einwenden. Doch davon später mehr.

Die Verbreitung der Tuberkulose kann vor allem auf zwei Arten bestimmt werden: durch Zählung einmal der Erkrankungen, zum anderen der Todesfälle. Die erste Art muß von vornherein verworfen werden, da viele tuberkulöse Erkrankungen bei Lebzeiten der Kranken und besonders der Irren (wegen der bei diesen besonders erschwerten Diagnosestellung) überhaupt nicht erkannt werden, dann aber auch deshalb, weil ein Ver- gleich mit der Außenbevölkerung nur möglich ist unter Heranziehung der Todesfälle an Tuberkulose, da doch auch in der neuesten Zeit trotz aller

1) Auszug aus einer Arbeit für die staatsärztliche Prüfung. Genauere Literaturangaben und Literaturverzeichnis wurden auf Wunsch des Herausgebers dieser Zeitschrift weggelassen.

Die Bedeutung der Tuberkulose fiir die Irrenanstalten. 265

fortschrittlichen Maßnahmen noch viele tuberkulöse Erkrankungen statistisch nicht erfaßt werden. Wir werden uns daher hauptsächlich mit den Sterbefällen an Tuberkulose innerhalb und außerhalb der Irren- anstalten zu befassen haben. Alle anzuführenden Autoren beschreiten auch diesen Weg. Vorwiegend werden in den Statistiken der Anstalten ‚die Lungen- und Darm-Tuberkulose berücksichtigt, mitunter auch die allgemeine Tuberkulose und die der anderen Organe, sowie die Miliar- Tuberkulose. Leider ist die Berichterstattung darin nicht einheitlich.

Um möglichst einwandfreie Vergleichsverhältnisse zu schaffen, werden wir, unter Beachtung der den verschiedenen Lebensaltern eigenen Tuberkulose-Mortalität, bei der Außenbevölkerung nur die Altersklassen von 15—70 Jahren berücksichtigen; denn die Insassen der Irrenanstalten (nicht die der Schwachsinnigen-, Epileptiker- und Pflegeanstalten) gehören zum größten Teile diesen Altersstufen an. Jüngere oder ältere Personen sind unter ihnen nur in geringer Zahl und vor allem in von der Gesamt- bevölkerung stark abweichenden Anteilen vorhanden. Leider tragen viele Autoren diesem Umstande nicht Rechnung. Selbst. bei dieser Einschränkung ist noch zu bedenken, daß der Altersaufbau innerhalb der Jahresklassen 15—70 und schon deshalb die Tuberkulose-Mortalität bei den Anstaltsinsassen eine andere ist, als bei der Außenbevölkerung. Diese Inkongruenz des Altersaufbaues konnte wegen mangelnder statistischer Unterlagen rechnerisch nicht ausgeglichen werden.

Es geht nun nur an, daß wir die Todesfälle an Tuberkulose auf die Gesamtzahl bzw. eine gewisse Quote der inner- oder außerhalb der An- stalten Lebenden beziehen. Das andere Verfahren das wir für gewisse Zwecke nicht entbehren können —, die Todesfälle an Tuberkulose in Be- ziehung zu setzen zur Gesamtsterbeziffer, führt leicht zu Täuschungen über die Ausbreitung der Tuberkulose, zumal bei einem geringen Zahlen- material oder bei zeitweise gehäuftem Auftreten von anderen zum Tode führenden Krankheiten, oder auch deshalb, weil bei den Irren die Zahlen für die einzelnen Gruppen von Todesursachen (Paralyse bzw. Gehirn- krankheiten usw.) größer als bei der Außenbevölkerung sind, ohne daß in den verglichenen Altersstufen durch andere Todesursachen ein rech- nerischer Ausgleich geschaffen würde. Diese hohen Zahlen drücken die Prozentzahlen für die anderen Todesursachen herunter. Für das Gesagte nur ein Beispiel: In den hessischen Anstalten starben in den Jahren 1877 4901 23,25%, der Gestorbenen an Tuberkulose, bei der gleichaltrigen Außenbevölkerung 39,7%; aber auf 1000 Lebende berechnet, in den An- stalten 14,82, in der Bevölkerung der entsprechenden Altersstufen 3,75! Ich habe mich bei diesem Punkte etwas aufgehalten, weil ich leider in sehr vielen Berichten eine die Wirklichkeit entstellende Betrachtungsweise fand, und weil aus ihr dann der Schluß gezogen wurde, daß die Verbreitung der Tuberkulose in den Anstalten gegenüber der bei der Außenbevölkerung nicht sehr groß oder gar geringer sei.

Von jeher ist das häufige Auftreten der Tuberkulose in den Irren- anstalten den dort tätigen Ärzten aufgefallen: In den Jahresberichten finden sich statistische Angaben und darangeknüpfte Betrachtungen,

auf Kongressen wurde diese Angelegenheit beraten, die psychiatrische

266 Werner,

Literatur bringt neben verstreuten Anmerkungen Abhandlungen, die sich in eingehender und ausführlicher Weise mit diesem Gegenstande beschäftigen. Ich führe nun die Angaben einzelner Autoren aus verschiedenen Jahren an, um auch einen gewissen chronologischen Überblick in dieser Frage zu geben: Schon Esquirol, Calmeil und Pinel fanden bei einem Drittel, bzw. bei zwei Fünftel, bzw.bei einem Sechstel der verstorbenen Irren Tuberkulose als Todesursache. Grie- singer berechnete, daß ungefähr ein Viertel der Anstaltsinsassen an Tuberkulose starb. Hagen veröffentlichte 1876 seine bekannten sta- tistischen Untersuchungen über Geisteskrankheiten und kommt da- rm zu dem Ergebnis, daß in den Jahren 1846—1871 in der Erlanger Irrenanstalt 24,2%, in allen bayerischen Anstalten 22,3%, und in der Gesamtbevölkerung Bayerns (unter Berücksichtigung der entsprechen- den Altersklassen) 22,5%, aller Gestorbenen der Tuberkulose zum _ Opfer fielen; da aber, folgert H., die Gesamtsterbeziffer der Anstalts- insassen fünfmal so groß sei, wie die der Außenbevölkerung, so sei es auch die Tuberkulose-Sterblichkeit. Zu ähnlichen Ergebnissen kommen auch Snell, Wulf und Fraenkel, die über die Tuberkulose- Todesfälle in preußischen Anstalten Bericht erstatteten.

Bereits diese wenigen Angaben zeigen, daß schon in früheren Zeiten das unheilvolle Wirken der Tuberkulose in den Anstalten richtig ab- geschätzt wurde. Doch stand man ihm ziemlich machtlos gegen- über. Erst nachdem Robert Koch 1882 den Tuberkulose-Bazillus auf- gefunden hatte und vor allem nachdem Cornet eingehende Untersuchun- gen über die Verbreitungsweise der Tuberkulose angestellt und ver- öffentlicht hatte, konnte man verstehen, daß die Tuberkulose, eben als Infektionskrankheit, eine derartige Ausbreitung in den Anstalten gewinnen konnte, und was das Wichtigste war, man konnte nun Grund- lagen finden, auf denen sich erfolgreiche Abwehrmaßnahmen aufbauen ließen. Jetzt schenkten die entsprechenden Stellen dem Auftreten der Tuberkulose in den Anstalten die größte Beachtung, die Ver- öffentlichungen mehrten sich, in den Jahresberichten der Anstalten finden wir eingehende Angaben über die Verbreitung der Tuberkulose und über VerhiitungsmaBregeln. In der Jahressitzung des Vereins Deutscher Irrenärzte erstattete Nötel 1891 ein ausführliches Referat. Er brachte sehr viel statistisches Material vor und wies nach, daß in den 34 deutschen und österreichischen Anstalten, die er in seine Betrach- tungen einbezog, die Tuberkulose weit ausgebreiteter sei, als bei der Außenbevölkerung: Es starben an Tuberkulose von 100 Lebenden der Außenbevölkerung in den Altersklassen von 15—70 Jahren 0,39

Die Bedeutung der Tuberkulose fiir die Irrenanstalten. 267

an Tuberkulose, m den Anstalten bis zu 2,9. Etwas giinstiger lagen die Verhältnisse in den folgenden Jahren: 1892—1897 starben in den preuBischen Anstalten 1,1% der Verpflegten an Tuberkulose, im gleichen Zeitraum von den geistesgesunden Erwachsenen 0,29%. Ähnlich lauten auch die Berichte aus dem Auslande, so z. B. fielen in den eng- lischen Irrenhäusern 1,47%, der dort Untergebrachten der Tuberkulose ‚zum Opfer, in der englischen Bevölkerung aber 0,14%. In den hessischen Anstalten starben nach Osswald in den Jahren 1877—1900 im Durchschnitt 0,7—2,3%, der Verpflegten an Tuberkulose, bei der gleichaltrigen Außenbevölkerung aber 0,3%. Aus den Jahresbe- richten der württembergischen Staatsirrenanstalten konnte ich er- sehen, daß von 10000 Verpflegten an Tuberkulose starben in den Jahren 1900—1905 81,8, 1906—1912 97,4, bei der Gesamtbevölkerung Württembergs dagegen etwa 13,8. In den Irrenanstalten der Rhein- provinz sind von je 100 Verpflegten an Tuberkulose gestorben in den Jahren 1905—14 im Durchschnitt 0,78, bei der Gesamtbevölkerung etwa 0,15.

In den sächsischen Irrenanstalten kamen in den nachbezeichneten Jahren auf 10000 Verpflegte Todesfälle an Tuberkulose:

1900 85,9 1909 54,4 4918 1116,2 1901 103,2 1940 54,7 1919 809,0 1902 100,8 1911 94,9 1920 169,0 1903 86,2 1912 109,4 41921 116,6 1904 104,3 41913 121,4 1922 120,7 1905 89,0 1914 119,9 1923 146,3 1906 68,9 1915 182,5 1924 125,1 1907 84,4 1916 372,7

1908 77,9 1917 835,1

Die Jahresberichte des Landesgesundheitsamtes, aus denen ich diese Zahlen errechnete, liegen nur bis 1924 vor. Über die späteren Jahre werde ich noch zusammenfassend berichten. Die starken Schwankungen der Tuberkulose-Mortalität in den einzelnen Jahren sind Folgeerscheinungen der Influenza- bezw. Typhusepidemien, dann der Kriegseinflüsse und der- gleichen mehr. Ich gehe jetzt nicht näher darauf ein. Ins rechte Licht gerückt werden nun diese Zahlen erst, wenn wir sie, wie vorn erwähnt, in Vergleich setzen zu den entsprechenden der Außenbevölkerung. Die Kriegs- jahre lasse ich dabei außer Betracht; einmal mangels genauer statistischer Unterlagen und vor allem deshalb, weil sie mit ihren abnormen Verhält- nissen sehr aus dem Rahmen des zu Erörternden herausfallen. Um die obenerwähnten Schwankungen wenigstens rechnerisch auszugleichen, verwerte ich den Durchschnitt aus mehreren Jahren bei dem Vergleich:

Es starben an Tuberkulose in den Altersklassen vom 15. bis zum 70. Lebensjahre durchschnittlich in einem Jahre:

268 Werner,

2 ; von 10 000 | von 10 000 der in den Jahren: Anstaltsinsassen: Außenbevölkerung: 1900 85,9 27,5 1901/5 96,7 23,0 1906/14 87,3 18,2 1922 120,7 14,5 1923 446,3 15,4 1924 415,1 12,5

oder: die Zahl der Tuberkulose-Todesfälle der Irrenanstaltsinsassen zu der einer gleichgroßen Anzahl den entsprechenden Altersklassen angehöriger Personen der Außenbevölkerung verhielt sich:

im Jahre 1900 .......... wie 3,1 :1 in den Jahren 1901/05.... 32:1 in den Jahren 1906/14.... 48:1 im Jahre 1922 .......... » 83:1 im Jahre 1923 .......... 5 He 4 im Jahre 1924 .... sA

So liegen die Verhältnisse in ‘Sachsen; and die anderen Länder zeigen keine nennenswerten Abweichungen, wenigstens nicht nach der günstigeren Seite hin.

Wenn wir, was selbstverständlich ist, die Todesfälle der Irren, die die direkte Folge der geistigen Erkrankung sind (z. B. paralytische Anfälle, status epileptic. u. dgl.) hierbei außer acht lassen (sie be- tragen etwa 25%, aller Todesfälle der Anstaltsbevölkerung), so steht die Tuberkulose immer noch an hervorragender, meist an erster Stelle unter den Todesursachen; und das trotz aller Bemühungen, diese heimtückische Krankheit zu bekämpfen!

Es ist Brauch, von der Zahl der Tuberkulose-Todesfälle auf die Zahl der an Tuberkulose Erkrankten zu schließen und zwar rechnet man dabei auf einen Todesfall 3 Fälle von schwerer Erkrankung. Nach dieser Rech- nungsart müßten wir in unseren sächsischen Irrenanstalten 1920 (85 Todes- fälle) auf 255, 1921 (68 Todesfälle) auf 204, 1922 (74 Todesfälle) auf 222 Erkrankungsfälle stoßen. Nach dem Berichte des Landesgesundheits- amtes lauten die entsprechenden Zahlen 1920.. 174, 1921. .144, 1922. .164 Erkrankungsfälle. Ich glaube, daß die letzteren Zahlen zu niedrig sind; es wird da mancher Fall der Diagnose entgangen sein, was bei den Schwie- rigkeiten unter den obwaltenden Verhältnissen nicht verwunderlich ist.

Ehe ich nun diesen ersten Abschnitt der Abhandlung beschließe, sei mir noch ein Blick in die Zukunft gestattet: Wir wissen, daß die Tuberkulose-Sterblichkeit in der Bevölkerung nach den schlimmsten Inflationsjahren wieder sehr erheblich gesunken ist, mitunter sogar unter die der Vorkriegsjahre; auch aus manchen Anstalten wird ähnliches berichtet. Können wir daraus nun schließen, daß wir uns auch für dauernd den Friedensverhältnissen in diesem Punkte wieder genähert haben, daß wir die größte Gefahr überwunden haben? Ich

Die Bedeutung der Tuberkulose fiir die Irrenanstalten. 269

glaube nicht daran... Um meine Stellungnahme zu begründen, muß ich hier auf eine Veröffentlichung von Gottstein (Kl. W. 1922) ein- gehen: G. berichtet, daß in Finnland, infolge einer Mißernte in den Jahren 1866/67 eine große Hungersnot eintrat, die eine enorme Stei- gerung der Sterblichkeit hervorrief: ,,die bei weitem höchste, die bis- her je in der europäischen Bevölkerungsstatistik überhaupt beobachtet wurde“. Es starben im Jahre 1868 8%, der Bevölkerung. An dieser Steigerung waren alle Altersklassen beteiligt, am stärksten die im Er- werbsleben stehenden. Auch alle Todesursachen wiesen eine Steigerung auf. Die Sterblichkeit an allen anderen Todesursachen sank dann in den folgenden Jahren: erst für kurze Zeit ziemlich stark, dann lang- samer, zeigte aber dauernd eine weitere Tendenz zum Fallen. Anders die Tuberkulose-Sterblichkeit: sie sank für kurze Zeit ab, stieg aber nach wenigen Jahren wieder, und zwar ziemlich steil an, um erst nach einem Jahrzehnt abzufallen, blieb aber auch dann noch relativ hoch, sank also nicht stetig weiter, wie zur gleichen Zeit in fast allen anderen Ländern. : ‚Die Zunahme der Schwindsuchtssterblichkeit trat also erst ein, als die durch Hungersnot des Jahres 1868 und deren Folge- krankheiten in ihrer Konstitution geschwächte Jugend in das erwerbs- fähige Alter eintrat und sie hielt anscheinend solange vor, als sie in diesem Lebensabschnitt verweilte.‘‘

Wir haben gesehen, daß bei uns in den Kriegs- und in den In- flationsjahren die Tuberkulose-Sterblichkeit gewaltig emporschnellte; die Tuberulose-Erkrankungen zeigten einen beschleunigteren letalen Verlauf, auch die Neuerkrankungen an Tuberkulose! Auch jetzt werden wieder solche Krankheitsverläufe beobachtet. Wenn die Tuberkulose-Sterblichkeit auch noch nicht wieder beträchtlich ansteigt, so mehren sich doch mancherorts die Erkrankungen, besonders der Jugendlichen! Lassen wir uns durch den erfreulichen Rückgang der Tuberkulose-Sterblichkeit der letzten Jahre nicht in die Irre führen, wenn auch Viele in den letzten Stadien der Tuberkulose in den Kriegs- und Inflationsjahren schnell dahin gerafft wurden, wenn auch viele von den jüngsten Kindern das gleiche Schicksal erreichte, so besteht doch noch die Gefahr, und leider mit großer Wahrscheinlichkeit, daß viele von den in den Not- und Hungerjahren Geborenen, jetzt im Kindes- oder jugendlichen Alter Stehenden, dann wenn „der Kampf zwischen Konstitution und weit verbreiteten Parasiten ernst wird‘‘, wenn der harte Kampf ums Dasein erst beginnt, der Tuberkulose erliegen. Das Wirken der Tuberkulose unter der Bevölkerung spiegelt sich aber in vergröberten Zügen bei den Anstaltsinsassen wider. Seien wir wachsam, rüsten wir uns!

270 | Werner,

Daß bei der großen Verbreitung der Tuberkulose in den Irrenan- 'stalten außer den Mitkranken der Tuberkulösen auch alle Personen, die hier beruflich tätig sind, so vor allem das Pflegepersonal, in vermehrtem

Maße einer Infektion mit Tuberkulose ausgesetzt sind, ist leicht zu verstehen,

Über diesen Gegenstand wird von anderer Seite berichtet, ich gehe daher nicht weiter darauf ein.

II.

Wie ist nun die Häufigkeit der Tuberkulose in den Anstalten zu erklären? Gibt die Veranlassung dazu das Anstaltsleben, die Dichtig¢ keit des Zusammenlebens der Kranken oder dergleichen, oder sind die Lebensgewohnheiten der Geisteskranken das ausschlaggebende Mo- ment? Oder kommt eine erhöhte Disposition der Irren zur Tuberkulose in Betracht? Bereitet die Geisteskrankheit der Tuberkulose den Boden vor oder umgekehrt? Neigen Geisteskranke an und für sich (auch außerhalb der Anstalten) eher zur Erkrankung an Tuberkulose als Geistesgesunde ?

Die Beantwortung dieses Fragenkomplexes ist wichtig, vor allem auch deshalb, um entscheiden zu können, ob und wie weit es uns ge- lingen kann, die Tuberkulose-Mortalität bzw. -Verbreitung in den Anstalten soweit zu reduzieren, daß sie der bei der Außenbevölkerung

möglichst näherkommen.

Alle Autoren, die diesen Gegenstand behandeln, messen beiden Faktoren, sowohl dem Anstaltsaufenthalte wie der Geisteskrankheit an und für sich eine mehr oder minder große Bedeutung für die große Ver- breitung der Tuberkulose unter den Geisteskranken in der Anstalt bei. Der erste, der in sehr eingehender Weise sich über diese Frage verbreitete, war Hagen. Von seinen interessanten Ausführungen setze ich nur die Schlußsätze hierher: ‚Das Irresein versetzt das Indviduum in äußere und innere Verhältnisse, durch welche es der Gefahr anderweitiger Erkran- kungen... mehr ausgesetzt ist, als ein geistesgesundes die Lungen- schwindsucht ist einer der anormalen Vorgänge... in welchem die größere Morbidität und Mortalität der Geisteskranken zur Erscheinung kommt. Die Mortalität durch Phthise wird umso größer, je ungünstiger die äußeren Verhältnisse werden und kann daher durch Verbesserung dieser vermin- dert werden. Da sie aber ihre Hauptursache in der Geisteskrankheit selbst hat, so kann ihre relative Häufigkeit niemals ganz beseitigt werden.“

Die Arbeiten der übrigen Verfasser erwähne ich hier nicht weiter, sondern gehe nur etwas ausführlicher auf eine Veröffentlichung von Loew (A. Z. f. Psych. Bd. 73) ein; weil Z. in recht eingehender Weise die Ein- flüsse des Anstaltslebens und die der Psychose an und für sich auf die Tuberkulose-Sterblichkeit darlegt und vor allem, weil er diese in Bezie- hung setzt zu den einzelnen Gruppen der geistigen Erkrankung. Die Arbeit Loew’s stützt sich auf ein Material von 536 Todesfällen in der Anstalt Bedburg-Hau aus der Zeit vom Herbst 1911 bis Frühjahr 1916 (Kriegs-

Die Bedeutung der Tuberkulose für die Irrenanstalten. 971

einflüsse hatten sich damals unter den Kranken noch kaum geltend ge- macht, hinsichtlich der Ernährung usw.) Die Sektionen der Gestorbenen wurden in einheitlicher Weise von dem Prosektor der Anstalt vorgenommen. Es ist ein großer Vorteil, daß bei einer solch großen Anstalt schon in kurzer Zeit so viele Fälle zur Verarbeitung zur Verfügung standen, dadurch sind die äußeren Bedingungen, unter denen die Kranken vor ihrem Tode standen, recht gut vergleichbar; auch braucht sich der Berichterstatter dann nicht auf mehr oder minder zuverlässige Aufzeichnungen aus frü- heren Jahren zu berufen, sondern er kennt die meisten Fälle selbst und kann sie richtiger beurteilen. Wenn gewöhnlich die Überfüllung und die ungenügend hygienische Einrichtung, besonders der alten Anstalten, hauptsächlich für die große Verbreitung der Tuberkulose in ihnen ange- führt werden, so treffen diese Umstände bei der anerkannt musterhaft angelegten Anstalt B.-H. nicht zu. Und trotzdem war auch hier die Tuberkulose recht häufig. Ä

Vorausschicken will ich, was L. über die vielerörterte Frage sagt, ob die Kranken ihre Tuberkulose während oder schon vor ihrem Aufent- haltin der Anstalt erworben haben. Ich stimme mit seinen Ausführungen darüber durchaus überein. Die meisten anderen Autoren entschieden diese Frage durch die Länge des Anstaltsaufenthaltes der an Tuberkulose Gestorbenen: Sie nahmen die Dauer der zum Tode führenden Tuberkulose zu 3 Jahren an und schlossen dann: Alle, die innerhalb der ersten 3 Jahre ihres Aufenthaltes in der Anstalt an Tuberkulose starben, galten als schon vor der Aufnahme infiziert; bei den nach 4—5 Jahren Gestorbenen wurde der Zeitpunkt der Infektion (ob außer oder: innerhalb der Anstalt) als fraglich bezeichnet und von den nach mehr als 5 Jahren Anstaltsaufent- halt an Tuberkulose Gestorbenen, wurde angenommen, daß sie sich in der Anstalt infiziert hatten. Die Autoren kamen dann zu dem Resultat, daß ein Drittel bis die Hälfte ihrer Kranken die Tuberkulose in die Anstalt mitgebracht hatten. Bei dieser Berechnungsart wären das von den Loew- schen Fällen ein Drittel. Doch läßt sich diese Frage nicht so, sie läßt sich überhaupt nicht rückschauend für die Gesamtheit der Fälle ent- scheiden: Die Krankengeschichten lassen uns dafür meist im Stiche, da es, wie schon mehrfach erwähnt, bei Geisteskranken ungemein schwer ist, den Beginn einer Tuberkulose zeitlich zu bestimmen; wird sie bei ihnen intra vitam diagnostiziert, so ist sie meist schon ziemlich weit fortge- schritten. Man denke dabei nur an die von den Drüsen ausgehende Tuber- kulose, man denke an Reinfektionen! Wie verschieden lange, bzw. kurze Zeit liegt dann oft zwischen der Infektion und dem Manifestwerden. Recht gut können Kranke, die jahrelang in der Anstalt waren, sich schon vorher angesteckt haben, ihre Tuberkulose kann lange Zeit latent gewesen sein, um dann plötzlich einen rapiden, ad exitum führenden Verlauf zu nehmen. Andererseits können besonders widerstandsunfähige Kranke schon nach ganz kurzem Aufenthalte in der Anstalt eine schwere, schnell letal ver- laufende Tuberkulose erwerben. Wenig zu verwerten sind meist auch die Angaben über die tuberkulöse Belastung der Anstaltsinsassen.

L. fand, daß von den im erwähnten Zeitraum Gestorbenen etwa 25% der Tuberkulose erlagen. Betrachten wir nun, wie sich die Tuber- kulose-Sterblichkeit bei den einzelnen Psychoseformen auswirkte. Dabei

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sollen auch gleich die Zahlen der anderen Autoren mit beriicksichtigt werden: Von den Gestorbenen, die an den jeweils angeführten geistigen Erkrankungen gelitten hatten, starben an Tuberkulose:

Dementia praecox: Schröder...67%, Loew...50,6%, Ganter...45%,

Epilepsie: Loew...27,2%, Ganter...21,8%, Köhler...16,7%, Haber-

| maas...10%, Hahn ...8,6%.

Paralyse: Heilbronner...18,3%, Pilez...10,4%, Banse und Roderburg 8,2%, Witte...7,3%, Ganter...7,3%, Loew...6,9%, Junius und Arndi...6,5%, Brehm...6,3%;

man.-depr. Irresein: Loew...32%, Schröder...10%;

Dementia senilis: Schréder...12%, Ganter...8,3%, Loew...8%.

Wir sehen, daB die Zahlen der einzelnen Verfasser vor allem bei der Dementia praecox (D. p.) leidlich übereinstimmen, ebenso bei der Para- lyse und der Dementia senilis. Anders ist es bei der Epilepsie; hier ist den Zahlen von Habermaas und Hahn die größere Bedeutung beizumessen, weil diese das größere Material verarbeiteten. Beim man.-depr. Irresein ist das Material der Autoren sehr gering und kaum zu verwerten.

Man kann also mit Recht sagen, daß bei der Hälfte bis zwei Drittel der in den Anstalten versterbenden D. p.-Kranken Tuberkulose Todes- ursache ist. Sie übertreffen darin alle anderen Geisteskranken, während sie doch unter denselben Bedingungen in der Anstalt leben wie diese.

Berücksichtigen wir nun noch, mit den obengemachten Beschrän- kungen, die Dauer des Anstaltsaufenthaltes: Von 100 D. p.-Kranken, die nach einem Anstaltsaufenthalt von unter 5 Jahren starben, erlagen 61,5 der Tuberkulose und von 100 mit einem Anstaltsaufenthalt von über 5 Jahren 58,4. Danach ist der Länge des Anstaltsaufenthaltes keine sehr große Bedeutung zuzumessen. Ähnlich liegen auch die Verhältnisse bei den an- deren Psychosen. Nun könnte vielleicht eingewendet werden, daß die D. p.-Kranken sich eben recht gesundheitswidrig verhalten und deshalb sich leichter infizieren. JL. führt, gewissermaßen zum Beweise dagegen, eine ganze Reihe von Krankengeschichten an, aus denen hervorgeht, ‚daß Kranke mit solchem Verhalten allen Grund haben müßten, eine Tuber- kulose zum blühenden Aufgehen zu veranlassen‘, aber bei der Sektion fand sich dann keine Spur einer Tuberkulose. Er schließt dann mit den Worten „jedenfalls muß man aber, wenn man hört, daß solches Verhalten jahrelang bei einer sehr großen Anzahl D. p.-Kranker . .. vorkommt, ohne daß sich eine Tuberkulose einstellt, doch sagen, daß solche Umstände nicht als wesentlichste Momente für das Entstehen der Tuberkulose zu gelten haben. Daß die D. p.-Kranken so sehr der Tbc. zum Opfer fallen, hat sicherlich tiefere Gründe, welcher Art diese sind, ist natürlich eine an- dere Frage. Jedenfalls scheinen besondere Zusammenhänge zwischen der D. p. und Tuberkulose, auch unabhängig von dem erwähnten Verhalten der Kranken, zu bestehen.“

Zusammenfassend ist also zu bemerken: Vonfast allen Autoren ist anerkannt, worden, daß der Anstaltsaufenthalt, d. h. das Zu- sammenleben vieler Geisteskranker mit allen ihren Gewohnheiten

Die Bedeutung der Tuberkulose fiir die Irrenanstalten. 973

und ihrem Verhalten bei der Verbreitung der Tuberkulose in der An- stalt eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt. Die Mehrzahl aber mißt der vorhandenen Geisteskrankheit und vor allem der D. p. an sich, für die Erwerbung einer tuberkulösen Erkrankung noch eine be- sondere Bedeutung bei. Sie meinen also, daß zu der vermehrten Ex- position, die in der Anstalt vorhanden ist, noch eine im Vergleich zu

den Geistesgesunden gesteigerte Disposition hinzutritt,

Ehe ich mich zu dieser Frage äußere, noch einige allgemeine Be- merkungen: Es ist viel gestritten worden darüber, wie eine Infektion mit Tuberkulose vor sich geht, welches das Infektionsmaterial, welches der Infektionsweg ist, ob die Staub- oder die Tröpfcheninfektion der häufigere Modus ist, ob und wie oft durch die Schleimhaut der oberen Verdauungs- wege aufgenomme Bazillen zur Erkrankung führen, ob die Inhalations- infektion bei Erwachsenen die häufigere oder überhaupt die einzige Art der Infektion ist und dgl. mehr. Es ist viel geschrieben worden über die Reinfektion bei Erwachsenen, über die Bedeutung des fehlenden oder vor- handenen Durchseuchungswiderstandes usw. Alle diese Fragen der Phthiseogenese kann ich hier nicht ausführlich erörtern. Wir halten an den immer noch zu Recht bestehenden Tatsachen fest, daß eine Tröpfchen- und eine Staubinfektion möglich ist, daß eine Tuberkulose durch Ver- mittlung der oberen Luft- wie der oberen Speisewege erworben werden kann, daß, und sei der Durchseuchungswiderstand noch so groß, in jedem Lebensalter eine Infektion statthaben kann, wenn sie nur massig oder häufig genug ist. Von den erkrankten Organen kommen hier haupt- sächlich Lungen, Darm und Kehlkopf in Betracht. Betreffs der Frage der Einteilung der Lungen-Tuberkulose: ob offene oder geschlossene, schließen wir uns der Anschauung an, daß man besser nicht nur von offener und geschlossener Tuberkulose spricht, sondern auch die fakultativ offene berücksichtigt. Die Häufigkeit der letzteren und ihre große Bedeutung für die Weiterverbreitung der Tuberkulose wird erheblich unterschätzt.

Soll nun eine tuberkulöse Erkrankung eintreten, dann ist eben Auf- nahme von Tuberkulose-Bazillen nötig, d. h. es muß eine Exposition vorhanden sein; mit deren Häufigkeit und Quantität steigt die Infektions- möglichkeit. Ob und welche Wirkungen dann die Infektion auf den Orga- nismus ausübt, hängt von der angeborenen oder erworbenen, bzw. im Moment der Aufnahme der Bazillen vorhandenen Disposition zusammen.

Die Exposition oder die äußeren Bedingungen der Infektionsmög- lichkeit sind in der Anstalt recht groß. Schon in Hinsicht auf die große Anzahl der an Tuberkulose Erkrankten, der Bazillenstreuer. Das beweist der statistische Teil dieser Abhandlung zur Genüge. Dazu kommt noch, daß die Infektionsmöglichkeiten dadurch wachsen, daß die Erziehungsversuche zu dem den Vorschriften der Hygiene ent- sprechenden Verhalten, bei vielen Geisteskranken vollkommen fehl- schlagen. Es kommen bei ihnen nicht nur die Verbreitung durch Hustentröpfehen oder Staubkörnchen in Betracht, sondern noch weit

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massivere Arten: Schmieren mit Kot (Darm-Tuberkulose wird ziem- lich häufig angetroffen unter den tukerkulösen Irren), Schmieren mit Sputum, direktes Ausspucken; alles Mögliche wird in den Mund ge- steckt, abgeleckt u. dgl. mehr. Trotz sorgsamster Bewachung gelingt es immer wieder dem einen oder dem anderen Speichel oder Auswurf an den denkbar ungeeignetsten Orten zu entleeren. Und nicht genug, daß die geisteskranken Bazillenverbreiter im Vergleich zu den geistes- gesunden mit dem Infektionsmaterial weit unvorsichtiger umgehen und so ihre Umgebung schwer gefährden; auch die Aufnahme des Infektionsstoffes wird durch entsprechendes unsauberes Verhalten der Mitkranken sehr gefördert. Wahllos wird alles angefaßt, womöglich in den Mund gesteckt. Viele kriechen auf dem Fußboden herum und haben sonst allerlei unsaubere Gewohnheiten, denen sie frönen, sobald sich nur eine Gelegenheit dazu bietet. Daß das enge Beisam- mensein, besonders in den überfüllten Anstalten, noch das übrige zur Erhöhung der Exposition beiträgt, brauche ich nicht besonders hervorzuheben.

Dabei habe ich noch ganz davon abgesehen zu erwähnen, daß man- gels erkennbarer klinischer Erscheinungen oft gar nicht, oder nur sehr spät, nach der Diagnose Tuberkulose gefahndet wird. Wie oft werden die Tuberkulose-Symptome durch die Psychosesymptome verdeckt. Wie selten wird über subjektive Beschwerden geklagt, die einen Fingerzeig geben könnten; welche Schwierigkeiten werden bei der Untersuchung bereitet; wie oft wird das Sputum verschluckt, dadurch Gelegenheit zur Ausbildung einer Darm-Tuberkulose bietend. Es bedarf keiner weiteren Worte, um zu beweisen, daß die Exposition und damit die Infektionsmöglichkeit in den Anstalten ungleich größer ist, als außerhalb, als bei den Geistesgesunden. Die kann man nicht hinwegdisputieren und wenn sich manche Autoren noch so sehr be- mühen, zu beweisen, daß mit der Dauer des Anstaltsaufenthaltes die Wahrscheinlichkeit der Erwerbung einer Tuberkulose nicht oder nur wenig wächst. Was nützen da all die unzulänglichen Versuche, nach- träglich zu berechnen, daß soundso viele Kranke aller Wahrscheinlich- keit nach schon tuberkulös in die Anstalt kamen.

Erörtern wir nun den Begriff der Disposition. Wir müssen dabei etwas ausholen und uns erst einmal darüber klar werden, ob die Sterb- | lichkeit überhaupt undauch an anderen Krankheiten unter den Geistes- kranken größer ist, als unter den Geistesgesunden. Das ist erwiesen und hinreichend bekannt; auch wenn wir dem Umstande Rechnung tragen, daß etwa 25% der Geisteskranken an der Geisteskrankheit bzw.

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an deren Folgen sterben, bleibt immer noch eine große Übersterblich- keit vorhanden. Über die Sterblichkeit der Irren an anderen Krank- heiten führe ich hier, als einzigen, einen von Pandy gegebenen Bericht an: nach diesem starben 1906 in England an Herzfehler von 1000 Ein- wohner im Durchschnitt 2, von den Kranken in den Anstalten etwa 10, an Lungenentzündung von der gleichen Zahl der Einwohner im Durchschnitt 1, von den Irren 7, an Nierenkrankheiten von 1000 Ein- wohnern 0,49 von Anstaltskranken 4. Ich glaube, ich brauche nicht erst durch ein großes statistisches Material zu beweisen, daß Geistes- krankheit die Entstehung von körperlichen Krankheiten begünstigt, oder noch neutraler ausgedrückt, daß sich geistige und körperliche Krankheit oft vergesellschaftet. Was nun weiter die Belastung im Sinne der ererbten oder angeborenen Disposition für Tuberkulose anbetrifft, so fand z. B. Goldberger, der nach meiner Ansicht am sorg- fältigsten vorging, daß bei seinen 825 Kranken der Budapester Klinik, bei denen er die Vorgeschichte sehr genau erforscht hatte, bei 28% Lungenschwindsucht als familär belastendes Moment; bei 15,6%, war Lungenschwindsucht und Geisteskrankheit bei den Vorfahren vor- handen. Doch daraus kann man nicht viel schließen, da das Vergleichs- material mit der Außenbevölkerung, das einer strengen Kritik stand- hält, fehlt. Sicher scheint mir, daß durch die, infolge der Psychose oft unzweckmäßige Lebensweise: unzureichende oder falsch gewählte Ernährung, Verweigerung der Nahrung überhaupt für längere Zeit, Vernachlässigung der Körperpflege, ungenügende Bewegung in frischer Luft, ungenügende Atmung u. dgl. mehr die Widerstandsfähigkeit gegen eine Infektion herabgesetzt und so, wenigstens zeitweilig, eine erhöhte Disposition oder Erkrankungsbereitschaft, wie für andere körperliche Krankheiten, so auch für die Tuberkulose geschaffen wer- den kann. Wir haben damit aber erst gesagt, daß durch die Äußerungs- formen der Psychose, oder mit schlichten Worten, daß durch die manchmal unhygienische Lebensführung der Geisteskranken einer Er- krankung an Tuberkulose Vorschub geleistet werden kann, aber damit weder gemeint noch bewiesen, daß die mit der Entstehung und Wei- terentwicklung der Psychose einhergehenden Veränderungen im ge- samten Körperhaushalte (etwa feinere noch nicht genügend bekannte Störungen des Stoffwechsels) der Tuberkulose den Boden vorbereiten.

Gehen wir nun gleich zu den Verhältnissen bei der D. p., der am meisten verbreiteten Psychose, über und setzen wir dabei unsere Er- 4rterungen fort. Es war schon lange bekannt, daß die Tuberkulose verhältnismäßig mehr Opfer unter den D. p.-Kranken fordert, als unter

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den an anderen Psychosen Erkrankten und natürlich erst recht als unter den Geistesgesunden. Was hat man nun nicht alles für Hypo- thesen aufgestellt, um da etwaige Zusammenhänge zu finden und zu erklären. |

Am weitesten geht da wohl Wolfer, der direkt von einer Tuber- kulogenese der D. p. spricht, die D. p. gewissermaßen als ,,Metatuber- kulose‘‘ ansieht, also meint, was für die Paralyse die Lues bedeutet, be- deutet für die D. p. die Tuberkulose, oder Ciarla und Zalla, die an Hand von großen Statistiken beweisen, daß einmal unter den D. p.-Kranken die Tuberkulose sehr häufig ist und wiederum unter den Tuberkulösen die D. p. und dieser ähnliche Erkrankungen öfter beobachtet werden, als unter den Nichtuberkulösen. Sie reden von einer ,,protobazillaren Psychose“ und wollen damit sagen, daß für viele psychische Krankheitsformen, und zwar besonders solche der D. p.-Gruppe, eine tuberkulöse Intoxi- kation eine bedeutende, wenn auch nicht die ausschließliche Ursache ist. Auf alle die mehr oder weniger geistreichen Bemerkungen, die zum Problem Schizophrenie und Tuberkulose auf dem französischen Psychiater- tag in Genf 1926 gemacht wurden, will ich nicht eingehen: auch nicht auf die Arbeiten der Autoren, die aus dem Umstand, daß Tuberkulinein- spritzungen bei D. p. mitunter Besserungen bringen (I), ursächliche Zu- sammenhänge zwischen Tuberkulose und D.p. folgern wollten. Ich ver- weise auf Magenau, der in seiner entsprechenden Abhandlung einige der anderen Verfasser berücksichtigt.

Als ich mich früher schon mit diesem Problem, Beziehungen zwischen D. p. und Tuberkulose beschäftigte, entstand in mir der Wunsch nach einer Statistik, die zeigte, daß in den Familien der D. p.-Kranken auch unter den geistesgesunden Angehörigen die Tu- berkulose häufiger ist als unter denen der anderen Geisteskranken und der Durchschnittsbevölkerung. Eine solche Statistik schien mir besser zu beweisen, daß D. p.-Kranke, auch unabhängig von Umweltein- flüssen, in gewisser Weise zur Tuberkulose prädisponiert sind. Wäre das tatsächlich der Fall, dann wären wir auch des Nachweises ent- hoben, ob die Psychose das primäre und die Tuberkulose das sekundäre ist, oder ob die Verhältnisse umgekehrt liegen, und es würde dargetan, was mir von jeher als das Wahrscheinlichste erschien, daß die Tuber- kulose und die D. p. aufbauen auf gleichen oder wenigstens sich sehr ähnlichen ererbten bzw. konstitutionellen Faktoren. Hingeleitet wurde ich zu diesem Gedanken, da es doch immerhin recht auffällig ist, daß sich unter den Tuberkulösen wie unter den D. p.-Kranken auffallend oft der asthenische oder leptosome Körperbautyp vertreten findet und auch dysplastische, häufig lymphatische Typen darstellend, deutliche Beziehungen zur Tuberkulose wie zur D. p. zeigen, und daß bei diesen asthenischen und dysplastischen Typen (s. Feldweg-Neuer), seien sie

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nun geistesgesund oder geisteskrank, die Lungen-Tuberkulose viel haufiger einen letalen Verlauf nimmt, als bei den sthenischen Typen, selbst bei gleichgroBer Ausdehnung und gleicher Schwere der Lungen- veränderungen.

Gegen Mitte vergangenen Jahres veröffentlichte nun Lucenburger eine solche Statistik. L. zählte an einem großen Material die Tuberkulose- Todesfälle der Geschwister von an D. p. und von an manisch-depres- sivem Irresein Erkrankten und stellte diese Zahlen den Tuberkulose- Todesfällen von Geschwistern Geistesgesunder der Durchschnitts- bevölkerung gegenüber. (Die auch psychotischen Geschwister seiner Probanden ließ er folgerichtig außer Betracht.) Er beachtete die ver- schiedensten korrigierenden Kautelen, soziale Schichtung, berufliche Gliederung, Stadt- und Landgebürtigkeit, Lebensalter und dgl. L. ging also bei seiner Statistik mit recht großer Vorsicht und Gründlich- keit zu Werke. Hören wir seine Ergebnisse:

„1. Die nichtpsychotischen Geschwister der Schizophrenen ster- ben weit häufiger, bis 4 mal so häufig an irgendeiner Form der Tuberkulose als die gleichaltrigen Geschwister der Durchschnitts- bevölkerung.

2. Die nichtpsychotischen Geschwister der Manisch-Depressiven verhalten sich in bezug auf die Häufigkeit der Todesfälle an Tuber- kulose wie die Geschwister der Durchschnittsbevölkerung.

3. Die geringere Widerstandsfähigkeit der schizophrenen Ge- schwisterschaften ist sicher ein erbkonstitutionelles Moment.

4. Eine positive Korrelation zwischen der Anlage zur Dementia praecox und der erblichen Schwäche der geweblichen Potenz, die zu der herabgesetzten Widerstandsfähigkeit gegen die tuberkulöse Infektion führt, muß angenommen werden.“

Ob L.s Erklärungsversuch mit Hilfe des Begriffes der geweb- lichen Potenz viel für sich hat, kann ich nicht entscheiden. Auch sonst muß ich mir versagen, weiter auf seine sehr interessanten Ausführungen einzugehen. Hinsichtlich der statistischen Angaben sind die Ergebnisse L.s so eindeutig und klar, daß ich nichts hinzuzufügen brauche.

Fassen wir zusammen, was uns der erste und zweite Ab- schnitt unserer Abhandlungen lehren: Die Tuberkulose ist bei den Anstaltsinsassen bei weitem häufiger vorhanden als bei der ent- sprechenden Außenbevölkerung. Der Aufenthalt in der Anstalt bietet noch dazu, hauptsächlich infolge des unhygienischen Verhaltens sowohl der tuberkulösen wie der nichttuberkulösen Geisteskranken für die letzteren häufigere Infektionsmöglichkeiten, als in der Außen-

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bevélkerung. Die durch die Psychose oft ungünstig beeinflußte Lebensführung der Irren bringt mit sich eine vermehrte Disposition zur körperlichen Erkrankungen überhaupt, so auch zur Tuberkulose. Speziell bei den Dementia praecox-Kranken (diese überwiegen in allen Anstalten stark an Zahl!) ist aller Wahrscheinlichkeit nach ein erbkonstitutionelles Moment vorhanden, das zur Tuberkulose prädisponiert, der Tuberkulose gegenüber besonders widerstandslos macht.

Die Sätze führen uns die Bedeutung der Tuberkulose für die Irren- anstalten so recht vor Augen. Sollen wir es nun als schicksalsmäßige Fügung hinnehmen, daß wir wenig Aussicht haben im Kampfe gegen die Tuberkulose siegreich zu bestehen und daß die Irrenanstalten, da in ihnen die Tuberkulose-Bekämpfung von vornherein mit solchen Schwierigkeiten zu rechnen hat, den relativ günstigen Stand der Außen- bevölkerung wohl nie erreichen werden? Sollen wir die Tuberkulose „als eine Begleiterscheinung der Geisteskrankheit‘‘ betrachten und tatenlos zuschauen? Die Antwort auf diese Frage kann nur ein ent- schiedenes Nein sein. Wir haben uns schon weit von den mittel- alterlichen Zuständen, die früher in den Verwahrungshäusern, die sich manchmal auch Irrenanstalten nannten, herrschten, entfernt, wir haben auch im Kampfe gegen die Tuberkulose schon schöne Erfolge erzielt; wir dürfen nicht ruhen, bis die Irrenanstalten das sind, was sie sein sollen: Moderne Spezialkrankenhäuser mit einwandfreien hygienischen Einrichtungen. Wir müssen Vorbilder sein auf dem Gebiet sozial- hygienischer Bestrebungen, zu denen die Bekämpfung der Tuberkulose in erster Linie gehört; und sind von vornherein die Aussichten für uns besonders ungünstig, dann sind wir verpflichtet um so umfassendere Bekämpfungsmaßnahmen gegen die Tuberkulose zu ergreifen. Von diesen soll in dem folgenden dritten Abschnitt die Rede sein.

MI.

Damit wir immer im Bilde sind, was wir erreicht haben bei der Tuberkulose-Bekämpfung und was noch erreicht werden muß und kann, sollte der Teil der Jahresberichte, der über die Tuberkulose- Todesfälle handelt, mit größter Sorgfalt bearbeitet werden, um ein- wandfrejes statistisches Material zu bieten. Das gleiche gilt von den Tuberkulose-Erkrankungsfällen. Es muß die Art der Berichterstattung wegfallen, die zu falschen Schlüssen führt, wie ich oben erwähnte. Alle 5 oder 10 Jahre ist die Tuberkulosefrage in den Anstalten zu- sammenfassend zu behandeln. Es müssen in den Berichten die

Die Bedeutung der Tuberkulose fir die Irrenanstalten. 279

Neuerungen und Änderungen der Maßnahmen in den einzelnen An- stalten mit den dabei gemachten Erfahrungen genauer geschildert werden. Nur bei solch genauer Beschreibung können wir ein rich- tiges Bild davon erhalten, ob unsere Bekämpfungsmaßnahmen wir- kungsvoll sind; eine Anstalt kann von der anderen lernen; wir können so von den Erfolgen der einen und den Fehlschlägen der anderen er- fahren. Wir erkennen, wo sich ein „Infektionsnest‘‘ findet und können entsprechende Abhilfe schaffen.

Unsere vornehmste Aufgabe bei der Bekämpfung der Tuberkulose wird ihre Prophylaxe sein. Die Prophylaxe, soweit sie sich nicht darauf beschränkt, die Erkrankten von den Gesunden fernzuhalten, (darüber später) fällt zum größten Teil mit allgemeinhygienischen Maßnahmen zusammen. Auf diese brauche ich an dieser Stelle nicht weiter einzugehen. Betonen will ich nur noch, daß die Überfüllung der Anstalten es ist, die die Durchführung geordneter hygienischer Maßnahmen und damit auch wirkungsvoller Tuberkulose-Prophylaxe verhindert. Es kann, obwohl bekannt, nicht oft genug gesagt werden: in überfüllten Anstalten (und die meisten Anstalten sind überfüllt!) ist keine erfolgreiche Tuberkulose-Bekämpfung möglich. Das lehrt zur Genüge die Statistik mancher Anstalten.

Einen gewissen Fortschritt auf dem Gebiete der Hygiene des Anstaltslebens erblicke ich in der Einführung der sogenannten „ak- tiven Therapie‘‘ bzw. Beschaftigungstherapie. Die Lebensgewohn- heiten vieler Kranker werden durch sie günstig beeinflußt. Unsere Patienten verkriechen sich nicht mehr in ihre Betten, hocken nicht in dumpfen Zimmern, sie müssen dahin und dorthin an ihre Arbeits- plätze gehen, werden davon abgehalten, ihren der Gesundheit oft wenig förderlichen Gewohnheiten zu fröhnen; müssen an Spaziergängen, am Gartengang, an den Spielen, an Turnübungen im Freien teilnehmen. Oft läßt sich durch die Verteilung an verschiedene Arbeitsplätze, Garten, Feld usw. auch vermeiden, daß zuviele Kranke sich in ein und demselben Raum aufhalten. Welche Vorteile intensive Bewegungen und Aufenthalt in frischer Luft für den ganzen Körperhaushalt haben, brauche ich nicht erst ausführlich zu betonen, auch nicht hervorzu- heben, daß natürlich auch hier Überanstrengungen schaden. Ich ver- kenne nicht, daß bei schlechter Organisation der Beschäftigung der Kranken auch den einzelnen (unerkannten) Bazillenstreuern Gelegen- heit geboten werden kann, weitere Kreise (verschiedene Arbeitsräume und dgl.) zur Gefahrenzone zu machen und nicht nur ihren Aufent- halts- bzw. Schlafraum, wie früher.

280 Werner,

„Die nobelste Tuberkulose-Bekämpfung und Behandlung wird eine gewissenhafte Diagnose sein und bleiben“ (May). Die Diagnose ist bei den Irren besonders erschwert. Es erfordert um so größere Mühen und Kunstgriffe, sie zu stellen, sie frühzeitig genug zu stellen, wenn eine Behandlung noch Nutzen stiften kann und ehe die Um- gebung gefährdet oder geschädigt ist. Dieses Thema ist oft behandelt worden, ich führe hier nur die Namen Barth, Loew und Köster an, ohne näher auf deren lehrreiche Darlegungen einzugehen. Mir kann es hier nur obliegen, einige meist zu wenig beachtete Punkte zu be- sprechen und vor allem zu erwägen, wie wir dahin kommen, frühzeitig die tuberkulösen Erkrankungen der Anstaltsinsassen zu erkennen; frühzeitig soll hier nicht nur heißen in den frühesten Stadien der Er- krankungen, sondern frühzeitig in bezug auf den Anstaltsaufenthalt, also möglichst schon bei bzw. kurz nach der Aufnahme. Ich würde es für richtig halten, wenn schon in dem Fragebogen, der bei Aufnahme der Kranken in die Anstalt eingereicht wird, eine Anmerkung ent- halten wäre, ob der Kranke Tuberkulose-krank oder -verdächtig ist, ob er wegen Tuberkulose behandelt wurde, ob in seiner Familie Tuberkulose-Erkrankungen vorkamen, ob er oder seine Angehörigen in Lungenfürsorge gestanden haben. Dem Arzt, der die Einweisung vorbereitet, fällt es leichter an Ort und Stelle solche Erhebungen zu machen. Der Anstaltsarzt ist meist auf die Angaben des Kranken selbst angewiesen oder auf die oft wenig zuverlässigen Angaben von Ange- hörigen. Mitunter wird auch eine Anfrage von der Anstalt aus bei der entsprechenden Tuberkulose-Fürsorgestelle von Nutzen sein.

Gleich hier will ich erwähnen, daß bei der Entlassung oder bei längeren Beurlaubungen von Anstaltsinsassen, die Tuberkulose-krank oder -verdächtig sind, die Fürsorgestelle von der Anstalt aus wieder eine Benachrichtigung erhalten sollte. Es würde durch ein derartiges Zusammenarbeiten der Anstalt und der Fürsorgestellen und dann, wenn die Außenfürsorge für Geisteskranke in noch ausgiebigerem Maße in Erscheinung tritt, auch ein Zusammenarbeiten dieser mit der Lungenfürsorge von großem Nutzen sein.

Bei der Aufnahmeuntersuchung in der Anstalt ist nun mehr als bisher auf die körperliche Untersuchung Wert zu legen; es kommt nicht nur auf die psychiatrische Diagnose an! Ich würde empfehlen (vielen wird das als übertrieben erscheinen) der Krankengeschichte ein Schema beizuheften, ähnlich dem, wie es die Versicherungsgesell- schaften für ihre Kranken haben, die auf Tuberkulose untersucht werden sollen. Wenn sich das erst einmal eingebürgert hat, dann würde

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die dadurch bedingte Mehrarbeit sehr gering sein. An Hand bewahrter Schemata wird die Untersuchung vollständiger und ist doch nicht zeitraubender.

| Worauf man alles achten kann bzw. zu achten hat, wenn man bei der Untersuchung einer beginnenden Tuberkulose auf die Spur kommen will, das zeigt uns mit einer Gründlichkeit, wie ich sie nie wieder gefunden habe, W. Neumann in seinem Buche ,,Die Klinik der beginnenden Tuber- kulose Erwachsener“. Was hier an Erfahrungen niedergelegt ist, was alles durch Untersuchung mit den einfachsten Mitteln ans Licht gebracht werden kann, ist geradezu erstaunlich. Ich kann die Neumannsche Schrift nur empfehlen und muß mir versagen, von dem reichen Inhalte etwas an- zuführen,

Die einmalige Untersuchung und sei sie noch so gründlich, wird meist nicht ausreichen, um eine Tuberkulose oder einen Tuberkulose- . verdacht zu erweisen. Ist der Kranke einmal in den Bestand der An- stalt aufgenommen, dann beginnen erst die Aufgaben: Bei der großen Anzahl von Kranken, die bis jetzt noch der einzelne Anstaltsarzt zu betreuen hat, ist es natürlich unmöglich, daß er diesen Aufgaben allein gewachsen ist. Hier muß ihm das Pflegepersonal hilfreich zur Hand gehen, und dieses muß sehr eingehend darüber belehrt werden. Es ist nicht damit getan, daß das Personal angehalten wird, die Kranken dem Arzt namhaft zu machen, die viel Auswurf produzieren oder durch häufiges Husten auffallen. Die Frühsymptome der Tuberkulose treten oft nicht zuerst an den befallenen Organen in Erscheinung! Bei den Frauen sind z. B. Unregelmäßigkeiten der Menses oft das erste objektiv erkennbare Zeichen einer sich anbahnenden Tuberkulose. Dem Kranken selbst fallen diese Unregelmäßigkeiten oft nicht auf; das Personal kann sie beobachten. Auffallend leichte Ermüdbar- keit bei der Arbeit, mangelnde Eßlust sind der Beachtung wert. Nachtschweiße werden von den Kranken nicht immer angezeigt, aber dem Personal sollten sie nicht entgehen. Blutspuren auf dem ‚Kopfkissen lasse man nicht unbeachtet. Mitunter kündigt sich Darm- Tuberkulose durch Durchfälle geringsten Grades an, die von dem Kranken nicht zur Meldung gebracht werden; das Personal aber sollte den Arzt darauf aufmerksam machen. Schon öfteres Hüsteln (mit- unter nur des Nachts), dabei Brustschmerzen oder Stiche, die von den Kranken nicht spontan erwähnt erwähnt werden, aber mitunter zu erkennen sind dadurch, daß die Kranken sich an die Brust oder an die Seite fassen beim Husten, oder Schluckbewegungen nach Husten (Verschlucken von Sputum), schon SpeichelfluB oder vermehrte Se- kretion kann von Bedeutung sein. Das alles sind Anzeichen oder

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können solche sein, die uns veranlassen sollten, nach der Diagnose Tuberkulose zu fahnden. Sie sollten von einem wachsamen Personal dem Arzt mitgeteilt werden.

Man wende mir nicht ein, daß solches und ähnliches schon so oft bei unseren Kranken auftritt. Wo wollte man da hinkommen, wenn man da immer gleich an Tuberkulose denken wollte? Dem muß ich entgegen- halten, daß es besser ist, wir forschen 10—20 mal und noch öfters umsonst nach einer beginnenden Tuberkulose, als daß wir auch nur eine einzige übersehen.

Weiter kann das Personal uns viel nützen, wenn es auf unhygie- nische Gewohnheiten der Kranken, denen diese oft nur in Abwesenheit des Arztes huldigen, achtet und sie zu unserer Kenntnis bringt: Die Kranken, die alles in den Mund stecken, die alles anfassen und dann wieder mit den Fingern im Mund herumbohren und was dgl. Gewohn- heiten sind, die können sich natürlich leichter einer Infektion aus- setzen, und diese müssen wir deshalb besonders im Auge haben; zu- mal dann, wenn bei ihnen auch nur das geringste alarmierende Zeichen auftritt. Ich wollte mit allem nur sagen, daß durch die stetige Wach- samkeit eines speziell für diese Zwecke geschulten Personals schon manche Erschwerung der Diagnosestellung einer Tuberkulose, die uns unsere Kranken im Vergleich zu den Geistesgesunden bereiten, wettgemacht werden kann.

Uns Ärzten liegt es nun ob, auch auf die kleinsten, im allgemeinen nicht hoch bewerteten Zeichen, die eine Tuberkulose ankündigen können, unsere Aufmerksamkeit zu lenken: Von den vielen nenne ich auch nur wieder einige: So leichte Zyanose, leichte Anämie, soge- nannte rheumatische Beschwerden: Wie oft gehen Spitzenaffektionen lange unter der Diagnose Muskelrheumatismus. Rheumatische Prozesse der Gelenke und würden sie noch so leicht auftreten und rasch vor- übergehen, können tuberkulöser Natur sein! Pupillen-Differenzen können durch Druck tuberkulös veränderter Drüsen im hinteren Me- diastinum auf die entsprechenden Nervenstämme hervorgerufen wer- den! Pityriasis und Psoriasis der verschiedensten Formen haben Be- ziehung zur Tuberkulose Erythema nodosum, das nach meiner Erfahrung zeitweilig in manchen Anstalten häufig auftritt, ist nach Liebermeister, Guttmann und anderen wahrscheinlich tuberkulöser Genese. Auch geringe hyperthyreotische Erscheinungen mit leichter Vergrößerung der Schilddrüse, wie sie besonders nach dem Kriege beim weiblichen Geschlechte sich zeigten, sind öfters durch Toxin- wirkung einer beginnenden Lungen-Tuberkulose verursacht! Ich habe mit Willen gerade solche gewöhnlich kaum beachtete Zeichen

Die Bedeutung der Tuberkulose fiir die Irrenanstalten. 283

erwähnt: aber gerade bei unserer Anstaltsinsassen gewinnen sie größere Bedeutung, weil uns hier oft die Mittel, die bei den Geistesgesunden hauptsächlich in Betracht kommen: eingehende Untersuchung, Befra- gung und dergleichen wegen unzweckmäßigen Verhaltens der Kranken nicht zum Ziele führen. Wir dürfen nicht warten, bis wir massive Lungenbefunde, Körpergewichtsabnahmen, Temperatursteigerungen, Auswurf und dergleichen konstatieren; wir müssen schon vorher auf die Diagnose wenigstens hingeleitet werden. Daß wir die eben ge- nannten Maßnahmen nicht vernachlässigen, brauche ich nicht besonders zu betonen; wir wissen auch, daß ihre Bedeutung bei den Geistes- kranken mitunter eingeschränkt wird: Gewichtsschwankungen treten auch als Begleiterscheinungen der geistigen Erkrankung auf, Tem- peraturschwankungen kommen vor bei motorisch Erregten und an- deren, auch ohne Tuberkulose. Daß Auswurf mitunter schwer- zu erhalten ist, ist hinreichend bekannt.

Aufmerksam machen will ich nur noch auf die Alters-Tuber- kulose, deren Häufigkeit leider immer noch zu wenig bekannt ist. (Ich weise dabei auf die Veröffentlichungen von Taubert und von Goldmann und Wolf ausdrücklich hin.) Sie ist eine durchaus nicht zu unterschätzende Infektionsquelle. Bemerkenswert erscheint mir was Alwens (M. m. W. 1927/613) über die Diagnose sagt: „Das Krank- heitsbild der Alters-Tuberkulose ist gekennzeichnet durch den mit Verdauungsstörungen einhergehenden, häufig sehr erheblichen Ma- rasmus und die geringe Tendenz zu Temperatursteigerungen. Zur Erkennung ist das Röntgenbild von besonderer Bedeutung, die Ver- wertung des weißen Blutbildes und der Blutkörperchen-Senkungs- geschwindigkeit scheint gerade bei der Beurteilung der Alters-Tuber- kulose besonders wichtig zu sein. Ebenso der niedere Blutdruck.“

Endlich sei noch mit ganz besonderem Nachdruck auf die in neuerer Zeit erschienenen Arbeiten von Ernst v. Romberg über die Entwicklung der Tuberkulose hingewiesen: v. Romberg hat uns die enorme, bisher so gut wie unbekannte Bedeutung der Frühinfiltrate bzw. der perifokalen Entzündungen, die meist nicht in den Lungenspitzen (!) ihren Sitz haben, für die Entstehung und Entwicklung der Tuberkulose gezeigt. Er hat uns die Wege gewiesen, sie zu erkennen und sie erfolgreich zu behandeln. Er hat uns dargelegt, welch große Rolle dabei die additionelle Infektion bzw. die Reinfektion spielen. Und eben die additionelle Infektion und die Reinfektion sind ja für unsere Anstalts- kranken, wegen der nachgewiesenen vermehrten Exposition und er- höhten Disposition, von größter Wichtigkeit. Die große Bedeut-

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samkeit der uns von v. Romberg vermittelten Erkenntnisse kann ich nicht besser wiirdigen als mit den eigenen Worten des Autors: ,,Die Auffassung, die entwickelt wurde, bedeutet eine neue Einstellung in der Lehre und in der Behandlung der Lungentuberkulose. Sie belastet uns Ärzte mit einer großen Verantwortung. Es handelt sich um schwierige Feststellungen diagnostischer Art, aber sie müssen ge- troffen werden. Es ist eine großartige Aufgabe, die unser im Kampfe gegen diese Volksseuche harrt‘“.

Leider kann ich nicht in extenso auf diese bahnbrechenden Neu- erungen eingehen; zur kurzen Orientierung verweise ich auf v. Romberg, Über die Entwicklung der Lungentuberkulose, Klinische Wochenschrift Nr. 24, 1927 und auf A. Fuchs, Die neueren Erkenntnisse in der Tuberku- losefrage und ihre Folgerungen für unsere Heil- und Pflegeanstalten, A. Z. f. Psych. Bd. 88.

Daß wir die Schizophrenen wegen ihrer Anfälligkeit für Tuber- kulose und des bei ihnen besonders ungünstigen Verlaufes einer solchen besonders im Auge behalten müssen, auch wenn noch keine greifbaren Zeichen für Tuberkulose vorhanden sind, geht zur Genüge aus den früheren Darlegungen hervor.

Selbstverständlich ist es, daß wir auf stuporöse und abstinierende Kranke, auf solche die häufiger epileptische und andere Anfälle haben, wegen der körperlichen Hinfälligkeit und damit Widerstandslosigkeit gegen Tuberkulose, die diese Erscheinungen nach sich ziehen, besonders unser Augenmerk richten. Dasselbe trifft zu für an interkurrenten Krankheiten Erkrankte: Ich brauche nur daran zu erinnern, daß Typhus-, Grippe- und Ruhr-Rekonvaleszenten besonders gefährdet sind (Reaktivierung einer vorhandenen oder Neuerwerbung einer Tu- berkulose). Gerade die Grippe-Epidemieen der vergangenen Jahre liefern genügend Beispiele.

Bei Kranken, die aus geringfügigen Anlässen zu Durchfällen neigen, müssen wir die Darm-Tuberkulose in den Kreis unserer dia- gnostischen Erwägungen einbeziehen, denn sie tritt mitunter nur bei solchen Gelegenheiten in Erscheinung.

Die Kranken, die in Familienpflege gegeben werden sollen oder aus solcher zurückkehren, die zu beurlaubenden oder vom Urlaub zurückkommenden und die zu entlassenden sind besonders eingehend zu beobachten.

Haben wir nur den geringsten Verdacht auf Tuberkulose, so sind alle diagnostischen Hilfen heranzuziehen: Klinische Untersuchung, Blutbild, Senkungsgeschwindigkeit, Serum- und Plasmafällungs- methoden, Sputum- und Kotuntersuchungen, Tierversuch, Röntgen-

Die Bedeutung der Tuberkulose fiir die Irrenanstalten. 285

durchleuchtung, Tuberkulindiagnose usw. Warnen michte ich aller- dings dabei vor dem wahllosen Tuberkulinspritzen zu diagnostischen Zwecken. Dieses Mittel hat in der Hand Unerfahrener oft mehr Schaden als Nutzen gestiftet.

Auf den Tierversuch, der leider noch viel zu selten angewendet wird, möchte ich hier ausdrücklich aufmerksam machen, besonders zur Feststellung fakultativ offener Tuberkulose. Ich verweise auf Bräuning und Wankel (D. m. W. 1923 Nr.20). Sie fanden bei 70 verdächtigen Kranken, deren Sputum früher und kurz vor dem Tier- versuch, wie auch nach demselben bei mikroskopischer Untersuchung keine Tuberkulose-Bazillen aufwies, bei der Anwendung des Tier- versuches bei 25 positive Resultate!

Wir Ärzte müssen uns für theoretische und praktische Tuber- kulosefragen mehr interessieren. Uns muß Gelegenheit geboten werden, durch Besuch von Kongressen, Fortbildungskursen usw. uns auf diesem Gebiete aus- bzw. weiterzubilden.

Ist nun eine Tuberkulose, sagen wir allgemein eine infektions- fähige Tuberkulose festgestellt, dann haben wir die entsprechenden Maßnahmen zu ergreifen und damit kommen wir zu dem Kernpunkt der Frage der Tuberkulose-Bekämpfung in den Irrenanstalten: Die Tuberkulosekranken und die ausreichend Verdächtigen sind abzu- sondern von den anderen Kranken. Solange wir das nicht ganz strikte durchführen, können wir nicht sagen, daß wir in ernstzu- nehmender Weise Tuberkulose-Bekämpfung in den Anstalten treiben. Wir sind das unsern Kranken, unsern Personal, wir sind es dem Allgemeinwohl schuldig. Es darf nicht dahinkommen, daß wenn die Einrichtung der Außenfürsorge uns zu vermehrten bzw. Früh- entlassungen der Kranken aus den Anstalten führt, Kranke, die in der Anstalt eine Tuberkulose erworben haben, nach ihrer Ent- lassung ihre Umgebung gefährden. Irgendwelche Vorkehrungen zur Absonderung der ansteckungsfähigen Tuberkulose-Kranken sind wohl überall getroffen. Bei uns in Sachsen in besonderem Maße in Zschadraß und Hubertusburg; ob sie ausreichend sind, das ist eine andere Frage. Es genügt nicht, daß wir an den einzelnen Anstalten besondere Gebäude oder Räume haben, die ‚„Krankenhäuser‘‘ oder „Isolierräume‘‘ genannt, dazu dienen, körperlich Kranke und „auch Tuberkulöse‘‘ aufzunehmen. Sie werden im Laufe der Zeit zu einem Asyl für pflegebedürftige, bettlägerige Kranke, die an allem Möglichen leiden, nicht nur an Tuberkulose, während viele von den Tuberkulose- Kranken in den sogenannten unruhigen Häusern liegen und im Kran-

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kenhause bzw. den Isolierräumen nicht untergebracht werden können, weil sie zu unruhig oder gewalttätig sind und weil eben dort ihrem psychischen Zustand entsprechende Verwahrungsmöglichkeiten, Wach- säle für Unruhige, Isolierräume für Tobende, nicht vorhanden sind; oft fehlt es auch an dem nötigen Personal. So müssen mitunter not- gedrungen und natürlich erst dann, wenn alle anderen Beruhigungs- mittel versagen, diese unruhigen Tuberkulösen für kürzere oder längere Zeit in den Wachsälen untergebracht werden, und hier liegen sie zu- sammen mit den akut psychisch Erkrankten, die häufig, wegen des akut einsetzenden und dabei schnellen Ablaufes ihrer Psychose, bald entlassen werden können.

Selbst bei vorsichtiger Schätzung müssen wir mit etwa 200 an- steckungsfähigen, also abzusondernden tuberkulösen Irren in den säch- sischen Anstalten rechnen!). (Wenn wir der Umgrenzung des Begriffes aktive Tuberkulose zugrunde legen die Formulierung, die das neue Wohlfahrtspflegegesetz gibt ‚jede Erkrankung, bei der Tuberkel- bazillen nachgewiesen werden oder deren Verlauf das zeitweise Vor- handensein solcher vermuten läßt‘‘ dann werden wir wohl auf eine noch höhere Zahl kommen.) Ich schlage vor, diese Tuberkulösen in einer der schon bestehenden sächsischen Anstalten zu zentralisieren. Hier müssen sie in einem oder mehreren Häusern, völlig getrennt von den anderen Kranken, untergebracht werden. Es muß also ein Gebäude oder Gebäudekomplex geschaffen werden, der die Einrichtung einer Irrenanstalt und einer Lungenheilstätte in sich vereinigt: Es muß eine Abteilung für unruhige und eine für ruhige Kranke vorhanden sein, auch eine Beobachtungsstation für Tuberkulose-Verdächtige. In dieser sollten die Kranken untergebracht werden (getrennt von den Tuberkulösen), die zur Sicherung der Diagnose von den anderen An- stalten überwiesen werden. Diese Abteilungen müssen in doppelter Anzahl für beide Geschlechter vorhanden sein.

1) Nach Abschluß dieser Arbeit gelangte folgendes Ergebnis einer Umfrage in meine Hände: Am 1. Februar 1928 waren in den sächsischen Landes-Heil- und Pflegeanstalten mit offener Tuberkulose 43, mit ge- schlossener 94 Kranke vorhanden. Diese Zahlen können an meiner Auf- fassung nichts ändern; sie sind wie die früher angeführten zu bewerten. Wieviele von den als geschlossen-tuberkulös Bezeichneten zeitweilig bzw. fakultativ offen sind, ist aus obigen Angaben nicht erkenntlich. Rechnet man dazu noch die Fälle von Tuberkulose, die erfahrungsgemäß bisher erst auf dem Sektionstisch erkannt werden, dann werden wir wohl der Zahl 200 nahe kommen.

Die Bedeutung der Tuberkulose fiir die Irrenanstalten. 287

Die Tuberkulose-Abteilung muß über ausreichende Mittel ver- fügen zur Diagnostik und Therapie, von den einfachsten Mitteln bis zum Laboratorium und zum Röntgenapparat.

Es muß besonderes Pflegepersonal herangezogen werden. An dieses sind besondere Anforderungen zu stellen, hinsichtlich der ge- sundheitlichen Eignung. Für ihre zweckentsprechende Unterbrin- gung muß Sorge getragen werden.

Der oder die dort tätigen Ärzte müssen genügend vertraut sein mit der Erkennung und Behandlung der Tuberkulose, sie müssen neben ihrer psychiatrischen Vorbildung Erfahrungen auf diesem Ge- biet besitzen; ihnen muß, wie ich schon oben schilderte, Gelegenheit geboten werden, sich auf dem modernen Stande der Tuberkulosebe- wegung zu erhalten.

Ich will nun nicht einen besonderen Bauplan für eine solche Tu- berkuloseabteilung entwickeln, will auch nicht über die Einzelheiten der Einrichtung und Betriebsführung einer solchen mich verbreiten. Es genügt, wenn ich für diese Punkte auf die entsprechenden Ver- öffentlichungen verweise. Es kommt da vor allem in Betracht:

Die Richtlinien des Gutachterausschusses für das öffentliche Kranken- hauswesen 1926.

Alberti: Über Isolierung und Behandlung Tuberkulöser in den Irrenan- stalten Italiens. Ref. im Zentralblatt für die gesamte Tuberku- loseforschung 1924.

Seans: Tuberculosis in Mental Hospitals. Ref. im Zentralblatt für die gesamte Tuberkuloseforschung 1926.

von Hugo: Gesichtspunkte für den Neubau von Irrenanstalten. Zeitschrift für Krankenanstalten 1925.

Kellert: Organisation und wirtschaftliche Lage der Irrenanstalten im Auslande. Zeitschrift für Krankenanstalten 1925.

Lang: Beitrag zum Problem des Tuberkulosekrankenhauses: Zeitschrift für das gesamte Krankenhauswesen 1926.

Loew: Über Tuberkulose in Irrenanstalten, bzw. Tuberkulosebekämpfung in Irrenanstalten. Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 1922/23. Nr. 21/22.

Oswald: Die Tuberkulose in den Irrenanstalten mit besonderer Berück- sichtigung der Großherzoglich-Hessischen und ihre Bekämpfung. Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie usw. Band 59.

Starlinger: Irrenpflege und Tuberkulose. Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift, Jahrgang 1901.

Über den Wechsel affektiven Wertes halluzina- torisch-wahnhafter Erlebnisse im epileptischen Verwirrtheitszustand.

Von Oberarzt Dr. Berndt &ötz-Berlin (Wuhlgarten).

Wie wir uns das Zustandekommen der Halluzinationen auch vor- stellen mögen, will sagen: welches physiologische Korrelat wir dem psychologischen Geschehen der Trugwahrnehmung auch zusprechen wollen, eines bleibt unbestreitbar, daß die Halluzination dem sen- sorisch-empfangenden, somit passiven Persönlichkeitspol affin ist. Damit ist allerdings über die persönliche Einstellung. des Hallu- zinanten zu seinem halluzinatorischen Erlebnis, d. h. über die po- sitive oder negative Affektbetonung der Trugwahrnehmung, nichts gesagt. An sich kann eine Trugwahrnehmung ebenso wie die Wahr- nehmung einer wirklichen Gegebenheit angenehm oder unangenehm empfunden werden. Immerhin scheint rein empirisch festzustehen, daß die meisten Halluzinationen von widrigen Gefühlen begleitet sind, was vielleicht phänomenologisch mit der Empfindung des ,,Gemacht- werdens“‘ (Jaspers) in Zusammenhang zu bringen ist. Diese Emp- findung entspricht und geht parallel einer anderen nämlich der des Aus- geliefertseins,, was als Negation der Ichtotalität sinngemäß nicht anders als negativ affektbetont erlebt werden kann. So kompliziert diese Verhältnisse auch theoretisch darzustellen sind, so verhältnis- mäßig einfach gestalten sie sich praktisch. Mag das Halluzinatorisch- Wahnhafte eines psychisch Kranken noch so polymorph erscheinen, es läßt sich doch meist auf einige wenige Grundphänomene zurück- führen. Zwei Kranke leiden unter Geruchshalluzinationen. Der eine glaubt, daß das Zimmer mit Rosenduft erfüllt sei; der andere riecht Kot und „ekelhaften Schleim“ aus jeder Speise. Der erste ist des Rosenduftes froh, und den zweiten schüttelt der Ekel. Dabei mag es gleichgültig bleiben, ob hier die Halluzination oder der Wahn das Primäre ist d. h. ob die Wahnvorstellung, mit Rosen bedacht zu

Uber den Wechsel affektiven Wertes usw. 289

‘werden, eine gedankliche Auswertung eines wenn auch trügerischen Sinneseindruckes darstellt, oder ob der ekelhafte Kotgeruch nur als eine Projektion widriger Allgemeinempfindungen auf das olfaktorische Gebiet anzusprechen ist. Fast stets treten Sinnestäuschung und Wahn bei ein und demselben Kranken monaffektiv auf und entsprechen sich auch unter einander. Um so bemerkenswerter erscheint der hier auszuführende Fall einer epileptischen Kranken, bei der in regelmäßi- gem Turnus positive und negative Affektbewertung wahnhafter Er- lebnisse wechseln.

Die am 11. 7. 1876 zu Berlin o Bertha P. wurde am 5. 12. 1924 in hiesiger Anstalt aufgenommen. Die Familienanamnese enthält nichts Bedeutsames, die Kranke soll seit dem 3. Lebensjahr, angeblich infolge eines Schrecks, an Anfallen mit BewuBtseinsverlust leiden, während derer sie sich oft Verletzungen (blaue Flecke, Verbrühungen) zuzog. Auch Zun- genbiß und Einnässen wurde des öfteren beobachtet. Vor den Anfällen sei sie psychisch verändert, nachher beständige Mattigkeit und Aufge- regtheit. Siezögesichzuweilenganznackendaus. (Angabe der Schwester.)

Die Gemeindeschule hat sie bis zur ersten Klasse besucht, hat dann die Schneiderei erlernt, auch ausgeübt, doch ist sie seit 44 Jahren in- folge unaufhaltsamen psychischen Verfalls nicht mehr arbeitsfähig. Da sie durch ihre Erregungszustände zu Hause den Schwestern unerträg- lich wurde, veranlaßten diese ihre Überführung nach Wuhlgarten. Nach- zutragen wäre noch, daß ihre Periode seit dem 15. Lebensjahr regelmäßig auftritt, seit einem Vierteljahr vor der Aufnahme sich nicht mehr gezeigt hat, jetzt wieder ziemlich regelmäßig wiederkehrt.

Ich kann mich bezüglich des allgemeinen Aufnahmestatus kurz fassen. Die Kranke war anfangs weinerlich und unruhig, gewann mit der Zeit Vertrauen und konnte die anamnestischen Angaben ihrer Schwester nach dieser und jener Richtung erweitern. So erklärte sie, daß vor dem Anfall es „ihr schwer nach dem Kopf steige“, dann schreie sie laut los und wisse dann nichts mehr. Optische und akustische Hallu- zinationen wurdenin Abrede gestellt; etwas, was später zu berücksichtigen sein wird. Im übrigen bot sie in körper. licher Hinsicht nichts Besonderes, auch waren Gedächtnis, Merkfähigkeit und Urteilskraft keineswegs in beträchtlichem Maße gemindert.

Am 16. 2.25 war Pat. kurz nach einem Anfall eigentümlich erregt. Mit froher Miene suchte sie den Arzt auf, erklärte ihm ihre Dankbarkeit dafür, daß er in den beiden letzten Nächten an ihrem Kopfe die elektrische Maschine angestellt hätte, wahrscheinlich um sie gesund zu machen. Sie könne seitdem viel besser Schleim abhusten. Auch ihre große motorische Unruhe ‚sie mußte sich ständig herumwälzen‘‘, deutete Pat. als vom Arzt „gemacht“, wenn auch zu therapeutischen Zwecken. Im ganzen war Pat. äußerlich komponiert, so daß sie nicht einmal zu Bett gelegt zu werden brauchte.

Am 17.2. klagte Pat. schon erheblich Beten darüber, daß in ihrem

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290 Götz,

Körper etwas vorginge, daß in ihr arbeite; sie wisse selbst nicht, was das bedeuten solle. Am 18. steigerte sich die Erregung der Pat. in Gegenwart des Arztes zu förmlicher Tobsucht. Sie lasse sich nicht weiter quälen ; das seien ja ganz scheußliche Sachen, die mit ihr angestellt würden. Der Arzt sei ein Verbrecher, wenn er so etwas zuließe. Pat. stampfte mit dem Fuß, versuchte, gegen den Arzt tätlich zu werden und entlud endlich ihren Grimm gegen eine harmlose Mitpatientin, die gerade auf dem Korridor vorüberging; sie stieß sie zu Boden. Nach einigen Tagen, in denen Pat. das Bild allgemeiner Unruhe und innerer psychischer Unsicherheit bot, war sie wieder ansprechbar, doch vermochte sie über ihre halluzinatorisch- wahnhaften Erlebnisse nichts Bestimmtes anzugeben.

Einige Monate später, am 3. 11. 1925 sprach Pat. wiederum dem Arzt ihren Dank aus dafür, daß er sie gesund gemacht habe. Sie fühle sich wie neu geboren, als sei alles Schwere von ihr abgefallen. Am 4. 11 setzte ein schwerer Erregungszustand ein, der ein solches Ausmaß annahm, daß Pat. sogar vorübergehend abgesondert werden mußte. Im Einzel- zimmer erklärte sie am 5. und 6. in sehr gereiztem Ton, daß man ihr aller- hand Zeug anwerfe, auf sie zustreue, was sie mit der Nase aufnehmen müsse. Es sei eine Niedertracht des Arztes, ihr so etwas anzutun.Nach zwei oder drei Tagen war Pat. ruhig, ansprechbar, benahm sich unauf- fällig; es herrschte Amnesie, wenigstens für das Eigentliche ihres hallu- zinatorischen Erlebnisses.

Am 12.2.1926 erklärte Pat., die tags zuvor einen Anfall gehabt hatte, daß sie eine merkwürdige Entdeckung gemacht habe: Wenn sie sich im Ohr kratze, fühle sie eine köstliche Erleichterung. Sie fühle sich wie neugeboren, gesund und frisch; ein wundervoller Zustand. Am Tage darauf erinnert der Arzt die Pat. an ihre Glücksempfindung und ihre Schil- derungen davon. Pat. bestätigte dies alles, doch war sie hierbei sonder- derbar farblos und uninteressiert; die Euphorie war erloschen, die Rede mutete leer und unpersönlich an. Pat. erkannte übrigens stets den Arzt als solchen, sprach ihn mit vollem richtigem Namen an; allerdings räumte sie ihm je nach der affektiven Betonung eine andere Stellung innerhalb ihrer halluzinatorischen Welt ein, was sich in ihrem Verhalten deutlich ausdrückte. Am 17. 2. war Pat. immer noch recht alteriert, nun aber deut- lich in negativer Richtung. Ganz verzweifelt klagte sie, daß es bei ihr unerträglich im Kopf und im Körper herumarheite. Es müssen Ma- schinen sein, die da herumgehen. Es sause ihr im Ohr, sie höre immer: SSSSS... Sie merke, wie das Wasser in den Füßen läuft. Es zieht, es quält; es sei ein ganz unbeschreibliches Gefühl. Es wäre wohl doch ihre Krankheit, denn sie sei ja seit dem 3. Lebensjahre krank. Auf die Frage des Arztes, ob sie denn auch jetzt noch immer glaube, daß es ihr „gemacht würde“, erklärte sie: „Doch, es wird mir gemacht. Vielleicht sind es die Pflegerinnen in der Nacht, die mir helfen wollen. Es ist ja gar nicht un- angenehm, dies Gefühl, aber es greift doch sehr an.“ Am linken Ellbogen habe sie so eine scharfe Empfindung, als säße da etwas, das nicht hinein- gehört, es sei, als ob da alles wund wäre.

Am 3.4.1926 begrüßte Pat., die seit einigen Tagen nach einem Anfall leicht erregt war, den Arzt mit glückseligem Gesichtsausdruck und pathetisch entzückter Sprache: ‚Also Herr Doktor, ich danke Ihnen

Ober den Wechsel affektiven Wertes usw. 291

tausendmal für meine Heilung, es geht mir glänzend, die Schmerzen sind alle fort, bis auf ein kleines Gefühl im linken Oberschenkel, wo es noch arbeitet. Alle Patienten, die hier sind, sind um mich herum, alle beküm- mern sich um mich und machen, daß ich gesund werde. Ich wünsche Ihnen Herrr Doktor, daß Sie das große Los gewinnen sollen.‘

Am 4.4.1926 steigerte sich die gehobene Stimmung bis zu einem formlichen Glücksparoxysmus. Pat. turbierte herum, versuchte, auf dem Kopf zu stehen, spuckte begeistert nach allen Seiten um sich, mußte end- lich isoliert werden. Aber auch das verschlechterte ihre Stimmung nicht, höchstens, daß sie in gemütlich-schmollendem Tone an der Tür des Einzel- raums bettelte: „Kinder, seid doch gut, macht die Türe auf.“ Am 8.4., war Pat. wieder im Gemeinschaftssaal untergebracht, immer noch leicht euphorisch, aber bereits ratlos, „was macht ihr denn mit mir“. Am 10. 4. wurde Pat. wieder hochgradig erregt. Sie fühlte sich bösartig beein- flußt, man wolle sie zu grunde richten, treibe mit ihr die entsetzlichsten Sachen. Der Arzt sei an allem schuld, weil er solche schändlichen Anord- nungen erteile. Im übrigen vermochte Pat. eine detaillierte Schilderung ihrer Empfindungen heute nicht zu geben, doch gewann es mehr und mehr den Anschein, als handle es sich um Beeinflussungsideen sexuellen Cha- rakters. Am 15.4. behauptete Pat. wiederum, daß die Pflegerinnen elek- trische Maschinen bedienen, sie höre jadas Knacken der Apparate, und zwar bezwecke man allerhand unsaubere Manipulationen. Man arbeite an ihrem Unterleib herum, und der Arzt wisse es am besten, was alles mit ihr getrieben würde.

Am 6.8. erklärte Pat. am Vormittag dem Arzt, daß es wieder so. merkwürdig um sie herum sei. Sie wisse selbst nicht, was es zu bedeuten habe. Es sei so eine Empfindung im linken Arm. Am Nachmittag noch desselben Tages beglückwünschte Pat. in glückseligem Tonfall den Arzt, daß er „so ein tüchtiger Kerl‘ sei. Er habe sie ja ganz gesund gemacht. Das sei aber mal eine Freudel Am Abend dieses Tages war Pat. bereits traurig verstimmt, aber noch ruhig.

Am 14.9.26 begrüßte Pat. den Arzt in fröhlichster Stimmung, sie sei gerade heute Nacht geheilt worden. Hier beim Arzt bliebe sie gern. Tags darauf erklärt sie unter lebhaftem Mißvergnügen, daß man ihr in der Nacht das Bett vertauscht hätte, sie finde sich gar nicht mehr zu- recht. So weit die vom Referenten geführte Krankengeschichte.

Vergegenwärtigen wir uns den Tatbestand. Eine epileptische Kranke verfällt im Anschluß an Anfälle, wenn auch nicht im Anschluß an alle Anfälle in Zustände, die wir, trotz bestehender Orientierung über die äußeren Gegebenheiten, als Verwirrtheiten ansprechen dürfen. Diese erhalten ihr eigentümliches Gepräge dadurch, daß die Kranke allerhand Trugwahrnehmungen macht, die eine wahnhafte Deutung erfahren. Sicherlich handelt es sich um Körperempfindungen allgemeiner Natur, wahrscheinlich mit besonderer Bevorzugung der sexuellen Sphäre. Die Kranke fühlt allerhand Manipulationen, Stupra, die an ihr verübt werden. Es bedeutet nun innerhalb der epi-

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leptischen Verwirrtheit oder der Absenze nichts Besonderes, daß sexu- elle Psychismen auch bei solchen Personen gelöst und zutage gefördert werden, die sonst über eine wohl konsolidierte Oberschicht persönlicher Beherrschtheit verfügen. Es entspräche die Gesamtheit halluzina- torisch-sexueller Empfindungen dem, was wir auf motorischem Gebiet an sexuellen Handlungen im epileptischen Verwirrtheits- zustand auch bei unserer Patientin antreffen. Schon die Schwestern wissen von exhibitionistischen Akten zu berichten; wir selbst konnten laszive Ausbrüche mit erotischen Ersatzhandlungen (Ausspucken) beobachten.

Besonderer Beurteilung wert ist natürlich der regelmäßige Wechsel von Beglücktheits- und Beeinträchtigungsgefühl. Der Wechsel der Phasen ist bezüglich der Wiederkehr von glücklich und unglücklich festliegend, doch kommt es vor, daß die gesamte Verwirrtheit mit ihren Phasen sich abortiv, an einem Tage (siehe 6. 8. 1926) abspielt. Nie ist Pat. zuerst traurig und dann heiter, sondern stets umgekehrt.

Es mag hier eine Deutung dieses Phänomens versucht werden. Wir können den epileptischen Anfall als eine Katastrophe auffassen, die die höheren Schichten der Persönlichkeit wirbelsturmartig abträgt und die Tiefe mit ihren Mechanismen und Verhaltungen freilegt. Die postepileptischen Zustände wären dann schrittweise restitutiones ad integrum, bei denen auf dem Unterbau tiefster Phylogenie eine nach der anderen höheren wenn auch immer noch archaischen Schichten in Funktion tritt, und welche endlich mit der phylogenetisch spätesten schließen. Es würde folgerichtig das urtümliche Gefühl generellen geschlechtlichen Beteiligtseins dem Glücksgefühl entsprechen, wäh- rend im Verlauf der Wiederkonsclidierung der weiblich-abwehrenden Persönlichkeit die gleichen Empfindungen als unbefugte, schändliche Eingriffe empfunden werden.

Neben den rein sexuellen Erlebnissen erscheint das allgemein Situationelle höchst beachtenswert. Während in den dem Anfall un- mittelbar sich anschließenden glücklichen Phasen mehr undifferenzierte Allgemeinempfindungen vorherrschen (alles ist um sie herum, geht sie an, geschieht ihretwegen), fixiert Pat. in den nachfolgenden negativ affektbetonten Zuständen sich in ihrer Einstellung auf einzelne, wenige Personen. Aus der allgemeinen Bewußtheit des Gemeint- seins kristallisiert sich der Wahn des Beeintrachtigtseins.

In der einer früheren seelischen Schicht entsprechenden Phase sind auch ganz im Sinne archaisch schizophrener Zustände die Grenzen der Persönlichkeit wenn nicht zu kosmischen so doch zu recht erheb-

Ober den Wechsel affektiven Wertes usw. 993

lichen Ausma8en erweitert. Und wie die Motorik der Pat. ekstatisch alle Schranken der sozialen Koordination durchbricht (Kopfstehen, Herumturbieren), so ist ihr sensitives Teil von einer weit über die rational verständlichen Grenzen reichenden Weite. Sie fühlt sich im Mittelpunkt aller Maßnahmen, Gunstbezeugungen, Erfreuungen. Alle Patienten gruppieren sich kultisch um sie herum, und sie faßt ihre Dankbarkeit hierfür in die Worte: „Mögen Sie das große Los ge- winnen!“

In der zweiten von negativem Affekt getragenen Phase besteht natürlich auch noch archaisches Erleben insofern, als die een: mit durchaus unsicherer Projektion nach außen verlegt, will sagen als Beeinflussungen, Manipulationen, maschinelle Angriffe bewertet werden. Wenn auch aus der Bewußtheit allmählich ein ‚Wissen‘ geworden ist, so befinden wir uns doch auch hier noch ganz im ma- gisch schizophrenen Weltbild. Was draußen vorgeht und innen empfunden wird, steht nicht, wie in unserem Leben, in einem sensorisch- funktionalen Verhältnis, sondern fließt mit unscharfen Grenzen und unsicherer Kausalitätsverteilung ineinander über.

Sobald der Einzelanfall mit all seinen Folgen abgeklungen ist, verhält sich Pat. geordnet und bewahrt an ihre halluzinatorischen Erlebnisse eine so geringe Erinnerung, daß sie bei oberflächlicher Be- fragung solche sogar gänzlich in Abrede stellt. |

Der vorliegende Fall stellt in zwiefacher Hinsicht einen psychi- atrischen Wert dar. Einmal vergegenwärtigt er uns in seinen längeren oder kürzeren, aber stets regelmäßigen Phasen das Gesamte einer Wahn- psychose, angefangen vom Undifferenziert-Numinösen (Storch), das hier allerdings nicht als „unheimlich‘‘, sondern als Beglücktheitsbewußt- heit auftritt; fortschreitend zur Wahnfixierung im Sinne des unbe- fugten Einbruchs in die Persönlichkeitstotalität.

Ein weiteres Wesentliches des Falles erblicke ich darin, daß hier ein organisches Leiden wie die Epilepsie sich der strukturanalytischen Deutung zugänglich beweist und damit, nicht zuletzt durch die Präg- nanz der Symptome, sich den schizophrenen Seelenstörungen kasu- istisch vollwertig an die Seite stellt. |

Zu der Behandlung schwer erregter Geisteskranker mit Hexophannatrium. ‘)

Von Oberarzt Dr. Ostmann-Schleswig.

Der Gedanke der Verwendung von Hexophannatrium bei der medikamentösen Therapie schwerer Erregungszustände der Geistes- kranken stammt von Weichbrodt ?). Pharmakologisch gehört das Hexo- phannatrium in die Reihe der Antipyretica, und zwar der Chinolin- präparate. Weichbrodt erklärte sich ihre beruhigende Wirkung aus inneren Beziehungen zwischen chronischen Gelenkerkrankungen und endogenen Psychosen *). Die Einverleibung des Mittels nahm er derart vor, daß er von einer 10 proz. Lösung täglich bis zu 3,0 g intramuskulär gab. Den Erfolg dieser Therapie sah er darin, daß die Kranken am Tage wach blieben und ihre Mahlzeiten einnehmen konnten und nachts meist ohne sonstige Mittel schliefen. Die beruhigende Wirkung trat nicht gleich, sondern allmählich nach einigen Tagen ein und hielt eine gewisse Zeit an.

Klein *) unter anderen setzte diese Versuche fort. Sie gab, um das manchmal nach den Injektionen auftretende Erbrechen zu ver- meiden, acht Tage lang 0,3 g und stieg erst langsam, dann schneller bis 3,0 g. Günstig beeinflußt wurden vierzehn Fälle (13 schizophrene und eine manisch-depressive Kranke), ihnen stehen zwei nicht beein- flußte gegenüber. Die Dauer der Behandlung war etwa ein Monat. Eine Dauerwirkung zeigte sich nicht.

Veranlaßt durch die erwähnten Veröffentlichungen und durch

1) Aus der Landesheilanstalt Schleswig, Direktor Sanitätsrat Dr. Dabelstein.

2) D. m. W. Nr. 5, 1925.

°) Hofmann, Allgem. Ztschr. f. Psych. Bd. 86.

4) Archiv f. Psych. Bd. 76.

Zu der Behandlung schwer erregter Geisteskranker usw. 295

Überlegungen, wie sie Wuth5) gab, habe ich die Behandlung mit Hexophannatrium auch bei unserem Material aufgenommen. Wuth bezeichnete die Antipyretica nach dem Vorgang von Schmiedeberg, Meyer und Gottlieb als ,,Fiebernarkotika‘‘ und wies darauf hin, daß sie ihre Hauptwirkung an den vegetativen Zentren entfalten. Gerade der letztere Umstand ließ mir den zu beschreitenden Weg um so ver- lockender erscheinen, da wir bei der Dementia praecox, welcher Krank- _ heitsgruppe denn auch die meisten der von mir behandelten Kranken angehörten, in vielen Fällen somatische Erscheinungen, die auf eine vegetative Störung oder Reizung deuten, beobachten können.

Die Behandlungsmethode war die von Klein, abgesehen von geringen Abweichungen, die keine Abänderungen des Prinzips sein sollen. So begann ich bei der Mehrzahl der Patienten mit 0,5 g der 10 proz. Lösung, behielt diese Dosis fünf Tage bei und stieg dann auf 1,0, nach vier Tagen auf 1,5, nach 3 Tagen auf 2,0 und erhöhte so die Gaben weiter um 0,5 g bis auf 3,0 g, je nach dem Befund, den die Kranken bei der täglichen somatischen und psychischen Untersuchung ergaben. Die Kur dauerte dreißig bis fünfunddreißig Tage, 3,0 g erhielten die Patienten mindestens vierzehn Tage. Die Nachwirkung war anhaltender, wenn plötzlich abgebrochen, als wenn das Mittel allmählich ausgeschlichen wurde. Daß bei dem kurzen Abbrechen die Überwachung besonders sorgfältig geschah, bedarf wohl nur der Er- wähnung. Es haben sich denn auch dabei keine unerwünschten Zwischenfälle ergeben. Überhaupt wurde das Hexophannatrium gut vertragen, es entstanden weder lokale Beschwerden an den Injektions- stellen noch allgemeine, wie etwa Nierenreizungen oder Herzstörungen. Zweimal nur sind Erbrechen und einmal Durchfälle am zweiten Tage notiert, die aber bei derselben Dosis am dritten Tage nicht wieder- kehrten. Ein Patient erbrach in der ersten Woche mehrmals, vertrug das Mittel jedoch, als die Menge für drei Tage herabgesetzt wurde, alsdann konnte in der üblichen Weise gesteigert werden. In einem Falle trat am neunten Tag ein nesselähnlicher Hautausschlag auf, bei ihm wurde die Kur abgebrochen, er ist nicht in den nachstehenden Krankenberichten erwähnt. Im ganzen ist die Kur bisher durchgeführt bei dreißig Männern. Weitere Versuche sind aber noch nicht beendigt oder neu angefangen.

5) Wuth, M. M. W. 1924, Nr. 27.

296 Ostmann,

: | i Gewicht ' -| Sonstiger ; Fall |Ketaktheite’| Alter | heits. | Verbrauch | Verhalten unter [anfang] Nach der an Medika-| den Injektionen | endlich Kur

äusserung dauer | menten. kg

Katatonie. Ab 1. Tag nachts} 64 |Brauchte 14 W.T. | Halluzi- hydrat | geschlafen, ab 6.) 65 Tage keine niert, ist 2,0 oder) Tag keine Nar- Beruhi

sehr gewalt-| 40 14 Paral- | kotikamehr. Am mittel, war

lauter geredet.

tätig, dehyd 12., 14., 20., 21. dann wieder schimpft, 5— 10,01 Tag kurz und nachts zeit- zerstört, tgl. mäßig einmal ge- weise unruhig, schlägt sich scholten. aber nicht ge- walttätig und auch nicht zerstörungs- süchtig. Katatonie. 1—2mal | Deutliche Be- Beruhigung Halluzi- tgl.Mor-| ruhigung ab 2. hielt 4 Woch. niert, redet, phium=| Tag. Wiederauf- an, dann wie- schreit, (0,02) flackernde, aber der mehr nega- singt, oft ge- Scopol- | gemäßigte Un- tivistisch. Sel- walttätig, amin= | ruhe, so daß eine ten einmal ein sehr wider- (0,001) | M.-Sc.-Spritze Narkotikum. strebend. Injek- | noch notwendig tionen wurde am 12., nach 13., 26., 27., 28. Bedarf. | Tag. Katatonie. Veronal |Ab 1. Tag keine Beruhigung Stereotype 1,0 oder) Schlafmittel hält 3 Woch. Bewegun- Chloral | mehr, bleibt im an, danach gen, wider- 2,0 tgl. | Bett, dauernd wieder stö- strebend, ruhig ab 3. Tag, rend, aber ge- redet viel, nur am 9., 12. ringer als ur- schreit, ist und 29. unbe- sprünglich. bettflüch- deutend lebhaf- Keine Narko- tig, halluzi- ter. tika. niert. Katatonie. Sulfonal | Am 1. Tag beson- Steht auf, ist Schreien, 2,0 oder! ders unruhig. nur selten explosive Morph. | Am 4., 7., 9., 11. nachts kurz Gewalt- Sc.-In- | und 13. so laut laut. Nach 3 taten, jektion | in der Nacht, Wochen Zu- schlägt tgl. daß M.-Se. nicht nahme der sich, beson- entbehrt werden Unruhe, so ders des konnte, sonst ru- daß Narkoti- Nachts sehr ig und um- ka hin und ig. gänglich. Hier wieder gege- Halluzina- und da (vier- ben wurden. tionen. mal) nächtlich

TO EE RSE es ee Oe ee o Ta:

Zu der Behandlung schwer erregter Geisteskranker usw. 297 . Gewicht Fall ee Alter an Verbrauch Verhalten unter ee Nach der äusserung dauer a den Injektionen | ° ke Kur 5. | Hebephrenie.i 26 5 |Veronal | Blieb immer zeit-| 53 | Geringe wieder Lappisch, 1,0 oder | weilig unruhig, | zunehmende W.R. | starke mo- Sulfonal| die Narkotika! 56 | Unruhe nach torische Un- 2,0 tgl. | konnten nur im 3 Wochen, ruhe, ge- Anfang 9 Tage nachts immer walttätig, und am Schluß ruhig, keine zerreißt, 2 Tage entbehrt Narkotika lacht, singt werden. Der Be- nötig. schreit. wegungsdrang war aber gerin- ger. 6. |Schizophre- | 30 20 !Sulfonal | Ab 4. Tag ruhig; 62 | Weiter ge- B.A. | nie. Läp- 2,0 tgl. | im Bett. Ohne | dämpfte Un- pisch, star- Narkotika ab 1.| 61 ruhe, mit Ve- ke motori- Tag. Am 9. Tag ronal 0,5 un- sche Unru- das Hemd zer- terdrückbar. he, zerstört, rissen, am il. gewalttätig, und 12. beson- widerstre- ders unruhig, bend, lacht am 27. das Bett und redet beschmutzt, dauernd, sonst weniger halluzi- lebhaft. niert.

7. | Hebephrenie.| 34 2 |Veronal |1.—3. Tag ruhig,| 68 | Wie 6, mit 0,3 K. H. | Lappisch, 0,75 tgl.| geordnet. 4.—! | Brom zn be- redet dau- 10. nur geredet,| 66 ruhigen.

erndvor sich im Bett geblie- hin, lacht, ben, 12.—17. ru- ist bett- hig, geordnet, flüchtig, wi- dann wieder ge- derstrebt. lacht, geflötet, aber im Bett ge- blieben. Ohne Narkotika. 8. | Katatoner 35 2 |1. Tag plötzlicher, 61 | Geringer Nach- T.M. | Stupor, Erregungszu- | laß des Stu- stark her- stand, ebenso| 63 pors, besorgt vortreten- am 6. und 21., sich allein. der Negati- sonst unveränd. vismus. bis auf den fast geschwundenen Negativismus. 9. |Schizophre- | 25 3 |Chloral- | Blieb im| 56 | Über3 Wochen nie, Albern, hydrat | Bett, stérte| ruhig, steht H.B. | singt, kom- 20 0oder | nicht mehr, sang) 53 | auf, ohne Nar- mandiert Paral- aber die letzten kotika, den- laut, läuft dehyd | 8 Behandlungs- nochgedämpft herum, hal- 5,0. tage zeitweise, unruhig zeit- luziniert. nachts schlief er weilig.

ohne Narkotika.

298 Ostmann, a Gewicht | -| Sonsti Fall Dingnose u| Alter ae Verbrauch | Verhalten unter |2nfnes| Nach der daner |?" Medika- | den Injektionen | endlich Kur

äusserung menten

|

10. | Katatonie.

6 | Veronal

1.—15. Tag still,

mehr.

Lacht, re- 0,75 od.| zerreiBt nicht, det viel, Paral- | ist umgänglich.| 65 | Gleich wieder wider- dehyd | Nach dem 15. Narkotika strebt, zer- 0. Tag wieder viel notwendig. reißt sein gelacht, schlieB- Zeug, lich auch wieder schlägt, das Zeug zerris- halluzi- sen. Behielt die niert ersten 7 Tage noch Veronal 0,5. | 11. | Hebephre- 3 |Veronal |1.—18. Tag ruhig! 68 | Wie 10, aber H.K.| nie. Gri- 0,75. und nicht stö-| zum Teil mit massiert, rend, danach in| 67 Zwischenräu- lacht, flötet, der alten Weise, men von meh- singt, redet aber gedämpft reren Tagen. dauernd, unruhig. Erhielt | witzelt, ist dieersten 8 Tage bettflüchtig 0,3 Brom. 12, | Schizophre- 5 | Sulfonal | War vom 2. Tag) 58 | Blieb ruhig, M.M.| nie. Wider- 2,0. ab ruhig im Bett! will sich aber strebt, zer- schlief viel, wi-| 60 nicht beschai- stört, läuft derstrebte weni- tigen. zwecklos ger, benahm sich dauernd geordneter und herum, zerstörte nichts, jammert. bekam keine Narkotika. 13. | Schizophre- 5 |2mal 5,0 |1—1%7. Tag ruhig| 64 | Wie 10. E.O. | nie. Schreit, Paral- und zugänglich,| schimpft, dehyd | dann wieder zeit-| 63 zerstört, ist od.2mal) weise laut und gewalttätig, 2,0 erregt in zuneh- halluzi- Chloral- | mendem Maße, niert. hydrat. | brauchte die ers- ten 14 Tage die halbe Menge Narkotika, er- hielt dann nichts

Zu der Behandlung schwer erregter Geisteskranker usw.

299 , Gewicht -| S a ae Alle re Verbrauch Verhalten unter |®"fanee| Nach der äusserung dauer | maten | den Injektionen T an

ES

16. H.

v. H. O.

strebt, zer- reißt, zer- kratzt sich, lacht, singt, und redet viel, schmiert mit Kot. Halluzi- niert.

Katatonie.

Zerstört, schlägt, redet viel wirr, wider- strebt. Hal- luzinatio- nen.

Katatonie.

Sehr ge- spannt, plötzliche Gewalt- taten, star- kes Wider- streben. Halluzina- tionen.

Katatonie.

Schreit nachts laut

schlagt, wi- derstrebt, halluziniert.

Veronal 1,0 oder Chloral- hydrat 2,0.

30 1—2mal tgl. Mo.- Scop.- Injek- tionen.

une be- kannt

31

Scop.- Injek-

| Mo.- | tionen.

nn nn

45 18 | Chloral- hydrat 2,0 oder Veronal 1,0 oder Mo.- Scop.- Injekt.

War dauernd ru-

hig, ließ sich be- handeln und

hielt sich sau- ber, zerriß nicht mehr und zer- kratzte sich nicht. Am 11. und 21. Tage kurze Erregung. Keine Narkotika

Deutliche Beruhi-

gung ab 7. Tag, am 23. und 2%.

je eine explosive Gewalttat. Nar- kotika abgesetzt am 6. Tag, wie- der gebraucht anläßlich der Explosionen.

4 1mal tgl. | Ab 7. Tag deut-

lich weniger ge- spannt u. ruhig, ohne Explosio- nen, nicht mehr widerstrebend, seit 7. Tag ohne Narkotika.

Erhielt die ersten

5 Tage noch Narkotika, war dann 10 Tage ruhig, störte ab 16. Tag nachts ein wenig, wider- strebte aber nicht und wurde auch nicht ge- walttätig.

Wieder Narko- tika erforder- lich, aller-

nur halb so viel als vordem.

& |

Ab und zu ein- mal 1 Mo.- Scop.-Injekt. nötig, etwa alle Woche.

Keine Narko- tika.

glg

Steht auf, viel weniger unru- hig, mit Vero- nal 0,6 zu dämpfen.

g| g

taten.

300 Ostmann, Gewicht Fall Ken N A Alter pa Verbratch Verhalten unter un Nach der | äusserung dauer enan den Injektionen kg eu 18. | Manisch- | 60 | unbe- |Chloral- |Narkotika nötig| 74 | Unverändert J.D. | depressives kannt | hydrat- | bis zum 9. Tag; wie anfangs, | Irresein, 2,0 10.—14. Tag ge-| 69 manische Mo.- dämpfte Unru- Phase, Scop.- | he, 15.—17. Tag Ideenflucht, Injekt. | vermehrt in der Rede- alten Weise leb- drang, mo- haft, 18.—22. torische Tag gemindert Unruhe. uhig. Danach Halluzina- wieder das alte tionen. Bild und Nar- kotika nötig.

19. | Katatonie. 32 8 |Veronal |1 Tag gespannter| 54 | Steht auf. P.M. | Wider- 1,0 oder} und unruhiger.| Keine Narko- strebt, re- Chloral-| 2.—5. Tag Ab-| 55 | tika.

det viel, hydr.- | nahme dieserEr- schreit, ist 2,0. scheinungen, da- bettflüch- nach ruhig, zu- tig bei ma- gänglich und nur nirierten gering auffal- Gebärden, lend. Seit Be- halluzi- ginn der Kur niert. keine Narkotika. Seit 1. Tag ruhi-| 66 | Zwar noch 20. |Schizophre- | 39 13 | Paral- ger,am1.,3.,8.,| manchmal H.W.| nie. Schilt, dehyd 9. Tag explosiv,| 65 laut, aber schreit, 5—10,0 | danach ruhig u. keine Gewalt- zerstört, oder verträglich. Kei- taten. Nar- schlägt sich Chloral-| ne Narkotika kotika wieder und alles, hydrat | außer an den be- erforderlich, was nahe 2,0. nannten Tagen. aber nur kommt. halbe Dosis. Halluzi- niert. Vom Anfang bis} 66 | Keine Nar- 21. | Postenze- 47 4 | Mo.- Ende ruhig und kotika. K.K. | phalitischer Scop.- | umgänglich, 68 Zustand Injekt ohne Narkotika, mit starken nur am 22. Tage Erregungen zeitweise gereizt. und rück- sichtslosen Gewalt-

Zu der Behandlung schwer erregter Geisteskranker usw.

| Diagnose u.

Alter | heits-

ank-| Sonstiger Kr Verbrauch Verhalten unte

Gewicht

r anfangs

301

Nach der

agn Fall | Krankheits- i epg “endlich äusserung dauer en den Injektionen “ke Kur

54 | Bedeutend be-

22. L. L.

23. W. H.

24. K. O.

25. E. H.

| diert,

Schizophre- nie auf im- beziller Ba- sis. Eintöni- ges Schrei- en, große motorische Unruhe, Widerstre- ben, Hallu- zinationen.

Schizophre- nie. Singt, ist bett- flüchtig, treibt Al- bernheiten, schreit und komman- ex- plosiv ge- walttätig, halluzi- niert.

Schizophre-

Schizophre- nie auf im- beziller Ba- sis. Halluzi- nationen, schimpft, droht, schlägt, rennt hin und her.

40

26

1 |12 Mo.- Scop.- Injekt.

4 | Paral- dehyd 6,0 oder Veronal 1,0.

5 iChloral- hydrat 2,0 und Sulfonal 2,0.

3 | Chloral- hydrat 2,0 oder Veronal 1,0.

1.—14. Tag weni- ger und nur zeit- weise ig, 15. Tag still, 16. Tag sehr unru- hig, danach wie- der = die ers- ten e ge- dämpft. © Keine

50

Narkotika auBer| _

am 16. Tag.

2. Tag nicht ganz

mehr, 10. Tag

zeitweise etwas (leise) gesungen.

1., 6., 8., 20. und 22. Tag Narkoti- ka nötig, sonst gedämpft u. be- ruhigt, zwischen durch bei beson- deren Anlässen immer wieder aufflackernde Unruhe.

Ab 5. Tag keine Schlafmittel mehr, ruhiges Verhalten bis zum 12. Tag, da- nach wieder recht laut und weniger beein- flußt, jedoch nur selten Narkotika erforderlich.

55 54

ruhigt, selten einmal eine halbe Injek- tion nötig.

Bedeutend be-

ruhigt, selten

einmal Vero- nal 0,5 erfor- derlich, steht auf.

65 | Besonders

67

erregt.

70 | Beschäftigt

20

sichim Freien, bedarf von Zeit zu Zeit eines Schlaf- mittels.

302 Ostmann | Gewicht | Diagnose u. Krank-| Sonstiger anfangs Fall |Krankheits- | Alter | heits- | Verbrauch | Verhalten unter endlich” Nach der äusserung dauer | Taser den Injektionen ke Kur . | Schizophre- Chloral- | Ab 5. Tag keine) 58 | Besserung hält .B. i i Narkotika, an. 14. Tag weniger) 61 störend, ab 14. wegungen, 1,0 oder! Tag ruhig, um- zerstört. Paral- | gänglich. Halluzina- dehyd tionen. 5,0. 27. | Katatonie 27 6 | Veronal | Ab 4. Tag ruhig,, 58 | Wie 26. R. H. | Wider- 1,0 oder) bleibt im Bett,; strebt, zer- Mo.- liegt meist unter| 59 reiBt, Scop.- | der Decke, springt Injekt. | schlaft viel, er- herum, halt keine lärmt, Schlafmittel. schlägt, macht al- berne Streiche. 28. |Schizophre- | 26 q7 ‘| Paral- Vom 6. Tag keine} 69 | Wie 26. J.B. | nie. Lacht, dehyd | Narkotika mehr, wider- 5,0 oder danach ruhig, | 66 strebt, zer- Chloral-| nur zweimal bei reißt, ist hydrat | äußeren Anläs- bettflüch- 2,0. sen sehr wider- tig, zer- strebend, zer- kratzt sich, kratzte sich auch halluzi- nicht mehr. niert. Wie 26. 29. | Dementia 61 32 |Sulfonal | Keine weiteren! 62 W.S. | paranoides. 2,0 oder| Beruhi mit-| Spricht Veronal | tel ab 3. Tag,| 64 viel, 0,75. dauernd ruhig. droht, schilt, schlagt. 30. | Schizophre- | 32 7 |Chloral- | Die ersten Tage! 82 | Mehr erregt. H. K. | nie. Hallu- hydrat | gleich ruhig, ziniert, 2,0. ohne jedes Nar-| 80 poltert, Mo.- kotikum, aber droht, Scop.- | ab 15. Tag führt Ring- Injekt. | wachsende, ver- kämpfe auf stärkte Unruhe, und ist oft im alten Sinne. gewalt- tätig.

Zur Behandlung schwer erregter Geisteskranker usw. 303

Pharmakotherapeutisch beeinflu8bar durch das Hexophannatrium waren eigentlich alle in der Ubersicht zusammengestellten Patienten. Die Beeinflußbarkeit äußerte sich derart, daß a) die sonst nötigen Schlafmittel während der Kur abgesetzt oder b) nur in geringerer Dosis oder nur selten gegeben werden konnten. Zu a): Während der Kur konnten die üblichen Narkotika weggelassen und brauchten nicht wieder gegeben zu werden bei einundzwanzig Kranken, und zwar schon in den ersten sieben Tagen bei Nr.1, 3, 6, 7, 9, 12, 14, 16, 17, 19, 21, 23, 26—29, in der ersten Hälfte der Kur bei fünf, Nr. 4, 10, 11, 13, 20. Zu b): Schlafmittel waren nur selten oder in geringer Menge noch nötig bei Nr.2, 5, 15, 18, 22, 24, 25, 30. Nr.8 hatte auch schon vorher keine erhalten.

Der Ersatz der sonst als Narkotika bezeichneten Mittel durch das Hexophannatrium kann aber allein nicht bestimmend dafür sein, die Kur als gelungen oder nicht gelungen zu bezeichnen. Gewiß ist es schon ein Vorteil, daß die Kranken am Tage wach blieben, sich selbst besorgten und nachts schliefen, während sie unter den sonst gebräuch- lichen Mitteln oft nur kurze Zeit ruhig waren und von fremder Hand, weil mehr oder minder betäubt, besorgt werden mußten. Wie ich eingangs ausführte, erhoffte ich mehr als die bloße Ruhigstellung während des Gebrauchs der Kur. Dementsprechend habe ich auch nach der Kur die Aufzeichnungen fortgesetzt und gesammelt. Diese Notizen zusammen mit denen über das Verhalten während der Ein- spritzungen als Gradmesser für den Wert des Behandlungsverfahrens genommen, ergab sich ein recht guter Erfolg bei Nr. 19, 26, 27, 28 und 29, was bei vier dieser Fälle auch allein schon rein äußerlich, ab- gesehen von dem sonstigen Benehmen, durch die Gewichtszunahme zum Ausdruck kam. Als ohne anhaltende oder nachhaltige Wirkung behandelt möchte ich die Fälle mit den Ziffern 10, 13, 18, 24 und 30 bezeichnen, drei von ihnen verloren auch an Gewicht. Eine günstige Beeinflussung, ein Mittelerfolg, damit also mehr als bei der vergange- nen Behandlung vor der Anwendung des Hexophannatrium, war zu erzielen bei den übrigen, es sind zwanzig an der Zahl. Kann auch bei keinem der Patienten von einer Heilung gesprochen werden, so ist doch der pharmakotherapeutische Erfolg ermutigend und zum Teil überraschend, die Behandlungsart daher weiter prüfenswert. Um noch einmal auf die ungünstigen Fälle zurückzukommen, sie sind ja stets ebenso interessant wie die günstigen, so fiel mir bei Nr. 10 und 30 auf, daß sie gerade anfangs günstig zu reagieren schienen; Nr. 13 und 24 sind solche, bei denen die Unruhe mehr periodisch auftritt,

304 Ostmann, Zur Behandlung schwer erregter Geisteskranker usw.

18 ist ein Manisch-Depressiver in vorgeriicktem Alter, und bei Nr. 30 scheint mir das hohe Körpergewicht beachtenswert, vielleicht hätte ich ihm mehr und länger von der Hexophannatrium-Lösung geben müssen.

Weichbrodt berichtet, daß bei dieser Therapie chronische Kranke oft ihre Halluzinationen für gewisse Zeit verloren, und daß bei Aus- setzung des Mittels die Halluzinationen oft wochen- bis monatelang ausblieben, trotzdem sich meist wieder Erregungszustände einstellten. Klein schreibt, daß besonders günstig Erregungszustände reagierten, die mit Sinnestäuschungen einhergingen. Unter unserem Material befanden sich zweiundzwanzig sicher Halluzinierende. Drei von ihnen gehören zu der Gruppe, die ein besonders günstiges Resultat ergab, aber auch die fünf Ungünstigen waren Halluzinanten. Von der Mittel- gruppe herrschte bei elf sonst Halluzinationen verratenden Kranken während und zum Teil nach der Kur sowohl nach ihrem Verhalten als auch nach ihren Aussagen der Eindruck vor, daß sie keine oder doch nur wenige Sinnestäuschungen mehr hatten.

Weil und solange wir noch keine ätiologische Therapie der endo- genen Psychosen haben, müssen wir bemüht sein, zu erreichen, daß, wie Simon sagt, die Krankheitsäußerungen nicht schlimmere Formen annehmen, als durch die Art des Grundleidens notwendig bedingt ist. Daß die Behandlung mit Hexophannatrium ein gangbarer Weg ist, die therapeutische Resignation zu vermindern, scheint mir daraus hervorzugehen, daß es gelang, fünfundzwanzig von den dreißig dar- gestellten Fällen in der. beschriebenen Weise günstig zu beeinflussen. Was das eigentliche wirksame Moment dieser Medikation ist, ist bisher nur der Gegenstand von Vermutungen, wie eingangs erwähnt; über das Verhalten des Blutbildes hoffe ich demnächst in einer anderen Arbeit berichten zu dürfen.

SS Mie’? Ee

Uber die Entstehung von Wahnideen.

Von Dr. Béla Révész, Oberarzt an der Staatsirrenanstalt in Sibiu-Hermannstadt (Rumänien).

Um dem hier dargestellten Gedankengang über die Entstehung der Wahnideen folgen zu können, ist es, bei aller Anerkennung der Einheitlichkeit des individuellen Seelenlebens, unumgänglich not- wendig die Existenz des Oberbewußtseins und des Unterbewußtseins zu postulieren. Heute wird wohl Niemand an dem Vorhandensein dieser beiden Bewußtseinsarten zweifeln. Dennoch ist es notwendig

‘sie hier zu betonen. Und zwar ist es am besten diese beiden Arten

von Bewußtsein im Sinne Grassets ê anzunehmen, so wie er sie in seinen sämtlichen Werken dargestellt hat. Bekanntlich bezeichnet er das Bewußtsein, die höheren bewußten seelischen Fähigkeiten, mit dem Buchstaben 0 und die unteren, unbewuBten mit dem Namen Polygon.

1. Die später zu gebende Konklusion über die Entstehung der Wahnideen beruht auf folgendem induktiven Raisonnement: Die Wahnideen, diese beim Gesunden nicht vorkommenden krankhaften Vorstellungen der Geisteskranken, können nicht auf übernatürlichem Wege in ihn gelangt sein, soferne wir zu ibrer Erkennung einen natur- wissenschaftlichen, biologischen Weg betreten wollen. So sehr auch die Vorstellungen des Geisteskranken von denen des Normalen ab- weichen, so absurd sie auch erscheinen, können sie dennoch nicht anders entstanden sein, als die Vorstellung der Geistesgesunden. Bei diesen entstehen die Vorstellungen durch Empfindungen und durch Aufnehmen schon fertiger Vorstellungen. Wir haben kein Recht, uns die Entstehung von Wahnvorstellungen anders als die der normalen Vorstellungen bei Gesunden zu erklären.

Der Geisteskranke hat nur solche Vorstellungen und nur in dem Maße, als sie in ihn von außen gelangten. Was immer er produziert, so absurd oder so genial zusammengestellt es auch sei, ist dem alten, psychologischen Gesetze Aristoteles’? unterworfen: Was nicht früher

Zeitschrift für Psychiatrie. LXXXIX. 20

306 | Rövösz,

in den Sinnen war, kann in dem Verstande nicht vorhanden sein. Des- halb produziert jener Paranoiker die meisten und kompliziertesten Wahnideen, der früher die meisten und kompliziertesten Vorstellungen aufzunehmen Gelegenheit hatte. Dagegen produzieren Imbezille sehr wenige und dürftige Wahnideen, eben weil sie schon im Kindesalter über wenige Vorstellungen verfügten.

Van Brero!* erzählt, daß bei dem primitiven, ungebildeten, eben nur über die elementarsten Vorstellungen gebietenden Volke der Malaien die Paranoia in den untersten Volksschichten immer nur abortiv bleibt, etwa im Sinne der abortiven Paranoia Gaupps 5. Nur die Diener der Fremden und die Prostituierten, die mehr Gelegen- heit hatten, mit Menschen anderer Länder zusammenzukommen, zeigen etwas, was man eine lebhaftere Paranoia nennen könnte.

Die komplizierten paranoiden Vorstellungen der Geisteskranken (z. B. „ich bin der höchste Gott und bestehe aus Zucker‘‘) sind an sich vorstellbar, wenn man sie in ihre Komponenten zerlegt: Der höchste Gott + Zucker. Es ist dies dasselbe, wenn normale Menschen ein nie gesehenes und gar nicht existierendes Tier z. B. die Chimaira der Griechen sich ganz gut verstellen können; denn dieses fabelhafte Wesen war halb Löwe, halb Ziege und hatte den Schweif eines Drachen. Die Vorstellung der Chimaira war demnach nichts anderes als das Anreihen und Vereinigen dreier Vorstellungen in eine. -

Aber woher nehmen die Paranoiker diese abenteuerlichen Gedanken und warum beziehen sie sie immer auf ihr Ich? Nach langer Beobach- tung und besonders eingehender Beschäftigung mit dem Vorleben der Paranoiker und anderer Geisteskranken mit Wahnideen vor ihrer geistigen Erkrankung kam ich darauf, daß Kindheitseindrücke in den Wahnideen die größte Rolle spielen. Nur in den gelehrten und höheren künstlerischen Berufen erfolgt nämlich im dritten und vierten Jahrzehnt des Lebens eine besonders reiche Vermehrung der neuen Vorstellungen, während bei den Landleuten, Handwerkern, Dienst- boten und in ähnlichen Gesellschaftsschichten die meisten Vorstellungen schon mit dem 20. Lebensjahre, oft schon früher erworben sind. Auf diese Kindheitseindrücke muß man zurückgreifen, wenn man die Ent- stehung der Wahnideen verstehen will.

Die Vorstellungen entstehen im Kinde durch Beobachtung, An- gewöhnung, Erziehung, Beispiel, Lehren und erworbenes positives Wissen. Manche Wünsche und Befürchtungen, die beim kleinen Kinde erst bewußt waren und dann ins Unbewußte versanken, werden später mit zunehmenden Jahren bewußt, ohne daß der Betreffende von dem

Uber die Entstehung von Wahnideen. 307

bisherigen Vorhandensein der Wiinsche und Befiirchtungen wiiBte, und imponieren dem Beobachter als Wahnideen.

Es ist so, wie wenn Menschen, die etwas getriumt haben und dann erwachen, das Geträumte für real hielten und dementsprechend handelten *),

All das, was das Kind aus Sagen, Fabeln und Märchen erfährt (der Hirtenknabe wird König oder Kaiser, der liebe Gott und Heilige sprechen mit einzelnen Menschen von Angesicht zu Angesicht, Sprache und Intelligenz bei Tieren), aber auch was der Jüngling durch Be- schreibungen in wissenschaftlichen und. populärwissenschaftlichen Büchern, ferner in phantastischen Schriften über andere Welten, in Reisebeschreibungen fremder Länder und Völker liest, lassen in der jungen Psyche tiefen Eindruck zurück. Die entsprechenden Vorstel- lungen gelangen, durch neue, dem praktischen Leben entlehnte Vor- stellungen verdrängt, in das Unterbewußtsein und bleiben dort, bis sie wieder einmal in das Bewußtsein gelangen. Hiebei ist es aber wichtig zu bemerken, daß die längst verdrängten und wieder auftauchenden Vorstellungen für den Betreffenden neue Vorstellungen sind, d. h. er weiß nicht, daß er diese Vorstellungen schon gehabt hat.

Wir sind gewöhnt, von Kindern geäußerte Vorstellungen eben nur als „Kindereien‘‘ zu betrachten. Bei genauerer Untersuchung aber überzeugen wir uns, daß die von Kindern ‚im Spiel“ geäußerten Vor- stellungen sich kaum von Wahnvorstellungen unterscheiden, da ja die Kinder, infolge Mangels an Gefühl für Realität, die unmöglichsten Wünsche und Befürchtungen äußern. Darin was man die „Phantasie der Kinder‘‘ zu nennen pflegt, unterscheiden sich diejenigen, die ge- sund bleiben, nicht von denen, die später an Wahnideen leiden werden.

Ein großer Teil der eine zeitlang unbewußt gebliebenen, aber dann wieder bewußt gewordenen Vorstellungen bildet das Substrat der Wunschvorstellungen, welche, ins Wahnhafte übersetzt, später Größenwahnideen werden.

Eben so steht die Sache mit den Furchtvorstellungen. Ein Bei- spiel: Als Kind hört ein späterer Paranoiker, daß es Gifte gibt und daß man sich vor ihnen hüten müsse. Er vergißt dies, aber die Vorstellungen gehen nicht verloren. Plötzlich oder noch häufiger langsam werden jene Befürchtungen, die Jahre lang im Polygon verborgen lagen, manifest.

1) Der französische Neurologe Gérard de Nerval behauptet irgendwo sehr fein, die Geisteskrankheit sei ein un von Träumen in das reale Leben.

20*

308 Révész,

Der Betreffende erinnert sich nicht daran, daß er unter der Befürch- tung, vergiftet zu werden, schon gelitten hat. Die Vorstellung steigt auf, wird fiir real betrachtet und der Betreffende handelt danach. Der Beobachter hingegen bemerkt, daß der Kranke anfängt sich vor Giften zu fürchten und dementsprechend seine Handlungen zu be- stimmen. |

Es gibt Kranke mit Wahnideen, bei denen sich mehr Wünsche, andere wieder, bei denen sich mehr Befürchtungen geltend machen. Die erstere sind Kranke mit Größenwahnideen, die letzteren solche mit Verfolzungswahnideen. Aber es gibt auch Kranke, bei denen sich Wünsche und Befürchtungen beiläufig die Wage halten, zu gleicher Zeit auftreten und so vereint die Handlungen beeinflussen (siehe unten S. 8, Fall 4).

Daß wir hier eine die aufgenommenen Vorstellungen krankhaft formende psychische Veranlagung annehmen müssen, wird unten (S. 13) des weiteren dargetan werden.

Die Entstehung der wahnhaften Ideen und echten Wahnideen aller Art ist demnach nach dem bisher Gesagten m. E. auf folgende Weise zu verstehen: Die im Laufe des Lebens, hauptsächlich aber während der Kindheit im UnterbewuBtsein aufge- stapelten Wünsche und Befürchtungen werden eines Tages bewußt und vom Kranken für real gehalten, ohne daß er wüßte, daß diese (vom Beobachter für krank- haft gehaltenen) seelischen Geschehnisse schon einmal bewußt waren. Und zwar sind die Wahnideen dem Vor- leben des Kranken adäquat, d.h. jeder an Wahnideen leidende Kranke arbeitet nur jene Vorstellungen wahn- haft aus, welche ihn zumeist im Kindes- oder Jünglings- alter oder auch später beschäftigt haben.

Die ,,iiberwertigen Ideen“ Wernickes, die „milden Wahnformen“ Friedmanns (gestörte Heiratshofinungen reifer Frauen von 30—40 Jahren, infolgedessen umschriebener, namentlich Beachtungswahn, der nach 2—3 Jahren verblaßte), die ,,depressiv-paranoide Veran- lagung‘‘ Gaupps (unter dem Druck schwerer Erlebnisse entwickelte sich Beziehungswahn mit Mißtrauen, gewisser Krankheitseinsicht und schwankendem Verlaufe) gehören ebenfalls hieher, obwohl sich bei ihnen keine Systematisierung entwickelt hat.

-þin seiner Auseinandersetzung mit Specht und Bleuler über die Her- kunft von Wahnideen gibt Kraepelin zu, „daß in der Entstehungs- geschichte des paranoischen Wahns gemütliche Spannungen eine er-

Rant Zine ec S eee RER: ae a ee TANE

Uber die Entstehung von Wahnideen. 309

hebliche Rolle spielen‘‘, wenn auch Kraepelin Bleulers Neigung, be- stimmte „affektbetonte Komplexe“ als den Ausgangspunkt der pa- ranoiden Wahnbildung zu betrachten, für zu weitgehend hält. In Über- einstimmung mit Maier sagt Kraepelin, die katathymen Wahnbildun- gen zeigen „eine so bemerkenswerte Übereinstimmung mit jenen Be- fürchtungen, Wünschen und Hoffnungen, die auch beim Gesunden aus dem Gefühle der Unsicherheit und dem Streben nach Glück her- vorgehen, daß man versucht ist, hier an eine ähnliche Grundlage zu glauben. Auf der einen Seite begegnen wir der Furcht, verachtet, verhöhnt, von einer planmäßigen Verfolgung bedroht, in der Ehe be- trogen zu werden, auf der anderen Seite der beglückenden Über- zeugung, vornehmer Abstammung, der Erkorene einer hohen Persön- lichkeit, Erfinder und Volksbeglücker, Auserwählter Gottes zu sein.“

Man sieht, auch Kraepelin hat schon 1915 den Gedanken gestreift, daß dieselben Befürchtungen und Wünsche Geistesgesunde und Gei- steskranke beschäftigen. Die Letzteren aber bearbeiten eben auf Grund ihrer paranoischen Konstitution jene beiden Gruppen von Vorstel- lungen nach ihrer Art. Schade, daß der geniale Psychiater den auf- geworfenen Gedanken nicht weiter verfolgt hat. Wer weiß, zu welcher umfassenden Theorie er ihn geführt hätte.

Auch die hypochondrischen Wahnvorstellungen gehen immer von leichten körperlichen Beschwerden aus, die vom Kranken wahn- haft aufgearbeitet werden: So die Vorstellung, der Kranke leide an einem Gehirntumor, wobei er tatsächlich nur an Kopfdruck oder Rheumatismus der Kopfschwarte laboriert. Ein anderer Kranker leidet, wie er angibt, an ,,Riickenmarkschwindsucht", weil er im Rückgrate Schmerzen hat oder a an Rheumatismus der Rückenmuskeln laboriert.

2. Warum aber ist nur von Wünschen und Befürchtungen die Rede?

Alles was den Menschen seelisch bewegt, alle seine Motive, seine Leiden und Freuden, selbst seine edelsten und idealsten Affekte und Gedanken können in zwei Gruppen subsummiert werden und diese sind Wünsche und Befürchtungen. Diese beiden sind die Gruppen, in welche die ganze Vorstellungswelt des Menschen, auch die reichste, restlos eingereiht werden kann. Man könnte die Gruppe der Wünsche auch das Aktive, die Aggresivität des Menschen nennen und jene der Furcht als das Passive, die Verteidigung bezeichnen. Diese beiden Vorstellungsgruppen spiegeln das ganze Leben wider. Die Motive unserer Wünsche und Handlungen können zahllos sein, aber was

310 Révész,

immer im Leben in unserer seelischen Wirklichkeit vorgeht, ist ent- weder Wunsch oder Furcht. Selbst Freude, Wonne, Entziicken, allerhand intellektuelle, ästhetische und schaffende Tätigkeit ist eigentlich Wunsch, Wunsch zu genießen, den Genuß zu fassen, zu fixieren, zu behalten und in Zukunft zu wiederholen. Unruhe, Mangel an Freude, Unzufriedenheit, Sich-wehren gegen die einstürmenden feindlichen und beunruhigenden Eindrücke, und das Bestreben diese Eindrücke zu schwächen oder gar zu vernichten das ist Furcht.

Daß tatsächlich Wunsch und Furcht sämtliche Vorstellungen des Menschen umspannen, beweist die Tatsache, daß die Träume, in denen das Seelenleben vereinfacht und die Psyche in ihren archai- schen Linien zu beobachten ist, in Wunsch- und Furchtträume einge- teilt werden können.

Die Einteilung der Vorstellungen in solche von Wunsch- und Furcht- vorstellungen ist kein Phantasiegebilde oder eine von metaphysischen Erwägungen diktierte Einteilung: sie entspricht vollkommen der Wahr- heit und hat noch außerdem den Vorteil, sämtliche möglichen Vor- stellungen, die gesunden un d die kranken, in sich zu schließen, ein neuer Beweis dessen, daß es zwischen Gesund und Krank keinen wesent- lichen, sondern nur einen graduellen Unterschied gibt. |

Warum spielt bei den Wahnideen das Ich eine so wichtige Rolle ? Das Ich spielt ja bei allen Menschen eine wichtige Rolle. In diesem Ich treffen sich Wunsch- und Furchtvorstellungen, das Ich syntheti- siert sie. Dieser Egozentrismus ist im Kampfe um das Dasein als die mächtigste Waffe zu betrachten: Wünsche sind die Angriffswaffen, Befürchtungen die Verteidigungswaffen.

Wenn dies für Jedermann wahr ist, um so wahrer ist es für den Paranoiker, den ja die auftauchenden zahlreichen, lebhaft gefärbten, weil noch oft aus der Kindheit stammenden Wünsche und Befürch- tungen dazu bringen, sich als ein besonders intensives Ich zu betrachten, als ein Ich, welches besondere Wünsthe und besondere Befürchtungen hegt.

3. Zwecks Illustration des bisher Gesagten mögen einige ein- gehend und jahrelang beobachtete typische Fälle mit Andeutung der Entwicklung des Vorstellungslebens seit der Kindheit erwähnt werden. Es ist überhaupt ratsam, einen jeden einzelnen Fall in seinem Ver- laufe zu analysieren, besonders mit Bezug auf das Milieu, den Bil- dungsgrad, die Studien, Beschäftigungen und Bestrebungen des ersten und zweiten Jahrzehntes, wenn man sich von der ln a der hier behandelten These überzeugen will.

Uber die Entstehung von Wahnideen. 311

Fall 1. Eine ungarische Bäuerin von 45 Jahren, die nur Elemente von Volksschulbildung, aber sonst die ihrer sozialen Schicht entsprechende Intelligenz besitzt, nennt sich Kaiserin Maria Theresia und stammt vom ungarischen König Mathias Corvinus ab. Sie besitzt unermeßliche Reich- tümer an Möbeln, Geschmeide und Brillionen (ein von ihr geprägtes Wort zum Ausdrucke von vielen Billionen) von Gulden. Sie befürchtet immer, daß ihr Riesenvermögen der Raub der Flammen werden könnte.

Bemerkenswert ist hier, außer Wunsch- und Befürchtungsvor- stellungen, die Identifizierung des Ichs mit einer in ungarischen Volks- kreisen sehr beliebten Herrschergestalt, der Kaiser-Königin Maria- Theresia, und die Herleitung von einem anderen, ebenfalls sehr po- pulären König, ferner, daß die Kranke immer nur von der Geldwäh- rung ihrer Kindheit spricht und die neuere Münzeinheit ihres Landes nicht erwähnt, obwohl sie sie kennt. Dies bedeutet ein Stehenbleiben auf Vorstellungen, die in ihrer Kindheit entstanden sind.

Hier ist die Entstehung der Größenwahnideen unschwer in die Kindheit zu versetzen, da die Kranke nur als Kind viele, im Volke zirkulierende Geschichten über jene zwei populären Herrscher hören konnte.

Fall 2. Ein 38 jähriges Mädchen aus guter bürgerlicher Familie, mit einer diesen Kreisen entsprechenden Bildung. Sie hält sich für die Zarin Sofie und verteilt die Länder und Hauptstädte Europas, ferner die Regimenter der europäischen Heere unter die Ärzte. Sie warnt die Ärzte, daß gegen sie eine Revolution geplant ist.

Wunsch- und Furchtvorstellungen sind auch hier unverkennbar, und zwar als Folge von Kindheitseinflüssen die Vorstellungen ,,rus- sische Kaiserin‘ und ‚Revolution‘. Sie hat nämlich in ihrer Jugend in einem Milieu gelebt russische Emigranten —, in welchem von den damaligen Unruhen in Rußland und den Verfolgungen der Ni- hilisten oft die Rede war.

Fall3. Hochgebildete 35 jährige Frau, die perfekt rumänisch, deutsch, französisch und englisch spricht, formvollendete Gedichte und Novellen geschrieben hat, sehr schön Klavier spielt, die Literatur der genannten vier Sprachen sehr gut kennt und überhaupt den Typus der großen Dame auch im Wahne nicht verloren hat. Sie soll als Kind äußerst unabhängig in ihren Meinungen gewesen sein, sich nie den Anderen angepaßt und mit Leidenschaft Romane, Reisebeschreibungen und Abenteuer gelesen haben.

Sie will immer nur mit den Mitgliedern des Herrscherhauses ver- kehren, schreibt ihnen intime Briefe und fordert von ihnen ihre (der Kran- ken) Befreiung aus der Anstalt. Ferner fürchtet sie sich vor Einbrechern und Räubern, die immer unter ihrem Schlafzimmer den Fußboden durch- brechen wollen. Vergebens erklärt man ihr, daß der Heizraum der Zen- tralleitung des Pavillons eben unter ihrem Zimmer liegt und daß dort Niemand anderer als der Heizer arbeitet.

312 Révész.

Hier ist paranoische Umwandlung von Kindheitserinnerungen (besonders durch reichliche Lektüre erworben) in Form von Wunsch- und Furchtvorstellungen festzustellen.

Fall 4. Ein sehr hübsches unberührtes Mädchen aus einer bürger- lichen Familie, 29 Jahre alt, von Wahnideen erotischen Inhaltes gequält. Bald wünscht sie den Beischlaf, gibt zu daß sie krank ist, weil sie bisher einen Mann entbehren mußte, fordert die Arzte oft auf, die Familie auf- zuklären, daß sie heiraten müsse. Bald äußert sie Befürchtungen, daß ein Mann mit ihr bei Nacht ‚in meinem Bette oder auch von ferne“ den Beischlaf ausführen könnte.

Hier sind die Wunsch- und Furchtvorstellungen ganz offenbar und von der Kranken spontan erzählt. Während in Fall 1 und 2 die Wunschvorstellungen intensiver sind als die Furchtvorstellungen, sind diese im Fall 3 vorherrschend und im Fall 4 scheinen sie gleich stark zu sein. Denn die Kranke wünscht den Beischlaf so sehr, als sie sich vor ihm fürchtet.

Daß die Kranke nun sich auch von anderen beobachtet wähnt (Furchtvorstellung) und daß sie auf manche Ärzte eifersüchtig ist (Wunsch, vom Arzt geliebt zu werden, und Furcht, daß andere Kranke ihn ihr abspenstig machen), ist eigentlich eine natürliche Folge ihres Vorstellungslebens. In dieser Beziehung unterscheidet sie sich kaum von Geistesgesunden. Bei ihr sind die Vorstellungen der Kindheit durch die Angehörigen nicht mitgeteilt worden, aber die Kranke, ein naives Mädchen aus unteren Bürgerkreisen (aus einer kleinen Ge- meinde), erzählt alles aus ihrer Kindheit auf so naive Art, daß man sich ihre jetzt in Wahnideen verwandelten Kindheitseindrücke rekon- struieren kann. Die ihren Wahnvorstellungen zugrunde liegenden Wünsche und Befürchtungen sind ja die elementarsten und wahr- scheinlichsten bei einem unberührt gebliebenen Mädchen von 29 Jahren.

Fall 5. Eine römisch-katholische Nonne von 50 Jahren. Sie hat ein verträumtes, ruhiges, liebenswürdiges, wenn auch autistisches Wesen. Als Waise kam sie in zartem Kindesalter in das Kloster, wo sie später Nonne wurde. Sie beklagte sich, sie habe keine Füße, oder ihr Gesäß sei im Kopfe einer Pflegerin oder man habe mit einem Messer ihre Eingeweide herausge- schnitten.

Hier sind die Furchtvorstellungen beinahe allein vorhanden. Bekanntlich spielt in der römisch-katholischen Hagiographie die blutrünstige Entfernung von inneren und äußeren Organen der Hei- ligen (Abzwicken der Brüste mit rotglühenden Zangen, Abhacken der Gliedmaßen, Herausreißen der Eingeweide aus dem Bauche usw.) eine große Rolle. Diese Nonne kam nun als Kind ins Kloster, hörte die zahlreichen Geschichten über gemarterte Heilige und legte, ge-

Uber die Entstehung von Wahnideen. 313

fördert durch ihre paranoische Konstitution, das Gehörte so aus, daß sie der vermeintliche Mittelpunkt der Marterungen wurde.

Fall 6. Ein nicht internierter, angesehener Mittelschullehrer von fünfzig Jahren. Einer seiner Brüder ist Hochschullehrer, zwei andere sind Mittelschullehrer. Die Familie hat viele Intellektuelle hervorgebracht und behauptet von dem berühmten jüdischen Bibel- und Talmud-Kom- mentator Raschi (1040—1105) abzustammen. Der Kranke selbst ist hoch- gebildet, hauptsächlich in der Naturgeschichte und in der Literatur. In einem dicken, äußerst breitspurigen, aber immerhin interessanten Buche stellt er auf Grund gewisser paläontologischer Tatsachen einige bemerkens- werte Zusammenhänge biologischer Faktoren auf. Er verspottet in dem Buche auf sehr undelikate, manchmal geradezu kindische Weise berühmte verstorbene und noch lebende Autoren und stellt immer nur die von ihm gefundenen Doktrinen ins Licht. Der Stil ist leicht und flüssig, doch oft von langenAbweichungen in Paranthesen unterbrochen. Er schickte dieses Buch an mehrere ausländische Größen, auch an Ärzte und Literatur- historiker, die sich nie mit der betreffenden Disziplin befaßt hatten, aber, wie es unter gut erzogenen Leuten Sitte ist, sich schön bedankten und in allgemein gehaltenen Ausdrücken den Fleiß und die Gelehrsamkeit des Autors lobten. Dieser legt jene Höflichkeitsformen als unbedingte An- erkennung seiner Doktrin aus. Eine ganz interessante, man kann sagen geistvolle, aber bei weitem nicht bewiesene „Entdeckung“ von biolo- gischen Zusammenhängen reißt ihn zurfolgenden, hier wortgetreu wieder- gegebenen Boutade hin: ‚Diese meine Idee ist nicht nur die großartigste aller bisherigen, sondern auch die aller kommenden Zeiten !“ Man merke: Eine im besten Falle geistreiche Verbindung von zwei naturhistorischen Tatsachen (deren Rechtfertigung aber noch aussteht), ist die großartigste aller gewesenen und kommenden Ideen! Er spricht in jeder Gesellschaft, selbst in der von Damen, Nichtinteressierten und Dienern über seine Ideen, bemerkt nicht, daß man ihn verständnislos ansieht, und verschenkt seine Bücher niederstehenden Personen, die nicht imstande sind auch nur einen kurzen Abschnitt daraus zu verstehen.

In diesem Falle ist das Mileu bemerkenswert, aus welchem der Kranke stammt: eine Familie von Gelehrten in der jetzt lebenden und in den letzten drei bis vier Generationen. In diesem Milieu mußte der talentierte, wißbegierige Knabe jene Vorstellungen mit Gier eingesogen haben, daß es das Höchste auf der Welt ist, ein Gelehrter, ein unsterblicher Entdecker und Verbreiter des Wissens zu sein. Es ist natürlich, daß ihn zumeist nur Wunschvorstellungen und keine Be- fürchtungen bewegen, Wunschvorstellungen, die in der Gelehrten- familie Tradition smd und die er paranoisch ausgebaut hat.

Fall 7. Ein Mädchen von 22 Jahren, Studentin der Philosophie wird interniert, weil sie an zahlreichen Verfolgungs- und Vergiftungs- wahnideen leidet. Außer diesen Symptomen zeigt die Kranke einen un- glaublichen Hochmut und Eigendünkel. Nichts ist ihr gut genug. Das Essen ist ‚ein ungenießbarer Fraß‘, das Bett ,,abscheulich“, das Laken

314 Révész,

„unter aller Kritik‘. ,,Aber die Botschaft wird alles in Ordnung bringen“. Die Kranke ist nämlich fremde Staatsbürgerin. Dabei entwickelt sie einen ausgezeichneten Appetit, denn das Essen ist wirklich schmackhaft. Auch das Bett und das Laken sind tadellos und die Botschaft hatte mit der Kranken nur insofern zu tun, als sie ihr ein Stipendium verschaffte. Die Kranke, die Tochter einer armen Witwe, konnte als Studentin in der Universitätsstadt nur sehr eingeschränkt leben und wäre dort sehr froh gewesen, ihr jetziges Bett und ihre jetzige Nahrung zu haben.

Woher dieser paranoische Hochmut und die Verfolgungswahnideen ? Sie war immer ein höchst begabtes Kind gewesen und hatte sich schon in der Mittelschule mit philosophischen und psychologischen Fragen be- schäftigt, von allen Lehrern, Verwandten und Bekannten bewundert und gepriesen und von ihren Schulkameraden beneidet. Dies hätte schon bei einem normalen Kinde einen verständlichen Hochmut entwickeln können, um wie viel mehr bei diesem paranoisch veranlagten. Ihr Hoch- mut geht jetzt so weit, daß sie die Briefe ihrer Mutter zurückweist und auf des Arztes Aufforderung, zu antworten, hochnäsig sagt, sie habe keinen Anlaß, ihrer Mutter zu schreiben. Da sie ihren ebenfalls höchst begabten Bruder, einen überaus hübschen Jungen von 20 Jahren, außer- ordentlich liebt, ist sie auf ihn eifersüchtig, glaubt fortwährend, er schwebe in Lebensgefahr oder wäre schon umgekommen und behauptet, seine Briefe seien von Feinden gefälscht.

Auch hier sehen wir, wie bei Fall 6, daß eine paranoische Ver- anlagung ein großes Talent geradezu zwangsläufig in eine gewisse Richtung drängt, in diese und keine andere Richtung, denn die krank- hafte Veranlagung ist nicht imstande etwas Neues zu schaffen, son- dern arbeitet nur den vorhandenen Stoff auf —, in diesem Falle einer- seits paranoisch gefärbte Wunschvorstellungen 'mit Bezug auf das Anerkanntsein und andererseits Furchtvorstellungen mit Bezug auf den geliebten Bruder. Hier ist Erotisches nicht ausgeschlossen, aber

infolge Verschlossenheit und Hochmut der Kranken nicht festzustellen. Fall 8. Ein Buchhalter von etwa 50 Jahren, ein verkrachter Stu- dent, der in seiner Jugend viel gelesen hatte, wurde interniert, weil seine Angehörigen sich vor ihm fürchteten. Er erzählte ihnen unglaublich phantastische Geschichten von den Einwohnern fremder Planeten, be- schrieb die Landschaften, Sitten, Gebräuche im Sirius mit großer Ge- nauigkeit und mit den geringsten Details. Auch hier hatten Vorstellungen, hauptsächlich aus Sagen, Märchen und Legenden, ferner aber auch Lektüre von abenteuerlichen Ge- schichten und astronomischen Büchern die Wahnideen des Kranken

beeinflußt.

Fall 9. Ein 20 jähriges, sehr gebildetes, angenehmes Mädchen leidet zeitweise an hysterischen Dämmerzuständen und behauptet während dieser, sie sei eine gute Christin, ihre Eltern seien ebenfalls Christen, ferner sei sie sehr reich. In diesem Zustande ist sie zügellos erotisch und bietet sich Ärzten und Pflegerinnen schamlos an. Vom Vater spricht sie im Dämmer-

Uber die Entstehung von Wahnideen. 315

zustande mit groBer Liebe und Verehrung, von der Mutter hingegen mit Verachtung.

Dieser Fall ist besonders wertvoll, denn im Dammerzustande zeigte sich bei diesem jungen Mädchen der wahre Kern ihres Seelen- lebens, mit allen seinen Wünschen und Befürchtungen. Sie ist nämlich Jüdin und wohnt in einer Stadt, wo Juden oft persönliche Anfeindungen erdulden müssen daher der im Dämmerzustande geäußerte Wunsch, Christin zu sein, obwohl sie sich im Wachzustande für einegute Jüdin aus- gibt. Ihre Familie ist wohlhabend, aber im Vergleiche mit ihren nahen Verwandten, die alle Multimillionäre sind, hält sie sich für arm. Daher im Dämmerzustande die Wunschvorstellung und die Aussage, sie sei sehr reich. Erst nachdem ich sie lange im Wachzustande beobachtet .und ausgefragt hatte, kam ich darauf, daß die Kranke ihren Vater hochschätzte, ihn oft lobte, seine Kenntnisse hervorhob, während sie ihre Mutter nur so nebenbei erwähnte. Tatsächlich ist ihre Mutter eine kleinliche, beschränkte, unangenehme Person. Diesen Unter- schied zwischen der dem Vater und der Mutter dargebrachten Liebe kannte das intelligente Mädchen auch in seinem Wachzustand, aber es gab sich doch nicht Rechenschaft darüber, daß dieser Unterschied so groß sei, wie es der beobachtende Arzt im Dämmerzustand der Kranken feststellen konnte.

Das Erotische endlich trat ebenfalls im Dämmerzustande zutage, während die Kranke sich im Wachzustande korrekt betrug.

Die Analyse dieses Falles bestätigt die Richtigkeit der hier dargestellten Auffassung der Wunschvorstellungen in abnormalen Geisteszuständen, sie beweißt aber auch, daß wir oft sehr lange und genau beobachten, ferner die Familien- und Vermögensverhältnisse, die Fähigkeiten, Neigungen und Talente, endlich aber die Wünsche und Befürchtungen der Kranken vor der Erkrankung kennen müssen, um den Zusammenhang mit Wahnvorstellungen und Sinnes- täuschungen restlos zu verstehen. Natürlich wird dies in der Mehr- zahl der Fälle nicht möglich sein, besonders bei Kranken, die von Behörden interniert werden, und um die sich ihre Verwandten nicht kümmern.

Zum Schluß einige Fälle von Paralytikern.

Paralytiker, wenn sie Kaufleute oder Bankiers waren, beschäf- tigen sich in ihren Wahnideen zumeist mit Reichtümern, Handwerker mit Geld oder mit großen Werkstätten, vielen Arbeitern oder auch mit Reichtum ohne Arbeit, Bauern mit Vieh und Feld, Frauen der niederen Stände besitzen in ihrem Wahn schöne Kleider und Geld

316 Révész,

in der Sparkasse, während die der höheren Stände Schmucksachen und gesellschaftliche Erfolge haben. Erotische Wahnideen sind na- türlich an keine gesellschaftliche Schicht gebunden, differenzieren sich aber in der Art, in welcher sie sich manifestieren, auch je nach dem Milieu des betreffenden Kranken.

4. Eine kurze Analyse der erwähnten Fälle soll die hier dargelegte Auffassung über die Entstehung der Wahnvorstellungen noch besser klären.

Der gelehrte Paranoiker, der aus einem Milieu mit ausschließlich intellektuellen Ideen und Strebungen stammt (Fall 6), wird an den seinem Ideenkreise entnommenen Wahnideen leiden und nicht Kaiser sein oder vom König Mathias Corvinus abstammen wollen, wie die naive ungarische Bäuerin (Fall 1), welche ihrerseits nicht die Wahn- idee haben wird, wegen einiger synthetischen Feststellungen aus dem Bereiche der Biologie sich für unsterblich zu halten. Dieser Gelehrte kann nur solche Wahnideen haben, die ihn früher, besonders in seiner Jugend, besonders aber in seiner Kindheit, beschäftigt haben. Mit entsprechender Abänderung der Redensart „Sage, mit wem du ver- kehrtst und ich sage dir, wer du bist“ kann man behaupten, aus den Wahnideen den Ideenkreis, das Milieu, zu erkennen, in welchem der Kranke sich vor seiner Erkrankung bewegt hat.

Die röm.-kath. Nonne wird in ihrem Wahne weder wissenschaft- liche Vorstellungen vertreten, wie Fall 6, noch den naiven Größenwahn wie Fall 1 äußern, noch wahnhafte Wünsche und Befürchtungen erotischen Inhaltes hegen wie Fall 4 usw. Sollte aber eine Nonne auch erotische Wahnideen zeigen, so muß man unbedingt annehmen, daß sie in ihrer Kindheit oder Mädchenzeit erotische Vorstellungen zu hören oder zu haben, demnach diesbezügliche Wünsche zu hegen Gelegenheit hatte. Und selbst die in fernen Zonen gemachte Beobach- tung van Breros über das arme Vorstellungsleben der Malaien in ihrem Wahne ist ein Beweis dafür, daß Wahnideen, so einfach oder kompliziert sie auch erscheinen, immer nur Verzerrungen schon früher, zumeist bereits im Kindesalter erworbener Wunsch- und Furchtvorstellungen (oder deren Kombinationen) sind.

Man sieht, jeder bleibt bei seinem Leisten, auch im Wahne. Der reiche Kaufherr wünscht natürlich noch mehr Geld, denn davon hat er nie genug, aber schöne Unterwäsche erwähnt er nicht, denn daran hat es ihm nie gefehlt. Aber die arme Bäuerin oder Ar- beiterfrau wünscht sich viele schöne Kleider, die sie nie gehabt hat.

Uber die Entstehung von Wahnideen. 317

Es ist natiirlich nicht immer leicht, das Vorleben der Kranken und daraus die seine Wahnideen determinierenden Wunsch- und Furchtvorstellungen festzustellen. Aber wenn es gelingt, diese oft weit zurückliegenden Daten zu eruieren, sieht man immer, daß die | Wahnideen nur wahnhaft umgeformte ursprüngliche Vorstellungen sind.

Man könnte nun fragen: Wie kommt es, daß Vorstellungen über Ruhm, Allmacht, Religion, Reichtum und Erotisches den Inhalt der Wahnideen ausmachen, nie aber Hunger und Durst? Die Ant- wort kann nur diese sein: Hunger und Durst können heutzutage bei- nahe immer befriedigt werden, nicht aber die den erwähnten Vorstel- lungskreisen entsprechenden Wunschvorstellungen. So lange noch Hungersnot eine gewöhnliche Erscheinung im Leben der Völker war, mögen auch Vorstellungen mit Bezug auf Hunger und Inhalt von Wahnideen gebildet haben. Heute beobachtet man dies nicht, wenig- stens nicht als selbständige Wahnideen, höchstens als Teile von Wunsch- vorstellungen mit Bezug auf Reichtum (z. B. täglich zehnmal Torte essen, immer Sekt trinken usw.). Übrigens ist es bekannt, daß die Halluzinationen der Nordpolfahrer oft Speisen und Getränke zum Gegenstand haben.

Ferner drängt sich natürlich auch die Frage auf: Warum leidet nicht jeder Mensch an Wahnideen, haben doch alle Menschen in ihrer Kind- heit die verschiedensten undreichhaltigsten Vorstellungengehabt? Ein jeder von uns trägt ja jenes uralte intellektuelle Erbgut mit sich, welches Jung ®, zum Unterschiede von dem individuellen Unbewußten, daß kollektive Unbewußte oder das Urtümliche nennt und welches ein jeder von uns in Gestalt von Sagenstoffen, Bildern, Träumen, Wünschen, aber auch von Befürchtungen, Aberglauben, Irrtümern usw. von seinen Urahnen durch zahlreiche Geschlechter geerbt hat. Ein jeder von uns hat Sagen und Märchen, Fabeln und Legenden in seiner Kindheit gehört und damit seinen Schatz an Wunsch- und Furchtvorstellungen bereichert. Aber nicht ein jeder von uns hegt jene Wünsche und Befürchtungen auch später. Hier müssen wir unbedingt, wie dies schon oben (S. 4) erwähnt war, eine für Wahn- ideen bereite Konstitution, eine die im Kindesalter gehörten und aufbewahrten Vorstellungen in wahnhafter Richtung formende Ver- anlagung annehmen. Beim gesunden Menschen können ebenfalls plötzlich aufsteigende Vorstellungen aus der Kindheit erscheinen, aber und dies ist der wesentliche Unterschied gegenüber dem zu Wahnideen Prädisponierten —, der Gesunde wird den Inhalt der

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bewußt gewordenen Vorstellungen kritisch beurteilen und nicht für real nehmen. Auch bei einem geistesgesunden Menschen kann eines Tages die Vorstellung auftauchen, daß er Kaiser, unermeßlich reich und mächtig sein möchte, aber sein O sagt ihm, daß dies nicht mög- lich ist, daß er zwar als Kind oft gewünscht hatte, Kaiser zu werden, daß ihm dies damals möglich schien, daß er aber seitdem nicht mehr daran gedacht hat. Der Wunsch bleibt nur Wunsch und der Betreffende leidet an keiner Wahnidee. |

Bei der hier dargestellten Anschauung muß also zweierlei postu- liert werden: Erstens, daß der an einer Wahnidee Leidende nicht weiß, daß die von neuem auftauchenden Vorstellungen ihm schon bekannt waren, so daß er sie für neue und reale hält, und zweitens eine patho- logische Konstitution. Denn es kann sich ergeben, daß auch bei einem Normalen aufgestapelt gewesene, längst vergessene und aus der Kind- heit stammende Vorstellungen wieder von neuem auftauchen. Aber der Normale erkennt sie entweder als aufgestapelte und nur vergessene Vorstellungen, oder wenn er auch nicht weiß, daß diese Vorstellungen ihm schon einmal bewußt waren, nimmt er sie nicht für reale so wie der Paranoiker.

Warum beobachtet man in der Kindheit so selten Wahnideen ? Und warum sind in der Kindheit auftretende Geistesstörungen kaum durch Wahnideen gekennzeichnet? Das Kind muß erst Zeit haben, Vorstellungen zu sammeln. Soll das Kind etwa paranoisch werden, wozu ja eine paranoische Konstitution postuliert werden muß, so müssen sich erst jene Vorstellungen im Polygon festsetzen, welche später als Wahnideen wieder auftauchen sollen. Allerdings wird von Paranoikern gesagt, daß sie schon in ihrer Kindheit neugierig, wiß- begierig, unruhig und nicht ausgeglichen, ‚‚desequilibiert‘‘, unge- horsam, fahrig waren (z. B. Fall 3). Solche Kinder sind, so paradox dies auch klingen mag, als Paranoiker ohne paranoische Wahnideen anzusehen, denn diese entwickeln sich erst später. Die Konstitution ist bei ihnen vorhanden, doch hat sie vorläufig keine Gelegenheit sich an einem Vorstellungsmaterial zu betätigen, da ein solches vor- läufig nicht vorhanden ist.

Es ist bekannt, daß Angehörige gewisser Beschäftigungskreise leichter an paranoischen Wahnideen leiden, z. B. Lehrer und Erziehe- rinnen, ferner Bucklige, Entstellte, Krüppel usw. Bei Lehrern und Erzieherinnen ist im allgemeinen die intellektuelle Leistung eine viel größere als die materielle Rekompensation. Dies mag der Ausgangs- punkt sein. Ist nun bei solchen Personen die paranoische Konsti-

Uber die Entstehung von Wahnideen. 319

tution vorhanden, so kommen die in der Kindheit aufgestapelten Wunschvorstellungen ins Bewußtsein, ein leichteres, angenehmeres, materiell besser entlohntes Leben zu führen, um so eher, da der Lehrer (oft auch der normalgeistige) sein Wissen in Anbetracht der um so vieles niedrigeren Bildungsstufe seiner Schüler überschätzt. Bucklige und Entstellte hingegen werden von vielen Wunschvor- stellungen erotischen Inhaltes heimgesucht, welche, wenn auch pa-

ranoische Konstitution vorhanden ist, in Wahnideen degenerieren.

Sie wünschen nämlich die Befriedigung ihrer sexuellen Triebe, wozu sie jedoch infolge ihres mißgestalteten Körpers selten Gelegenheit haben.

5. Sehen wir nun, ob sich die hier dargelegte Auffassung über die Wahnideen auch bei solchen nicht paranoischen Charakters recht- fertigen läßt.

Wenn ein bisher Gesunder an progressiver Paralyse erkrankt und in diesem Zustande Größenwahnideen äußert, so ist dies so vorzustellen, wie bei der Paranoia. Im Wesen ist die Entstehung der Größenwahn- ideen beim Paranoiker und Paralytiker dieselbe: Die im kindlichen Leben im Unbewußten aufgestapelten Wunsch-und Furchtvorstellungen ge- langen in das Bewußtsein und ihr Inhalt wird vom Kranken für real

- betrachtet. Dazu kommt beim Paralytiker noch die Geistesschwäche

und der Mangel an Kritik, die die auftauchenden Wahnideen auf eine für ihn charakteristische Weise färben. Hier scheint die Paralyse selbst das Auftauchen alter Vorstellungen und ihre reale Wertung er- möglicht zu haben. Eines ist sicher: Wäre der betreffende nicht pa- ralytisch geworden, so wären die alten Wunsch- und Furchtvorstel- lungen nicht aufgetreten.

Auch die bei Manie, Melancholie, Schizophrenie, ferner die bei Hysterie nur selten und nur gelegentlich auftauchenden Wahnvor- stellungen (s. Fall 9) können auf die hier geschilderte Weise ent- stehen. Die beim Gesunden S. 14 beschriebenen, von ihm für nicht real, sondern nur als Wunschvorstellungen auftauchenden Ideen werden vom Maniakus manchmal für real genommen, aber von der ihm cha- rakteristischen Stimmungslage beleuchtet. Während, um bei unserem Beispiele zu bleiben, der Gesunde sagt, er habe sich als Kind oft ge- wünscht Kaiser und sehr reich zu sein, und auch jetzt wünsche er es, sehe aber ein, daß dieser Wunsch nicht realisierbar ist, sagt sich der Maniakus, wenn die alte Wunschidee, Kaiser zu werden, in ihm auf- taucht, unter dem Eindrucke seiner gehobenen Stimmung: Ich fühle mich so wohl, so stark, so unternehmungslustig, warum soll es mir nicht gelingen Kaiser zu werden?

320 Révész,

Der Melancholiker jedoch färbt seine auftauchenden Wunsch- und Furchtvorstellungen seiner Stimmungslage entsprechend. Daß er gleich nach gelungener Reifepriifung zum ersten Male ins Freuden- haus ging, wird er in seinem langen Leben nicht vergessen haben, aber daß dies eine nicht zu verzeihende fluchwiirdige Sünde ist, dazu bringt ihn seine pathologische Stimmung. Auch wenn er geheilt ist, verliert er die erwähnte Jugenderinnerung nicht, aber die abnormale Stimmung hat aufgehört und die Erinnerung wird für den Betreffen- den wieder irrelevant.

Die bei den jugendlichen Schizophrenikern auftauchende Wahn- ideen können ebenso erklärt werden, wie bei den Paranoikern, wenn sie auch nicht so systematisiert sind, wie bei den Paranoikern.

Depressive Naturen neigen dazu sich verfolgt zu wähnen. Dies ist manchmal die Folge schwacher Kritik, andere Male hingegen ist die depressive Stimmung mächtiger als die Einsicht und die auf- steigenden Vorstellungen werden von der Stimmung depressiv ge- wertet.

Manchmal haben Gesunde, aber selbstbewußte (oft nur infolge des Kontrastes zu ihrem minderwertigen Milieu in ihrer eigenen Ach- tung zu sehr gestiegene) Menschen den Wunsch, etwas Großes zu werden und ihresgleichen um ein Erkleckliches zu überflügeln. Hierher gehören die kleinen Napoleone und Hindenburgs, die Hypergelehrten und die Allwissenden der kleinen Städte, welche ich zu dem ,,para- noiden Temperament’ rechne #*, Von ihnen sagt man oft in Laien- kreisen, sie haben „Größenwahnideen“. Natürlich gibt es auch hier keine scharfen Grenzen zwischen gesistesgesund und geisteskrank, aber in den allermeisten Fällen wird es möglich sein, bei einem einge- bildeten, superklugen, arroganten Menschen festzustellen, ob er geisteskrank ist oder nicht. Beim Gesunden entstehen die Vorstel- lungen im O, also bewußt, und nicht im Polygon, also unbewußt, wie beim Paranoiker. Bei den geistesgesunden Menschen dieser Kategorie ist eine Vorstellung vom eigenen hohen Werte ebenfalls bewußt im O entstanden und bewußt im O geblieben. Durch entsprechende Gegen- vorstellungen ist es möglich, diese übertriebenen und überwertigen Vorstellungen zu erschüttern und zum Verschwinden zu bringen, während dies beim Paranoiker nicht möglich ist. Deshalb hat Cer- vantes bei sonst glänzender Beschreibung des Paranoikers Don Quijote nicht Recht, wenn er den Ritter im 74. Kapitel des zweiten Teiles des Romanes zur Einsicht gelangen läßt, daß seine Vorstellungen falsch waren. Don Quijote ist ein ausgesprochener Paranoiker. Dies

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Uber die Entstehung von Wahnideen. 321

hat Cervantes meisterhaft getroffen, aber das konnte er damals noch nicht wissen, daß die Wahnideen nicht verschwinden.

Allerdings können beim Paranoiker die Wahnideen mit der Zeit verblassen. Was bedeutet dies? Durchaus nicht, daß sie verschwinden oder daß der Paranoiker (wie Don Quijote am Ende des Romanes) zur Einsicht gelangt, sein ganzes Leben lang Hirngespinsten nachge- laufen zu sein. Das „Verblassen‘‘ der Wahnideen bedeutet eine quan- titative und qualitative Abschwächung. Je länger der Paranoiker

lebt, desto seltener treten die Wahnideen auf. Dies ist das quanti-

tative Verblassen. Das qualitative besteht darin, daß der Kranke in vorgerückterem Lebensalter seine Wahnideen nicht mit jener Wucht vertritt, wie er es in früheren Jahren getan hat. Es geschieht mit diesen Ideen das, was mit allem Psychischen geschieht: Durch fortwährendes Wiederholen wird die Wahnidee, obwohl sie als solche weiter bestehen bleibt, langsam aber stetig abgenützt und mit der Zeit fängt auch derjenige, der sie als sein Lebenselement betrachtete, allmählich an, sie als störend, als unbequem, als gar nicht nutzbrin- gend zu betrachten. Dies geschieht um so leichter, wenn er in seiner Mitwelt, wie es zumeist der Fall ist, lauter Widerstände findet. Er ist wie ein Soldat, der bis zum letzten Augenblick die Fahne verteidigt, aber von allen Seiten gedrängt, sich ergibt ohne die Fahne loszulassen. Dies ist beiläufig der Zeitpunkt, in welchem Pilez 1? dem Paranoiker das Dissimulieren der Wahnideen empfiehlt, um im Leben ungestört ar- beiten zu können, natürlich unter der Bedingung der strengsten Auswahl der Fälle und der genauesten Individualisierung.

6. All das hier Gesagte kann mutatis mutandis auch auf die Sinnestäuschungen angewendet werden. Schon durch Analogie wird man mit einem gewissen Rechte sich ihre Entstehung auf folgende Weise vorstellen können:

a) Entweder sind die Sinnestäuschungen Wiederholungen, besser gesagt Widerhall der schon vor Jahren stattgehabten Empfindungen oder aber |

b) die Sinnestäuschungen sind organisch mit den den Wahrneh- mungungen entsprechenden Vorstellungen verbunden.

Beispiel für a): Ein Kind hört oft seitens der Eltern und Lehrer die Mahnung: Sei brav! Oder es hört oft ein Schimpfwort, welches an es persönlich oder auch an andere Personen gerichtet ist. Diese Mahnung oder diese Schimpfworte, die jahrelang im Unterbewußt- sein verborgen waren, können dann durch die Geistesstörung in das Bewußtsein gelangen und für real genommen werden.

Zeitschrift für Psychiatrie. LXXXIX. 21

322 Révész,

Beispiel fiir b): Der an Delirium tremens Erkrankte leidet an Hallu- zinationen, welche mit seinem Beschäftigungskreise in engster Ver- bindung stehen. Das Beispiel b) wird im Leben viel häufiger vor- kommen, denn zumeist stehen Empfindungen nicht allein, sondern sind an Vorstellungen gebunden.

Übrigens halluzinieren auch Erwachsene und Kinder im Fieber- delirium. Der Inhalt dieser Sinnestäuschungen bezieht sich dann immer auf schon aufgenommene Sinneseindrücke und Vorstellungen. Nur ist der Beobachter nicht immer in der Lage (der Arzt am wenig- sten, die Angehörigen eher) die Herkunft der Sinnestäuschungen festzustellen. In mehreren Fällen konnte ich die im Delirium infolge von Scharlach aufgetretenen Halluzinationen auf solche Eindrücke zurückführen, welche der Kranke bei Gelegenheit von Spaziergängen und Ausflügen hatte.

Ein Beweis für die den Wahnvorstellungen analoge Entstehung der Sinnestäuschung wäre m. E., daß diese gerade jene Sinne am häu- figsten betreffen, welche beim Menschen ontogenetisch und phylo- genetisch am besten entwickelt sind, wie die Hör- und Sehsphäre. Die Geschmacks- und Geruchsphäre sind auch beim normalen Men- schen am wenigsten entwickelt und werden demnach auch von Sinnes- täuschungen am wenigsten heimgesucht.

7. Die hier dargestellte Entstehung von Wahnideen hat mit den un- bewußt bleibenden Vorstellungen der Freudschen Theorie nichts zu tun.

Nach Freud bleiben unlustbetonte Vorstellungen aus der Kind- heit im Unbewußten „verdrängt“, quälen den Betreffenden, ohne daß er sich über die Ursache Rechenschaft geben kann, sie werden ihm spontan nicht bewußt, sondern können, durch eine psychische Katharsis bezweckende Psychoanalyse ans Tageslicht gezogen, dem Betrefienden zum Bewußtsein gebracht werden, worauf die Heilung erfolgen soll.

Der Unterschied ist demnach folgender:

Bei Freud: Nach der hier dargetanen Theorie:

1. Die Kindheitvorstellung wird 1. Sie wirdspäter spontan bewußt.

später spontan nicht bewußt. 2. Sie verursacht nicht Krankheit,

2. Die Kindheitvorstellung ver- so lange sie unbewußt bleibt,

'ursacht Krankheit, so lange sondern sie wird erst dann zur

sie „verdrängt“ bleibt. Wahnidee, wenn sie bewußt wird.

a ee Se ee o b ENPE | a Oe a a

Uber die Entstehung von Wahnideen. 323

3. Das durch Psychoanalyse her- 3. Die Wahnidee heilt nie. Höch- beigeführte Bewußtwerden der stens verblaßt sie. Kindheitvorstellung bringt | Heilung.

Die Entstehung und den oben geschilderten adäquaten Charakter der Wahnideen mit den Engenunorsalaugen erklärt Freuds Theorie nicht.

Eine andere Theorie, die von De Clérambault 3, will Wahnideen und Sinnestäuschungen auf folgende Weise erklären: Diese patho- logischen Erscheinungen sind zurückgebliebene Spuren von voraus- gegangenen Infektionen oder Intoxikationen, welche gewisse Nerven- zellen derart vergiften, daß diese anders funktionieren und eben Wahn- ideen und Sinnestäuschungen hervorbringen. Dabei sollen die tiefer gelegenen Zellen der Neurachse sich besser gegen äußere Angriffe (Infektionen, Intoxikationen) verteidigen als die höher gelegenen Zellen derselben Achse.

Abgesehen von dieser ganz unbewiesenen Ansicht, daß eine Ner- venzelle eine Empfindung oder Vorstellung so produziert wie etwa eine Leberzelle die Galle, ist diese Theorie ganz und gar nicht annehm- bar. Denn bei vielen Menschen bleiben körperliche Eindrücke vorher- gegangener Infektionen und Intoxikationen zurück, ohne daß später Wahnideen oder Sinnestäuschungen auftreten würden.

Literatur.

. Aristoteles ‚Drei Bücher über die Seele‘, Stuttgart 1847.

. Adler, Dr. Alfred „Über den nervösen Charakter“, 1912.

. De Clérambault ,,Psychoses & base d’automatisme, La Pratique

Médicale Française, mai 1925. . Freud, Prof. Dr. Sigm. ‚Vorlesungen zur Einführung in die Psycho- analyse“, 1916.

5. Gaupp, Prof. Dr. Robert „Über paranoische Veranlagung u. abortive Paranoia. Zentralblatt für Nervenheilkunde u. Psych. Bd. 29, 4909.

6. Grasset, Dr. J. „Traité élémentaire de physiopathologie clinique“

1912.

. Hüschmann, Dr. Eduard ,,Freud’s Neurosenlehre‘, 1911.

. Jasper, Karl ,,Allgemeine Psychopathologie‘, 1920.

. Jung ,,Die Psychologie der unbewußten Prozesse“, Zürich 1917.

21*

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324 Révész, Uber die Entstehung von Wahnideen.

10. 41. 12. 43.

14.

Kraepelin, Emil „Psychiatrie“ 1915, Achte Auflage.

Lévy Valensi „Les delires‘‘, Paris 1926.

Pilez, Prof. Alexander „Lehrbuch der speziellen Psychiatrie‘. Vierte Auflage.

Révész, Bela „Über Temperamente“, Psych. Neurol. Wochenschrift, 1907, Nr. 20. |

Van Brero „Die Nerven- und Geisteskrankheiten in den Tropen“ in Mense „Handbuch der Tropenkrankheiten‘“ 1905.

?

Studien über Blutbilder bei Geisteskranken. 5 Von Oberarzt Dr. Ostmann, Schleswig.

Gelegentlich von Untersuchungen, die Herr Dr. Himstedt und ich gemeinsam anstellten zum Vergleich der Erythrocyten-Senkungs- geschwindigkeit mit dem Blutbild bei tuberkulösen Geisteskranken, fiel uns der hohe Prozentsatz der Eosinophilen im weißen Blutbild auf. Indem wir sie nach Schilling als feinste Anzeiger bei der Prognose- stellung zu werten gewohnt waren, konnten wir uns ihr starkes An- steigen in einzelnen Fällen bei sich stark verschlechterndem Allgemein- und Tuberkulosebefund nicht erklären. Wir konnten das um so weniger, als in diesen Fällen die Senkungsgeschwindigkeit der Erythrocyten ebenfalls auf eine schlechte Prognose deutete. Kurzum, unsere ge- meinsame Arbeit scheiterte an diesem Punkte.

Im ganzen fand sich unter Zugrundelegung der von Schilling angegebenen Grenzwerte von 2—4% eine die Vierprozentgrenze über- steigende Zahl der Eosinophilen bei 63% der Patienten mit Tuber- kulose und Geisteskrankheit. Eosinophile unter 2% waren nur vor- handen bei 7,3% der erwähnten Kranken. Im einzelnen stellten zu den errechneten 63%, mit Eosinophilie die Schizophrenie 36,8%, der angeborene Schwachsinn 12,2%, und die Pfropfpsychosen 14%.

Wichtiger als diese Zahlen aber erschien mir, daß die Patienten der schizophrenen Gruppe, als Einheit genommen und für sich berechnet, in fast 62%, eine Eosinophilie aufwiesen. Unter gleichen Voraus- setzungen betrug diese Zahl für die Schwachsinnigen 69% und für die Pfropfpsychosen 71%.

Nach diesen Feststellungen und in dem Gedanken, daß vielleicht dies eigentümliche Verhalten der Eosinophilen bei bestimmten Arten der Geisteskrankheiten charakteristisch sei, erbat und erhielt ich Ein- blick in zu anderen Zwecken von Herrn Dr. Struck gesammelte Blut-

1) Aus der Landesheilanstalt Schleswig-Stadtfeld. Direktor Sanitätsrat Dr. Dabelstein.

326 Ostmann,

bilder. Das Resultat meiner Berechnung aus 76 dieser Blutbilder, die die Dementia praecox und den angeborenen Schwachsinn betrafen, war das, daß auch hier die Vermehrung der Eosinophilen eine große Rolle spielte, sie fand sich in etwas mehr als 72%.

Hatten die bisherigen Beobachtungen ergeben, daß sich häufig auffallend hohe Zahlen der Eosinophilen im Blutbild bei verschiedenen Geisteskrankheiten zeigten, so schien mir diese interessante Tat- sache weiterer Untersuchungen über sie und ihre Schwankungen wert. Ich habe deshalb 256 neue Auszählungen in Gestalt von Serienunter- suchungen angestellt und fand, zunächst einmal wieder die Gesamt- zahlen vorweggenommen, in 64%, eine Eosinophilie und in 11,5% eine Eosinopenie. Die restlichen Blutbilder wiesen normale Eosinophilen- zahlen. Der Blutstropfen wurde am Vormittag entnommen, zwei Stunden nach dem Morgenkaffee. Vereinzelt nur wurde des psychischen Zustandes halber zu anderer interessierender Zeit einmal ein Präparat gemacht. Gezählt wurde bis zu 300 weißen Blutkörperchen.

213 Blutbilder von an Dementia praecox Erkrankten ergaben, nach den einzelnen Leukozytenarten geordnet, in prozentmäßiger Berechnung die folgende Übersicht:

oberhalb unterhalb normal der Grenzwerte

Eosinophile ...... in 61,5 10,3 | 28,2 Lymphozyten .... in 74,7 10,3 15 Segmentkernige .. in 5,2 38,9 55,9 Stabkernige ...... in 15 56 29 Monozyten ...... in 13,1 23,1 63,8 Basophile ........ in 27,2 | 72,8

Die Eosinophilen sind vorangestellt, weil sie der Ausgangspunkt und Anlaß der Studien waren. Von den Neutrophilen fehlen die Jugend- lichen und die Myelozyten in der Zusammenstellung, von letzteren wurde nur einer gefunden. Jugendliche waren zu 12,6% vorhanden. An besonderen Formen waren Türksche Reizformen mit 13,6% ver- treten und Plasmazellen mit 3,2%.

Die Eosinophilen erreichten als höchsten Wert 20,3%, bei den untersuchten Fällen von Dementia praecox, zweimal fehlten sie dann wieder ganz.

Bei den Lymphozyten fiel auf, daß sie in 74%, der Blutausstriche, in denen eine Eosinophilie bestand, ebenfalls vermehrt waren, nur bei 16,8%, in normalen Grenzen blieben und auch nur bei 9,2%, unter die

Studien über Blutbilder bei Geisteskranken. 327

Norm sanken. Ihr und der Eosinophilen Verhalten zu einander bringt die nun folgende Tabelle, in der die Prozentsätze die Anzahl der Prä- parate bedeuten.

Lymphozyten Eosinophile vermehrt | vermindert | normal in in in vermehrt: ........ 74% 9,2% 16,8% vermindert: ....... 77,5% 9% 13,5% normal: .......... 79% 15% 10%

Hielten sich die Segmentkernigen in 38,9%, unterhalb der Grenz- werte, so ging, diese Zahl als Ganzes genommen, die Verminderung einher mit einer Vermehrung sowohl der Eosinophilen als auch der. Lymphozyten bei 73%, den tiefsten Stand erreichten die Segment- kernigen mit 36%, den höchsten mit 75,6%,. Waren sie vermehrt, so fehlten entweder die Lymphozyten oder die Eosinophilen, oder sie waren wenigstens sehr tief gesunken.

Die Stabkernigen wurden einmal mit 15,3%, gezählt, sonst brachten sie nur geringe Ziffern ebenso wie die Jugendlichen.

Der Satz der Basophilen fiel als relativ hoch auf.

Die Gesamtzahl der Leukozyten lag zwischen 6000— 8000, höhere Werte wurden nicht erhoben.

Eingangs ist erwähnt, daß diese Arbeit eigentlich aus Anlaß von Versuchen über die Senkungsgeschwindigkeit der Erythrocyten ent- stand. Wie damals motorische Unruhe, Spannungszustände in den Kreis der Überlegungen mit hinein bezogen werden mußten, so lag auch hier der Gedanke nahe, das Blutbild, das doch so auffallende Erscheinungen bot, mit den klinischen Symptomen zu vergleichen. Als sich bei der ersten Beobachtung ergab, daß ein erregter und mo- torisch Unruhiger hohe Eosinophilenzahlen hatte, war es wünschens- wert festzustellen, wie sein Blutbild in der Ruhe wohl aussähe. Nun ergab sich, daß die Eosinophilen in der Ruhe fast normalen Wert hatten. So entstanden Blutbilderserien. Die erste war so zu skizzieren: Erregter, motorisch unruhiger, lauter Schizophrener: 12,6%, Eosino- phile, bei anhaltender Erregung 11,3%, nach Abklingen der Erregung, also in der Ruhe 4,6%. Ein zweiter Fall ergab ein sehr ähnliches Re- sultat. Der dritte aber stellte sich umgekehrt, indem er in der Ruhe 17% Eosinophile aufwies und in stark gespanntem Zustande 5%. Fortlaufende Untersuchungen an 57 schizophrenen Männern zeigten nun, daß von ihnen 25 wie der Erstuntersuchte sich verhielten, 32 da- gegen wie der als dritter Erwähnte.

328

10.

Ostmann,

Indem ich die erste Art als Typus I bezeichne und die andere als Typus II, gebe ich nachstehend eine Anzahl von Blutbildserien. Die Pfeile sollen die Tendenz zum Steigen und Fallen erläutern.

Eosinoph.

O. Schizophrenie.

sehr erregt 12,6 sehr erregt 11,3 ruhig 4,6 . M. Schizophrenie. unruhig 14,3 ruhiger 11 ruhig 8,6 . B. Schizophrenie. sehr erregt 10 ruhig 6 . K. Katatonie. stark gespannt 12,6 1 7,3

wenig gespannt 7

. B. Hebephrenie. sehr lebhaft 11 ruhiger 8 ruhig 7

. H. Katatonie. gespannt 10

4 7 teilnahmslos 4,6

. P. Katatonie.

angstlich gespannt 6,6 ruhig 5,6

. W. Katatonie.

sehr erregt u. gespannt 6,3 ruhig 3,3

. S. Schizophrenie.

sehr lebhaft u. verkehrt 15,6 J 8,3 ruhig 3,— W. Katatonie. sehr erregt 7,3 ruhiger 5

| | | | |

29,6 27,6 19

30 23,3 24

37,3 34

33,3 31,6 23

32 35,3 26,6

32,6 26 26

30 28,3

28 23,6

22 20,3 14

42 36

Typus I.

Lymphoz. Segmentk. Stabk. Monoz. Basoph. Meg 47,6 5,6 | 2,3 2 Türk 0,3 49,3 6 3,6 3 63,6 4 6 6,3 4 —,3 4h 3 5,6 3 57,3 1,3 9 4 57,3 1,6 6,6 | 1,6 Türk 0,3 47 | 4 3,3 4 Tirk 0,3 5 |, 1.3 3,— 0,3 Türk 0,3 45,6 2,3 5,3 —,6 Türk 0,3 52 1,3 7 —,6 58 | 2,3 9 —,6

1 47 3 5 2 47,3 2,3 4,3 2,6 52 4,3 9,3 —,6 + 48,3 3 5,3 —,6 56 3,6 6,3 1,— 60,6 2,3 6 | —3 92,3 5 5,6 —,3 57,3 5,6 2,6 —,6 55 3,3 7 —,3 62,6 2,3 7,3 —,6 55 3,6 2,6 4 J d 61,6 | 3,6 | 43 | 4, i ae in 71,6 | 4,6 | 5,3 | 1,6 a 42,3 —,6| 4,3 3,3 Plasma- 51,3 | 2,6 | 2 2,6 zellen 0,3

Studien über Blutbilder bei Geisteskranken. 329

Typus II. Eosinoph. Lymphoz. Segmentk. Stabk, Monoz. Basoph. ‘oman 4. M. Katatonie. stark gespannt 6 28 54 f 6,6 1 3,6 4,6 Plasma- motorischerregt 7,75 47,75] 3,75| 8,75 —,5 zellen 0,5 ` ruhig 11,6 45,6 j A 4 —,6 Türk 0,6

2. A. Schizophrenie. unruhig 2,6 | 18 ruhig 5,6 30,3

3. B. Katatonie.

71,6 7 1,6 5,6 f —,6 Jugendliche 2 0,3

8. N. ee

stark nn : 3 | 25 67,3 tf 4 5 —,3 34 97 —6 4,3 1,— freier 34,6 | 50 2 6 —,3 4. D. soph gehemmt 25,6 63 3,3 5 —,6 Türk 0,3 umgänglich 29 58,6 | 1,3 | 43 4 Türk 0,3 5. Sch. chor sehr ur 24 | 586 1,6 76 4 rr 6 | 34,3 | 43 2,3 83 —,3 ane 12,6 40 | 406 | —3 5 1,3 6. H. Hebephrenie unruhig 10,3 | 34,6 | 37,6 T 9,6 7 7,3 —,3 Jugendliche ruhig 19,5 35 37,5 3,5 2,5 2 0,3 7. H. ee sehr lebhaft 24,6 64 4.6 46 ruhiger 27 59 2 5,3 1,6

stark verwirrt 22 3,3 | 3,6 2,3

zugänglich 44 | 87,3 | 26 | 3,3 2,3 9. H. Katatonie.

sehr gespannt —,5 | 30 60,5 | 4,5 | 4

mäßig bewegl. 1,— | 39,3 | 54 | 3,3 | 4 —,3 10. St. Schizophrenie. stark gehemmt 5 26 63,6 7 1,6 | 4 4 6 28,3 | 54 4 93 1,3 umgänglich 17 | 33,3 | 39 3,6 | 6 1

In den angeführten Beispielen steigen die Lymphozyten mit ganz wenigen Ausnahmen gesetzmäßig zusammen mit den Kosinophilen. Die segmentkernigen Neutrophilen dagegen vermindern sich zahlen- mäßig bei dem Steigen der Eosinophilen und Lymphozyten und sind vermehrt zu zählen, wenn letztere beide sinken. Es tut dabei nichts zur Sache, ob Typus I oder II vorliegt. Zu bemerken ist aber, daß es sich dabei um noch nicht zum Endstadium, zur endgültigen Demenz

330 Ostmann,

gekommene Erkrankungen handelt. Es fanden sich die Erscheinungen nur bei den Patienten, deren Krankheit Exazerbationen zeigte.

Bei den endgültig Verblödeten ist das Bild ein anderes. Bei ihnen stiegen die Segmentkernigen zusammen mit den Eosinophilen, während die Lymphozyten sanken; auch waren die Eosinophilen-Schwankungen gering. Ob die Verblödeten dabei zum Typus I oder II ursprünglich gehören, ist gleichgültig. Nachstehend einige Beispiele:

Eosinoph. Lymphoz. Segmentk. Stabk. Monoz. Basoph, paeron o on

4. H. still verblödet 2,6 27,3 64,3 4 4 1,6 35,6 57,3

2. Bö. still verblödet.

531273 164 743 5 —3 5 | 34 | 56,3 |16 5 —6 3 39,6 | 49.6 | 6,3 4,3 3. Ba. still verblödet. 2 1333 | 54,6 f —,6 3 —,6 1,6 | 44 | 52,6 | —6 7,3 —,6 Türk 0,6

4. Wae. tief verblödet, unruhig

43,5 } 26,75] 425 77 + 675 3 11,6 | 34,3 | 4 7 43 4,6 40 37 | 40,3 | 63 | 46 4,6

5. Wa. tief verblédet, unruhig. 13 | 23,3 | 54,3 72,3 9,3 —,6 12,3 | 26 | 496 | 33 8 —,6

Die ganz infausten und dekrepiden Fälle schienen sich eben im Prinzip zu verhalten wie die letzten, nur hatten alle tiefe Eosino- philenwerte.

6. Lu. sehr hinfallig.

4 | 19 7,375 13 —,3 22,6 70 4 2 1,3 7. Ha. klinisch infaust 2 21,6 | 64 h 7 4 Türk 0,3 4 26 | 63 5 3,6 4

Außer bei einigen anderen Erkrankungen habe ich noch Blut- bilder und auch Serien gemacht bei angeborenem Schwachsinn. Wieder zeigten sich auch hier die Eosinophilen vermehrt. In wieviel Prozent der einzelnen Präparate die hauptsächlichsten Leukozytenarten ver- mehrt oder vermindert ABSUnGen wurden, berichtet nachstehende Übersicht:

Studien iiber Blutbilder bei Geisteskranken. 331

Eosinophile Lymphozyten Segmentkernige + | |normal + | | normal + | | normal Idiotie 90,4) 4,8] 4,8 1762| 48 | 19 | 52,4| 47,6 Imbezillität 61,1 |1441,1] 27,8 166,7 | 5,5 | 27,8 |144,1150 38,9

Bei der Idiotie wurden die Eosinophilen nicht nur als auffallend häufig vermehrt festgestellt, sondern sie erreichten auch sehr hohe Zahlen, allein 57,1%, von ihnen hatten 10%, Eosinophile oder darüber. Der Höchstwert betrug 26,6%. Auch waren ihre Schwankungen teil- weise sehr große, so wurden in einem Falle bei der ersten Untersuchung 5%, gefunden, bei der zweiten 13,25%, und bei der dritten 26,6%. Die Imbezillität erreichte lange nicht so hohe Werte.

Die Vermehrung der Lymphozyten traf bis auf wenige Fälle so- wohl bei der Idiotie wie bei der Imbezillitas zusammen mit einer solchen der Eosinophilen. Bei den Patienten, die eine verminderte Lympho- zytenzahl hatten oder deren Lymphozyten sich in normalen Grenzen hielten, hatten die Eosinophilen bei Vorliegen einer Idiotie aber auch hohe Ziffern, bei den Imbezillen war es anders.

Die an sich auffallenden geringen Zahlen der Segmentkernigen wurden bei den Blutbildern der Imbezillitas vielfach ausgeglichen durch einen höheren Prozentsatz der Stabkernigen (39%), der Jugend- lichen (61,1%) und der Myelozyten (27,7%,). Bei der Idiotie sanken die Stabkernigen eher mit den Segmentkernigen, die Jugendlichen waren ebenfalls gering vertreten (19%), und Myelozyten wurden gar- nicht gefunden. Dafür wurden aber Plasmazellen und Türksche Reizzellen mit 33,3%, festgestellt.

Einigermaßen regelmäßige Verschiebungen der Leukozytenarten gegen einander wie bei der Dementia praecox konnte ich nicht finden, nicht einmal war die Verschiebungsart bei den einzelnen Patienten immer die gleiche. Es fehlten mir aber auch Erregungszustände oder sonstige psychische Veränderungen.

Hingegen zeigten die Kranken, die an einer der Imbezillitas aufgepfropften Schizophrenie litten, wieder die Verschiebungen im weißen Blutbild, die vorher bei den Schizophrenen beschrieben wurden.

Eosinoph. Lymphoz. Segmentk. Stabk. Monoz. Basoph. een

4. Ba. Pfropfhebephrenie 2 | 24,6 | 48,3 | 7,3 Î 13,3 2,6 Jug. 1,6 6 1,6

43 44,6 4 6 Jug. 1,3

332 Ostmann, Studien iiber Blutbilder bei Geisteskranken.

Eosinoph. Lymphoz. Segmentk. Stabk. Monoz. Basoph. > ee

2. He. Pfropfhebephrenie.

$ Jug. 2,6 Jug. —,6 9 a |ssele |9 —s is or

20,25 4 29,25 | 37,5 4,5 7,75 —,9 3. P. Schizophrener Schub bei Imbezillitas.

verkehrt u.

unruhig 2,6 34,3 | 54,3 t 2 5,6 4 nur verkehrt 9,— | 35, 47,3 1,6 6,3 —,3 Jug. —,3 umgänglich 11,6 36,3 | 42 4 5,6 Myelo —,3

Zum Schluß möchte ich nicht verfehlen zu bemerken, daß ich weder die Eosinophilen-Schwankungen noch die Leukozyten-Bewegung für charakteristisch etwa für die Dementia praecox halte, da sie sich, soweit ich es bisher verfolgen konnte, auch z. B. bei der Epilepsie ereignen. Ich halte sie aber für von Interesse bei der. Beobachtung und Erfassung des somatischen Befundes und Geschehens bei Geistes- krankheiten und für wertvoll für die Prognose und vor allem für die pharmakotherapeutische Beeinflussung der Geisteskrankheiten. Und um nun wieder auf den Anfang zurückzukommen und die Folgerung auf ihn zu ziehen: Die hohen Eosinophilenzahlen, die den Vergleich der Erythrocyten-Senkungsgeschwindigkeit mit dem Blutbild bei tuberkulösen Geisteskranken scheitern ließen, sind als somatische Begleiterscheinungen der psychischen Störungen zu betrachten und in diesen Fällen nicht ohne weiteres und allein auf die Prognose der tuberkulösen Erkrankung beziehbar.

Zur Frage von ,,Progressive Paralyse und Mes- aortitis luetica (Aortenaneurysma) !)“.

Von Dr. Gottfried Jungmichel, Assistenzarzt.

Strümpell und seine Schüler studierten zuerst systematisch den Zusammenhang zwischen Tabes dorsalis und Mesaortitis luetica. Die Untersuchungen wurden weiter fortgesetzt (Goldscheider, v. Rom- berg, Schottmüller, Lehmann, Bauer u.a.) und heute steht man (Kef- ler) +) auf dem Standpunkt, daß rund 2/3 aller Tabiker an einer lue- tischen Aortenaffection erkranken.

_ Als es nun Noguchi und Jahnel gelungen war, für die progressive Paralyse dieselben Erreger nachzuweisen, lag es nahe, auch die Zu- sammenhange und die Häufigkeit des Zusammentreffens dieser beiden Erkrankungen (Paralyse und Aortitis luica) zu untersuchen. So haben u. a. in den letzten Jahren Frisch, Löwenberg, Bersch und Coenen auf diesem Gebiet gearbeitet und festgestellt, daß eine Kombination beider Krankheiten bis 50%, vorkommen kann.?

_ Diese Zahlenwerte werden auf Grund von pathologisch-anato- mischen Arbeiten gefunden. Die klinische Feststellung ist oft eine sehr schwierige, da geringfügige Veränderungen in der Media der Aor- tenwand sich weder anamnestisch noch klinisch (perkutorisch und auskultatorisch) kaum bemerkbar machen. Darum muß in fraglichen Fällen stets der Neurologe. mit dem Internisten Hand in Hand arbeiten, vor allem bedarf es stets einer röntgenologischen Untersuchung.

Wenn natürlich, wie in unserem Fall, die Affektion an der Aorta so deutlich zutage tritt, ist es ein leichtes, eine Diagnose zu stellen. Aber mir schien der Fall deshalb für die Veröffentlichung einiges In- teresse zu haben, weil so wohl das psychiatrische Bild wie auch die Größe des Aneurymas Beachtung verdienen.

1) Aus der Provinzialheilanstalt Stralsund i. Pom. Direktor: Sani- tatsrat Dr. Horstmann. Nach einem Vortrag gehalten am 25. 1. 28 i. d. Stralsunder Prov.-Heilanstalt gelegentlich einer Sitzung des Stralsunder Ärztevereins.

334 Jungmichel,

Anamnese: Arbeiter K. K. aus D.

Der Kranke wurde vom Arzt wegen seines geistigen Zustandes ein- gewiesen. Eine Vorgeschichte war von ihm selbst nicht zu erheben, da einmal sein Gedächtnis völlig geschwunden war, zum andern seine Merkfähigkeit gänzlich nachgelassen hatte und außerdem Confabulation in reichlichem Maße bestand. Wir mußten uns auf die Angaben der Ehefrau stützen, die ungefähr folgendermaßen lauteten: Fam. Anamn. o. B. Früher stets gesund gewesen. Vor dem Kriege und während des Krieges sehr starker Potator, nach dem Kriege weniger. Die Ehe war infolge des dau- ernden Alkoholgenusses des Mannes wenig glücklich gewesen, da der Kranke oft eifersüchtig, zänkisch, niederträchtig und gewalttätig war. Im nüchternen Zustand wäre er gut zu leiden gewesen. Sexuell nie aus- schweifend! Seit Juni letzten Jahres beginnende, stets zunehmende Ver- geBlichkeit. Er ging an seiner Wohnung vorbei, vergaß sich vollständig an- und auszuziehen, verwechselte rechten und linken Schuh, las stunden- lang dasselbe, träumte vor sich hin, steckte alles in die Taschen. Auch fühlte er sich oft durch die niedrige Stubendecke bedrückt, fürchtete durch die vom Arzt verschriebene Medizin vergiftet zu werden, und erzählte stets dauernd dasselbe. Größenideen habe er jedoch nie gehabt; gelegent- lich habe er mal hinter den Bildern durch die Wände Schützengräben mit Feinden gesehen und sei auch mal selbst durch die Brust geschossen worden. Die Libido und Potenz bestände seit ca. 8 Monaten nicht mehr, wäre auch früher nur mitunter gesteigert gewesen.

Außerdem gab die Frau noch an: Im Januar 1916 sei der Kranke aus dem Felde heimgekommen und ‚wohl‘ geschlechtskrank gewesen. Obwohl sie ihn gebeten habe, zum Arzt zu gehen, habe er es nicht getan. Er habe nur mit einer Spritze sich vorne etwas eingespritzt. Woher er die Spritze gehabt habe, könne sie nicht sagen. Ebenfalls nicht, ob er Aus- fluß, ein Geschwür am Glied oder an anderen Körperstellen bzw. Körper- ausschlag gehabt habe. Seit 1919 habe ihr Mann eine anfangs erbsengroße „klopfende‘“‘ Geschwulst an der Brust gehabt ohne jegliche Beschwerden. Erst nach drei Jahren, als sich die Geschwulst zusehends vergrößerte und er beim Arbeiten Atembeschwerden, starkes Schwitzen, Kopfschmerzen, Bruststiche und zunehmende körperliche Schwäche hatte, sei er zum Arzt gegangen, der ihn der Medizinischen Universitätsklinik zu Greifswald überwies, wo er vom 19. 4. 1922 bis 20. 5. 1922 behandelt wurde). AH- mählich habe sich die Geschwulst noch mehr, aber viel langsamer ver- größert, so daß ihr Mann jetzt invalide sei.

Körperlicher Befund: 56 Jahre alt, 1,60 m groß, 77,5 kg schwer. Athletisch-pyknischer Habitus (Kretschmer). Haut etwas gedunsen. Keine Oedeme oder Exantheme. Livide Verfärbung des Kinns, Lippen und Fingerspitzen. Auch bei Bettruhe Kurzatmigkeit. Bräunliche Pig-

1) Ich möchte auch an dieser Stelle nicht verfehlen, für das große Entgegenkommen zu danken, was mir sowohl das städt. Krankenhaus (Innere Abt. Dr. Albracht) in Stralsund beim Anfertigen der Röntgen- bilder und Photographien wie auch die Medizinische Universitätsklinik in Greifswald beim Uberlassen der Krankheitsgeschichte entgegen- brachten. (Damaliger 1922 Direktor: Prof. Dr. Straub.)

Zur Frage von „Progressive Paralyse und Mesaortitis luetica“. 335

mentierung auf der Vorwölbung der Brust, die zweimannsfausthoch (unten mehr als oben) tiber die Oberflache herausragt, prall elastisch gefiillt ist, pulsiert und in der auf der Photographie 2 angezeichneten Ausdehnung Knochendefekt aufweist. Diese Geschwulst war 1922 in der Greifswalder Klinik erst etwa ,,kleinapfelgroB dicht unterhalb des Angulus Ludovici; ee eine tiefe Eindellung über dem Proc. xiphoideus und eine Einker- bung rechts und links am Rippenbogen“. (Protokoll derKrankheits- geschichte aus Greifswald.) Die Haut ist über der Geschwulst verschieblich. Druckschmerzhaftigkeit besteht nicht,. Schwirren ist weder zu fühlen noch zu hören. Olliver-Cardarelli’sches Zeichen negativ. Alle fühlbaren Drüsen etwas vergrößert und verhärtet, was sie auch schon in der Greifs- walder Klinik waren.

Lungen: Grenzen tiefstehend. r. v. u. VI. I. C. R. h. u. bds. XII. B. W. D. mäßig verschieblich. Über beiden Unterlappen vereinzelt bron- chitische Geräusche. Über den oberen Partien sehr leises vesiculäres Atemgeräusch, mitunter atelektatisches Knistern.

Herz: Die absolute und relative Dämpfung fallen mit der ange- zeichneten Linie rechts zusammen = 5,5 cm. von der Medianlinie unten, links liegt die absolute oben 2 cm. neben der Linie, unten 3cm = 6,5 cm von der Medianlinie. Relative Dämpfung nach links 12,5 cm von der Medianlinie; (von oben verläuft sie spitzwinklig herunter). Spitzenstoß: hebend im 6. J. C. R. 10cm nach links.

Töne: 1. Ton an der Spitze verstärkt, leises systolisches Geräusch ; II. Ton akzentuiert. Trikuspidalis- und Pulmonalistöne nicht auskultier- bar; werden überlagert von den Tönen in der Geschwulst. I. Ton dumpf, verbunden mit einem an Intensität wechselnden Geräusch, II. Ton eben- falls wechselnd an Stärke, oft sehr stark, klingend. Dabei fragliches diastolisches Geräusch.

Im Rücken kein Perkussions- und Auskultationsbefund vom Herzen her!

Aktion: beschleunigt, unregelmäßig (ca. 100 Schläge in der Minute.)

Röbilder: (1922 in Greifswald) bei der Durchleuchtung im sagittalen Durchmesser sieht man, dem ersten Bogen rechts entsprechend eine stark Vorwölbung, pulsierend. Ferner ist eine Verbreiterung des Aortenbogens leicht feststellbar. Bei Drehung des Patienten nach rechts sieht man, daß die oben erwähnte Vorwölbung des ersten Bogens rechts stärker wird. Aorta descendes keine wesentlichen Veränderungen. Die jetzt (sechs Jahre später) angefertigte Aufnahme zeigt bei dorsoventralem Strahlen- gang eine gewaltige Auftreibung des Ascendensteiles nach rechts. Eine Abgrenzung des Gefäßbandes und der Herzabschnitte ist nicht mehr möglich. Die Lungen sind durch das inzwischen gewaltig vergrößerte Aneurysma beiderseits in den mittleren und oberen Partien erheblich zusammengedrückt. Übrige Lunge trägt den Charakter der Stauungs- lunge. Die Aufnahme im 1. schrägen Durchmesser zeigt dasselbe Bild wie vor 6 Jahren, nurin stärkeren Ausmaßen. Die Aufnahme im 2. schrägen Durchmesser läßt das Aneurysma in seiner Flächenausdehnung gegen das Sternum gut erkennen, das völlig usuriert ist; nur rechts seitlich ist eine deformierte, dünne Knochenlamelle übriggeblieben.

Blutdruck: rechts 127/60; links 135/80 mm Hg.

336 Jungmichel,

Gefäße: nicht nennenswert verhartet. Der Radialispuls ist links stärker als rechts. Mäßig deutliche zeitliche Differenz. Im allgemeinen mäßig gefüllt und gespannt. Pulsus irregularis perpetuus.

Abdomen: Deutliches Hervortreten der Hautvenen. Stark gefüllter Bauch (Meteorismus). Überall tympanitischer Klopfschall. Milz und Leber nicht sicher nachweisbar vergrößert. Kein Ascites. Kleine links- seitige Hydrocele; Hoden abgrenzbar. Am Penis keine Narbe. Extre- mitäten: o. B. Keine Atrophie; Grobe Kraft r = l; keine sekundären ‘oder tertiären Luesveränderungen auffindbar.

Nervensystem und psychischer Befund:

Alle Untersuchungen, die an die Intelligenz bzw. das Auffassungs- vermögen des Kranken Ansprüche stellen, sind nicht mit Sicherheit zu verwerten.

Mimische Starre. Kopf nirgends klopf- und druckempfindlich. Riechvermögen herabgesetzt. Opticus auch im Spiegelbild frei. Ill, IV, V, VI o. B. VII rechts schwächer als links. VIII o. B. Sprache etwas verwaschen, aber nicht skandierend. Romberg negativ. Auch sonstige Untersuchungen auf Ataxie fallen nicht positiv aus. An den peripheren Nerven starke Druckempfindlichkeit. (Die qualitativ feineren Prüfungen scheitern an der Demenz des Kranken.)

Pupillen: rund; r = l, mittelweit, reagieren prompt auf Lichteinfall und

Konvergenz | Patellarreflexe 1922; r=] + +

1928; r+; l —; Achillessehnenreflexe 1922; r = l +; 1928; r = l] —; Babinski 1922 | = 1928 | T517 Bauchdeckenreflexe 1922 | je 1928 fT NTS

Die übrigen Haut- und Periostreflexe, sowie der Würg- und Con- junktivalreflex sind erhalten. Sonst keine anderen pathologischen Reflexe.

Urin frei von Eiweiß und Zucker.

Der Kranke bot im allgemeinen stets das gleiche Zustandsbild. Er war ruhig, uninteressiert, friedlich, dement. Bei der Unterhaltung mit ihm fällt ein fast völliges Fehlen seines Gedachtnisses auf, bei Verlust der Merkfähigkeit und Desorientierung für Zeit und Raum. Außerdem eine gewisse euphorische Demenz. Rechenaufgaben vermag der Kranke gar- nicht mehr zu lösen. Dabei eine ausgesprochene Konfabulation, wie man sie so auffällig nur bei Alkoholikern findet. (Er erzählt lange Geschichten, wo er gestern sich aufgehalten hätte, was er vor Tagen unternommen hätte, las auch einmal allerdings unverständlich von einem unbe- schriebenen Blatt ab.)

Wa. Re. im Blut 1922 + +; 1928 ebenfalls + +;

Lumbalpunktion: kein erhöhter Druck. Pleocytose (12 Zellen, nur Lymphocyten) Nonne Apelt +;

Wa. Re. +++ +; S.G.

Weichbrodt h a

Normomastixauswertung: typische Paralysekurve.

Zur Frage von ,Progressive Paralyse und Mesaortitis luetica.“ 337

Diagnose: Es handelt sich also um eine Progressive Paralyse (mit Hinterstrangsymptomen) und ein Aneurysma Aortae ascen- dens, das sowohl auf die Aortenklappen (Aortitis valvularis) als auch auf den Abgang der Arteria anonyma (verschiedener Blutdruck und zeitlich differenter Puls) übergegriffen hat, mit Herzhypertrophie.

Therapie: 1922: Ruhe, Jodkali 3 x 0,5 3 x 1,0 Tabl. p. d. und Neosalvarsan (2,25 g). Darauf Besserung der Beschwerden. Nach Anpassung einer Pelotte und mit dem Rat, sich invalidisieren zu lassen und gesundheitsgemäß zu leben nach Hause in ärztliche Behandlung entlassen. Pat. befolgte keinen dieser Ratschläge (trug auch nie die Pe- lotte) und kam in diesem desolaten Zustande zu uns. Hiesige Therapie: Strengste Bettruhe, Digalen, zeitweise Cardiazol, roborierende Kost. Auf 0,15 g Neosalvarsan kollapsartiger Zustand. Nach 4 Wochen noch- maliger Versuch, derselbe Effekt. Jodkali 3 x 1 Teelöffel (8,0/200) p. d. in Abständen. Nach Spirobismol langanhaltende, sehr starke Schmerzen. Von einer therapeutischen Beeinflussung der spezifischen Paralysesymp- tome durch eine Malariafieberbehandlung wurde wegen des schlechten Zustandes des Herzgefäßsystems abgesehen.

Klinische Auswertung: Ohne die serologischen Untersuchun- gen hätte man in Anbetracht der belastenden Vorgeschichte auf Al- kohol und des geistigen Zustandsbildes im Zweifel sein können, ob es sich nicht um eine Korsakoffsche Psychose mit alkoholischer Schädi- gung der Nerven (und im Reflexbogen) hätte handeln können.? Be- sonders könnte uns die ausgesprochene Confabulation darauf bringen; ebenfalls findet man verwaschene Sprache bei alkoholischer Demenz. Auch die Symptome an den Nerven fügen sich in das Bild (neuri- tisch-toxische Schädigung durch Alkohol). Außerdem besteht keine Beeinträchtigung des Pupillenspiels, was doch so oft schon jahre- lang vor Manifestwerden der übrigen paralytischen Erscheinungen ein Initialsymptom ist. Zudem waren in der Greifswalder Klinik vor 6 Jahren noch keine Anzeichen einer beginnenden Paralyse be- obachtet worden.

Wegen dieser differentialdiagnostischen Schwierigkeiten in psychiatrischer Hinsicht glaubten wir, daß der Fall interessieren dürfte. Außerdem möchte ich noch kurz Stellung nehmen, zu den verschiedensten Fragen und Problemen, die gerade in den letzten Jahren aufgerollt worden sind. Da ist zunächst das auffallend frühe Manifestwerden der Aortenerkrankung nach der Infektion. Wohl können wir nicht mit Bestimmtheit behaupten, daß 1916 die Infektion stattgefunden hat. Jedoch spricht die größte Wahrscheinlichkeit dafür, denn gerade in dieser Hinsicht ist die Frau ganz genau anam- nestisch befragt worden (vielleicht Doppelinfektion Go + Lues; sicher keine ärztliche Behandlung !). Dann wäre doch ein derart |

Zeitschrift für Psychiatrie. LXXXIX. 22

338 . Jungmichel,

frühes Ergriffensein der Aorta 1919 (3 Jahre p. i.) etwas sehr Auf- fallendes, nimmt man doch für gewöhnlich denselben Zeitraum in Anspruch für ein Ergriffenwerden der Aorta wie für den Beginn der Paralyse %,°; wenn auch französische Autoren schon nach 3—8 Mo- naten post infectionen eine syphilitische Erkrankung der Aorta fest- gestellt haben wollen®. Und Amelung und Sternberg sahen eine Er- krankung der Aorta 2'/, Jahre p. 1”.

Wohl brauchen ganz geringfügige Aortenveränderungen, beson- ders dann, wenn sie den Abgang der Kranzarterien und die Klappen freilassen, niemals subjektive Beschwerden zu machen. Auch bei dem großen Material der hiesigen Anstalt sind sehr wenig Fälle, wo die Kranken irgendwelche Klagen von seiten ihres Herzens hervorbrachten. Und doch konnte ich durch genaue Herzuntersuchung in 15% allein durch die Auskultation (betonter oder klingender A II, systolisches Geräusch an der Aorta) eine Aortenerkrankung annehmen, deren Prozentsatz sicher ein höherer wäre, falls erst einmal nach dem geplanten Erwerb einer Röntgenapparatur der gesamte hiesige Krankenbestand daraufhin röntgenologisch untersucht sein wird. Auffallend war uns auch bei den Sektionen der an Paralyse Verstor- benen das häufige Ergriffensein der Aorta.

Bauer ®: macht darauf aufmerksam, daß zur Erkrankung an Pa- ralyse die Leute von muskulärem und digestivem Körperbau neigen. Das glauben auch wir besonders bei dem zurzeit vorliegenden männ- lichen Material unserer Anstalt ebenfalls bestätigt gefunden zu haben, bei dem 80%, unserer Kranken dem muskulärem Typ (nach Kretsch- mer athletisch-pyknischer Habitus) zugerechnet werden müssen.

Und zum Schluß eine kurze Bemerkung über die Therapie in unserem Falle. Trotz strengster Bettruhe, roborierender Kost und reichlichen Dosen von Cardiaca konnten wir weder die Überleitungs- störung beseitigen, noch einen wesentlichen Einfluß auf die Kompen- sation ausüben. Salvarsan und Wismut wurden nicht vertragen. Auf Jodkali bisher keine Besserung. Wäre der Patient damals (1922) den Ratschlägen der Klinik gefolgt, so hätte wohl ein Stillstand des Leidens eintreten können, wie es nach der Behandlungsweise von Schottmüller, v. Romberg, Kraus und Schittenhelm oft genug beobachtet worden ist. So konnten wir uns auch nicht zur Einleitung einer Fieber- therapie nicht einmal mit Quartanastamm oder Rekurrens ent- schließen, da das schwer dekompensierte Herz die strengste Gegen- indikation ist. (Leichtere Mesaortitiden bieten uns nach voraufge- gangener Herzmedikation keinen Hinderungsgrund.)

Zur Frage von „Progressive Paralyse und Mesaortitis luetica*. 339

So werden wir bei unserem Kranken leider den Exitus kaum aufhalten können, der wohl bald durch Ruptur des Aneurysmas nach außen oder nach innen mit nachfolgender Herztamponade eintreten wird.

Literatur.

4. Keßler: Klinische Wochenschrift 1924 Nr. 47.

2. Bersch: Deutsche Medizinische Wochenschrift 1925 Nr. 41.

3. Oppenheim: Lehrbuch der Nervenkrankheiten 1923, 7. Auflage Bd. II vgl. Gaupp, Marandou de Montyel u. A.

4. Löwenberg: Klinische Wochenschrift 1924 Nr. 13.

5. Zit. bei 1 v. Romberg: Münchener Medizinische Wochenschrift 1918 S. 1266.

6. Zit. bei Jagie: Wiener klinische Wochenschrift 1928 Nr. 24.

7. Amelung und Sternberg: Deutsches Archiv für klinische Medizin 1924

Bd. 145 zit. bei Bruhns: Medizinische Klinik 1926 Nr. 8.

8. Bauer zit. bei 1. und derselbe 9.

9. Zit. bei Frisch: Klinische Wochenschrift 1923 Nr. 30.

40. Schittenhelm: Deutsche Medizinische Wochenschrift 1922 Nr. 2.

22*

Zur Psychologie der Schizophrenie.

Ein Nachwort zum Referate von J. Berze auf der Wiener Tagung des Deutschen Vereins fir Psychiatrie.

Von Erwin Stransky, Wien.

Genötigt, die Gastfreundschaft dieser Zeitschrift in Anspruch zu nehmen, muß ich mich vorerst dieserhalb entschuldigen; längst gewohnt, ungerechten Angriffen und ebensolchen Totschweigungen meinerseits mit Stillschweigen zu begegnen, muß ich von dieser Übung gleichwohl doch eine Ausnahme bestehen lassen: und die betrifft sachliches Unrecht, das mir auf dem Boden der eigenen engeren Heimat zugefügt wird. Darum kann ich es mir leider nicht versagen, zu den Ausführungen Berzes, soweit sie sich mit meinen Arbeiten befassen, Stellung zu nehmen, was mir an Ort und Stelle seinerzeit zu tun nicht möglich war, da ich mich von der Tagung selbst fernhielt und daher erst aus dieser Zeitschrift Authentisches über den Inhalt der dort gehaltenen Referate erfahren habe. Ich will so kurz wie möglich sein und möchte daher darauf verzichten, Belegstellen aus meinen von Berze mit solcher Schärfe angegriffenen Arbeiten zu meiner Verteidi- gung zu zitieren, obwohl mir dies ein leichtes wäre; zumal die älteren Fachgenossen diese meine Arbeiten ja ohnedies kennen, indes hin- wiederum meine eigenen Generationsgenossen und vollends die Herauf- kommenden von ihnen auf keinen Fall Notiz zu nehmen pflegen, woran sich aus den verschiedensten Gründen nichts ändern dürfte.

Berze tut alles, was ich seit 1903, also noch vor allen den anderen, von ihm in chronologisch wahlloser Reihe zitierten Spaltungspsychologen, zur Schizophrenielehre (damals noch Dementia praecox genannt) bei- getragen habe, mit drei vernichtenden Worten ab. Er nennt erstens einmal den von mir gepragten Begriff der intrapsychischen Inkoordina- tion bzw. Ataxie eine bloße Tautologie; er erklärt zweitens diesen Begriff für eine unhaltbare Konstruktion ; und er tut dann noch drittens die Ergebnisse meiner Experimentalarbeit über Sprachverwirrtheit

Zur Psychologie der Schizophrenie. 341

(ex 1905) in Anlehnung an C. Schneider ab, indem er statuiert, es fehlten in den Sprachprodukten der gesunden Versuchspersonen gerade die kennzeichnendsten schizophrenischen Störungen, gerade dasjenige also, was ich aufgezeigt habe. In dürren Worten: nach Berze wären die Ergebnisse sämtlicher meiner Arbeiten zur Lehre von der Dementia praecox bzw. Schizophrenie wertlos und unrichtig. Gegen eine derart starke und, wie ich zeigen werde, durchaus ungerechte Behauptung vor einer Versammlung deutscher Psychiater muß mir wohl erlaubt sein, mich zur Wehre zu setzen.

Ad 1. Kraepelin, dem wohl niemand eine starke Kompetenz in allen Fragen der Dementia praecox (Schizophrenie), deren Schöpfer er doch war, absprechen kann, Kraepelin, dem ich zudem persönlich wie schulmäßig nicht allzu nahe gestanden bin, war gleichwohl ganz und gar nicht der Ansicht Berzes, darnach ich zu der von ihm Kraepe- lon begründeten Lehre nichts als „Tautologien‘“ beigetragen hätte. Mit jener unpersönlichen und unbeirrbaren Gerechtigkeitsliebe, die ihn gekennzeichnet hat, entnahm er meinen Arbeiten zunächst einmal ein rein Tatsächliches, das ich zu seinem eigenen gewaltigen Gebäude als Baustein hinzuzutragen das Glück hatte, indem er anerkannte (siehe seine „Psychiatrie“, 7. und zumal 8. Auflage), daß rein klinisch genommen der Tenor dieses Beitrages zunächst einmal in dem bis dahin kaum erfolgten Betonen des mit Demenz durchaus nicht gleich- zuwertenden Verlustes der inneren Einheitlichkeit der Persönlich- keit gegenüber der bis dahin üblich gewesenen Betonung der sei es auch vorwiegend gemütlichen Verblödungstendenz gelegen sei; ja, Kraepelin pflichtet auch an mehreren Stellen seiner Darstellung der von mir entwickelten psychologischen Grundauffassung dieses Wesensgrundzuges bei; Anton, Ziehen, Pilcz und andere führende Kliniker älterer oder doch etwas älterer Generation haben ähnliches anerkannt; geschweige denn, daß alle diese Kliniker, die doch am Ende des Standes der historischen Entwicklung der Dementia praecox- Lehre nicht unkundig sind, diese von mir aufgezeigten Verhältnisse mit dem Worte „Tautologien‘‘ ad acta gelegt hätten; das haben sie sogar auch in Fällen nicht getan, wo sie mit den von mir entwickelten theoretischen Erklärungen der rein klinischen Gegebenheiten nicht einverstanden waren. Hat doch am Ende sogar ein so grundsätzlicher Gegner wie Schilder von dessen ganzer klinischer und prinzipieller Einstellung die meinige, ungeachtet aller persönlichen Schätzung, in den meisten Belangen durch einen tiefen Graben getrennt ist die Bedeutung des Ergebnisses meiner einschlägigen Arbeiten wenigstens

342 . Stransky, .

in rein klinischer Hinsicht ausdriicklich anerkannt; eine rara avis unter den Jiingeren! Man darf da wohl sagen: Wenn, in diesem wie in anderen Belangen ziemlich übereinstimmend mit dem ganzen Geiste der psychiatrischen Moderne, Berze anders urteilt, dann ist dies bei dem mit Fug außerordentlich hohen Range, den er in unserer aller Augen als Psychiater und Psychologe bekleidet, zwar für mich nichts weniger als schmeichelhaft, gleichwohl aber ein sachlich ungerechtes - Urteil. |

Ad 2. Berze hält meine These, wonach die (nicht, wie es dann Bleuler annahm, mehr systematische) ataktische Zerfahrenheit der Schizophrenen in der Hauptsache auf einem Mangel im Zusammen- spiel zwischen Noo- und Thymopsyche beruhe, nicht nur für theo- retisch unhaltbar, sondern auch für tatsachenwidrig. Nun, über theoretische Dinge läßt sich zwischen Forschern, die im Sinne des psychologisch-philosophischen Modernismus orientiert sind, und sol- chen, die im Sinne zum Teil noch lebender und wirkender großer Meister unseres Faches finden, daß in der gesamten Medizin, die Psychiatrie eingeschlossen, die Psychologie die tauglichste und tat- sachengerechteste sei, die sich der Arzt am Krankenbette oder im medizinischen Laboratorium selber schafft, und nicht die, welche er von den. gewiß nicht hoch genug zu schätzenden Psychologen der philosophischen Nachbarfakultät bezieht bzw. ihnen nachfühlt, nicht leicht rechten; man redet da allzusehr aneinander vorbei. Ich möchte nur im allgemeinen und damit streife ich auch die Ausführungen Gruhles in seinem Referate der These entgegentreten, daß wir Psychiater verpflichtet seien, uns an die Denk- und Ausdrucksweise der philosophischen Psychologen (und der ihnen so vielfach anhängen- den jüngeren Fachkollegen) zu halten; welche Denk- und Ausdrucks- weise sollte das denn dann übrigens sein? Es hat doch jede der zahl- reichen Psychologenschulen so ziemlich ihre eigene ‚‚Weise‘‘, ihre eigene Terminologie, kein Wunder, wenn man nimmt, wie subjektivistisch, willkürlich und spekulativ im Grunde alle diese Richtungen struktu- riert sind. Der eine gemeinsame Nenner, auf den sie allesamt gebracht werden können, erscheint lediglich gegeben in der so ziemlich allen von ihnen eignenden Tendenz zur Einführung sprachlicher auch deutschsprachlicher Wortneubildungen, zum Gebrauche einer oft unglaublich verrenkten, verschrobenen, pseudotiefschürfenden Darstellungsweise und zu einer Sucht, altbekannte, längst geklärte oder aber auch annoch unklare Gegebenheiten unter einem Wust neu- artiger Worte oder schwerverständlicher Sätze als nun erst so recht

Zur Psychologie der Schizophrenie. 343

eigentlich „geklärt“ hinzustellen; und ein zweiter gemeinsamer Nenner aller dieser diversen „Richtungen“ scheint mir die unduldsame dik- tatorische Attitude, mit der sie vor allem durch ihre viel zu vielen Vertreter unter den Psychiatern der Gegenwart der Psychiatrie und den Psychiatern die „richtige“ Art der Psychologie aufzwingen wollen; eine Unduldsamkeit, die im umgekehrten Verhältnis zu ihrem prakti- schen Werte steht, denn bei nicht wenigen der von dieser Denkweise zeugenden Publikationen hat man, nachdem man sich durch all die breit angelegten sprachlichen Schwerverständlichkeiten unter Qualen hindurchgelesen, den verzweifelten Eindruck: viel Worte um ein ödes, steriles, intuitionsloses, jeden gesunden Menschenverstand verleugnen- des Nichts! Fast möchte man sich da trotz mancher ihrer Mängel die gute, alte Wundische Assoziationspsychologie loben, deren Jünger der praktischen medizinischen Seelenkunde am Ende denn doch manchen unschätzbaren positiven Dienst geleistet haben und bei alledem hübsch- bescheiden gewesen sind; „erkenntnistheoretisch‘‘ waren sie ja wohl wahrscheinlich nicht auf der Höhe der ,,Modernen‘‘, aber Erkenntnis- theoretisiererei ist das Letzte, was wir in der Medizin, die Psychiatrie eingeschlossen, gebrauchen können; natürlich werden das die „Er- kenntnistheoretiker‘‘ ja nicht gelten lassen; hat doch, wenn ich nicht irre, einer der also oder ähnlich orientierten Fachgenossen sogar einmal an Bleuler sich mit dem Vorwurfe mangelnder philosophischer Ge- nauigkeit des Denkens herangewagt! Nun, ich weiß mich wahrhaftig von jeder Voreingenommenheit für Bleuler frei und setze das Reziproke bei Bleuler voraus; allein, einem der unbezweifelbar größten Psychiater und Seelenforscher der Gegenwart mit solcherlei philosophasternden Beckmessereien zu kommen, beweist eine Umwertung aller Werte in den Köpfen mancher jüngerer Gegenwartspsychiater, die ein Mediziner meiner Artung (und ich weiß, daß ich da Hunderten und Aberhunder- ten Fachgenossen aus der Seele spreche) nicht anders als einen schweren Rückfall in archaische Perioden der Psychiatrie nennen kann, aus dem uns das Geschick so bald wie möglich wieder herausführen möge! Gewiß, wir verdanken der nachassoziationspsychologischen Moderne trotz ihres philosophisch-spekulativen Charakters mancherlei inter- essante, vielleicht auch wertvolle Einzelheiten: nicht weniger, aber auch nicht mehr! Und das ist ungleich viel weniger, als was wir der gemeinen Krankenbettpsychologie, der Assoziationspsychologie, der (ttt) „Hirnmythologie‘, ja selbst manchen Ergebnissen der letzten Endes ja aus praktisch-medizinischem Geiste geborenen Freud- schen und Adlerschen Lehren verdanken. Demnach vermag ich auch

344 Stransky,

nicht einzusehen, warum es geradezu „unzulässig‘‘ sein soll, wenn ich von einem mangelnden Zusammenspiele zwischen Noopsychischem und zwischen Thymopsychischem spreche! An eine Spaltung in ana- tomischem Sinne habe ich ja auch nie gedacht, wie expressis verbis in meinen einschlägigen Arbeiten geschrieben steht; ich habe stets nur an ein Auseinanderweichen in funktionalem Sinne gedacht und die Dinge ähnlich unterschieden, wie es später in manchen Stücken Bleuler getan hat, der doch am Ende auch etliches von Psychologie verstehen dürftel Bekannt ist übrigens auch, daß es noch manchen anderen be- deutenden Seelenforscher klinisch-psychiatrischer Struktur gibt, dem meine Grundthese gar nicht ‚„unzulässig‘‘ erschien; von Kraepelin war schon die Rede; ich kenne eine Studie von M. Löwy, aus den Kliniken von Kleist und von Pötzl hervorgegangen, in der die „Thymopsyche Stranskys‘ keine letzte Rolle spielt; und Kohnstamm, wohl auch keiner der letztrangigen Denker unter den Psychiatern, hat vor Jahren einmal in mündlicher Aussprache meine Konzeption spontan als einen be- merkenswerten Fortschritt bezeichnet. Das Veto C. Schneiders, dem Berze das seinige hinzufügt, klingt denn also doch allzu absolut, wie mir scheinen will; „erkenntnistheoretisch‘‘ oder im Sinne der einen und der anderen psychologischen Richtungen der Gegenwart mag meine These nicht zulässig sein; aber was geht das letzten Endes uns Medi- ziner an? Wir machen unsere Beobachtungen am Krankenbette und im Laboratorium und sollen dann daraus unsere Schlüsse ziehen, unsere Deutungen, unsere Haupt- und Hilfshypothesen darauf auf- bauen, und in bewußtem Gegensatze zu Jaspers möchte ich sagen: je _ weniger wir dabei von philosophischen Lehren beeinflußt bleiben, je mehr wir uns von der anderen Fakultät nur gerade das eklektisch herausholen, was uns für unsere spezifisch medizinische Einstellung paßt, um alles andere aber unbeachtet links liegen zu lassen, um so besser für den Fortschritt medizinischer Erkenntnis! Was wäre aus den Werken vieler unserer großen Meister genügt es, die Namen Meynert und Wernicke zu nennen ? und aller ihrer großen und kleinen Schüler geworden, wenn sie vorerst die Schranke des ,,erkenntnistheore- tischen‘ oder „modernpsychologischen‘‘ Imprimatur hätten passieren müssen ? Und was wäre die Psychiatrie der Gegenwart ohne diese Werke, ja, was wiegt die gesamte philosophisch orientierte psychiatrische Mo- derne neben den Ergebnissen, neben dem heuristischen Werte selbst un- richtiger Thesen des geringsten der Epigonen dieser Meister? Oh über uns späte Nachfahren besserer Tage, die wir Ausonius gleich unver- standen mitten drin in Zeiten stehen und wirken müssen, deren Rück-

Zur Psychologie der Schizophrenie. 345

schritt sich Fortschritt dünkt! Natürlich, und das sei hier ebenfalls festgestellt: ich glaube so wenig wie irgendein anderer daran, daß Noo- und Thymopsyche etwas restlos Verschiedenes seien, ich glaube wie jeder andere daran, daß es, wie im Seelischen überhaupt, auch zwischen ihnen ein Ineinander-, Miteinanderverfließen im Letzten, Tiefsten, Wurzelhaften gibt (Heniden Weiningers, Psychoide Bleulers; vgl. auch die Komplexlehre Freuds bzw. Jungs); am Ende fließt ja auch etwa Tierisches und Pflanzliches irgendwo im tiefsten Grunde ineinander; da haben wir also gleich wieder ein Analogon (natürlich kein Homologon, meine Herren Erkenntniskritiker!). Aber in ihren palpablen dies natürlich nur bildlich gemeint, aber jeder prakti- sche medizinische Psychologe fühlt schon, was ich damit meine! Differenzierungen sind Denksphäre und Affektivität sehr wohl zu unterscheiden, will insbesondere auch sagen: in ihren funktionalen Beziehungen können sie, vornehmlich unter bestimmten pathologi- schen Verhältnissen, in Unordnung geraten; und zwar ist gerade das und zumal, was ich beschrieben habe und was angeblich nicht existieren soll, etwas, was „phänomenologisch‘“ (im Sinne von Jaspers; es gibt andere, die darunter etwas anderes verstehen; und solcher Subjektivis- mus soll der Psychiatrie fruchten können!) greifbar ist, was ich hundert- fältig aus dem Greifbaren geschöpft habe, auch aus dem Befragen schizophrenischer Kranker und Remittierter (über deren retrospektive Verwertbarkeit ich anders denke als Berze). Wenn Berze erklärt, bei zureichender Erhebung noch um eine seelische Schicht tiefer zu kommen, dann steht hier Erfahrung wider Erfahrung oder wahrschein- lich besser: Auffassung gegen Auffassung. Ich gebe ja gerne zu, daß

. es nicht gelingt, die Spaltung, wie ich sie verstehe, in jedem Einzelfalle

zu finden oder evident zu machen; ich habe weiter auch nicht behauptet, daß die Spaltung nur zwischen Thymo- und Noopsyche zu suchen sei; aber ich fand die von mir beschriebenen Gegebenheiten als das den

von mir untersuchten, im Laufe der Jahre nicht eben wenigen Fällen

noch am ehesten gemeinsame tertium comparationis; und Kraepelin hat sie wenigstens als einen der grundlegenden Generalnenner ex- pressis verbis anerkannt. Könnte übrigens Berze in jedem Falle von Schizophrenie seine unzweifelhaft ingeniöse Lehre von der Hypotonie des Bewußtseins als Grundsymptom evident machen? Brauche ich Berze erst zu sagen, daß es etwa nicht wenige Fälle von Amentia gibt, in denen der Untersucher weder Inkohärenz noch Ratlosigkeit finden wird? Und wird darum irgend jemand an der kardinalen Bedeutung dieser Züge bei der Amentia zweifeln wollen? Zu alledem kommt noch

346 Stransky,

eines: wie sich aus der Serie meiner einschlägigen Publikationen zur Geniige ergibt, habe ich den Begriff ,intrapsychische Ataxie‘ niemals so enge gefaßt, wie es nach Berzes Darstellung aufscheinen könnte; vielleicht darf ich, um von vielem nur einiges zu erwähnen, Berze an den schon vor vielen Jahren von mir entwickelten Aufbau der Pseud- apraxie und Parergasie bei der Dementia praecox auf Grund meiner Lehren erinnern; oder an das, was vom Psychoanalytischen natür- lich abgesehen in der späteren Schizophrenielehre von den Ergeb- nissen meiner Vorarbeiten, sei es auch unausgesprochen, enthalten ist, so daß ich mir da fast das Attribut eines Johannes beilegen könnte, der einem freilich ungleich Überragenderen manche Wege und Stege gebaut hat, um nachher hinter seiner weithin überschattenden Gestalt spurlos verschwinden zu sollen. Allerdings, Berze ist ja bekanntlich auch ein Gegner der Bleulerschen Schizophrenielehre; aber er läßt diese immerhin als ein etwas Bedeutsames gelten, während er meiner Vorarbeit jeglichen Wert schlankweg abspricht. Und das empfinde ich mit gutem Grunde als ein weiteres schweres Unrecht.

Ad3. Nun noch zur Sprachverwirrtheit. Hier muß ich Berze und seinem Gewährsmann C. Schneider schon sagen: Ich begreife einfach nicht, wie man die These aufstellen kann, meine geistesgesunden Ver- suchspersonen ließen in ihren sprachlichen Duktus gerade die kenn- zeichnendsten schizophrenischen Sprachstörungen vermissen! Sollte es, um damit zu beginnen, den beiden Herren entgangen sein, daB wohl erst in meiner bezüglichen Arbeit der klare Nachweis erbracht worden ist, daß, wie nach dem klassischen Werke Meringers und Mayers in den Sprachentgleisungen Normaler und auch in jenen meiner geistes- gesunden Versuchspersonen, so auch in jenen Schizophrenischer als etwas Kardinales die Tendenz zu Kontaminationen aufscheine ? Sollte dieser Umstand, der nicht nur für die heutige psychoanalytische Aus- deutung der Dinge (man erinnere sich an die einige Zeit später durch Kraepelin aufgezeigte Verwandtschaft mit der Traumsprache und an die Rolle, die Freud der Verdichtung was ja mit Kontamination ungefähr übereinstimmt in der Traumsprache zumißt), sondern für jede heute geltende Auffassung der schizophrenischen Sprach- und Denkstörungen von solcher Bedeutung geworden ist, Berze gänzlich entgangen sein? Wieder wäre das für mich recht kränkend, und ich müßte versuchen, mich damit zu trösten, daß nicht nur Kraepelin selbst, sondern auch andere hochrangige Autoren älterer Generation, wie Heilbronner, Jung, selbst Bleuler u.a., es reichlich anerkannt haben. Weiter aber: Fast in jeder Zeile der Epikrise meiner Versuchs-

Zur Psychologie der Schizophrenie. 347

protokolle können Berze und C. Schneider lesen, wie ich dartue, in welchem Maße sich paralogische Entgleisungen, Elemente von Ideen- flucht, durehflochten von Perseveration und stellenweise typische Neo- logismen auch bei den Gesunden fanden, deren elementarer Aufbau durchaus jenem schizophrenischer (und wie Kraepelin nachher gezeigt hat, auch traumsprachlicher) Produkte entspricht. So nebenbei: Berze und Schneider können nicht nur in meiner Studie über Sprach- verwirrtbeit (ex 1905), sondern schon in meiner allerersten Dementia praecox-Studie (ex 1903) die Bemerkung finden, daß die selbstbeob-

achtete innere Sprache im Zustande der Schlaftrunkenheit und vor

dem Einschlafen bei Gesunden dem Wortsalate Dementia-praecox- Kranker vergleichbar sei. Wie ich denn überhaupt an weit mehr als an einer Stelle Berze (und einer Reihe von jungen Autoren vor ihm und wahrscheinlich auch nach ihm) unschwer den Nachweis erbringen könnte, wie er Tatsachenfindungen und Erwägungen daraus nicht ohne Anerkennung anderen Autoren zugute schreibt, deren Aufzeigung und Darstellung er vor Jahrzehnten bereits denn die erste Arbeit liegt 25 Jahre zurück in meinen diversen Publikationen finden könnte; denen er ja freilich samt und sonders jeden Wert abspricht.

Mit der anscheinend unabänderlichen Tatsache, daß meine Ar- beiten von außerösterreichischen Autoren, auch solchen, die manches „entdecken‘‘ oder ‚„‚formulieren‘‘, was ich allerdings nicht in prä- tentiöser „‚moderner‘‘ sprachlicher Aufmachung nachweislich schon recht lange vorher geschrieben habe, totgeschwiegen oder ungünstig kritisiert zu werden pflegen, habe ich mich schon lange abgefunden; ich reagiere auf derlei im allgemeinen nicht mehr. Wenn aber ein von mir, trotz am Ende im einzelnen unvermeidbarer wissenschaft- licher Gegensätze, gleichwie von uns allen so sehr hochgeschätzter engerer landsmännischer Fachgenosse wie Berze auf dem Boden unserer gemeinsamen Vaterstadt vor einer Versammlung deutscher Psychiater mir derartig schweres Unrecht antut: dann wird mir kein Mensch verübeln dürfen, daß ich mich dagegen zur Wehre setze; ich bin sicher, daß Berze der letzte gewesen wäre, der eine ähnlich ungerechte Behandlung eines Teiles seines Lebenswerkes stillschweigend hinge- nommen hätte. Warum ich aber zur Abwehr ausnahmsweise die Güte der Schriftleitung dieser Zeitschrift in Anspruch nehmen mußte, habe ich eingangs begründet.

Verhandlungen psychiatrischer Vereine.

Bericht über den 4. Kongreß für Heilpädagogik vom 11.—14. April 1928 in Leipzig.

In fast 60 Vorträgen und Referaten wurde Psychologie und Heil- pädagogik, heilpädagogische Frühbehandlung, Kinderheilkunde und Heil- pädagogik, Psychiatrie und Heilpädagogik, Enzephalitis epidemica, Taub- stummenbildung und Sprachentwicklung, Berufsberatung und Heilpäda- gogik und schließlich noch Jugendgerichtswesen und Heilpädagogik be- handelt.

Die Vorträge standen durchgehend auf recht beachtlicher Höhe, und sie haben nebst den lebhaften Aussprachen, die sich an sie anschlossen, den 800 Zuhörern mancherlei Anregung und Belehrung gegeben. Auch hatte man den Eindruck, daß sich allmählich etwas mehr die Erkenntnis von den innigen Beziehungen, die zwischen Psychiatrie und Heilpädagogik bestehen, Bahn bricht.

Auf Grund von Eigenberichten sei im folgenden ein Teil der Vor- träge zusammengestellt, die Vorträge selbst werden gemeinsam in extenso bei dem Verlag Springer, Berlin, erscheinen.

F. Krueger-Leipzig: Neue Richtungen und Ergebnisse der allgemeinen Psychologie.

Pathologia illustrat physiologiam; aber wechselseitig. Ausschließlich mit krankhaften Erscheinungen und deren Zusammenhängen kann man Heilpädagogik nicht systematisch unterbauen. Daher räumt die gegen- wärtige Tagung der theoretischen Lehre vom normalen Seelenleben mehr Raum ein als die drei vorangegangenen. Und die Überlieferungen dieser Wissenschaft, die Ergebnisse und strengen Methoden, wie sie seit zwei Menschenaltern im Psychologischen Institut der Sächsischen Landes- universität mit Stetigkeit gewonnen wurden, haben mitgewirkt, eine so stattliche Zahl von Arzten, Erziehern und Seelenforschern jetzt in Leipzig zu vereinigen. |

Was die Wundtsche Psychologie im Kerne zusammenhält, das ist die Idee der psychischen Ganzheit und die methodisch wie sachlich dazu- gehörige der seelisch-leiblichen Entwicklung. Beide reichen in Deutsch- land bis ins Mittelalter zurück und liegen aller deutschen Philosophie zu- grunde. Mit seinem Prinzip der ,,schépferischen Synthese“ hat Wundt, wie vor ihm Leibnitz, über sein eigenes Lebenswerk weit hinausgewiesen in gegenwärtige und zukünftige Forschung. In der gleichen Richtung be- wegten sich seit der Jahrhundertwende die Werttheorie und Entwicklungs- psychologie des Referenten, sowie seine experimentellen Untersuchungen auf ton- und sprachpsychologischem Gebiet. Ebenso, das erkennen wir erst heute genau, die Denkpsychologie der Külpeschen Schule und die biologischen Theoreme eines W. James. Dahin konvergiert neuerdings die

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‚„‚Personalistik‘‘ W. Sterns, die Psychologie des Kindes, des Jugendlichen, der Tiere und des primitiven Bewußtseins; nicht zuletzt die ,,Gestalt- theorie“ der verschiedenen deutschen Schulen, die ‚Eidetik‘“ der Brüder Jaensch, die ,,geisteswissenschaftliche Psychologie‘‘ (des „Sinnes“, der

Werte, der überindividuellen Gefüge) und was an Erlebnis-, Gefühls- oder

Entwicklungsbegriffen neuester Prägung wahrhaft fruchtbar ist.

Schärfer noch, als bisher üblich war, muß die beschreibende Frage nach den Ganzheiten des Erlebens und seinen (vorgefundenen) Gliederun- gen von den (bedingungsmäßig erklärenden) Funktionszusammenhängen geschieden werden; und beide wiederum von den Problemen der (in- dividuellen, dazu der sozialen) Struktur. Diese dritte Gruppe von Pro- blemen ist von durchaus genetischer Beschaffenheit. Entwicklungstheo- retisch müssen alle Bemühungen der Psychologie wissenschaftlich zu- sammengeschlossen werden.

Das Gesagte wird durch zahlreiche Demonstrationen und Licht- bilder, auch von zahlenmäßigen Versuchsergebnissen, namentlich der Leipziger Psychologenschule erläutert. Im Mittelpunkte stand dabei: die „Dominanz des Ganzen“, vornehmlich der Gefühle (als der Komplex- qualitäten des jeweiligen Erlebnistotals); die psycho-physische Ganzheit verschiedener Stufen und die Hauptformen entwicklungsberechtigter Gliederung, mit ihren spannungsreichen Wirkungen aufeinander.

An den Tiefenqualitäten des Erlebens, insonderheit des Fühlens besitzt der Psychologe unmittelbar zu beobachtende Tatbestände, um seine Grundbegriffe im Zusammenhange zu prüfen vorab die jetzt geforder- ten wissenschaftlichen Begriffe von funktionaler Notwendigkeit, von Strukturen und Entwicklung, normaler sowie krankhafter, des seelisch Wirklichen.

G. Kafka-Dresden: Die Psychologie der Primitiven in ihrer Bedeutung für eine vergleichende Entwicklungspsychologie.

Von einer Entwicklung des seelischen Lebens im Sinn einer Ent- faltung verhältnismäßig einfacher Anlagen zu immer größerer Mannig- faltigkeit der Leistungen kann in einem doppelten Sinne gesprochen werden: die Kinderpsychologie untersucht die Entwicklung, welche das seelische Leben des einzelnen Individuums im Übergange von der Kindheit zur Reife durchmacht, die Völkerpsychologie die Entwicklung, welche die Völker in ihrem Aufstieg von primitiven zu höheren Kulturen erkennen lassen. Eine vergleichende Psychologie der Entwicklung endlich hat die Aufgabe, die gesetzmäßigen Beziehungen zu untersuchen, welche zwischen der stammesgeschichtlichen und der individuellen Entwicklung bestehen. Fallen beide Entwicklungsreihen auch keineswegs schlechthin miteinander zusammen, so ergeben sich doch zwischen ihnen interessante Zusammen- hänge, deren Aufhellung rückwirkend der Kinderpsychologie wie der Völkerpsychologie zugute kommt.

E. Neber-Bonn: Über das Nachzeichnen von geschlossenen und von Punktfiguren bei Schwachsinnigen.

Ausgangspunkt der Untersuchungen war die häufige Beobachtung, daß Schwachsinnige geometrische Figuren mit geschlossener Linienführung nachzeichnen können, dagegen die gleichen Figuren nicht mehr nachzu-

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bilden vermögen, sobald sie nur durch Punkte angedeutet sind. Die ge- staltmäßige Anordnung der Punkte kann in solchen Fällen nicht gewahrt werden. Entwicklungspsychologisch ließ sich feststellen, daß das Nach- bilden von geschlossenen Figuren dem Stadium der Nachbildung von Punktfiguren vorausgeht. Durchschnittlich wird die Fähigkeit der Nach- bildung von Punktfiguren im 6. Lebensjahr erreicht. Weiterhin ließ sich feststellen, daß bei schweren Schwachsinnsformen, z. B. in zahlreichen Fällen von mongoloider Idiotie, diese Fähigkeit überhaupt nicht erreicht wird, während sie bei leichteren Schwachsinnsformen erst in späteren Altersstufen auftriit. Von praktischer Bedeutung sind die Ergebnisse bei der Entscheidung der Einschulung in die Hilfsschule, indem die bisherigen Untersuchungen durch Einbeziehung dieser Leistungsforderung eine wichtige Ergänzung erfahren.

R. W. Schulte-Berlin-Spandau: Die pädagogische Psychologie der Leibesübungen.

Schulte behandelt in seinen durch Lichtbilder erläuterten Ausführun- gen die Bedeutung der modernen sinn- und planvollen Leibesübungen für die Heilpädagogik. Es wird gezeigt, welche Mittel die heutige Sportwissen- schaft, insbesondere die sportpsychologische Eignungsprüfung und die pädagogische Psychologie der Leibesübungen, für die Heilpädagogik zu bieten vermag. Planmäßige Körperkultur faßt die Persönlichkeit von zwei Seiten zugleich an. Gerade dem Erziehungsobjekt der heilpädagogischen Bestrebungen, also dem unterwertigen, minderwertigen oder pathologischen Kinde, vermag die Wissenschaft der neuzeitlichen Körpererziehung be- sondere Hilfe zu bieten. Die Probleme der Erkennung der Wertigkeit des Menschen, der Erkennung von Ausfallerscheinungen, die Gesetze plan- mäßiger Entwicklung vorhandener Anlagen, die Methode des richtig ge- wählten mittleren Optimums der Beanspruchung und andere grundlegende Gesichtspunkte der vom Referenten ausgebauten Biopsychologie werden besonders geschildert.

R. A. Pfeifer-Leipzig: Frühbehandlung von Psychopathie und Schwachsinn.

1. Die Notwendigkeit der Frühbehandlung von Schwachsinn und Psychopathie hat sich aus praktischen Bedürfnissen ergeben. Der Be- handlung entgehen oft die prognostisch günstigen Grenzfälle und schwere Fälle werden verschleppt.

2. Es sind medizinisch-pädagogische Beratungsstellen, in den Groß- städten dezentralisiert, auf dem Lande als Wanderberatungsstellen zu errichten.

3. Zur Sicherung eines geeigneten Nachwuchses an Heilpädagogen sind begabte, theoretisch und praktisch bereits ausgebildete Pädagogen zu ermutigen, noch Medizin zu studieren und sich als Ärzte approbieren zu lassen. Obige These dürfte sich wohl im allgemeinen schwer in die Wirklichkeit umsetzen lassen. Käme doch nach dem philosophischen Studium noch das langwierige medizinische, dem dann noch eine psychi- . atrische Fachausbildung angeschlossen werden müßte; es erscheint deshalb in mehrfacher Hinsicht zweckmäßiger, wenn sich Psychiater mehr mit

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Heilpädagogik beschäftigen. Es wäre auf diese Weise die beste Gewähr für eine Frühbehandlung der Psychopathen und Schwachsinnigen gegeben (Ref.)

4. Die Frühbehandlung erfordert Vermehrung der Kindergärten, Errichtung von Burschenheimen für Lehrlinge in den Großstädten und in Industriebezirken, Förderung der Jugendorganisationen, Ausdehnung der Elternabende auf die Interessen des vorschulpflichtigen Kindes, Einführung pädagogisch geleiteter Meister- und Werkführerabende für Lehrlings- bildner. Ein besonderes Bedürfnis scheint für kleine Verwahrungsanstalten unter pädagogischer Leitung vorzuliegen.

Ferner besprach Bartsch-Leipzig die Notwendigkeit der Frühbehand- lung vom Standpunkte des Hilfsschullehrers aus, während Brendel-Bräuns- dorf vom Standpunkte des Psychopathenlehrers aus das gleiche Thema erörtert hat und Herold-Leipzig eine heilpädagogische Frühbehandlung des Krüppelkindes forderte.

G. Bessau-Leipzig: Epidemische Kinderlähmung.

Der Vortragende bespricht einleitend den Umfang der Leipziger Epidemien, die Epidemiologie der Kinderlähmung, die Kenntnisse über den Erreger, die Eingangspforten, die dispositionellen Verhältnisse, um dann auf das Krankheitsbild selbst ausführlicher einzugehen, welches in ein Vorlähmungs-, ein Lähmungs- und ein Endstadium eingeteilt wird. Zum Schluß werden die Heilungsaussichten sowie die Verhütungs- und Behandlungsmaßnahmen, soweit sie für den Nichtfachmann von Bedeu- tung sind, dargestellt.

E. Meltzer-Großhennersdorf: Das Geburtstrauma in seinen Beziehungen zur körperlichen und geistigen Entwicklung des abnormen Kindes.

1. Bedeutung desselben nie verkannt, bisher aber stark unterschätzt.

2. Neuere anatomische und pädiatrische Forschungen beweisen die große Bedeutung intrakranieller Blutungen bei Frühgeburten, Schwer- geburten und selbst bei Normalgeburten für die Pathologie des Kindes- alters.

3. Es gilt aus dem großen Material der Hilfsschulen, Schwachsinni- gen-, Blinden-, Taubstummen-Anstalten usw. weitere Beweise zu erbringen, da es mehr als wahrscheinlich ist, daß viele Geburtstraumatiker das Säug- lingsalter überleben.

4. Von den ersten 1000 Aufnahmen der Anstalt Großhennersdorf i. Sa., die jetzt bildungsunfähige idiotische Kinder bis zum 14. Jahre pflegt, war bei 208 (also fast 214%) nach der Anamnese Geburtstrauma als vermutlicher ätiologischer Faktor schon im ärztlichen Einweisungs- zeugnis genannt.

5. Von diesen 208 zeigte die größere Hälfte, nämlich 108, also ziemlich 11%, enzephalitische oder hydrozephale Erscheinungen im Sinne der Statistik Pkt. 19 b u. c des Deutschen Vereins für Psychiatrie: Er- scheinungen, wie sie Schwartz und Ylipé außerordentlich häufig bei Sek- tionen gefunden haben.

6. Auf die Gruppe der übrigen Idiotien mit Geburttrauma fielen

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400 Fälle, also 10%. Von diesen waren 50% belastet, während von den in 5 genannten nur 39%.

7. Unter den 208 geburtstr. Fällen befanden sich 79 Frühgeborene = 7,9%. Unter den 208 geburtstr. Fällen befanden sich 13 Little (davon 9 Frühgeborene). Von den 208 geburtstr. Fällen sind 79 bis zum 20. Lebens- jahre gestorben = 38%; bis zum 14. Lebensjahre starben schon 32%, sehr häufig an nichts anderem als Marasmus idioticus.

8. Die in GroBhennersdorf wie auch in anderen Anstalten (nach dem 44. Jahre) erhobenen Sektionsbefunde stimmen völlig überein mit den Schwartzschen Befunden bei Neugeborenen und Kleinkindern.

9. Das Geburtstr. muß bei so starker Beeinflussung des Körpers, die sich außer in körperlicher Schwäche und Anfälligkeit auch in Blindheit und Taubstummheit äußern kann, notwendig wegen der schweren Gehirn- veränderungen auch auf die Psyche wirken, also in Form von Schwachsinn vom leichtesten bis zum schwersten Grade, vermutlich auch in psycho- pathischem Wesen und Neigung geistig und epileptisch zu erkranken.

10. Schwere Fälle von Selbstmißhandlungen und Sinnestäuschun- gen bei tiefstehenden Idioten mit geburtstr. Anamnese legen diesen Schluß nahe.

44. Das Geburtstr. kann auch die größere Sterblichkeit der Knaben und das Überwiegen ihrer Zahl in den Idiotenanstalten sowie das zahlen- mäßig starke Hervortreten der Erstgeborenen (25—37%) bei den Schwach- sinnigen erklären.

42. Zwecks weiterer Klärung der Sache muß sich die Nachforschung erstrecken auf die ersten psychischen Erscheinungen nach der Geburt des- jenigen Kindes, das sich später als abnorm herausstellt.

13. Die Geburtshelfer bestreiten die große Häufigkeit des Geburtstr., hoffen aber, di2 an sich nicht bestrittene Gefahr für den Neugeborenen durch Technik, scharfe Beobachtung des Kindes schon im Mutterleib und Sorge für genügenden Mutterschutz verringern zu können.

44. Notwendigkeit, alle wissenschaftlichen Kräfte zu vereinigen, damit möglichst viele Kinder ‚wohlgeboren‘‘ werden.

W. Jakobi-Stadtroda: Die Bedeutung der Enzephalographie (Hirnlufteinblasung) für die Heilpädagogik.

Das Wesen der Enzephalographie, d. h. der röntgenologischen Dar- stellung der Hirnhöhlen, liegt darin, daß die Hirnflüssigkeit durch die für Röntgenstrahlen leichter durchlässige Luft ersetzt wird und dadurch die Hohlräume des Hirns durch Aufhellungen röntgenologisch zur Darstellung gebracht werden. Auf diese Weise gelingt es, Hirnveränderungen, die bisher nur bei der Sektion zugänglich waren, schon am Lebenden zu erfassen. Finden sich abnorme Höhlenbildungen an der Hirnoberfläche, so sind auch diese unter der Voraussetzung, daß sie mit den Hirnwasser führenden Räumen in Verbindung stehen, durch die Methode nachweisbar. Die mitgeteilten Untersuchungen zeigen, daß die enzephalographische Methode für die Heilpädagogik bedeutungsvoll ist, vermittelt sie doch die lebensvolle Anschauung beim Lebenden bisher nicht zugänglicher anatomischer Verhältnisse des Hirns.

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K. Huldschinsky-Charlottenburg: Die Einwirkung der Rhachi- tis auf die geistige Entwicklung des Kindes.

Die Feststellung, wieviel schwachsinnige Schulkinder Thachitisch waren, gibt keinen Anhalt für die Rhachitis als Ursache des Schwach- sinns. Man hat an Stelle der bisher angewandten anamnestischen Methode die Beobachtung des Kindes in seiner Entwicklung bis etwa zum schul- pflichtigen Alter zu setzen. Der rhachitische Schwachsinn ist eine Er- krankung mit eigenen Erscheinungsformen. Er durchläuft von der Säug- lingszeit bis zur Ausheilung der Rhachitis eine ziemlich regelmäßige Symp- tomenreihe, deren letztes Glied eine allgemeine, konzentrische Herab- setzung der intellektuellen Leistungen ist, ohne daß die potentiellen Kräfte beeinträchtigt sind. Die Rhachitis bedeutet für das Kind lediglich eine Verzögerung in der Entwicklung um etwa 1—2 Jahre, ein Persistieren der rhachitischen Demenz ist bisher noch nie beschrieben worden. Aus anderen Ursachen debile oder imzbezille Kinder verfallen leichter der Rhachitis (fehlende Pflege, Mangel an Betätigung usw.). Die jetzt mögliche sichere Verhütung und Heilung der Rhachitis im ersten Lebensjahr bedeutet einen Gewinn an 1—2 lernfähigen Jahren, so daß eine im Durchschnitt frühere Einschulung der Kinder möglich ist.

H. Grage-Chemnitz-Hilbersdorf: Über die Notwendigkeit der Anstalten für nervenkranke Kinder.

Während die Notwendigkeit der Unterbringung kindlicher und jugendlicher Psychopathen allgemein anerkannt und derselben durch Errichtung von Psychopathenheimen Rechnung getragen wird, entstehen vielfach erhebliche Schwierigkeiten hinsichtlich der Unterbringung von nervenkranken Kindern und Jugendlichen. Das Problem ist akut gewor- den durch die Frage nach einer zweckmäßigen Versorgung von Kindern und Jugendlichen, die an einer Enzephalitis acuta epidemica erkrankt waren.

Es klafft hier eine Lücke in den Fürsorgeeinrichtungen, welche durch Schaffung besonderer Abteilungen für nervenkranke Kinder und Jugend- liche nicht für nervöse, psychopathische und geistesschwache Kinder ausgefüllt werden muß. Die Errichtung besonderer Anstalten für der- artige Kinder erscheint nicht zweckmäßig, das Material ist dafür nicht zahlreich genug, auch ökonomische Gründe sprechen dagegen. Am besten werden diese Abteilungen an Nervenheilanstalten angegliedert, in denen neben der psychiatrischen gleichzeitig heilpädagogische Behandlung und Schulunterricht gesichert ist. Die Angliederung an eine größere Nerven- klinik bzw. Nervenheilanstalt ermöglicht eine vielseitige und individuelle Behandlung des so verschiedenen Materials.

H. Winkler-Leipzig: Motorisch und charakterologisch auf- fällige Kinder.

Störungen des motorischen Tonus. Schriftproben handgelähmter Kinder. Psychomotorische Erregbarkeit. Der Gang gebrechlicher Kinder. Charakterologische Deutung des auffälligen Ganges.

A. Gregor-Flehingen: Psychische Hygiene und Erziehung. - Das Thema befaßt sich mit der von Deutschland ausgegangenen und Zeitschrift für Psychiatrie. LXXXIX. 23

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in Amerika wesentlich geförderten Bewegung der psychischen Hygiene. Der Vortragende definiert diese für das hier interessierende Gebiet als Streben nach optimalen Bedingungen für den Ablauf psychischer Funk- tionen zu dem Zweck der Erhaltung geistiger Gesundheit. Es werden die sich hier berührenden Belange der Pädagogik und Heilkunde abgegrenzt und die Beziehung zur Heilpädagogik erörtert. An der Hand praktischer Fälle weist der Vortragende auf den großen und ernsten Aufgabenkreis hin, der sich aus der Sorge um die Förderung des geistigen Wohles von Kindern und Jugendlichen ergibt.

S. Kahlbaum-Görlitz: Heilpädagogische Methoden in der Be- handlung Geisteskranker.

A. Direkte verbale:

I. Evokationsmethoden, durch Aussprache, gerichtet auf Erweckung von Aufmerksamkeit, Zuneigung, Vertrauen, Interesse;

II. Adduktionsmethoden, durch Belehren, Zuüberzeugensuchen, Ermahnen, gerichtet auf Anbahnung von Krankheitseinsicht, Willens- starkung, Selbstbeherrschung;

III. Präzeptionsmethoden, teils imperativ: durch befehlsmäßige Weisungen; teils spekulativ: unter gleichzeitiger Erweckung von Gefühls- regung, gerichtet auf Anerziehung von Gehorsam, Ordnung usw.

B. Indirekte effektive:

I. Disziplinierungsmethoden, verbunden mit Einrichtungen zur Durchführung eines bestimmten Regimes; besondere Abteilungen, Be- lohnungs- und Zurechtweisungsmaßnahmen;

II. Okkupationsmethoden, verbunden mit Einrichtungen zur Durch- führung von Beschäftigungsarten:

a) ohne produktiven Charakter: mit muskulärer Kraftabgabe, mit vorwiegend geistiger Betätigung;

b) von produktivem Charakter: mit muskulärer Kraftabgabe, mit vorwiegend geistiger Betätigung; sowie in großen Anstalten zur Aufstellung von Arbeitergruppen: 1. Allgemeine Gruppen, 2. Spe- zialgruppen.

Heilpädagogische suggestive Begleitmomente ausgehend von 1. der Persönlichkeit des Erziehenden, 2. der Gemeinschaft und Umwelt des Kranken.

Schröder-Leipzig: Der Begriff der Psychopathie bei Kin- dern.

Das, was psychopathische Erscheinungen bei Jugendlichen genannt wird, ist ein ärztlich-pädagogisches Grenzgebiet. Ein Teil dessen, was unter den Sammelbegriff Psychopathien fällt, ist rein ärztlich, der andere charakterologisch zu bewerten und zu verstehen.

Nur das Ausmaß der Abweichungen vom Durchschnitt läßt letzteren abnorm, krankhaft erscheinen. | Die große Masse der normalen J ugendlichen, mit welcher der Pädagog zu tun hat, zeigt anlagemäßig in geringerem Umfange dieselben Unter- schiede auf sehr verschiedenen seelischen Gebieten (gewöhnlich Ver- standestätigkeit, Charakter und Tomparament genannt), wie die sog.

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Psychopathen und Schwererziehbaren, welche den Heilpädagogen und den dafür interessierten Arzt beschäftigen.

Die Kenntnis der groben charakterologischen Abarten (Monstra) gibt dem Heilpädagogen und dem Arzt in weitem Umfang wertvolle Richt- linien für die Bewertung und das Verständnis der mannigfachen Differen- zen normaler Begabungen, Charaktere und Temperamente bei Jugend- lichen wie bei Erwachsenen.

F. Stern-Göttingen: Allgemeine Übersicht über Sympto- matologie und soziale Bedeutung der epidemischen Enzepha- litis, namentlich der chronischen Form.

Die epidemische Enzephalitis (epidemische Gehirnentzündung) ist eine der gefährlichsten und heimtückischsten Erkrankungen, die wir in den letzten Jahren nach dem Kriege durchgemacht haben. Sie trat teils gleichzeitig, teils im Gefolge der schweren Grippeepidemien auf, die Europa am Kriegsende verheerten, wird aber vermutlich durch besondere Krank- heitserreger hervorgerufen, sodaß der im Volk beliebte Ausdruck ,,Kopf- grippe“ nicht ganz zutreffend ist. Verhängnisvoll war, daß über -50% der Kranken in ein chronisches Stadium mit Bew störungen über- gegangen sind. Glücklicherweise ist in den letzten Jahren die Epidemie völlig abgeflaut, so daß besondere Zukunftsbesorgnisse nicht zu bestehen brauchen. Die einzelnen Symptome der Erkrankung werden genauer unter Zuhilfenahme von Filmaufnahmen geschildert, insbesondere die charak- teristischen Bewegungsstörungen, die sich im chronischen Stadium finden. Eine intensive heilpädagogische Behandlung wird namentlich für die jugendlichen Kranken, welche neben den Bewegungsstörungen auch be- stimmte seelische Anomalien zurückbehalten, gefordert.

W. Kürbitz-Chemnitz-Altendorf: Behandlungsergebnisse bei chronischer Encephalitis epidemica.

Die Erfahrungen, die in der Enzephalitiker-Zentrale in Chemnitz- Altendorf, der ersten in Deutschland, gesammelt worden sind, wurden in großen Zügen besprochen.

Infolge der Zusammensetzung des Materials konnte nur über die chronischen Fälle der Encephalitis epidemica (,‚Gehirngrippe‘‘, besser epidemische Gehirnentzündung) berichtet werden.

Es kamen zunächst die medikamentösen Maßnahmen bei den Schwer- beweglichen und bei den wesensveränderten Enzephalitikern zur Sprache, bei denen man im allgemeinen nur anfangs Erfolge erzielen konnte. Auch Behandlung mit Jod, Arsen, Impfmalaria usw. zeigte keine Besserung der Resultate. Ferner wurden Massage, passive und körperliche Bewegun- gen und vor allen Dingen regelmäßige Freiübungen viel angewendet. Diese Maßnahmen waren sowohl bei den Schwerbeweglichen nicht ohne Erfolg als auch bei den Pseudopsychopathen von Wichtigkeit, die an Ordnung und Disziplin wieder gewöhnt werden mußten.

Hand in Hand hiermit ging bei den jugendlichen Patienten beiderlei Geschlechts ein regelmäßiger Schulunterricht, der von Heilpädagogen der Landesanstalt Chemnitz-Altendorf im engsten Zusammenarbeiten mit den Ärzten erteilt wurde. Auch Stunden im Sinne des Fortbildungsschulunter-

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richts wurden gegeben. Erfolge waren zweifellos zu erzielen, da die In- telligenz, über die der nächste Vortrag genauer berichten wird, schwere, tiefgreifende Defekte im allgemeinen nicht aufweist.

Die Behandlungsweise kindlicher und jugendlicher chronischer En- zephalitiker muß, das haben die Erfahrungen in Chemnitz-Altendorf er- wiesen, unbedingt eine kombinierte sein, das heißt, es müssen die ärzt- lichen Maßnahmen verbunden werden mit einem heilpäda- gogischen Unterricht. Nur auf diese Weise ist die Möglichkeit ge- geben, den schweren Hirnprozeß in seinem Fortschreiten zum mindesten aufzuhalten, in vielen Fällen aber auch zu bessern.

Die Behandlung selbst währt monate- und jahrelang, ein vorzeitiges Aufhören hat eine rasche Verschlechterung zur Folge, wie die katamnesti- schen Erhebungen ergeben haben.

W. Lange-Chemnitz-Altendorf: Die Entwicklung der Intelli- genz bei Kindern nach Encephalitis epidemica.

Kurze Übersicht der Literatur, die Angaben über Intelligenzentwick- lung bei Kindern nach Enc. epid. enthält. Notwendigkeit, die Intelli- genz bei solchen Kindern mittels einer exakten Methode zu messen (Binet- Simon). Bericht über die Intelligenzentwicklung bei den enzephaliti- schen Kindern der Landesanstalt Chemnitz-Altendorf (38 Fälle, davon 21 mit ‚„Pseudopsychopathie‘ und 17 mit Parkinsonismus). Die Kinder sind 8—15 Jahre alt, und die Erkrankung liegt 1 Jahr 9 Mon. bis 7 Jahr 9 Mon. zurück. Von den 38 Geprüften sind 14 zweimal, 2 dreimal, 1 vier- mal und 1 fünfmal geprüft worden. Nachweis einer langsamen, aber stetigen Intelligenzabnahme. Vergleich mit den Ergebnissen von. Shepherd Dawson, der 43 enzephalitische Kinder einer genauen Prüfung unterzogen hat.

W.Wieser-Wien: Entwicklung röntgenbestrahlter schwach- sinniger Kinder.

Bereits vor 2 Jahren wurde auf dem letzten Kongreß für Heilpäda- gogik auf die röntgenologische Beeinflussung psychiatrischer und neuro- logischer Erkrankungen im Kindesalter hingewiesen. Weitere Erfahrungen auf diesem Gebiete und Veränderung der Röntgentechnik ermöglichen es, gleiche Effekte innerhalb einer kürzeren Behandlungszeit zu erreichen. Auffallende somatische Unterschiede sind hauptsächlich an jenen Fällen zu sehen, bei denen vor der Behandlung körperliche Abnormitäten bestan- den haben. Zahlreiche unbehandelte Kontrollfälle bestätigen den Unter- schied zwischen bestrahlten und unbestrahlten Fällen. Parallel mit der körperlichen geht auch die geistige Entwicklung einher. Die Kontrolle mit unbestrahlten Fällen erstreckt sich hier, da auf einen gleichzeitigen heilpädagogischen Unterricht besonderes Gewicht gelegt werden muß, auf die Erfahrungen berufener Lehrpersonen, auf die erhobenen Intelligenz- prüfungen, auf die Beeinflussung vorschulpflichtiger Kleinkinder sowie jener erethischer bzw. apathischer Kinder, die einem Hilfsschulunterricht nicht zugänglich waren und es erst nach mehrmonatlicher Vorbehandlung geworden sind. Ähnlich wie die Schilddrüsenbehandlung beim kindlichen ° Myxödem, wirkt die Röntgenbestrahlung beim kindlichen Schwachsinn. Hier und dort sind bloß bedeutende Besserungen, hie und da Versager,

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nur selten Heilungen zu erzielen. Diese Erfolge zu erhöhen und die theo-

retischen Grundlagen weiter zu ergründen, mag das Problem weiterer Forschung sein.

O. Taube-Schleswig: Beschulung taubstummer Idioten und ihre Vorbereitung zu angemessener Betätigung im Wirt- schaftsleben.

Idiotische Viersinnige Blinde und Taubstumme sind in Preußen die einzige Kindergruppe ohne spezielle Unterbringungs- und Erziehungs- einrichtungen.

Die Möglichkeit, diese Kinder zu erfassen, ist durch die Stellung- nahme des Arztes in dem Fragebogen gegeben.

Der Begriff der Bildungsfähigkeit ist ungenau umrissen und deshalb schwankend.

Günstige Ausnutzung vorhandener Anschlußanstalten und Fachlehr- kräfte sichert zweckmäßige Unterbringung, gründliche Ausbildung, spar- same Verwaltung und wirtschaftliche Erfolge.

Verwaltungsgrenzen dürfen kein Hindernis für geeignete Zusammen- fassung idiotischer Taubstummer sein.

Th. Heller-Wien-Grinzing: Uber atypische Sprachentwick- lungen.

Die Sprachentwicklung der Kinder schlagt manche seltsamen Umwege ein. So beobachtet man Agrammatismus (die Unfahigkeit, Satze richtig zu formen) oft bis weit ins schulfähige Alter hinein, ebenso Neigung zur Echosprache, zur Umstellung und Verschiebung von Lauten innerhalb der Wörter. Auch spätes Sprechen bei sehr gut entwickeltem Wortverständnis . kommt vor. Oft denkt man an einen schweren Sprachfehler oder an eine Sprachanomalie, bis ziemlich plötzlich und unvermittelt die normale Sprache eintritt. Am interessantesten ist hier die Eigensprache mancher Kinder, die nur von den nächsten Angehörigen verstanden wird, aber schiießlich auch normaler Ausdrucksfähigkeit Platz macht. Nicht selten resultiert aus atypischen Sprachentwicklungen eine konstante, nur schwer behebbare Rückständigkeit der Sprache bei völlig normaler intellektueller Entwicklung. Fehlbeurteilungen sind hier häufig. Man hält das nur sprachlich rückständige Kind für geistesschwach und führt es unrichtiger pädagogischer Behandlung zu.

In naher Beziehung zu den psychopathischen Konstitutionen stehen einige sprachlich auffällige Typen, unter denen hervorgehoben werden der Schwadroneur, der Schwätzer und das verschlossene Kind. In letzterem Fall besteht erschwerte Wortfindung, die aber ein reiches und wertvolles Seelenleben nicht ausschließt.

D. Katz-Rostock: Gespräche mit Kindern.

Es sind mit zwei Kindern im Alter von 3—7 Jahren bei zahlreichen verschiedenen Gelegenheiten geführte Gespräche wörtlich notiert und analysiert worden. Diese Gespräche geben, wie kaum ein anderes Material, die Möglichkeit, einen Einblick in den Aufbau der kindlichen Welt nach ihrer Form sowie nach ihrem Inhalt zu tun (Wunschbilder, Träume des

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Kindes, Metaphysik, Magie des kindlichen Denkens, Realitätskategorien der kindlichen Welt usw.). Die Analyse der Gespräche kann auch wichtige Fingerzeige für den Aufbau einer empirischen Pädagogik liefern. In erster Linie kommen dabei die sog. Beichtgespräche in Frage, die mit den Kindern abends geführt wurden. Die Methode der freien Gespräche verspricht bei einer Ausdehnung auf alle Kinder, mit denen es der Heilpädagoge zu tun hat, große Erfolge bei der psychologischen Untersuchung dieser Kinder und läßt auch pädagogischen Gewinn erwarten.

A. Böttger-Leipzig: Lustbetonte Arbeit als Heilfaktor in der Erziehung Anormaler.

Wie die lustbetonte Arbeit den Menschen gesund erhält an Leib und Seele, so gesundet auch der geistig und kérperlich Anormale durch Arbeit, für die er Lust hat und die Fähigkeit besitzt. Das ist eine Tatsache, die bei der beruflichen Ausbildung geistig und seelisch Schwacher und körper- lich gebrechlicher Jugendlicher im Tagesheim für berufliche Erziehung in Leipzig in Erscheinung tritt.

F. Giese-Stuttgart: Heilpädagogik und Berufsberatung.

Betrachtet man den Zusammenhang vom Wirtschaftsstandpunkt, so ist entscheidend einmal das bisherige Berufsschicksal entlassener An- brüchiger und zum anderen die Gestaltung der Arbeitsplätze in der neu- zeitigen Fertigung. Nach beiden kann es sich für die Klientel des Heil- pädagogik allenfalls um Angelernten-, wenn nicht Ungelerntentätigkeit handeln, und lassen sich z. B. Maschinentypen sowie Fließarbeitsplätze aufzeigen, die ihrer Struktur nach sich für die Anbrüchigen eignen. Be- trachtet man das Problem vom pädagogischen Standpunkt, so erwachsen zwei Kernfragen: Arbeitsvorbereitung des Klienten und Personaldiagnostik. Ersteres wird vorteilhaft im Sinne echter Therapie angeschlossen an die Schullaufbahn, aber dabei zugeschnitten auf das Vorkommen von Arbeits- formen in Industrie und Landwirtschaft. Die Diagnostik ihrerseits darf nicht nur eine Intelligenzprüfung oder eine abstrakte Funktionsprüfung sein, sondern muß ausgehen vom Trieb- und Gefühlsleben und hierbei aus- werten bestimmte emotional bedingte Verhaltensweisen gegenüber Werk- stoff und Produktionsprozeß, wie sie gerade der Anbrüchige erweist. Dabei kommen methodisch vor allem die Gesichtspunkte des Behavioris- mus mit zur Verwendung, ebenso arbeitliche Grunderscheinungen, wie z. B. das Materialgefühl des Menschen.

W. Fürstenheim-Frankfurt: Über die derzeitige Form und die Ergebnisse der Eignungsprüfungen in der Berufsberatung der Frankfurter Hilfsschüler.

Sämtliche zur Entlassung kommenden Hilfsschüler, etwa 120 jährlich, werden in Gruppen von je 20 an 5 bis 6 Vormittagen einige Monate vor der Schulentlassung im psychologischen Laboratorium, wie im fachärzt- lichen Untersuchungszimmer der städtischen Jugendsichtungsstelle durch- geprüft. Dem untersuchenden Arzt liegt ein Auszug aus seinem Aufnahme- gutachten nebst Bemerkungen über die weitere Entwicklung des Kindes in der Schule vor; er prüft nach Feststellung des Gesundheitszustandes und der körperlichen Entwicklung unter Anlehnung an das Poppelreutersche

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Verfahren Druckkraft, Hebebückleistung und Balanzierfähigkeit der Kinder unter besonderer Beachtung des Verhaltens bei der Prüfung. Die experimentell-psychologische Prüfung geschieht mittels 10 geeichter, gut abstufbarer Teste, die möglichst verschiedene Richtungen der Berufseig- nung beanspruchen. Der endgültige Berufsrat wird festgestellt in einer gemeinsamen Aussprache zwischen Lehrerkollegium, Arzt und Psycho- logen, Hilfsschulpflegerin, Vertretern des Berufsamts und der mit der Hilfsschülerbetreuung befaBtenVereine. Von 108 Hilfsschülern, die O. 1928 die Frankfurter Hilfsschulen verlassen, waren 44 berufsreif, 14 darunter für gelernte Berufe, 58 waren nachreifungsbedürftig, 6 voraussichtlich dauernd berufsunfähig. Die Zuleitung dieser Teiltauglichen zu einem geeigneten Beruf, nötigenfalls auf dem Umwege über eine Nachreifungseinrichtung verhütet gefährliche, aufregende und kostspielige Umwege, bedeutet Er- sparnisse an Dauerfürsorge, erhält der Wirtschaft sehr wohl verwendbare Arbeitskräfte und ist darum auch in unserem schwer um seinen Wieder- anstieg ringenden Lande als durchaus lohnend zu pflegen und auszubauen.

Klemm-Leipzig sprach im Anschluß daran über die Berufsversor- gung von Taubstummen und Hilfsschülern.

F. Rössel-Hamburg: Zur Psychologie des Arbeitsvorganges bei geistig schwachen Kindern.

Heilpädagogische Arbeit erfüllt sich in der Aufnahme der erziehlichen und unterrichtlichen Intentionen durch das Kind; sie löst im Kinde irgend- eine Form des Tuns aus. Unter den Formen des Tuns ist auch für das von heilpädagogischer Arbeit erfaßte Kind der Arbeitsvorgang das Kernstück, der sich vor allem im Schulbereiche als ‚lernende Arbeit‘‘ darstellt. Die Tatsache, daß der Arbeitsvorgang, gleichgültig, welche sachlichen Gehalte ihn bestimmen, bei geistig schwachen Kindern, aber auch bei anderen Kindergruppen, in der mannigfachsten Weise erschwert ist und vielfältigen Abweichungen unterliegt, ist unbestritten. Es ergibt sich die Aufgabe, den Veränderungen solcher Arbeitsvorgänge nachzugehen. Im Vorwege muß der Arbeitsvorgang in seiner reinen Gestalt unter Absehung seines tatsächlichen Stattfindens geklärt und durchdrungen werden. Daran ist zu verfolgen, wo die den Arbeitsvorgang zersetzenden und erschwerenden Stellen liegen und wedurch sie inhaltlich bestimmt sind. Heilpädagogische Arbeit muß sich eine Übersicht über alle möglichen Abweichungen dieser Art erarbeiten; sie muß eine Formenlehre abwegiger Arbeitsvorgänge schaffen, besonders auch deshalb, damit die in der praktischen Arbeit auseinandertretenden Einzelbemühungen in der heilpädagogischen Arbeit einen inneren Zusammenschluß erhalten und sich ihrer einheitlichen Grundlage bewußt werden.

W. Inhoven-Diisseldorf: Erfahrungen an Lehrwerkstätten für schwachsinnige Jugendliche.

Die Ergebnisse der Berufsberatung ehemaliger Hilfsschüler sowie deren Unterbringungsmöglichkeit im Erwerbsleben bestimmen den Umfang und die Art der Einrichtungen zur Berufsertüchtigung psychisch defekter Jugendlicher. Die Aufgaben der Lehrwerkstätten sind individuell erzieh-

360 Verhandlungen psychiatrischer Vereine.

licher, heilpädagogischer und wirtschaftlicher Natur. Ihre Organisation wird bedingt durch die Eigenart der Schwachsinnigen, insbesondere durch ihre Verwendbarkeit im Erwerbsleben, ferner durch die berechtigten An- sprüche ihrer Eltern und endlich durch den heimatlichen Arbeitsmarkt. Ihr Ziel, die Produktivmachung erwerbsbehinderter Jugendlicher, wird gewährleistet durch die Zusammenarbeit der an der Brauchbarmachung interessierten Stellen: Arbeits- und Berufsamt, Jugend- und Schulamt.

E. Feuchtwanger-München: Berufswerkstätten für psychisch Defekte.

1. Berufswerkstätten für psychisch Defekte sind eine besondere Art von Erwerbsbeschränktenwerkstätten. Sie soll psychisch Defekten jeder Art, nicht nur Schwachsinnigen, die ihre Defektursachen in Schädigungen des Gehirnes oder des endokrinen Systems haben, also mit Ausnahme der peripheren Sinnesdefekten (Blinden, Taubstummen) und mit Ausnahme der schweren Gefühls- und Willensgestérten und der ProzeBkranken (Psychosen) in dem Maße ihrer Arbeitsfähigkeit, Berufstätigkeit und Ein- kommen verschaffen. Sie sind für Arbeiter in berufsfähigem Alter, also für Erwachsene bzw. dem Lehrlings- und Lernalter entwachsene Defekte bestimmt. Nicht in Betracht kommen für die Berufswerkstätte arbeits- unfähige Defekte (Idioten, Schwer-Imbezille, Bewegungsunfähige usw.) andererseits psychisch Defekte, die nur irgendwie im freien Berufsleben Betätigung finden können. Soziale Indikation (z. B. Erwerbslosigkeit) ist kein Grund zur Aufnahme.

2. Es werden unterschieden: a) Lehrwerkstätten mit dem Ziel der Ausbildung für den Beruf im freien Leben, an Schulen angeschlossen ; b) Beschäftigungswerkstätten für Anstaltsinsassen mit dem Ziele der Ar- beitstherapie und Beschäftigung ohne Verdienst; c) Berufswerkstätten für Defekte, die zumeist in der Familie wohnen. Lehr- und Beschäftigungs- ziele gehören nicht zu den Aufgaben der Berufswerkstätten (zum Unter- schied von den meisten Erwerbsbeschränktenwerkstätten).

3. Die Berufswerkstätten erstreben Produktivität in wirtschaftlicher Beziehung. Sie suchen sich von ‚äußeren‘ Zuschüssen in Geld (Bezahlung der Materialien, Unkosten usw.) zu befreien, nehmen aber „innere“ Zu- schüsse, wie freiwillige oder nebenamtliche Hilfe von Gemeinden und Ver- zicht auf Unternehmergewinn, für sich in Anspruch.

4. Gegenüber dem normalen Produktionsbetrieb liegt der Schwer- punkt nicht auf dem Werk, sondern auf dem Arbeiter. Es ergeben sich daher für die B.w. besondere Probleme: a) wirtschaftliche und technische Organisation: Werk- und Arbeitsgänge, Arbeitszeit, Lohn, Absatz usw.; b) medizinisch- und psychologisch-pädagogische Organisation: Auswahl der Arbeiterschaft nach körperlichen und psychischen Schäden und er- haltenen Fähigkeiten, Anpassung des Werkes und der Arbeitsgänge an die ' Fähigkeiten des Arbeiters, Anpassung der Arbeiter an das Werk usw. 5. Berufswerkstätten für psychisch Defekte sind die Hirnverletzten-

werkstätten, an deren Erfahrungen angeknüpft werden kann für Einrich- tung ähnlicher Werkstätten.

Bericht über den 4. Kongreß für Heilpädagogik. 361

J. Moses-Mannheim: Seelische Konflikte und Komplikatio- nen im Berufsleben jugendlicher Psychopathen.

Diese Konflikte beginnen bei den vorbereitenden seelischen Pro- zessen, die der Berufsergreifung vorangehen: Berufswünsche und -vor-- stellungen, Berufswertung und -wahl, die bei Psychopathen inhaltlich ab- gewandelt sein können, in ihren zeitlichen und logischen Zusammenhängen auseinanderfallen und in ihrem gegenseitigen Kräfteverhältnis sich ver- schieben. Das Mißverhältnis der in ihrer Statik und Dynamik veränderten seelischen Einstellung zum Berufe und dem Erleben im Berufe schaffen neue Widerstreite. Konflikte und Komplikationen entstehen weiter durch die Diskordanz der besonderen psychopathischen Beschaffenheit und dem ergriffenen Berufe, wie an den Beispielen triebhafter, nervöser, haltloser, selbstunsicherer, sexuellabnormer jugendlicher Psychopathen aufgezeigt wird.

St. Krauß-Heidelberg: Die Bedeutung der Instinkte für die Sozialität und Dissozialität des Kindes.

A. Übersicht:

I. Der Wert der Instinktbetrachtung für die Heilpädagogik vom Standpunkte der verständlichen Zusammenhänge.

II. a) Das Problem des Instinktes in der Psychologie überhaupt. Instinkt und Reflex; Erkenntnis-, Willens- und emotionales Moment im Instinkt; Erlebnis-, Benehmens- und objektiv geistige Seite; Monismus, Dualismus und Pluralismus. Der amerikanische Instinktstreit: Me Dougalls Affekttheorie und Instinktliste; Lloyd Morgans Ansicht über die Er- fahrung und der Behaviorism; die „soziale Ausstattung“. K. und Ch. Bühlers Instinktauffassung: Zweckhaftigkeit, Aktivität, Produktivität. Die dynamische Seite des Instinktbegriffes.

b) Die Instinkte in der Psychopathologie des Kindesalters. Die sozialen Instinkte des normalen Kindes; Instinktstillstand, -rückstand, einseitige Hypertrophie.

c) Darstellung seelischer Zusammenhänge an den kindlichen Kon- flikten. Die Konfliktberichte; die dynamische Lösung von den Instinkten her; die Kinderfehler und Abartungen; das charakterologische Moment.

d) Kasuistik.

III. Die heilpädagogischen Folgerungen: a) der triebgemäße Er- lebnisunterricht (Gürtler); b) die pädagogische „Disziplin“; c) Gesichts- punkte für den Strafvollzug.

B. Zusammenfassung:

Mit Hilfe der Instinktbetrachtung, insbesondere der ‚sozialen Aus- stattung“, läßt sich ein Verständnis der Kinderfehler, der Konflikte der psychopathischen Abarten und der Kriminalität in ihrer seelischen Dy- namik gewinnen, wobei der charakterologische Ansatzpunkt der Anlage- und Milieuschäden in den Vordergrund gestellt wird. Ins Positive ge- wendet, führt die Betrachtung zu den heilpädagogischen Angrifispunkten.

F. Dessauer-Niederschönefeld: Die erzieherische Gestaltung des Strafvollzugs an Jugendlichen. Zweck des modernen Strafvollzugs ist Erziehung und Besserung.

362 Verein der Irrenärzte Niedersachsens und Westfalens.

Dazu ist wichtig die Feststellung der kérperlichen und geistigen Verfassung des neuzugehenden Gefangenen.

Die Erziehungsarbeit wird durchgeführt durch unmittelbare Ein- wirkung: durch das Vorbild, die Aufsicht, die Arbeit, die Entlassenenfür- sorge, durch Lohn und Strafe, durch Gegensatz der Leidenschaften und durch mehr mittelbare Einwirkung: durch Seelsorge, weltlichen Unter- richt, und zwar Schul- und Turnunterricht, durch Bücherei, durch musi- kalische Veranstaltungen, durch Vorträge und Gesundheitsfürsorge.

Nur über Gehorsam, Ehrfurcht, Pflichterfüllung und Belbstzucht geht der Weg zur Freiheit und zur menschlichen Gesellschaft.

H. Többen-Münster: Heilpädagogik und Strafvollzug.

Vortragender umgrenzt das Anwendungsgebiet der Heilpädagogik im Strafvollzug und schildert auf Grund eines großen Untersuchungsmaterials und einer 20 jährigen Erfahrung die Art ihrer Durchführung und deren Erfolge. T. gibt eine eingehende Kritik der einschlägigen Bestimmungen des neuesten Entwurfs zum Strafvollzugsgesetz.

H. Egfert-Jena erörterte die Frage der Gemeinschaftserziehung abnormer Kinder, über die zuerst die tatsächlichen Gemeinschafts- beziehungen unter abnormen bzw. psychopathischen Kindern in ihren pädagogisch wichtigen Formen und Inhalten geprüft werden müssen. Erst daraus kann sich dann ergeben, ob überhaupt eine Gemeinschaftserziehung abnormer Kinder anzustreben ist.

(Zusammengestellt von Kürbitz, Chemnitz-Altendorf).

59. Versammlung des Vereins der Irrenärzte Nieder- sachsens und Westfalens in Hannover am 7. Mai 1927.

Anwesend waren: Aus Hannover: Bartsch, Glettenberg, Lübbers, Schackwitz, Stamm. Aus Hildesheim: v. Criegern, Frensdorf, Grimme, Mönkemöller, Walter. Aus Göttingen: Fleck, Richard. Aus Lüneburg. Bräuner, Hagelübben, Kracke, Snell. Aus Langenhagen: Fröhlich, Kahle, Rinne, Schütte. Aus Gütersloh: Kanis, Simon. Aus Münster: Bange, Cordes, Korbach. Aus Warstein: Jost, Wrede. Aus Königslutter: Grütter, Schlücker, Stahr. Aus Wunstorf: Gerstenberg, Rapmund. Aus Oeynhausen: Benno Wichura. Aus Liebenburg: Fontheim, Niemeyer. Aus Woltorf: Kayser, Kruse. Ferner: Friedländer-Brake, Benning-Rockwinkel, Peltzer-Bremen, Eichelberg-Hedemünden, Gellhorn-Goslar, Roos-Bethel, Kaltenbach-Gern- rode, Wegener Haus Kannen, Heurten-Eickelborn, Lewing-Marsberg, Reinelt-Osnabrück, Harries-Hahnenmoor, Holzer-Aplerbeck, Quaet-Faslem- Rasenmühle, Wernicke-Lengerich, Draeseke, Hamburg.

Vorsitzender: Mönkemöller.

H. Korbsch, Münster i. W.: Über das Neurocytom (Marchand). Demonstration eines Neurocytoms, das vom Septum pellucidum ausgeht und aus epithelähnlichen Zellen in der Größe von Ependymzellen

Verein der Irrenärzte Niedersachsens und Westfalens. 363

besteht. Stellenweise ist ein Einbruch des Blastoms in den Balken zu be- obachten, ein Einbruch durch das Ependym in die Ventrikel hinein ist nirgends erfolgt. Selten sind kleine perivaskuläre Metastasen in nächster Umgebung des Tumors. Es besteht ein beträchtlicher Gefäßreichtum.

Die Zellen zeigen einen schönen, polyedrisch gestalteten Leib und schön gebildete Kerne mit deutlicher Membran und Chromatinzeichnung. In der Umgebung von Gefäßen findet sich mitunter eine Umwandlung zu Gitterzellen, zum Teil von Siegelringform. Ob es sich um eine fettige Degeneration handelt, konnte nicht nachgewiesen werden, da nur Alkohol- material zur Verfügung stand; auch sonst konnte ein sicherer Aufschluß über die Art des Umwandlungsvorganges nicht gewonnen werden.

Besprechung der Herkunft des Neurocytoms aus keimversprengten, tumorös entartenden Neurogliocyten Helds und der Stellung des Neuro- cytoms im System der Geschwülste des Nervengewebes an Hand eines Schemas der dreifachen Differenzierung des Neurogliocyten zu Ganglien-, Glia- und Schwannscher Zelle und der ihr parallel gehenden dreifachen Blastomentwicklung: Gangliom, Gliom und Neurinom. Demonstration von Bildern eines Ganglioglioblastoms und eines Ganglioms (Fall von A. Förster eines Ganglioglioneurinoms). Differenzialdiagnose gegenüber dem sog. primären, vom Plexus chorioideus ausgehenden Karzinom des Gehirns.

O. Snell-Lüneburg: Die Aufbewahrung der für die psychi- atrische Erblichkeitsforschung wichtigen Gerichtsakten.

Auf die Schwierigkeiten, die der Erblichkeitsforschung aus den man- gelhaften Nachrichten über den Gesundheitszustand und die Charakter- eigenschaften der früheren Generationen entstehen, habe ich in einer „kleineren Mitteilung“ in der „Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie‘ (Bd. 86, S. 119) hingewiesen und habe dort vorgeschlagen, man möge das kostbare Material für die Erblichkeitsforschung, das alljährlich mit den Gerichtsakten vernichtet wird, zu retten suchen. Es wird an dieser Stelle nicht notwendig sein, nachzuweisen, daß tatsächlich die allerwertvollsten Grundlagen für die erbgeschichtliche Beurteilung mit den Gerichtsakten zerstört werden, sondern wir können uns hier wohl darauf beschränken, zu überlegen, ob und auf welche Weise eine Rettung dieses kost- baren Materiales möglich ist.

Zunächst ist die Frage zu lösen, welche Akten wir zur Erhaltung vorschlagen sollen. Am wertvollsten und zugleich am bequemsten zu ver- werten sind die in den Akten enthaltenen psychiatrischen Gutachten. Von diesen wird ein Teil schon jetzt vor der Vernichtung bewahrt dadurch, daß ihre Konzepte in den Akten der Irrenanstalten aufbewahrt bleiben, in denen durch Beobachtung die Grundlage für die Begutachtung geschaffen ist. Aber nicht nur die Fälle, die zu einer psychiatrischen Begutachtung geführt haben, sind von großem Werte für die Erblichkeitsforschung, sondern, weit darüber hinausgehend, alle Nachrichten über Persönlich- keiten, die von einem normalen Verhalten erheblich abgewichen sind. Es haben daher alle Strafakten Interesse für die Erblichkeitsforschung, außer- dem die meisten Entmündigungs- und Ehescheidungsakten. Allerdings wird die Masse von Akten, die aufbewahrt und verwaltet werden müssen,

364 Verhandlungen psychiatrischer Vereine.

sehr groB, wenn alle Straf-, Ehescheidungs- und Entmiindigungsakten vor der Vernichtung bewahrt bleiben sollen.

Die Technik der Aufbewahrung könnte, wie ich schon früher aus- geführt habe, sehr einfach sein. Die einzige erhebliche Arbeit, die erforder- lich wird, ist die Registrierung der Akten, so daß in einer Kartothek rasch zu ersehen ist, ob über einen Menschen, dessen Name, Geburtsort und Geburtsdatum angegeben wird, Akten vorhanden sind.

Wenn wir den Versuch machen wollen, der praktischen Lösung dieser Frage näherzutreten, so wäre zunächst eine Einigung darüber erforderlich, für welches Gebiet eine Aufbewahrung von Gerichtsakten für Zwecke der Erblichkeitsforschung angestrebt werden soll. Das Zweckmäßigste scheint mir zu sein, für das Gebiet des Oberlandesgerichtes Celle die Aufbewahrung der Akten zu versuchen und einen Ort für die Verwaltung der Akten vorzu- schlagen. Die beste Aufbewahrungsstelle wäre eine Irrenanstalt, und wegen ihrer zentralen Lage kämen wohl die Anstalten zu Hildesheim und Langenhagen an erster Stelle in Frage.

Die Vorarbeiten, auf die sich die Vorschläge für eine Verwirklichung dieser Pläne stützen müßten, könnten am besten von einigen wenigen Kollegen geleistet werden, und ich mache daher den Vorschlag, zwei oder drei Mitglieder unseres Vereins mit diesen Vorarbeiten zu betreuen.

Dr. Kahle-Langenhagen: Kapillarformen bei Schwachsinni- gen. Bericht über die Untersuchung der Kapillaren am Nagelfalz bei 253 jugendlichen Geistesschwachen der Heil- und Pflegeanstalt Langen- hagen bei Hannover und 92 geistig normalen Schulkindern.

Alle bei den jugendlichen Schwachsinnigen gefundenen Kapillar- formen lassen sich (im Rahmen von 3 aufgestellten Gruppen) in die nor- male ontogenetische Entwicklung der Kapillaren von der ,,archikapillaren“ Form der Neugeborenen an bis zur Form des geistig normalen Schulkindes und nahezu bis zur individuell ausgeprägten Form des Erwachsenen irgendwo einreihen. Dabei kommen in der hiesigen Gegend Archikapillaren (Jaensch, Wittneben) nur selten, bei 17% der Untersuchten vor, und dann entweder zusammen mit schwerster körperlicher und geistiger Unterent- wicklung oder aber als ein ausnahmsweise langes Verharren auf niederer Entwicklungsstufe, deren Weiterentwicklung zusammen mit geistiger Weiterbildungsfähigkeit im Laufe der Beobachtung verfolgt werden konnte. Im allgemeinen herrschen aber endkapilläre Bildungen auch unter den geistig tiefstehenden Jugendlichen vor. Es werden durchweg plumpe große Endkapillaren ohne die schon bei geistig normalen Schulkindern zu fin- dende Variabilität der Form angetroffen. Selbst arterieller und venöser Schenkel lassen sich morphologisch schwer unterscheiden. Funktionell ist an die Stelle des Wechselns des Wandtonus zwischen Erweiterung und Drosselung der Strombahn eine gleichmäßig weite und langsame Strömung (bis zur Stase) auf Grund eines gleichmäßig geringen Kapillarwandtonus getreten. Praktisch scheint wichtig, daß diese endkapillären Formen auf- fällig früh erreicht und dann unverändert festgehalten werden, und daß zeitlich auch die Bildungsfähigkeit der Jugendlichen mit dem Abschluß der Kapillarentwicklung abschließt. So ließ sich aus der Beobachtung der Kapillaren, stets im Zusammenhang mit andern Mitteln der Diagnostik,

Verein der Irrenärzte Niedersachsens und Westfalens. 365

in den meisten Fallen eine gewisse Prognose beziiglich der noch zu er- wartenden geistigen Entwicklung der jugendlichen Geistesschwachen stellen.

Auf Joddarreichung antworteten die Formen, die kapillaroskopisch als zu Ende entwickelt galten, mit unliebsamer Erregung, wahrend die noch entwicklungsfähigen Formen entweder unbeeinflußt blieben oder vielleicht das Tempo ihrer Entwicklung beschleunigten.

(Erscheint ausführlich im Archiv für Psychiatrie und Nervenkrank- heiten.)

Dräsicke-Hamburg: Demonstration des Zentralnervensysiems einer Echidna.

Rapmund-Wunstorf: Zur Trinkerbehandlung.

Die entmündigten Trinker auf diese beschränken sich die Aus- führungen werden zur Behandlung in der Provinz Hannover in der Anstalt zu Wunstorf untergebracht.

Der Vormund beantragt die Aufnahme beim Landesdirektorium und hat nach Genehmigung die Zuführung zu veranlassen.

In der Anstalt wird der aufgenommene Trunksüchtige nach genauer ärztlicher Untersuchung umgehend einer seiner körperlichen Leistungs- fähigkeit und seinem psychischen Befinden angepaßten Beschäftigung zugeführt. Diese sowie eine genau geregelte Lebensweise wird neben der psychischen Beeinflussung durch den Stationsarzt als Hauptfaktor der Therapie angesprochen.

Entlassung erfolgt erst nach mindestens einem Jahr, und zwar unter der Form einer dreimonatigen Beurlaubung.

Die Zahl der Aufnahmen stieg nach dem Kriege rasch wieder an bis zu 59 im Jahre 1926.

Entlassen wurden in den letzten fünf Jahren 53, davon sind 18 vor- läufig geheilt, 18 als gebessert, 17 als im ganzen ungebessert anzusprechen.

Worin sind diese wenig günstigen Resultate begründet ?

Erstens in der Persönlichkeit dieser entmündigten Trinker, die fast durchgehend schwere Psychopathen sind; sodann in dem Milieu, in das sie zurückkehren; dann in gewissen Nachteilen der Anstaltseinrichtungen und der geltenden Bestimmungen; schließlich im Verhalten der Vormund- schaftsrichter, der Wohlfahrtsämter, der Vormünder, der Polizeiorgane und vor allem der Ehefrauen.

Die hier notwendige Aufklärung erscheint uns als dankbare Aufgabe für die mit der Außenfürsorge betrauten Ärzte. Der Vormund muß Berufs- vormund sein.

In der Anstalt selbst muß ein sorgfältig ausgebautes Progressiv- system eingerichtet werden, ungeeignete Elemente sind ins Arbeitshaus zu überführen. Gelingt es dann noch, einen gewissen Einfluß auf das Milieu und die Beschäftigungsform des entlassenen Alkoholkranken zu gewinnen und alle durchgehend einer Abstinenzbewegung zuzuführen, so dürften sich die Heilungsaussichten vielleicht noch etwas günstiger gestalten lassen.

Reinelt-Osnabrück: Bemerkungen zur gesteigerten Arbeits- therapie.

366 Verhandlungen psychiatrischer Vereine.

Nach Wiirdigung der Vorteile der gesteigerten Arbeitstherapie schilderte Vortragender an Hand von Tabellen die Erfolge in der Prov. Heil- und Pflegeanstalt Osnabriick (85,6% Manner, 70% Frauen ohne jegliche Abziige). Trotz aller Geschicklichkeit und Langmut der Arzte und des Pflegepersonals gibt es aber stets Falle, die alle Beschaftigungsversuche vereiteln (z. B. schwere Katatonien, Verwirrtheits- und Erregungszustande, Widerstand der Angehörigen der besseren Stände) oder die besser nicht beschäftigt werden (z. B. schwere Melancholien, Kachexien). Deshalb ist es wenig erklärlich, wie von manchen Anstalten bis 100% Beschäftigte veröffentlicht werden. Selbstverständlich wird der Prozentsatz nach der Gunst der Anstaltsverhältnisse und des Krankenmaterials stets schwanken. 100% Beschäftigte können aber nur Zufallsergebnisse oder die Folge einer besonderen Berechnungsart sein. Solche gekünstelten Berechnungen (Abzug der aus körperlichen und psychischen Gründen nicht Beschäftigten) verbieten sich aber, da dem subjektiven Ermessen ein weiter Spielraum eingeräumt ist, auch bringen sie die Gefahr der falschen Beurteilung der Leistungsfähigkeit sonst gleichwertiger Anstalten mit sich. Die Einführung einer einheitlichen Berechnungsart zur Erzielung eines einwandfreien Ver- gleichsmaterials ist daher notwendig. Die Einigung über die Frage, wann ein Kranker als beschäftigt anzusehen ist, ist dazu Vorbedingung. Es wird vorgeschlagen, alle Kranken, die überhaupt, wenn auch mit zeitlichen Unterbrechungen am Tage, sich nutzbringend beschäftigen, als beschäftigt anzusehen, die so gefundene Zahl wie früher mit der Gesamtzahl aller Kranken zu vergleichen; spielerische Betätigung ist keine Beschäftigung, Abzüge irgendwelcher Art dürfen nicht gemacht werden. Nur so erhält man ein einwandfreies Vergleichsmaterial für statistische und wissen- schaftliche Fragen. Die einsetzende Rekordsucht nach 100% Beschäfti- gung kann der gesteigerten Arbeitstherapie sonst nur schaden.

Diskussion: Friedländer (Lindenhaus) weist in der Diskussion darauf hin, daß sich eine ausgedehnte Beschäftigungstherapie auch in alten Anstalten durchführen lasse. Bei fehlenden Tagesräumen könne man sich durch gewisse Umstellungen unter der Opferung einiger weniger Betten behelfsmäßig geeignete Tagesräume erschließen.

Bei der Zuführung zur Beschäftigungsbehandlung machten nach den Erfahrungen von Lindenhaus die frischen Fälle geringere Schwierigkeiten als die alten Anstaltsprodukte. Aber auch da gelinge es bei genügender Energie und Geduld in den meisten Fällen, die Kranken noch aus dem Bett und zum mindesten an eine einfache Beschäftigung zu bekommen. Es sei natürlich nicht in allen Fällen möglich, die Kranken bis zu Leistungen von erheblicher praktischer Nutzbarkeit zu bringen, das Wichtigste sei aber, besonders bei den ganz alten, verkommenen Fällen, daß man wenigstens eine weitgehende Sozialisierung der Kranken und ein allmähliches Wieder- erwachen ihrer geistigen Regsamkeit erziele.

Trotz alledem gehörten einige Fälle aber nach wie vor wenigstens für eine begrenzte Zeit ins Bett, so z. B. die unter körperlicher Erschöpfung einhergehenden Zustände. Besondere Schwierigkeiten machten auch die sich den Mischzuständen nähernden, unter einer ausgesprochen ge- reizten Note einhergehenden Depressionszustände: hier müsse bei der An- wendung der Beschäftigungsbehandlung mit größter Vorsicht und In-

Verein der Irrenärzte Niedersachsens und Westfalens. 367

dividualisierung vorgegangen werden. Nach den Erfahrungen von Linden- haus seien Frauen oft leichter an eine nutzbringende Beschäftigung zu bringen als Männer, da bei ihnen die eingeschliffenen Assoziationsbahnen der weiblichen Betätigung mit Haus- und Handarbeiten vorteilhafter zu verwerten sind als bei den mehr oder weniger auf differenzierte Erwerbs- tätigkeit eingestellten Männern.

Was die Berechnung der Beschäftigungszahl betreffe, so müßten un- bedingt die körperlich Kranken von der Gesamtzahl der Kranken zunächst abgezogen werden, weil sonst ein ganz schiefes Bild entstehe. Wie wolle man irgendwelche Vergleiche ziehen, wenn z. B. auf einer Abteilung plötz- lich gehäufte Grippe-Erkrankungen auftreten, von denen andere Abteilun- gen verschont bleiben ? Es könne überhaupt nicht dringend genug davor gewarnt werden, mit den Zahlen der beschäftigten Kranken einen Sport zu treiben. Es trete schon hier und da die Gefahr auf, daß einzelne Ver- waltungen die Tüchtigkeit einer Anstaltsleitung nach der Zahl der be- schäftigten Kranken und nach dem sich möglichst auch im Anstalts-Haus- halt auszuwirkenden Nutzeffekt beurteilen. Solchen Bestrebungen müsse von vornherein energisch entgegengetreten werden. Es müsse im Gegensatz dazu immer darauf hingewiesen werden, daß die Beschäftigung eine Heil- maßnahme sei, und zwar eine Heilmaßnahme, die unter Umständen auch Geld kostet (durch eine größere Anzahl von Pflegepersonen, Beschaffung von Beschäftigungsmöglichkeiten usw.).

Ebensowenig sei es zu billigen, wenn die Direktoren größerer An- stalten die Fähigkeiten ihrer Abteilungsärzte in erster Linie nach der Zahl der beschäftigten Kranken beurteilen wollten, wenn auch natürlich ein tüchtiger, sich intensiv mit seinen Kranken beschäftigender Arzt im all- gemeinen auch in dieser Beziehung größere Erfolge erzielen wird. Die tag- liche Feststellung der Zahl der beschäftigten Kranken sei hauptsächlich zur dauernden Schärfung der Selbstkritik für den behandelnden Arzt wichtig, nicht aber zur Propagierung eines statistischen Sports.

Zu diesem Zweck empfehle sich das in Lindenhaus eingeführte System der täglich über jede Abteilung durch das Oberpflegepersonal zu erstatten- den Berichte, die nach folgendem Schema eingeteilt sind:

Gesamtzahl der Kranken: . 1. Davon bettlägerig: —; davon körperlich krank: . 2. Davon außer Bett: a) davon beschäftigt: —; b) davon unbeschäftigt: —. Die bettlägerigen nicht körperlichen Kranken werden jeden Tag nament- lich aufgeführt. Dieses Schema gebe jeden Tag dem Abteilungsarzt und dem Direktor ein genaues Bild über den Stand der Beschäftigung und veranlasse den Arzt, seine eigenen Maßnahmen immer wieder nachzu- prüfen: das sei aber der vordringlichste Zweck aller solcher Aufstellungen und wichtiger als alle Statistiken.

Fleck, Göttingen: Beobachtungen an alten Fällen von Schizophrenie.

Verf. hat bei seinen Untersuchungen 47 Fälle von Kranken mit Schizophrenie im Auge, die sich seit 20 Jahren in Anstaltspflege befinden.

368 Verhandlungen psychiatrischer Vereine.

Dies Material läßt infolge seiner Auswahl gewiß annehmen, daß es sich um Schizophrene im engsten Sinne handelt. Dabei zeigte sich, daß die Anwendung von Kretsehmers Fassung des charakterologischen Begriffs des „Schizoiden‘‘ auf diese Kranken recht unbefriedigend blieb, vor allem auch hinsichtlich der psychästhetischen Proportion. Auch die Gleich- setzung des „Schizoids‘‘ mit dem Autismus, wie sie von manchen Seiten versucht wurde, klärt diesen Begriff in keiner Weise. Die psychiatrische Charakterologie wird die großen Vorwürfe des Cycloiden, vor allem aber des Schizoiden, weiter bearbeiten müssen.

(Erscheint andernorts ausführlich.)

Frensdorf-Hildesheim: Kasuistisches zum $ 1569 BGB. F. be- richtet über eine Hysterica M...... , die ihr Kind mit dem Revolver erschoß. Gemäß $ 51 StGB. wurde sie freigesprochen. Im Ehescheidungs- gutachten zog Dr. Frensdorf die von Huebner „Das Eherecht der Geistes- kranken‘ S. 72 zitierte reichsgerichtliche Entscheidung vom 30. 3. 20 heran, nach der die geistige Gemeinschaft aufgehoben ist, wenn der er- krankte Ehegatte nicht mehr imstande ist, seine Teilnahme an dem körper- lichen und geistigen Wohl des Ehegatten und der Kinder in Handlungen zu betätigen. Gemäß dieser Entscheidung hielt der Gutachter die geistige Gemeinschaft für aufgehoben und die Bedingungen des $ 1569 für erfüllt, und zwar hatte die geistige Störung die Höhe der Geisteskrankheit im Sinne des $ 1569 in dem Moment erreicht, in dem die Frau ihr Kind erschoß. Dr. F. führt ferner aus, daß in praxi die Ehescheidung bei einer schweren Hysterie oft den größten Schwierigkeiten begegnet, und daß es bei der jetzigen Rechtslage für den Gutachter notwendig ist, sich nicht nur die rechtlichen, sondern auch die sozialen Folgen seines Gutachtens weitgehend zu überlegen. Eine Änderung des Ehescheidungsrechts in dem Sinne, daß schwere Zerrüttung des Ehelebens zur Ehescheidung genüge, sei notwendig. Das Gutachten wird andernorts ausführlich veröffentlicht.

Nach Eigenberichten.

Frensdorf (Schriftführer).

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Berichte über das Irrenwesen des Auslandes.

XVI,

Report of the commissioner for mental Hygi giene (Union of South Afrika). Von Dr. Nothaass-Hubertusburg (Sa).

Es lagen mir die Berichte über die Mental-Hygiene der südafri- kanischen Union für die Jahre 1923—25 vor. Der Berichterstatter, I. P. Dunston, bespricht eingangs das starke Anwachsen der Geistes- kranken in der Union, die sich in den letzten 15 Jahren mehr als ver- doppelt haben (ohne das Wachstum der Bevölkerung als Vergleich mit anzuführen) und die beklagenswerten Zustände, die sich infolge der starken Uberfiillung der Anstalten gezeigt hatten. Da die Kriegs- laufte auch in der Union Neu- oder Erweiterungsbauten von Anstalten nicht zuließen, muß jetzt überall zu Aushilfsmaßnahmen gegriffen werden. Es mußten Betten auf Korridore und Veranden gestellt und vielfach auch Frühentlassungen vorgenommen werden. Diese erhöhten nach den Erfahrungen des Berichterstatters die Gefahr der Rückfälle und gaben mehrfach zu Klagen Anlaß, die von Behörden über Ver- brechen und Prostitution ehemaliger Kranker geführt wurden, wenn diese in ein ungünstiges Milieu entlassen werden mußten. In einem Falle mußte eine Anstalt für schwachsinnige Kinder zu gleicher Zeit mit Geisteskranken belegt werden, woraus bald große Unzuträglich- keiten sich ergaben.

Einen breiten Raum nehmen im folgenden die Erörterungen über die psychische Hygiene ein. Während früher mit der Behandlung der Kranken in der Anstalt die Tätigkeit des Irrenarztes erschöpft war, bezeichnet Ref. jetzt als den wichtigsten Teil der irrenärztlichen Arbeit die Aufgaben, die außerhalb der Anstalt, also innerhalb der Gemeinde entstehen. Jede psychische Hygiene muß bereits mit dem Kind be- ginnen und muß die geistig Abwegigen im frühesten Stadium ent-

Zeitschrift für Psychiatrie. LXXXIX. 24

370 Bericht über das Irrenwesen des Auslandes.

decken und sämtliche sozial Auffälligen zu erfassen suchen. Die Be- handlung der Geisteskranken, die Erziehung der geistig Defekten, die Betreuung der jugendlichen Kriminellen, der Prostituierten, der Süchtigen, der Trinker und der Haltlosen sind die weit gesteckten Ziele der psychischen Hygiene. Um diesen Forderungen gerecht zu werden, ist in der Union damit angefangen worden, den obersten Erziehungs- behörden der einzelnen Provinzen der Union beratende Psychiater und psychologisch vorgebildete Ärzte beizugeben, die, wie der Verf. sich ausdrückt, für die psychische Hygiene von derselben Wichtigkeit sind wie die Bakteriologen für die körperliche Hygiene. Ferner wurden 2 Institute für Schwachsinnige geschaffen und ein Heim für „Kranke mit Frühsymptomen und für zu geistigen Störungen Disponierte‘‘, das einer Irrenanstalt angegliedert ist und sich bisher schon sehr bewährt haben soll. Damit sämtliche Ärzte diesen Aufgaben der psychischen Hygiene gerecht werden können, wurden auf 2 Universitäten Kurse eingerichtet, in denen die Medizinstudierenden in ,,Mental-Hygiene“ und in psychologischer Medizin ausgebildet und geprüft werden. 1921 wurde ferner ein „nationales Komitee’ gegründet, das bisher schon sehr nützliche Arbeit in der Erziehung und Aufklärung der Bevölke- rung geleistet und die Regierung durch seine verschiedenen Zweige und lokalen Wohlfahrtseinrichtungen wesentlich unterstützt hat. Besuche bei entlassenen Kranken und Untersuchungen der häuslichen Bedin- gungen gehören mit zu den Aufgaben der Unterorgane dieses Komitees. Aus wirtschaftlichen Gründen hält der Berichterstatter es für das Beste, den gesamten Aufgabenkreis der psychischen Hygiene in einer obersten Zentralbehörde zusammenzufassen, während die Irrenanstal- ten die lokalen Zentren sein müssen, von denen aus die in der psychi- schen Hygiene zu leistende Arbeit auszugehen hat.

Wie vielseitig die Aufgaben der psychischen Hygiene sind, zeigt Ref. des näheren auf dem Gebiet der Schulhygiene. Nach Erhebung der Vor- und Familiengeschichte, nach Erörterungen über das Milieu, in dem das Kind aufgewachsen ist, werden mit Hilfe nichtsprachlicher Gruppentests, deren Anwendung eine besondere Ausbildung und prak- tische Erfahrung erfordert, Untersuchungen gemacht und so die Zahl der Hilfsschulbediiritigen festgestellt. Für den Unterricht dieser Kinder hält Berichterstatter die Hilfsschule für besser, in der nach Begabung, nicht nach Jahren gesondert wird, weil in nur angegliederten Hilfs- schulklassen die schwachen Kinder zu sehr dem Gespötte der Gesunden ausgesetzt sind. Alle diese defekten Kinder werden in zentralen Re- gistern geführt, woraus sich später die Polizei und die Jugendbehörden

Nothaass, Report of the commissioner for mental Hygiene usw. 371

vertrauliche Informationen holen können. Die Schwierigkeiten, den Schwachsinnigen später geeignete Arbeitsgelegenheit zu verschaffen, sind in Südafrika besonders groß, da alle niedrigen Arbeiten schon aus Prestigegründen von Schwarzen und Farbigen ausgeführt werden.

Endlich unterstreicht Berichterstatter noch eine Forderung, die er bereits früher aufgestellt hat: Alle straffällig gewordenen Jugend- lichen sind grundsätzlich dem Psychiater vorzuführen, da nach sta- tistischen Erhebungen in der Union 25—30% dieser Jugendlichen De- fekte aufweisen. Diese Untersuchungen sollen nicht in öffentlichen Irrenanstalten und des schlechten Einflusses dieser Jugendlichen wegen nicht in Erziehungsanstalten vorgenommen werden, sondern in Spezial- anstalten, wo dann auch asoziale, noch erziehungsfähige Kinder unter- gebracht werden können. Ferner werden schwachsinnige Mädchen so lange in Rettungsheimen zurückgehalten, als sie im fortpflanzungs- fähigen Alter stehen. Seit 3 Jahren werden nun in der Union auch die Kinder dieser schwachsinnigen Mädchen bis zum 7. Lebensjahr, und wenn nötig, noch darüber hinaus, zum Teil in Heimen untergebracht, zum Teil durch Fürsorger betreut. Soweit sie ebenfalls schwachsinnig oder geistig defekt sind wie ihre Mütter, werden sie gleichfalls verwahrt. Bleiben sie frei von Defekten, dann erfolgt ihre Entlassung aus der Fürsorge.

Die zahlreichen, den Jahresberichten beigegebenen Tabellen, aus denen die Krankenbewegung, die Diagnosen, Todesursachen hervor- gehen, bieten nichts Erwähnenswertes.

24*

Kleinere Mitteilungen.

Die nächste Versammlung des Deutschen Vereins für Psychiatrie findet am 23., 24. bezw. 25. Mai 1929 in Danzig statt. Als Referate sind in Aussicht genommen:

4. Die Frühentlassung der Schizophrenen; Referenten Obermedi- zinalrat Dr. Römer-Karlsruhe und Professor Dr. Maier-Ziirich. _

2. Die künftige Gestaltung der Irrenanstalten unter besonderer Be- rücksichtigung der offenen Fürsorge, der offenen Nervenabteilungen und der Abteilungen für Stichtige; Referent Obermedizinalrat Dr. Kolb- Erlangen.

3. Über Psychosen bei Kreislaufstörungen; Referenten Professor Dr. Thiele-Berlin und Professor Dr. Spielmeyer-München.

Vorträge, die sich diesen Referaten anschließen, sollen in erster Linie berücksichtigt werden.

Anmeldung von Vorträgen erbeten an Prof. Dr. G. Ilberg, Dresden- Blasewitz, Schubertstr. 44 I.

Die Versammlung der Gesellschaft deutscher Nervenärzte soll in der letzten Hälfte der 1. oder 2. Septemberwoche 1929 in Würz- burg stattfinden. Referatenthema: neuere Gesichtspunkte über die Be- ziehungen zwischen Infektionen und Nervensystem. Referenten: Pette- Hamburg und Spielmeyer-München. Die Gesellschaft wählte Kinier Wilson (London) und M. 9. Frey (Würzburg) zu korrespondierenden Mit- gliedern.

In Leipzig wurde eine psychotherapeutische Gesellschaft für Mitteldeutschland als Ortsgruppe der Allg. ärztl. Gesellschaft für Psychotherapie gegründet. Geschäftsführender Ausschuß i. A.: Reiss- Dresden, Sigrist-Leipzig, Goldstein-Magdeburg. Geschäftsführer: Jolowiez- Leipzig, Harkortstr. 1.

Die psychiatrisch-neurologische Klinik Heidelberg, die erste psychiatrische Klinik, welche ausschließlich für Forschung und Unter- richt errichtet wurde, hat ihr 50 jähriges Bestehen am 20. und 21. Ok- tober 1928 in schlichter Feier begangen. Professor Wilmanns gab einen Rückblick auf die Entwicklung der Psychiatrie in Baden mit besonderer Berücksichtigung der psychiatrischen Kliniken und einen Ausblick auf die

Kleinere Mitteilungen. 373

weitere Entwicklung ihrer Forschungsgebiete. In den Vorträgen wurde auBerdem der Leistungen Karl Fiirstners, Emil Kraepelins und Franz Nissis insbesondere von deren Schülern gedacht. Die Allgemeine Zeitschrift ftir Psychiatrie, die der Heidelberger Klinik manche anregende Arbeit verdankt und den größten Wert auf die Zusammen- arbeit zwischen den psychiatrischen Kliniken und den Heil- und Pflege- anstalten für Geistes- und Nervenkranke legt, drückt ihre besten Glückwünsche aus.

In dem beachtlichen Werk: „Die Familienärztin“, ein um- fangreiches Nachschlagebuch von Dr. med. Bella Müller, München, das der Frau für ihre persönliche Hygiene und die Erkennung und Verhütung von Krankheiten ihrer Familie gewidmet ist, sind auch die Nerven- und Geisteskrankheiten verständnisvoll behandelt. Es ist gewiß schwierig, gerade über diese Krankheiten volkstümlich, nutzbringend und geschickt zu schreiben; dies ist der Verfasserin, die offenbar auch über Kenntnisse und Erfahrungen auf diesem Gebiete verfügt, ausgezeichnet gelungen. Sehr zweckmäßig ist die populäre Schilderung der Hypochondrie und der Hysterie, klar und übersichtlich die Beschreibung des manisch-depressiven Irreseins. Das Jugendirresein ist kurz, aber in umfassender Weise, be- handelt. Bei der Beschreibung des Alkoholismus wird der Abstinenz- Vereine gebührend gedacht; leider entspricht die Aufzählung der Trinker- Heilanstalten nicht den bestehenden Verhältnissen. Auch die Schilderung der Behandlung der Morphinisten wird den modernen Anschauungen nicht gerecht. Sehr wertvoll sind aber die Ratschläge, die über die Pflege Geisteskranker außerhalb der Anstalt erteilt werden.

Natürlich sind die nervösen und psychischen Krankheiten nur ein kleiner Teil des großen Werkes, das in die 4 Teile: Gesundheitspflege, das Kind, Krankenpflege und Heilkunde zerfällt. Von der Krankenpflege sind die Abschnitte: Häusliche Krankenpflege, Heilkräuter und Haus- apotheke auch für die Pfleger und Schwestern der Irrenanstalten sehr beachtlich. Licht- und Wasserbehandlung, Abreibungen, Bäder, Schwitz- kuren und Massage sind anschaulich dargestellt. Unser Pflege-Personal könnte anhand dieses Buches über diese durchaus kritisch beschriebenen Methoden, auch über verschiedene bewährte Hausmittel und Heilkräuter- tees, zum Nutzen der Kranken mancherlei lernen. Einzelnes freilich, wie die Behandlung mit Thyreoidintabletten, gehört nicht in ein populäres Buch, sondern darf nur vom Arzt verordnet und muß von ihm kontrolliert werden. Das Süddeutsche Verlags-Institut Julius Müller, München, hat das Werk mit einer großen Anzahl guter, teils farbiger Bilder sehr schön ausgestattet. G. Ilberg.

Personalnachrichten.

Nekrolog Mercklin. Den Freunden und der näheren Umgebung hatte der bedrohliche Gesundheitszustand Mercklins in den letzten zwei Jahren Sorge gemacht. Der in dem zarten Körper wohnende starke Wille zum Leben, die Schaffensfreude und die Schaffenskraft täuschten zwar zu-

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weilen noch über den Ernst der Erkrankung hinweg. Aber zu Beginn dieses Jahres mußte der Nimmermiide seine Tätigkeit aufgeben. Der Verfall der Körperkräfte nahm rasch zu. In Wiesbaden, wo er Hilfe suchte, bettete er sich mit Heldenmut auf ein langes, schweres Krankenlager. Am 26. Juni diktierte er noch einen Brief, in welchem er mit der ruhigen Sachlichkeit des Arztes, ergeben in das Unabwendbare sein eigenes qualvolles Leiden schil- derte. Des Augenlichtes beraubt, zeitweise benommen, fast ertaubt und ge- lähmt welkte er dahin. Am 21. Juli siegte der Tod und nahm uns einen un- serer Besten. Am 15. August fand eine Trauerfeier in der Anstaltskirche in Treptow a.d. Rega statt, an der gar viele teilnahmen, die diesen Mann im Leben geliebt und aufrichtig verehrt hatten. Auf dem Anstaltsfried- hofe ruht er jetzt neben seinem hoffnungsvollen, ihm durch ein jähes Schicksal entrissenen Sohn. Er liegt dort inmitten seiner Kranken, für die er gearbeitet und gesorgt hat. Ein weihevoller, waldumrauschter Ort in dem von ihm so sehr geliebten Pommernlande, das ihm zur zweiten Heimat geworden und dem er die reichsten Gaben seines Wissens und Wirkens geschenkt hat.

August Mercklin wurde am 5. Januar 1856 (24. Dezember 1855 nach russ. Kalender) in Dorpat geboren. Dort war sein Vater Professor der alten Philologie. Die Mutter war eine geborene Carus. Die Eltern des Vaters waren erst aus Deutschland eingewandert. Mercklin ent- stammte also einer echt deutschen Gelehrtenfamilie. Im Elternhause wurzelte die glühende Liebe zum Deutschtum, von der Mercklin sein ganzes Leben durch getragen wurde und die er immer betätigte und freudig bekannte. Diese Liebe wurde genährt im Verkehr mit den studenti- schen und akademischen Kreisen in Dorpat, wo damals in Sang und Sitte ein ehrliches Schwärmen für das Deutschtum gepflegt wurde. Im Eltern- hause wurzelte aber auch der wissenschaftliche Drang, der Mercklin mit auf den Lebensweg gegeben wurde. Der Vater muß ein vielseitig gebildeter Gelehrter gewesen sein mit mannigfaltigen Interessen. Die wissenschaft- lichen Arbeiten des Vaters liegen zum Teil auf ästhetischem Gebiete. Zweimal in seinem Leben war der Vater vom Baltenlande nach Rom ge- pilgert gewiß ein Unternehmen für die damalige Zeit. Die Begeisterung für die klassische Kunst und wohl auch die Sehnsucht nach Italien, die Mercklin im Leben später nicht ganz im Maße seiner Wünsche befriedigen konnte, mögen sich aus den Neigungen des Vaters herleiten. Die Be- schäftigung mit den Schriften Viktor von Hehns und namentlich das tiefe, innere Verhältnis zu Goethe, das der Persönlichkeit Mercklins im ganzen späteren Leben einen besonderen Zug aufprägte, werden dabei mit ein- gewirkt haben. Nehmen wir hierzu noch die hohe musikalische Ver- anlagung Mercklins Mercklin war nicht nur ein guter Kenner der musikalischen Literatur, sondern auch ein achtenswerter Könner auf der Geige —, so können wir die Vielseitigkeit und das Ausmaß der Allgemein- bildung ermessen, mit der Mercklin seine Umgebung immer an sich heran- zuziehen wußte und die, gepaart mit der Feinheit seines Wesens, seiner Persönlichkeit die Aufschrift gab. Eine oft fast zu große Bescheidenheit hätte ihm zuweilen falsch ausgelegt werden können, wenn Mercklin nicht zur rechten Zeit mit Mut und Kraft seinen starken Willen durchzusetzen gewußt hätte. Trotz der gewinnenden Verbindlichkeit in der Form blieb

Kleinere Mitteilungen, . 375

sich Mercklin stets genau dessen bewußt, wer er war übersehen konnte niemand diesen Mann von kleinem, fast schwächlichem Körperbau. Seine medizinischen Studien betrieb Mercklin mit Eifer und großer Gewissenhaftigkeit in Dorpat. Doch fand er dabei immer noch Gelegen- heit, der Romantik des Studentenlebens seinen Reiz abzugewinnen. Mercklin war Mitglied der damaligen Landsmannschaft Livonia. Über der alten deutschen Kulturstätte im Baltenlande wehte damals ein frischer Firnwind. Viele Gelehrte hat uns das Baltenland geschenkt, welche die deutschen Katheder im Reiche später zierten, und mit vielen unter ihnen pflegte Mercklin engste Freundschaft. Darunter war der Vornehmsten einer Ernst von Bergmann. Im Jahre 1878 schloß Mercklin seine medizinischen Studien mit der Staatsprüfung in Dorpat ab. Er wurde dann Volontärarzt in der städtischen Irrenanstalt zu Rothenberg bei Riga und promovierte 1879 in Dorpat. Das Jahr darauf gab er sich neurologischen Studien bei West- phal in der Charité hin. Im Jahre 1880 war er dann Assistenzarzt in der Binswangerschen Privatirrenanstalt zu Kreuzlingen bei Konstanz. Im Jahre 1881 kehrte er wieder nach Rothenberg zurück, wo er zweiter Arzt und Vertreter des Direktors wurde; 1881 heiratete Mercklin Alexandrine von Kieter, die Tochter eines baltischen Oberstaatsanwalts, mit der er bis zu seinem Lebensende in überaus glücklicher Ehe lebte, obwohl das Schicksal ihn und seine Gattin recht hart anfaßte, „Der Niedergang des Deutschtums in den baltischen Schulen bewog mich zur Übersiedelung nach Deutschland.‘‘ Als verheirateter Mann mußte er in Deutschland von neuem die Studien aufnehmen. Die deutsche Staatsprüfung bestand er in Gießen im Jahre 1892 mit dem Prädikat „sehr gut‘. Zuerst stand Mercklin wohl ziemlich ratlos mit seiner Familie im Reiche. Aber Siemens erkannte mit Scharfblick, welche Kraft in Mercklin zu gewinnen war, und er sicherte sich und der Provinz Pommern diese Kraft. Im Jahre 1893 wurde Mercklin zweiter Arzt und stellvertretender Direktor an der Pro- vinzialirrenanstalt in Lauenburg i. Pom. Mit Übernahme der zweiten Arztstelle in Lauenburg war Mercklin in die Anstaltslaufbahn eingetreten, derer von da ab ununterbrochen bis an sein Lebensende angehörte. Er war glücklich, ein reiches Arbeitsfeld in der Provinzialverwaltung Pommerns vorzufinden. Nur kurze Zeit, nachdem er angestellt war, wurde er mit der Aufstellung der Bedarfsnachweisung und des Bauprogramms für die dritte pommersche Provinzialirrenanstalt zu Treptow a.d. Rega beauf- tragt. Mit dem Eintritt in die pommersche Anstaltslaufbahn hatte Mercklin nicht nur seine alte Heimat aufgegeben, sondern er mußte auch wohl auf einen anderen liebgewordenen Plan verzichten, auf den Plan, dereinst klinischer Lehrer zu werden. | Bei seinem Eintritt in die pommersche Anstaltslaufbahn hatte Mercklin schon ein reiches Wirken hinter sich. Er hatte von Rothenberg aus sich eine ansehnliche konsultative Privatpraxis in Riga geschaffen. Er war in Riga bereits in jungen Jahren Vorstand des dortigen Ärzte- vereins gewesen, und er hatte damals schon eine stattliche Anzahl wissen- schaftlicher Aufsätze veröffentlicht. Seine Arbeiten in der Charité und gewiß auch seine Tätigkeit in der Privatirrenanstalt am Bodensee haben ihn immer wieder zu klinischen Überlegungen und zum Theoretisieren

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angeregt. Eine Persönlichkeit wie Mercklin war dazu geschaffen, in einer Privatirrenanstalt das Beste zu geben und dabei für sich wissenschaftliche Erfahrungen zu sammeln. Sehr gern erzählte Mercklin von seiner Tätig- keit in der Binswangerschen Privatanstalt. Gerade in den Privatirren- anstalten finden wir ein Krankenmaterial, das wir in den Kliniken und in den Anstalten zumeist vergeblich suchen. Gerade hier, wo man die An- fangszustände geistiger Störung, die rudimentären Psychosen und die Reaktionen der feinergegliederten Psyche beobachten kann, gerade dort findet man ja am besten einen Einblick in die Ursachen der Abirrungen vom menschlichen Denken, Wollen und Fühlen, und auf der anderen Seite hinwiederum war gerade eine Persönlichkeit von der Feinfühligkeit Merck- lins geschaffen, zum Einfühlen und zum Verstehen der seelischen Kämpfe und Bedrückungen bei den Kranken, die nach Herkommen, Bildung und Intelligenz auf einer höheren Stufe stehen, bei Kranken, die im öffent- lichen Leben vor ihrer Erkrankung bedeutungsvoll hervorgetreten waren.

Eine Fähigkeit, die Mitgift einer glücklichen Veranlagung, die Gabe, die eigene Seele in die Seele der Leidenden hineinzutragen, womit Mercklin die Kranken an seine Persönlichkeit in vorbildlicher Weise zu fesseln wußte und die wir, seine Mitarbeiter, an ihm so oft bewunderten, mag er wohl dort unten in der Privatanstalt besonders zur Entfaltung gebracht haben.

An Aufmunterungen in die akademische Laufbahn einzutreten, hat es Mercklin in den jungen Jahren gewiß nichtgefehlt. In Kraepelins gastfreiem Hause in Dorpat traf Mercklin sich häufig mit führenden Gelehrten, und wie auch gerade Kraepelin unseren Mercklin hochschätzte, das habe ich einmal aus Kraepelins eigenem Munde in Heidelberg erfahren. In alten Akten meiner Anstalt fand ich ferner ein Handschreiben Kraepelins, in welchem er mit anerkennenden Worten der wissenschaftlichen Tüchtigkeit Mercklins gedenkt und ihn zum Sachverständigen in einem Aufsehen erregenden Kriminalfall den Gerichtsbehörden vorschlägt.

Die neue Tätigkeit in der Provinzialanstaltslaufbahn wird Mercklin anfangs schwer geworden sein. Viel zeitraubende, verwaltungsmäßige Kleinarbeit mußte mit in den Kauf genommen werden. Kanzleitechnische Notwendigkeiten mögen anfangs als Steifheit und Engherzigkeit empfunden worden sein. Aber Mercklin hatte immer ein offenes Auge für die Tat- sache, daß die Irrenversorgung nicht lediglich ein ärztliches Problem, sondern im gleichen Maße ein volkswirtschaftliches, ein polizeiliches und ein sozialhygienisches Problem darstellt. Verwaltungsmäßige Kleinarbeit ist unumgänglich notwendig, und unter der Führung von Siemens, den Mercklin so gern als seinen Meister anerkannte, wurde Mercklin sehr bald zu einem vorbildlichen Verwalter und Organisator, zu einem Anstalts- leiter, mit dem die Gewissenhaftigkeit, die Schlichtheit und die Pflicht- treue des alten preußischen Beamten unzertrennlich verwachsen war und der doch dabei immer in erster Linie der wissenschaftliche Arzt, der Lehrer und Führer seiner Ärzte und der treueste und beste Berater seiner Kranken blieb.

Die Anstalt Treptow a.d. Rega wurde zu dem Ort, wo Mercklin seinen ureigensten Wirkungs- und Pflichtenkreis fand. Die Anstalt, nach seinem arm erbaut, wurde im Jahre 1900 eröffnet, und im J ahre

Kleinere Mitteilungen. 377

1907 wurde die Anstalt wiederum nach den Plänen Mercklins erweitert. Die Anstalt und ihre Einrichtungen tragen das Gepräge der Persönlich- keit Mercklins. Die Provinzialverwaltung, die sehr bald die großen Vor- züge und die unbedingte Zuverlässigkeit Mercklins erkannte, schenkte ihm unbegrenztes Vertrauen und ließ ihm in seinem Wirken für die Anstalt und für die Provinz freie Hand. So hat dann Mercklin Namhaftes leisten können auf dem Gebiete der Irrenversorgung und auf dem Gebiete der Krankenfirsorge. Die Bestrebungen nach einer möglichst freien Be- handlung der Irren, die damals schon im Gange waren, hat Mercklin sehr gefördert besonders dadurch, daß er in Vorträgen und in praktischer Durchführung für die zellenlose Behandlung der Kranken eintrat. Hand in Hand mit diesen Bestrebungen ging ein Plan zur Gründung eines Hilfs- vereins für Geisteskranke, und von je her war Mercklins Auge gerichtet auf die Erfassung, Betreuung und Behandlung der außerhalb der Anstalt lebenden Kranken. Die psychiatrischen Erfahrungen und Einsichten sollten eben nicht lediglich den Anstaltsinsassen zugute kommen. Noch in den letzten Jahren seines Lebens, als Mercklin seine Tätigkeit als Di- rektor bereits niedergelegt hatte, trat er mit Wärme ein für die Verwirk- lichung der Simonschen Ideen in der Irrenbehandlung durch den Ausbau der Arbeitstherapie und ebenso erkannte er die Bedeutung in den Be- strebungen, die auf Einrichtung und Durchführung einer offenen Fürsorge abzielen.

Mit dem Rücktritt Siemens’ im Jahre 1916 wurde Mercklin mit der Stellung als ärztlicher Berater des Landeshauptmanns betraut. In dieser Stellung machte er sich seinem Vorgesetzten so unentbehrlich, daß er diese Stellung noch weiter inne haben konnte, nachdem er im Jahre 1924 die Altersgrenze überschritten hatte und zum Rücktritt von seinem Amte als Direktor der Anstalt Treptow a.d. Rega gezwungen wurde. Mercklins Urteile und Erfahrungen kamen dabei der Verwaltung und den vier Anstalten zugute, und gerade wir, seine Mitarbeiter, wissen, was wir ihm aus dieser Zeit zu verdanken haben. Mercklin blieb eben bis zu seinem Tode nicht nur unser verehrter Senior, sondern auch unser Führer in dienstlichen und auch in außerdienstlichen Angelegenheiten.

Im Laufe der Jahre wurde der Pflichtenkreis Mercklins immer größer und größer. Die Anstalt Treptow wuchs, und die ärztliche Leitung wie die Verwaltung stellten immer größere Anforderungen. Eine große Anzahl von Ärzten hat Mercklin psychiatrisch geschult und auch mit den Schwierigkeiten des Verwaltungsdienstes vertraut gemacht. Aber daneben wurde sein ärztlicher Rat viel begehrt auch außerhalb der Anstalt und von den pommerschen Ärzten wurde er in Fällen von psychisch-nervösen Erkrankungen sehr gern und sehr oft zu Rate gezogen. Daneben war Mercklin ein bei den Gerichten hochgeschätzter Gutachter. Die letztere Tätigkeit mußte er noch erweitern, als er zum Mitglied des gerichtsärzt- lichen Ausschusses ernannt wurde. Jahrzehntelang war er Mitglied der pommerschen Ärztekammer, und er war ein eifriges Mitglied, welches das Vertrauen aller Kollegen besonders zu gewinnen wußte. Nach der Nieder- legung der Anstaltsleitung in Treptow wurde Mercklin als Beirat mit in die staatliche Besuchskommission genommen. Einen gründlicheren Kenner des Anstaltswesens konnte man hiezu ja wohl nicht finden. Seine Kritik

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nahm jeder von uns gerne hin. Denn wir wußten, sie war sachlich, treffend, frei von jeder eigenen Überhebung und frei von jeder persönlichen Vor- eingenommenbheit.

Nehmen wir noch hinzu, daß Mercklin dem Vorstande des deutschen Vereins für Psychiatrie angehörte, daß er Vorstand des lokalen Ärzte- vereins in Treptow a.d. Rega war, daß er eine Zeitlang noch das Amt eines Stadtverordneten in Treptow a.d. Rega versah, so möchte man glauben, die Stunden seines Tages wären überreich ausgefüllt gewesen, und doch fand Mercklin immer wieder Zeit, um sich wissenschaftlichen Studien, Überlegungen und Arbeiten hinzugeben. Er war ein besonders feiner Beobachter der Kranken. Gern verbreitete er sich am Kranken- bette über Wesen und Entstehung der Zwangsgedanken, und gerade auf diesem Gebiete hatte er viele feinen Beobachtungen gesammelt im Kreise von Verwandten und Bekannten, mit denen er in engerem Verkehr stand. Wir, Mercklin’s Ärzte, fingen bei solchen Gesprächen an zu vermuten von Schizophrenie träumte man damals noch nicht welch feiner Anzeiger die Zwangsvorstellung für die sich bereits auswirkende Ichentzweiung ist und es ist nur zu bedauern, daß Mercklin alle diese Beobachtungen nicht schriftlich niedergelegt hat.

Aber das Wissensgebiet, das Mercklin von je her am meisten anzog, das war seine Stellungnahme zum klinischen Begriff der Paranoia. Im Jahre 1879 erschien die Inaug.-Diss. des damals 24 jährigen Mercklins, betitelt: „Studien über die primäre Verrücktheit“. Wir Älteren wissen welche Schwierigkeiten und Uneinigkeiten die Abgrenzung dieses Krank- heitsbegriffs in wissenschaftlicher Beziehung gebracht hat. Gewiß gehörte Mut dazu, für einen Anfänger, der ja doch Mercklin damals war, den eigenen Standpunkt auf diesem von den führenden Geistern viel umstritte- nen Gebiete zu vertreten. Mercklin hat sich in dieser Schrift gegen die Einreihung der Zwangsvorstellung, als einer Unterart der Verrücktheit gewendet. Vielleicht hat Mercklin damals schon erkannt, daß bei dem systematisierenden Kliniker die Neigung besteht, den Rahmen der einzel- nen Krankheitsgruppen etwas zu weit zu bemessen, daß die Klärung dort zu erwarten ist, wo man beginnt, ätiologisch und pathogenetisch ver- schiedenartige Leiden aus einem geschlossenen Krankheitsbegriff auszu- stoßen. Daß gerade die Herausstellung dieses klinischen Krankheits- bildes, die Systematisierung dem Forscher die schwierigsten Aufgaben brachte, das hat Mercklin von je her eingesehen, und er ist durch Jahr- zehnte hindurch mit regem Interesse den Wandlungen der klinischen Meinungen in diesem Bereiche gefolgt. Genußreich waren für uns Ärzte Mercklins Aussprachen über diese Fragen. Mercklin erblickte in der Para- noia gleich mehreren Forschern seiner.eit eine reine Vérstandeskrankheit. Dem war entgegenzuhalten, daß in der kranken Psyche doch im Allge- meinen die Wirkung der gleichen Grundgesetze wahrzunehmen sein müßte, wie in der gesunden Psyche, daß aber in der allgemeinen Psychologie für Grundanschauungen, welche die tiefsten und einschneidensten Interessen einer Persönlichkeit berühren, die Herkunft aus dem Affektleben und die Unableitbarkeit aus logischen Kriterien schon längst als erwiesen gegolten haben. Aus dem Widerspruch der Auffassung mögen damals Anschauungen vorgetragen worden sein, welche vor der heutigen Kritik nicht mehr be-

Kleinere Mitteilungen. 379

stehen würden. Die Meinungen haben sich oft gewandelt, bis wir uns zu einer mehr ausschließlich konstitutionellen Betrachtungsweise durch- gekämpft haben, die uns wenn wir richtig sehen vor die Türe zu neuen Einsichten stellt. Damals aber pflügte man im Neuland und im Neuland muß man tiefer pfligen. Die um neuere Forschungsergebnisse bereicherten und mit neuen Erkenntnissen beschwingten Nachfahren müßten mit Achtung aufblicken zu Suchern vom Schlage Mercklins, die sich mit feurigem Eifer abmühten, den Grund aufzufinden für die Verfälschung der Wahrnehmungen und die Konstruktionsfehler aufzu- decken, die beim Zimmern des Urteils der kranken Psyche verhängnisvoll werden und das Urteil um seine Tragfähigkeit bringen. Das Studium über Entstehung, Wesen, Verlauf, Ausgang und Abgrenzung dieser Krankheits- form, der Paranoia, hat Mercklin bis ans Lebensende beschäftigt. Eine Monographie über die Paranoia sollte sein wissenschaftliches Lebenswerk werden. Er hat freudig daran gearbeitet. Daß diese Schrift nicht zum Abschluß kam, lag gewiß nicht am fehlenden Eifer Mercklins.

Im Jahre 1910 gründete Mercklin die pommersche Vereinigung für Neurologie und Psychiatrie. In eigenen Vorträgen und Kritiken wußte er dort nicht nur sein wissenschaftliches Können nutzbar zu machen und zur Geltung zu bringen, sondern er wirkte auch auf seine Mitarbeiter zur wissenschaftlichen Betätigung für den Verein.

Ich bringe hier noch eine Aufstellung der wissenschaftlichen Ver- öffentlichungen Mercklins. Diese Aufstellung kann nicht den Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Mercklin hat auch noch in Rußland in wissen- schaftlichen Zeitschriften und in Tageszeitungen kleinere Aufsätze in deutscher Sprache veröffentlicht, deren Aufschrift und Unterbringung mir zurzeit nicht zur Verfügung stehen. Daß Mercklin Mitherausgeber der neurologisch-psychiatrischen Wochenschrift und mit besonders dankens- wertem Eifer Berater der allg. Zeitschr. f. Psych., für welche ich diesen meinen Aufsatz geschrieben habe, war, dürfte dem Leserkreise, an den ich mich wende, bekannt sein.

Die folgenden Aufsätze hat Mercklin veröffentlicht:

. Studien über die primäre Verrücktheit. Inaug.-Diss. Dorpat 1879. . Zur Kasuistik der psychisch-epileptischen Äquivalente. St. Peters- burger Med. Wochenschrift 1881.

3. Zur Symptomatologie der Epilepsia mitior. Westphal-Archiv XVI, 1885.

4. Zerebrale Kinderlähmung und Psychosen. St. Petersburger Med. Wochenschrift 1887.

5. Statistisch-medizinischer Bericht über die Anstalt Rothenberg 1862 bis 1887, Riga 1888.

6. Über Gynäkologiebehandlung bei Psychosen. St. Petersburger Med. Wochenschrift 1889.

7. Über temporäre Asyle für Geisteskranke. Baltische Monatsschrift 1890.

8. Uber Beziehung der Zwangsvorstellung zur Paranoia. Allgem.

Zeitschrift für Psychiatrie 47. Band, 1891.

nN m

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Kleinere Mitteilungen.

. Subkutane Infusion von Kochsalzlösung bei Kollaps nach Ab-

stinenz in akuter Psychose. Zentralblatt für Nervenheilkunde 4891, März.

. Über Hypochondrie. St. Petersburger med. Wochenschrift 1892. . Nekrolog von Holst, Allgem. Zeitschrift f. Psych. 61, S. 700.

. Bemerkungen zur Paranoia-Frage, Vortrag ibid. 66, 941.

. Über Migräne, Vortrag, ibid. 68, 395.

. Über das Mißtrauen und den sogen. Verfolgungswahn der Schwer-

hörigen, ibid. 74, 410.

. Nekrolog Albert Behr, ibid. 76, 129. . Vortrag, Über habituelle und periodische Schlafstörungen, ibid. 76,

590.

. Zum Fachunterricht des Irrenpflegepersonals. Psych. Wochenschr.

1900, 169.

. Eine Dienstanweisung für den Anstaltsgeistlichen, ibid. 1900, 376. . Simulation von Gedächtnisschwäche. Vierteljahrsschrift f. gericht!l.

Medizin u. Öffentl. Sanitätswesen. 3. Folge, X. Suppl. Heft.

. Über das Verhalten des Krankheitsbewußtseins bei der Paranoia.

Allgem. Zeitschrift f. Psych. 1895, 51, 579.

. Zur Prophylaxe der Tuberkulose in den Irrenanstalten. 1896, ibid.

52, 689 u. 806.

. Der Unterricht des Irrenpflegepersonals. Vortrag: Versammlung

nordostd. Irrenärzte Zoppot, 1897, ibid. 53, 575.

. Uber Zwangsvorstellungen im Kindesalter. 1898, ibid. 54, 700. . Demonstration der Grundrisse der Anstalt Treptow, 1898, ibid.

54, 706.

. Uber die Beziehungen der Chlorose zur erblich-nervésen Anlage.

Allgem. Zeitschrift f. Psych. 1899, 56, 222.

. Zum Fachunterricht des Irrenpflegepersonals. 1901, ibid. 58, 760. . Bemerkungen zur zellenlosen Behandlung. 1902, ibid. 59, 944. . Uber die Anwendung der Isolierung bei der Behandlung Geistes-

kranker. 1903, ibid. 60, 907.

. Aus russ. Anstaltsberichten. Referat Psych.-neurol. Wochenschr.

1904, 491.

. Zur Frage der öffentlichen Schlaf- und Ruhehallen. Ibid. 1911/12,

219.

. Psychiatrische Fälschungen auf Lichtbildbühnen. Ibid. 1912/13, 193. . Ein psych. Merkblatt. Ibid. 1913/14, 273.

. Friedrich Siemens zum 4.11.1919. Ibid. 1918/19, 271.

. Notiz zur Anwendung des Curral. Ibid. 1924/25, 49.

. Die Psychosen unserer kleinstädtischen Bevölkerung. Festschrift

zum 25 jährigen Bestehen der Provinzialheilanstalt Lauenburg i. Pom. am 5. 6. 1914, 142.

. Aufgaben und Ziele der praktischen Psychiatrie. Pommersche

Wohlfahrtsblätter, 131.

. Über Opiumanwendung bei zyklothymen Depressionen und Schlaf-

störungen. Allg. Zeitschr. f. Psych. 84. Band 1926.

. Die Fürsorge für Geisteskranke in Palästina. Allg. Zeitschr. f.

Psych. 83. Band 1926.

Kleinere Mitteilungen. 381

Die Sorge, die uns alle die Leiter der Kliniken wie die Leiter der Anstalten gegenwärtig am härtesten bedrängt, die Sorge um einen geeigneten Ärztenachwuchs, sie lag Mercklin besonders am Herzen. Wir alle können es nur beklagen, daß er sein tiefdurchdachtes Referat über diese Frage in diesem Jahre nicht mehr in Kissingen halten konnte. In Kissingen sprach man von der Zweigleisigkeit des psychiatrischen Arbei- tens. Ja wenn nur die beiden Gleise wenigstens nicht voneinander weg- laufen möchten! Wann endlich kommt auf beiden Seiten die Einsicht dafür, daß nur ein Miteinander und nicht ein Nebeneinander beide Teile

fördern kann. Ungerechtigkeit und mangelndes Verständnis für die Auf-.

gaben und die Lebensnotwendigkeiten des anderen Teiles wirken hemmend -auf beiden Seiten. Allein die unvoreingenommene Schaffung einer Arbeits- gemeinschaft zwischen Anstalt und Klinik, welche in gerechter Weise die Bedürfnisse der beiden Krankeninstitute berücksichtigt, müßte hier das Endziel der Bestrebungen sein. Unter den deutschen Irrenärzten wüßte ich keinen, der in diesem Streit zum vermittelnden Synthetiker so geschaffen gewesen wäre, wie Mercklin es war. Ihm stand das Wissen und die Er- fahrung auf beiden Gebieten zu Gebote. Er genoß das Vertrauen auf beiden Seiten, und er brachte das mit, was hier am meisten not tut: die Feinheit und die Sicherheit der Persönlichkeit, die hier Berater und Urteiler in dieser schwierigen Frage sein muß.

Mercklin war eine leicht und nachhaltig zu beeinflussende Per- sönlichkeit. Er war fremder Logik immer zugänglich und er verschmähte es, bei der Vertretung seiner Meinungen jemals verletzend zu werden. Sein an sich zurückhaltendes Wesen hinuerte ihn aber nie am sicheren Auf- treten. Seinen Kranken gegenüber konnte er streng sein, wo es nötig war. Doch sie nahmen die Strenge gerne hin, da sie doch immer mit reiner Herzensgüte gepaart war. Wir, seine Mitarbeiter, wurden im Verkehr mit der Persönlichkeit Mercklins der Erkenntnis gewiß, daß der vornehmste Irrenarzt immer doch der bleibt, der neben seiner wissenschaftlichen Tüchtigkeit sich auf das größte Ausmaß der Allgemeinbildung stützen kann und der seinen Kranken das Beste zu spenden gewillt ist von dem, was ihm an gutem Herzen in die Brust gepflanzt wurde.

August Mercklin wird nicht vergessen werden.

W. Horstmann-Stralsund.

Verstorben: Primararzt Dr. Schweighofer, Direktor i.R. der Landesanstalt für Geisteskranke in Salzburg, Dr. Berkow in Dresden, San.-Rat Dr. Bauer in Ueckermünde und San.-Rat Dr. Flügge in Bedburg.

Geheimrat Professor Dr. Bumke wurde zum Rektor der Uni- versität München gewählt.

Zum Ehrenmitglied des ärztlichen Vereins München sowie der Gesellschaft deutscher Nervenärzte wurde Hofrat Professor Dr. Wagner von Jauregg, zum Ehrenmitglied des Vereins der Wiener Ärzte wurde Geheimrat Professor Dr. Bonhöffer, zum Ehrenmitglied des Vereins für Psychiatrie und Nervenkrankheiten wurde Professor Dr. Aschaffenburg- Köln ernannt, letzterer noch zum Mitdirektor am Kriminalwissenschaft- lichen Institut der Universität Köln.

Friedrich v. Müller feierte seinen 70. Geburtstag. Ärehl hat die Per- sönlichkeit und die Bedeutung des Jubilars in einem außerordentlich

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382 Kleinere Mitteilungen.

warmherzigen Artikel der Miinchner medizinischen Wochenschrift vom 14. 9. 28 gewürdigt und hier auch der Arbeiten gedacht, welche die Neuro- pathologie F. v. M. verdankt.

Zum 70. Geburtstag Gabriel Antons bringen das Archiv für Psychiatrie |

(84. Band 4. Heft) und das Journal für Psychologie und Neurologie (37. Band) das wohlgelungene Bild des hochverehrten Jubilars. Das Journal f. Psych. u. Neur. schreibt in einem lateinischen Gliickwunsch: Tu homo et medicus, magister et vir doctus, secreta psychica investigando

insanos sanavisti et omnes, qui te noverunt, divino quodem spiritu in-

flammasti.

Dr. Karl John, bisher Oberarzt am Sanatorium Kahlbaum in Gör- litz trat als Oberarzt in die Heilanstalt Christophsbad in Göppingen ein; Obermedi:inalrat Dr. Schubert, Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Lüben (Schlesien) trat in den Ruhestand und verlegte seinen Wohnsitz nach Ansbach.

Als Nachfolger Wagner v. Jauregg’s wurde Prof. Dr. Otto Poetzl-Prag,

als Nachfolger Berze’s wurde Dr. Alfred Mauczka-Ybbs nach Wien be-

rufen. In Ybbs wurde Dr. Sickinger-Wien zum zweitenmal Direktor.

Der Herausgeber bittet die Kollegen, ihm Personalien ihrer An- stalt (besonders wichtige Versetzungen, Jubiläen, Todesfälle) regelmäßig mitzuteilen.

Berichtigung.

Herr Prof. Bonfiglio hatte die Liebenswürdigkeit, auf 2 Unstimmigkeiten die bei der Übersetzung unterlaufen sind und leider im Druck nicht mehr be- rücksichtigt werden konnten, aufmerksam zu machen. Demnach muß es auf Seite 188 heißen: Der italienische Entwurf hält an dem traditionellen Prinzip der moralischen Verantwortlichkeit gegenüber dem von der Positiven Straf- gesetzschule verteidigten Prinzip der gesetzlichen Verantwortlichkeit fest, an dem er... unterscheidet und auf Seite 215: . . . so können wir dennoch heute schon anerkennen, daß ..., wodurch die beigefügte Anmerkung des Übersetzers sich erübrigt. Dr. Nothaaß.

Die s. Z. an den Herrn Autor abgesandte Korrektur ist leider nicht in seine Hände gelangt. Der Herausgeber.

Dominierende Vorstellung, überwertige Idee, ‘ZAwangsvorstellung, Wahnidee.

Von Obermedizinalrat Dr. Adam-Regensburg.

Jedermann hat an sich selbst wohl schon folgende Beobachtung gemacht. Wenn er eine Aufgabe zu erledigen hatte, an welcher er persönlich tiefen innern Anteil nahm, die mit anderen Worten für ihn besonders stark gefühlsbetont war, so empfand er, wenn äußere Umstände das völlige Durchdenken der mit der Aufgabe verbundenen Komplexe bis zur Lösung verhinderten, ein Unbehagen, etwas „Ungelöstes‘‘, nicht im Gleichgewicht Befindliches in seinem seelischen Gefüge.

Der Mensch fühlt eben in solchen Fällen subjektiv den sehr inten- siven Wunsch oder besser: einen ihm selbst unangenehmen Zwang in sich, den begonnenen Gedankengang zu Ende zu führen; und zwar besteht dieser „Denkzwang‘“ so lange fort, bis die Verbindung der einzelnen Vorstellungsreihen untereinander zum logischen Abschluß gekommen ist. Immer wieder drängen sich die noch nicht zu einem Ganzen zusammengefügten Vorstellungsgruppen in den Vordergrund und unterdrücken andere, nicht in innerem Zusammenhange mit ihnen stehende Gedanken, die etwa daneben auftauchen wollen.

Wegen der also vorherrschenden Stellung solcher Gedankenreihen hat man dieselben „dominierende Vorstellungen‘ genannt. Sie bestehen, solange sie affektbetont sind, und verschwinden gewöhn- lich, sobald das innere Interesse an ihnen erlischt, was meist mit der Lösung des Problems eintritt. Nicht immer jedoch ist dies der Fall, z. B. dann nicht, wenn die Gefühlsbetonung so intensiv war, daß sie die Lösung überdauert. Hierfür ein einfaches Beispiel: Jemand er- strebt einen für ihn und das Glück seiner Familie wichtigen Posten. Während der Wartezeit bis zur Entscheidung dominiert der für ihn stark affektbetonte Gedanke daran, immer wieder drängt er sich vor, und zwar oft. dermaßen, daß er sogar die Gespräche im Familienkreise

Zeitschrift für Psychiatrie. LXXXIX. 25

384 Adam,

vorwiegend beherrscht. Die sehnlichst begehrte Stelle wird einem gliicklicheren Bewerber zugesprochen. Der Gedanke an das mit der Stelle in Verbindung gebrachte und nun vielleicht fiir gefahrdet angesehene Wohl der Familie und die dadurch verursachte starke gemütliche Bindung läßt die Affekterregung bei unserm Interessenten noch weiter nachklingen, so daß auch die mit der Stellenbesetzung zusammenhängenden Vorstellungen nicht sogleich verschwinden, sondern solange fort ‚‚dominieren‘‘, bis andere, affektiv mächtigere, vielleicht unter Mithilfe zielbewußter Willenstätigkeit, an ihre Stelle getreten sind.

Dominierende Vorstellungen sind, wie schon aus diesem kleinen Beispiel hervorgeht, an sich nicht krankhafter Natur, sie können im Gegenteil im normalen praktischen Leben oft eine nicht unwichtige Rolle spielen. Alle intensiv Vorwärtsstrebenden, alle mit einer weit- tragenden Idee Beschäftigten, alle die, welche über einem großen Plane brüten, stehen wenigstens zeitweise, oft auch ihr ganzes Leben lang, so sehr unter dem Einfluß einer dominierenden Vorstellung oder eines solehen Komplexes, daß dieser ständig den Gedankenablauf und auch den Gedankeninhalt beherrscht und für die Dauer seiner Herr- schaft sogar Ruhe und Schlaf kaum zu ihrem Rechte kommen läßt.

Bei einem wird die für das Fortwirken der dominierenden Vor- stellung notwendige Affektbetonung durch Sucht nach Ruhm und Ehren, beim andern durch Gier nach Reichtum wachgehalten, beim dritten ist es das Bestreben, seiner Familie dereinst ein sorgenfreies Dasein zu sichern, und was derlei Beweggründe mehr sind. Charakte- ristisch für alle diese Menschen ist es, daß in ihrer Psyche außer der sie beherrschenden Vorstellung so gut wie nichts Platz zu haben scheint, und daß sie daher nach außenhin bisweilen den Eindruck der Ein- seitigkeit erwecken. Typisch für solche Vorstellungen ist es ferner, daß ihre Träger sie nicht etwa als einen Fremdkörper, als etwas Krank- haftes empfinden, daß ihnen jedoch der Zwang, immer wieder die gleichen Vorstellungsgruppen durchdenken zu müssen, subjektiv peinlich und unbehaglich ist.

Während wir so cum grano salis! die dominierende Vor- stellung als etwas Subjektives, als einen Bestandteil tätigen Denk- prozesses bezeichnen können, würde man „die überwertige Idee‘ gewissermaßen als etwas Objektives, über der psychischen Person. Schwebendes betrachten dürfen, als eine Art abgerundeten Gedanken- komplexes, welcher sich auf Grund besonderer affektbetonter Erleb- nisse, Erfahrungen u. a. über die Persönlichkeit gelagert hat und nun

Dominierende Vorstellung, überwertige Idee, Zwangsvorstellung usw. 385

ihrer Denkweise eine ganz bestimmte, zuweilen absonderliche oder doch ungewöhnliche Richtung verleiht. Die überwertige Idee be- herrscht ihren Träger und lenkt auch nicht selten bis zu gewissem Grade sein Denken und Tun; er betrachtet sie als seinen „Leitstern“ und kann sie nicht abschütteln, bzw. sie nicht „zum Abschluß bringen“, ohne sie jedoch subjektiv als quälend zu empfinden, wie wir es als Eigenschaft der dominierenden Vorstellungen sahen. |

` Jaspers definiert (Allg. Psychopathologie) überwertige Ideen als „solche Überzeugungen, die von einem sehr starken, aus der Persön- lichkeit und ihrem Schicksal verständlichen Affekt betont sind und infolge dieser starken Affektbetonung ..... fälschlich für wahr ge- halten werden. Psychologisch besteht kein Unterschied zwischen der intensiven Verfolgung einer wahren Idee durch einen Forscher, einer leidenschaftlichen Vertretung einer politischen oder ethischen Überzeugung und solchen überwertigen Ideen“.

Nach Kraepelin (Psychiatrie 8. Aufl.) versteht man unter über- wertigen Ideen ‚einmal die durch Erziehung und Gewöhnung in uns befestigten und in Fleisch und Blut übergegangenen allgemeinen Lebensanschauungen, sodann aber auch Vorstellungsgruppen, die durch irgendein gemütlich erregendes Erlebnis erzeugt wurden und wegen ihres Gefühlstones einen dauernden bestimmenden Einfluß auf Denken und Handeln gewinnen können. In der Regel werden dabei solche Erlebnisse in Betracht kommen, die geeignet sind, einschneidende Änderungen der gesamten Lebensverhältnisse herbeizuführen“.

Auch überwertige Ideen brauchen nicht krankhaft begründet zu sein, sie können sogar noch in gesundem Rahmen für manche Menschen einen dauernden und tüchtigen Ansporn zum Vorwärts- streben bilden, können jedoch auch, wie z. B. beim bekannten Renten- kämpfer, unter starker Übertreibung einer einst etwa wirklich durch- gemachten Erkrankung, in übler Wechselwirkung mit Resten der- selben, diese wieder verschlimmern und selbst aus einfacher Über- wertigkeit schließlich ins Krankhafte hinüberwuchern. |

Ganz ähnlich ist es bei Menschen, die infolge immer wiederholter, durch rein äußere Ursachen, wie Verkettung ungünstiger Umstände oder allgemein schlechte Wirtschaftslage, veranlaßter Mißgeschicke und Fehlschläge auf den Gedanken eigener Minderwertigkeit verfallen. Erlangen diese Ideen unbesiegbare Kraft, so fließen sie nicht selten mit depressiven, ans echt Wahnhafte streifenden Vor- stellungen zusammen.

Überwertige Ideen müssen auch inhaltlich nicht verkehrt sein;

26*

386 | Adam,

das, was an ihnen nicht normal erscheint, ist ihre übermäßige Gefühls-

betontheit, welche sie, auch gegen den (bei Nervösen ja meist schwa- chen!) Willen, immer wieder den Gedankengang beherrschen läßt Und je stärker nun der Wunsch des Betreffenden ist, die Idee aus. seinem Denken auszuschalten, desto weniger wird ihm in der Regel sein Vorhaben gelingen.

Mit diesem letzten Gedanken geraten wir in die Nähe eines andern Begriffes, der sog. „Zwangsvorstellung‘: Dieser Name wurde zu- erst durch v. Krafft-Ebing (1867) gebraucht. Westphal, welcher zehn Jahre später diese Erscheinung näher untersuchte, forderte als Eigenschaft einer Zwangsvorstellung zunächst Unversehrtheit der Intelligenz, sodann den Mangel einer affektiven Grundlage (Gegensatz zur überwertigen Idee). Als eigentliches Zwangsmoment jedoch bezeichnete er das Sicheindrängen einzelner Vorstellun- gen oder Vorstellungsgruppen in das Bewußtsein des Trägers gegen den Willen desselben, bei Unfähigkeit, sie aus der Denkreihe zu ent- fernen. Schließlich gehört es, nach Westphals Definition, zum Bilde einer Zwangsvorstellung, daß sie von ihrem Träger selbst als fremdartig und abnorm erkannt wird.

Diese Umschreibung des Begriffes „Zwangsvorstellung‘‘ kann man wohl auch heute noch als im Ganzen zutreffend gelten lassen, präziser jedoch scheint mir die Definierung Bumkes, wie er sie in seinem „Lehrbuch der Geisteskrankheiten‘ (1924) gibt: B. bezeichnet Zwangs- vorstellungen als „dominierende Vorstellungen, deren auch vom Patienten als krankhaft empfundene Unverdrängbarkeit durch die gewöhnlichen, normalpsychologischen Anlässe der Dominanz (Stim- mung, Gefühlsbetonung, Abschlußunfähigkeit) nicht oder doch nicht ausreichend erklärt wird, ..... und deren Inhalt der Kranke bei ruhiger Überlegung aus logischen Gründen ablehnt“.

Jaspers (loc. cit.) betrachtet die Zwangsideen als dadurch cha- rakterisiert, „daß das Individuum einen meist bedeutungsvollen Inhalt gleichzeitig glaubt und doch weiß, daß der Inhalt falsch ist. Es be- steht ein Wettstreit zwischen Überzeugung und Wissen vom Gegen-

teil, der sich sowohl vom Zweifel wie von fester Überzeugung unter-

scheidet‘“. Von den wichtigeren Unterarten der Zwangsvorstellungen möchte ich folgende nennen: ~ 1. Zwangsmäßiges, immer wiederholtes Durchdenken von Erlebnissen des Tages während der Nacht (bei nervös Erschöpften) 2. Fortwirken rhythmischer Melodien (Tanzmusik, Gassenhauer)

Dominierende Vorstellung, überwertige Idee, Zwangsvorstellung usw. 387

3. Die sehr große Gruppe der Zwangsbefürchtungen und Zwangs- skrupel (z. B. ob Haustür geschlossen, ob Licht gelöscht, ob einem Patienten nicht eine zu große Dosis Medikament verabreicht u. a.).

4. Zwangshandlungen (z. B. das Nichtberühren der Fugen zwi- schen den Steinplatten beim Beschreiten des Gehsteiges, das Betupfen bestimmter Zaunlatten beim Gehen entlang eines Zaunes usw.).

5. Sog.. Kontrastideen (häßliche, z. B. sexuelle Gedanken beim Betrachten eines Kruzifixes, beim Beten u. dgl.).

6. Phobien, mit Ziff. 3 verwandt (Errötungsangst, Platzangst, Lampenfieber, Bazillenangst u. ähnl.).

In allen diesen Fällen erkennt der Kranke sehr wohl die Unsinnig- keit seines Denkens und Handelns, kann sich jedoch trotzdem dem Zwange nicht entziehen.

Und diese letztgenannte Eigenschaft ist nun ein grundlegender Unterschied der Zwangsidee gegen die „Wahnidee“, welche von Kraepelin (loc. eit.) definiert wird als „krankhaft verfälschte Vor- stellung, die der Berichtigung durch Beweisgründe nicht zugänglich ist‘‘, oder richtiger m. E. von Bumke als Verfälschung des Urteils und nicht einfach als formale Denkstörung betrachtet, als „krankhaft entstandener und zugleich unkorrigierbarer Irrtum“ bezeichnet wird.

Damit ist ausgesprochen, daß eine Wahnidee 1. inhaltlich verkehrt, 2. aus krankhafter Ursache entstanden und 3. unkorrigierbar ist.

Die Wahnbildungen, welche vorwiegend gemütliche Beziehungen des Kranken zu seiner Umgebung darstellen und deshalb fast immer gefühlsbetont sind, können nach ihrer äußern Richtung in zwei große Gruppen eingeteilt werden: In solche Wahnideen, welche Wünsche und Hoffnungen des Kranken und solche, die Befürchtungen desselben zum Inhalt haben.

Zur ersten Kategorie zählt man alle Wahnbildungen expansiver Art, deren hervorragendste Vertreter die Größenideen sind (z. B. bei manischen Erkrankungen, bei der progressiven Paralyse und bei paranoiden Störungen).

In die zweite Klasse gehören die Kleinheits- und Versündi- gungsideen, Verarmungs- und Vernichtungsideen, ferner die große Gruppe der Verfolgungs- und Eifersuchtsideen; auch die sog. hypochondrischen Wahnideen mit ihren Beziehungen zur Körperlichkeit des Patienten gehören hierher.

Beide Gruppen von Wahnideen sind in praxi natürlich nicht streng voneinander zu scheiden, sondern kommen in der gleichen

388 | = Adam,

Krankheit und bei demselben Patienten nicht en in mannigfachster Mischung nebeneinander vor.

Was nun die Verkehrtheit des Inhalts einer Wahnidee anbe- trifft, so darf man selbstverständlich nicht jede sachlich unrichtige Behauptung als Wahnbildung bezeichnen; es kann sich zunächst eben- so gut um einen Irrtum, bzw. um Aberglauben oder auch um eine be- wußt falsche Behauptung, um eine Lüge handeln. Diese Möglichkeiten muß man unter Berücksichtigung des Bildungsgrades und des sozialen Milieus des Untersuchten durch genaue Feststellung der einzelnen Faktoren ausschließen, ehe man die Diagnose auf „Wahn- idee‘ stellt. Daß überhaupt, vor allem andern, erst einmal die Un- richtigkeit einer Angabe sicher konstatiert sein muß (was nicht immer ganz leicht ist; cf. Eifersucht!), das bedarf wobl einer besondern Be- gründung nicht. |

Bei der Beantwortung der Frage nach der Entstehung der Wahnidee gehen wir am besten von dem aus, was oben über die überwertige Idee gesagt wurde. Wenn der Inhalt derselben ins Krank- hafte hinüberspielt (was ja, wie wir sahen, nicht der Fall sein muß), so bedeutet es nur einen graduellen Unterschied, ob nur überwertig oder bereits wahnhaft, je nachdem, ob der Kranke noch genügend Urteilsfähigkeit und Energie besitzt, um über die (immer stark gefühls- betonten!) Vorstellungen Herr zu werden oder nicht. Mit anderen Worten: Im letzteren Falle vermag der Kranke die inhaltlich ver- kehrten Vorstellungen nicht mehr zu korrigieren, u. zw. erstens infolge der starken Gefühlsbetonung dieser Vorstellungen und zweitens in- folge seiner Urteilsschwäche. Und je ausgesprochener diese ist, desto unsinniger wird der Inhalt der Wahnidee.

Aus diesen Betrachtungen heraus wird dann auch die dritte Kar- dinaleigenschaft der Wahnidee, die Unkorrigierbarkeit, plau- sibel erklärt. Über diese ist nicht mehr viel zu sagen: nur muß man sich, auch bei eventuellen therapeutischen Bestrebungen, von vorn- herein klarmachen, daß die Unkorrigierbarkeit einer ausgesprochenen Wahnidee vollständig ist, so vollständig, daß der Kranke mit uner- schütterlicher Gewißheit in sie verstrickt ist, daß keine noch so ein- leuchtenden Beweise, ja, keine demonstratio ad oculos ihn von ihr abzubringen vermögen. Und diese fast dämonische Unentrinnbarkeit wird dem Beobachter erst dann voll verständlich, wenn er sich die Art der Entstehung der Wahnidee vergegenwärtigt.

Fassen wir zum Schluß nun die Hauptkriterien der vier Begriffe

Dominierende Vorstellung, überwertige Idee, Zwangsvorstellung usw. 389

unsers Themas noch einmal kurz zusammen, so kommen wir ungefähr auf folgende Formeln: |

Dominierende Vorstellung: subjektiv zwanghaft, deshalb unangenehm empfunden; Gefühl der Unfreiheit im Denken.

Überwertige Idee: objektiv zwanghaft (der Träger „identi- fiziert sich‘‘ mit der überwertigen Idee), deshalb ohne wesentlichen Einfluß auf die Empfindungslage.

Beide: auf dem Boden besonderer Gefühlsbetonung erwachsen, beide „abschlußunfähig‘: inhaltlich können beide normal sein.

Zwangsvorstellung: subjektiv zwanghaft, bisweilen (doch nicht immer!) Fehlen affektiver Grundlage; Gefühlsbetonung und Abschlußunfähigkeit kein notwendiger Faktor; inhaltlich krankhaft und auch subjektiv als krankhaft erkannt, deshalb von der Vernunft abgelehnt.

Wahnidee: objektiv zwanghaft; inhaltlich verkehrt; aus krank- hafter Ursache entstanden; unkorrigierbar.

Therapeutische Erfahrungen bei chronischen Enzephalitikern. » °)

Von W. Kiirbitz.

Von den Erkrankungen an Enzephalitis epidemica, die 1916/17 zuerst auftraten und die sich dann in den folgenden Jahren noch in stark zunehmendem Maße zeigten (Stern-Göttingen nimmt mindestens 20 000 Fälle für Deutschland an), ist bekanntlich ein Teil zur Abheilung gekommen, ein anderer nicht unerheblicher jedoch ist in das chronische Stadium übergegangen, entweder direkt und all- mählich aus dem akuten Zustand heraus, oder über ein pseudo-neu- rasthenisches Zwischenstadium mit Kopfschmerzen, leichter Ermüd- barkeit, reizbarer Stimmung, Schlaflosigkeit gelegentlichen Bewußt- seinsveränderungen usw.

In diesem chronischen Zustand befinden sich nicht nur Erwachsene, sondern auch Kinder und Jugendliche.

Für diese zuletzt genannte Gruppe ist auf Veranlassung des ver- storbenen Prof. Hewmicke unter weitgehender Unterstützung des Sächsischen Arbeits- und Wohlfahrtsministeriums vor 24, Jahren an der Landes-Erziehungsanstalt Chemnitz-Altenhof die 1. Enze- phalitiker-Zentrale gegründet worden. Ueber die daselbst gemachten ärztlichen und heilpädagogischen Erfahrungen sollen die nachstehenden Zeilen einen kurzen Überblick geben.

Im Jahre 1925 wurden aus bescheidenen Anfängen heraus zuerst kindliche und jugendliche Enzephalitiker beiderlei Geschlechts in die Anstalt aufgenommen und am 1. 1. 1926 wurde noch eine kleine Station für überwachungsbedürftige Knaben eröffnet.

1) Aus der Landes-Erziehungs-Anstalt Chemnitz-Altendorf.

2) Nachstehende Mitteilungen waren für die Tagung des Deutschen Vereins für Psychiatrie in Kissingen geplant, konnten jedoch infolge dienstlicher Verhinderung des Referenten daselbst nicht zum Vortrag gebracht werden.

Therapeutische Erfahrungen bei chronischen Enzephalitikern. 391

Im ganzen sind bis zum April dieses Jahres 79 männliche und 26 weibliche Kranke zugeführt worden, unter ihnen befinden sich auch einige Erwachsene, da es für diese in Sachsen eine besondere Zentrale noch nicht gibt. Während ursprünglich Patienten mit allen Graden des chronischen Prozesses hier Unterkunft fanden, ging man später dazu über, die schweren infausten Fälle abzulehnen, um die an sich geringe Bettenzahl mit denjenigen Kranken, bei denen man Besse- rung oder mindestens Stillstand des Prozesses erhoffen konnte, zu belegen.

Trotzdem müssen wir auch jetzt noch oft Aufnahmeanträge ab- lehnen, da die Räume für die überwachungsbedürftigen männlichen Jugendlichen, meist sind es enzephalitische Psychopathen, ständig besetzt sind.

Die zwei Hauptgruppen des chronischen Stadiums sind bekannt- lich: 1. weitgehende Charakterveränderungen und 2. amyostatische Erscheinungen; nicht gar zu selten finden wir auch Patienten, bei denen diese körperlichen und psychischen Anomalien kombiniert vorkommen.

Ein Fall sei herausgegriffen: Gerhard B., 1908 geboren, 24. Dezember 1920 Kopfschmerzen, Delirien, nach drei Tagen Fieber bis zu 39,5°, dieses sank dann schlagartig und am 2. 1. 1921 große Schlafsucht mit erheblicher Mattigkeit. Bis in den Februar hinein noch bettlägerig, dann im Gegen- satz zu früher dreist und anmaßend. Rechte Seite Zuckungen; 1925 merk- liche Verschlechterung, rechte Seite zeigte zunehmende Hemmung; Sep- tember 1926 Blickkrämpfe, Krankheitseinsicht, Suicidversuch. Bei be- sonderen Anlässen beweglich, besucht Theater. Januar 1927 Influenza, während des Frühjahrs Sprache und Bewegungen lebhafter, dann Speichel- fluß. Januar 1928 Aufnahme in die hiesige Anstalt. Starres Gesicht, gebeugte, steife Körperhaltung, langsamer Gang, Finger der rechten Hand und Handgelenk gebeugt; spuckt in den Schlafsaal, ist auch sonst höchst

unsauber, dabei unverträglich, aufdringlich, lügt, stiehlt, respekt- und distanzlos.

Gehen wir nunmehr auf unsere Erfahrungen in der Behandlung chronischer Enzephalitiker über, so sei zunächst bemerkt, daß sich die Therapie in zwei Hauptlinien gabelt: in die ärztliche und in die heilpädagogische; dabei sei jedoch schon betont, daß beide Methoden kombiniert zur Anwendung gelangen müssen, will man nicht von vornherein einen Erfolg unmöglich machen.

Im allgemeinen begannen wir mit der Injektion von Eiweiß- präparaten im Sinne der Reizkörpertherapie und wir verwendeten meist Aolan, später Abijon. Vielfach konnte man dabei die Beob- achtung machen, daß im Lauf der Behandlung und auch kurze Zeit darnach die Amyostatiker etwas beweglicher wurden, jedoch hielt diese Besserung naturgemäß nicht lange an. Wir haben dann Pregl-

392 | Kürbitz,

lösung oder auch Trypaflavin vielfach sowohl bei Parkinsonismus, wie auch bei Pseudopsychopathie injiziert. Vorübergehend war hier gelegentlich ein Zurücktreten der krankhaften Erscheinungen zu beobachten, jedoch konnte man bei Patienten beider Gruppen ge- legentlich Autosuggestion nicht ganz ausschließen; ist doch die Affekt- labilität, auf die mit Recht schon Offermann !) hingewiesen hat, bei der chronischen Enzephalitis eine recht erhebliche.

~ Arsen-Praparate in Gestalt von Leviko oder Fowlerscher Lösung brachten keine, oder nur kurzdauernde geringe Erfolge; inkarnus- kuläre Injektion von Natrium kakodylicum (50 °/, Lösung, bis zu 3 ccm) bewirkten, daß die Patienten in ihrer Haitung eine Zeitlang straffer wurden und daß sie sich vorübergehend geistig und körperlich beweglicher zeigten.

In letzter Zeit wandten wir bei sechs Knaben und zwei Mädchen Impfmalaria an; ein größerer Junge war im Anfang etwas weniger von Blickkrämpfen und von allgemeiner Starre geplagt, doch trat mit der Zeit wieder der alte Zustand ein; bei den übrigen Patienten zeigte sich keinerlei Änderung im Befinden. Verschlimmerung oder sonstige ungünstige Nebenerscheinungen sahen wir nie, deshalb möch- ten wir uns der generellen Warnung Tittingers-Czernowitz ?) vor dieser Behandlungsmethode bei chronischer epidemischer Enzephalitis nicht ohne weiteres anschließen. *)

Leukotropin, Striaphorin usw. hatten keine bleibenden Änderungen des Zustandsbildes zur Folge.

Skopolamin und Atropin haben als symptomatische Mittel ihren anerkannten Wert behauptet. Wir haben diese Medikamente entweder nach Göttinger Muster in fünftägigem Wechsel mit zwei Tagen Pause gegeben oder einzeln, langsam steigend, längere Zeit hindurch.

Gegen die oft lästigen Augenkrämpfe haben wir jetzt mit Luminaletten einen Versuch gemacht, der offenbar Besserung mit sich bringt.

Hyp erpnoe fand sich in erheblichem Maße bei drei Knaben. Es ist dies ein derartig charakteristisches Symptom, daß es bei einem unserer Patienten direkt zur Stellung der Diagnose geführt hat. Er war in dem ärztlichen Aufnahmeattest als erziehungsfähiger Imbeziller geschildert und ist als solcher auch aufgenommen worden; die hier

1) Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 1926 Nr. 38. 2) Ars medici, 1928, Nr. 1. 3) Ausführliche Veröffentlichung wird später noch ersten:

Therapeutische Erfahrungen bei chronischen Enzephalitikern. 393

beobachtete Hyperpnoe ließ aber sofort den Verdacht an Enzephalitis aufkommen und die angestellten anamnestischen Erhebungen be- stätigten im Verein mit den charakterologischen Veränderungen ein- wandfrei diese Vermutung. Therapeutisch gingen wir gegen diese Hyperpnoe mit Adrenalin vor, 3—6 Teelöffel täglich einer Lösung, von der 1% Teelöffel 0,05 mg Adrenalin enthält. Während der Kur und auch noch einige Zeit darnach waren die Anfälle seitener, um dann aber wieder aufzutreten. Auch hier muß bemerkt werden, daß schon vor dem Einsetzen der Therapie der Zustand oft wechselte.

Epileptiforme Anfälle konnten wir in Übereinstimmung mit den in der Literatur niedergelegten Erfahrungen gleichfalls nur hin und wieder beobachten; sie waren bei unserem Material ohne Bedeu- tung, sahen wir doch nie einen Teilschub der Krankheit, in dem epi- leptische Anfälle gehäuft auftraten.

Erhebliche Beachtung verdienen jedoch die bekannten sexu- ellen Triebhandlungen, die besonders auf der Station der wesens- veränderten, aber auch der gehemmten männlichen Patienten jeglichen Alters eine große Rolle spielen; erst kürzlich erfuhren wir von einem erwachsenen, verheirateten Enzephalitiker, der vor einiger Zeit bei uns Aufnahme gefunden hatte, daß er daheim ein 14jähriges Mädchen wiederholt zu unzüchtigen Handlungen verleitet hatte.

Überbliekt man unsere Erfahrungen mit der rein medikamentösen Behandlung allein, so ist diese von sonderlichem, längere Zeit währen- dem Erfolge leider nicht begleitet. Man darf aber nun mit der Arznei- therapie nicht einseitig aufhören, sondern man muß sie zunächst kombinieren mit mancherlei körperlichen Übungen. Marschieren, Turnen, rhythmische Freiiibungen sind für die enzephalitischen Psychopathen und für die Amyostatiker mit und ohne Geistesstarre von erheblicher Bedeutung, Hemmungen werden überwunden und der Sinn für Ordnung und Disziplin wird wieder in ihnen wachgerufen. Dabei legen wir Wert auf zwei Dinge: einmal müssen Pfleger, Schwester und Kindergärtnerin selbst mitturnen, um ein gutes Beispiel zu geben, und sodann lassen wir alle Übungen in Gruppen vornehmen, um den Wettbewerb anzuregen und um die Bemühungen des einzelnen dadurch zu steigern. Häufig verwenden wir dabei seit langer Zeit mit Erfolg Musik, um einen größeren Rhythmus herbeizuführen und um anre- gend auf die Patienten zu wirken.

Passive und aktive Massage hat uns bei den schweren Fällen von Parkinsonismus gute Dienste geleistet; achten muß man dabei stets darauf, bald zur aktiven Betätigung durch den Patienten selbst

394 Kürbitz,

überzugehen, um seine Willenskraft und seine Energie weitgehend zu stärken. l

All’ diese Bemühungen unsererseits sind nun erfreulicherweise keineswegs vergeblich, Erfolge sind durchaus zu verzeichnen, wenn- gleich auch naturgemäß schwere Amyostatiker oft nur geringe oder auch gar keine Fortschritte machen.

Von besonderer Bedeutung ist aber für das ganze Krankheits- bild und damit auch für die Wege, die die Therapie einzuschlagen hat, die Tatsache, daß man die ärztlichen Maßnahmen bei Kindern und Jugendlichen unbedingt vereinigen muß mit heilpädagogischem Unterricht.

Kann man auch durch diese Kombination pseudopsychopathi- sche Wesensänderung oder mehr oder minder schwere Amyostasen nicht restlos zum Verschwinden bringen, so ist doch für beide Gruppen Besserung oder mindestens Stillstand des krankhaften Prozesses sehr wohl zu erzielen; einige Mitteilungen hierüber seien noch gegeben.

Bei Kindern und Jugendlichen, die von chronischer Enzephalitis befallen sind, lag es nahe, ihre geistige Ausbildung nicht brach liegen zu lassen, umso mehr, als die Intelligenz dieser Patienten in manchen Fällen nicht allzuschwer geschädigt ist. Sicherlich ist die Annahme falsch, daB die Enzephalitis epidemica die Intelligenz nie beeintrach- tige, ebenso wie es unrichtig ist, bei schweren Parkinsonzuständen stets einen erheblichen Verlust der geistigen Fähigkeiten anzunehmen. Die Wahrheit liegt hier etwa in der Mitte. Dawson und Conn haben bei 46 Kindern die Durchschnittsintelligenz geprüft und sie niedriger gefunden als bei anderen Patienten. Ferner fanden sie, daß der Intelli- genzrückstand mit der Zeit größer wurde, vor allen Dingen bei Parkin- sonkindern, während bei den Pseudopsychopathen und Normalen kein wesentlicher Unterschied zu erkennen war.

Unser Kindermaterial ist von Dr. Lange in Verbindung mit dem Anstaltsoberlehrer Trümper-Bödemann daraufhin gleichfalls einer Untersuchung nach der Binet-Simonschen Methode unterzogen worden; die eingehenden Ergebnisse dieser Untersuchung werden im 30. Jahrgang der Psychiatr.-neurol. Wochenschrift veröffentlicht werden.

Am meisten betroffen waren, um dies hier kurz zu erwähnen, die- jenigen Patienten, die bis zum 5. Lebensjahr an einer akuten Enze- phalitis epidemica erkrankt waren, aber auch im Alter von 5—14 Jahren ließen sich vielfach Defekte nachweisen, das Intelligenzalter blieb z. B. stehen oder stieg langsam an, während der entscheidende

Therapeutische Erfahrungen bei chronischen Enzephalitikern. 395

Faktor, der Intelligenzquotient, abnahm (Intelligenzquotient = en Ho normal =1). Selbstverständlich wurde voll und ganz auf das Befinden der Prüflinge Rücksicht genommen, sowohl bei den gehemmten Amyostatikern, wie auch bei den oft schwer zu kon- zentrierenden Psychopathen.

Da die Kinder wegen ihres Zustandes nicht j in allgemeine öffent- liche Schulen passen, so werden sie hier in der Landesanstalt von - Pädagogen, die sich mit ihnen besonders abgeben, unterrichtet. Wenn- gleich auch der eine oder andere Amyostatiker gelegentlich während der Unterrichtsstunde ermattet und ruhen muß und wenngleich auch mancher Psychopath wegen seines störenden Verhaltens unter Um- ständen einmal entfernt werden muß, so nehmen die Kinder doch im allgemeinen mit Freude an den Stunden teil. 7

In letzter Zeit ist auch für die Größeren eine Art Fortbildungs- schulunterricht mit Erfolg eingeführt worden. Als sehr wichtig hat es sich dabei erwiesen, daß die Lehrer mit den Haupterscheinungen des Krankheitsbildes vertraut sind, daß sie in ständigem Konnex mit den Ärzten bleiben und daß sie auf die Patienten während des Unter- richts entsprechend Rücksicht nehmen können.

Großen Wert legen wir sodann noch auf die Hebung der manu- ellen Geschicklichkeit durch allerlei häusliche Arbeiten, z. B. kneten, bauen, kleben, ferner durch Beschäftigung im Haushalt, durch Bastarbeiten, Stricken, Nähen usw. Die Knaben werden unter beson- derer Anleitung in den verschiedensten Werkstätten der Anstalt be- schäftigt (Rohrstuhlflechterei, Schneiderei, Korbmacherei, Tischlerei, Buchbinderei, Schuhmacherwerkstatt). Daneben werden sie zur Be- schäftigung im Garten stets mit herangezogen. Diese regelmäßige Tätigkeit wirkt sich auf Ordnung und Disziplin mit der Zeit günstig aus, ebenso wie sie für die Schwerbeweglichen von Vorteil ist.

Wenngleich auch die konstitutionelle Veranlagung des ein- zelnen Kranken nicht unterschätzt werden darf, so ist doch andererseits die ganze Milieuwirkung auch von Wichtigkeit. Unter der ruhigen und konsequenten Führung durch das Personal und unter Hinweis auf geordnetere Patienten läßt sich ein bessernder Einfluß erzielen, eine psychische Beeinflussung ist also oft unverkennbar; ande- rerseits kann man aber auch nicht verschweigen, daß das Beisammen- sein ven mehreren Psychopathen auf engem Raum wenig förderlich wirkt, besonders in sexueller Hinsicht, obschon man auch hier im Lauf der Zeit allmählich weiter kommt.

396 Kürbitz, Therapeutische Erfahrungen bei chronischen usw.

Vorzeitige Entlassung nach Hause haben bei Pseudopsycho- pathen und auch besonders bei Amyostatikern, wie unsere Katamnesen ergeben, eine wesentliche Verschlechterung des Zustandsbildes er- kennen lassen, und das nimmt auch nicht weiter wunder, fehlt doch daheim der Zwang zur geordneten Lebensführung und der ständige, systematisch durchgeführte und wohlüberlegte Zwang, die Glieder zu bewegen. |

Zusammenfassend kann man denn alles in allem sagen, daß bei der chronischen Enzephalitis Jugendlicher eine ärztliche Behand- lung unbedingt verbunden sein muß mit einer heilpädagogischen; diese Kombination bringt sehr wohl Besserung resp. Stillstand des chronischen Prozesses mit sich. Eine derartige gemeinsame Behandlung währt Monate und Jahre hindurch und hat bei vorzeitigem Abbruch rasche Verschlechterung zur Folge. Diese kombinierte Therapie findet am besten in Enzephalitiker-Zentralen statt, die man in Hinblick auf die jugendlichen Patienten zweckmäßig an ärztlich geleitete Erziehungsanstalten angliedert, wie es mit Erfolg in Chem- nitz-Altendorf geschehen ist.

Gesammelte Notizen über unsere Epileptiker, ein Beitrag zur Kenntnis der Epilepsie. +) Von Oberarzt Dr. Ostmann, (Schleswig-Stadtfeld.)

In den ersten fünfundzwanzig Jahren seit 1900 wurden wegen epileptischer Reaktionen und epileptischer Erkrankung aufgenommen 520 Patienten (322 m. und 198 w.), das sind 10% der Gesamtaufnah- men. Das Überwiegen des männlichen Geschlechtes unter unserem Material entspricht den diesbezüglichen Angaben in der Literatur, soweit ich sie bei Kraepelin fand.

Wie überhaupt und allemal die größte Zurückhaltung in de Beurteilung der einzelnen ätiologischen Beziehungen zum epilep- tischen Symptomenkomplex angebracht erscheint, so wären zunächst einmal die angegebenen Ursachen der Kritik zu unterziehen, um durch Ausschluß festzustellen, was alles dann noch als zur genuinen Epilepsie zu rechnen übrig bleibt. | . Ein trauma capitis war in der Vorgeschichte und als Ursache der epileptischen Erkrankung angegeben bei 54 Personen (50 m. und 4 w.). Wenn bei dieser Feststellung schon die ersten Bedenken sich erhoben, ob das angeführte trauma capitis wirklich die Ursache der Erkrankung war, oder ob es vielleicht in einem Anfall erfolgte, mithin die Epilepsie oder die Anlage zu ihr schon vorher bestand und nur den Angehörigen unbekannt geblieben war, so erwiesen sich diese Überlegungen bei näherer Erforschung des einzelnen Falles nicht als unbegründet.

Es stellte sich heraus, daß das Kopftrauma erfolgt war bei 24 Pa- tienten (22m. und 2 w.) im kindlichen Alter bis zu 14 Jahren, bei denen eine für Epilepsie in Betracht kommende erbliche Belastung bestand. Zwei von ihnen hatten das Trauma durch die geburtshilf-

1) Aus der Landesheilanstalt Schleswig, Direktor Sanitätsrat Dr. Dabelstein.

398 Ostmann,

liche Zange erlitten. Unter den Erwachsenen, bei denen die Kopfver- letzung als ursächlich für die Epilepsie angegeben war, war neben ihr erbliche Disponiertheit für die Erkankung vorhanden bei 3 (2 m. und 1 w.), dazu Trunksucht bei 4 (m.) und Potatorium allein bie 5 (m.).

Ein trauma capitis als alleiniger Grund ohne Veranlagung oder sonstige Ursache für Epilepsie wurde festgestellt nur bei 8 (m.) Pa- tienten im kindlichen Alter und 10 (9 m. u. 1 w.) Erwachsenen. Diese 18 bedeuten rund 3,5%, des verarbeiteten Materials. Wiüdermuth berechnete 4%,. Nach Kraepelin weisen 10—20% der Fälle Angaben über Gehirnverletzungen auf. Eine ähnliche Zahl würde auch hier herauskommen, wenn die ganze eingangs erwähnte Ziffer gerechnet wurde. Aber Kraepelin fügt auch hinzu, daß diese Angaben meist schwer zu verwerten sind.

Noch schwieriger als bei den bisherigen Fällen gestaltete sich die Beurteilung der angenommenen ätiologischen Beziehungen bei einer Reihe von 7 Erkrankungen (m.), bei denen kurzweg ein den ganzen Körper erschütterndes Trauma angegeben war. Aber erbliche Be- lastung und Potus waren daneben als Ursache genannt.

Trunksucht des Kranken als ursächliches Moment wurde 78 mal (75 m. und 3 w.) in Betracht gezogen. Darunter befinden sich auch die schon bei dem Kapitel Trauma als ätiologisch unbestimmt er- wähnten Fälle. Auch hier erwuchsen wieder ähnliche Überlegungen wie im vorigen Abschnitt und nach genauer Prüfung, insbesonders der Ausscheidung aller für Epilepsie bedeutsamen erblichen Belastung und der Arteriosklerose blieben für die echte Alkoholepilepsie nur 13 Erkrankungen übrig, und zwar nicht nur nach dem Nichtvorhan- densein einer anderen verantwortlichen Ursache, sondern auch nach dem klinischen Befund. Im Prozentsatz ausgedrückt erweisen sich diese dreizehn als 2,5%, der hier behandelten Epileptiker. Zum Ver- gleich: Nach Wildermuth ist in 1,4%,, nach Neumann in 8—10% der Epileptiker die Erkrankung auf Alkoholismus zurückzuführen.

Arteriosklerotische Krankheitsprozesse als Ursache waren ange- nommen bei 20 Kranken (16 m. und 4 w.). Nach Abzug aber von 12 (m.) Patienten mit Potus und 2 (w.) mit erblicher Disposition zur Epilepsie ergibt sich ein Rest von nur noch 6 (4 m. und 2 w.) Per- sonen, bei denen die Annahme einer reinen arteriosklerotischen Epi- lepsie berechtigt erscheint. Einer der Männer litt an der Alzhevmerschen Form der senilen Erkrankung. 1,2%, etwa unserer Epileptiker Toenn zu diesem Kapitel.

Weiterhin waren gröbere anatomische Veränderungen im Ge-

Gesammelte Notizen tiber unsere Epileptiker usw. 399

hirn vorhanden 24 mal (19 m. und 5 w.). Es wurde die Epilepsie zu- rückgeführt: Auf Porencephalie (1 m.), auf Hydrocephalus (6 m.), auf Microcephalus (6 m. und 3 w.), auf die Folgen eines Gehirnabs- zesses (5 m.) und auf Embolie einer Gehirnarterie (1 w.). Zweimal (1 m. und 1 w.) deckte die Sektion inoperable Gehirngeschwülste auf. Bei dem männlichen Patienten hatte die epileptische Reaktion im dreißigsten Lebensjahr begonnen, der Tod erfolgte nach mehr als 5 Jahren. Die Anzahl der Anfälle vermehrte sich im Laufe der Er- krankung von ursprünglich vier auf dreißig im Monat. Verfolgungs- ideen, Gehörshalluzinationen und Tobsucht machten das psychische Krankheitsbild aus. Die eben erwähnte Patientin erkrankte manifest im fünfundfünfzigsten Lebensjahr mit Verwirrtheit, Gesichtshallu- zinationen und der Neigung zum Vagabundieren. Sie hat dann noch drei Jahre gelebt.

Von akuten Infektionskrankheiten der Kinderjahre wurden mit der Epilepsie in Beziehung gebracht bei insgesamt 30 Personen (17 m. und 13 w.): scarlatina (3 m. und 2 w.), nephritis, die ich auf scarla- tina bezog (1 m.), morbilli (1 m.), pertussis (2 w.), letztere beide waren erblich für Epilepsie disponiert, variola (3 m.), chorea (1 m.), polio- encephalitis (1 m.), encephalitis (5 m. und 9 w.), unter diesen waren sieben für Epilepsie belastet, encephalomeningitis (1 m.), meningitis (1 m.). Unter den akuten Infektionen in späteren Jahren wurden in 9 Fällen (7 m. und 2 w.) für die Epilepsie verantwortlich erklärt: typhus abdominalis (5 m. 1 w.), polyarthritis rheumatica (1 w.), encephalomeningitis (1 m.), influenza (1 m.). Nach Abzug der erblich Belasteten bleiben 30 Patienten übrig, bei denen eine akute Infektions- krankheit als ursächlich für die Epilepsie angesehen wurde, das heißt bei 5,7% des Gesamtmaterials. Biro verzeichnet diese Verursachung in 10%, seiner Fälle.

Lues hereditaria ist 7 mal (4 m. und 3 w.) angenommen worden als Quelle der Epilepsie, lues acquisita 1 mal (w.), das sind 1,5%, von unserer Gesamtzahl.

Auch die innere Sekretion und die Intoxikation sind zur Erklä- rung herangezogen worden. Zweimal ist eine Hodenoperation als Ur- sache erwähnt, dreimal graviditas, viermal puerperium. Unter den allerletzten sieben befinden sich sechs mit erblicher Belastung.

Wie eingangs ersichtlich, bin ich an den Versuch einer Abtrennung der Fälle mit nachweisbarer Ursache von dem Sammelbegriff Epilepsie mit größter Zurückhaltung herangetreten. Indem ich mich an die Definition halte, daß jeder Fall mit erkennbarer Ursache als symp-

Zeitschrift für Psychiatrie. LXXXIX. 26

400 Ostmann,

tomatisch aufzufassen, und daß bei der genuinen Epilepsie die ange- borene Disposition die Hauptursache ist, komme ich zu dem Ergebnis, daß ich 102 Erkrankungen (82 m, und 20 w.) zur symptomatischen Epilepsie rechnen oder als epileptische Reaktionen bezeichnen darf. Das sind nicht ganz 20%, meiner Sammlung. Diesen stehen dann durch Ausschluß gegenüber 418 Erkrankungen (240 m. und 178 w.), die zugleich der gegebenen Definition der genuinen Epilepsie ent- sprechen. Einbegriffen in diese Zahl sind die Fälle, die ätiologisch als nicht eindeutig zu bezeichnen waren bei der bisherigen Kritik der Ur- sachenbewertung.

Die folgende Tabelle bringt die häuptsächlichsten und zahlreichsten Arten der erblichen Belastung bei den genuinen Epileptikern:

i W. | zusammen

| = | Epilepsie cis. cciaw sessed sees 40 9 | 49 Alkoholismus ............... 35 36 71 Geisteskrankheit ........... 17 33 50 angeb. Geistesschwäche ...... 8 | 3 11 Nervenkrankheit ............ 18: 4 22 Auffallende Charaktere ...... 1 | 4 15

Wie aus der Zusammenstellung ersichtlich, stammten 49 Kranke aus mit Epilepsie behafteten Familien. Somit zeigte sich eine gleich- artige Vererbung bei 11,7 % unserer genuinen Epileptiker. Als ein be- sonderes Beispiel dieser vielfach betonten Neigung der Erkrankung führe ich einen Befund an, in dem sie sich von dem Großvater auf den Vater und von diesem auf den Sohn vererbte, obgleich die Mütter gesund waren und aus gesunden Familien stammten. Über mehr als drei Generationen war leider eigentlich nie Auskunft zu bekommen. Kraepelin konnte die gleichartige Vererbung in 14,3%, Finkh in 24,2%, nachweisen.

Des Näheren waren die Väter des Patienten schon epileptisch er- krankt 11 mal (9 m. und 2 w.), die Mütter 8 mal (5 m. und 3 w.). Im ganzen war also Epilepsie der Eltern nachzuweisen bei 4,5%, der ge- nuinen Epileptiker. Die Zahlen der Literatur bewegen sich zwischen 4,2%, nach Redlich und 15,0%, nach Gerlach. Von den Voreltern stammte die Disposition 2 mal (m.), einmal von dem Großvater väter- licherseits und einmal von dem mütterlicherseits. Auf Geschwister

Gesammelte Notizen über unsere Epileptiker usw. 401

des Vaters oder der Mutter bezog sich die erbliche Belastung 4 mal (2 m. und 2 w.), und zwar nur einmal auf die mütterliche Seite. Bei 24 Kranken (21 m. und 3 w.) waren ein Bruder, eine Schwester oder mehrere Geschwister gleichfalls epileptisch.

Anschließend notiere ich, daß in einem Falle beide Eltern an Migräne litten.

Höhere Zahlen als die vorigen ergibt der Alkoholismus in der As- zendenz, indem hier 17%, der genuinen Epileptiker aufzuführen sind. Als Vergleichszahlen zitiere ich nach Kraepelin Wildermuth mit 21%, Finkh mit 28,9%. Es waren beide Eltern trunksüchtig bei 1 (1 w.) Kranken, der Vater alleine bei 65 (32 m. und 33 w.). Ferner waren der Großvater väterlicherseits bei 3 (m.) und der mütterlicherseits bei 2 (w.) als verantwortlich genannt. Von einigem Interesse dürfte die Vorgeschichte eines zahlreiche körperliche Degenerationszeichen auf- weisenden Epileptikers sein, bei dem nicht nur der Vater, sondern schon dessen Erzeuger alkoholsüchtig war. Aus einer anderen Anamnese geht hervor, daß der Großvater mütterlicherseits alkoholkrank war, die Mutter Selbstmord verübte und nicht nur der Patient, sondern | noch zwei weitere Brüder epileptisch waren.

Geisteskrankheit als belastendes Moment ist ebenfalls sehr häufig erwähnt, nämlich bei rund 12%, wobei noch zu bemerken ist, daß die syphilitischen Erkrankungen hier nicht aufgezählt sind. Der Vater oder Mitglieder der väterlichen Familie waren als geisteskrank be- zeichnet in 21 Fällen (10 m. und 11 w.), die Mutter oder Angehörige mütterlicherseits in 18 (3 m. und 15 w.). Die Entartung verriet sich weiterhin durch Geisteskrankheit der Geschwister 11 mal (4 m. und 7 w.). Die höheren Grade der angeborenen Geistesschwäche unter den Vorfahren brachten nur eine geringe Ausbeute mit 2,6%. Nerven- krankheiten kamen in der Familie bei 5,2%, vor. Zusammen fanden sich also Geistes- und Nervenkrankheiten als erbliche Belastung bei rund 20%, der genuinen Epileptiker.

Psychopathie, auffallende Charaktere, Selbstmord in der Aszen- denz konnte ich bei 3,6%, feststellen. Unehelicher Geburt waren im ganzen 14 (11 m. und 3 w.) Patienten, zehn von ihnen sind jedoch wegen ihrer Belastung an anderer Stelle schon eingereiht. Der Bluts- verwandtschaft der Eltern, indem sich Geschwisterkinder heirateten, ist bei 4 (w.) Kranken eine ätiologische Rolle zuerkannt, alle vier Paare stammten aus erblich schwer belasteten Familien.

Die Lues hereditaria ist schon vorweggenommen bei der sympto- matischen Epilepsie. Tuberkulose der Eltern und Voreltern war bei

26*

402 Ostmann,

11 (5 m. und 6 w.) als disponierend erwähnt, Gicht und Diabetes des Vaters je einmal (2 m.).

Die einzelnen Ergebnisse zusammengefaßt, ergibt sich, daß bei rund 53% der hier gesammelten genuinen Epileptiker Nervenkrank- heiten, Geisteskrankheiten, Epilepsie, Trunksucht und auffallende Charaktere in der näheren Verwandtschaft vorgekommen waren. Zum Vergleich angeführt hat Kraepelin in 45,7%, Binswanger in 61,7%, ähnliche Belastung festgestellt. Neben der eben errechneten Zahl fanden sich aber noch bei 21% gehäufte körperliche und psychische Degenerationsmerkmale, die auf eine angeborene Anlage zu schwerer körperlicher und geistiger Entartung deuteten, ohne daß Näheres über die erbliche Belastung zu ersehen war.

Aufgefallen ist mir, daß in 49 Einzelfällen (32 m. und 17 w.) eine doppelseitige erbliche Belastung, also von der väterlichen und mütter- lichen Seite vorlag, wofür ich einzelne Beispiele bringe. Leider konnte ich keine vollständigen Stammbäume erhalten. ,

Potus ov Q Epil. Potus d" 2 Psychose Psychose g Q 1. 2. 3 3. es

; 3 l g Epil. Epil. 3 2 Epil. Potus g 9 Suizid | | | 2 Epil. A Psychose & Potus g` d Epil. gene T Potus g o & Epil. Potus g o Q Epil. 2 Epil. | lL 8. Psychose o o 9 Epil. | | 2 The. Psychose & sD JS Epil | | | t. ae Psychose Q ee 2. d` Epil.

oS Epil.

Gesammelte Notizen über unsere Epileptiker usw. 403

SchlieBlich bot sich noch Gelegenheit zum Studium der Ge- schwister der genuinen Epileptiker. Es litten außer dem Patienten an:

1 2 1 2 mehrere

| Bruder Brüder |Schwester |Schwestern | Geschw.

Epilepsie ......... 9mal 3mal 6mal | 4mal Nervenkrankheit .. D 5; 4 ,, Amal 3 yy Geisteskrankheit .. 8 ,, ee 2 3 N Trunksucht ....... 3. 2mal Geistesschwäche ... 2.5 Auffallend waren... | Smal | | ima

Ganz besonders trat die degenerierende Wirkung des Alkoholis- mus zutage: Unter den Nachkommen von 12 trunksüchtigen Vätern befanden sich neben den hier behandelten Epilepsiekranken siebzehn Geschwister mit den verschiedensten Anomalien, darunter sieben epileptische Geschwister.

Die Feststellungen über den Beginn der genuinen Epilepsie er- gaben, daß die Erkrankung zurückgeführt wurde auf das erste Lebens- jabr bei 11,4%, der Patienten, auf die ersten fünf Jahre bei 30,6%. In dem Anfang der Schulzeit, also etwa dem sechsten bis zehnten Jahr erkrankten 11,4%. Als besonders gefährdetes Alter erwies sich dann noch die Pubertätszeit vom zwölften bis siebzehnten Lebensjahr mit rund 14%. Im ganzen begann die Epilepsie in den ersten zwanzig Jahren in 67%, der Fälle. Eine genauere Übersicht über die Einzel- zahlen gibt die eingefügte Tabelle, die zugleich das Alter bei der Auf-

Alter bei der Erkrankung ‘bei der Aufnahme | W. | zusammen} m. | wW. | zusammen

4— 5 Jahre| 73 55 128 6—10 ,, 33 | 45 48 4 4 2 1411—15 ,, 30 16 46 6 4 40 16—20 ,, 27 31 58 34 17 51 24—25 ,, 42 | 45 27 18 | 30 78 26—30 ,, 17 13 30 45 32 77 31—35 , 15 3 18 32 33 65 36—40 ,, 5 5 10 19 25 44 44-45, 8 3 1 18 8 26 46—50 ,, 6 | 6 47 14 31 51—55 ,, = 6 6 8 | 10 18 56—60 ,, 1 1 2 6 2 8 über60 ,, 2 2 6 2 8

404 Ostmann,

nahme in die Anstalt verzeichnet. Nicht immer war das Auftrittsalter klarzustellen. |

Interessiert hat mich im Anschluß an diese Zusammenstellung vom sozialen Standpunkt aus die Frage, wie lange die Krankheit schon bestand, ehe die Patienten in Anstaltspflege kamen. Daß das Auf- trittsalter der Epilepsie in umgekehrtem Verhältnis zu der Größe der Zeitspanne stand, in der die Erkrankten in der Familie behandelt wurden, daß also, je später die Epilepsie auftrat, der Patient um so eher und schneller uns zugeführt wurde, ist ja nicht weiter verwunder- lich bei dem so häufig frühen Beginn und dem Umstand, daß eben ein Erwachsener in höherem Grade als ein Kind als Epileptiker antisozial wirken wird. Aber, welches Maß von Lasten die Familie zu ertragen gewillt ist, ergibt sich aus der Durchschnittsberechnung, daß an die . 17 Jahre vergehen, ehe von der gemeinnützigen Einrichtung der An- stalt Gebrauch gemacht wird. Zugleich mit dem Auftreten der Krank- heit wurden nur 14 Patienten gebracht und im ersten Erkrankungs- jahre zwanzig.

Was die Aufzeichnungen über die hiesigen klinischen Beobach- tungen bei den genuinen Epileptikern betrifft, so spielten bei ihnen naturgemäß die Anfälle und die mit ihnen zusammenhängenden Aus- nahmezustände zunächst eine wesentliche Rolle.

Große Krampfanfälle waren bei allen Patienten verzeichnet, sie waren vergesellschaftet mit petit mal bei etwa 18%. Ein status epi- lepticus ist vermerkt bei 17%,. Häufig zeigten die Anfälle die Tendenz im Verlauf und mit der Dauer der Erkrankung an Zahl zuzunehmen. Sicher ließ sich das feststellen. bei 26%, gleich blieb die Anzahl bei 12%. Durch Seltenheit der Krampfanfälle, also nur zwei bis sechs im Jahre zeichneten sich 8%, aus.

Über die mit den Krampfanfällen zusammenhängenden Ausnahme- zustände fanden sich Bemerkungen folgender Art. Dem Anfall voraus- gehend: Beeinträchtigungsgefühle (15 =10 m. und 5 w.), Angst- zustände (41 =21 m. und 20 -w.), Aufgeregtheit und aggressives Verhalten (53 = 28 m. und 25 w.), auffallende Lustigkeit (26 = 19 m. und 7 w.). In der Folge des Anfalls: Beeinträchtigungsvorstellungen (15 = 10 m. und 5 w.), Verstimmungszustände (80=40 m. und 40 w.), Aufgeregtheit mit impulsiven Handlungen (55 —=23 m. und 32 w.).

Die Verwirrtheits- und Dämmerzustände, sie werden wohl nicht immer peinlich auseinander gehalten sein, schließen sich hier wohl am zwanglosesten an. Ihrer ist ausdrücklich Erwähnung getan bei fast 62%. Es entfielen Verwirrtheitszustände auf 198 Patienten (110 m.

Gesammelte Notizen über unsere Epileptiker usw. 405

und 88 w.), und zwar handelte es sich bei dem gréBten Teil (65 m. und 52 w. = 117) um agitierte Verwirrtheit, Delirien, während Hem- mungszustände, Stupor überwogen bei 81 (45 m. und 36 w.).

Von den dauernden psychischen Auffälligkeiten und Verände- rungen, der epileptischen Degeneration, kommen die Hauptsymptome, die egozentrische Einstellung, die Reizbarkeit und Erregbarkeit mit ihren jähen Erregungs- und Gewalttaten und der Abschwächung der moralischen und ethischen Fähigkeiten später bei der Besprechung der Einlieferungsgründe noch hinreichend zu Wort. Störungen der Intelligenz, gekennzeichnet durch die Verlangsamung und Erschwerung aller psychischen Vorgänge, der Auffassung, der Verarbeitung der Eindrücke, durch die Armut des Vorstellungs- und Gedankeninhaltes, durch die Gedächtnis- und Urteilsschwäche, also die charakteristische epileptische Verblödung in ihren verschiedenen Abstufungen wurde angenommen bei 41%, der genuinen Epileptiker. Die Zahl mag gering erscheinen, rechnet man doch gemeinhin in den Anstalten mit 75%, die epileptisch verblöden. Aber die Erklärung liegt darin, daß die praemorbid schon als imbezill oder debil bezeichneten zunächst einmal nicht mitgezählt sind, da nicht immer einwandfrei festgestellt ist, was der epileptischen Demenz und was der schon vorher bestehenden geistigen Schwäche zur Last zu legen war. Werden sie in die Rech- nung mit einbezogen, ergeben sich rund 64%.

Von weiteren hervorstechenden Zügen des epileptischen Charak- ters waren zwar noch viele zu sammeln, ich führe aber nur einzelne Typen an, da sie häufig nicht ohne Gewaltsamkeit zu trennen sind. So fanden sich folgende Bilder: Ausgesprochen gutmütige, dabei um- ständlich und schwerfällig (13 m. und 14 w. = 27), starrköpfige, eigen- sinnige (22 m. und 13 w. = 35), mürrisch, rechthaberische (11 m. und 14 w. = 25), mißtrauisch-egoistische (17 m. und 15 w. = 32), förmliche, pedantisch-umständliche (17 m. und 4 w. = 21), eigensinnig, süßlich- aufdringliche (23 m. und 23 w. = 46), süßliche mit labiler Stimmung (6 m. und 6 w. = 12), empfindliche, labile, nervös aufgeregte (17 m. und 21 w. = 38), wehleidig-hypochondrische (12 m. und 10 w. = 22). Hysterischer Einschlag war unverkennbar bei 16 Kranken (6 m. und 10 w.).

Wahnbildung ohne eine besondere oder auffallende Trübung des Bewußtseins ist geschildert bei 24,4%, der genuinen Epileptiker. Be- ziehungs- und Beeinträchtigungsideen, entsprechend dem egoistischen Zug des epileptischen Charakters, zum Teil verbunden mit Selbst- überschätzung und Größenvorstellungen, standen bei 29 Kranken

406 Ostmann,

(18 m. und 11 w.) im Vordergrund der psychischen Persönlichkeits- veränderung. Sie waren gesteigert bis fast zum Bilde des Querulanten- wahnes bei weiteren 10 (7 m. und 3 w.). Zusammenhängende Ver- folgungsideen entwickelten 33 (24 m. und 9 w.), eine größere Anzahl von ihnen fühlte sich durch Gift verfolgt. Religiösen Inhaltes waren die wahnhaften Vorstellungen von 28 (21 m. und 7 w.) genuinen Epi- leptikern, Versündigungsideen spielten dabei mit bei etwa einem Viertel. Nicht unerwähnt dürfen bleiben zwei Fälle (2 m.) mit Eifer- suchtswahn. Eine Demenz war angenommen bei vielen dieser Kranken, für sicher nachgewiesen halte ich sie aber nur bei einem Drittel.

Halluzinationen waren festgestellt und vermerkt bei etwas mehr als 27%, der Erkrankungen an genuiner Epilepsie. Das zwei- malige Erwähntsein von Gefühlshalluzinationen (2 w.) vorweg- genommen, war der ausdrückliche Unterschied von Gesichts- und Ge- hörstäuschungen in ungefähr zwei Drittel der Fälle gemacht mit dem Ergebnis, daß doppelt soviel Gehörs- als Gesichtshalluzinationen notiert waren. Beide vereint fanden sich selten, nur zwölimal lagen diesbezügliche Bemerkungen vor. Betroffen waren von den Hallu- zinationen in der Hauptsache mehr oder minder demente Patienten (42 =27 m. und 15 w.), alsdann paranoide Zustände (34 = 12 m. und 22 w.). Bei dem restlichen Teil der Halluzinierenden ist außer Angst- und Verstimmungszuständen keiner weiteren psychischen Veränderung Erwähnung getan.

Über die prämorbide Persönlichkeit waren recht wenig einwand- freie Angaben zu sammeln. Daher habe ich mich darauf beschränkt, die verschiedenen Grade der angeborenen geistigen Minderwertigkeit festzustellen. Es waren schon vor dem Beginn der Epilepsie als debil erkannt 9 Patienten (7 m. und 2 w.), als imbezill 86 (58 m. und 28 w.), von letzteren war als triebhaft charakterisiert mehr als die Hälfte.

Die nunmehr folgenden Angaben beziehen sich auf alle 520 Epi- leptiker, nicht nur die genuinen. Anlaß zur Einweisung in die Anstalt waren weniger reine Pflegebedürftigkeit als vielmehr Konflikte mit der Umgebung und dem Strafgesetz. Die reine Pflegebedürftigkeit war bedingt durch vermehrte Anfälle (12 m. und 29 w. = 41), tiefe Ver- blödung und Verwahrlosung (4 m.), Stuporzustände, (6 m. und 6 w. = 12), lang anhaltende Verwirrtheit (17 m. und 13 w. =30), Neigung zum Selbstmord (25 m. und 23 w. =48). Unter letzteren befanden sich 4 Personen, bei denen die Absicht oder der Versuch des Suizidium vergesellschaftet war mit triebhaften Erregungszuständen, dreizehn,

Gesammelte Notizen über unsere Epileptiker usw. 407

die in Verwirrtheitszuständen sich selbst gefährdeten und sechs mit Depression.

Die Zusammenstöße mit ‘der Umgebung, die zwar die Gefahr krimineller Handlungen bargen oder auch solche waren, aber nicht als solche verfolgt wurden, stellen sich abgesehen von vorwegzuneh- menden harmloseren, verkehrten Handlungen (3 m. und 2 w. = 5) und ebensolchen in Verwirrtheits- und Dämmerzuständen (17 m. und 8 w. =25) als eine ganze Skala von der Unverträglichkeit bis zur Bösartigkeit dar. Der Anstaltsaufenthalt wurde nötig wegen Unver- träglichkeit, Gereiztheit, Erregbarkeit (16 m. und 12 w. =28), Erre- gungszuständen bei Verwirrtheit (14 m. und 6 w. =20), gewalt- tätigem Benehmen bei Verwirrtheit (35 m. und 12 w. =47), Ver- wirrtheit, Gewalttaten und Suicidversuch (2 m. und 5 w. =), Jäh- zorn, Wutanfällen, Gewalt (47 m. und 16 w. = 63), Zerstörungssucht (3 m. und 3 w. =6), Zerstörungssucht und Suicidversuch (2 m.), tobsüchtigem Verhalten (22 m. und 1 w. =23), Tobsucht und Nei- gung zur Selbstbeschädigung (15 m. und 12 w. =27). Ferner waren durch ihre sexuelle Erregbarkeit ihrer Umgebung lästig und unerträglich geworden 11 (w.). Als in ihren Verwirrtheitszuständen sexuell sind bezeichnet 4 (w.), ebenso dazu als gewalttätig charakterisiert 4 (3 m. und 1 w.), als tobsüchtig und sexuell 4 (3 m. und 1 w.). Neben ihrer Hypersexualität waren suieidsüchtig 5 (4m. und 1 w.), dazu zu Gewalt- taten bereit 8 (w.).

Bei dem übrigen Teil der Patienten (72 m. und 24 w. = 96) waren kriminelle Handlungen, die sie vor den Strafrichter brachten, der Grund der Einweisung. Bei der nachstehenden Tabelle sind aber außer diesen noch die weiteren Übertretungen, Vergehen und Verbrechen aufgeführt, die aktenkundig waren, zumal sie ja, wenn auch nicht der direkte Anlaß, so doch mehr oder weniger mitbestimmend für die Ein- leitung der Anstaltspflege waren.

Im.|w. Im.|w [m. |w. Landstreichen ... |30/11|Diebstahl ....... 48| 8\Widerstand ..... 25|/— Betteln ......... 47| 3\Kinbruchsdiebst. | 3|—|Körperverletzung j20| ruhestörend. Lärm | 5| 1|Sachbeschadigung | 2|—Mordversuch ....| 2/— grober Unfug ...| 6| 2|Hausfriedensbruch |13| 3 Raub .......... 4|— Betrug.......... 40/—|Brandstiftung ... | 9| 3,Notzuchtsversuch | 3) Unterschlagung . 15| 1|Beleidigung ..... 6 4\sonst. Sexual- ‘Urkundenfalsch. 3|—|falscheAnschuld. | 1/—| delikte ....... 27| 5

Hehlerei ........ 4|—!Bedrohung ..... 28|— milit.Vergehen ..10!—

408 Ostmann,

Unter den Sexualdelikten ist dreizehnmal Exhibitionismus zu verstehen (m.), einmal Kuppelei (w.).

Der Erfolg der Behandlung war, besonders wenn in Betracht gezogen wird, daß die meisten Fälle uns sehr spät übergeben werden, kein so sehr ungünstiger. Stehen doch 156 gebessert Entlassene und 17 als geheilt Bezeichnete, zusammen also 173, denen geholfen werden konnte, abgesehen von 139 Verstorbenen nur 208 gegenüber, bei denen unsere Bemühungen umsonst waren.

Der Anstaltsaufenthalt währte eine Durchschnittszeit von 2,6 Jahren, die Frauen blieben um ein Geringes länger als die Männer. Mehrmals in Anstalten waren rund 49%, unter ihnen zweimal 27%, dreimal 12%, viermal und öfter 10%.

Unter den Krankheiten, die zum Tode führten, war die Tuber- kulose mit 12%, vertreten, meist handelt es sich um Lungentuberkulose, einmal waren die Lungen und der Kehlkopf befallen, dreimal die Lungen und der Darm, je ein Fall von Knochen- und Drüsentuber- kulose vervollständigen das Bild. Herz- und Gefäßerkrankungen waren als Todesursache mit 17%, verzeichnet, es fiel aber auf, daß nur einmal eine Gehirnblutung gefunden wurde. Im epileptischen Anfall starben 20% und im Status 12%,, mithin war die Epilepsie der unmittelbare Grund des Ablebens bei 32%. Die übrigen Todesursachen haben weniger Interesse, Lungenkrankheiten ohne die Tuberkulose machten 18% aus, meist waren es hypostatische und Schluckpneumonien. Zwei Kranke endeten durch Suizid. Das durchschnittliche Alter bei dem Tode betrug 42,6 Jahre, die Epilepsie hatte bei ihnen gedauert im Mittel 23 Jahre.

Nachzuholen wire abschlieBend noch ein Bericht iiber die Beo- bachtungen an den Patienten, bei denen die Erkrankung nicht als genuine Epilepsie, sondern mehr als epileptische Reaktion aufgefaBt wurde. Was die Zahl der Krampfanfälle betrifft, so waren 17%, Pa- tienten vorhanden, die nur zwei bis vier im Jahre hatten, einen in der Woche verzeichneten 28%, zwei 26%, der Rest hatte mehr als sechs im Monat bis zu vierzig. Bei 8%, der letzteren ist ein status epilepticus beschrieben. Benommenheits-, Verwirrtheits- und Dämmerzustände sind bei 36,5%, der Fälle mit symptomatischer Epilepsie aufgetreten. Eine Abnahme der intellektuellen Fähigkeiten geringen Grades bis zur Demenz wurde nicht ganz bei der Hälfte beobachtet. Paranoiden Einschlag boten 17,3%, von ihnen war fast die Hälfte wieder dement. Halluzinationen hatten 22%,, diese waren vergesellschaftet mit er- worbenem Schwachsinn in einem Drittel, mit Wahnideen in einem

Gesammelte Notizen über unsere Epileptiker usw. 409

weiteren Drittel der Fälle. Einmal sind Gefühlshalluzinationen ver- zeichnet.

Wie aus den vielfachen Hinweisen im Text hervorgeht, baut sich die Arbeit in der Hauptsache auf auf den in den Krankenblättern und Aktennotizen niedergelegten Beobachtungen und Erfahrungen. Oft und gerne wird ja von den verschiedensten Stellen betont, daß viel wissenschaftlich interessierender Stoff in den Anstalten zu finden sei und zum Teil zu wenig ausgenutzt werde. Auch ich möchte an dieser Stelle meiner Überzeugung Ausdruck geben, daß ich diese Art der wissenschaftlichen Betätigung, Bausteine aus den Erfahrungen der Anstalt für den Gesamtaufbau der Krankheitsbilder in medizinischer und sozialer Hinsicht zu formen für eine der wichtigsten Aufgaben des Irrenarztes halte.

Berichte tiber das Irrenwesen des Auslands.

XVIIL. Das Irrenwesen in Lettland.

Von

Dr. H. Buduls. Professor der Psychiatrie und Direktor der städtischen Irrenanstalt Rothenberg in Riga.

Lettland besitzt vier staatliche und eine städtische (der Stadt Riga gehörige) Irrenanstalten, außerdem eine Abteilung für Ner- ven- und Geisteskranke am Libauschen Stadtkrankenhause und eine private Anstalt fiir dieselbe Kategorie von Kranken in Riga.

Die älteste Irrenanstalt des Landes ist Alexandershöhe in Riga, die im Jahre 1824 gegriindet und damals fiir Geisteskranke, Prosti- tuierte, Zwangsarbeitende und antisoziale Vagabunden bestimmt war, insgesamt für über 200 Betten. Die Anstalt war damals in der Bevölkerung wenig populär und zeigte mehrere Jahrzehnte hindurch wenig Entwickelungsfähigkeit.

Die zweitälteste Irrenanstalt Lettlands ist die Rigasche städti- sche Irrenanstalt Rothenberg. Sie ist als eine private Heil- und Pflegeanstalt im Jahre 1862 von Dr. Brutzer gegründet und im Jahre 1872 von der Stadt Riga übernommen worden. Jetzt ist sie die größte Irrenanstalt Lettlands mit 800 Betten. Zu gleicher Zeit dient sie als Psychiatrische Klinik der Medizinischen Fakultät.

Die drittälteste von den noch heute existierenden Anstalten ist Tabor-Günthershof bei Mitau. Sie ist hauptsächlich von der Kurländischen Pastorenschaft im Jahre 1887 für Idioten und Epi- leptiker gegründet und längere Zeit erfolgreich geleitet worden. Im Jahre 1901 wurde die Anstalt ausgebaut und erweitert, außerdem an die Spitze ein erfahrener Psychiater gesetzt. Seitdem nimmt sie alle Kategorien von Geisteskranken auf. Der Anstalt ist ein größeres Landstück für Ackerbau angegliedert.

Das Irrenwesen in Lettland. 411

Im Jahre 1907 ist in Stackeln, Nordlivland, eine moderne Irren- anstalt gebaut worden. Nebenbei liegt eine Kolonie, in der chronische Geisteskranke die Möglichkeit haben sich mit Landarbeiten zu be- schäftigen.

Im Jahre 1924 ist eine neue Irrenanstalt in Dünaburg gebaut, anfangs für 200 Geisteskranke, die aber jetzt bedeutend erweitert und erweiterungsfähig ist.

Augenblicklich werden in allen Anstalten Lettlands über 2000 Geisteskranke von insgesamt 22 psychiatrisch geschulten Ärzten be- handelt. Bei der Gesamtbevölkerung des Staates unter 2 000 000 ist diese Zahl ziemlich bedeutend. Trotzdem ist der Andrang in die An- stalten sehr stark, und sehr viele Patienten müssen draußen auf die Aufnahme warten, weil alle Anstalten stark überfüllt sind. In den letzten sechs Jahren hat die Gesamtzahl der Insassen der Anstalten rund um 75% zugenommen.

Die Internierung von Geisteskranken in Irrenanstalten ist in Lettland sehr einfach und von weitläufigen Formalitäten ganz frei. Bei der Aufnahme von Patienten wird ein Zeugnis von einem außer- halb der Anstalt stehenden Arzte über die Geisteserkrankung der zu internierenden Person verlangt. Nach der Aufnahme wird der Polizei über die stattgehabte Internierung eine Mitteilung gemacht. In dringenden Fällen können die Geisteskranken durch die Polizei in den Anstalten untergebracht werden, wobei der Polizeiarzt die Grund- lage der Internierung abgeben muß. Verdächtigungen, daß Geistes- gesunde böswillig in die Anstalten untergebracht und dort zurück- gehalten werden können, kommen kaum vor, was hauptsächlich da- durch zu erklären ist, daß die Anstalten bei der Bevölkerung durch- aus Vertrauen genießen. Einen Antagonismus zwischen den Rechts- pflegern einerseits und den Psychiatern anderseits, welcher in vielen anderen Ländern eine Grundlage zu weitläufigen Auseinandersetzungen und Streitigkeiten schafft, gibt es in Lettland nicht. Mir ist kein ein- ziger Fall bekannt, wo jemand zur gerichtlichen Verantwortung wegen ungesetzlicher Internierung von angeblich geistesgesunden Personen in eine Irrenanstalt herangezogen wäre. Aus oben genanntem Grunde ist auch die gutachtliche Tätigkeit des Psychiaters in Lettland erleich- tert, und die Schlußfolgerungen der Psychiater werden vom Gericht gewöhnlich ohne Widerspruch angenommen.

Infolge der starken Überfüllung der Irrenanstalten ist es kaum möglich zwei Klassen der Verpflegung zu erhalten. Darum besteht in den meisten Anstalten faktisch nur eine Klasse. Die Kosten für

412 Berichte über das Irrenwesen des Auslands.

die Verpflegung werden hauptsächlich vom Staate und von den Selbst- verwaltungen gedeckt. Diejenigen Patienten, die auf eigene Kosten behandelt werden, und solche gibt es in den fünf größeren Anstalten nicht mehr als 10— 15%, zahlen ungefähr ein Drittel der Selbstkosten- summe des Unterhalts in der betreffenden Anstalt.

Im Jahre 1927 wurden in allen Irrenanstalten Lettlands insge- samt 1159 Kranke, darunter 602 Männer und 557 Frauen aufgenommen. Die meistvertretene Psychose ist die Schizophrenie mit 30,4%, unter den Männern und 44,5% unter den Frauen. Dann folgen das manisch- depressive Irresein mit 10,1%, Männern und 19,6% Frauen, die pro- gressive Paralyse zusammen mit anderen luetischen Psychosen mit 15,1%, Männern und 4°% Frauen, senile und arteriosklerotische Demenz mit 7%, Männern und 6,1%, Frauen, Alkoholismus mit 9%, Männern und 0,9%, Frauen usw. Cocainismus und Morphinismus kommen nicht sehr häufig vor: 1,8%, Männer und 0,9%, Frauen.

In den Irrenanstalten Lettlands ist es allmählich zu einer Stau- ung von Kranken gekommen, weil der Zugang den Abgang bedeutend übertrifft. In den letzten sechs Jahren sind insgesamt 6847 Geistes- kranke eingetreten, dagegen nur 6022 aus den Anstalten ausgetreten. Die Tendenz des Verbleibens in den Anstalten ist teilweise dadurch zu erklären, daß die Kosten für die Verpflegung der Kranken haupt- ‚sächlich von dem Staate und den Selbstverwaltungen gedeckt werden, weswegen die Angehörigen der Patienten sehr oft kein Interesse haben, ihre Kranken aus der Anstalt zu nehmen. Vielen Familien ist es auch aus wirtschaftlichen Gründen unmöglich, ihre arbeitsunfähigen chro- nisch-geisteskranken Mitglieder zu Hause zu erhalten. Darum ist bei uns der Gedanke über die Verpflegung ruhiger Geisteskranken in den Familien mit materieller Unterstützung seitens der Behörden zeitgemäß und zwingend, was Entlastung der Anstalten bringen könnte.

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Kleinere Mitteilungen.

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Der preußische Landesgesundheitsrat hat im April 1928 über die Behandlung Geisteskranker in ‚‚pflegerlosen‘‘ Abteilungen der Irrenanstalten unter dem Vorsitz des Ministerialdirektors Dr. Krohne unter Heranziehung besonderer irrenärztlicher Sachverständiger sowie des Leiters der Sanitätswarte beraten.

Nach Berichten von Sanitätsrat Dr. Mönkemöller-Hildesheim und Professor Dr. Forster-Greifswald fand eine Aussprache statt, auf Grund deren der Landesgesundheitsrat zu dem Ergebnis kam, die Einrichtung der pflegerlosen Abteilungen könne nicht für alle Anstalten gefordert werden, vielmehr seien Krankenmaterial und örtliche Verhältnisse von Fall zu Fall zu berücksichtigen, es sei aber anzuerkennen, daß in Anstalten, die sich für diese Einrichtung eignen, letztere ein wertvoller Ausbau der psychotherapeutischen Maßnahmen ist. Prinzipiell sollen auf solchen „pflegerlosen‘‘, besser „Freiabteilungen‘“ nur solche Kranke untergebracht werden, beidenen es zufolge der Art ihrer Krankheit und ihrer Vorgeschichte nach psychiatrischem Ermessen ausgeschlossen erscheint, daß sie sich selbst oder die Allgemeinheit schädigen.

Der Vorteil der in Rede stehenden Abteilung ist, daß hier geeigneten Kranken eine Verantwortlichkeit auferlegt wird, die sie psychisch hebt; sie fühlen sich anerkannt und bekommen durch das ihnen geschenkte Ver- trauen wieder Vertrauen zu sich. Oft war die Einrichtung für Kranke günstig, die bald entlassen werden sollten, aber auch für solche, die sich beruhigt haben, deren Entlassung aber noch nicht möglich war. Bei un- vermuteten Revisionen wurden die betr. Abteilungen sauber und ordentlich befunden. Nicht vergessen werden darf, daß die Aufsicht des Oberpflege- personals, der Abteilungsärzte und der Anstaltsleitung nicht fehlt und daß nachts Pendelwachen funktionieren. In einer Anstalt, wo viele gefährliche Kranke sind, wird man sich, wie es Pfeifer von der Anstalt Nietleben be- richtet, für eine pflegerlose Abteilung recht schwer entschließen. Bresler wünscht den wirtschaftlichen Vorteil, da man tatsächlich Pflegerpersonal spare, nicht zu unterschätzen. Bonhöffer unterstrich den Satz Mönke- möllers, daß eine Verallgemeinerung der an wenigen Anstalten mit diesen Abteilungen gemachten Erfahrungen unzulässig ist; die Einrichtung muß fakultativ bleiben. Simon begrüßt die Abteilung als eine weitere Zwischen- stufe zwischen der strengen Anstaltsbeaufsichtigung und der vollen Frei- heit und erklärt sie für eine Bereicherung der therapeutischen Möglich- keiten. G. Ilberg.

414 Kleinere Mitteilungen.

Personalnachrichten.

Nekrolog Flüge: Am 25. September 1928 starb nach kurzem Krankenlager plötzlich und unerwartet der Direktor der Rheinischen Pro- vinzial- Heil- und Pflegeanstalt Bedburg-Hau, Sanitätsrat Dr. Gustav Flügge im Alter von 61 Jahren. Mit ihm scheidet der erste Leiter dieser größten Öffentlichen Irrenanstalt Deutschlands aus dem Leben.

Am 25. März 1867 zu Esens in Ostfriesland als Sohn des Regierungs- rats Flügge geboren, besuchte er das Kgl. Gymnasium Laurentianum zu Arnsberg und bestand daselbst 1885 die Reifeprüfung, widmete sich an - den Hochschulen von Marburg, Erlangen und Göttingen dem Studium der Medizin und erhielt am 2. April 1891 die Approbation als praktischer Arzt. Am 1. April 1892 trat er als Volontärarzt an der Heilanstalt Andernach in den Dienst der Rheinischen Provinzialverwaltung, wurde im Oktober des gleichen Jahres als Assistenzarzt nach Merzig versetzt, war weiter in

Grafenberg und Mariaberg-Aachen und seit dem 1. April 1899 als dritter

Arzt in Düren tätig.

Er begann seine psychiatrische Laufbahn, als es sich nach der groß- zügigen Neuorganisation des rheinischen Anstaltswesens darum handelte, auf dem neugeschaffenen Fundament weiter aufzubauen. Früh bot sich ihm die Gelegenheit, seine organisatorischen Fähigkeiten zu zeigen, als ihm der ärztliche Dienst an dem soeben eröffneten Bewahrungshaus für geisteskranke Verbrecher zu Düren übertragen wurde; er verstand es, sich auf diesem damals den Irrenärzten noch wenig bekannten Gebiet so schnell zurecht zu finden, daß seitdem sein Ruf als der eines gewiegten Praktikers fest begründet war. Schon vorher hatte er sich an der schwieri-. gen Aufgabe, die von der Provinzialverwaltung übernommene Anstalt Mariaberg-Aachen zu verwalten, mit Geschick beteiligt, wobei ihm sein. konziliantes Wesen, welches ihm überall Freunde erwarb, die besten Dienste leistete.

- Am 4. April 1903 zum Oberarzt an der Anstalt Grafenberg ernannt, wurde er bereits im Frühjahr 1905 mit der Leitung der neuerbauten An- stalt Johannisthal bei Süchteln betraut, trat diesen Posten gänzlich unvor- bereitet und unbekannt mit den neuen Verhältnissen an und arbeitete sich in kürzester Frist so gründlich in diese neue Tätigkeit ein, wie es wohl nicht vielen Ärzten gelungen wäre. Weiterhin war dann seine Geschäfts- führung so vorbildlich, daß, als der Bau einer neuen Heilanstalt geplant wurde, die Behörde ihn zu deren Leiter designierte und ihm einen be- stimmenden Einfluß auf die Pläne und die Ausführung des Baus einräumte. So erstand Dank seiner Erfahrung und seinem eminent praktischen Blick ein Werk, welches im besten Sinn modern genannt zu werden verdiente. Am 15. Mai 1914 übernahm er dann die Direktion dieser seiner Mitschöpfung, der Anstalt Bedburg-Hau, und stand nun in einem Wirkungskreis, so groß. wie ihn vor Flügge noch kein Leiter einer öffentlichen deutschen Heil- anstalt gehabt hat. Voll frohen Schaffensmuts ging er an die Arbeit, widmete sich ihr mit hingebendem Eifer und war mit Recht stolz darauf, daß diese große Maschinerie glatt und reibungslos arbeitete. Und bei aller Arbeitslast fand er immer noch die Zeit, sich den zahlreichen Be- suchern, welche den musterhaften Riesenbetrieb kennenlernen wollten, persönlich zu widmen.

Kleinere Mitteilungen. _ 415

Der Betrieb war noch nicht in vollem Umfang aufgenommen worden,

noch waren von den 2200 Betten erst 1800 belegt, da brach der Weltkrieg . aus. Alsbald wurde auf die Initiative von Flügge hin Bedburg-Hau mit 800 Betten als Reservelazarett der Militärverwaltung zur Verfügung gestellt. Flügge selbst hatte während des ganzen Kriegs die ärztliche Oberleitung dieser Abteilung, welche anfangs behandlungsbedürftigen Soldaten jeder Art und nach der Einrichtung von Speziallazaretten Kopf- verletzten und Nerven- und Geisteskranken Aufnahme gewährte. Vater- landsliebe und Pflichtgefühl gaben ihm die Kraft, diese gewaltige Ver- größerung seiner Arbeitslast zu ertragen. Unermüdlich war er tätig, ohne sich in diesen vier Jahren die geringste Erholung zu gönnen. Mit vorbild- licher Gewissenhaftigkeit widmete er sich den seiner Obhut Anvertrauten und begnügte sich nicht damit, ihnen ein geschickter und allezeit hilfs- bereiter Arzt zu sein, sondern bewies ihnen immer wieder durch seine treue Fürsorge, daß es ihm eine Herzenssache war, ihnen beizustehen. Die Heeresverwaltung zollte der musterhaften Leitung des Lazaretts und Flügges aufopferndem Wirken ihre höchste Anerkennung und zeigte ihm dieselbe auch äußerlich durch die Verleihung des eisernen Kreuzes. Als es sich nach Abschluß des Waffenstillstands darum handelte, das Lazarett in wenig Tagen aufzulösen, da konnte Dank Flügges Tatkraft und Ent- schlossenheit dieses schwierige Unternehmen fast unter den Augen der anrückenden alliierten Truppen mit Glück durchgeführt werden, obwohl eine große Zahl schwerkranker Soldaten abzutransportieren und die Zahl der dienstfähigen Krankenpfleger durch die damals heftig wütende Grippe arg gelichtet war.

Neben der verantwortungsvollen und aufreibenden Tätigkeit im Lazarett erledigte er wie sonst seine Obliegenheiten als Direktor der Heil- anstalt und verstand es in bewunderungswürdiger Weise, die mannigfachen Schwierigkeiten, welche im Verlauf dieser Jahre auftauchten, zu über- winden.

Neue Sorgen stellten sich ein, als der Krieg beendigt war und die Zeit der Besetzung begann; Bedburg-Hau wurde der Sitz eines belgischen Militärlazaretts. Daß diese Periode ohne Störungen verlief, bleibt Flügges Verdienst, welcher durch seine würdige und taktvolle Haltung jedermann mit gutem Beispiel voranging. | Nachdem die erste Zone am 1. Februar 1926 geräumt und Flügge wieder Herr im eigenen Hause geworden war, galt es da wieder anzufangen, wo der Krieg die Entwicklung unterbrochen hatte. Die Belegziffer, welche in den Kriegsjahren bis auf 1020 Köpfe gesunken war, konnte schnell erhöht werden, sodaß die Anstalt zur Zeit mehr als 2600 Pfleglinge be- herbergt. Eine rege Bautätigkeit setzte ein, zahlreiche neue Wohnungen für Angestellte wurden geschaffen, das Wasserwerk umgestaltet und die Garten- und Parkanlagen wieder in das alte anheimelnde Friedensgewand gekleidet. Da riß ihn der Tod mitten aus der Arbeit hinweg.

So verlief das Leben dieses Mannes, dem es vergönnt war in fried- licher und bewegter Zeit auf einem weit ausgedehnten Arbeitsfeld nach besten Kräften zu wirken und zu schaffen. Bis zu seinem letzten Atem- zug hat er treu in dem Amt geschaltet, in das ihn das Schicksal stellte, und er konnte es, da ihn ein eisernes Pflichtgefühl beseelte. Das Wohl

Zeitschrift für Psychiatrie. LXXXIX 27

416 Kleinere Mitteilungen.

seiner Kranken ging ihm über alles; trotz seiner umfangreichen Amts- pflichten kümmerte er sich um jeden einzelnen seiner Pfleglinge, stets darauf bedacht, ihnen ihr Leben so freundlich als nur möglich zu gestalten.

Daher sorgte er nach Kräften dafür, daß jene nivellierende Art, welche so- ` |

oft in großen Betrieben den Einzelnen zu einer Nummer herabdrückt, in seiner Anstalt keinen Eingang fand. In ihm lebte noch etwas vom Geist der alten Irrenärzte, welche in ihrem kleinen Reich wie Väter herrschten. Dabei war er schlicht und einfach in seinem Wesen und von einer gewinnen- den Freundlichkeit. Er war ein guter Mensch; dieses Gefühl hatte jeder, der mit ihm in Berührung kam; aus seinen Worten sprach eine Herzens- güte, welche den Zuhörer gefangen nahm. Vom strengsten Sinn für Recht- lichkeit erfüllt, dachte er von seinen Mitmenschen nur das Beste. So genoß er das uneingeschränkte Vertrauen seiner Untergebenen, da man wußte, daß nicht das kalte Gesetz, sondern ein warm mitfühlendes Menschenherz . regierte. Niemals kehrte er den gestrengen Vorgesetzten heraus und zeigte stets für alle kleinen und großen Sorgen seiner Ärzte und übrigen Mitar- © beiter ein volles Verständnis und ließ es sich angelegen sein, zu beraten, zu helfen, auszugleichen und zu schlichten, so viel er vermochte. Wie er pflichtgetreu und ohne Geprange seine dienstlichen Obliegenheiten erfiillte, so lebte er still und gliicklich im Kreise seiner Familie mit seiner Gattin und mit seinen Kindern. Nicht vollständig wäre das Bild, wenn man seine Liebe zu unserm Volk zu erwähnen vergäße; schwer hat er am Unglück unseres Lands getragen, aber nie hat ihn die Hoffnung auf eine bessere Zukunft verlassen.

Nun ruht dieser gütige und treue Mann auf dem stillen Anstalts- friedhof inmitten seiner Kranken, denen ein Leben lang seine Sorgen galten. Witte, Bedburg-Hau.

Professor Dr. E. Rüdin-Basel wurde zum Leiter der genealogischen Abteilung des deutschen Forschungsinstitutes für Psychiatrie und zum Honorarprofessor für Psychiatrie an der Universität München ernannt.

Professor Wagner von Jauregg wurde ins Präsidium der österreichi- schen Gesellschaft für Volksgesundheit und

Professor Dr. Weygandt-Hamburg zum Ehrenmitglied der russischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendforschung in Petersburg gewählt.

Als Nachfolger für den in den Ruhestand tretenden Direktor der Badischen Heil- und Pflegeanstalt Illenau Medizinalrat Dr. Thoma wurde Obermedizinalrat Dr. Römer-Karlsruhe ernannt.

Der Privatdozent für Nervenkrankheiten Dr. Felix Georgi-Breslau wurde zum außerordentlichen Professor ernannt.

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