SEPARAT-ABDRUCK - AÜS DER ZEITSCHRIFT FÜR MORPHOLOGIE UND ANTHROPOLOGIE Band XII, Heft 2. (S. &5S-358.) Überzählige Incisiven bei Affen. Von Richard N. Wegner, Breslau. (Aus dem Anthropologischen Institut, Breslau.) Mit einer Tafel. STUTTGART 1909. eizerbart'sche Verlagsbuchhandlung \ Nägele & Dr. Sproesser. 30114012653195 Überzählige Incisiven bei Affen. Von Richard N. Wegner, Breslau. (Aus dem Anthropologischen Institut, Breslau.) Mit einer Tafel. Es ist allgemein bekannt, daß unter den Fällen, in denen über- zählige Zähne bei den europäischen Rassen des Menschen auftreten, überzählige Incisiven den höchsten Prozentsatz erreichen. Bei allen Anthropoiden1 kommen überzählige Zähne gleichfalls vor, wie schon seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts bekannt ist; die Zahl dieser Fälle erstreckt sich allerdings im Unterschiede zum Menschen fast nur auf überzählige p o st can ine Zähne, erreicht aber einen bedeutend höheren Prozentsatz als bei den verschiedenen Menschenrassen. Die Anthro- poiden übertreffen hierin scheinbar alle anderen Tiergruppen und unter den Menschen sogar die australische Rasse, bei der nach Turnee, Wilson, Klaatsch2 und Smith überzählige vierte Molaren eine häufige Erscheinung sind, bei der aber außerdem noch überzählige Incisiven öfters beobachtet wurden. x) Siehe Wegner, R. N. : Ein überzähliger Praemolar beim Siamang (Symphalangus syndactylus Desmarest). Aus der Zeitschrift für Ethnologie 1908, pag. 86—88. In- zwischen hat mir ein reichlicheres Material, besonders aus der NEissEiTschen Samm- lung von Anthropoidenschädeln , gestattet, ein eingehenderes Studium auch der Formen der überzähligen postcaninen Zähne bei den Anthropomorphen zu beginnen. Der Zusammenstellung dieses'Materials hoffe ich ein Verzeichnis der bis jetzt über Fälle von überzähligen postcaninen Zähnen bei den Anthropomorphen veröffent- lichten, schon ziemlich umfangreichen Literatur sowie eine Übersicht über die hierbei angewandte Nomenklatur beigeben zu können. 2 Die Literatur über überzählige Molaren bei den Australiern siehe: Klaatsch. The Skull of the Australian Aborigiiud. Kapitel II. Teeth and Jaws in: Reports from the Pathological Laboratory of the Luncay Departement. Sydney 1908. Zeitschrift für Morphologie und Anthropologie. Bd. XII. 23 354 Richard N. Wegner. Im Gegensatz zu den so häufigen Fällen von überzähligen postcaninen Zähnen (sogar ein doppelter Eckzahn wurde von Selenka bei einem alten Gorilla beobachtet) steht die auffallende Tatsache, daß überzählige Incisiven noch kaum bei den Anthropoiden wie bei den Affen überhaupt beobachtet wurden, während sonst auch bei anderen Gruppen von Säugetieren neben dem Menschen überzählige Incisiven keineswegs seltene Erscheinungen sind. Unter anderen beobachtete sie Magitot1 beim Hunde, Pferde, Rinde und beim Schaf; in einem Falle auch bei einem Ateles. Hilzheimeb 2, der sich gleichfalls eingehender mit dem Studium der überzähligen Zähne" bei dieser Wirbeltierklasse befaßt hat, beobachtete solche beim Rinde, Pferde, Hunde, Fuchs, Kamel und beim Schwein. Kleve»8 und Taeker4 beobachteten sie ebenso beim Pferde, Adloee beim Schwein. Auch ich fand sie beim Hunde. Das größte Material in dieser Hinsicht wurde jedoch von Bateson5 gesammelt, er fand überzählige Incisiven nicht nur bei Ganiden, Viverriden und häufig bei Pferden, er führte auch den ersten Fall von einem überzähligen In- cisiven bei einem Anthropoiden an. Fig. 1 zeigt eine Photographie des von ihm untersuchten Unterkiefers eines Gorilla, die ich der Liebenswürdigkeit von Herrn Dr. Keith am Royal College of Surgeons in London verdanke. In diesem Fall befindet sich der überzählige Incisiv von einer nur geringfügig vom Typus abweichenden Form links zwischen den beiden normalen Incisiven ; hier hat jedoch auch eine Verschiebung in der Stellung der benachbarten Zähne stattgefunden. Fig. 2 zeigt einen ähnlichen Fall, gleichfalls bei einem alten Gorillamännchen; ich konnte diesen Fall dank des gütigen Entgegenkommens von Herrn Dr. Joedan im Rothschild-Museum in Tring bei London untersuchen. Hier befindet sich ein fünfter überzähliger Incisiv im Oberkiefer in der Medianlinie zwischen den beiden normalen mittleren Incisiven, je- doch etwas nach innen gedrängt. Der überzählige Incisiv besitzt die- selbe Größe wie die normalen Incisiven, weist aber wohl infolge seiner gedrängten Stellung eine etwas abnorme Form auf. Die stark ab- genützte Kaufläche zeigt die Form eines unregelmäßigen Dreiecks mit einer starken Ausbuchtung in der nach rechts und labial gerichteten 1 Magitot, Traite des anomalies du Systeme dentaire chez Thomme et les mammiferes. Kap. III, anomalies de nombre, pag. 100-106. — Paris 1877. 2 Hilzheimer. Einige Zahnanomalien wilder Tiere. Anatomischer Anzeiger 1908, pag. 442 sowie nach einer brieflichen Mitteilung. * Klever. Zur Kenntnis der Odontogenese der Equiden. Morphologisches Jahrbuch 1889. * Taeker. Zur Kenntnis der Odontogenese bei den Ungulaten. Dorpat 1892. 8 Bateson. Materials for the study of Variation. London 1894. Überzählige Incisiven bei Affen. 355 Seite. Die drei mittleren Schneidezähne des Oberkiefers stehen in Kontakt mit den beiden mittleren Schneidezähnen des Unterkiefers. Bei den Catarrhinen waren Fälle von überzähligen Incisiven meines Wissens bisher noch nicht bekannt. Einen sehr charakteristischen Fall für das Vorkommen überzähliger Incisiven auch bei dieser Affen- gruppe bietet uns der Schädel eines Golobus caudatus dar, den ich aus dem Kilima-Ndjarogebiet erhielt. Fig. 3 zeigt die Ansicht des Oberkiefergebisses mit 6 Schneidezähnen, und zwar möchte ich, wenn wir die Schneidezähne von der Medianlinie aus gerechnet mit i„ i2, i8 bezeichnen, die beiderseitigen i2 auf Grund ihrer etwas ab- weichenden, kaum merklich breiteren Form als die überzähligen In- cisiven ansehen. Diese überzähligen incisiven stehen ein klein wenig nach außen gedrängt in dem Bogen, den die Schneidezähne des Ober- kiefers bilden. Die beiderseitigen it und i2 des Oberkiefers stehen in Kontakt mit den 4 normalen Schneidezähnen des Unterkiefers, die beiderseitigen i3 des Oberkiefers greifen in die Lücken zwischen den Ganinen und den äußeren Schneidezähnen des Unterkiefers ein. Der betreffende Schädel gehört einem vollkommen ausgewachsenen Exem- plar an.. Ferner befand sich unter dem reichen Affenmaterial, das Herr Geheimrat Professor Dr. Neissee (Breslau) von seiner letzten Reise nach dem malayischen Archipel mitbrachte, auch der Schädel eines Macacus mit einem überzähligen Schneidezahn im Unterkiefer. Für die gütige Überlassung dieses Materials von Affenschädeln zu Studienzwecken möchte ich auch an dieser Stelle Herrn Geheimrat Neisser meinen wärmsten Dank aussprechen. Bei diesem Fall (siehe Figur 4) liegt der überzählige Incisiv in der Medianlinie zwischen den beiden normalen ersten Incisiven Dieser Zahn findet dadurch in der Zahnreihe Platz, daß der leicht gewölbte Bogen, den die Zahnalveolen der Schneidezähne büden, hier etwas stärker gewölbt ist. Der überzählige Zahn ist etwas kleiner als der normale Incisiv; die Deutung dieses Incisiven als eines stehengebliebenen* Milchschneidezahnes erscheint mir jedoch ausgeschlossen (siehe Figur 6), da die Milchschneidezähne de Macacen eine etwas mehr spateiförmige Gestalt aufweisen. Sämtlich Schneidezähne weisen starke Usuren auf und auch der überzählige Zahn zeigt die schräghegende, keilförmige Abnützungsfläche aller Affen- s^hneidezahne. Die schiefliegende Kaufläche der normalen Incisiven einem llln^f ^ ^TT ^ ^ denen ein Milchschneidezahn noch bei bat es agil i s im ObT 1 f ^ S° M ich bei einem «*~ Hylo er e se 356 Richard N. Wegner. zeigt die Figur eines abgerundeten Keils, der jedoch bei dem über- zähligen Zahn mehr oval ist. Seine Kaufläche steht in Kontakt mit den einander berührenden Spitzen der bekanntlich bei den Macacen sehr stark entwickelten oberen Schneidezähne. Dieser Kontakt hat zur Folge, daß der überzählige Incisiv an seiner vorderen schneidenden Kante eine sattelförmige Ausbuchtung erfuhr. Der Schädel gehört einem vollständig ausgewachsenen Exemplar an, die Schädelnähte sind so viel wie vollständig verwachsen, der dritte Molar befand sich bereits in Abnützung. In allen seinen sonstigen Merkmalen war der Schädel ebenso wie bei den vorher erwähnten Fällen durchaus normal. Im Gegensatz zu den Anthropomorphen, bei denen, wie schon erwähnt, überzählige postcanine Zähne sehr häufig vorkommen, scheinen bei allen anderen Gatarr h inen überzählige Zähne überhaupt weit seltener zu sein. Nach der Untersuchung von über tausend Macacen, G ercopithecen und Pavianen kann ich zu den vier Fällen von vierten Molaren, die von Bateson 1 bei einem Gynocephalus porcarius beiderseits im Oberkiefer und bei einem Macacus rhesusim rechten Unterkiefer, von Vbam2 bei einem Gercocebus im Oberkiefer und von Künstler und Chatne3 gleichfalls bei einem Macacus rhesus beiderseits im Oberkiefer und Unterkiefer beschrieben wurden, nur noch einen Fall hinzufügen. Bei einem Macacus maurus im natur- historischen Museum zu Basel fand ich im linken Unterkieferast nach außen gedrückt hinter dem . dritten normalen Molaren einen vierten. In seiner Gestalt glich er völlig dem dritten Molaren, nur war er etwas kleiner. Bei dem verhältnitnismäßig sehr großen Material von Macacen usw., das sich in unseren europäischen Museen befindet, ist diese Zahl im Gegensatz zu den Anthropomorphen sehr gering. Bei den südamerikanischen Affen scheinen überzählige Zähne wieder etwas häufiger vorzukommen. Hier sind sogar einige Fälle von überzähligen Incisiven seit langem bekannt. Schon Rüi>olphi 4 berichtet von einem überzähligen Schneidezahn bei einem Atel es paniscus im Oberkiefer, Magitot5 führt gleichfalls einen überzähligen Incisiv bei einem Atel es an; vielleicht ist hierher auch ein anderer Fall bei einem Atel es ater zu rechnen, den B ateson 6 verzeichnet, 1 Bateson, 1. c. pag. 204. 2 Vram U. G. Un quarto Molare in un Cranio di un Cercocebus. Atti della Societä Romana di Antropologia, vol. XI, fasc. I. - Roma 1904. 3 Künstler und Chaine. Variation de formales dentaires chez les Primates. Comptes rendus hebd. soc. biol. t 60, n. 100. Paris 1906. * Rudolphi, Anat. phys. Abh. 1802, pag. 145. 5 Magitot, 1. c. pag. 101. 8 Bateson, 1. c. pag. 205. Überzählige Incisiven bei Affen. 357 bei dem jedoch nur die Alveole eines überzähligen Incisiven zu beob- achten war. Zu erwähnen wären unter anderem noch besonders die interessanten Fälle von überzähligen Praemolaren, die von Batesox 1 bei Brach vieles hemidactylus und Ateles marginatus und von Blainville2 bei Ateles pentadacty lus und Gebus robustus beschrieben wurden. Die Ansichten Uber die Ursachen oder die Gründe des Auftretens überzähliger Zähne gehen noch immer weit auseinander. Anknüpfend an zahlreiche Fälle verschiedener Art von über- zähligen Zähnen im menschlichen Gebiß ist eine große Keihe von Erklärungsversuchen gegeben worden, die erst vor kurzem eine über- sichtliche Zusammenfassung durch Dependoke3 gefunden haben. Die geringe Befriedigung, welche die Lektüre der reichen diesbezüglichen Literatur in uns zurückläßt, zeigt wie wenig wir nach wie vor die Erscheinung der überzähligen Zähne zu erklären wissen. Vor einem Jahrzehnt versuchte man fast alle derartigen Fälle durch Atavismus zu erklären. Neuerdings findet man häufig die Ansicht verbreitet, daß die Ursachen für die Bildung neuer überzähliger Zähne auf Störungen embryonaler Natur, auf eine zufällige Überproduktion der Zahnleiste usw. zurückzuführen seien. Selenka4 hat in ihnen sogar progressive Variationen sehen wollen. Was den Atavismus anbelangt, so bietet uns die Paläontologie noch nicht den geringsten Anhalt dafür. Kein fossiler Affe zeigt uns ein Gebiß, das mehr wie 32 Zähne besitzt. Ab- gesehen von dem dritten Praemolaren der Platyrrhinen müssen wir bis zu den Prosimiern zurückgehen, um Anhaltspunkte für eine ehemalige Existenz von mehr als 32 Zähnen zu finden. Jedoch schon im späteren Oligocän und bei Beginn des Miocäns ist das Gebiß der Ostaffen auf 32 Zähne reduziert. Die Annahme, daß, nachdem die Affen seit dem Ende des Oligöcäns nur 32 Zähne besitzen, heutzutage noch Rückschläge bei ihnen auftreten sollten, die Anklänge an eine vor dem späteren Oligocän liegende Periode der Entwicklung ihrer Zahnformel zeigen, hat entschieden einige Schwierigkeiten und es ist bisher unmöglich, phylogenetische Schlüsse aus den Variationen der Zahnzahl zu ziehen. Solange aber die Ansichten über die Entstehung der Variationen in der Zahl der Zähne noch so weit 1 Bateson, 1. c. pag, 205. 2 Blainville, Sur quelques anomalies du Systeme dentaire dans les mammiferes in: Laurent, Annales francaises et etrangeres d'Anatomie et de Physiologie, Paris 1837, pag. 300. 3 Die wichtigere Literatur auf diesem Gebiete siehe am besten bei Dependobf, Zur Frage der überzähligen Zähne im menschlichen Gebiß. Zeitschrift für Morpho- logie und Anthropologie, Band X, pag. 194. Stuttgart 1907. 4 Selenka. Rassen, Schädel und Bezahnung des Orang-Utang. Wiesbaden 1898. 358 Richard N, Wegner. auseinandergehen, scheint es mir durchaus nicht unwichtig, jeden einzelnen * all zu registrieren, um so die Ansammlung weiteren Materials zu dieser Frage zu ermöglichen, die eine große prinzipielle Bedeutung für den Zoologen und Paläontologen besitzt, der gewohnt ist, die Zahl der Zähne in allen Ordnungen und Klassen der Säugetiere für gewöhnlich als konstant zu betrachten. Erklärung zu Tafel XII. Fig. 1. Oberkiefer eines alten Gorilla o* mit 5 Incisiven (R. College of Surgeons. London; Osteological cat. Nr. 21 A, pt. 2). » 2. Oberkiefer eines alten Gorilla