Die

JUGEND-BLINDHEIT.

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Kliniscti- statistische Studien

über die

in den ersten 20 Lebensjahren auftretenden ßlindheitsformen.

Von

Dr. Hugo Magnus,

a. ö. Professor der Angenhcilknnde an der Universität zu Breslau.

Mit 12 Farben - Tafeln und lo Abbildungen im Text.

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WIESBADEN.

V F. R r. A G VON T- F. R F R G M ANN. 1886.

Vorwort.

Die vorliegende Arbeit verfolgt den Zweck, die einer einzigen Lebensperiode und zwar den beiden ersten Lebensdecaden eigenartigen Erblindungsformen zu durch- forschen. Der Hauptschwerpunkt der Darstellung ruht dabei auf der klinischen Seite und zwar ist derselbe durch das Material selbst gegeben. Denn da die zur Unter- suchung benützten Blinden fast ausschliesslich Zöglinge von Blinden- Anstalten sind, so war es nur unter gewissen Bedingungen gestattet, durch Bezugnahme auf den Alters- aufbau der Bevölkerung statistische Schlüsse von all- gemeiner Bedeutung zu ziehen. Das quantitativ wie qualitativ gleich vortreffliche Blindenmaterial , welches ich meiner Untersuchung zu Grunde legen konnte, ver- danke ich der grossen Liebenswürdigkeit, mit welcher so viele Spezialkollegen des Li- und Auslandes meinen Wünschen bezüglich der Untersuchung der verschiedenen Blinden -Anstalten entgegengekommen sind und ist es mir desshalb eine angenehme Pflicht, all' den Kollegen, welche mir zur Durchführung meiner Arbeit behülflich gewesen sind, hiermit meinen ergebensten Dank zu sagen.

Breslau im April 1886.

Professor Dr. Magnus.

Inhalts-Angabe.

Erstes Kapitel. Das Material und seine Beschaffung

§ 1. Einleitende Bemerkungen übei* das Studium der Blindheit 1. Nothwendigkeit die verschiedenen Altersgruppen ge- sondert auf ihre Blindheitsformen zu untersuchen 1. Bei jeder Blinden- untersuchung müssen die Altersverhältnisse der untersuchten Individuen angegeben werden 3. Die Wichtigkeit bestimmte topogi-aphisch be- grenzte Bezirke auf ihren ßlindengehalt zu untersuchen 4. § 2. Die Beschaffung des Materials 5. Blinden - Anstalten können unter Benützung der Sammelforschung ein vortreffliches Material liefern 6. Schema für eine derartige Sammelforschung 6. Für alle Blinden-Anstalten sollte eine nach dem gleichen Plan auszuübende Untersuchung der Pfleg- linge obligatorisch eingeführt werden 8. In Amsterdam und London wurde die obligatorische Untersuchung der Pfleglinge bereits eingeführt 8.

Untersuchungsformular für London 9. § 3. Das Material 10. General tabelle 11.

Zweites Kapitel. Die angeborene Blindheit

§ 4. Aetiologie der angeborenen Blindheit 14. Die ursächlichen Momente, welche bei der Entstehung der angeborenen Blind- heit sich als thätig erweisen 15. Vererbung 15. Konsanguinität 16.

Kollaterale Erblichkeit 16. Intrauterine Augenerkrankungeu 16. § 5. Entstehung der an geborenen Blindheit durch un- mittelbare erbliche Uebertragung 17. Prozentarisches Ver- halten der verschiedenen Arten der Vererbung 18. Uebt die Verschieden- heit des Geschlechtes einen Einfluss auf die Häufigkeit der Erbamaurose? 19.

Vererbung der verschiedenen Formen der angeborenen Blindheit 21.

Ueber den "Wechsel in der Form der Erbamaurose 22. Steigening der Vererbung 24. §6. Entstehung der angeborenen Blind- heit durch B 1 Uta ve vwandts c h af t der Eltern 2.5. Die einzelnen Formen der angeborenen Amaurose in ihrem Verhalten zur konsanguinen Ehe 26. Medicinlsche Bedenken gegen die spezifische Schäd- lichkeit der Verwandtcn-Elie 27. Statistische Schwächen der bisherigen

_ VIII

Soito

Beweisführung 29. Dieselben schädlichen Folgen finden sich auch in den Ehen zwischen Nichtverwandten 30. Der Schaden der konsanguinen Ehe ist lediglich durch die Vererbung zu erklären 31.- Die konsauguine Ehe ist unter schlechten äusseren Verhältnissen an Gefahren reicher als wie bei guteu Lebensbedingungen 32. Zusammenfassung der für die konsauguine Ehe gültigen Gesetze 34. - Der Opthalmologe hat keinen Grund, ein Verbot der konsanguinen Ehe vom Staate zu verlangen 34. - §7 Entstehung der angeborenen Blindheit durch kon- genitale Belastung ohneHeredität und Blutsverwandtschaft (Kollaterale Erblichkeit nach Bollinger) 35. - Die kollaterale Erblichkeit beruht auf direkter Heredität 37. _ § 8. D as V o rk o m m en der kongenitalen A m a u r o s e 37. - Die kongenitale Amaurose in den verschiedenen Ländern Europa's 38. - § 9. Die Formen der angeborenen Amaurose 39. - Cataracta congenita compli- cata 40.-Atrophia nervi optici congenita 42.- Schwierigkeit der Diagnose der angeborenen Sehnervenatrophie 42. - Komplikationen der Atropbia optica 43. - Belastung der Geschwister 44. - Häufigkeit der angeborenen Sehnervenatrophie in einer Familie 45. - Mikroph- thalmus 45. Komplikationen in den verkümmerten Bulbis 4o. Entstehung der den Mikrophthalmus begleitenden Cysten 46. - Intrau- terine PanOphthalmitis 46. - Anderweitige Belastung der mit Mikroph- thalmus behafteten Personen 47. - Belastung der Geschwister 47. - Retinitis pigmentosa 47. - Komplikationen 47. - Be astung der Geschwister 48. - Eintritt der Erblindung 48. - Eintreten der Er- blindung in Folge von Allgcmeinerkrankungen 49. - Vertheilung der Retinitis pigmentosa über beide Geschlechter 49. - B u p h t h a 1 m u s 51. -Glaucom und Buphthalmus 51. - Komplikationen des buphthalmischen Auges 51. - Geographische Verbreitung des Buphthalmus 52. - Cho- rioiditis 53. - Retinalatrophie 53. - I r i ü o ch or io idit i s 54. -Albinismus 54. - Keratoconus 55. - § 10. Die Häufung kongenitaler Belastung 55. - Häufung kongenitaler Belastung bei den verschiedenen Formen der angeborenen Amaurose 56. - Belas- tung der Blindgeborenen mit anderen angeborenen Gebrechen 56. - Be- lastung der Geschwister der Blindgeborenen 57. - §11. Gewisse eth- nologische Verhältnisse in ihren Beziehungen zur angeborenen Amaurose 57. - Färbung der Augen 58. - Angeborene Amaurose bei den Juden 59.

Drittes KapiteL Die durch idiopathische Augenerkrankungen

bedingten Blindheitsformen

§12 Ueber dieStellung, welche die durch idiopathische Augenerkrankungen hervorgerufenenBlindheitsformen im

Gebiete der Jugendblindheit einnehmen 61. - § 13. uie einzelnen Formen der durch idiopathische Augenerkran- kungen erzeugten Blindheit 62. - Blennorrhoea neonato- rum 63. - Fnchs sagt mit Unrecht, für die Blennorrhoea lasse sidi eine ziffermässige Bestimmung ihres amaurotischen Werthes nicht geben 63.

Der Werth der Blennorrhoe unter den Blindheitsformen des ersten Lebensjahres 66. Verhalten der Blennorrhoeblindheit in Breslau 67. Beobachtungen über die Blennorrhoe in Mecklenburg, gesammelt von Prof. Schatz 68. Verbreitung der Blennorrhoeblindheit über Eui-opa 69. Blennorrhoeblindheit bei ehelich und unehelich Geborenen 73. Ein- fluss des Geschlechtes auf die Blennorrhoequote 76. Verbreitung der Blennorrhoeblindheit über Stadt und Land 76. Verhütung der Blennorrhoe 78. Ueber die praktische Verwerthbarkeit der Crede'schen Methode 79.

Aeusserungen von Schatz ühev die Benützung der Crecie'scben Methode 79.

(7rerfe'sches Verfahren und Hebammen 81. Atrophia nervi optici ohne C er eb ra 1 s ym p t o me und ohne anderweitige Körper- erkrankung 83. Vertheilung der idiopathischen Atrophie über die ersten zwei Lebensdecennien 84. Iritis und Irido ch o r io i dit is 85.

Spontane Iridochorioiditis 85. Vertheilung derselben über die ersten 20 Lebensjahre 86. Iridocyclitis sympathica non traumatica 86. Die ätiologischen Verhältnisse der Iridochorioiditis an 381 Fällen unter- sucht 86. Trachom 87. Kurve der Erblindungsgefahr durch Trachom in den ersten 15 Lebensjahren 88. Sublatio retinae 89. Häufung der Sublatio in einzelnen Familien 89. Ueber den Eintritt der Sub- latio 91. Blennorrhoea gonorrhoica 91. Diphtheritis con- junctivae 92. Die einzelnen Formen der Diphtherie 92. Glau- com 93. Myopie 93. Gliom 93.

Viertes Kapitel. Die Vei'letzungsbliiidheit

§ 14. Allgemeine Bemerkungen über die Bedeutung der Verletzungsblindheit für die Jugendblindheit 95. Die ein- zelnen Formen der Verletzungsblindheit 96. § 15. Blindheit ent- standen durch direkte Verletzung der Augen 97. Verhältniss zwischen der gleichzeitigen Verletzung beider Augen und der Augenver- letzung einäugiger Personen 97. Grössere Neigung der Einäugigen durch Verletzung zu erblinden 98. Schutzmassregeln für Einäugige 99. Formen der doppelseitigen Verletzungsblindheit 100. Explosionen 101. Verbrennungen 101. -Schussverletzungeu 101. Verletzungsblindheit der Einäugigen 102. Kurve der Erblindungsgefahr durch Verletzung der Augen in den ersten 20 Lebensjahren 103. § 16. Blindheit verursacht durch Verletzung des Kopfes 104. Sturz auf den Kopf 105. —Schlag gegen den Kopf 105. - § 17. Ophthalmia sym- pathica traumatica 106. Das jugendliche Alter scheint für die Entwickelung der Iridocyclitis sympathica eine grossere Neigung zu be- sitzen als die späteren Lebeusphasen 107. Verletzung des zuerst er- blindeten Auges 108. Zwischenraum zwischen der Verletzung des ersten und der sympathischen Erblindung des zweiten Auges 108. Kurve der Erblindungsgefahr durch Ophthalmia sympathica traumatica in den ersten 15 Lebensjahren 109. Verhütung der Erblindung durch Ophthalmia sympathica 110. § 18. Die durch missglückte Augon- operationen hervorgerufene Blindheit III.

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Darstellung bringen können. Untersuchen wir z. B. eine Reihe von Blinden, welche alle zwischen dem 40. und 70. Lebensjahr das Seh- vermögen eingebüsst haben, so werden wir ganz gewiss alle die in diesem Lebensabschnitt aufti-etenden Blindheitsformen klarer und besser zu beui'theilen im Stande sein, als wenn unser Untersuchungsmaterial auch Fälle enthält, welche einer anderen Lebensperiode angehören. Dies ist so selbstverständlich, dass wir einen Beweis uns füglich sparen könnten; doch wollen wir, wenn auch vielleicht zum Ueberfluss, das Gesagte noch an einem bestimmten Beispiel illustru-en.

Handelt es sich z. B. darum, die Glaucomblindheit nach den ver- schiedensten Richtungen hin zu betrachten, so werden wir diesen Zweck am besten erreichen unter Benützung eines Blindenmaterials, bei welchem die Zeit der Erblindung zwischen das 30. bis 70. Lebensjahr fällt. Steht uns ein solches Material nicht zu Gebote, ist das verfügljare Material vielmehr aus Blinden aller Altersgi-uppen zusammengesetzt und umfasst dasselbe besonders in grösserer Menge auch Individuen, welche vor dem 30. Lebensjahr erblindet sind, so wird sich für die Bedeutung der Glaucomblindheit ein erheblich anderes Bild ergeben, als dies bei dem anderen Material der Fall gewesen wäre. Die Gefahr- der Glaucom- bliudheit wird sich für ein solches Blindenmaterial viel geringer her- ausstellen, als wie sie in der That wirklich ist. Aehnlich liegen die Verhältnisse für die Blennorrhoeblindheit ; auch hier hängt die Grösse des numerischen Werthes der Blindheit in unmittelbarster Weise von der Beschaffenheit des Untersuchungsmateriales ab und wenn wir die Ana-aben über die Blindenquote der Blennorrhoe bei den verschiedenen Autoren gar so abweichend finden, wenn Einzelne von 2 oder 3«;o und Andere von 60 »/o sprechen, so ist die QueUe dieser abweichenden Be- obachtungen eben hauptsächlich in der Verschiedenheit des benützten Blindenmaterials zu suchen.

Es liegt nun klar auf der Hand, dass durch die besprochenen Verhältnisse in das Kapitel der Blindheit eine Unsicherheit hmem- gebracht >vird, welche unserer Erkenntniss derselben wenig fordersam sein kann. Es empfiehlt sich desshalb dringend, auf Abhülfe der be- sagten üebelstände zu sinnen und ist eine solche auch wirklich gar nicht so schwer zu beschafien. Hat man für seine Studien ein Matenal zur Verfügung, welches die verschiedensten Altersklassen enthalt, so erscheint es uns rathsam, genau anzugeben, wie viele von den unter- suchten Individuen vor und wie viele nach dem zwanzigsten Lebens- jahr erblindet sind. Am einfachsten dürfle es wohl sein, eine derartige Notiz an den Kopf derjenigen Tabelle zu setzen, welche man über das

prozentarische Verhalten der einzelnen Erblindungsiu-sachen aus seinem Untersuchungsmaterial hergestellt hat; wenigstens habe ich^) in meiner jüngsten Publikation dies Verfahren befolgt.

Natürlich vermag man auf diese Weise den Leser nur über das numerische Verhältniss zu unterrichten, in welchem Jugend- und Alters- bliude in der betreffenden Untersuchuugsreihe zu einander stehen, doch ist mit dieser Thatsache immerhin schon etwas gewonnen. Der Leser hat damit doch ganz gewiss für die Bem-theilung der verschiedenen Blindheitsformen resp. für die Werthschätzung ihrer prozentarische Höhe «men gewissen Anhaltspunkt gewonnen. Er vermag sich darüber ein Urtheil zu bilden, in welcher Weise durch das verschiedene Verhalten der Jugend- und Altersblinden in einer Untersuchungsreihe die einzelnen Er- blindungsformen in ihrem prozentarischen Werthe beeinflusst werden müssen. Erfährt er, dass ein Blindenmaterial in grösserer Menge Alters- blinde zählt, so wird er für die jenseits des 20. Lebensjahres auftretenden Blindheitsformen ein höheres prozentarisches Verhältniss erwarten dürfen, während dagegen ein Ueberwiegen der Jugendbliuden das Nämliche für die bis zum 20. Lebensjahr sich entwickelnden Erblindungsformen voraussetzen lässt. Es geht also aus dem Gesagten hervor, dass es keineswegs genügt, aus einem grösseren Blindenmaterial für die ein- zelnen Formen der Amaurose die prozentarischen Werthe zu berechnen, dass vielmehr die so gewonneneu Zahlen erst dann die richtige Be- deutung erlangen, wenn sie in Beziehimg gebracht ^verden zu den Alters- verhältnissen des Untersuchungsraaterials.

Wenn ich bei dem soeben erörterten Punkt vielleicht etwas zu lange verweilt habe, so geschah dies nur, weil ich denselben in der That für äusserst wichtig halte und weil derselbe in den bisher publi- zirten Arbeiten kaum Beachtung gefunden hat. Ich möchte desshalb allen Kollegen, welche sich mit dem Studium der Blindheit befassen wollen, es dringend an's Herz legen, ihre Untersuchuugsreiheu nicht zum Abdruck zu bringen ohne genügende Rechenschaft über die Alters- verhältnisse der von ihnen benützten Erblindungsfälle. Denn erst durch diese erhalten die gewonnenen Zahlen ihre volle Bedeutung Doch dürfen wir nicht vergessen, dass ein aus allen Altersgruppen zusammen- gesetztes Blindenmaterial niemals ein völlig befi-iedigendes und charak- teristisches Bild der den einzelnen Lebensphasen angehörenden Erblind- ungsformen zu geben vermag. Wir können aus einem solchen Material

^ei. Jar^;S: K^^^-heMonatsblat^ fU. Augen-'

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immer nur vorausgesetzt, dass wir das in demselben herrschende numerische Verhalten der Alters- und Jugendblindheit genügend zu überschauen vermögen eine ungefähre Vorstellung von der Bedeutung gewinnen, welche die verschiedenen Blindheitsformen für die einzelnen Lebensalter besitzen. Zu einem klaren erschöpfenden Bild der Bedeutung der den einzelnen Altersphasen zukommenden Blindheitsformen können wir aber auf dem genannten Wege nicht gelangen, vielmehr sind dazu durchaus Spezialuntersuchungen erforderlich, welche sich nur auf be- stimmte Altersgruppen beschränken.

Da sich die vorliegende Arbeit ganz ausschliesslich nur mit den einer bestimmten Altersperiode nämlich der zwischen dem 1. und 20. Lebensjahre liegenden entsprechenden Blindheitsforraen zu be- schäftigen gedenkt, so sei es uns gestattet, über die Möglichkeiten, welche zur Beschaffung dieses Materiales gegeben sind, einige Bemerk- ungen zu machen.

Im Allgemeinen stehen zwei Wege offen, auf denen man sich über die Charakteristik der den einzelnen Altersperioden eigenartigen Blmd- heitsformen zu unterrichten vermag. Der eine Weg besteht in der Untersuchung aller in einem bestimmten Bezirk vorhandenen Blinden und zwar muss dieser Bezirk schon ein ziemlich umfangreicher sein, also etwa eine Grossstadt, ein Regierungsbezirk oder eine ganze Provmz. Das hierbei gewonnene Blindenma^erial umfasst nun Blindheitsformen aller Altersgruppen und indem man die verschiedenen Formen zusammen- ordnet und mit dem Altersaufbau der gesammten Bevölkerung de& untersuchten Bezirkes in Beziehungen setzt, erhält man über die em- zelnen Arten der Amaui'ose die wichtigsten Aufschlüsse. Gerade dieser letzte Punkt, die Parallelisii-uug des Blindenmaterials mit dem Alters- aufbau der Einwohnerschaft, verleiht den Blindenuntersuchmigen eine ganz besondere Wichtigkeit und zwar ist dieses Verfahren nicht nur geeignet, unsere Kenntnisse über die Blindheit in der ausgiebigsten Weise zu bereichern, sondern auch die klinischen Bilder der verschieden- sten Erkrankungen des Sehorgans erfahren vielfache Berichtigungen und Erweiterungen.^) Wir müssen Skrebitzky^) desshalb auch durch- aus beistimmen, wenn er über diese Art der Blindenuntersuchung sagt: „Ein Weg, welchen die künftigen Bearbeiter wohl werden einschlagen

Mau vergleiche: Magnus, Die Blinden der S t a d t B r e s 1 a u im Jahr 1 884. Archiv für Augenheilkunde. XIV p. 391—436.

') Sh-ebiülcy, m welchem Verhültniss steht in Russ a nd d,e Fürs xg f U d'ieBlinden .u derZahl. Als Manuskript gedruckt und de„. V intlationalen Blindenlehrer-Kongress zu Amsterdam vorgelegt. Lausanne l88o.

müssen, wenn sie zu wirklich belehrenden Resultaten gelangen wollen." Leider ist dieser Weg nur sehr schwer gangbar und steht eigentlich nur demjenigen offen, welcher in nicht unbeträchtlichem Umfange Zeit und Geld zu opfern gewillt ist und ausserdem sich der Unterstützung der Behörden zu erfreuen hat. Und auch selbst dann übersteigt eine derartige Untersuchung , sobald sie in einem grösseren Umfang vorge- nommen werden, z. B. eine ganze Provinz umfassen soll, die Kräfte des Einzelnen noch ganz bedeutend. Es wäre desshalb dringend zu wünschen, dass der Staat aus eigenen Mitteln derartige Untersuchungen veranstalten wollte, zumal ja doch gerade für ihn die Blindenfrage eine hochwichtige, das leibliche wie geistige Wohl seiner Bürger in direktester AYeise berührende ist. Wir wollen es uns desshalb bei dieser Gelegen- heit auch nicht vei-sagen, die massgebenden Behörden auf die metho- dischen, durch Fachleute auszuführenden Blindenuntersuchuugen ganz besonders aufmerksam zu machen. Das ftir solche Zwecke aufgewendete Geld dürfte nicht allein unsere wissenschaftliche Erkenntniss wesentlich fördern, sondern es dürfte gerade in national- ökonomischer Beziehung die besten Früchte tragen, insofern eine Verminderung der Blindenquote durch methodische Erforschung der Blindheit in der namhaftesten Weise gefördert werden muss.

Der andere Weg, auf welchem man die Blindheitsformen bestimmter Altersgruppen studiren kann, besteht in der Sammlung eines gi-össereu Blindenmaterials, welches speziell nur die betreffenden Altersgruppen umfasst. Wenn nun auch dieses Verfahren sehr bedeutende Schwierig- keiten darbietet, so verspricht es doch für das Studium bestimmter Blindheitsformen ein ausgezeichnetes Material. Die grösste Aussicht auf Erfolg verspricht dieses Verfahren vornehmlich dann, Avenn es sich um das Studium der Jugendblindheit handelt, der Blindheitsformen, welche bis zum zwanzigsten Lebensjahre eintreten. Denn gerade diese Blindheitsarten finden sich in den Blinden - Erziehuugs - Anstalten in reichlichster Menge und vermag man sich diese zugänglich zu machen, .so hat man das reichhaltigste Material gewonnen. Diesen Weg habe ich nun eingeschlagen und soll der folgende § 2 über die Ausführung meiner Untersuchungen kurzen Bericht abstatten.

§ 2. Die Beschaffung des Materials.

Es kann wohl kein in der Praxis stehender Ophthalmologe daran denken, eine grössere Anzahl von Blinden -Erziehungs- Anstalten eigen- händig untersuchen zu wollen. Die Opfer an Zeit, welche ein derartiges Beginnen erheischen würde, wären so gewaltige, dass nur selten Jemand

in der Lage sein dürfte, dieselben bringen zu können. Wenn man also von vornherein unbedingt darauf verzichten muss, eine namhaftere An- zahl von Blindenanstalten selbst zu untersuchen, so kann man glück- licherweise für diesen Mangel der eigenen Untersuchung vollsten Ersatz finden. Der heut zu Tage schon wiederholt mit Glück betretene Weg der Sammelforschung bietet auch in imserem Fall die ausreichendste Hülfe dar. Gelingt es, eine grössere Anzahl von Kollegen dazu zu bewegen, die in ihrem Wohnsitz etwa befindlichen Blinden - Anstalten zu untersuchen, so kann man auf diese Weise ein quantitativ wie qualitativ durchaus befriedigendes Material Jugendblinder gewinnen. Die Frage ist nur die, ob die betreffenden Kollegen gewillt sein düi-ften, ein solches Opfer an Zeit und Arbeit zu bringen, wie es die sorgsame Untersuchung einer nur einigermassen besuchten Blinden - Anstalt nun doch einmal erfordert. Diese Frage ist durch die unbedingteste Be- reitwilligkeit, mit der fast alle Kollegen, an die ich mich bittend ge- wendet habe, meiner Aufforderung entgegengekommen sind, auf das Glänzendste beantwortet. 64 eviropäische Blinden-Unterrichts-Anstalten sind von Kollegen für mich untersucht und mir damit ein Material geliefert worden, welches mich in den Stand setzt, die Jugendblindheit in der eingehendsten Weise zu bearbeiten.

Da nun aber Sammelforschungeu nur dann ein befriedigendes Kesultat ergeben können, wenn sie nach einem einheitlichen Plane durchgeführt werden, so habe ich auch für die Untersuchungen der Blindenanstalten ein bestimmtes Schema entworfen, und dasselbe in mehreren tausend Exemplaren zum Abdrucke bringen lassen. Um den Leser mit dem Plan dieser Untersuchungen bekannt zu machen, theile ich mein Schema in Folgendem mit.

Ort der Blinden- Anstalt: Monat und Jahr der Untersuchung:

Name des untersuchenden Arztes:

1. Name des Blinden.

2. Geschlecht.

3. Alter.

4. Religion.

5. Nationalität.

6. Bei Erwachsenen Beruf vor der Erblindung. Bei Kindern Beruf der Eltern.

7. Farbe der Haare.

7

8. Farbe der Iris (wenn noch zu erkennen).

9. Grad der ErWindung:

U. /jcdliib J: 111^X51 III il* XjH HOl XIUIJq t

b. Hat quantitative Lichtempfindung.

c. Absolute Amaurose.

10. Ursache der Erblindung des rechten Auges.

11. Ursache der Erblindung des linken Auges.

12. Befund des rechten Auges.

13. Befund des linken Auges.

'ocken- ilinden.

14. Alter bei der Erblindung des rechten Auges.

15. Alter bei der Erblindung des linken Auges.

16. Ist die Erblindung auf Scrofulose zurückzuführen ?

17. Ist die Erblindung auf Syphilis zu- rückzuführen ?

18. Ist die Erblindung in Folge irgend einer Körperkrankheit entstanden?

1 9. Hat der Blinde körperliche Gebrechen ?

f20. Ist der Blinde vor der Erblindung geimpft?

21. Ist die vor der Erblindung geschehene Impfung erfolgreich gewesen?

22. Ist die Erblindung in der Stadt oder auf dem Lande eingetreten?

23. Sind die Eltern mit einander ver- wandt ?

24. Sind die Eltern normalsichtig oder mit Augenfehlern behaftet?

25. Sind die Geschwister des Blinden mit Körpergebrechen behaftet?

26. Sind sonstige Verhältnisse vorhanden, welche für die ßeurtheilung des Falles von Wichtigkeit werden können?

27. Ist der Blinde ehelich oder unehelich geboren ?

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Es wäre uuii dringend zu wünschen, dass von jetzt an in allen Blinden-Anstalten der Gebrauch derartiger Fragebogen allgemein ein- geführt würde. Jeder neu eintretende Zögling müsste ärztlicherseits genau untersucht und auf Grund dieser Untersuchung der Fragebogen ausgefüllt werden. Bei Fragen, wie z. B. Frage 16, 17, 18, 23, 24, 25 könnten, wenn die Untersuchung und die etwaigen persönlichen An- gaben der Blinden nicht genügenden Aufschluss gewähren sollten , die über jeden Zögling geführten Akten herangezogen werden; eventuell Hesse sich durch Anfrage bei den heimischen Behörden auch Aufklärung gewinnen. Auf diese Weise könnte in wenig Jahren in jeder Blinden- Anstalt eine Sammlung vortrefflicher Protokolle geschaffen werden, welche für die Blindenforschung das ausgiebigste Material darbieten müsste. Ich möchte mich deshalb auch an alle Kollegen, denen Blinden-Anstalten imterstellt sind, sowie an die Direktoren und Vor- stände derselben mit der Bitte wenden, die Untersuchung aller in die Anstalten eintretenden Zöglinge in Zukunft obligatorisch machen zu wollen. Wenn die Untersuchungen regelmässig erfolgen, kein Zögling aufgenommen wird ohne vorausgegangene Untersuchung, so erfordert ein solches Verfahren von den Anstaltsärzten nur geringe Mühe und könnte demnach der Einwand einer Ueberlastung der Anstaltsärzte mit mühevollen Arbeiten wohl kaum im Ernst gemacht werden. Ob bei dem privaten resp. kommunalen Charakter so vieler Blinden-Erziehungs- Anstalten eine obligatorische Einführung der Untersuchung der Zög- linge von Staatswegen zu ermöglichen wäre, vermag ich im Augenblick nicht zu entscheiden. Jedenfalls läge es im Interesse einer einheitlichen, nach gemeinsamem Schema auszuführenden Untersuchung, wenn die Regelung derselben behördlicherseits in die Hand genommen würde. Ich will desshalb auch nicht unterfassen, die Aufmerksamkeit der mass- gebenden Medicinalbehörden auf diesen Punkt ganz besonders zu lenken. Kann ja doch dm-ch allgemeine Durchführung unseres Vorschlages ohne besondere Mühe und ohne Kosten ein für das Studium der Blindheit hochwichtiges Material gesammelt werden.

Uebrigens ist von einzelnen Blinden-Anstalten auf meine Anregung bereits der Beschluss gefasst worden, jeden Zögling bei seiner Aufnahme einer genauen Untersuchung zu unterziehen ; so liegen mir z. B. derartige Mittheilungen aus Amsterdam und London vor. In den Amsterdamer Blinden-Anstalten wird das von mir entworfene Schema benützt ; dasselbe ist in das Holländische übersetzt worden und werden für jeden Zögling fortan alle die von mir auf dem Fragebogen aufgestellten Fragen be- antwortet; diese Protokolle werden gesammelt und so werden diese

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Anstalten fortan in der Lage sein, über die Jugendblindheit die vor- trefflichsten Aufschlüsse zu liefern. Das Royal normal College and Academy of music for the blind Upper Norwood near London hat gleichfalls meinen Vorschlag angenommen und die Untersuchung der Zöglinge in Zukunft als obligatorisch eingeführt ; doch weicht das Schema, nach welchem dort die Untersuchung ausgeführt wird, von dem meinigen nicht unerheblich ab, insofern es beträchtlich Aveniger Fragen stellt. Das englische Schema zählt nämlich nur folgende Fragen:

1. Name.

2. Address.

3. Age.

4. Sex.

5. When admitted.

6. How long blind.

7. Cause of blindness.

8. Any other member of family blind.

9. Consanguinity (Parents, first cousins). 10. Remarks.

"Wenn ich nun auch gern zugeben will, dass dieser englische, von nulke entworfene Fragebogen durch seine Kürze handlicher und schneller zu beantworten ist, als wie der meinige, so kann ich mir doch auf der andern Seitfe auch wiederum nicht verhehlen , dass eben in Folge seiner Kürze der englische Fragebogen auf verschiedene, höchst wichtige Punkte nicht genügend Rücksicht nimmt. So werden z. B. die Beziehungen, welche zwischen Blindheit und AUgemeiuerkrank- ungen bestehen, durch das englische Schema lange nicht in der ein- gehenden Weise untersucht, wie das bei Gebrauch meines Formulares der Fall sein dürfte. Das Nämliche gilt für den Grad der Blindheit, für die Beschaffenheit der Bulbi, für die ethnologisch nicht unwichtigen Fragen nach Farbe der Haare und Augen u. dgl. m. Natürlich liegt es mir fern, auf die allgemeine Annahme des von mir vorgeschlagenen Fragebogens nun unbedingt zu dringen; sollten sich Verbesserungen oder Umänderungen desselben als wünschenswert!! erweisen, so werden mir dieselben gewiss jederzeit hoch willkommen sein. Nur darf man nicht vergessen, dass mit der Kürzung des Untersuchungsformulares auch das Ergebniss der Untersuchung ein knapperes werden muss. Auf alle Fälle aber muss ich auf das Entschiedenste nochmals darauf dringen : dass für alle Blinden - Anstalten, mögen dieselben nun Erziehuugs- oder Zufluchts- Anstalten sein, die Untersuchung jedes Pfleglings ausgeführt und zwar nach einem möglichst einheitlichen Plane ausgeführt werde.

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§ 3. Das Material.

Im Ganzen haben 64 europäische Blinden - Unterrichts - Anstalten meine Bitte erfüllt und ihre Zöglinge entweder einer eingehenden fach- männischen Untersuchung unterworfen oder mir doch wenigstens über einzelne Fragen Aufschluss gegeben. Rechne ich zu dem auf diese Weise gewonnenen Material die von mir in meiner Privatpraxis ge- sammelten Fälle von Jugendblindheit hinzu, so verfüge ich insgesammt über 3204 Fälle doppelseitiger, zwischen dem ersten und zwanzigsten Lebensjahre eingetretenei-, unheilbarer Blindheit.')

Es vertheilt sich dieses Material über die verschiedenen europäischen Länder in folgender Weise:

Deutschland ist mit seinen 27 Blinden -Erziehungs- Anstalten vollständig vertreten, und zwar sind 26 Anstalten während der Jahre 1884 und 1885 unter Benützung des von mir angefertigten Frage- bogens untersucht worden, während 1 Anstalt (Dresden) eine im Jahre 1873 ausgeführte Untersuchung mir zur Verfügung stellte, eine neue Untersuchung unter Zugrundelegung des Fragebogens aber nicht in Ausführung brachte.

Oesterreich-Ungarn ist mit seinen 9 Anstalten ebenfalls voll- ständig vertreten.

Italien ist mit 5 Anstalten betheiligt, nämlich: Neapel (3 An- stalten), Rom, Florenz.

Russland zählt 3 Anstalten in unserem Material: St. Peters- burg, Moskau, Warschau,

') Natürlich habe ich hinsichtlich des Grades der Blindheit in allen Fällen genaue Musterung gehalten, doch musste die Grenze zwischen Blindheit und Schwachsichtigkeit etwas weiter abgesteckt werden, als wie dies bei erwachsenen Blinden der Fall zu sein pflegt. Es wurden nämlich alle diejenigen Individuen, deren Sehschärfe soweit herabgesetzt war, dass eine Theilnahme am Schulunterricht der Sehenden als unmöglich sich erwies, für blind erachtet, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, ob sie Finger nur bis in die Entfernung von '/a m oder weiter zu zählen im Stande waren. Zu diesem Vorgehen wurde ich durch die Erwägung geführt, dass für den Begriflf des Blindseins im jugendlichen Alter vornehmlich die Fähigkeit, am Unterricht der Sehenden theilnehmen zu können, den massgebenden Ausschlag zu geben hat. Ist ein Kind in seinem Sehvermögen so schwer geschädigt, dass es einer Blindenschule zum Unterricht übergeben werden muss, so wird es hierdurch in seinem ganzen Denken und Fühlen sowohl, als auch in seiner Verwendbarkeit im späteren praktischen Leben unbedingt auf die Stufe des absolut Blinden herabgedrückt und ist es aus diesem Grund ziem- lich nebensächlich, ob Finger etwas weiter als wie '/, m gezählt werden oder nicht.

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Spanien hat 3 Anstalten untersuchen lassen: Barcelona, Sara- gossa, Sevilla.

Die Schweiz hat das Blindenraaterial aus den Anstalten Bern, Lausanne, Zürich geliefert.

Belgien ist dui'ch 3 Anstalten vertreten: Brüssel, Lüttich, Ghlin

bei Möns.

Schweden-Norwegen ist betheiligt mit den Anstalten: Stock- holm, Christiania.

England hat aus 2 Anstalten beigesteuert: Norwood bei London, York. Ausserdem ist mir aus den Anstalten in Aberdeen und Glasgow noch eine Statistik der dort vorhandenen pockenblinden Zöglinge mit- getheilt worden.

Holland ist durch 3 in Amsterdam befindliche Anstalten vertreten.

Frankreich hat das in dem Hospital des Quinze - Vingts zu Paris vorhandene Material beigesteuert.

Dänemark, welches bekanntlich in Kopenhagen eine ausgezeichnet geleitete Blinden - Anstalt besitzt, fehlt leider in unserem Material, da von Seiten des Anstalts - Arztes der Untersuchung unüberwindliche Schwierigkeiten entgegengesetzt wurden. Nur der Liebenswürdigkeit des pädagogischen Leiters dieser Anstalt, des Herrn Moldenhawer verdanke ich statistische Mittheilungen über Pocken- und Blennorrhoe- blindheit in Dänemark.

Um mm die Bedeutung des gewonnenen umfangreichen Materials sowohl für die Jugendblindheit im Allgemeinen, als auch für die ver- schiedenen Länder im Speziellen möglichst klar zur Anschauung zu bringen, habe ich zuvörderst das gesammte Material in einer Generaltabelle zu- sammengestellt. Ausserdem habe ich die in dieser Tabelle angegebenen numerischen Verhältnisse auch noch graphisch zur Darstellung gebracht (vgl. graphische Darstellung III). Sodann sind die für die einzelnen Länder geflmdenen Thatsachen in graphischer Darstellung wiedergegeben und zwar sind derartige Darstellungen vorhanden für: Deutschland, Oesterreich- Ungarn, Italien, Spanien, Belgien, Holland, Russland, Schweiz. Für England, Frankreich, Norwegen, Schweden habe ich auf eine graphische Darstellung verzichtet, weil mir für diese Länder nur je eine Anstalt ') zur Verfügung stand und ich Bedenken trug, lediglich nur aus den aus einer einzigen Anstalt stammenden Berichten eine für das ganze Land charakteristische Darstellung zu konstruiren.

') Aus England habe ich allerdings die Berichte zweier Anstalten empfangen doch ist die eine derselben durch so lückenhafte Untersuchungen vertreten, dass ich die statistische Verwerthung derselben nicht für angezeigt erachten konnte.

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Generaltabelle

über

8204 Fälle doppelseitiger Jugendblindheit.

2009 mäunliche, 1195 weibliche.

Amaurosis congenita . .

Auophthalmus

Mikrophthalmus

Buphthalmus

Atroph ia nervi optici .... Retinitis pigmentosa . . . . '

Eetiualatrophie

Chorioiditis und Chorioretinitis . Coloboma chovioideae ....

Iridochorioiditis

Keratoconus

Kei'atitis

Albinismus

Glioma retinae

Cataracta complicata congenita . Nicht bestimmte Formen . . . Verwachsung der Lider mit dem

Bulbus

Myopie

Idiopathische Erkrankungen der Augen

Blennorrhoea neonatorum . . . Blennorrhoea gonorrhoica . . .

Trachom

Diphtheritis conjunctivae . . . Conjunctivalerkrankungen unbe- stimmter Art

Keratitis

Iritis

Iridochorioiditis

Chorioiditis

Sublatio retinae

Myopie

Glioma retinae

Neuro-Retinitis hämorrhagica Atrophia nervi optici . . . .

Glaucom

Essentielle Phtisis

Gesammtzahl

551 =

16 r-. 81

38 =

113 r.

73 --

17 = 21 =

3 = 14 =

3 =

1 :

4 : 1 :

118 ■■

53 ■■

1

4

Männlich

17,197

0,50 2,53 1,19 3,53 : 2,28 ■■ 0,53

: 0,66

= 0,09

= 0,44

= 0,09,,

: 0,03

= 0,12

= 0,03

= 3,68

= 1,34

327-

6 = 43 = 26 = 62 -- 40 = 12 -. 12 :

3 =

11 :

3 ■■

1 :

2 : 1 ■■

78 :

35:

16,327„

: 0,30 , : 2,14

= 1,29

: 3,09

= 1,99

= 0,59

= 0,60,.

= 0,15

= 0,55

= 0,15

-- 0,05

= 0,10

= 0,05

= 3,88

= 1,24

Weiblich

0,03 0- 0,00 0,12 2= 0,10

224 =

10 -- 38 = 12 -- 51 = 33 = 5 : 9 :

0 : 3 :

0 ■■

0:

2

0:

40 18

18,7o7o 0,84 3,18 : 1,00 ■■ 4,27 ■■ 2,76 = 0,42 : 0,80 = 0,00 = 0,25 = 0,00 = 0,00 = 0,17 = 0,00 = 3,36 -. 1,50

1= 0,08 2= 0,17

1060 =

33,08%

626-=

31,167o

434 =

36,327o

753 =

23,50

415 =

20,66

338 =

28,28

15 =

0,47

14 =

0,70

1 =

0,08

42 =

1,31

27 =

1,34

15 =

1,26

14 =

0,44

6 =

0,25

8 =

0,67

26 =

0,81

20 =

1,00

6 =

0,50

15 =

0,47

11 =

0,55

4 =

0,33

6 =

0,19

2 =

0,10

4 =

0,33

61 =

1,90

41 =

2,04

20 =

1,67

14 =

0,44

8 =

0,40

6 =

0,50

27 =

0,84

18 =

0,90

9 =

0,75

4 =

0,12

4 =

0,19

0 =

0,00

0,03

0,05

0 =

0,00

0,03

1 =

0,05 ^

0 =

0,00

74 =

2,31

54 =

2,69

20 =

1,67

6 =

0,19

4 =

0,19

2 =

0,17

0,03

0 =

0,00

1 1 =

0,08

13

Verletzungen

Verletzungen der Augen . . . Verletzungen des Kopfes . . -

Operationen

Ophthalmia sympathica . . .

AUgenieinerkrankungen . .

Scrofulose

Syphilis

Cerebrum mit seinen Häuten Atrophia nervi optici nach Blutung

Morbilli

Scarlatina

Variola

Exanthem unbekannter Natur

Typhus

Morbus maculosus

Phlegmone orbitalis

Tussis convulsiva

Cholera

Intermittens

Bleivergiftung

Tabakvergiftung

Unbekannte Allgemcinerkrankung

Unbekannte Ursachen . . .

Gesammtzahl

Männlich

Weiblich

261 =

8,1 57o

202 =

10,06''/o

59 =

4,947»

76 =

2,37

63 =

3,13

13 =

1,09

33 =

1,03

25 =

1,24

8 =

0,67

5 =

0,16

4 =

0,19

1 =

0,08

147 =

4,58

110 =

5,47

37 =

3,10

1063 =

33,1 77o

686 =

34,1 57o

377 =

31,547.

243 =

7,58

142 =

7,07

101 =

8,45

32 =

1,00

23 =

1,14

9 =

0,75

262

8,18

200 =

9,96

62 =

5,19

2 =

0,06

0 =

0,00

2

0,17

114 ==

3,56

73 =

3,63

1 =

3,43

97 =

3,03

60 =

2,98

37 =

3,10

240 =

7,49»

141 =

7,02

99 =

8,28

14 =

0,44

9 =

0,45

5 =

0,42

£>i =

1 fln 1,UU

OA

ZU

12 =

1 00

0,03

0,05

0 =

0,00

1 =

0,03

0,05

0 =

0,00

4 =

0,12

0,05

3 =

0,25

1 =

0,03 ,

0,05

0 =

0,00

0,03

0,05

0 =

0,00

2 =

0,06

0,05

0.08

1 =

0,03

0,05

0 =

0,00

16 =

0,50

11 =

0,55

5 =

0,42

269 =

8,407o

168 =

8,367,

101 =

8,457o

Zweites Kapitel.

Die angeborene Blindheit.

§ 4. Aetiologie der angeborenen Blindheit.

Wenu unsere Einblicke in die Eutstehungsweise der angeborenen Missbildungen im Allgemeinen und der angeborenen Blindheit im Be- sonderen auch noch recht mangelhafte und beschränkte sind, wenn das, was wir auf diesem Gebiete zu wissen meinen, auch vielfach noch mehr Ahnen und Vermuthen, als wirkliches Wissen sein mag, so verfügen wir doch immerhin über eine Reihe gesicherter Beobachtungen, welche uns gestatten, in die Aetiologie der angeborenen Missbildungen des Auges ein gewisses' System zu bringen. Allerdings verhilft uns dies System auch nicht zu einer wirklichen Erkenntniss der letzten anatomisch- pdysiologischen Faktoren, welche bei der Entstehung kongenitaler ISIiss- bildungen wirksam sind, vielmehr bringt es uns in die dem Physiologen wie Pathologen gleich fatale Lage mit Worten operiren zu müssen, denen die sichere Grundlage eines unserem Verständniss zugänglichen Begriffes fast vollständig mangelt, aber trotz all' dieser Schwächen bietet uns das fragliche System doch immerhin gemsse Anhaltspunkte , und wenn es uns die Erscheinungen auch nicht erklärt, sie in ihrer AVesen- heit nicht durchleuchtet, so rückt sie dieselben doch unserem Verständniss ganz entschieden näher. Und damit ist auf einem so dunklen Gebiet, wie es das in Rede stehende doch nun einmal ist, immerhin schon etwas recht annehmbares gewonnen.

' Die ursächlichen Momente, welche bei der Entstehung der kon- genitalen Augenmissbildungen sich als thätig erweisen, können gemäss den an den Erzeugern, sowie an den Erzeugten gemachten Beobacht- ungen in folgendem Schema vereinigt werden.

Die angeborene Missbildung des Sehorgans kann bedingt werden: 1. ünrch erbliche UebertragUllg, und zwar sind hier folgende drei TJebertraguugsarten möglich:

a) Eine bei den Erzeugern vorhandene Augenmiss- bildung wird unmittelbar auf die Nachkommenschaft übertragen. Es ist dabei durchaus nicht nöthig, dass die Augenmissbildung der Eltern in der nämlichen Form auf die Blinder übertragen werde; dies kann der Fall sein, braucht aber nicht immer einzutreten.' So kann eine mit Myopia excessiva be- haftete Mutter Kinder mit Atrophia nervi optici oder Cataracta congenita u. s. w. gebären. Unsere Arbeit wird spezielle Beispiele dafür auf den folgenden Seiten beibringen.

b) Die Erzeuger haben gesun de Augen, übertragen aber eine in ihrer Familie vorhandene Augenmissbildung auf ihre Kinder; so kann eine gesunde Mvitter oder ein ge- sunder Vater, deren Eltern, Onkel oder Tanten mit Eetinitis pigmentosa behaftet sind, Kinder mit Eetinitis pigmentosa zeugen. Ein besonders typisches Beispiel bietet die Farbenblindheit, bei welcher ja bekanntlich die Uebertragung meist mit Auslassung einer Generation stattfindet. Bollinger bezeichnet diese Ver- erbungsform als die indirekte oder latente Vererbung.

c) Eine bei den Erzeugern vorhandene Allgemein- erkrankung giebt Veranlassung zum Auftreten der angeborenen Augenmissbildung. Die Sehorgane der Eltern können hierbei ganz gesimd sein und nur die all- gemeine Körpererkrankung der Erzeuger belastet die Augen der Nachkommenschaft. So wird z. B. die Retinitis pigmentosa von vielen Autoren mit besonderer Vorliebe auf hereditäre Syphilis zurückgefühi"t.

Uebrigens ist es bei allen drei Vererbungsarten nicht erforderlich, dass die Blindheit mit auf die Welt gebracht wird, bei der Geburt schon nachweisbar ist. Es kann vielmehr lediglich nur die Anlage vererbt werden, so zwar, dass das Kind mit scheinbar gesunden Augen geboren wird, aber zu einer späteren Zeit seines Lebens erblindet. Nicht selten ist dieser Erblindungszeitpunkt bei verschiedenen Mitgliedern einer Familie immer der nämliche. So hat man einschlägige Beobachtungen bei der

') Bollinger, Ueber Vererbung von Krankheiten. Beiträge zur Biologie. .Jubiläumsschrift für Bischoff. Stuttgart 1882. p. 7.

16

Eetiuitis pigmentosa, bei gewissen Formen der Sehnervenatrophie, bei Glaucom u. s. w. gemacht.

2. Durch Blutsverwandtschaft der Eltern oder Vor- eltern. Die geschlechtliche Mischung verwandten Blutes soll ein die Nachkommenschaft belastendes pathogenes Moment bilden.

3. Durch congenitale Belastung ohne Heredität und Blutsverwandtschaft der Eltern. Hierher gehören alle die- jenigen Fälle, in denen in einer Familie mehrere Kinder mit Augen- missbildungen geboren werden, ohne dass man Heredität oder Bluts- verwandtschaft zu deren Erklärung heranziehen kann. Bis jetzt sind derartige Beobachtungen zu wenig gewürdigt worden, obgleich dieselben diu-chaus nicht selten vorkommen. Bollinger nennt diese Fonn die collaterale Erblichkeit.

4. Durch spontane Erkrankung des Sehorganes in utero ohne Mitwirkung einer der drei vorgenannten

Faktoren. Hierbei müssen zwei Möglichkeiten unterschieden werden, nämlich:

a) Die Erkrankung des Sehorganes hat sich in jener Periode entwickelt, in welcher der Aufbau desAuges noch nicht vollendet war; es handelt sich hier also um die sogenannten Bildungsfehler. Gewisse Fälle von Mikrophthalmus, Coloboma u. dgl. m. gehören hierher,

b) Die Missbildung erfolgt auf Grund einer intra- uterinen Erkrankung des entwickelten Auges. Man könnte diese Fälle als fötale Krankheiten des Auges bezeichnen, während man die sub a charakterisu-ten embryonale nennen kann. Zu den fötalen gehören gewisse Formen des ]\Iikrophthahnus, Hornhauttrübungen, Atrophie des Nervus opticus u. s. w. Uebrigens lässt sich eine sichere Unterscheidung zwischen embryonaler und fötaler Erkrankung durchaus noch nicht bei allen Missbilduugen des Auges durchführen, wenn für eine ganze Reihe derselben eine derartige Trennung auch ganz gewiss möglich ist. AVir werden deshalb auch von einer weiteren Besprechung dieser Entstehungs- ursache der congenitalen Blindheit Abstand nehmen.

Es wird nunmehr unsere Aufgabe sein, die genannten Entstehungs- möglichkeiten der congenitalen Blindheit zu besprechen und ihre Be- deutung an dem vorliegenden Material zu prüfen.

17

§ 5. Entstehung der angeborenen Blindheit durch unmittelbare

erbliche Uebertragung.

Für die moderne Naturwissenschaft kann es keinem Zweifel unter- liegen, dass die Entvvickelung der organischen Formen unter dem Drucke eines Vererbungsgesetzes erfolgt; mag der anatomische Aufbau sich innerhalb der normalen Grenzen vollziehen, oder mag er auf patho- logische Abwege gerathen, die Wirksamkeit des Vererbungsgesetzes lässt sich in zahllosen Fällen auf das Schlagendste darthun. Und wen selbst die zahlreichen Beobachtungen der sorgsamsten Forscher, wen seine eigenen Erfahrungen noch nicht in befriedigender Weise von der Thätig- keit des Vererbungsgesetzes zu überzeugen vermögen, der wird den Resultaten gegenüber, welche die Experimentalpathologie auch auf diesem räthselvoUen Gebiet erzielt hat, seinen Skepticismus wohl kaum noch festzuhalten gesonnen sein. Die Versuche, welche Brown-S6quard, Dupuy, Samelsohn, Deutschmann an Meerschweinchen und Kaninchen vorgenommen haben, sie haben die Existenz eines Vererbungsgesetzes über allen Zweifel erhoben. Es wäre deshalb auch ein völlig müssiges Unterfangen, wollten wir an der Hand der umfassenden Literatur noch- mals den Nachweis von dem Bestehen der erblichen Uebertragungs- möglichkeit fuhren^). Es wird vielmehr hier unsere Aufgabe sein, all' den verschiedenen Beziehungen, welche zwischen Erblichkeit und ange- borener Blindheit bestehen, nachzuspüren und sie möglichst klar zu legen. Und indem wir uns dieser Aufgabe zu entledigen trachten, werden wir all' die verschiedenen Punkte, welche hier in Betracht kommen, nun- mehr der Reihe nach beleuchten.

Bereits früher 2) habe ich den Versuch gemacht, den prozenta- rischen Werth, welchen die Vererbung fiir die angeborene Blindheit besitzt, festzustellen und numerisch zu fixiren. Ich habe dazumal vor Allem darnach getrachtet, die Erblindungsgefahr, die aus Ehen, in welche ein oder beide Gatten blind eingetreten sind, für die Nach- kommenschaft erwächst, zahlengemäss zum Ausdruck zu bringen. Es

') Diejenigen, welche sich über die Vererbung eingehender zu unterrichten wünschen, verweise ich auf:

Merten, Die Vererbung von Krankheiten und die etwaigen Mittel, derselben entgegenzuwirken. Eine hygienische Monographie. Stuttgart 1879.

Both, Die Thatsachen der Vererbung in geschichtlich- kritischer Darstellung. Zweite Auflage. Berlin 1885.

Magnus, Die Blindheit, ihre Entstehung und ihre Verhüt- ung. Breslau 1883, p. 133—138.

Magnus, Jagendblindheit. 2

18

^var mir gelungen, 21 Ehen zu ermitteln, in welchen bei Eingehung des Bündnisses bei den Eltern Blindheit oder doch hochgradige Amblyopie vorhanden war. Und zwar war 3 mal Mann und Frau bei der Eheschliessung absolut blind; von den übrig bleibenden 18 Fällen wai- 14 mal der Mann und 4mal die Frau der belastete Theil. Aus diesen Ehen gingen 49 Kinder hervor, von denen 8 mit Augen- fehlern resp. blind geboren wurden, d. h. also 16,3"/,. Es würden hiernach also in 16,3"/„ die Kinder, welche aus Ehen zwischen Blinden resp. zwischen Sehenden und Blmden hervorgehen, erblich be- lastet sein.

Unser inzwischen gesammeltes Material vermag allerdings für- das soeben Mitgetheilte keine neuen Stützpunkte beizubringen, wohl aber ist es im Stande, auf eine Reihe anderer für- die prozentarische Be- deutung der ererbten Amaurose wichtiger Punkte Licht zu werfen.

Zuvörderst können wir an der Hand unseres Materials genau er- mitteln, welche Stellung die Vererbung im Gebiet der angeborenen Blindheit überhaupt beanspruchen darf. Unter 551 Fällen von ange- borener Amaurose liess sich in 50 das ErbHchkeitsgesetz als wirksam erkennen, d.h. also 9,07<7„ der kongenitalen Blindheit smd durch \ er- erbung bedingt. Diese Zitfer umfasst die drei verschiedenen Uebertrag- ungsarten, welche wir auf Seite 15 für die Vererbung als moghch be- zeichnet hatten. Für jede einzelne dieser drei Uebertragungsmoglich- keiten ergibt unser Material folgende Ziffern:

Unmittelbare Uebertragung eines Augenfehlers von Eltern auf Kinder erfolgte 34 mal, d. h. also in 68,00 der Erbamaurose uber- Lpt ; Uebertragung eines in der Famüie eines der Erzeuger vorhandenen ATgenfehlers bef gesunden Augen der Eltern erfolgte 6mal, d. 1. also in 12 00«/ der Erbamaurose überhaupt; Ueberti-agung emer bei den Erzeugern Uandenen AUgemeinerki-ankung auf die Augen der Kinder erfolgte lOmal, d. h. also in 20,000/« der Erbamaurose überhaupt

Die unmittelbare Uebertragung eines Augenfehlers von den Eltei-n auf die Kinder erfolgt hiernach also weitaus am Häufigsten; dann fdgt •1 Vererbung, bei welcher Allgemeinkrankheiten der Erzeuger Bl.nd- Ci de Kinder bedingen. Die Uebertragungsgefahr der B mdheit durch eis Eltern, welch! aus "^^t Blindheit behafteten F^^^^^^^^^ ist nach unseren Erfahrungen die geringste. Auch Dumont ) a ^Uen der mittelbaren und der unmittelbaren Erbamaiu-ose ein ahn-

^^;:;;;;r'Recherches statlstlques sur las causes et les effets de la cöcit^. Paris 1856, p. 86.

19

liebes Verliältniss gefunden. Unter 80 Fällen hereditärer Blindheit waren 68 d. h. 85 "/o direkt von Eltern auf Kinder übertragen, während 12 mal d. b. in 15"/o die Eltern zwar selbst gesund, aber aus einer mit Blindheit behafteten Familie hervorgegangen waren.

Es erübrigt nunmehr noch, zu ermitteln, welche Stellung die Erb- Amaui-ose in der Jugendblindheit überhaupt einnimmt. Unter unserem Material von 3 204 Jugendbliuden finden sich 50 Fälle von ererbter Blindheit, d. h, also 1,56 °/o derselben haben ihre Amaurose auf dem Wege der Ererbung überkommen. Etwas höher beziffern sich die An- gaben, Avdlche Dumont über den nämlichen Punkt gemacht hat, denn er konnte unter 1168 Blinden 80 mal die Ererbung nachweisen, d. h. also in 6,85 "/o. Der Unterschied zwischen den Dumont' sehen und meinen Angaben wird aber noch erheblicher, wenn man bedenkt, dass mein Material nur Jugendblinde umfasst, bei denen naturgemäss ja die Erbamaurose in grösserer Zahl vertreten sein muss, während das Dumont' sehe Material, wenn auch vorwiegend jugendliche Blinde, so doch auch Blinde der verschiedensten Altersklassen enthält, darum eigentlich doch weniger Fälle von Erbamaurose zählen sollte. Ich möchte dess- halb auch der Ansicht zuneigen, dass bei den Ermittelungen Dimionl's wiederholt Irrthümer untergelaufen sein mögen. Uebrigens kann wohl auch der Umstand, dass die Kontrolle und Diagnose der einzelnen Fälle in der vorophthalmoskopischeu Zeit eine weniger exakte gewesen ist, die Höhe der Dumon^'schen Angaben veranlasst haben.

Uebt die Verschiedenheit des Geschlechtes einen Einfluss auf die Häufigkeit der Erbamaurose?^) Bei der Untersuchung der Frage, welchen Einfluss das Geschlecht auf die Ver- erbung der Blindheit ausübt, dürften vornehmlich folgende Punkte in Betracht zu ziehen sein:

1. Spielt der Vater oder die Mutter bei der Vererbung eine hervor- ,ragendere Rolle?

2. Ist das weibliche oder männliche Geschlecht für die Vererbung empfänglicher ?

3. Besteht zwischen dem Geschlecht des Vererbers und der Erben irgend eine Beziehung?

') Man vei-gleiche die Zusammenstellung der über diesen Punkt geäusserten Ansichten verschiedener Forscher bei Both, Die Thatsache der Vererb- ung in geschichtlich-kritischer Darstellung. Zweite vermehrte Auf- lage. Berlin 1885. p. 71 u. ff.

9*

20

Was nun zunächst den ersten Punkt anlangt, so giebt darüber unser Material folgenden Aufschluss:

Unter 50 Fällen von Erbamaurose vererbten

die Mutter 20 mal die Blindheit, d. h, in 40,00 »/o der Vater 24 48,00

beide Eltern 6 » » » 12,00

Es scheint also hiemach kein weitgehender Unterschied zwischen der Vererbungsfähigkeit des Vaters und der Mutter obzuwalten.

Was alsdann den zweiten Punkt anlangt: ob das weibliche oder männliche Geschlecht eine grössere Neigung für das Auftreten der Erb- Amaurose besitze? so habe ich Folgendes gefunden: Von 1195 weiblichen Jugendblinden hatten 23 Erbamaiuose, d. h. l,920/o 2009 männliche 27 1>34

Die Gefahr der Erbamaurose dürfte nach diesen unseren Ergebnissen also auf beide Geschlechter annähernd in dei-selben Weise vertheilt sem.

Schliesslich hätten wir noch zu untersuchen, ob zwischen dem Ge- schlecht des Vererbers und des Erbenden irgendwelche Beziehungen ob- walten, ob etwa der Vater hauptsächlich auf die Söhne, die Mutter auf die Töchter oder dgl. m. die Erbamaurose übertragen. Ueber diesen immerhin recht wichtigen Punkt kann ich nun folgende Aufschlüsse geben: Die Erbamaurose hatten unter 2009 männlichen Jugendblinden 12 vom Vater, d. h. 0,60 «/o , 1195 weiblichen 12 » " ^'^^ »

2009 männlichen 1 1 von der Mutter 0,o5„

1195 weiblichen 9 » ^' ^ »

Die gefundenen Zahlen machen mir nicht den Eindruck, als ob sie der Ausdruck einer in Wirklichkeit vorhandenen erheblichen Mehr- belastung eines Geschlechtes wären. Allerdings belastet ja der Vater nach unseren Ergebnissen die Töchter etwas höher, als wie die Sohne, doch weiss ich wirklich nicht, ob der Unterschied ein so bedeutender ist um aus ihm nun sofort eine thatsächliche Mehrbelastung der Tochter durch den Vater folgern zu dürfen. Und in noch höherem Grad gilt dieser unser Zweifel von den Verhältnissen, welche w bezüglich der durch die Mutter übertragenen Erbamaurose nachgewiesen haben. Hier ist der Unterschied zwischen dem für die Söhne und dem für die Töchter ermittelten mütterlichen Erbantheil ein so geringer, dass ich ihn fuglich doch nicht für den Repräsentanten der typischen Älehr- belastung des einen oder anderen Geschlechtes ansehen möchte.

21

Gedenken wollen wir hier noch der Beobachtung von Carreras- Ai'agö nach welcher gewisse Formen der Erbamaurose meist von der Mutter auf die Tochter, resp, vom Vater auf den Sohn übertragen werden. Die Amaurose befallt also vornehmlich Personen männlichen Geschlechts in derselben Familie. Besonders will Ai^agö dies für Catai-act massgebend ansehen; hat der Vater Cataract erworben oder augeboren überkommen, so soll er ihn meist nur seinen Söhnen, nicht den Töchtern vererben und das Nämliche soll fiir die Mutter gelten. Ausnahmen dieser Kegel sind von anderen Autoren und auch von mir wiederholt beobachtet worden, doch hält Carreras-Aragö dafür, dass dies eben nur Ausnahme wären und weitaus am häufigsten eine Ge- schlechtsfolge eingehalten würde.

Die Vererbung der verschiedenen Formen der an- geborenen Blindheit. Was zuvörderst die Häufigkeit anlangt, mit welcher die einzelnen Formen der angeborenen Blindheit bei den 50 Fällen von Erbamam-ose, welche unser Material zählt, betheiligt sind, so entfallen auf:

, 12 Fälle

24,00''/o

Cataracta congenita complicata

12

24,00

Retinitis pigmentosa . - . .

11

22,00

Mikl'ophthalmus

. 6

12,00

. 4

8,00

2

4,00

Iridochorioiditis

1

2,00

Unbestimmte Formen

2

4,00

50 Fälle = 100,0070 Natürlich veranschaulichen die vorstehenden Zahlen nicht die Ver- erbungsfahigkeit der betreffenden Blindheitsformen, sondern sie stellen lediglich nur dar die Häufigkeit, mit welcher die einzelnen Formen unter den 50 Fällen der Erbamaurose überhaupt vertreten sind. "Werfen wir die hochwichtige Frage auf: welche Ererbungsmöglichkeit den ein- zelnen Formen der congenitalen Blindheit zukommen, so können wir darauf nur in der Weise eine Antwort finden, dass wir ermitteln, wie oft unter den in unserm Material vorhandenen Fällen von congenitaler Amaurose die einzelnen Formen durch Vererbung bedingt sind. Die folgende Zusammenstellung wird diese Verhältnisse veranschaulichen:

') Carreras-Aragö, De las Cataratas h eieditarias y de trasmision p ri n cip al m en t e h los individuos de sexo igual al del paciente originario. La Revista de cieotias mddicas de Barcelona 1884. August.

22

Von nachstehenden Fällen von Amaurosis congenita sind unter 4 Fällen, bedingt durch Myopie, ererbt 3 Fälle = 7 5,00"/ »

73 ^, Retinitis pigmentosa „11 =15,07,,

113 Atrophia nervi optici 12 =10,62,,

118 Cataracta corapl. cong. 12 =10,10,,

81 Mikrophthalmus 6 = 7,41

38 ,, Buphthalmus 2 = 5,26

35 Erkrank. d.XJvealsystems 1 = 2,86,,

4.« unbestimmte Formen 2 = 4,65

Man sieht, die Werthskala, welche wir in dem Vorstehenden für die Vererbungsfähigkeit einzelner Formen der congenitalen Amaurose versucht haben aufzustellen, wird durch die khnischen Erfahrungen in der besten Weise gestützt. Für die schweren Formen der Myopie fängt man in den letzten Jahren ja doch auch an, die Heredität in der ausgiebigsten Weise heranzuziehen und in der Aetiologie der Retmitis pigmentosa spielte die Erbblindheit ja stets eine hervorragende Rolle.') Die Vererbungsfähigkeit der Sehnervenerkrankimgen ist durch eine Reihe sicherer Beobachtungen als keineswegs selten erkannt worden ^) und für die Cataracta ist die Heredität eine schon in der ältesten Literatur wiederholt betonte und lange gekannte Eigenthümlichkeit. 3)

Die vorliegende Literatur ist überreich an Mittheilungen, welche die hervorragende Vererbungsfähigkeit der gerade in unserer Zusammen- stellung die Führung habenden Blindheitsformen beweisen.

Es bliebe nunmehr noch zu untersuchen, ob die Fälle von Erb- Amaurose, welche unser Material zählt, in der gleichen Form vom Erzeuger auf die Nachkommenschaft übertragen worden seien, resp. wie oft dies der Fall gewesen sei und wie oft nicht. Leider bin ich aber nicht im Stande, diese wichtigen Verhältnisse zahlengemäss zum Ausdruck zu bringen. Mein Material reicht hiezu eben mcht aus, denn nur in den selteneren Fällen konnten auch die Eltern zui- Unter-

>) Wider, Ueber die Aetiologie der Retinitis pigmentosa M.t- theilungen aus der ophthalmiatrischeu Klinik in Tübingen. Bd. II, Heft 2. lubingen 1885 -bringt eine vortreffliche Zusammenstellung der über Heredität der Retinitis niementosa veröffentlichten Beobachtungen.

n Leher, Die Krankheiten der Netzhaut und des Sehnerven. Gräfe nnA Sämisch, Handbuch der gesammten Augenheilkunde. Band V, iheil V.

"^^^1 Ze^^ Bin Beitrag zur Lehre von der Erblichkeit des grauen Staares. Mittheilungen aus der ophthalmiatrischeu Klimk in Tübingen Band II. Heft 1. Tübingen 1884. p. 120.

23

suchimg herangezogen werden, und Angaben, welche nicht auf fach- männische Untersuchung der Eltern gegründet sind, erscheinen mir nicht flu- genügend verlässlich und enthalte ich mich der Wiedergabe derselben deshilb grundsätzlich. Im Allgemeinen wissen wir ja, dass ein Wechsel in der Form der vererbten Missbildung beim Menschen keineswegs zu den Seltenheiten gehört, im GegentheU sogar recht oft vorzukommen scheint; so kennen Avir z. B. Fälle, in denen ein mit Atrophia nervi optici be- hafteter Vater Kinder mit Retinitis pigmentosa zeugte i), oder wo Eltern mit Retinitis pigmentosa ihre Kinder mit Hemeralopie ^) oder Daltonis- mus3) belasteten u. dgl. m. Unser Material gedenkt eines Falles, in welchem eine mit Myopia excessiva und Cataracta partialis behaftete Frau drei Kinder mit doppelseitigem Mikrophthalmus zeugte. Doch wollen wir derartige Beobachtungen nicht häufen, die angeführten ge- nügen, um die Thatsache sicherzustellen, dass nicht sowohl die Form der Amaiu-ose, als vielmehr die Anlage zu einer solchen erblich über- ü-agen wird und zwar kann diese Anlage, wie die sogleich zu er- wähnenden experimentellen Arbeiten dies darthun, sowohl durch erbliche als durch später acquirirte Augenmissbildungen vererbt werden. Deutsch- mann % Snmelsohn^), Brown Sequard'^) und Dupuy'') haben nämlich von Kaninchen und Meerschweinchen, denen sie künstlich Augenver- letzimgen beibrachten, mit erblichen Augenmissbüdungen belastete Nach- kommenschaft erzielt und zwar ist diese Belastung mit einer merk- wiu-digen Sicherheit bei den meisten Untersuchungsthieren zur Beob- achtung gelangt, mit einer viel grösseren Promptheit, als wir solche beim Menschen glücklicherweise zu beobachten Gelegenheit haben.

') Schmidt - Bimpler , Zur Heredität der Retinitis pigmentosa. Klinische Monatsbl »Itter für Augenheilkunde. XII. Jahrgang. Stuttgart 1874. p. 29.

2) Mooren, Fünf Lustren ophthalmologischer Wirksamkeit. Wiesbaden 1882. p. 220.

') Magnus, DieBlindheit, ihre Entstehung und ihre Verhütung.

Breslau 1883. p. 141.

♦) Deutschmann, Ueber Vererbung von erworbenen Augenaffek- tionen bei Kaninchen. Klinische Monatsblätter für Augenheilkunde. XVIII. Jahrgang. Stuttgart 1880. p. 507.

') Samelsohn, Zur Genese der angeborenen Missbildungen specicU des Mikrophthalmus congenituS. Centraiblatt für die med. Wissenschaften. 1880. No. 17.

') Urown-Sequard, Tvansmission par her^dite de certains alte- rat ions des yeux chea les cobayes. Gaz. m^d. de Paris 1880. p. 638.

') Dupuy, Note on iuherited effets of lesions of the sym- pathetic nervo and corpora restiformia on the eye. Report of the fith inter-nat. ophth. Congress. p. 252.

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Halten wir die Pünktlichlceit , mit welcher Augeuverletzungeo beim Kaninchen und Meerschweinchen zum hereditären Eigeuthum mehrerer Generationen werden Dupuy und Brown-Sdquard konnten durch 5 Generationen die experimentellen Augenverletzungen als hereditäre Belastung nachweisen mit der relativen Seltenheit zusammen, mit welcher Verletzungen des Auges beim Menschen sich durch Vererbung fortpflanzen , so kann man auf die Vermuthung kommen , dass der Zwang der Vererbung bei den niedriger organisirten Thiei'en denn doch ein energischer sein dürfte, als bei dem höchst organisirten Wesen, dem Menschen. Es scheint so, als ob beim Menschen die Ererbung einer in utero bereits vollendeten Amaiu'ose erheblich zurückträte zu Gunsten der Ererbung einer Anlage, welche zu ihrer Entwickelung erst eines geeigneten Entfaltungsreizes während des extrauterinen Lebens bedarf. Denn würde das Menschengeschlecht mit solcher Pünktlichkeit auf jede Erwerbung einer schweren Augenverletzung mit Erbamaurose antworten, wie dies die Experimentalpathologie für Kaninchen und Meerschwein- chen lehrt, so würde bei den vielen Augen, welche alljährlich durch Verletzungen zu Grunde gehen, die Erbamaurose gar bald in bedeutenden Dimensionen auftreten müssen und die Zahl der ererbten Blindheits- formen müsste schon längst eine viel bedeutendere sein, als sie es in der That ist. Natürlich will ich aber die soeben geäusserte Ansicht keineswegs in die anmassende Form eines feststehenden Gesetzes kleiden vielmehr soll dieselbe eben nichts weiter sein als eine Vermuthung.

Es würde nun noch erübrigen, einen flüchtigen Blick auf die Steigerung der Vererbung zu werfen. Unter Steigeruug der Vererbung verstehen wir jene Erscheinung, bei welcher die hereditäre Belastimg sich im Auftreten verschiedener Formen der angeborenen Missbildungen in einer Familie äussert. Und zwar sind hier zwei Er- scheinungsformen möglich, indem nämlich einmal ein Familienglied mit verschiedenen Missbildungen hereditär belastet sein kann oder indem mehi-ere Glieder der nämlichen Familie angeborene Missbildungen von den Eltern empfangen haben. Ueber diese Verhältnisse giebt unser Material folgende Aufschlüsse:

Mit congenitaler Amaurose Avaren behaftet unter 50 Fällen 26 mal nur 1 Familienmitglied = 52"/o

50 21 2 Familienmitglieder = 42

50 3 1 Familienmitgl. mit mehr. Missbildungen = 6„

Es ist also hiernach die Gefahr, dass mehrere Mitglieder einer Familie mit congenitalen Missbildungen heriditär bedacht sein können, eine recht brennende, insofern, wie dies unsere Zahlen zeigen, fast in

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der Hälfte aller Fälle vou congenitaler Amaui'ose eine Steigerung der Vererbung nachweisbar ist.

Was nun zunächst die 3 Fälle anlangt, iu denen 1 Mitglied einer Familie verschiedene congenitale Missbildungen aufzuweisen hat, so handelt es sich in einem Fall um eine irrsinnige Mutter, die ein mit Atrophia nervi optici congenita und Extremitätenlähraung behaftetes Kind geboren hatte. Im zweiten Fall hatte eine halbbliude Mutter eine mit Atrophia optici congenita und Epilepsie behaftete Tochter und im dritten Fall endlich hatte ein tauber Vater eine taube und zugleich in Folge von Ketinitis pigmentosa congenita blinde Tochter.

Von den 21 Fällen, in denen mehrere Kinder einer Familie here- ditär belastet sind, wäre zu erwähnen, dass die erbliche Amaurose nicht bei den Kindern der nämlichen Familie immer dieselbe Form zu zeigen braucht, sondern dass die verschiedensten Formen aus einer gemeinsamen erblichen Belastimg entstehen können ; so werden z. B. Myopia excessiva und Cataracta congenita complicata, oder Atrophia nervi optici congenita und Cataracta complicata, oder Hemeralopie und Retinitis pigmentosa u. dgl. m. als verschiedene Ausdrücke eines gemeinsamen erblichen Momentes be- obachtet. Auch können Missbildungen der verschiedensten Körper- organe bei verschiedenen Gliedern einer Familie in Folge erblicher Be- lastung durch die Eltern iu Erscheinung treten. So berichtet unser Material z. B. von Fällen, in denen ein Bruder mit Cataracta congenita, eine Schwester mit Taubstummheit behaftet waren und der Vater an Amau- rosis congenita (Form nicht näher bestimmt) gelitten hatte. Ein anderes Beispiel meines Materials kennzeichnet das Variireu eines hereditären Keimes bei verschiedeneu Familien gliedern iu ganz besonders treffender Weise. Ein geisteskranker Vater zeugt 6 Kinder, von denen 5 taub- stumm und 1 mit Retinitis pigmentosa congenita behaftet ist. Der Einfluss der Vererbung zeigt sich in diesem Fall noch besonders deut- lich durcb den Umstand, dass die Mutter dieser 6 hereditär behafteten Kinder mit einem anderen gesunden Mann in anderer Ehe lauter ge- sunde Kinder gezeugt hat.

§ 6. Entstehung der angeborenen Blindheit durch Blutsverwandtschaft

der Eltern.

Unter den 551 Fällen congenitaler Amaurose, welche unser Material zählt, finden sich 43, in denen Blutsverwandtschaft der Eltern nachweis- bar ist, d. h. also in 7,80 "/o der gesammten angeborenen Blindheit. Unter diesen 43 Fällen waren die Eltern 24 mal Geschwisterkinder; 7 mal waren die Eltern im zweiten oder dritten Grade mit einander

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verwandt und 12 mal konnte die Art der Verwandtschaft nicht in hinreichender Weise bestimmt werden.

Ueber die einzelnen Formen der congenitalen Amaurose vertheilen sich diese 42 Fälle in folgender Weise:

Aus blutsverwandten Ehen stammend waren unter 73 Fällen von Retinitis pigmentosa 12 = 16,44"/o

14 Retinalatrophie 2 = 14,29

113 Atrophia nervi optici H = 9,73

81 Mikrophthalmus ö = '^'^^ "

118 Cataracta congenita complicata 7 = 5,93 35 Coug. Uveal-Erkrankungen 3 = 8,57

43 nicht getrennten Formen 2 = 4,65

Die Erfahrungen der Praxis stimmen mit den vorstehenden Zahlen insofern recht gut überein, als eben die Retinitis pigmentosa diejenige Form der angeborenen Blindheit ist, bei welcher auch nach den prak- tischen Beobachtungen sich besonders häufig Beziehungen zur consan- guinen Ehe nachweisen lassen. So spärlich im Allgemeinen auch die Nachrichten fliessen über das Abhängigkeitsverhältniss, in welchem die übrigen Formen der angeborenen Blindheit zu der Verwandten - Ehe stehen, so reichhaltig ist die Literatur über die Retinitis pigmentosa und deren innigen Beziehungen zur consanguinen Ehe. Seit Liebreich ) im Juli 1861 seine Beobachtungen über die Entstehung der Retmiüs pigmentosa durch geschlechtliche Vereinigung blutsverwandter Indmduen zuerst mitgetheilt hatte, haben zahlreiche Forscher es sich zur Aufgabe gemacht, die ätiologischen Beziehungen zwischen Retinitis Pigmentosa und consanguiner Ehe klarzulegen. In allerneuester Zeit h^t Wider ) die Frage wieder aufgenommen und in höchst ausführlicher A\eise be- handelt. Von 41 in der Tübinger Klinik zur Beobachtung gekommenen Fällen von Retinitis pigmentosa entfielen 14 auf die Verwandten-Ehe, d h also 34,l''/o ; diesen Befund vergleicht Wider nun mit den Er- gebnissen, welche er aus einer Zusammenstelkmg der in der Literatur zerstreuten Angaben gewonnen hat. Wider hat aus den statistischen Angaben, welche er bei 17 Autoren gefunden, einen durchschmttlichen Prozentsatz von 31,8''/o berechnet; die meisten Forscher geben 25 bis 30»/o an; geringere und höhere Angaben, wie l3,6«/o {Webster) und

^) Liebreich, Abkunft aus Ehen unter Blutsverwandten als Grund von Retinitis pigmentosa. Deutsche Klinik Nv. 6. 1861

^) Wider, Ueber die Aetiologie der Retinitis pigmentosa^ Mit theilungen aus der ophthalmiatrischen Klinik in Tübingen. Band II. Heft 2. Tübingen 1885.

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60°/o {Hocquard) gehören zu den Ausnahmen. Wh- dürften desshalb wohl auch nicht fehlgreifen, wenn wir gegen 30 "/o der Retinitis pig- mentosa auf das Conto der Verwandten-Ehe setzen.

Liefern die mitgetheilten Zahlen nun den untrüglichen, statistisch nicht anzweifelbaren Beweis für eine in der Verwandten - Ehe liegende spezifische Schädlichkeit, beweisen sie wirklich, dass durch die geschlecht- liche Vereinigung verwandten Blutes ein die Nachkommenschaft be- lastendes pathogenes Moment geschaffen wird? Es hat nicht an Autoren und zwar den namhaftesten gefehlt, welche, gestützt auf Beobachtungen,, wie die eben mitgetheilten, aus der Vermischung verwandten Blutes den Grund für degenerative Störungen der Descendenz mit vollster Sicher- heit abgeleitet haben. Wenn nun auch so anerkannte Forscher, wie Mooren u. A., für eme solche Behauptung mit vollster Ueberzeugung einzutreten kein Bedenken getragen haben, so kann ich doch nicht umhin, über die spezifische Schädlichkeit der Verwandten -Ehe meine erheblichsten Zweifel zu äussern. Die ausgezeichneten Beobachtungen, wie sie Mooren, Leber, Sämisch, in jüngster Zeit Wider u. A. veröffent- licht haben, vermögen, nach imserer Meinung wenigstens, nicht mehr zu beweisen, als dass dm-ch Verwandten -Ehen unter Umständen für die Nachkommenschaft recht bedenkliche Konsequenzen geschaffen werden. Diese Thatsache erkenne ich voll und ganz an; auch für mich kann kein Zweifel mehr darüber bestehen, dass die eheliche Vereinigung^ Blutsverwandter unter Umständen das leibliche Wohl der Nachkommen- schaft in recht erheblicher Weise zu schädigen im Stande sei. Kon- genitale Missbildungen im Allgemeinen und Amaurose im Besonderen werden an Personen, welche aus Verwandten-Ehen stammen, nicht selten beobachtet; diese Thatsache erkenne ich gern und willig an und ich glaube sogar, es hiesse sich absichtlich verblenden, wollte man diese Erscheinung in Abrede stellen. Allein ich vermag nicht einzusehen, warum man mit Anerkennung dieser Thatsache gezwungen sein soll, für die Erklärung der fi-aglichen Erscheinung ausschliesslich nur die geschlechtliche Vereinigung verwandten Blutes herbeizuziehen. Will man dies thun, will man die Vermischung verwandten Blutes ganz, allein nur als den pathogenen Faktor ansehen, so muss man zuvörderst mit vollster Sicherheit jede andere Erklärungsmöglichkeit für die Schäd- lichkeiten der konsanguinen Ehe ausschliessen ; man muss den über- zeugenden Beweis beibringen, dass kein anderes Schädlichkeitsmoment in der Verwandten-Ehe vorhanden sein kann, als gerade die Vermisch- img des verwandten Blutes. Sind nun aber die Vertheidiger der spezi- fischen Schädlichkeit der Verwandten-Ehe diesem Postulat nachgekommen ?

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Haben sie wirklich irgend einen Beweis dafür beigebracht, dass ledig- lich nui- die geschlechtliche Vereinigung verwandten Blutes jene der Verwandten -Ehe eigenthümlichen Schädlichkeiten schafft? Ja haben sie überhaupt einen ernstlichen Versuch gemacht, einen solchen Beweis anzutreten ? Soweit meine Kenntniss der Literatur reicht , haben sie das nicht gethan; ihre Beweisführung beschränkte sich durchweg nur darauf, für die Schädlichkeit der Verwandten - Ehe einen numerischen Ausdruck aus ihrem Beobachtungsmaterial zu gewinnen imd hatten sie einen solchen gefunden, nun alsbald zu versichern, mit diesem Ergeb- niss sei der Nachweis erbracht, dass aus der Vereinigung verwandten Blutes ein pathogener Faktor für die Nachkommenschaft erstehe. Mau vergleiche die Arbeiten von Devay , Bewis, Boudin u. A.') und man wird sich von der Wahrheit des soeben Gesagten mühelos überzeugen. Einem Jeden, der es mit den Gesetzen der Logik nicht gar zu leicht nimmt, muss es einleuchten, dass die alleinige Ermittelung des nume- rischen Verhältnisses der aus der Verwandten - Ehe hervorgehenden Schädlichkeiten noch durchaus kein erklärendes Licht werfen kann auf die ursächlichen Momente dieser Schädlichkeiten selbst. Zu einer wu-k- lichen Erklärung der durch die Verwandten-Ehe bedingten Schädlich- keiten gehört denn doch noch mehr als das einfache Konstatiren der letzteren. Ganz unerlässlich für jedes Verständniss der in Rede stehen- den Verhältnisse ist in erster Linie ein genauer Nachweis über die Gesundheitszustände der die Ehe bildenden Verwandten, sowie eine Kenntniss der gleichen Verhältnisse bei den Eltern derselben. Man muss auf das Genaueste darüber unterrichtet sein, ob und welche krank- hafte Anlagen in den betreffenden Familien vorhanden sind, denn nur im Besitze dieser Kenntnisse kann die Möglichkeit einer erblichen Ent- stehung der für die Verwandten - Ehe ermittelten Schädlichkeiten aus- geschlossen werden. Aber gerade dieses ei-ste und wichtigste Erforder- niss einer rationellen Untersuchung der Verwandten -Ehe vermisse ich bis jetzt so gut wie ganz. So lange man aber nicht mit vollster Sicher- heit beweisen kann, dass die der Verwandten-Ehe entsprossenden Schäd- lichkeiten nicht auf dem Wege der Vererbung entstanden sind, so lange hat man auch nicht das Recht, ja nicht einmal einen Schein von Recht füi- die Behauptung, dass die geschlechtliche Vermischung verwandten Blutes an und für sich das pathogene Moment für die Nachkommen- schaft darstelle. Und diese Ansicht theile ich mit einer grossen An- zahl von gewiegten, einsichtsvollen Forschern.

>) Man vergleiche den Artikel über B lutsver wandtsch af t von Olärndorff in der Real-Encyklopädie der gesanimten Heilkunde. Band II. p. 353.

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Aber selbst wenn wir unsere medicinischen Bedenken einmal fahren lassen und von der Möglichkeit der Vererbung ganz absehen wollten, so könnten wir uns doch der Einsicht nicht verschliessen , dass alle Untei-suchungen, welche man für die specifische Schädlichkeit der Ver- wandten-Ehe ausgeführt hat, vom statistischen Standpunkt aus die höchsten Bedenken en-egen müssen. Wide?' hat vollkommen Recht, wenn er sagt, als entschieden kann die specifische Schädlichkeit der Verwandten-Ehe erst dann gelten : „wenn zuverlässige Angaben über das Häufigkeitsverhältniss der Ehen Blutsverwandter zu denen nicht Bluts- verwandter zu Gebote ständen", und wenn das möchte ich diesen "Worten Wider' s noch beifügen die Gesundheit der aus beiden hervor- gegangenen Kinder auf breitester statistischer Basis untersucht worden ist. Die Schwäche der statistischen Beweisführung hat Fuchs ^) sehr wohl gefiihlt und müssen wir es demselben hoch anrechnen, dass er wenigstens den Versuch gemacht hat, den statistischen Boden, auf welchem die Lehre von der specifischen Schädlichkeit der Verwandten- Ehe ruht, etwas mehr zu festigen. Leider ist nur dieser Versuch voll- ständig misslungen und wenn Fuchs selbst die Unzulänglichkeit seiner Statistik bedauert, so können wir ihn in diesem seinem Beginnen nur vollständig unterstützen, denn die von ihm versuchte Beweisführung entbehrt wirklich jeder Verlässlichkeit vollkommen.

Während das, was ich im Vorstehenden gegen die specifische Schäd- lichkeit der Verwandten-Ehe vom medicinischen und statistischen Stand- punkt aus geltend gemacht habe, eigentlich nur negativen Fehlern, Unterlassungssünden der Beweisführung gegolten hat, vermag ich nun- mehr auch noch eine positive Thatsache beizubringen , welche auf die Ansicht, dass lediglich nur aus der geschlechtlichen Vereinigung ver- wandten Blutes schon pathogene Factoren erwachsen könnten, ein recht eigenthümliches Licht zu werfen wohl geeignet sein dürfte. Unser Material lehrt nämlich, dass Ehen unter Nicht-Blutsverwandten die Nachkommenschaft in einer ähnliehen Weise gefährden, wie dies die Verwandten-Ehe auch thut. Unter den 551 Fällen congenitaler Amaurose, welche mein Material zählt, finden sich nämlich 94, d. h. 17,06*'/o, in denen mehrere Kinder einer Familie mit angeborener Blindheit be- haftet sind, ohne dass bei den Eltern irgendein Verwandtschaftsgrad oder ein klar zu Tage liegendes erbliches Moment nachweisbar wäre. Für die Gefahr der Verwandten-Ehe ergab unser Material einen Procent-

') Fuchs, Uie Ursachen und di e V evh üt u ng d er B 1 i nd h e i t. Wies- baden 1885. p. 15.

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satz von l,SO^Io. Ich weiss nun sehr wohl, dass man den Procentsatz von 7,80 ^/o, den die konsanguine Ehe und 17,06, welchen die colla- terale Erblichkeit uns ergeben haben, nicht ohne weitres neben einander stellen, resp. mit einander vergleichen darf. Zu einem solchen Ver- gleich dürfte man nur dann schreiten, wenn man die Häufigkeit der Verwandten- und der Nichtverwandten-Ehe genau wüsste; denn die Verwandten-Ehe kommt ja doch um so viel seltener als wie die Ehe unter Nichtverwandten vor, dass möglicherweise die 7,63 °/o, welche die Verwandten-Ehe in unserem Material an Schädlichkeitsmomenten re- präsentirt, vertheilt man sie auf die einzelnen Ehen, einen viel grösseren Schaden darstellen würden, als man dies nach der Geringfügigkeit der Zahl vermutheh sollte. Ueber das quantitative Verhältniss, in welchem der Schaden der Verwandten- zur Nichtverwandten-Ehe steht, vermögen wir uns, so lange sichere statistische Mittheilungen über die Zahl der Verwandten-Ehe in geringem Umfang noch ausstehen, zwar nicht zu unterrichten, das gebe ich gern zu; aber diese Thatsache ändert daran nichts, dass die Nichtverwandten-Ehe unter Umständen genau dieselben Schädlichkeitsmomente zeitigt wie die konsanguine Ehe. Uebrigens haben andere Autoren Beobachtungen gemacht, welche den unserigen auffallend gleichen ; so sagt z. B. Leber , dass Häufung von Fällen der Retinitis pigmentosa fast ebenso oft in Familien, vorkommen, deren Eltern nicht ver- wandt seien, als wie in konsanguinen Ehen. Auch Dumont scheint unter seinem Material ähnliche Erfahrungen gemacht zu haben. Und schliesslich äussert sich eine der bedeutendsten Autoritäten auf dem Gebiet der Entwickelungsgeschichte des Auges, Manz ') über diesen Punkt: „Häufiger noch als die Wiederholung einer Bildungsanomalie im descendirenden Verwandtschaftsverhältniss ist das Vorkommen derselben bei mehreren Gliedern derselben Generation." Diese nicht bestreitbare Erfahrung lässt die Ansicht, dass die Gefaht der Verwandten-Ehe lediglich durch die Vermischung des verwandten Blutes bedingt werde, aber denn doch recht fraglich erscheinen. Erzeugt die Konsanguinität der Eltern ganz allein ein charakteristisches Schädlichkeitsmoment, warum, so frage ich, kommt dann dieses selbe Schädlichkeitsmoment auch bei den Nach- kommen nicht verwandter Eltern zur Beobachtung? Erzeugte die ge- schlechtliche Vermischung verwandten Blutes allein schon einen pathogenen Faktor, wie wäre es dann möglich, dass genau dieselbe Erscheinung auch einträte bei der Vermischung fremden, nicht verwandten Blutes?

Manz, Die Missbildungen des menschlichen Auges. Gräfe und Sämisch, Handbuch der gesammten Augenheilkunde. Band II. Theil 2. Leipzig 1876. p. 62. .

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Man sieht also, durch eine besondere Stärke der logischen Schluss- folgeruug können sich Diejenigen wohl kaum auszeichnen, welche gegen- über den soeben angeführten Thatsachen die Behauptung verfechten, dass einzig und allein die Vereiniguug des verwandten Blutes den Schaden der Verwandten-Ehe stifte. Ich nehme deshalb auch keinen Anstand, die specifische Schädlichkeit der Verwandten-Ehe vollständig zu leugnen. Doch ist damit, und darauf bitte ich wohl zu achten, noch keineswegs die Schädlichkeit der Verwandten-Ehe selbst in Ab- rede gestellt. Ich bin vielmehr der festen Ueberzeugung und das muss ich nach den Ergebnissen meines Materials nun einmal sein , dass die Verwandten-Ehe unter Umständen für die Nachkommenschaft ver- derblich wirken , Häufung von kongenitaler Amaurose unter derselben erzeugen kann, aber ich bestreite, dass diese Erscheinung irgend etwas mit der Vermischung des verwandten Blutes zu thun habe. Der Grund für jene Schädlichkeit ist nicht in der Konsanguinität, sondern in einem ganz anderen Faktor zu suchen und zwar in dem nämlichen Faktor, welcher die Häufung der kongenitalen Amaurose auch in der nicht konsanguinen Ehe so oft verursacht. Als diesen Grund sehe ich die Vererbung krankhafter Anlagen von den Eltern, resp. von den Vor- eltern auf die Nachkommenschaft an.^) AVenn zwei mit einander ver- wandte Individuen von ihren gemeinsamen Voreltern irgend eine krank- hafte Anlage überkommen haben , so wird durch ihre eheliche Ver- einigung diese erbliche Belastung, wenn ich mich so ausdrücken darf, potenzirt und als unmittelbare Folge dieser Potenzirung tritt dann bei den Nachkommen die Häufung kongenitaler Missbildungen in Erscheinung. Genau das Nämliche ist aber auch der Fall, wenn zwei einander fremde Personen, die zufällig von ihren Erzeugern her mit irgend einem krank- haften Keim belastet sind, einander heirathen ; auch bei ihnen tritt die Potenzirung dieser beiderseitigen Belastung an den Nachkommen in Er- scheinung. Als Belastungskeime sowohl für die kongenitale Amaurose im Besonderen, wie für die angeborenen Missbildungen im Allgemeinen können, wie wir dies im vorigen Paragraphen bereits erfahren haben, die verschiedenartigsten Erkrankungen der Ehegatten, resp. der Eltern derselben funktioniren ; so können Skrofulöse und Tuberkulose, S}^hilis, neuropathische Zustände u. dgl. m. zum Auftreten der angeborenen Blind- heit resp. zur Häufung derselben in einer Familie Veranlassung geben.

*) Von ähnlichen Anschauungen scheint in neuester Zeit auch ZiegJer aus- zugehen, wenigstens stellt er in seiner jüngst gehaltenen Eede (üeber die Vererbung erworbener pathologischer Eigenschaften. 5. Kougress für innere Medicin, Wies- baden 1886) die Gefahren der konsanguinen Ehe dar als bedingt durch Vererbung.

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Wenn nun die Ansichten, welche ich soeben über die Gefahren der Konsanguinität geäussert habe, richtig sind, so werden gewisse theoretische Schlussfolgerungen, welche man aus denselben ziehen darf, in der Praxis nachweisbar sein müssen. Ist z. B. lediglich die Steiger- ung der beiden Gatten gemeinsamen Krankheitsanlage die Ursache für das häufige Auftreten der kongenitalen Missbildungen an verschiedenen Sprösslingen ein und derselben konsanguinen Ehe, so werden wir unter gewissen Voraussetzungen diese unangenehme Konsequenz ganz besonders stark bemerken müssen. Sind nämlich die die Ehe schliessenden kon- sanguinen Individuen in schlechter äusserer Lage, müssen sie um die Existenz schwer ringen, so werden voraussichtlich mit diesen Verhält- nissen ganz besonders günstige Bedingungen für die Entwickelung der den Eheleuten anhaftenden Krankheitsanlagen gegeben sein, die Ent- faltungsreize werden unter solchen Umständen häufiger und wirksamer vorhanden sein, als wenn unter günstigen Bedingungen gelebt wird. Als unmittelbare und natürliche Folge solcher Verhältnisse müsste dann aber bei der konsanguinen Ehe ein grösserer Reichthum an Missbild- ungen nachweisbar sein, sobald dieselbe von Angehörigen der besitzlosen Klassen geschlossen wird. Und diese unsere rein theoretische Vor- aussetzung scheint nach den Beobachtungen verschiedener Autoren wirk- lich zutreffend zu sein; so sagt z. B. der jüngere Dartcin ; „Mitschell^) kam zu dem Schlüsse, dass unter günstigen Lebensbedingungen die sichtbaren üblen Wirkungen häufig fast Null wären, während, wenn die Kinder schlecht ernährt, schlecht wohnten und schlecht bekleidet würden, das Uebel sehr hervortretend werden könne. Dies befindet sich in auffallender Uebereinstimmung mit einigen nicht veröffentlichten Ex- perimenten meines Vaters, Charles Darwin, über die In -Zucht von Pflanzen; denn er hat gefunden, dass innerhalb der Art gezüchtete Pflanzen, wenn ihnen Raum genug und guter Boden gewährt wird, häufig wenig oder keine Entartung zeigen, während sie, zum Kampf ums Dasein mit anderen Pflanzen gezwungen, häufig zu Grunde gehen oder doch im Wachsthum sehr zurückbleiben."

Aehnliche Aeusserungen finden wir bei Reich'^) u. A. Halten wir daran fest, dass nicht die Vermischung des verwandten Blutes an sich ein Schädlichkeitsmoment schafft, sondern dies nur auf Grund der beiden Ehegatten gemeinsamen und durch diese Gemem- samkeit gesteigerten wenn man so sagen darf gezüchteten Krankheits-

' ') Darivin, Die Ehen zwischen Geschwisterkindern und ihre Folgen. Mit einem Vorworte von Dr. Otto Zacharias. Leipzig 187G. p 40u.4U ») Beich, Pathologie der Bevölkerung. Berlin 1879.

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aulage sich entwickelt, so Avird uns auch die eigenthilmliche Erscheinung etwas verständlicher werden, dass nämlich die congenitale Belastung in der Nachkommenschaft so auffallend schwankt. Man beobachtet Familien, in denen die ersten Kinder ganz gesund geboren werden und dann plötzlich die Neigung zu kongenitaler Amaurose bei allen später Geborenen auftritt; umgekehrt sieht man aber auch die ersten zwei oder drei Kinder blind geboren werden und dann plötzlich lauter gesunde Nachkommenschaft er- scheinen. In» noch anderen Fällen tritt die angeborene Amaurose regellos bald bei diesem, bald bei jenem Kind einer grösseren Familie auf. Alle diese Fälle erklären sich einfach dadurch, dass die Entfaltungsreize für die den beiden Eltern gemeinsame pathologische Belastung unter gegebenen äusseren Verhältnissen bald mehr, bald weniger bedeutend sind. Je nach- dem die belasteten Eltern unter günstigeren oder weniger günstigeren Ver- hältnissen leben, werden sich diese ihre Lebensbedingungen in ihrer Nach- kommenschaft abspiegeln. Es wäre desshalb dringend geboten, bei allen Familien, deren Nachkommenschaft wiederholt mit kongenitalen Missbild- ungen behaftet ist, genau den äusseren Lebensverhältnissen nachzuforschen, unter denen die Erzeuger bei der Geburt der verschiedenen Kander ge- standen haben. Die Ernährungsverhältnisse, die körperlichen Zustände der Eltern, ihre Gemüthsstimmung und was nun derartige Umstände mehr sein mögen, müssten möglichst genau für die Zeitperiode ermittelt werden, in welche die Zeugung und Geburt der einzelnen Kinder fällt. Ich bin fest überzeugt, dass, würde man derartige Untersuchungen mit der nöthigen Sorgfalt und in gehörigem Umfang anstellen, das räthsel- hafte Dunkel, welches jetzt noch über jenen Fällen schwebt, in welchen einzelne Familien durch Häufung kongenitaler Missbildungen so auf- fallend heimgesucht werden, recht bedeutend erhellt werden dürfte.

Uebrigens ist meine Ansicht, nach welcher die Vermischung ver- wandten Blutes an sich keine Schädlichkeit einschliesst, dieselbe viel- mehr nur dui-ch Steigerung der den verwandten Ehegatten gemeinsamen Kj-ankheitsanlagen bedingt wird, durchaus nicht mein ausschliessliches Eigenthum; eine ganze Reihe anderer Forscher haben ähnliche Vor- stellungen bereits früher auch geäussert, so z. B. Oesterlen,^) Monte- gazzn,'*) Quatrefages^) u. A.

') Oesterlen, Handbuch der medicinischen Statistik. Zweite Aus- gabe. Tübingen 1874. p. 196 u. ff.

Montegazza, Studii sui matrimonii consanguinoi. Mailand 1868. Citirt von Eotli 1. c. p. 89. Magnus, Jngendblindhoit. 3

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Dürfen wir nun das, was wir über die Folgen der konsauguinen Ehe soeben geäussert haben, nochmals zusammenfassen, so würden wir behaupten :

1. Die Blutsverwandten - Ehe an sich, d. h, die Vermischung ver- wandten Blutes an sich schafft kein die Nachkommenschaft be- lastendes pathogenes Moment.

2. In der Blutsverwandten - Ehe finden sich öfters mehrere Kinder mit kongenitaler Amaurose behaftet; doch tritt dieselbe Erschein- ung auch in der nichtkonsanguinen Ehe des öfteren auf. In welchem prozentarischen Verhältniss diese Belastungen in der konsanguinen und nichtkonsanguinen Ehe zu einander stehen, lässt sich vor der Hand mit Bestimmtheit noch nicht sagen.

3. Die Nachtheile der Blutsverwandten - Ehe werden lediglich nur bedingt durch Steigerung einer beiden Gatten gemeüjsamen Ki'ank- heitsanlage.

4. Alle Verhältnisse, welche als Entfaltungsreize für Ki-ankheits- anlageu wirksam sein können, werden die Nachtheile der Bluts- verwandten-Ehe ganz besonders hervortreten lassen.

" Aus dem soeben Gesagten erhellt auch, welche Stellung der Oph- thalmologe zui- Verhütung der aus der konsanguinen Ehe hervorgehenden Schädlichkeiten einnehmen soll. Wäre die Verwandten - Ehe an sich selbst schädlich, so wäre es ganz gerechtfertigt, wenn wir Augenärzte, wie dies in der That auch einige hervorragende Kollegen thun, den Schutz der Gesetze anriefen und ein generelles Verbot der Verwandten- Ehe anstrebten. Da nun aber nicht die Ehe an sieh selbst das Schäd- liche ist, vielmehr nui' unter gewissen Bedingungen Schädlichkeiten setzt, so kann es auch nur unsere Aufgabe sein, diesen Bedingungen vorzu- beugen. Es ist desshalb Pflicht des Arztes, seine Klienten, sobald sie mit^einem Glied ihrer Verwandtschaft ein Ehebündniss eingehen wollen, darauf aufmerksam zu machen, dass dieses Bündniss ein verhängniss- volles werden kann, sobald eine den verwandten FamUien gemeinsame Krankheitsanlage vorhanden sei und es ist Aufgabe des Arztes wie seines Klienten, derartigen Anlagen auf das Aengstlichste nachzuspm-en. Dieselbe Pflicht erwächst aber auch dem Arzt, wenn einer seiner Klienten, von dem er weiss, dass er mit einer Krankheitsanlage behaftet ist eine ihm nicht verwandte Person heirathen will. Dann kann der Arzt gar nicht energisch genug darauf dringen, dass bei Eingehung der Ehe ledicrlich nur die Rücksicht auf die vollständige Gesundheit des zu wahlen- den Individuums massgebend sein soll; denn der bei dem einen Ehegatten

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Torhaudeue Krankheitskeim kann nur durch vollste Gesundheit des anderen Theiles in seineu verderblichen Konsequenzen unschädlich ge- macht werden. Leider dürfte nur die Stimme des Arztes gerade in der Heirathsfrage sehr selten gehört werden, wenigstens in unserer heutigen Zeit, welche mit so ganz besonderer Vorliebe auf die Geld- und nicht auf die Gesundheitsverhältnisse der zui* Ehe Erkorenen achtet. Die richtige Hygiene der Ehe ist der einzige Schutz gegen die aus der kon- sanguinen Ehe hervorgehenden Schädlichkeiten und nicht das Gesetz.

§ 7. Entstehung der angeborenen Blindheit durch kongenitale Be- lastung ohne Heredität und Blutsverwandtschaft (Collaterale Erblichkeit

nach Bollinger).

Eine Häufung von angeborener Blindheit ohne Vorhandensein einer nachweisbaren hereditären oder konsanguinen Belastung findet sich in vmserem Material von 551 Fällen 94 mal, d. h. also in 17,06 7o der gesammten angeborenen Amaurose überhaupt. Es übertrifft also wenigstens in unserem Material die kollaterale Erblichkeit die beiden anderen Entstehungsformen der kongenitalen Amaurose, die directe Ver- erbung und die Konsanguinität , nicht unbedeutend an Ergiebigkeit Doch soll damit diu-chaus kein principieller Unterschied zwischen diesen drei Entstelmngsmöglichkeiten geschaffen sein, im Gegentheil, ich fasse alle drei Entstehungsformen, wie dies sofort auseinander gesetzt werden soll, unter einem gemeinsamen Gesichtspunkt, nämlich dem der Heredität, zusammen und halte ihre Scheidung lediglich bedingt durch die Fehler und Unzulänglichkeiten der heutigen Forschung. Ueber die einzelnen Formen der kongenitalen Blindheit vertheilen sich diese 94 Fälle in der folgenden Weise:

Durch kollaterale Erblichkeit

3 Fällen

von

Keratoconus

2

66,67 7o

14

Ketinalatrophie

6

42,85

73

Retinitis pigmentosa

19

26,03

35

)>

Chorioidealveräuderungen

10

28,56

4

jj

Myopia excessiva congenita

1

25,00

113

)i

Atrophia nervi optici

26

23,00

38

Buphthalmus

8

21,05

81

»

Mikrophthalmus

7

8,64

118

Cataracta congenita complicata 8

6,78

43

>>

nicht bestimmten Formen

7

16,28 3*

se-

in welcher "Weise die numerische Belastung einer Familie mit collateraler Amaurose zu erfolgen pflegt, darüber geben die folgenden Ziffern Aufschluss.

Unter den 94 Fällen kamen 53 mal 2 Fälle in einer Familie vor = 56,38 "/o- 94 23 3 = 24,47 94 15 4 = 15,96 94 2 5 = 2,13 94 1 8 = 1,06 Zu den höchsten Seltenheiten scheint es zu gehören, wenn bei Ge- burt eines Zwillingspaares beide Kinder blind geboren werden. Mein Material zählt einen derartigen Fall, in dem bei beiden Zmllingen Atrophia nervi optici congenita nachweisbar war ; die betreffende Familie zählte 4 Kinder, von denen die beiden älteren blind geboren wurden, dann folgte das erwähnte Zwillingspaar und dann 2 sehende Kinder.

Uebrigens braucht sich die coUaterale Vererbung keineswegs immer in der gleichen Weise bei den betallenen Familiengliedern zu äussern, vielmehr scheint ein Wechsel in der Art und Weise der Belastung nichts Seltenes zu sein. Dieselbe Erfahrung kann man übrigens bei den anderen Formen der kongenitalen Belastung, bei der durch un- mittelbare Vererbung und bei der durch Konsanguinität bedingten be- kanntlich auch machen, wie wir dies bei Besprechung der einzeken Formen der kongenitalen Blindheit noch des Näheren nachweisen werden.

Unter unseren hierher gehörigen 94 Fällen zeigten 10 mal die Geschwister anderweitige Erkrankungen, nämlich 1 mal Epilepsie, 1 mal Phthise, 3 mal Geisteskrankheit, 4 mal Taubstummheit, 1 mal Ver- kümmerung der Finger.

Auch die Formen der angeborenen Blindheit wechselten in der- selben Familie; so war in 10 Fällen bei einem Kind Amaurosis kon- genita und bei anderen Kindern hochgradige angeborene Myopie vor- handen In 3 Fällen waren Iridochorioiditis resp. Chorioiditis und Atrophia nervi optici in einer Familie kongenital vorhanden, wäln-end Cataracta complicata und Atrophia nervi optici congenita 4 mal bei mehreren Kindern derselben Familie nachweisbar waren.

Besonders gedenken möchte ich noch eines Falles, m dem von 1& Kindern 8 blind geboren waren und zwar in Folge von Mikrophthal- mus Alle 16 Kinder stammten von einem Vater, aber zwei Muttern, welche Schwestern waren. Weder Verwandtschaft noch Krankheit der Eltern waren nachweisbar; über die Grosseltern, resp. über die Familien, aus denen der Vater und die beiden Mütter stammten, fehlten dagegen sichere Nachrichten. Und dieser Mangel eines genauen Berichtes über

37

-den Gesundheitszustand der Voreltern oder der Familien überhaupt macht sich in fast allen unseren hierher gehörigen Fällen bemerkbar ; doch kann •dieser Umstand speciell unserem Material keineswegs als besonderer Fehler angerechnet werden, da er in den übrigen in der Literatui- vorhandenen Beobachtungen auch fast immer wiederkehrt. Es gehört zu den grössten Seltenheiten und ist ein ganz besonderer Glücksfall fiir den Beobachter, •die Gesundsheitsverhältnisse einer Familie durch mehrere Generationen mit Sicherheit verfolgen zu können; meist hören die nur einigermassen verlässlichen Mittheilungen schon auf, wenn man über die erste Generation hinausgeht. Dieser Umstand bringt mich denn auch auf die Vermuthung, ■dass all' den Fällen von kollateraler Erblichkeit irgend eine Familien- belastung zu Grunde liegt, deren Existenz uns nur bei der geringen Ausgiebigkeit der Erforschung verborgen bleibt. Ich bekenne mich aus dem Grunde unbedingt zu dieser Ansicht, weil sie meinem patho- logischen Verständniss doch gewisse brauchbare Handhaben bietet, während jene Vorstellung, nach der auch die geschlechtliche Vereinigung nicht verwandter Individuen unter gewissen bis jetzt aber nicht näher bekannten Umständen pathologische Konsequenzen schaffen soll, mich un- bedingt vor ein imlösbares physiologisches wie pathologisches Eäthsel stellt. Ich halte deshalb, so lange ich nicht durch wirkliche Beweise eines Besseren belehrt werde, unentwegt an der Ansicht fest, dass, wo Häufimg kon- genitaler Missbildungen vorkommt, stets ein erbliches Moment seine Wirksamkeit bethätigt hat. Jedenfalls hat diese meine Vorstellung den grossen Vortheil, dass sie die Schädlichkeiten der konsanguinen Ehe, sowie die kollaterale Erblichkeit unter denselben Gesichtspunkt bringt, sowie überhaupt für die Genese eines grossen Theiles der angeborenen Miss- bildungen eine gemeinsame, gleichwerthige Erklärungsmöglichkeit bietet.

§ 8. Das Vorkommen der kongenitalen Amaurose.

Unser Material von 3204 Fällen Jugendblinder zählt 551 mal Isongenitale Amaurose, d.h. also in 17,20''/o, und zwar vertheilen sich diese 551 Fälle so über beide Geschlechter, dass auf das männliche 327 und auf das weibliche 224 entfallen. Da mein Material nun im Ganzen 2009 männliche und 1195 weibliche Blinde enthält, so ergiebt .sich, dass das männliche Geschlecht mit 16,28 "/o kongenitaler Amaurose belastet ist und das weibliche mit 18,74 °/o; eine erhebliche Differenz scheint also zwischen beiden Geschlechtern bezüglich ihrer Betheiligung ■an der angeborenen Blindheit nicht zu bestehen.

In unserer früheren Blindenuntersuchung, welche 2528 Blinde aller Altersklassen umschloss, entfiel auf die kongenitale Amaurose nur ein

38

Prozentsatz von 3,83 "/o, während wir heute einen solchen von 17,20"/o- ermittelt haben. Dieser auffallende Unterschied zwischen meiner fi-ülierett und meiner jetzigen Untersuchung enthält nun aber kemeswegs einen Widerspruch, erkläi-t sich vielmehr lediglich nur durch den Umstand^ dass ich in die frühere Untersuchungsreihe Blinde aller Altersklassen eingestellt und diesmal nur die ersten zwanzig Lebensjahre berück- sichtigt habe. Für ein aus jugendlichen Blinden zusammengesetztes Material muss der Prozentsatz der angeborenen Blindheit aber natürlich grösser sein, als in einem Material, welches auch die so ergiebigen Formen der Altersblindheit mit in Beü-acht zieht.

Mein grosses Material erlaubt mir mm auch, für die verschiedenen europäischen Länder wenigstens versuchsweise die Verbreitung der kon- genitalen Amaui-ose zu ermitteln. Ich sage aber ausdrücklich, nur ver- suchsweise, weil das mir vorliegende Material für die einzelnen europäi- schen Länder ein numerisch sehr verschiedenes ist, denn während mir für gewisse Länder, z. B. Deutschland und Oesterreich-Ungarn die Zög- linge der gesammten Blinden-Erziehungs- Anstalten zur Verfügung stehen,, habe ich aus anderen Ländern nur die Blinden aus einigen wenigen Anstalten. Die im Material selbst liegende numerische Verschiedenheit kann also auf die nun folgende Zusammenstellung sehr wohl einen mehr oder minder weitgehenden Einfluss ausüben und desshalb möchte ich die folgende Zahlenreihe eben als einen Versuch , allerdings als einen berechtigten, ansehen.

Mein Material ergibt also für:

Schweiz = 24,63 "/„ kongenitaler Amaurose

Schweden-Norwegen = 24,00 »

Holland = 22,60

Deutschland 1) = 20,75 »

Oesterreich-Ungarn 2) = 12,59 »

Belgien = 10,48 »

«) Die otfizielle Statistik rechnet für die preussischen Bliudenanstalten etwa 25«/ auf die kongenitale Amaurose. {Guttstaät, Die Gebrechlichen in der Bevölkerung Preussens am l. Dezember 1880. Zeitschrift des kön.gl. preussischen statistischen Bureau's, Jahrgang 1882.) ,. .

n Für Oesterreich -Ungarn ist der Prozentsatz der angeborenen Blmdlieit nach der offiziellen Statistik auf 17,4 "/„ berechnet, {imiches, Statistik des Sanitätswesens der im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder für 1878. Wien 1882. p. XXI.) Da nun die offiziellen Gebrechen- statistiken, wie dies meine früheren Untersuchungen für Deutschland ergeben haben, meist zu hoch beziffert sind, so könnte mein Prozentsatz vielleicht an- nähernd richtig sein.

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Spanien = 9,30 "/o kongenitaler Amaurose

Kussland = 8,45 »

Italien 6)9"^ » » "

Sehr zu wünschen wäre, class fremde Kollegen die für ihre Länder von mir mitgetheilten Ziffern durch möglichst erschöpfende Untersuchvmgen ihrer heimathlichen Blinden-Anstalten vergleichen und berichtigen möchten.

Ueber die emzelnen Blindenaustalten vertheilt sich die Amaurosis congenita iu der verschiedensten Weise; während sie in gewissen An- stalten einen airffallend niedrigen Prozentsatz zeigt, steigt sie in anderen Anstalten auf eine ganz bedeutende Höhe. Die Grenzen dieser Schwank- ungen') liegen zwischen 3 und 34*^/0. Natürlich ist solchen Erschein- ungen kein besonderes Gewicht beizulegen; vor Allem darf nicht etwa der Schluss gezogen werden, dass diejenige Provinz, welche hinter der Anstalt steht, nun eine eben solche Verbreitung der angeborenen Blind- heit besitzen müsse, wie die zu ihr gehörige Anstalt. Das Material der meisten Anstalten ist denn doch ein numerisch zu kleines, und darum dem Zufall zu sehr unterworfenes, um irgend einen sicheren, für grössere Bevölkerungskreise allgemein verbindlichen Schluss aus ihm allein ziehen zu dürfen ; das wäre niu- bei einem über gi-össere Zahlenreihen verfügenden Material gestattet. Die Fehlerquellen, welche geringeren statistischen Zusammenstellungen immer eigen sein müssen, erklären die Schwank- ungen, welche unsere Tafel I und II für das Auftreten der Amaui-osis congenita nachweisen, hinlänglich.

§ 9. Die Formen der angeborenen Amaurose.

Die 551 Fälle unseres Materials gruppiren sich den einzelnen Er- scheinungsformen nach in folgender Weise;

Unter 551 Fällen angeborener Blindheit finden sich

118 mal Cataracta complicata

20,51 7o

113 Atrophia nervi optici

21,42

81 Mikrophthalmus

14,70

73 Retinitis pigmentosa

13,25

38 Buphthalmus

6,90 .,

21 Chorioiditis

3,81

1 7 Retinalatrophie

3,09

16 Anophthalmus

2,90

14 Iridochorioiditis

2,54

') Man vergleiche die Tafeln I und II dieses Werkes, welche die Ver- theilung der wichtigsten Blindheitsformen über die Blinden-Anstalteu in Deutsch- land und Oesterreich-Ungarn zur Darstellung bringen.

40

4 mal Myopia excessiva = 0,73

4 Albinismus = 0,73

3 Keratocouus = 0,54

3 Coloboma chorioideae =: 0,54

1 Glioma retinae = 0,18

1 Verschmelzung von Lid und Bulbus = 0,18 1 Keratitis = 0,18

43 nicht bestimmte Formen = 7,80

551 ~~ = 100,00 7o

Wir hätten also in der vorliegenden tabellarischen Zusammen Ord- nung eine Werthskala für die einzelnen Formen der angeborenen Blind- heit gewonnen; eine besondere Besprechung dürfte dieselbe kaum er- fordern und können wir uns nunmehr zu einer Betrachtung dessen wenden, was unser Material über die einzelnen Formen selbst sagt.-)

Cataracta congenita complicata. Wie schon aus der Ueber- schrift hervorgeht, handelt es sich hier wohl meistentheils um solche Fälle, in denen die Linsentrübung als das sekundäre Produkt eines in einem anderen Theil des Auges zum Austrag gebrachten pathologischen Prozesses anzusehen ist. Welcherlei Ai't diese krankhaften Vorgänge gewesen sind, das lässt sich natürlich mit Bestimmtheit nicht mehr nachweisen, sowie auch über die Periode des intrauterinen Lebens, in welcher die Erkrankung autgetreten ist, nur ausnahmsweise sichere Merk- male vorhanden sind. In einzelnen Fällen allerdings können wir aus verschiedenen Kennzeichen, aus Colobombildung, Mangel der Ws u. dgl. m. die sichere Ueberzeugung gewinnen, dass die Erkrankung des Auges, welche der sekundä^-en Linsentrübung vorangegangen ist, zu einer Zeit erfolgt sein muss, in welcher der anatomische Aufbau des Sehorganes noch nicht beendet war. Für andere Fälle wieder müssen die letzten Phasen des intrauterinen Lebens die Zeit der Augenerkrankung gebildet haben. Es handelt sich hier also offenbar um eine Reihe der heterogen- sten Zustände, deren Vereinigung mehr zwangs- als naturgemäss erfolgt ist, zwangsgeraäss, weil bei der Untersuchung das auffallendste Symptom, die Linsentrübung, von den untersuchenden Kollegen als pathologisches

') Die in unserer früheren Arbeit (Die Blindheit, ihre Entstehung und ihre Verhütung. Breslau 1883) p. 119 und 128 mitgetheilten Angaben über das Vor- kommen der einzelnen Formen der angeborenen Blindheit ergaben ein ähnliches Resultat, wie das oben stehende; auch damals waren die angeborene Sehnerven- Atrophie, die Retinitis pigmentosa, Mikrophthalmus und Buphthalmus die am häufigsten vertretenen Formen.

f

41

Stichwort gewählt worden ist. Uebrigens ist bei einer Reihe der hier zusammengestellten Fälle auch die Möglichkeit keineswegs ausgeschlossen, dass die Staarbildung in den ersten Monaten des extrauterinen Lebens erfolgt sein kann; bekanntlich ist ja die sichere Entscheidung, ob man es im gegebenen Falle bei einem kindlichen Staar mit einem kongenitalen oder später erworbenen zu thun hat, häufig recht schwierig. Jedenfalls ist die Prognose für alle hier behandelten Fälle eine ganz schlechte; denn in 44 Fällen ist von einer Operation vollständig Abstand ge- nommen und in 74 Fällen ist eine solche ohne jeden Erfolg ausgeführt worden.

"Wenn also unser Material für die pathologische Beurtheilung der hierher gehörigen Fälle, wie ich dies nochmals ganz ausdrücklich be- merken will, nicht verlässlich und keineswegs einwandsfrei ist, so giebt es uns nach manchen anderen Seiten hin doch recht werthvolle Auf- schlüsse.

Was zuvörderst die mittelbaren Entstehungsursachen anlangt, so waren 7 mal die Eltern verwandt, 12 mal mit Krankheiten behaftet, 1 mal waren die Eltern zwar gesund, aber die Familie des Vaters in verschiedenen ihrer Mitglieder mit Blindheit behaftet, 51 mal gesund und nicht verwandt. Von diesen 51 gesunden Eltern ging 8 mal eine kollaterale Erblichkeit aus. lieber 37 Eltempaare fehlen nähere An- gaben.

lieber die 12 Fälle elterlicher Krankheit erfahren wir, dass 3 mal die Eltern staarblind, 1 mal myopisch waren ; 8 mal fehlen die näheren Angaben.

Von Wichtigkeit sind die anderweitigen Komplikationen, welche die Augen der Blmden selbst darbieten. Während gerade über diese Verhältnisse fiir die übrigen Formen der kongenitalen Blindheit, wie dies die folgenden Seiten lehren werden, ein recht reiches Material vor- liegt, sind für die Cataracta complicata congenita nur 2 mal Kom- plikationen angegeben ; nämlich 1 mal Irideremia eines Auges vuid 1 mal Coloboma iridis eines Auges.

Der Untersuchung werth sind ferner noch die kongenitalen Be- lastungen, welche die Kataraktblinden noch an anderen Körpertheilen aufweisen; in 7 Fällen finden sich solche kongenitale Störungen ver- zeichnet und zwar: 1 mal Taubstummheit, 1 mal angeborene Sprach- störung, 1 mal Mikrocephalie mit Idiotismus und 4 mal Rhachitis.

Von hervorragendstem Interesse dürften sodann noch diejenigen Fälle sein, in welchen die Geschwister der kongenital Blinden gleich- falls mit angeborenen Gebrechen behaftet sind. Derartige Fälle liegen

42

22 vor und zwar wurden folgende Gebrechen beobachtet, wobei darauf geachtet werden muss, dass wiederholt an einem Individuum mehrere Formen beobachtet wui-den:

19 mal Cataracta congenita,

1 ,. Myopia,

5 Atrophia nervi optici,

2 Blödsinn,

2 Taubstummheit,

7 fehlen nähere Angaben über die Blindheit, 2 Lähmung verschiedener Glieder. Schliesslich will ich nicht unterlassen, über diejenigen der mit Cataracta congenita behafteten Blinden unseres Materials noch emige Bemerkungen anzuschliessen, welche in den ersten Lebensjahren ander- weitige Krankheiten erworben haben. Dies war 9 mal der Fall imd zwar wurden 5 mal epileptische Anfälle erworben; 1 mal Taubheit, 1 mal Lähmung der unteren Extremitäten und 2 mal schwere Knochen- scrofulose.

Atrophia nervi optici congenita ist abgesehen von der Cataracta congenita complicata die anr Häufigsten anftretende Form der angeborenen Blindheit, eine Thatsache, «Iche auch von anderen ForschL, so in der neuesten Zeit von Fdser'). bestätigt wn^. Doch erfordert die Diagnose der angeborenen Sehnervenatroph.e .n,mer eme gewisse Vorsicht und zwar aus folgenden Gründen. Zunachs s nd wir bezüglich der Annahme des intrauterinen Ursprunges der AtoiA.e in den aflermeisten Fällen lediglich nur auf die Angaben der H^m oder Erzieher der Blinden angewiesen. Nun ist aber dre Sehfunk .on n den ersten Wochen und Monaten nach G^-Vr/r in Z niemals mit Sicherheit zu beurtheilen. Das Kmd bethatigt m den ersten Perioden seines Daseins das Sehvermögen nnr m aller, bescheidensten Umfang, und deshalb werden M^gel "^f- Funktion fast immer erst in den späteren Lebensjahren entdeckt _ Meist wird erst im zweiten Jahr oder manchmal sogar noch spater d,e Be- Zrknng gemacht, dass das Kind schlecht sieht. Das Pnbhknm ,st nm l allen Bolchen Fällen, in denen im zweiten oder dntten Leben^ah Blindheit konstatirt wird, meist sehr schnell m,t der Diagnose en« Ingeborenen Blindheit bei der Hand, und doch ist h.erbe, n.ema d. Möglichkeit ausznschliessen, dass im extrantennen Leben bald nach der

7ws7,7B^i..-.g .uvKc-ntais, der Ursachen .1er llliudheU. We.t..ik opltlmlmolögii. 1885. NoYBrnber-Dezcmher.

43

Geburt oder im Lauf des ersten und zweiten Jahres die Blindheit er- worben worden sein kann. Von einer angeborenen Aü'ophie des Optikus kann man eigentlich erst dann mit vollster Sicherheit reden, wenn man das Kind bald nach der Geburt zu ophthalmoscopiren Gelegenheit hatte^ wie ich dies 2 mal zu thun im Stande war. Hieraus geht also her- vor, dass die Scheidung zwischen einer kongenitalen und einer in den, allerfrühesten Lebensphaseu erworbenen Atrophia optica kaum zu er- möglichen ist. Wir müssen deshalb auch in den Fällen unseres Materials die Möglichkeit, dass die Atrophia nicht mit auf die Welt gebracht worden ist, offen lassen.

Und ferner darf man nicht vergessen, dass gewisse Formen der angeborenen Blindheit, nämlich die Eetinitis pigmentosa, sich in den ersten Jahren nach der Gebm't hauptsächlich durch Entfärbung der Papille kennzeichnen, die Pigmentbildung erst in späteren Lebensepochen auftritt. Derartige Fälle können längere Zeit hindurch als Atrophien imponiren, während sie in der That späterhin als Retinitis pigmentosa, sich entpuppen.

Das Gesagte beweist, dass man die Diagnose der angeborene» Sehnerven atrophie mit einem gewissen Skepticismus anzusehen gut thut vmd dass man bei der Beurtheilung des Procentsatzes der angeborenen Ati'ophie sich stets der erwähnten Umstände erinnern muss. Was die ätiologischen Verhältnisse unserer 113 Fälle von angeborener Sehnerven- atrophie anlangt, so 'waren 55 mal die Eltern gesund und nicht ver- wandt; 12 mal waren die Eltern krank oder mit Sehstörungen behaftet;. 1 1 mal Avai* Konsanguinität nachweisbar und 35 mal fehlen alle näheren Angaben. Von den 55 gesunden Elternpaaren ging 26 mal kollaterale- Erblichkeit aus.

Ueber die 1 2 Fälle elterlicher Krankheit vermag ich Folgendes zu berichten: 5 mal lag eine nicht näher gekennzeichnete Augenaffektion vor; 3 mal Cataract; 1 mal Myopie; 1 mal Irrsinn; 1 mal Tuberkulose ; 1 mal Syphilis.

Anderweitige Komplikationen wurden au den Augen unserer Atrophie- blinden 22 mal beobachtet und zwar:

18 mal neben der Atrophia optica noch Cataracta partialis. 2 Keratoconus pellucidus.

2 Opacitates corporis vitrei.

Angeborene Gebrechen anderer Körpertheile wurden an 16 Blinden gefunden und zwar:

44

8 mal SchädelmissbilduDgen (hydrocephalischer Schädel, Thurmschädel

u. a. m.) 5 Blödsinn,

1 Wolfsrachen und Hasenscharte. 1 Verkrümmung einer unteren Extremität. 1 Verkrümmung einer oberen Extremität. 1 Taubheit.

Werfen wir nun einen Blick auf die an den Geschwistern imserer Blinden auftretenden kongenitalen Störungen, so wurden folgende Formen angeborener Gebrechen, wiederholt an einer Person mehrere, beobachtet: 20 mal Atrophia nervi optici (einmal bei Zwillingsschwestern).

1 Myopia excessiva congenita.

2 Mikrophthalmus.

2 Iridochorioiditis congenita.

3 Cataracta congenita.

35 nicht näher bestimmte angeborene Blindheit. 3 angeborener Idiotismus. 1 allgemeine Lähmung. 1 Verwachsung der Finger einer Hand. 1 Tuberkulose.

Hervorheben möchte ich besonders noch 2 an einem Brüderpaar von mir selbst beobachtete Sehnervenatrophien, welche zwar erst gegen das zwanzigste Lebensjahr zur vollständigen Amaurose führten, aber trotzdem auf kongenitaler Belastung beruhten und mit jener Form iden- tisch waren, welche Leber und Mooren ihrer Zeit als „Neuntis optica in Folge von Heredität und kongenitaler Anlage« beschrieben haben.

ImUebrigen zeigt unser Material, dass die Erkrankungen des Seh- nerven intrauterin bereits eine ähnliche verderbliche Wirkung bethatigen wie später im extrauterinen Leben. Allerdings lässt die Diagnose der angeborenen Sehnerven atrophie immer gewisse Bedenken zu, wie wir voL dargethan haben. Für jene Fälle dürfte aber sothaner Skep- ticismus wohl unangebracht sein, wo Häufung von anderweitigen kon genitalen Missbildungen in einer Familie nachweisbar ist; hier kann L intrauterine Ursprung wohl mit Sicherheit -'^^^^^^^^^^ werden. Von ganz besonderem Interesse auch in ätiologischer Beziehung dürfte aber wohl der bisher vielleicht einzig dastehende Fall sem bei dem ein Zwillingsschwesterpaar Atrophie des Nervus opticus g^^^^^^^^ worden ist. Die Eltern waren in diesem Fall gesund und nicht ^er wandt hatten aber ausser den beiden Zwillingsschwestern noch zwei

45

blind geborene Kinder. Im Ganzen waren von den gesunden Eltern 6 Kinder, davon 4 blind und 2 sehend gezeugt worden. Uebrigeus ist das Auftreten von angeborener Sehnervenatrophie bei mehreren Kindern einer Familie gar nicht so selten, wie obige Zusammenstellung lehrt und wir dies sogleich noch des Näheren nachweisen werden.

Ueber die Entstehungsweise der Atrophia nervi optici congenita liegen noch so wenig genaue, durch Sektionen gestützte Untersuchungen vor, dass sich gerade über diesen Punkt kaum etwas anderes als Ver- muthungen äussern lassen dürften. Intrauterine Erkrankungen des Ge- hirns, der Meningen u. s, w. werden ganz gewiss in vielen Fällen als pathologischer Boden der Atrophie angesehen werden können, doch müssen wir verlässliche Mittheilungen eben noch von zukünftigen Unter- suchungen erwarten.

Ueber das Auftreten der kongenitalen Sehnervenatrophie an mehreren Kindern derselben Familien wären noch folgende Bemerkungen von Interesse.

2 Geschwister einer Familie waren mit Atrophia opt. cong. behaftet 9 mal

4 >j » )) )} )) i> ^ »

5 » j) » » )) )j j) )> " ^ " Im extrauterinen Leben, und zwar schon in frühen Jahren hatten

von den 113 Blinden unseres Materials 7 folgende Störungen erworben :

4 mal epileptische Anfälle, Imal Lähmung der unteren Extremitäten, 1 mal Rhachitis, 1 mal Tuberkulose.

Mikrophthalmus. Ueber die ätiologischen Momente liegen folgende Mittheilungen vor: 39 mal gesunde, nicht verwandte Eltern;

5 mal waren die Eltern krank und 6 mal verwandt. In 3 1 Fällen sind verlässliche Angaben über die Eltern nicht gemacht worden.

Ueber die Krankheiten der Eltern ist nur ein ausführlicher Bericht vor- handen, und zwar betrifft derselbe eine mit Myopie und Cataracta partialis behaftete Frau, welche zwei mit Mikrophthalmus behaftete Knaben zeugte.

Die Beobachtungen, welche an den verkümmerten Augäpfeln ge- macht wurden, sind ziemlich zahlreich, indem in 47 Fällen genauere Mittheilungen über anderweitige Befunde an den Bulbis vorliegen.

Der Mikrophthalmus war komplizirt 20 mal mit Cataract, 12 Coloboma Iridis, 4 Coloboma Iridis et Chorioideae, 1 Irideremie,

46 ~

4 mal mit Sklerosis corneae, 2 Atrophia nervi optici, 1 Chorioiditis,

1 Pigraentwucherung im Bulbusinneren,

1 Glaskörpertrübungen, 1 Fehlen einzelner äusserer Augenmuskeln. In drei Fällen war auf der einen Seite ein Mikrophthalmus, auf der andern Anophthalmus vorhanden; eine bis jetzt nur vereinzelt ge- machte Beobachtung. In einem dieser von mir untersuchten Fälle war der Anophthalmus mit einer in der unteren inneren Orbitalgegend ge- lagerten Cyste vergesellschaftet; die Natur dieser Cysten ist in neuerer Zeit bekanntlich von Arlt^) dahin erklärt worden, dass dieselben durch ^ine Ausbuchtung der Bulbuswand entstehen; unter der Gewalt des intraoculären Druckes wird der Inhalt des Bulbus durch die unvoll- ständig oder gar nicht geschlossene fötale Augenspalte aus dem Innern des Augapfels herausgepresst und bildet so ein ausserhalb des BuIIdus liegendes Gebilde, eben die schon oft beobachteten, in ihrer.Genese aber immer noch so räthselvollen Cysten.

Ueber den pathologischen Vorgang, welcher den angeborenen Mikroph- thalmus erzeugt, geben unsere Fälle nur theilweise Aufschluss. Für em knappes Viertel derselben ist der Einfluss desColoboma oculi erwiesen. Wie oft es sich in den anderen Fällen um Entwickelungsstörungen handelt •oder um entzündliche Vorgänge an dem bereits entwickelten Bulbus mit Ausgano- in Phthisis bulbi vermag ich nicht zu entscheiden. Durch die Beobachtungen von de Vincentiis') ist in neuester Zeit die Möglichkeit aufs Neue bewiesen worden, dass unter Umständen der angeborene Mikroph- thalmus lediglich als das Produkt einer intrauterinen Panophthalmitis angesehen werden müsse. Von Interesse sind in den Beobachtungen von Vincentns noch die Veränderungen der Lider, welche sich als sekundäre Folgeerscheinungen an die intrabulbäre intrauterine Entzündung an- «chliessen; nämlich Entropium, Verkümmerung der Tarsi, cysüsche Er- weiterungen Meibom'scher Drüsen u. dgl. m. Vincentiis vertx-itt die Ansicht, dass diese Lidveränderungen beim Mikrophthalmus keinerlei Hemmungs- bildungen darstellen, sondern lediglich als unmittelbare Folgeerschem- ungen des ursprünglichen entzündlichen Prozesses anzusehen sind.

^TÄ'^vickelung des Mikrophthalmus ""d Anophthal-

^ns congenitus. Anzeiger der k. k. Gesellschaft der Aerzte m .en l88o.

''i de VincenUis, Bilateraler angeborener Mikrophthalmus mit .ielfiche. Entwiikluugsfehleru des Herzens, "ruaz. d. med. e di Chirurg. Band IL 1885, und Anali di Ottalm. Band XH 1.

47

Die Bliudeu waren in 7 Fällen mit folgenden anderweitigen kon- genitalen Störungen behaftet: 3 mal Idiotismus,

1 Verkrüppelimg der Finger beider Hände,

1 grosser Nävus einer Gesichtshälfte,

1 schwere Sprachstörung,

1 allgemeine Entwickelungshemmung,

1 Epilepsie.

An den Geschwistern wurden in 12 Fällen angeborene Störungen beobachtet, und zwar folgende Formen, wobei auch hier Aviederholt an einem Individuum mekrere Gebrechen auftraten: 10 mal Mikrophthalmus, 2 Ati'ophia nervi optici, 2 Myopie, 10 nicht näher bestimmte Blindheitsformen, 1 Blödsinn, 1 Epilepsie.

Von Krankheiten, welche die Blinden später erworben haben, be- richten 4 Fälle: 1 mal trat ein Taubheit, Imal Epilepsie, 1 mal Rück- gratsverkrümmung, 1 mal Scrofulose.

Retinitis pigmentosa. Ueber die ätiologischen Verhältnisse wäre zu berichten, dass 7 mal Krankheit der. Eltern vorlag, 12 mal Konsanguinität, 1 1 mal kollaterale Erblichkeit, 4 mal Ererbung aus den FamUien der gesunden Eltern.

Ueber die Krankheiten der Eltern sind folgende näheren Angaben gemacht worden: 3 mal Syphilis des Vaters; 1 mal Geisteskranklieit des Vaters; 1 mal Taubheit des Vaters (Tochter Ret. pig. und Taub- heit) ; 1 mal Hemeralopie der Mutter ; 1 mal Augenaffektion der Mutter ohne bestimmte Angaben. Es sei mir gestattet, noch einige wenige Worte über den Fall zu sagen, in welchem der Vater geisteskrank war. Dieser Mann zeugte 6 Kinder mit einer Frau, m\d von diesen 6 Kindern wiurden 5 taubstumm und 1 taubstumm und blind durch Retinitis pigmentosa geboren. Die Mutter hatte in erster Ehe mit einem gesunden Mann lauter gesunde Kinder erzeugt.

Ueber die Komplikationen, welche an den Augen unserer Blinden bemerkt wurden, liegen 12 ausführliche Berichte vor ; demnach trat auf: 5 mal Cataracta partialis, 2 Mikrophthalmus leichten Grades,

2 Keratoconus,

3 Sklerose der Cornea, davon 2 mal gerade im Centrum der Hornhaut.

48

In 17 Fällen wurden an den mit Retinitis pigmentosa behafteten Individuen noch folgende andere angeborene Gebrechen beobachtet: 5 mal Taubstummheit, 4 hochgradige Schwerhörigkeit, 4 Blödsinn,

1 Mikrocephalie leichten Grades, 1 Ueberzählige Finger und Zehen, 1 hochgradige Rhachitis, 1 Epilepsie,

Hiernach ist also in 12,337. aller unserer Fälle Schwerhörigkeit oder Taubheit vorhanden; Leber schätzt das betreffende Verhältniss auf etwa 207o ; Hocquard fand 337o ; Derigs 6,6Vo ; Schäfer 5,27o, Wider^) 19,57«.

Was nun die Geschwister der Blinden anlangt, so sind sie in recht ausgedehntem Maasse belastet, und zwar sind folgende kongenitale Ge- brechen auch an ihnen nachweisbar gewesen: 35 mal Retinitis pigmentosa,

5 angeborene Blindheit unbestimmter Natur (wahrscheinlich EeL

pigm.),

4 Myopie bei mehreren Geschwistern, 2 Hemeralopie,

6 Taubstummheit, 2 Schwerhörigkeit,

1 hochgradige Rhachitis.

Ueber die Verbreitung der Retinitis pigmentosa in einer Familie sei noch bemerkt, dass 18 mal 2 Geschwister davon befallen waren 2 mal 3, 1 mal 4 und 1 mal 5. In den übrigen FäUen konnte ich über die Häufung der Retinitis nichts Genaues erfahren.

Ueber später erworbene Krankheiten der Blinden liegen mir 4 Nachrichten vor, danach wurde 1 Mädchen im 3. Leben^hr von Epilepsie, 2 von hochgradiger Schwerhörigkeit und 1 Mädchen von

Meningitis befallen. it.- * -4^

Es sei mir gestattet, noch einige Bemerkungen über den Emtntt der vollständigen Blindheit^) zu machen. In 47 Fällen erinnern sich

.) Man vergleiche die von mir citirten Angaben bei Wider p. 229 und 230.

3 Bereits früher habe ich darauf hingewiesen, dass man, je nachdem die Blindheit bei der Geburt schon vollständig ausgebildet oder nur in der Anlage V banden ist, eine angeborene Blindheit und eine angeborene Erblindung untei^ Icheiden könne. Ich habe aber, um in mein Zahlenmaterial kerne Verwirrung .u bringen, von einer Durchführung dieser Eintheilung in meiner vorliegenden Arbeit Abstand genommen.

49

die Blinden nicht, jemals gesehen zu haben und soll nach den Aussagen ilu-er Angehörigen an ihnen niemals eine Spur von Sehvermögen be- merkt worden sein. In 18 Fällen wird sicher die Existenz von Seh- vermögen angegeben und für dessen Verlust ein bestimmtes Lebensjahr bezeichnet und zwar soll die Blindheit eingetreten sein :

2 mal im 2. Lebensjalu' 1 mal im 8. Lebensjahr

2 1 2 4

3. 5. 6. 7.

1 1 1

3

)) )>

11.

14. 19. 20.

Die Anwesenheit von Hemeralopie vor Eintritt der Blindheit wird mit vollster Sicherheit von allen den Patienten, die sich überhaupt des Sehens noch erinnern, angegeben.

Von ganz besonderem Interesse scheinen mir noch vier Fälle zu sein, in denen die Verschlechterung der Hemeralopie zur Blindheit mit vollster Bestimmtheit auf eine schwere Körpererkrankung zurückgeführt wird. In zweien dieser Fälle wurden ein Scharlachfieber, in einem Masern und in einem anderen Keuchhusten als diejenigen Krankheiten bezeichnet, welche zu einer schnellen Entwickelung der Blindheit Anstoss gegeben haben sollten. Die Möglichkeit, ja sogar die Wahrscheinlichkeit, dass schwere, das Allgemeinbefinden stark beeinträchtigende Krankheiten eine schnellere Entwickelung einer in der Anlage resp. in den ersten An- fängen befindlichen Retinitis pigmentosa bewirken können, scheint mir durchaus vorhanden. Wissen wir ja doch, dass schwere Allgemein - erkrankungen sehr wohl die Entfaltungsreize für die verschiedensten Kraukheitskeime abgeben können; so treten ja bekanntlich Skrofulöse und Tuberkulose gern im Gefolge der acuten Exantheme auf

Nach Leber ^) soll das weibliche Geschlecht gegen die Retinitis pigmentosa eine relative Immunität zeigen, während das männliche Ge- schlecht entschieden mehr für diese Affektion disponirt sein soll; das Verhältuiss, nach welchem sich die Retinitis pigmentosa auf beide Ge- schlechter vertheilt, ist nach diesem Forscher 76 7o auf die Männer und 24 "/.. auf die Frauen. Unser Material ergibt nun Resultate, welche mit dem von Leber angegebenen nicht übereinstimmen. Die 73 Fälle von Retinitis pigmentosa unserer Untersuchungsreihe gruppiren sich allerdings HO, dass 40 = 55 7o auf die Männer und 33 = 45 7o auf die Frauen ent-

') Leber, Die Kranklieiteu der Netzhaut u. s. w. gesammteu Augcnlieilkunde. Baud V, Tlieil 5, p. 65G. Magnas, JngeuablinUheit.

Haiidbucli der

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fallen. Scheinbai- wäre hiernach also auch ein, wenn auch nui- klemes Uebergewicht auf Seiten des männlichen Geschlechtes vorhanden; doch ist dieser Unterschied nur ein scheinbarer. Bringe ich nämlich die absoluten Zahlen 40 und 33, welche ich für die Retinitis pigmentosa zähle, mit der Gesammtsumme der in meinem Material vorhandenen männlichen und weiblichen Blinden in Beziehung, so ergibt sich ein erheblich anderes Ver- hältniss; alsdann entfallen nämlich auf das männliche Geschlecht 1,9 und auf das weibliche 2,8. Hiernach also ist von einem Ueberwiegen der Neigung zur Retinitis pigmentosa auf Seiten des männlichen Geschlechtes nicht die Rede, wenigstens was unser Material anlangt. Würden wir uns damit begnügt haben, einfach unter unseren 73 FäUen die Zahl der männlichen und weiblichen Blinden zu bestimmen und in der so ge- fundenen Zahl nun den Ausdruck der grösseren Neigung von Seiten des einen Geschlechtes zu sehen, so hätte unser Resultat ja mit dem Leber'schen annähernd gestimmt. Doch gehört zu einer einigermassen sicheren statistischen Bestimmung doch noch mehr, als die einfache Scheidung in die Zahl der männlichen und weiblichen ; vor Allem ist hier erforderlich, die absolute Zahl, welche auf die beiden Geschlechter entfällt, mit der Zahl der untersuchten Männer und Frauen überhaupt in Beziehung zu setzen. Thut man dies, so erhält man eben sehr leicht völlig andere Ergebnisse, wie dies unser Beispiel zeigt. Leber konnte nun aber seine Zahlen nicht mit anderen in Beziehung setzen, es fehlten ihm die Kontrollzahlen und deshalb erhielt er em Resultat, das nur scheinbar eine Bedeutung hat. Nach unseren heutigen Befunden kann die Lehre von der relativen Immunität des weiblichen Geschlechtes gegen Retinitis pigmentosa wohl als überwunden angesehen werden. Zum Ueberfluss will ich das prozentarische Verhältniss, in welchem die Zahl der Retinitis pigmentosa zu der Anzahl der untersuchten männlichen und weiblichen Blinden in verschiedenen Ländern steht, noch anfiihren :

mäuul. weibl.

In den belgischen Anstalten unseres Materials sind 0,00 ° o 2,94 "/o

holländischen » " ^'^^ " ^^'^^ "

1.1, » 3,10,, 3,32

deutschen " " ^' ^

italienischen ., »-M ■> ^-f"

1,20,, 1,69,,

österr.-ungar. » " ' ^

" " . , 1,28,, 1,56,,

i-ussischen " '

schweizerischen " 2,43, u,uu

Auch die Mittheilung Le6erX wonach in FamUien, wo die Retinitis pigmentosa heimisch ist, die weiblichen Mitglieder häufig v--chmit «de«- in kleinerer Zahl ergriffen werden, findet nach meinen heutigen Er-

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fahrungen keine Bestätigung. Icli habe in meinem Material 2 1 Familien gefunden, in denen Retinitis pigmentosa zu Haus ist und in 15 der- selben ist von einem grösseren Ergriffensein des männlichen Geschlechtes keine Rede. Wir werden hiernach also wohl gut thun, vor der Hand das Blindenkonto des männlichen Geschlechtes nicht mit einer grösseren Ziffer von Retinitis pigmentosa zu belasten, als wie das weibliche. Das Verhältniss ZNvischen beiden Geschlechtern scheint mir annähernd das gleiche zu sein, wie dies für die deutschen Blindenanstalten bestimmt der Fall ist. Uebrigens trifft dieses "V^erhältniss auch bei der Retinal- atrophie zu; denn hier ergibt unser Material für das männliche Ge- schlecht 0,59, für das weibliche 0,42%.

Buphthalmus. Was zuvörderst die ätiologischen Angaben anlangt, so wird 2 mal Krankheit der Eltern angegeben; in 6 Fällen fehlen die Angaben über die Eltern; in 30 Fällen sollen die Erzeuger gesund gewesen sein, aber 8 mal zu kollateraler Erblichkeit Veranlass- ung gegeben haben. In den zwei Fällen elterlicher Krankheit handelte es sich um Tuberkulose beider Erzeuger.

Ueber die an den erblindeten Augäpfeln gemachten Befunde liegen folgende Mittheilungen vor:

In 5 Fällen zeigte die ausführbare ophthalmoskopische Untersuch- ung das typische Bild einer glaucomatösen Papille. Einen dieser Fälle habe ich selbst wiederholt genau untersucht und die Excavation in höchst charakteristischer Weise ausgeprägt gefunden. 6 mal war eine erhöhte Spannung des Bulbus nachweisbar, ohne dass die ophthalmos- kopische Untersuchung sich als ausführbar erwies. Im Ganzen waren also unter 38 Fällen 11 mal, d. h. in 28,95 "/o glaucomatöse Erschein- vmgen nachweisbar. Auffallende Weichheit der Bulbi wurde 1 mal beob- achtet; Trübungen der Cornea 12 mal, Trübungen der Linse 16 mal. Imal wurde im Glaskörper ein gelblich schillerndes Exsudat gesehen, 4 mal Verschluss der Pupille, 1 mal Luxatio lentis, Imal war einColo- boma Iridis vorhanden ; 1 mal Sublatio retinae und in einem anderen Fall wurde eine Chorioiditis besonders in den peripheren Theilen des Augen- grundes mit totaler Atrophia nervi optici gefunden. Auffallend oft, in 9 Fällen von allen 38, ist ein Auge phtisisch, doch Hess es sich nicht in allen Fällen mit Bestimmtheit entscheiden, ob eine traumatische Ursache oder spontane Berstung die Phtise eingeleitet hatte. Die Möglichkeit beider Vorgänge ist bei dem Zustand der megalophthalmischen Seh- organe ja in ziemlich gleicher Weise gegeben.

Die blindgeborenen Individuen zeigten nur in drei Fällen noch ein anderweitiges kongenitales Gebrechen, nämlich 2 mal Blödsinn und

4*

62

Imal grosse geistige Schwäche. Dass Störungen in der Entwickelung der Gehirns gerade bei Megalophthalmus nichts Seltenes sind, hatten wir schon in unserer früheren Blindenuntersuchung gefimden ; i) damals wurde unter 14 Fällen von Buphthalmus 3 mal Hydrocephalus ermittelt Die Geschwister unserer Blinden waren 9 mal mit kongenitalen Gebrechen behaftet, wobei wiederholt in einer Familie mehrere Geschwister befallen waren oder eine Person mehrere Gebrechen aufzuweisen hatte;

es fanden sich:

5 mal mit hohen Graden von Myopie.

7 angeborener Blindheit unbekannter Art

1 Epilepsie.

1 Lähmung verschiedener Glieder.

1 Incontinentia urinae. Für die Entscheidung der Frage, ob es sich beim Megalophthalmus congenitus um ein kongenitales Glaucom handele, welches, v,iePjlüger ^) jüngst gefunden hat, durch eine sclerosirende Entzündung des Kammer- winkels bedingt wird, oder ob das Primäre des Prozesses eme Uveitis resp Cyclitis serosa ist und alle übrigen Erscheinungen nur als Folge- zustände anzusehen sind, vermag mein Material in keiner Weise emen entscheidenden Beitrag zu liefern.

Desgleichen vermag ich über die von Dürr^) geäusserte Vermuth- ung, dass der Megalophthalmus in gewissen Gegenden von Nord- deutschland besonders häufig aufzutreten scheine, kein entscheidendes Urtheil zu fäUen. AUerdings kommt ja der Megalophthalmus m der Blinden -Anstalt zu Hannover in einem ziemlich hohen Prozentsatz, nämlich 9,1 'Vo vor, doch habe ich in andern deutschen Blinden-Anst^lten Prozentsätze gefunden, welche dem von Hannover sich nähern ja im sogar weit übertreffen. Doch daif man niemals vergessen, dass die

l Ein" ziasa— Stellung der über das Wesen des Buphthaljnus congenitus geäusserten Theorien findet man bei: GraUaner, Zur P^t^^^;^-;;;; Inatomie des Hy dr Ophthal mus congenitus. Archiv für Ophthalmologie

^^'^''Pflüger, Universitäts- Augenklinik in Bern, Bericht für das Jahr 1882. Bern 1884, p. 36—63. , , mi vficrkeit in

••K«v rlie Blinden-Anstalt in Hannover und einer Zusammen 1886. p. 22.

53

Verhältnisse eiuer jeden Blinden-Anstalt numerisch zu geringe sind, um einen massgebenden statistischen Schluss aus ihnen ziehen zu dürfen. Allerdings liegt ja bezüglich Hannover die Sache insofern anders, als Dürr neben den Beobachtungen in der Blinden-Anstalt noch über zahl- reiche Beobachtungen aus einer umfassenden Praxis verfügt und sich so aus diesen beiden Beobachtungsreihen schon eher ein einigermassen verlässlicher Rückschluss auf das häufige Vorkommen des Megalophthal- mus in den nördlichen Theilen von Hannover, in Oldenburg und Bremen ziehen lässt.

Chorioiditis. Die Beschreibungen gedenken alle übereinstimmend einer mehr oder minder atrophischen Papilla optica, Pigraentanhäufungen in den verschiedensten Theilen des Augengrundes, atrophischen Stellen des Hintergi-undes. In 1 Falle war 1 Coloboma chorioideae vorhanden ; 1 mal Irisschlottem ; 2 mal auf einem Auge Sublatio retinae ; 2 mal leichte Phtisis.

Kongenitale anderweitige Belastungen der Blinden wurden 3 mal geftmden ; 1 mal Mikrocephalus ; 1 mal Störungen des geistigen Gleich- gewichtes und 1 mal Epilepsie.

An den Geschwistern wurden in 7 Fällen angeborene Gebrechen beobachtet und zwar folgende Formen, wobei auch wieder an einer Person verschiedene Affektionen gefunden wurden:

5 mal Chorioiditis congenita,

2 cerebrale Amaurose,

3 Amaurose unbekannter Art, 1 Taubheit,

1 Idiotismus. Von diesen 7 Fällen möchte ich folgender noch besonders gedenken : in dem einen sind 5 Geschwister, 3 Mädchen und 2 Knaben vorhanden, alle 3 Mädchen sind blind geboren, die Knaben aber sehend. In dem anderen Fall handelt es sich um eine Familie mit 4 Kindern, 2 Brüder und 2 Schwestern, welche alle 4 mit Chorioiditis geboren worden sind. Hereditäre oder konsanguine Belastung können in beiden Fällen nicht zur Erklärung herangezogen werden.

Retinalatrophie. An den Blinden selbst waren anderweitige angeborene Gebrechen nicht nachweisbar, dagegen öfters au den Ge- schwistern derselben und zwar 9 mal, nämlich : 12 mal Retinalatrophie, 2 unbekannte Formen der Amaurose, 1 Blödsinn, 1 Stummheit.

B4

Gauz besonderH oft siud mehrere Geschwister des Blindau belastet, so sind in einer Familie 5 blind geborene Kinder, in zwei anderen 4.

Irido Chorioiditis. Während an den Blinden selbst ange- borene Missbildungen nicht beobachtet wiu-den, fanden sich solche an den Geschwistern in 5 Fällen und zwar-: 1 mal Iiidochorioiditis, 1 Atrophia nervi optici, 3 Blindheit unbekannter Form, 1 Blödsinn.

Myopie. Die Beschreibungen, welche über die 4 Fälle vorliegen, gedenken durchgängig Veränderungen an der Macula und dem Hinter- grund, wie sie ähnlich auch bei acquirirter Myopie beobachtet werden.

Die Geschwister der Blinden waren in 3 Fällen kongenital belastet: 2 mal Myopia congenita; 1 mal handelte es sich um eine FamUie mit 6 Kindern, die alle durch Myopia excessiva entweder blind oder^ hoch- gradig amblyopisch waren; der Vater war amblyopisch, doch die Ur- sache seiner Amblyopie nicht bekannt. 1 mal Amaurosis congenita

unbekannter Art.

Die Eltern waren in 3 Fällen mit hochgradiger Myopie behaftet.

Albini smus. In den 4 Fällen von Albinismus, welche unser Material zählt, war zwar keine Amaurose, aber doch eine so hoch- gradige Amblyopie vorhanden, dass eine Erziehung in der Blinden- Anstalt erforderlich war. Ich selbst habe 2 Fälle von Albinismus bei einem Brüderpaar untersucht. Die Eltern dieser total albinotischen Brüder waren vollkommen gesund und hatten fünf Khider, von denen zwei, die von mir untersuchten Brüder, Albinos waren. Die Geburten beider folgten nicht aufeinander, vielmehr wurden nach der Gebm-t des ältesten Albino zwei normale Kinder und erst dann der zweite Albmo geboren. Die Sehschärfe war bei dem ältern bei dem jüngeren

2 0 Hochgradiger Nystagmus erschwerte die ophthalmoskopische Unter- suchung zwar, doch konnte ich bei wiederholten Sitzungen mich voll- ständig über den Zustand des Augengrundes unterrichten. Der gelbliche Hintergrund mit den scharf ausgeprägten Chorioidalgefässen bot ein prächtiges Bild. Die Papilla optica erschien mir in beiden Fällen ganz auffallend verändert. Die Färbung derselben zeigte ein eigenthümbches Graugelb bei dem einen, bei dem anderen eine an Atrophie erinnernde Blässe. Diejenige Papille, welche graugelb erscliien, zeigte ausserdem noch wenig scharf gezeichnete Umrisse. Beide Brüder waren hypei- metropisch.

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Die Belastung der Geschwister trat in 3 Fällen auf und zwar zeigten in allen 3 Fällen mehrere Kinder einer Familie dasselbe Ge- brechen.

K er ato Conus. Trotzdem ophthalmoskopisch keine besonderen Veränderungen nachweisbar waren, bestand doch in allen 3 hierher gehörigen Fällen Amblyopia höchsten Grades. In einem Fall war die Spitze des Keratoconus auf beiden Augen in breitem Umfang getrübt.

An den Blinden selbst wurde in einem Fall Ehachitis beobachtet.

Die Geschwister waren in 2 Fällen kongenital belastet und zwar mit folgenden Formen, wobei auch wieder an einer Person, resp. in einer Familie mehrere Gebrechen nachweisbar waren :

2 mal angeborene Blindheit unbekannter Natur, 1 Blödsinn,

1 Lähmung der unteren Extremitäten.

Coloboma chorioideae. Es bestand in allen 3 Fällen eine hochgi-adige Amblyopie. Besonders ist ein Fall bemerken swerth, in welchem das Colobom wenigstens den fünften Theil des ganzen Hinter- grundes einnahm, beiderseits vorkam und mit excessiver Hypermetropie vergesellschaftet wai*. Iriscolobom war alle 3 mal vorhanden.

Nicht bestimmte Formen. Hier wäre nur der Häufung angeborener Gebrechen zu gedenken. An den Blinden selbst wurden beobachtet :

2 mal Blödsinn,

1 Hydrocephalus, 1 Lähmung der unteren Extremitäten. An den Geschwistern wurde gefunden:

17 mal angeborene Amam'ose unbekannter Natur, 1 Epilepsie.

§ 10. Die Häufung kongenitaler Belastung.

Wenn ich alle diejenigen Fälle nochmals in einem besonderen Paragraphen zusammenfasse, in welchen die angeborene Amaurose von einer Häufung kongenitaler Gebrechen, sei es an der Person der Blinden, sei es in den Familien derselben, begleitet ist, so geschieht dies, weil ich der Ansicht bin, dass eine derartige systematische Zusammenstellung den besten Ueberblick über alle hierher gehörenden Erscheinungen ge- stattet. Die genaue Kenntniss der fraglichen Erscheinungen dürfte aber für die Beurtheilung der ätiologischen Momente, welche die Häufung

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kougeuitaler Gebrechen veranlasseu, vielleicht nicht ohne alle Bedeutung sein. Uebrigens habe ich bei den folgenden Zusammenstellungen darauf nicht Rücksicht genommen, ob Heredität, Konsanguinität oder kollaterale Erblichkeit nachweisbar sind, sondern ich habe alle diejenigen Fälle, in denen entweder an der Person der Blinden, oder an anderen Familieu- gliederu derselben noch angeborene Missbildungen gefunden wurden, zusammengestellt gänzlich unbekümmert um die etwaigen Entstehungs- lu-sacheu. Es fanden sich also Häufting kongenitaler Gebrechen: Unter 73 Fällen von Retinitis pigmentosa 56 mal = 76,71°/«. 113 Atrophia nervi optici 66 = 58,41 16 Retinalatrophie 9 = 56,25

21 Chorioiditis 9 = 42,86

14 Iridochorioiditis 5 = 35,71

38 Buphthalmus 12 = 31,58

118 Cataracta complicata 29 = 24,58 81 Mikrophthalmus 19 = 23,46

Die vorstehende Tabelle gibt Aufschluss darüber, welche Formen der angeborenen Amaurose am häufigsten von gleichzeitigem Auftreten anderweitiger kongenitaler Missbildungen an der Person des Blinden oder an Familienmitgliedern desselben begleitet werden. Bis zu einem gcAvissen Grade können wir aus der Zusammenstellung die Vermuthung ableiten, welche der angeborenen Erblindungsformen am häufigsten als lokale intrauterine Augenerkrankungen sich entwickeln und bei welchen komplizirtere ätiologische Faktoren massgebend sein dürften. Je weniger häufig die angeborene Erblindungsform mit anderen Körpergebrechen vergesellschaftet ist, desto mehr werden wir der Ansicht zuneigen können, dass die Entstehungsursache einen beschränkteren, lokalen Charakter ge- tragen habe und umgekehrt. Natürlich kann es sich hierbei immer nur um Muthmassungen allgemeinster Natur handeln.

Was nun die Komplikationen der angeborenen Amaurose mit kon- genitalen Missbildungen anderer Organe des Blinden selbst anlangt, so gibt darüber die folgende Tabelle Aufschluss:

Die nervösen Centraiorgane waren 34 mal behaftet = 56,67 7n Das Gehör') war 11 » » = ^8,33

Rachitis wurde 6 beobachtet = 10,00

») Hydrocephalus, Mikrocephalus, Thurmschäldel, Blödsinn, Epilepsie, ange- borene Lähmung, geistige Schwäche kamen zur Beobachtung.

>) 6 mal Taubstummheit, 5 mal bedeutende Schwerhörigkeit.

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Verkrüppeliuigen ') wurden 5 mal beobachtet = 8,33 "/o

Stönmgeu der Sprache wrden 2 = 3,33

Nävus wurde 1 = 1,67

Allgemeine Entmckelungshemmung wurde l = 1,67

Diese Zusammenstellung lehrt uns also, dass die mit angeborener Amaiu-ose behafteten Individuen am Häufigsten Störungen in der Eut- wickelung des Gehirns und demnächst des Gehörs mit auf die Welt bringen.

Es bliebe uns noch zu untersuchen übrig, welche Organe am häufigsten bei den Geschwistern der Blinden kongenital belastet sind. Auch hierüber steht uns ein ziemlich reichhaltiges Material zur Ver- fügung. Im Ganzen wurden an den Geschwistern 266 kongenitale Gebrechen nachgewiesen und zwar vertheileu sich dieselben über die verschiedenen Organe in der folgenden Weise:

Das Auge war

232 mal behaftet

87,22 7o

Die nervösen Centi'alorgane ''^

waren 18

6,77 ,/

Das Gehör ^) war

11 ,, ,)

4,14

Rachitis wurde

1 beobachtet

0,38

Verkrüppelung wurde

0,38

Störung der Sprache wurde

0,38

Tuberkulose wurde

0,38

Incontinentia urinae wurde

0,38

Die vorstehenden Zahlen zeigen also, dass die Geschwister von blindgeborenen Individuen, werden sie mit Missbild uugeu geboren, meist an den Augen Schaden aufzuweisen haben; und zwar ist dieses Ver- hältniss ein so häufiges, dass es für mehr als drei Viertel aller be- obachteten Fälle massgebend ist. Demnächst werden bei den Ge- schwistern der Blindgeborenen die nervösen Centraiorgane und das Gehör am häufigsten kongenital belastet, ein Verhältniss, welches mit unseren an der Person des Blindgeborenen gemachten Beobachtungen vollkommen übereinstimmt.

§ II. Gewisse ethnologische Verhältnisse sind von eiuzelueu

Forschern bekanntlich als die Entstehung der Amaurose besonders fordernd angesehen worden. Vornehmlich ist es die Farbe des Auges gewesen, aus welcher man versucht hat, eine grössere oder geringere Neigung zur Erblindung herzuleiten. Diese Versuche sind übrigens

>) 1 mal Wolfsrachen und Hasenscliarte , 4 mal Verkiüppelungen an oberen oder unteren Extremitäten.

') Blödsinn 10, Lähmung 5, Epilepsie 3.

') Taubstummheit 8 mal, Schwerhörigkeit 3 mal.

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schon recht alt uud scheint mau früher der Ansicht gehuhiigt zu haben, dass in den dunkel gefärbten Augen ganz besondere Er- blinduugsgefahren schlummerten, Erbluiduugsgefahreu, welche um Vieles grösser sein sollten, als die dem hellen Auge drohenden. So schätzt z. B. Beer,^) dass auf l blaues oder graues amaurotisches Auge immer 25—30 dunkelgefärbte kämen. In neuester Zeit war es besonders Muyr,'^) welcher diese Hypothese auf breiter statistischer Basis wieder- aufzuführen suchte. In meiner früheren Blindenuntersuchung habe ich diesen Versuch Mayr's bereits einer kritischen Beleuchtung unter- zogen, und darauf hingewiesen dass die Mayr'sche Hypothese, spricht sie von der Amaurose im Allgemeinen d. h. von allen Formen der- selben, für den Arzt absolut unannehmbar sei; dass man medicinisch überhaupt erst dann über die fragliche Theorie disputiren könne, wenn sie sich auf bestimmte Formen der Amaurose beschränke. Denn es liegt ja auf der Hand, dass gewisse Blindheitsformen, als da smd die Blennorrhoeblindheit , die traumatische Amaurose u. dgl. m. mit der Farbe des Auges auch nicht das mindeste zu theilen haben, vielmehr von Jedem , ganz unbeschadet der Farbe des Auges erworben werden können. Bei anderen Amaurosisformen dagegen scheint die Farbe des Auges eine gewisse Rolle zuspielen, so z. B. beim Glaucom, wenigstens wird dies von einer Reihe von Autoren behauptet. Auch füi- die Iridochorioiditis wird von einzelnen Forschern, so z. B. in der jüngsten Zeit erst wieder von Wecker, '^) die Behauptung aufgesteUt, dass sich dieselbe mit besonderer Vorliebe in pigmentreichen Augen etablire. Wir woUen nun die Bedeutung der Mayr'schen Hypothese an der angeborenen Blindheit zu erproben suchen; denn die Möglichkeit, dass gerade bei den hierher gehörigen Formen die Farbe des Auges eine gewisse Bedeutung haben könne, ist ja a priori nicht ohne Weiteres zu bestreiten.

Aus dem mir zur Verfügung stehenden Material habe ich die deutschen mit kongenitaler Amaurose behafteten Personen herausgegrifien

>) Beer, Lehre vou den Augenkrankheiteu alsLeitfadeu seinen öffentlichen Voll csungeu entworfen. Wien 1817, Bd. 2,p.422.

^) Mayr, Die Verbreitung der Blindheit, der Taubstumm- heit, des Blödsinns und des Irrsinns in Bayern, nebst einer all- gemeiueninternationalenStatistik dieser vier Gebrechen. XXX\ , Heft der Beiträge zur Statistik des Königreiches Bayern. München 1877, p. 77. Magnus, Die Blindheit, p. 59.

>) von Wecker, Die Erkrankungen des Uvealtractus u-id des Glaskörpers. Handbuch der gesammten Augenheilkunde. Bd. IV, Thcil 2. Leipzig 1876, p. 531.

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und bei 227 derselben eine genaue Beschreibung der Augenfarbe er- mittelt; 145 = 63,88 "o hatten helle, 82 = 36,12 "/o dunkle Augen'). Herr Dr. GuUsladt hat mir nmi in bereitwilligster Weise Mittheilungen gemacht über die Befunde, welche ihrer Zeit die von Virchuic angeregte Untersuchung der Augen- und Haarfarbe der deutschen Schulkinder ergeben hatte. Nach diesen Notizen entfallen auf die hellen Augen 72,81 7o, auf die dunklen 27,71 7o. Halten wir nun die gewonnenen Zahlen einmal gegen einander:

Von unseren deutschen Blindgeborenen hatten 63,88 7o helle, 36,12 7o dunkle Augen, von den untersuchten deutschen Schulkindern hatten 72,817., helle, 27,71 7o dunkle Augen.

Hiernach sind also bei unseren deutschen Blindgeborenen die braunen Augen mit einem grösseren Prozentsatz der angeborenen Amaurose be- haftet, als derselbe betragen sollte" entsprechend dem Verhältniss, in welchem die Zahl der Braimäugigen zu den Helläugigen unter den deutschen Schulkindern steht. Ich bin aber durchaus nicht gewillt, aus dieser Thatsache irgendwelche Schlüsse von allgemeinerer Tragweite zu ziehen, sondern ich beschränke mich nur darauf, den grösseren Reicli- thum an angeborener Blindheit für das braune Auge im Rahmen unseres aus Deutschland stammenden Materials zu konstatiren.

Ich muss nun noch mit einigen Worten jener Ansicht^) gedenken, nach welcher die Quote, welche die Juden zu den Körpergebrechen, speciell zu den angeborenen Missbildungen beisteuern, eine ganz be- sonders grosse sein solle, grösser als die bei den Christen massgebende. An eine kritische Untersuchimg dieser Ansicht kann bei der Beschaffen- heit meines Materials in keiner Weise gedacht werden ; denn zu einem solchen Unterfangen gehört nicht nur eine umfangreiche Blindenreihe, sondern vor allem ein Material, welches gestattet, die aus ihm gewonnenen Zahlen in Parallele zu der Bevölkerung zu setzen. Bei der von mir vor wenigen Jahren durchgeführten Untersuchung aller Blinden der Stadt Breslau ^) war ich im Stande , die Blindenquote der Juden mit

') Hierbei habe ich die verschiedenen Typen, nämlich blonden Typus, braunen Typus, Mischformen nicht auseinandergehalten, sondern lediglich nur die Farbe der Augen als bestimmendes Moment angesehen.

Man vergleiche : Guitstadt, Die Gebrechlichen in der Bevölker- ung Proussens am 1. Dezember 188 0. Zeitschrift des königlich. ]jreuss. stat. Bureau 1882 und : Die Verbreitung der B 1 i nd en und Taub stummen nach der Volkszählung vom I.Dezember 1880 und ihre Unter- richtsanstalten bis zum Jahre 1 883 in Preusseii. Zeitschrift des königl. preuss. stat. Bureau. Heft 1 u. 2. Jahrgang XXIII. Berlin 1883. p. 195. Archiv f. Augenheilkunde XIV. p. 427.

60

der jüdischen Einwohnerschaft Breslau's überhaupt in Verbindung zu bringen und dabei fand ich allerdings, wie dies auch GulMadl an- gegeben hatte, für die Juden eine grössere Blindenquote, als für die Christen; denn während auf 10000 Breslauer Juden 11,0 Blinde kamen, entfielen auf 10 000 Christen nur 8,4. Auch die für die einzelnen Formen der Blindheit gültigen Verhältuisszahlen habe ich damals er- mittelt und gefunden, dass auf 10 000 Juden 0,57 angeborene Amaurose kamen und auf 10 000 Christen 0,31.

Da nun für mein heutiges Material eine Parallelish-ung der Be- völkerung mit der BlindenzifFer absolut undurchführbar ist, so muss ich mich nur auf einige nebensächliche Mittheilungen beschränken. Unter den Anstalten meines Materials befindet sich eine specifisch jüdische, nämlich die Blinden-Anstalt Hohe Warte bei Wien. Die Blindenformeu, welche ich in dieser Anstalt beobachtet habe, unterstützen den Schluss, dass die Juden besonders häufig kongenitale Amaurose zu verzeichnen hätten, nicht. Der Procentsatz für die angeborene Blindheit beträgt in jeuer Anstalt nämlich 28,57 7o, ein Verhältniss, welches zwar ein recht hohes ist und welches auch in keiner anderen Blinden-Erziehungs-An- stalt Oesterreich-Ungarns ') in dieser Höhe vorkommt, aber trotzdem nichts Charakteristisches hat. In verschiedenen Anstalten Deutschlands ^ welche überwiegend ja fast ausschliesslich nur Christen enthalten, finden wir nämlich für die angeborene Amaiirose Procentsätze, welche dem in der Anstalt Hohe Warte ermittelten nicht allein gleichkommen, sondern denselben sogar noch übertreffen. Auch ist das Verhältniss, in welchem die einzelnen Gruppen der Jugendblindheit in jener Anstalt zu einander stehen, kein erheblich anderes, als wie wir es in den übrigen An- stalten gefunden haben. Die jüdischen Jugendblinden m der Anstalt Hohe Warte gruppiren sich wie folgt: Amaurosis congenita 28,57 7»; Idiopathische Krankheiten der Augen 25,57 7«; Verletzungen 8,88 7o; Allgemeinerkrankungen 34,28 7». Hervorzuheben wäre nur der hohe Procentsatz, welcher unter den jüdischen Blinden die Retinitis pigmen- tosa und die Retinalatrophie beanspruchen; 17,06 entfallen auf diese Zustände, ein Verhältniss, welches in keiner von allen m unserem Material vertretenen 64 Anstalten wiederkehrt. Auffallend ist auch der geringe Procentsatz der Blennorrhoe neonatorum von 2,887«, welchen die specifisch jüdische Anstalt zeigt und welcher in dieser niedrigen Ziffer gleichfalls einzig unter allen Anstalten dasteht.

') Man vergleiche Tafel II. ') Man vergleiche Tafel I.

Drittes Kapitel.

Die durch idiopathische Augenerkrankungen bedingten

Blindheitsformen.

§ 12. Ueber die Stellung, welche die durch idiopathische Augen- erkrankungen hervorgerufenen Blindheitsformen im Gebiete der Jugendblindheit einnehmen.

Diirchmustem wir die graphischen Darstellungen, welche wir über das Verhalten der verschiedenen Formen der Jugendblindheit in ein- zelnen europäischen Ländern entworfen haben, so finden wir, dass die durch idiopathische Augenerkrankungen hervorgerufenen Erblindungen meist in einem geringeren Prozentsatz vorhanden sind, als die durch Allgemeinerkrankungen erzeugten. Unsere Generaltabelle auf Seite 12 und die graphische Tafel III ergeben, dass für das gesammte Material das Verhältniss zwischen den durch idiopathische Augenkrankheiten und den durch Allgemeinerkrankungen erzeugten Blindheitsformen fast das gleiche ist, nämlich für die ersteren 33,08 7 o, für die letzteren 33,17 7o. Dieser unser heutiger Befund weicht nun von dem Ergebniss, welches andere Forscher, sowie wir bei unseren früheren Blindenuutersuchungen gewonnen haben, in sehr erheblicher Weise ab. So hat z. B. Büuerlein^) bei seinen Blinden die dm-ch idiopathische Augenerkrankungen hervor- gerufene Amaurose auf 68 7o , die durch Allgemeinerkrankungen aber nur auf 19 7o berechnet. Bei meiner früheren Untersuchung^) von 2528 Blinden entfielen auf die durch idiopathische Augenaftektionen erzeugte Blindheit 76,91 "L und auf die durch Allgemeinerkrankungen

^)Bäuerlein, Augenklinik in Würzburg. Bericht über deren 1 5jährige Wirksamkeit 1 869— 1 883. Wür/,burg 1884. p. 26.

') Magnus, Die Blindheit u. s. w. p. 107.

62

hervorgerufene Amaurose nur 18,31 7o. Wir haben hiernach also für unser fi-üher benutztes Untersuchungsmaterial eine viel grössere Anzahl der durch idiopathische Augenaffektionen bedingten Blindheitsformen ermittelt, als für unsere jetzige Untersuchungsreihe. Wie lassen sich nun diese so auffallend verschiedenen Ergebnisse erklären ? Die einzige mid ausschliessliche Ursache für das so verschiedene Verhalten der frag- lichen Blindheitsgruppe ist in dem benutzten Material zu suchen. Während wir für unsere frühere Untersuchung ein Material verwendet hatten, in welchem alle Altersklassen vertreten waren, smd in unserer jetzigen Untersuchungsreihe nur die ersten zwanzig Lebensjahre berücksichtigt, alle späteren Altersklassen aber grundsätzlich ausgeschlossen. Für die ersten beiden Lebensdecaden entfalten nun aber die idiopathischen Augen- erkrankungen lange nicht eine so verderbliche Wirksamkeit, als für die späteren Altersperioden. Die vielen Schädlichkeiten, welchen das Seh- organ durch den Gebrauch ausgesetzt ist, sowie die regressive senile Metamorphose, welche bei dem Auge ja verhältnissmässig schon sehr zeitig sich fühlbar macht, sie gestalten die Gruppe der idiopathischen Augenerkrankungen für das zweite und dritte Drittel der Lebenszeit eben so verhängnissvoll , dass deren Blindheitsquote die bedeutendste unter allen Gruppen der Amaurose überhaupt wü-d. Für die ersten zwanzig Lebensjahre sind aber die Erkrankungen, welche in dem Ge- brauch und den regressiven Veränderungen des Sehorganes wurzeln, in selu' geringer Zahl oder gar nicht vorhanden und deshalb verliert diese Gruppe für die Jugendblindheit an Blindheit erzeugender Kraft, trotzdem sie eine so fi-uchtbare Erblindungsquelle, wie die Blennorrhoea neonatorum, enthält. Im Grossen und Ganzen dürfen wir sagen, dass die idiopathischen Erkrankungen des Auges jenseits des zwanzigsten Lebensjahres etwa die Hälfte mehr Erblindungen bewirken, als dies- seits dieser Altersstufe.

§ 13. Die einzelnen Formen der durch idiopathische Augenerkrankungen

erzeugten Blindheit.

Der Häufigkeit nach gvuppiren sich die 1060 der in diese Gruppe gehörenden Fälle in der folgenden Weise: Unter 1060 Fällen findet sich Blennorrhoea neonatorum 753 mal = 7 1,03 "/o

Atrophia nervi optici ') 74 =r 6,99

') In (lieser Kubrik sind alle diejeuigou Fülle vou Sehuervenatropliic anf- genoraineu, welche ohne Cerebral Symptome oder oline begleitende Kürpererkrankung

63

Iritis xind Iridochorioiditis (6 + 61)

67

mal

fi ^9 o/n

Trachom

42

)>

Q

Sublatio retinae

27

ii,00

Konjunctivalerkrankuug unbestimmter Natur 26

BlennoiThoea gonorrhoica

1 o

))

1 /I o

Keratitis

15

,)

1 d.9

Chorioiditis

14

1 QO

l,öd

Diphtheritis conjunctivae

14

1 QO

Glaucom

6

U,t) < ,,

Myopie

4

0 38

Neui'oretiuitis hämorrhagica

1

0,09

Essentielle Phtisis

1

0,09

Glioma Retinae

1

0,09

1060 mal

100,007o

Wir wollen nunmehr in engster Anlehnung

an

die

vorstehende

Tabelle die Formen der dort verzeichneten Blindheitsformen besprechen und die Einzelnheiten , welche unser Material über dieselben enthält, mittheilen.

Blennorrhoea neonatorum. Wenn Fuchs') sagt: „Die ziffermässige Bestimmung des Kontingentes, welches die an Blennorrhoe Erblindeten zu der Gesammtzahl der Blinden stellen, ist bis jetzt noch nicht möglich", und wenn er diese seine Behauptung damit zu beweisen sucht, dass er zeigt, wie je nach dem für die Untersuchung benützten Blindenmaterial die Prozentzahl der Blennorrhoe wechselt, wie bei Jugendblinden ein hoher, bei einem aus allen Altersklassen gemischtem Material aber ein geringerer Procentsatz auf die Blennorrhoe entfällt, so sehen wir ims völlig ausser Stande, diesem Ausspruch beizutreten. Dass der Prozentsatz der Blennorrhoeblindheit bei den verschiedenen Autoren ein sehr wechselnder ist, wollen wir Fuchs keineswegs bestreiten, wie wir ihm auch nicht widersprechen wollen, wenn er die Verschieden- heit des Blinden-Materials für dieses Schwanken des prozentarischen Verhältnisses in Anspruch nimmt : Diese Thatsachen sind völlig richtig und ihnen kann sich Niemand, welcher sich mit Blindenuntersuchungen nur einigermassen befasst hat, verschliessen. Aber Fuchs irrt sehr, wenn er in diesen Verhältnissen etwas für die Blennorrhoeblindheit be-

eutstanden sind. Ueber die Zahl der PapilHtisatvophie , der eiufticlieu Atrophie vergl. deu Abschnitt Atrophia nervi optici in diesem Paragraphen und Kapitel 6.

') Fuchs, DieUrsachen und die Verhütung der Blindheit. Wies- baden 1885. p. 122.

- 64

sonders Charakteristisches zu finden meint, oder wenn er aus ihnen die Unmöglichkeit, sichere Werthe für die Bleunorrhoeblindheit zu gewinnen, herleitet. Beide Schlüsse sind unrichtig und zwar aus Gründen, deren Stichhaltigkeit ein Jeder ohne Weiteres aus dem Folgenden wohl er- sehen wird.

Was zuvörderst das Schwanken der prozentarischen Werthe, ihr Steigen und Fallen je nach dem der Untersuchung unterstellten Blinden- material anlangt, so theilt die Blennorrhoeblindheit dieses Schicksal eben mit jeder anderen Blindheitsform auch. Suchen wir z. B. den Prozentsatz der Glaucomblindheit zu finden, so werden wir genau das erleben, was Fuchs für die Blennorrhoeblindheit als besonders charak- teristisch betont, nämlich ein höchst auffälliges Schwanken. Je nach dem benützten Blindenmaterial steigt und fällt der numeiische Werth der Glaucomblindheit in ähnlicher Weise wie bei der Blennorrhoe. Haben wir em Material, welches in besonderer Menge Individuen zählt, welche in der ersten Lebenshälfte erblindet sind, so fällt der Prozentsatz für das Glaucom nicht unbedeutend, während er sofort steigt, wenn das Untersuchungsmaterial Personen in reichlicher Zahl enthält, welche in der zweiten Lebenshälfte die Blindheit erworben haben. So fand ich z. B. bei der Untersuchung der Breslauer Blinden ') für die orts- anwesende Bevölkerung den Prozentsatz des Glaucoms = 10,00; schied ich nun die Zöglinge der Blindenanstalt von der Zahl der Breslauer Blinden aus, berücksichtigte ich nur die wirkliche in Breslau ansässige Einwohnerschaft, so stieg der Prozentsatz alsbald um fast die Hälfte seiner bisherigen Höhe. Aehuliches kann man erleben, wenn man die Prozent- sätze vergleicht, welche unsere frühere und unsere heutige Untersuchungs- reihe für die angeborene Blindheit zu Tage gefördert hat. Unter den 2528 Blinden meines fi-üheren Materials habe ich ftir die kongenitale Amaurose 3,83 "/o gefunden und heute 17,19 7o ; das frühere Material war eben ein aus allen Altersklassen gemischtes , während das jetzige nur die ersten zwanzig Lebensjahre berücksichtigt. Diese beiden Bei- spiele genügen, um auf das Schlagendste den Beweis zu führen, dass das Schwanken des Prozentsatzes eine Erscheinung ist, welche für die BlennoiThoeblindheit keineswegs etwas besondei-s Charakteristisches be- sitzt, vielmehr fast allen Blindheitsformen in der nämlichen Weise eigen ist. Lassen wir nun den Fwc/is'schen Ausspruch gelten, erklären wir mit diesem Autor die ziffermässige Bestimmung der Bleunorrhoeblindheit

•) Magnus, Dio Blinden der Stadt Breslau im Jalire 1 884. Archiv für Augenheilkunde. XIV. p. 398, 400, 413.

') Magnus, Die Blindheit u. s. w. p. 107.

vor der Haucl für nicht möglich, so sind wir nach dem, was wir über das Fkiktuiren der anderen Bliudheitslormen soeben gesagt haben, un- bedingt gezwungen, diese Unmöglichkeit auch auf die meisten anderen Bliudheitsformeu auszudehnen. Damit entfiele aber überhaupt die Mög- lichkeit, die blindheiterzeugende Kraft der verschiedenen Augeuerkrank- imgen numerisch zu fixiren. Thäte man unter sothanen Verhältnissen dann aber überhaupt eigentlich nicht besser, das Studium der Blindheit vor der Hand ganz bei Seite zu schieben, resp. zu warten, bis man, wenn dies überhaupt je eintreten würde, ein Blindenmaterial ohne jede Schwankungen, ein Material mit absolut sicheren, unveränderlichen AVertheu gefimden hätte? Nun, so verzweifelt liegen die Verhältnisse glücklicherweise nicht und Fuchs hat wohl doch etwas zu schwarz ge- sehen, wenn er die zififermässige Fixu-ung der Blennorrhoeblindlieit vor der Hand für unmöglich erklärt. Wir können uns den Pessimismus von Fuchs Sehl- wohl erklären ; denn da dieser Autor keine eigenen Blinden- untersuchungen angestellt, über kein eigenes Untersuchungsmaterial zu verfügen hatte, so war er lediglich auf die Angaben anderer Autoren angewiesen, und da diese Angaben eben in Folge der so grossen Ver- schiedenheit der einzelnen Untersuchuugsreihen die erheblichsten Schwank- ungen zeigten, so musste er sich diesen differenten Angaben gegenüber wirklich in recht peinlicher Lage befinden.

Es sei mir nunmehr gestattet, den Beweis dafür zu erbringen, dass mit dem uns bis jetzt zur Verfügung stehenden Material die ziffer- mässige Bestimmung des prozentarischen Werthes der Blennorrhoeblind- heit sehr wohl durchzuführen ist.

Bereits in meiner früheren Arbeit über Blindheit^) habe ich darauf hmgewiesen, dass man gut daran thut, die blindheiterzeugende Kraft der Blennorrhoe in doppelter Weise zu betrachten, indem man emmal die Bedeutung ermittelt für die Blindheit überhaupt, d. h. für ein aus allen Altereklassen zusammengestelltes Menschenmaterial und indem man zweitens die Erblindungsquote der Blennorrhoe nur für das jugend- liche Alter zu finden sucht. Gerade auf den letzten Pimkt hat man bisher viel zu wenig Werth gelegt und doch lässt sich die verderbliche Kraft voll und ganz nur dann würdigen, wenn mau ihre Wirkungen speziell nur für die Lebensperiode feststellt, welcher die Blennorrhoe angehört, also für das erste Lebensjahr, mithin ein Verfahren verfolgt, welches für andere Zweige der medicinischen Statistik bereits als einzig verlässliches längst in Anwendung gezogen wird. Wenn heute Jemand

') A. a. 0. p. 163. Magnus, Jngendblindheit.

5

66

die Verheerungen, ^velche der Durchfall der Säughnge anrichtet, zifFergemäss ausdrücken ^vill, so ^vird es ihm gewiss nicht euifal en, eine Mortalitätstabelle zu Rathe zu ziehen, welche die Todesursachen der verschiedensten Lebensalter berücksichtigt, sondern er wird ledig- lich nur die im ersten Lebensjahr Gestorbenen zusammenstellen und aus ihrer Zahl den prozentarischen Werth der Säuglingsdiai-rhoe be- rechnen. Genau in derselben Weise muss man verfahren, w^enn man für die blindheiterzeugende Kraft der Blennorrhoe einen keinen Schwank- ungen unterworfenen ziffermässigen Beleg zu gewinnen wünscht Man Iss aus seinem Untersuchungsmaterial alle Fälle von Erblinclungen des ersten Lebensjahres zusammenstellen und aus ihnen den Prozent- satz der Blennon-hoe berechnen. Natürlich kann man d-sen eg mir dann n.it Erfolg betreten, wenn man ein grösseres emheitlich un te - suchtes Materia! Jugendblinder zur Verfügung hat, wie es uns eben

letzt zu Gebote steht. . t i -oi,,. o,-

Uuser Material zählt im Ganzen 1046 .ra ersten Lebensjah, ei- blindete IndWiduen;') davon entfallen 763 anf die BlennotThoe m.thm haben 71,99 '/o Prozent aller im ersten Lebensjahr Erbhnde.er da, Atenlich durch die Blennorrhoe verloren. So er-schreckend hoeh cheser P „lentsatz auch sein mag und so sehr wir uns S^S».— sträuben mögen, so ist er doch der gar nicht anzuzweifelnde An=d.uck m Steflun^, welche die Blennorrhoea') neonatorum unter den Bllndheitsformen des ersten Lebensalters einnimmt.

Ve neben wir es nun noch, den Werth der Blennon-hoeblindhe, für dl Amaurose überhaupt zu ermitteln ; i^^" ^ L bensiahr reichendes Material figurirt die Blennorrhoe mit 23,nO ,o, Lebensjahi leic . jj H^^^^n umfassendes Material betrug der

für ' yt 2165 Zöglinge von Blindenanstalten

Prozentsatz nur l«.»; J„,,iffer der Blennorrhoe.

M-l^ir^;! a^^f a g^^^^^^^^^^^ ^'^ Anstalten, welche Re,„*».rf 10 Jah» L%eine «Pezialerhebnng benOt. bat., .^^^^ in meinem jetzigen Material auch vertreten, und da wir heute nur 23,o0 k

eingebüsst haben. „i„.<.vp Kinder einer Familie von Blennorrhoe

und zwar zweimal. Das eineiudi 9 Kinder au Blennorrhoe erblindet.

'Man vergleiche meine Arbeit über Blindheit p. l6o.

67

für die Blennorrhoe ermitteln konnten, so scheint ein nicht unbeträcht- licher Rückgang dieser Erblindungsform im Laufe der letzten zehn Jahre stattgehabt zu haben. Diesen Schluss wird man aus einem Vergleich der älteren Beinhard'sehen und unserer Zahl wohl ziehen ■dürfen, auch wenn man zugeben will, dass der grössere numerische Werth unseres Materials eine gewisse Korrektion der hohen Reinhm^d' sehen .Ziffer wohl bedingt haben könne.

üebrigens giebt es noch einen anderen Weg, den amaurotischen Werth der Blennorrhoe zu ermitteln, nämlich die Untersuchuuo; sämmt- lieber Blinden einer grösseren Stadt resp, einer lokal begrenzten Oertlich- keit überhaupt. Auch diesen Weg habe ich betreten, indem ich die Blinden meiner Heimathstadt Breslau insgesammt untersucht habe. Indem ich nun die für die einzelnen Blindheitsformen gefundenen Werthe mit dem Be- völkerungsaufbau in Verbindung gestellt habe, ist es mir gelungen, die Wirksamkeit der wichtigsten Erblindungsformen mit einander vergleichen zu können und dabei habe ich für die Blennorrhoe folgende That- sachen ermittelt. In dem ersten Lebenslustrum erblinden von 10 000 Einwohnern der Stadt Breslau 4,28 an Blennorrhoe. Diese Quote der Blennorrhoe behauptet bis gegen das sechzigste Lebensjahr hin den ersten Platz in der Rangordnung aller Blindheitsformen. Selbst die cerebralen .und spinalen Sehnervenleiden und das Glaucom, dessen verderbliche Wirksamkeit für die zweite Lebenshälfte allgemein anerkannt ist, können die prozentarische Bedeutung der Blennorrhoeblindheit bis zum Abschluss des sechzigsten Jahres nicht übertreffen. Die mit Be- ginn der zweiten Lebenshälfte so ergiebig in Wh-ksamkeit tretenden verschiedenen Formen der Atrophia nervi optici liefern für das 30. bis 45. Jahr auf 10 000 Breslauer Einwohner nur 2,13 "/o und fiir das 45—60. Jahr 2,82 »/o; und da sie jenseits des 60. Lebensjahres an Intensität bereits wieder veriieren, so kommen sie also in keiner Lebens- epoche der Erblindungsproduktivität der Blennorrhoe gleich. Aehnlich liegen die Verhältnisse bis zu einem bestimmten Lebensabschnitt wenigstens auch für das Glaucom, das zwischen dem 45.— 60. Lebensjahr auf 10000 Breslauer Einwohner nur 1,24 Blinde liefert; jenseits des 60. Lebensjahres tritt allerdings dann für das Glaucom eine ganz bedeutende Steigerung ein, indem von 10000 Einwohnern bis gegen das 70. Jahr 9,84 an Glaucom erblinden, eine Ziffer, welche mit jedem Jahr über das siebenzigste Jahr hinaus noch wächst. Die Vergleichung mit den wichtigsten Blindheitsm-sachen, der Atrophia nervi optici und dem Glau- com, hat uns also gelehrt, dass die Atrophie in keiner Lebensphase eine Wirksamkeit entfaltet, welche der der Blennorrhoea neonatorum

68 -

an Erc^iebigkeit gleichkommt und dass die Blindheitsquote des Glaucom erst jenseits des sechszigsteu Lebensjahres die der Blennorrhoe überholt. Bis zum sechzigsten Lebensjahre ist für Breslau also die Blennorrhoe diejenige Erkrankungsform, welche die höchste Blindheitsquote besitzt. Und da ich nicht glaube, dass die Breslauer Verhältnisse erheblich anders liegen diu-ften, als die in anderen Gegenden, so möchte ich diesem unserem Breslauer Ergebnisse eine allgemeinere Bedeutung wohl zuerkennen. Allerdings dürfte diese Verallgemeinerung lediglich nur für Deutschland oder für die Länder gelten, welche eine ähnbche Medi- cinalgesetzgebung wie Deutschland besitzen; denn mit Aenderung der sanitären Massregeln speziell der für die Pockenimpfung gültigen Ge- setze nimmt die Blennorrhoeblindheit, wie wir dies bei der Beschreibmig der Pockenblindheit sehen werden, insofern eine andere Stellung ein, als die Pockenblindheit hier, wenigstens in einigen Ländern, die Hol>e der Blindenquote der Blennorrhoe eiTcicht.

Von grosser Bedeutung fiir die Kenntniss der Blennorrhoe smd ferner die Mittheilungen, welche Schatz^) über die Verbreitung und die Ausgänge der Blennon-hoe in Mecklenburg-Schwerin jüngst gemacht

hat. Sämmtliche in dem Jahre 1881 und 1882 un Grossherzogthum Mecklenburg-Schwerin beobachteten Fälle von Blennorrhoe^ hat Schatz gesammelt und entnehmen wir diesem hochwichtigen Materiale folgende

Einzelheiten. ^881 1882

Es wm-den beobachtet: Stärkere nicht eiterige Koniunktivitis i^b,

Blennorrhoe

Von den Blennorrhoen wurden zu spät zur Heilung

, 11>8 lo>^

gebracht gg g

Die Blennorrhoe war beiderseitig '

Cornealgeschwiü-e auf beiden Augen l«. ^'

Sehkraft dauernd geschwächt beide Augen . . M Die Sehkraft war ganz oder fast ganz yermchtet . . 5,4 11,6 Doppelseitige Blindheit trat ein in Fällen .^''^^ '

Von den 1882 in Mecklenburg-Schwerm geborenen 18 000 leben- den Kindern erkrankten: 5 0promille

An Blennorrhoe ^

Wurden zu spät zum Arzte gebracht . 0,8 Die Blennorrhoe ^ar doppelseitig ... 4,6 Doppelseitige Blindheit trat ein. . . 0,17

69

Yon den 172 bleuuorrhoischen Augen zeigten Cornealgeschwüre 35 = 20^/o

Die Sehkraft war dauernd geschwächt bei 16= 9"/o

Die Sehkraft wai* ganz oder fast ganz vernichtet bei . . 12= 7°/o

Der Schaden, welcher die Blennorrhoea neonatorum in Mecklenburg 1882 anrichtete, kann also etwa wie folgt ausgedrückt werden:

Von je 200 Neugeborenen erkrankte 1 an Blennorrhoe. Von den 90 von 1 8 000 Neugeborenen blennorrhoisch Erki-ankten wurden etwa 70 ohne dauernden Schaden geheilt, 3 vollkommen blind, 6 einseitig blind, etwa 10 einseitig oder doppelseitig sehschwach.

Zu erörtern wäre nunmehr die Frage, ob sich für die Verbrei- tung der Blennorrhoe resp. der Blennorrhoeblindheit in verschiedenen Gegenden erhebliche Unterschiede be- merkbar m-achen. Dass solche Unterschiede vorhanden sind, darüber kann kein Zweifel sein ; die klinischen Beobachtungen vieler Forscher sprechen von recht verschiedenen Verbreituugsstärken der Blennorrhoe und schliesslich spricht auch die Thatsache dafiir, dass die Blennorrhoe, wie wir dies sogleich sehen werden, mit den socialen Verhältnissen auf das Innigste verknüpft ist. Ein Blick auf die Tafel I lehrt uns, dass in Deutschland die verschiedenen Blindenanstalten recht difFerente Quoten fiir die Blennori'hoe aufzuweisen haben ; doch dürfte es wohl kaum ge- stattet sein, diese Thatsache mit den wirklichen Verbreitungsbezu'ken der Blennorrhoe identificiren , unsere Karte also gleichsam für eine Darstellung der Art und Weise, wie die Blennorrhoe über Deutschland verbreitet ist, ansehen zu wollen. Dazu ist das in den einzelnen An- stalten vorhandene Blindenmaterial denn doch zu klein und die in ihnen vorhandenen Blindheitsformen von allzu vielen Zufölligkeiten ab- hängig. Höchstens könnte unsere Karte für die Verbreitung der Blen- norrhoe in Deutschland einen Werth gewinnen , wenn die in den be- treffenden Städten resp. Provinzen heimischen Ophthalmologen ihre heimischen, in der Praxis gesammelten Erfahnmgeu mit den Prozent- sätzen der Kai*te parallelisiren w-ollten. Genau das Nämliche gilt natürlich auch für unsere über Oesterreich - Ungarn entworfene Dar- stellung.

Ueber die Vertheilung der Blennorrhoeblindheit in Europa kann ich allerdings auch kein abschliessendes Urtheil fällen, doch vermag ich Avenigstens über die Stellung derselben in den Blindenanstalten der verschiedensten europäischen Staaten einige nicht unwesentliche Mit- theUuugen zu machen.

70

in

32,14»/o-

28,57

)>

26,02

,1

25,83

))

25,36

23,72

),

20,47

20,38

))

18,00

))

17,39 ,r

))

17,07

),

12,40

>j

11,29

Die Blennon-hoebliudheit ist vorhaudeu in: der Blindenanstalt zu London^)

dem Hospital des Quiuze-Vingts zu Paris

allen Blindenanstalten der Schweiz

allen Blindenanstalten von Deutschlaad

verschiedenen Blindenanstalten von Kussland

der Blindenanstalt zu Stockholm

allen Blindenaustalten von Oesterreich-Ungarn

verschiedenen Blindenaustalten von Italien

der Blindenanstalt zu Kopenhagen schätzungsweise^)

einzelnen Blindenanstalten von Holland

der Blindenanstalt zu Christiania

einzelnen Blindenanstalten von Spanien

einzelnen Blindenanstalten von Belgien

Es sei mir gestattet, der vorstehenden Tabelle noch einige erklärende Worte anschliessen zu dürfen. Auffallend smd die so niedrigen Prozent- sätze, welche unser Material für die Blindenanstalten in Spanien und Belgien ergiebt. Es sieht hiernach fast so aus, als stünden diese beiden Länder ^) bezüglich der Bleuuorrhoeblindheit ganz besonders gut. Doch scheint mix- diese Annahme bei reiflicher Ueberlegung und genauer Durchsicht der für jene beiden Länder entworfenen graphischen Dar- Stellungen (vergl. Tafel IV und XI) nicht stichhaltig; vielmehr halte ich daL, dass die niedrigen Prozentsätze lediglich nur durch die Be- schaffenheit. der Untersuchimgsprotokolle bedingt werden Gerade fiu- Spanien und Belgien finden sich nämlich auffallend viele Protokolle, welche die Ursache der Erblindung nicht mit Bestimmt angeben. W nn ich nun auch nach Durchsicht dieser ProtokoUe den Emdnick gewonnen habe, dass es sich bei vielen derselben - Blenno^^^h^^ heit handelt, so wagte ich doch auf diesen memen subjektw^^^^^ hin nicht, die fraglichen Protokolle in eme bestimmte Blmdheitsform eLireL;. So ist es denn gekommen, dass flir Spanien und Belgien

^"^^^Z^mal College and academy of mnsic for the blind. Upper-

"""""^ Herr MoUenMwer, Direktor der Kopenhagener Anstalt, hat mir aus den-.

dezUC geführte; Akten die citirten Mittheilungen gütigst .usammen- ^es^em ÄerLhung der Kopenhagener Anstalt scheiterte an dem unuber-

rtwr^"B;:r;rrhoe in verschiedenen LUndern ver- ,leichi , pfeBindehantinfektion der Neugeborenen.

Stuttgart 1882. p. 88—160.

)

71

die Rubrik der unbestimmten Bliuuheitsformen gross, der prozeutarische Werth der Blennorrhoe aber klein geworden ist. Thatsächlich scheinen die Verhältnisse in Sjjanien ähnlich zu liegen wie bei uns in Deutsch- land, wenigstens berichtet Carreras-Avagö dass er unter 100 Blinden seines klinischen Materials iC/o Blennorrhoeblinde gefunden habe, ein Prozentsatz, welcher demjenigen durchaus gleicht, welchen wir bei unserer früheren Untersuchung für 2528 deutsche Blinde gefunden hatten. Car- venis-Arago zählt vmter seinen 100 Blinden alle Altersklassen, wie dies auch unser damaliges Material gethan hatte ; für ein solches Material sind 10 "/o aber ein hoher Prozentsatz. Für London, Paris, Stockholm, Kopenhagen, Christiania sind die angegebenen Prozentsätze nur von lokaler Bedeutung, repräsentiren lediglich nur die in den Anstalten der beti-effenden Städte vorhandenen Blennorrhoefälle. Alle übrigen Positionen der Tabelle können aber, da sie die Zöglinge einer grösseren oder geringeren Zahl von Anstalten umfassen, als ungefährer Ausdruck der Stellung angesehen werden, welche die Blennorrhoeblindheit in der Jugendblindheit der betreffenden Länder einnimmt.

Für die Schweiz, Deutschland ^) und Russland entfallen nach unserer Tabelle die höchsten Prozentsätze der Blennorrhoeblindheit, während Oesterreich-Ungarn und Italien nur 20 7 o und Holland gar nur 17 '7o beisteuern. Doch bedürfen auch diese Verhältnisse zu ihrem vollen Verständniss noch einiger erklärender Bemerkungen. Die Höhe des Prozentsatzes der Blennorrhoeblindheit hängt in den verschiedenen Län- dern zum Theil doch auch von der Höhe des Prozentsatzes der übrigen Blindheitsformen ab; finden sich in einigen Ländern Blindheitsformen, welche eine ganz erstaunliche Höhe des Prozentsatzes erreichen und fehlen in anderen Ländern diese Formen wieder, so ist es natürlich, dass die Höhe der Blennorrhoeblindheit von diesen Verhältnissen be- einflusst werden rauss. Je nachdem neben der Blennorrhoe noch andere sehr ergiebige Blindheitsformen existiren oder nicht, wird die Blennorrhoe- quote fallen oder steigen müssen. Desshalb finden wir in allen den- jenigen Ländern, welche neben der Blennorrhoe noch andere fruchtbare Blindheitsquellen besitzen, einen verhältnissmässig niedrigen Prozentsatz

') Carreras-Äragb. La ceguera eu Espana Barcelona 1881 fand bei 100 doppelseitig Erbliudetea 10 7„ Blennovrlioea neonatorum als Ursache, d.h. also in 10 7o. Es handelt sich hiebei um Blinde, welche sich in der Klinik des spanischen Collegen vorgestellt haben und alle Altersklassen repräsentiren; für ein solches Material sind 10 7„ ein hoher Prozentsatz.

Die Verbreitung der Blennorrhoeblindheit über die einzelnen Blinden- anstalten des deutschen Reiches kann man aus Tafel I ersehen.

72

der Bleunorrhoebliiidheit, während er in denjenigen Ländern, welche neigen der Blenuorrhoea neonatorum keine aussergewöhnlich ergiebigen Blind- heitsquellen ihr eigen nennen, höher stehen muss. Italien und Oesterreich- Ungarn haben nun beide eine bedeutende Quote für die Pockenblindheit/) und dieser Umstand erklärt das Sinken der Blennorrhoeblindheit. Die Schweiz und Deutschland zeigen beide nur sehr geringe Prozentsätze der Pockenblindheit und müssen desshalb eine gewisse Steigerung der prozeu- tarischen Verhältnisse der Bleuuorrhoequote aufweisen. Behalten wh- diese Verhältnisse im Auge, so glauben wir nicht, dass thatsächlich für die Schweiz,') Deutschland, Oesterreich-Ungarn und Italien erhebliche Unter- schiede in der Verbreitung der Blennorrhoeblindheit existiren, wenigstens nicht so erhebliche, wie man sie nach dem ersten Blick auf unsere Tabelle erwarten sollte. Etwas anders liegen die Verhältnisse bezüglich Hollauds und Russlands. Holland hat zwar auch eine Quote der Pockenblind- heit, die nicht ganz unbeträchtlich ist, doch ist dieselbe nicht bedeutend genug, um den auffällig günstigen Stand der Blennorrhoequote von 17,39 "i'o erklären zu können. Ich möchte desshalb der Ansicht zu- neigen, dass in Holland die Blennorrhoe eine geringere Verbreitung oder Intensität besitzt, wie in andern europäischen Ländern. Es wäre wünschens- werth, wenn die holländischen Kollegen unsere i\Iittheilungen dui'ch ihre klinischen Beobachtungen ergänzen wollten. Was nun nochEuss- land anlangt, so zählt dasselbe 25,36 ^7o Blennorrhoeblinde, vermag aber diese Höhe nicht durch entsprechenden Tiefstand der Quote füi- die anderen Blindheitsformen einigermassen abzuschwächen, ^-ielmehr hat es einen ganz auffällig hohen Prozentsatz der Pockenblindheit. Wir müssen deshalb glauben, dass Russland thatsächlich eine sehr bedeutende Menge BlennoiThoeblinder besitze, eine grössere Anzahl als jedes andere in unserem Material vertretene europäische Reich. Und dieser Schluss, zu welchem wir uns durch unser Material durchaus für berechtigt er- achten, erfährt eine gemsse praktische Bestätigung durch die Mittheil-

■) Man vergleiche die Tafel XII, welche eine graphische Darstellung der

Pockenhlindheit in Europa bringt. . , i .

^) Wenn Horner (D i e Kr ankheite n des Auges nn Kindesalter. Handbuch der Kinderkrankheiten V, 2 p. 263) jüngst die auffallende Thatsache Lnt hat, dass die Züricher Blindenanstalt -it 1865 keinen Fall von Bl^^^^^^^^^^^^ blindheit mehr enthalten habe und aus diesen, Lmstand ur ^^^^^ doch für einzelne Theile derselben ein besonders gunst.ges ^ eihaltn.ss de Bl nnorrhoe-Vorkommens folgert, so glaube ich für den Augenbhck wen.gstens dLser Ansicht entgegentreten zu müssen. Die Züricher Anstalt zUH gegen.^^^^^^^ 8 Zöglinge und darunter 2 Blennorrhoeblinde, d. h. also 25»/.; -cht besse, liegen die Verhältnisse für Bern mit 27,77 ^ und für Lausanne m.t 24,13 /„.

73

ungeii, welche in jüngster Zeit Skrebitzkt/ ^ ) gemacht hat; denn nach den von diesem Forscher angestellten Untersuchungen, scheinen in der That die infektiösen Erblindungsformen in Russland eine ganz besonders massgebende Rolle zu spielen.

Es möge uns jetzt noch gestattet sein, auf einige Verhältnisse unser Augenmerk zu richten, welche der Entstehung der Blennorrhoe- blindheit besonderen Vorschub leisten.

Dass die Blennorrhoe die niederen Volksschichten stärker heimsucht, als die höheren Stände, ist eine Erfahrung, welche uns die tägliche Praxis lehrt; wenigstens glaube ich dies aus den in meiner Poliklinik und in meiner Privatsprechstunde gemachten Beobachtungen schliessen zu dürfen und damit stimmen auch die Mit- theilungen anderer Forscher, so z. B. die von Fuchst) Ich kann nun aus meinem Material noch eine Thatsache beibringen, welche das soeben Gesagte zu unterstützen wohl geeignet sein dürfte. Ich habe nämlich über die Verhältnisse, unter welchen die Geburt der deutscheu Blennorrhoe- blinden unseres Materials erfolgt ist, genauere Nachrichten eingezogen und dabei in Erfahrung gebracht: dass von 337 Bleunorrhoeblinden, über welche ich verlässliche Mittheilungen erhalten konnte, 260 ehelich imd 77 unehelich geboren worden sind. Es entfallen hiernach also auf die eheliche Geburt 77,15 "/„, auf die uneheliche 22,85 7o. In der Periode von 1874 1883 befanden sich nun aber im deutschen Reich 3) unter 100 Neugeborenen 8,87 7o unehelich Geborene. Vergleichen wir diesen Prozentsatz von 8,87 7o mit dem Prozentsatz von 22,85 "/„, mit welchem die imeheliche Geburt unter der Zahl der Bleunorrhoeblinden rangirt, so bemerken wir alsbald, dass die uneheliche Geburt 2V2mal mehr Blennorrhoeblinde beisteuert, als wie dies nach dem Verhältniss, in welchem die uneheliche zur ehelichen Geburt überhaupt steht, der Fall sein sollte ; um nun zu erfahren, ob diese Thatsache, welche wir fär die deut- schen Bleunorrhoeblinden gefunden haben, einen allgemeineren Charakter besitzt, als der Ausdruck eines Gesetzes von allgemeiner Gültigkeit an- gesehen werden dai-f, habe ich die analogen Verhältnisse auch für den

') Skrebitzky, Uebev VevbveitUDg und Intensität der Erblin- dungen inRussland und dieVerth eilung der Blinden über diever- scliiedenen Gegenden des Reichs. St. Petersburger mediciuische AVoclien- schrift. 1886. Nr. 4.

Fuchs, Die Ursachen und die Verhütung der Blindheit u. s. w.

p. 118.

Statistisches Jahrbuch für das deutsche Reich. Berlin 1884. Dezemberheft.

74

cisleithauischeu Theil der Oesterreich-Ungarn'scheu Monarchie zu erniittelu gesucht. Die cisleithauischeu Bliuclen-Erziehuugs-Anstalteu zähleu laut den mir zugegaugeueu Protokolleu 78 Bleuuorrhoebliude uud vou 65 derselben kouute ich genaue Nachrichten bezüglich ihrer Geburt er- halten. Es waren 41 ehelich und 24 unehelich geboren uud demnach eutfieleu also auf die eheliche Gebm-t in Cisleithauien 63,08",.., auf die uneheliche 36,92 %. Für Cisleithauien^) stellte sich nun für den Zeit- raum von 1874 1883 der Prozentsatz der ehelich zu den unehelich Geborenen wie 86,20 : 18,79 7... Vergleichen wir den Prozentsatz von 18,79 7o, der in Cisleithauien für die uuehelicheu Kinder überhaupt massgebend ist, mit dem Prozentsatz 36,92 "/o, welcher für die unehe- lichen Blennorrhoebliudeu dieses Landes entfällt, so bemerken wir, dass die uneheliche Geburt reichlich 2'V3 mehr Bleuuorrhoeblinde liefert, als dies der Fall sein sollte nach dem Verhältuiss, in welchem die unehe- liche zur ehelichen Gebiu't überhaupt steht. Die frühere Belastung, welche wir bezüglich der Bleuuorrhoeblindheit für die uuehelich Ge- borenen des deutscheu Reiches nachgewiesen haben, stimmt also in der überrascheudsteu Weise mit der Ziffer, welche wir für die aualogen Verhältnisse in Cisleithauien ermittelt haben. Wir nehmen desshalb auch keinen Anstand, die gefundenen Thatsachen für den Ausdruck eiues allgemein gültigen Gesetzes anzusehen, welches lauten würde : die unehelich Geborenen sind der Gefahr, Bleuuorrhoeblindheit zu erwerben, in 2— 8 mal höherem Grade ausgesetzt, als wie dies nach ihrem Ver- hältuiss zu den ehelich Geborenen erwartet werden sollte.

Die Erklärung dieses Gesetzes dürfte keinen erheblichen Schwüerig- keiten begegnen, und zuvörderst in dem Umstand zu suchen sein, dass die mit Blennorrhoe behafteten unehelichen Neugeborenen im Allgemeinen nicht mit derjenigen Sorgfalt gepflegt werden, welche für eine so gefähr- liche Erkrankuugsform unbedingt erforderlich ist. Die Blennorrhoe wird desshalb bei den Unehelichen schneller uud leichter verhängnissvoUe Konsequenzen zeitigen, als wie bei den ehelich Geborenen. Aber ich vermuthe auch, dass die Gelegenheit, eine Blennon-hoe zu erwerben, für uneheliche Neugeboreue häufiger gegeben sein düi-fte, als wie für die ehelichen Kinder. Denn man kann doch wohl mit der grössteu Be- stimmtheit annehmen, dass im ausserehelichen Geschlechtsverkehr die mütterlichen Geburtswege viel eher Kulturstätten des Gonococcus werden, als wie im ehelichen Geschlechtsleben; gibt man diese Möglichkeit zu,

') Die betreffeuden Notizen verdanke ich der Güte des k. k. Käthes Herrn Schimmer in Wien.

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so ist natürlich die Gefahr, eine Blennorrhoe zu erwerben, für das un- eheliche Kind eine viel brennendere, als wie für das eheliche.

Sind ynr von den innigen Beziehungen, welche zwischen Blennorrhoe imd unehelicher Geburt bestehen, überzeugt, so werden wir uns der Ei-kenntniss nicht verschliesseu können, dass der für die Blennorrhoe entfallende Prozentsatz gewissen Schwankungen unterworfen sein muss, nämlich den Schwankungen, welche die Zahl der ehelichen und unehe- lichen Geburten aufweist. Mit dem Steigen und Fallen der unehelichen Gebiu-teu muss auch die Blennorrhoequote steigen und fallen. Man wird gut thun, dieser Thatsache bei allen Blindenuntersuchungen sich zu erinnern und im Hinblick auf sie nicht jedes Fallen der Blennorrhoe- quote sofort auf eine wirkliche und anhaltende Einschränkung der Blenuon'hoe zu beziehen. Auf eine wirkliche imd erfolgreiche Ver- minderimg der Blennorrhoe wird man nur dann schliessen dürfen, wenn man bei einer Blindenuntersuchung einen ganz erheblich geringeren Prozentsatz für die Blennorrhoe ermittelt, als wie bei einer früheren Untersuchung. Wenn wir z. B. heute für unser Material ^) 23,50 Vo gefunden haben und Reinhard vor 10 Jahren vor 40,25 "U in einem dem unserigen gleichwerthigen Material nachgewiesen hat, so ist die Diöerenz zwischen diesen beiden Prozentsätzen doch zu gross, um sie lediglich nur durch die Schwankungen in der Zahl der ehelichen und imehelichen Geburten erklären zu können. Besonders vorsichtig wird man sein müssen, wenn es sich um Untersuchungen einzelner Blinden- Anstalten handelt ; der Umstand, dass in einer Anstalt die Zahl der Blennorrhoe- blinden abnimmt, ist noch lange kein Beweis, dass in der Provinz, welche hinter jener Anstalt steht, eine rückläufige Bewegung in dem Auftreten der Blennorrhoe eingetreten sein müsse. Die Schwankungen der Blennorrhoe- bewegung können sehr wohl die geringere Menge Blennorrhoeblinder, welche man einmal in dieser oder jeuer Anstalt findet, erklären. Ich verweise auf den von mir Seite 72 citirten Fall, wo Horner das Fehlen der Blennorrhoeblindheit in der Züricher Anstalt auf eine Besserung der Blennorrhoeblindheit überhaupt beziehen wollte und bei der neuesten Untersuchung plötzlich wieder 25 % Blennorrhoe in der Anstalt sich zeigten.

Da im Lauf der nächsten Jahre voraussichtlich häufiger Blinden- untersuchungen vorgenommen werden dürften und man hofl'entlich wohl auch bald dazu schreiten wird, wissenschaftliche Berichte über die Blinden-Anstalten zu veröffentlichen, so hielt ich es, um von Haus aus

') Man vergl. Seite 66 dieser Arbeit.

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IiTthümeru vorzubeugen, für gerathen, die soebeu besprocheneu That- sachen in ausführlicher Weise zur Darstellung zu bringen.

Der Einfluss des Geschlechtes auf die Häufigkeit der Blen- norrhoe wird von den verschiedenen Autoren in verschiedener Weise beurtheilt; während Einige, so z. B. Emissmann^), ein Ueberwiegen der Blennorrhoe für das männliche Geschlecht behaupten, ist nach An- deren, so z.B. nach E/süsser, Piringer'') u. a. das weibliche Geschlecht von der Ophthalmia neonatorum häufiger heimgesucht. Unser Material ergiebt nun durchweg flu- alle Länder, aus denen eine Reihe von An- staltsuntersuchungen vorliegt, ein entschiedenes Ueberwiegen der Blen- norrhoeblindheit bei dem weiblichen Geschlecht und zwar ist dieser Unterschied in einzelnen Ländern so gross, dass er 10 Prozent und darüber beü-ägt. Für das gesammte M"aterial ist das Verhältniss ein derartiges, dass für das männliche Geschlecht die Blennon-hoequote 20,66 "/o, fiir das weibliche aber 28,28 "/o beträgt. Für die einzelnen europäischen Länder ist das Verhältniss zwischen männlichen imd weib- lichen Blennorrhoeblinden das folgende:

Männlich Weiblich Oesterreich-Ungarn 1 9,6 3 ° /o 2 2,03 »/ o

Belgien 10,00 14,70

Deutschland . . 22,48 30,56 Italien .... 18,95 26,53 Holland .... 13,84 22,00 Schweiz .... 21,95 31,25 Spanien . . . . 11,11 25,00 Russland . . . 17,94 34,37 Jedenfalls ist es auffallend , mit welcher Regelmässigkeit in all' den angefiÜirten Ländern die Blennorrhoeblindheit für das weibliche Geschlecht einen höheren Prozentsatz ergiebt und macht es diese That- sache doch wohl wahrscheinlich, dass im Allgemeinen die Blennorrhoeblind- heit das weibliche Geschlecht mehr heimsucht, als wie das männliche.

Es wäre sodann vielleicht nicht ohne Interesse zu untersuchen, ob die städtische oder die ländliche Bevölkerung einen grösseren Prozentsatz Blennorrhoeblinder liefert. Bekannt- lich hat Mayr 3) vor einigen Jahren für Bayern den Nachweis zu föhren

•) Eaussmann, Die Bindehautinfektion u. s. w. p. o4 u. 5o.

Man vergleiche die angezogenen Stelleu hei Eaussmann. - Mayr, Die Verbreitung der Blindheit, der Taubstummheit, des Blödsinns und des Irrsinns inBayern nobst einer allgemeinen

gesucht, dass die städtische Bevölkerung eluer um die Hälfte grösseren Gefahr der Erblindung unterliege, als wie die ländliche Bewohnerschaft. Es kann hier nicht der Ort sein, diese Mayr'sche Behauptung einer Kritik zu unterziehen, zumal wir uns schon früher über dieselbe ge- äussert haben'), doch wollen w nicht unterlassen, wenigstens an unserem jetzigen Material die Mayr'sche Hypothese zu prüfen. Bezüg- lich der deutschen Blennorrhoeblinden habe ich zum Theil einen ganz verlässlichen Nachweis über den Ort, wo die Erblindung erfolgt ist ; 187 derselben sind auf dem Land, 180 in der Stadt erblindet; es ent- fallen also auf die ländliche Bevölkerung 50,95 °/o und auf die städtische 49,05 °/o. Natürlich können wir aus diesen Zahlen erst dann einen Schluss ziehen, wenn wir dieselben mit den Zahlen parallelisiren, welche im deutschen Reich für die ländliche und städtische Bevölker- ung massgebend sind. Nach den Erhebungen von 1880^) haben nun in Deutschland in Orten mit über 2000 Emwohnern 18 720 530 Per- sonen und in Orten mit weniger als 2000 Einwohnern 26 513 531 In- dividuen gelebt. Wenn wir nun die Bevölkerung, welche in Orten mit mehr als 2000 Einwohnern leben, als die städtische und den anderen Theil als die ländliche ansehen dürfen, so würden also im Allgemeinen 2/5 aller Einwohner auf die Städte und ^/s auf das Land kommen. Entsprechend dieser Vertheilung müssten von unseren deutschen Blen- norrhoeblinden 146 und ein Bruchtheil, d. h. 39,78 °/o auf die Städte und 219 und ein Bruchtheil, d. h. 59,68 °/o auf die ländliche Bevölker- luig entfallen. Nach unseren Ermittelungen kommen aber 49,05 7o auf die städtische und 50,95 "/o auf die ländliche Einwohnerschaft. Unser Material, soweit es das deutsche Reich angeht, würde hiernach also für die städtische Bevölkerung eine grössere BlennoiThoequote ergeben, als für die ländliche Einwohnerschaft imd zwar würde sich für jene etwa ^li mehr herausstellen, als nach dem Bevölkerangsstand zu er- warten wäre. Nun wollen wir allerdings nicht verhehlen, dass unsere Annahme, nach der diejenigen Personen, welche in Orten mit mehr als 2000 Einwohnern leben, insgesammt die städtische Bevölkerung repräsen- tii'en sollen, während die ländliche Einwohnerschaft durch die Bevölker- ung der weniger als 2000 Personen zählenden Ortschaften verti'eten.

internationalen Statistik dieser vier Gebrechen. XXXV. Heft der Beiträge zur Statistik des Königreichs Bayern. München 1877. p. 24. ') Magnus, Die Blindheit u. s. w. p. 64.

') Statistisches Jahrbuch für das deutsche Reich. Jahr- gang 1882.

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werden soll, von Fehlerquellen keineswegs freizusprechen ist. That- sächlich dürfte die Landbevölkerung wohl doch mehr als ^/s der ganzen Bewohnerzahl des deutschen Reiches betragen und auf die Stadtbevölker- ung ein geringerer Bruchtheil als wie entfallen. Es würde darnach für die Stadtbevölkerung sogar eine noch grössere Blennorrhoequote sich ergeben, als wir sie gefunden haben, die Differenz zwischen der städtischen und ländlichen Blennorrhoequote eine viel bedeutendere seiu, als wie sie nach unseren Ermittelungen scheinbar ist. Wir mussten vins aber, um überhaupt eine Scheidung zwischen ländlicher und städti- scher Bevölkerung treffen zu können, an die Angaben der offiziellen Statistik halten und diese unterscheidet eben nm- zwischen Einwohnern von Orten über und unter 2000 Einwohnern. Uebrigens bin ich mir wohl bewusst, dass meine Darlegungen nicht mehr sein können, als wie ein Versuch; aber ich bin der Ansicht, dass in einer so Avichtigen Frage, wie es die Blennori-hoeblindheit ist, es wohl erlaubt sein dürfte, auch mit einem beschränkten , von Fehlerquellen nicht freizusprechen- den Material einen solchen Versuch zu wagen, wie ich ihn gewagt habe.

Die Verhütung der Blennorrhoe ist im Lauf der letzten Jahre so oft der Gegenstand höchst eingehender Untersuchungen ge- wesen, dass wir uns über dieses Thema heute nur mit gewissen Ein- schränkungen äussern wollen. Indem wir bezüglich der geschichtlichen Entwicklung der Blennorrhoeprophylaxe auf Haussmann wxA Fuchs ver- weisen, wollen wir heute nur unsere Anschauungen darüber äussern, in welcher Weise sich jetzt am aussichtsvollsten eine Verhütung der Blennorrhoe resp. Blennorrhoeblindheit in's Werk setzen lassen dürfte.

Mit der Erkenntniss der mycotischen Natur der Blennorrhoe waren zwei Wege eröffnet worden, auf denen man hoffen konnte, eine erfolg- reiche Verhütung dieser Krankheit zu en-eichen; einmal konnte man bestrebt sein, die Einwanderung der parasitären Elemente aus den mütterlichen Geburtswegen in den Konjunktivalsack zu verhindern, und anderseits konnte man darauf denken, die einmal in den Konjunktival- sack gelangten Gonococcen dauernd unschädlich zu machen. Die Praxis hat über den Werth dieser beiden Möglichkeiten bereits zu Gericht gesessen und es dürfte wohl heute kaum noch einen Arzt geben, welcher die Desinfektion der mütterlichen Geschlechtsorgane zur Verhütung der Blennorrhoe für ausreichend erachten wollte. Der Schwerpunkt der Blennorrhoeprophylaxe liegt voll und ganz jetzt nur auf der wirksamen Desinfektion des Konjunktivalsackes, und was mit dieser Methode geleistet werden kann, das zeigen die glänzenden Erfolge des Crede'-

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sehen Verfahrens^). Ideell ist mit dem Auftreten der C?'ede'schen Methode die Frage nach der wirksamen Verhütung der Blennon-hoe eigentlich vollständig gelöst. Selten nur ist es der Medicin beschieden gewesen, ihre Erkenntniss von dem "Wesen einer Krankheit mit so überraschendem Erfolge praktisch zu verwertheu, als wie dies bei der Ophthalmia neonatorum der Fall gewesen ist. Ueber die Methode der Bleuuorrhoeprophylaxe kann deshalb in Zukunft wohl auch nicht mehr der leiseste Zweifel hen-schen ; dagegen lässt sich darüber streiten, in welcher Weise nun das C/"ef/e'sche Verfahren in der Praxis verwerthet, wie dessen segensreiche Erfolge in weitestem Umfang allen Bevölker- ungsschichten zugängig gemacht werden sollen. Und gerade über diesen Punkt gehen die Ansichten vor der Hand noch recht weit auseinander, wie dies ein Blick auf die Tagesliteratur zeigt. Als die glänzenden Erfolge Crede's zuerst bekannt geworden waren, hatten wohl die meisten von ims unwillkürlich den AVunsch, die C^'ef/e'sche Methode mit Be- nützung der Staatshülfe zur allgemeinen Einführung zu bringen. War die Idee nicht wirklich verlockend, an der Hand des Gesetzes die Blen- norrhoe so gut wie ganz aus der Welt zu schaffen ? Wenn der Staat sich für verpflichtet erachtet , durch ein Impfgesetz Leib und Leben seiner Angehörigen gegen die Pocken zu schützen, sollte es da nicht auch in seinem Interesse liegen, die Augen seiner Neugeborenen gegen eine Erkrankung zu schützen, welche so tief in das Wohl und Wehe so vieler Staatsangehöriger eingreift ? Professor Schatz ^) in Rostock hat diese Frage in einer vortrefflichen Weise behandelt und da sich meine Ansichten mit denen dieses Autors vollständig decken, so sei es mir gestattet, die einschlägigen Bemerkungen von Schatz- wörtlich anzuziehen ; derselbe sagt : „Die Frage, ob die prophylaktische Behand- lung der Augen der Neugeborenen gegen BlennoiThoe nach der Crede'- schen Methode seitens des Staates anzuordnen sei, wird verschieden zu beantworten sein, je nach den verschiedenen Kreisen sanitätlichen Per- sonals, auf welche sich die Anordnung beziehen soll.

Den frei praktizirenden Aerzten die Prophylaxis überhaupt oder gar eine bestimmte Methode für dieselbe vorzuschreiben, ist der Staat gar nicht in der Lage. Die Wissenschaft geniesst mit Recht die volle Freiheit, die Mittel und Wege der Behandlung selbst zu bestimmen.

') Credc, Die Verhütung der Augeueutzündung der Neuge- borenen, der liäufigsten und wichtigsten Ursache der Blindheit. Berlin 1884. Beschreibung des Verfahrens p. 9.

Schatz, Die Blenuorrhoea neonatorum u. s. w.

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Ja der Staat wird sogar nicht einmal Veranlassung haben , die Aerzte auf die Prophylaxis aufmerksam zu macheu, da das durch die medi- cinische Literatur der Jetztzeit reichlicher und schneller besorgt wird. Uebrigeus wird die. entsprechende Thätigkeit der Aerzte gar nicht ein- mal allzuviel wh-ken. Die Entbindungen, bei welchen Aerzte zui- Stelle sind, bilden nur einen verschwindend kleinen Theil aller Entbindungen imd finden in Gesellschaftskreisen statt, bei welchen die Blenuorrhoea neonatorum auch ohne Prophylaxis äusserst selten ist. Findet sie sich aber auch einmal, so ist dann wenigstens die Hülfe so schnell da, dass dauernde Schäden kaum je eintreten.

Anders liegt die Frage schon bei den staatlichen Anstalten. In diesen, welche zu einem grossen Theil von recht unsauberer Gesellschaft bevölkert werden, kommt die Blennorrhoe etwa 10 mal häufiger vor, als in der gewöhnlichen Praxis. In ihnen hat der Staat ausserdem nicht nur ein allgemeines Interesse, die Blennon-hoe wegen ihrer Folgen vermieden zu sehen, sondern auch ein direkt pekuniäres, w-eil die Ver- meidung der Blennorrhoe die zu gewährenden Verpflegungstage nicht unbeträchtlich vermindert. Trotzdem halte ich es auch für die öffent- lichen Anstalten mindestens für überflüssig, dass der Staat eine bestimmte Prophylaxis anordnet.^) Denn er kann nicht allein zu den Anstalts- vorständen das Vertrauen hegen, dass diese aus Pflichtgefühl Prophy- laxis anwenden werden, sondern die Vorstände werden dies schon aus eigenem Interesse thun, weil die ausgebrochene Blennorrhoe eine der imangenehmsten Plagen des Anstaltspersonales ist. Ich halte sogai- die staatliche Anordnung einer bestimmten Methode der Prophylaxis nicht einmal für räthlich. Es ist ja nicht unmöglich, ja sogar sehr wahr- scheinlich, dass bald ein noch bequemeres Mittel zur Desinfektion der Augen gefunden wird und solches Auffinden würde dm-ch die Anord- nung einer bestimmten Methode nur erschwert werden.^)

Ganz anders liegt die Frage aber bezüglich der Hebammen. Diese sind weo-en ihrer der Wichtigkeit ihres Berufes nicht entsprechenden

») Früher war ich in einem Vortrag: „D ie Verhütung der Blennorrhoea neonatorum und der sich daraus entwickelnden Blindheit". Vor- trag, gehalten am 15. Februar 1884 in der schlesischen Gesellschaft für vater- ländische Kultur. Breslauer ärztl. Zeitschrift 1884, Nr. 9 für die obligatorische Einführung der CVecZe'schen Methode in den Gebärhäusern eingetreten; doch stimme ich jetzt den Ansichten von Schatz bezüglich dieses Punktes völlig bei.

2) Aehnliche Ansichten über die Stellung der Gebäranstalteu zu der Credc'- schen Methode hat auch Fuchs in seinem preisgekrönten AVerk über Blindheit geäussert; man vergl. daselbst p. 141.

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AusbilcUuig bezüglich ihrer Funktionen und ihrer jMedikamente an ganz bestimmte Vorschriften des Staates gebunden. Solche müssen ihnen also gegeben werden und es fragt sich, ob die Prophylaxis der Blenuorrhoea neonatorum mit 2prozentiger Argeutum nitriciura - Lösung auch zum Gegenstand einer Hebammenfunktion gemacht werden soll." So weit die Worte von Schatz-, mit welchen derselbe die Situation nach imserer ^Meinung in ausgezeichneter Weise gekennzeichnet hat. Aus den an- gezogeneu Bemerkimgen unseres Autors geht also hervor, dass sich die Frage der obligatorischen Einführung der Crede'schen Prophylaxe wesentlich auf die Hebamme zuspitzt. Soll für die Hebamme eine bindende Verordnung bezüglich der Desinfektion der Augen der Neu- geborenen erlassen werden oder nicht? so lautet die Frage augenblick- lich. Schatz ist der probeweisen Einfühi-ung der Prophylaxis in die Hebammenpraxis zwar nicht abgeneigt, doch möchte er auch diese probeweise Einfühiomg nicht schon jetzt diu-chgeführt sehen. Gegen- über diesem vermittelnden Vorschlag von Schatz tritt Fuchs unbedingt für die Einführimg in die Schranken, während TJffelmann,'^) wenn auch in reservirter Form, sich gegen dieselbe erklärt. Dürfen wir nunmehr imseren eigenen Standpunkt in dieser Angelegenheit betonen, so müssen ym gestehen, dass unsere Bedenken gegen die allgemeine Einführung in die Hebammenpraxis im Laufe der letzten Zeit eher gestiegen als gemildert worden sind. Wie Schatz in seinen von ims citirten Dar- legungen sehr treffend bemerkt, sind die Gefahren der Blennorrhoe durchaus nicht für alle Gesellschaftsklassen die gleichen; die niederen Schichten der Bevölkerung stehen offenbar sowohl unter einer grösseren Gefahr, die Blennon-hoe zu erwerben, als die Erkrankung bei ihnen auch in ihren Folgen verhängnissvoller sich zu gestalten pflegt. Für die besitzenden und die gebildeten Volksklassen ist die Gefahr derBlennorrhoe- blindheit lange nicht so brennend als wie für die unteren Schichten der Bevölkerung. Von einem staatlichen Eingreifen darf nach unserer Ueberzeugung aber erst dann die Rede sein, Avenn die Gefahr für alle Klassen des Volkes die gleiche ist. Ist dies nicht der Fall, ist die Gefahr für eine Kategorie der Bevölkerung zwar eine hervorragende, für einen recht bedeutenden Theil des Volkes aber eine untergeordnete und das ist nun einmal thatsächlich bei der Blennorrhoe der Fall so mirde der Staat sich einer ganz ausserordentlichen Ungerechtigkeit

') Wenigstens nicht für Mecklenburg.

') Uffelmann, Die Prophylaxis der Blenuorrhoea neonatorum. Deutsche Medicinal-Zeitung 1885. Nr. 6.

Magnus, Jngendblindheit. 6

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gegen ei neu grossen Bruchtheil seiner Bevölkerung schuldig inacheu, wenn er eine allgemein gültige Anwendung der Crede'schen Prophylaxe anordnen wollte. Ein ansehnlicher Theil des Volkes wüi-de dann ge- nöthigt, an den Augen seiner Kinder eine, genau besehen, eigentlich uuuöthige Manipulation vornehmen lassen zu müssen, l)loss damit andere minder gut situirte Bevölkerungsschichten gegen die Blennorrhoegefahr geschützt würden. Würde man nun aber die Einführung der Prophy- laxis in die Hebammeupraxis in beschränkter Weise gutheissen, etwa in der Form, dass die Hebamme bei allen Geburten, welche sie ohne Hülfe eines Ai-ztes leitet, gehalten wäre, die Prophylaxis in Anwendung zu ziehen, so wäre, bei Licht betrachtet, eine solche Anwendung schliess- lich doch nichts anderes als ein Ausnahmegesetz, ein Gesetz, gemünzt für die unteren Volksklassen. Wenn nun ein solches Gesetz auch ganz gewiss in hervorragendster Weise nur dem Wohl jener Bevölkerungs- schichten dienen würde, auf welche es berechnet ist, so ist und bleibt es doch immer ein Ausnahmegesetz. Ob und wie weit aber heutzutage Ausnahmegesetze berechtigt sind, das ist sehr die Frage. JedenfaUs wäre es besser, wenn man ohne dieselben zum Ziel gelangen könnte. Ich bin aber der Ansicht, dass dies sehr wohl möglich sein könnte. Man gebe zuvörderst den Hebammen bei ihrer Ausbüduug genaue Aufklärungen über das Wesen und die Bedeutung der Ophthalmia neonatorum; dann unterrichte man sie in der Ausübung der Cr ede'schen Methode und schliesslich weise man sie an, bei den Untersuchungen der Schwangeren sorgfältig auf etwaigen Scheideufluss zu achten. Finden sie solchen, so sollen sie, wie Fuchs sehr richtig bemerkt, die Frau auf die etwaigen Gefahren, welche dieser Fluss auf die Augen des erwarteten Kindes ausüben kann, hinweisen, und die Desinfizirung nach Crede dringend in Vorschlag bringen. Ueberhaupt sollen sie in allen ihnen verdächtig erscheinenden Fällen das Cred^'sche Verfahi-en den Eltern dringend an's Herz legen. Fügt man diesen Vorschlägen noch die Bestimmung zu, dass die Hebamme jeden FaU von Blennorrhoe alsbald offiziell zu melden hat,') so bin ich der festen Ueberzeugung, dass die Gefahren der Blennorrohe auf das denkbar genngste i\Iaass beschränkt sein dürften. Besonders dem letzten Punkt der Anzeige- pflicht messe ich grosse Bedeutung bei; durch Meldung jedes Blennon-hoe- falles an geeigneter Stelle wird der Gefahr der Erkrankimg m wn-k- samster Weise die Spitze abgebrochen. Die Neigung der Hebamme,

.) Audi Uffdiiiann tritt dafür ein, dass die Hebamme eventuell unter Straf- androhung gcnöüugt werde, jeden Fall von Blennorrhoe zu Urzthcher Kenntnis zu bringen.

-

die Blennorrhoe iu ihre eigene Behandlung zu nehmen, wird durch die Äleldepflicht in erfolgreichster "Weise bekämpft, und zugleich wird dm-ch die Meldepflicht auch den Eltern die Bedeutung der Ei-ki-ankung ihi-es Kindes in handgreiflichster Weise demonstrirt. Sieffan hat der Anzeigepflicht der Hebammen bereits auf dem XI. deutschen Aerzte- tage am 22, und 23. Juni 1883 zu Berlin in energischster Weise das Wox-t geredet und ich freue mich, dass diese Bestrebungen, welche ich aus vollster Ueberzeugung gleichfalls stets vertreten habe, für meine heimathliche Provinz Erfolg gehabt und die Anzeigepflicht für dieselbe erwirkt haben.')

Will man ausserdem noch durch Verbreitung von populär ge- haltenen Brochuren wirken, wie dies z. B. Adler ^) u. a. warm empfehlen, so habe ich gegen derlei Schritte natürlich keine Einwendungen, wenn ich auch der Ansicht bin, dass die Erfahrungen der Praxis vor der Hand noch keinen grossen Nutzen von allen belehrenden medicinischen Artikeln ergeben haben. Als Unterstützungsmittel der von uns in Vorschlag gebrachten Massregeln hat ganz gewiss auch die Verbreitung .populärer medicinischer Flugblätter ihi'e Bedeutung; und so möge man ■dieselben immer in's Werk setzen, wie dies Dr. Roth^) in London mit so unermüdlichen Opfern an Zeit und Geld thut.

Atrophia nervi optici ohne Cerebralsymptome und ohne anderweitige Körpererkrankung nimmt in unserer Zu- sammenstellung auf Seite 62 den zweiten Platz unter den durch idio- pathische Erkrankungen des Auges verursachten Erblindungen ein;

') Steffan, Ueber die Nothwendi gkeit der Veränderung unserer heutigen Gesetzgebung, betreffend die Conjunctivitis bleu- norrhoica neonatorum. Centraiblatt für allgemeine Gesundheitspflege. III. Jahrgang. Bonn 1884.

') In einer von Seiner Excelleuz dem Herrn Oberpräsidenten, wirklichen Geheimen Rath von Seydewitz am 20. Oktober 1884 für Schlesien erlasseneu Ver- ordnung heisst der Paragraph 4 : „Die Hebamme muss jeden in der Praxis vor- kommenden Fall von Kindbettfieber, sowie jeden den Verdacht von Kindbettfieber erregenden Krankheitsfall, ferner jeden Todesfall einer Gebärenden oder Wöch- nerin und jeden Fall von eitriger Augenentzündung der Neugeborenen Ohne Ver- zug dem Kreisphysikus schriftlich oder mündlich anzeigen."

^) Adler, Ueber di c Nothwend ig k e i t der E int üb ru ng neuer Mass- regeln zur Bekämpfung der Blennorrhoea neonatorum, als eine der häufigsten Ursachen der Erblindung. Mitthoilungen des Wiener medicinischen Üoktoren-Collegiums. Band IX. Nr. 14.

*) Man vergleiche die verschiedeuen Flugschriften, welche die Society for the prevention of blindncss im Lauf der letzten Jahre herausgegeben hat.

6*

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doch dürfte nach einer geuauen Aualyse der 74 vorliegeudeu Fälle uur in 59 derselben die Diagnose einer idiopathischen, nicht komplizirten Sehnervenatrophie zutreffend sein. In 4 weiteren Fällen handelt es sich um papillitische Atrophie und die dann noch übrigbleibenden 11 Fälle lassen sich nicht nach bestimmten Krankheitsbildern gruppireu. Jede Blindenuntersuchung bringt es eben mit sich, dass gewisse Fälle zwar bezüglich der unmittelbaren Erblindungsursache keine Schwierig- keiten bieten, wie dies für die fraglichen 1 1 Atrophiefälle gilt, man aber doch über die näheren, die Erblindung begleitenden Umstände zu keinem sicheren Schluss gelangen kann und deshalb die klinische Fonn der Blind- heit nicht mit der wüuschenswerthen Sicherheit zu bestimmen vermag.

Die einfache nicht komplizirte progressive Sehnervenatrophie ist also nur mit 59 Fällen in unserem Material vertreten, d. h. mit l,84"/o. Für die Jugendblindheit ist hiernach also die einfache Sehnervenatrophie von nur untergeordneter Bedeutung, eine Erscheinung, welche mit den klinischen Erfahrungen der Praxis auf das Beste übereinstimmt. Ueber die verschiedenen Altersklassen unseres Materials vertheilen sich die Fälle der einfachen Sehnerven atrophie in der Weise, dass etwa bis zum . sechszehnten Lebensjahr dieselbe nur sehr vereinzelt aufüitt, gegen das zwanzigste Jahr hin aber eine merkliche Steigerung in der Zahl der Fälle nachweisbar ist. Wollte man die betreffenden Verhältnisse in Form einer Curve ausdrücken, so würde dieselbe für die ersten fünf- zehn Lebensjahre einen ziemlich gleichmässigen Verlauf und einen sehr niedrigen Stand zeigen und erst nach dieser Zeit, wenn auch immer noch in bescheidenem Maasse, zu steigen beginnen. Die einfache Seh- nervenatrophie zeigt bekanntlich im Allgemeinen eine grössere Vorliebe- mx das männliche als wie für das weibliche Geschlecht und kommt diese Thatsache auch in unserem Material zum Ausdruck. Von den 59 Blinden sind nämlich 43 Knaben und 16 Mädchen; da wir 2009 mäni^liche Jugendblinde überhaupt zählen, so beträgt der Prozentsatz der Sehnervenatrophie ftir das männliche Geschlecht 2,140/0; weibhche Jugeudblinde zählen wir 1195, mithin entfällt auf diese ein Prozentsatz

von l,34"/o. , , ^_

Die vier Fälle papillitischer Atrophie bieten keine besonderen Ver- hältnisse dar. Der Prozentsatz dieser Form der Sehnerven atrophie würde flir das jugendliche Alter nach unserem Material 0,12 /„ be-

^'''^ie übrigen 11 Fälle, welche ich klinisch nicht zu bestimmen vermag, bieten kein besonderes Interesse, weil sie eben nicht in der erforderlichen Weise zu durchleuchten sind.

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Iritis und Irido Chorioiditis nehmen in der amaurotischen Rangordnung der idiopathischen Augenerkrankungeu die dritte Stelle ein, indem unter 1060 Fällen 67 auf jene beiden Erkrankungsformen entfallen, d. h. 6,32*^/0; zur Jugendblindheit überhaupt steuern sie 2,09 °/o bei. lieber beide Geschlechter vertheilen sich imsere Fälle in gleichem Verhältnisse, insofern auf die männlichen Blinden unseres Materials 2,14 und auf die weiblichen 2,00 "/o. Klinisch lassen sich bei den genannten 67 Fällen 3 verschiedene Formen unterscheiden, nämlich die spontane Iridochorioiditis mit 52 Fällen, Iritis chronica mit 6 Fällen, Mdocj^clitis sj^mpathica non traumatica mit 9 Fällen. Dürfen wir nun diese drei Gruppen etwas näher betrachten, so würden wir zuvörderst zu untersuchen haben die

Spontane Iridochorioiditis. Die diu'ch diese Affektion erblindeten Augen zeigten 10 mal mehr oder minder ausgesprochenen Buphthalmus xmd 19 mal beginnende oder schon stärker entwickelte Phtise. An 12 Augen war erfolglos eine Iridectomie versucht und 4 Augen waren entfernt Avorden. In einem Fall waren beide Augäj)fel eines Individuums enucleirt worden. Ueber die Gesundheitsverhältnisse der Blinden resp. ihrer Familienangehörigen liegen auch einzelne Nachrichten vor. Acht Blinde zeigten neben der Iridochorioiditis noch andere Erkrankungen, und zwar war einmal bedeutender chronischer Rheumatismus der Ge- lenke nachweisbar; viermal litten die Blinden an allgemeiner Körper- schwäche und darniederliegender Ernährung; zweimal waren Sprach- störungen, einmal komplizirt mit Schwerhörigkeit nachweisbar und einmal schienen nervöse Störungen vorhanden zu sein. Ueber die Familien- angehörigen liegen vier genaue Berichte vor; darnach war in zwei Fällen an den Eltern der Erblindeten hochgradige Myopie gefunden worden; einmal war eine Schwester eines Blinden schon frühzeitig in jungen Jahren an Glaucom erblindet und in einem andern Falle war der Vater eines Blinden schon in seinen Jugendjahren auf beiden Augen an einer nicht mehr genau zu ermittelnden Krankheitsform erblindet.

Von Interesse dürfte fernerhin die Vertheilung der durch sj)ontane Iridochorioiditis entstandenen Blindheit über die verschiedenen Jahr- gänge der uns hier beschäftigenden Altersgruppe sein. Nach den mir vorliegenden Berichten bewegt sich die Neigung zur Erwerbung der fraglichen Blindheitsform in den ersten zwölf Lebensjahren in sehr eng gesteckten Grenzen; die betreffenden Prozentsätze schwanken zwischen bis 2'7o; erst jenseits des zwölften resp. dreizehnten oder vierzehnten Jahres fängt die Iridöchorioiditisblindheit an häufiger vorzukommen

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und zwar erhält sich diese Neigung in steigendem Grade bis zu dem zwanzigsten Lebensjahr, welches den höchsten Prozentsatz, nämlich 9,37 "/o zeigt. Eine diese Verhältnisse veranschaulichende Kurve würde also bis gegen das zwölfte oder vierzehnte Jahr hin ziemlich gleich- massig bei sehr bedeutendem Tiefstand verlaufen ; dann würde sie sich allmählich ohne steile Steigung erheben und nun in ziemlich gleich- massigem Anstieg bis gegen das zwanzigste Lebensjahr aufstreben.

Indem wir die 6 Fälle von Iritisblindheit übergehen, wollen wir noch die 9 durch Iridocyclitis sympathica non traumatica hervor- gerufenen Erblindungen betrachten. Was zuvörderst die Ursache des zuerst erblindeten Auges anlangt, so hat es sich in 4 Fällen um einen entzündlichen Prozess gehandelt, über welchen genauere ]\Iittheilungen nicht mehr zu erlangen waren; zweimal war ein Auge dui-ch Hom- hautgeschwür zu Grunde gegangen, einmal nach Scharlach, einmal nach Masern, einmal nach Typhus. Ueber den Zeitraum, welcher zwischen der Erbliudimg des einen Auges und dem Ausbruche der s}Tiipathischen Erkrankungen auf dem anderen verstrichen war, konnte ich in 7 Fällert verlässliche Nachrichten erhalten ; darnach lag zweimal kaum ein halbes Jahr zwischen der primären und secundären Erblindung; einmal 3, 6, 8, 11 und 12 Jahre. Zur Bekämpfung der sympathischen Erkrank- ung waren 2 L'idectomien und 3 Enucleationeu ohne Erfolg ausgeübt worden.

Ich bin nun noch in der Lage, über die ätiologischen Verhältnisse der verschiedenen Formen der L-idochorioiditis ausfiihrliche Mittheilungen zu machen, da mein Material, fasse ich die über die verschiedenen Gruppen der Jugendblindheit vertheilten Fälle von Iridochorioiditis zu- sammen, im Ganzen 381 Fälle von Iridochorioiditis zählt. Nach ihrer Entstehung betrachtet, gruppiren sich dieselben wie folgt:

Unter 381 Fällen von Iridochorioiditis ist dieselbe entstanden: dm-ch Ophthalmia sympathica traumatica . . 147 mal = 38,58°/»

durch Trauma 76 = 19,95

spontan 52 = 13,65

durch cerebrale Erkrankung 26 = 6,82

angeboren 14 = 3,6y

durch SkroMose 12 = 3,15

Syphilis 10 . = 2,62

Ophthalmia sympathica non traumatica 9 = 2,36

Verletzung des Kopfes 7 = 1,84

., Scarlatina 7 .. = 1,84

87

durch Variola

Typhus . Operationen Morbilli .

6 mal = 1,58

6 = 1,58

5 ,, = 1,31

4 = 1,05

70

Ueber die Entstehung der verschiedenen Formen der Iridochorioiditis während der ersten zwanzig Lebensjahre giebt die vorstehende Tabelle ein so anschauliches Bild, dass wir uns weiterer zusätzlicher Bemerk- ungen enthalten können.

Das Trachom hat bekanntlich für das jugendliche Alter nur eine untergeordnete Bedeutung ; Kinder werden, wie die klinischen Er- fahrungen lehren,') vom Trachom zwar nicht völlig verschont, doch im Allgemeinen viel seltener befallen, als wie die den späteren Lebens- periodeu Angehörigen. Es kann desshalb auch nicht befremden, wenn in imserem nur Jugendblinde umfassenden Material die Quote der Trachomblindheit nur 1,31 °/o beträgt, während in unserer früheren Untersuchungsreihe, in welcher die späteren Altersklassen das Ueber- gew'icht besassen, die Trachomblindheit die zweithöchste Blindenquote imter allen Erblindungsformen beanspruchte, nämlich 9,49 "/o. Die Vertheilung der Trachomgefahr über die verschiedenen Jahre des uns hier beschäftigenden Lebensabschnittes erfolgt in höchst ungleicher "Weise ; Zehender ^) hat diesem Punkt eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet imd über denselben folgende Mittheilungen gemacht: „Während das Trachom vor dem 5. bis 6. Jahr kaum vorzukommen scheint, erreicht es in steigendem Verhältnisse zwischen dem 20. bis 30. Jahi-e das Maximum seiner Häufigkeit". Mit dieser Zehender' sehen Beobachtung deckt sich die Vertheilung der Erblindung dm-ch Trachom, welche unser Material zeigt, in bester Weise. Bis zum 5. und 6. Lebensjahr erhebt sich die Erblindungsquote des Trachoms nach unserem Material niu- wenig über l''/o; nach dem 6. Lebensjahr beginnt aber ein all- mählicher Anstieg, welcher gegen das 15. Lebensjahr einen lebhafteren Charakter annimmt. Die folgende Km-ve wird das soeben Gesagte hin- reichend illustriren. Dass dieselbe keinen gleichmässigen Charakter zeigt, vielmehr bald steigt, bald fällt, findet seine Erklärung wohl hin- länglich durch die Zufälligkeiten, welche bei beschränktem Material

•) Man vergleiche: Scliweigger, Handbuch der Augenheilkunde. Berlin 1880. p. 292. Meyer, Handbuch der Augenheilkunde. Berlin 1883, p. 68 und andere Lehrbücher.

') Zehender, Handbuch der gesammten Augenheilkunde. 3. Aufl. Stuttgart 1884. Band I, p. 117.

88

immer mitspielen. Der Cliarakter der Erljliuduugsgefahr dui'ch Trachom tritt aber für das erste uud zweite Lel)enslustrum trotz der Scliwauk- ungeu auf das klarste in Erscheinung, besonders wenu man die Spitzen '^er Kiu've sich diu'ch eine Linie verbunden denkt.

Kurve der Erblindungsgefahr durch Trachom in den ei-sten

15 Lebensjahren.

Massstab 8 mm = 1 '/n-

11 10%

Ö 1 2 3 -t 5 6 T 8 '.) 10 11. 12 13 11- JSJnJu

8%

7%

6%

6%

4:%

3%

2%

1%

0%

]12%

11%

0%

1%

4%

3%

2%

1%

Ö i ? 3 4 3 6 7 8 9 10 Jl 12 13 U loJdhr 0.57 -rnrat 127 J49 0,8a 2,33vacat2.io 2ßo 1,49 4m 3.38 2j»i 6.2i 12&%

Fig. 1.

Eine Bevorzugung des Geschlechtes ist bei der Trachombliudheit nicht zu konstatiren, denn für das männliche Geschlecht entfallen nach unseren Beobachtimgen 1,34 und für das weibliche 1,26 "/o.

Die Veränderungen, welche die erblindeten Augen darbieten, sind schon hinlänglich bekannt genug, um ihrer hier nochmals besonders zu gedenken.

89

Auf die Koutagiosität des Trachoms werfen aber einige Fälle ein so charakteristisches Licht, dass ich dieselben noch besonders hervor- heben will. In vier der von ims gesammelten Fälle leiden beide Eltern, oder ein Theil derselben an Trachom und haben dasselbe auf die Kinder übertragen; dreimal sind durch solche Uebertragungen in emer Familie zwei Kinder erblindet, und zwai- im zarten Alter von 1, 2 oder 3 Jahren. Besonders charakteristisch ist ein Fall, in welchem Vater und Mutter durch Trachom blind sind und von ihi-en fünf Kindern drei dasselbe Schicksal theilen. Solchen Fällen gegenüber wird das Verlangen nach einer rationellen Verhütung des Trachoms besonders fühlbar, doch ist gerade auf diesem Gebiete die Prophylaxe recht ohn- mächtig. Macht die Verhütung des Trachoms schon Schwierigkeiten, wenn es gilt, dasselbe im öffentlichen Leben zu bekämpfen, so ist dem- selben doch kaum beizukommen, wenn es sich in Familien eingenistet hat, wie dies in den von uns angezogenen Beispielen der Fall ist. Die ei-folgreiche Bekämpfung des Ti-achoms in der Familie ist so ziemlich gleichbedeutend mit Lösung der sogenannten sozialen Frage überhaupt. Denn gerade die Noth ist es, welche, wie viele andere Erkrankungen, so auch das Trachom gross zieht und die Augen der Kinder werden so lange auch im Schoosse der Familie gefährdet sein, als man nicht im Stande ist, die materielle Lage des Proletariats endgültig zu bessern i). Am ehesten darf man noch hoffen durch immer und immer sich Avieder- holende Belehi-imgen des Publikums etwas zu erreichen. Wenn ich im Allgemeinen von populären Belehrungen auch Avenig erwarte, so sehe ich doch den gegebenen Verhältnissen gegenüber kaum einen anderen Weg und deshalb möchte ich der Veröffentlichung allgemein verständlicher Artikel über das Trachom und dessen Gefahren das Wort reden.

Die Sublatio retinae hat für die Jugendbliudheit eine nur untergeordnete Bedeutung, insofern der Prozentsatz nur 0,84 7o beträgt. In unserem früheren Blindenmaterial, in welchem auch die späteren Altersklassen imd zwar in überwiegender Zahl vertreten waren, nahm die Sublatio retinae die achthöchste Stelle mit 4,74 "/o ein. Diese verschiedenen Befunde, welche wir früher und jetzt für die Sublatio- blindheit erhalten haben, erklären sich dadurch, dass in den ersten zwanzig Lebensjahren die Berufsschädlichkeiten, auf Grund deren das

•) Man vergleiche die Vorschlüge, welche Fuchs in seiner von uns schon so oft cif irten Preisschrift über die Verhütung des Trachoms gemacht hat, sowie die Massregeln, welche icli in meiner Arbeit über Blindheit anempfohlen habe.

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myopische Auge doch meist die Sublatio erwirbt, nicht so intensiv und auch nicht so häufig zu wirken Gelegenheit haben, als in den späteren, der Arbeit in einem viel umfangreicheren Maasse gewidmeten Lebens- abschnitten. Ueber die Kefractionsverhältnisse vor der Erblindung konnten in 14 Fällen sichere Nachrichten erhalten werden und in allen diesen 14 Fällen war hochgradige Myopie der Erblindung durch Sublatio vorangegangen; da unser Material 27 Fälle von Sublatio- blindheit zählt, so ist in 51,85 "/o der Nachweis der Myopie zu fuhren.

In 7 der gesammelten Fälle, d. h. also in 25,93 7,. ist eme kon- genitale Belastung nachweisbar, insofern in den Familien der Blinden mehrere Fälle von Myopie resp. von Sublatioblindheit vorhanden sind. Wie einzelne Familien förmliche Brutstätten fär gewisse Erblmdungs- formen z B. Retinitis pigmentosa, Atrophia nervi optici u. s. w. bilden, so tritt diese Häufung von Blindheitsfällen in einzelnen Familien auch bezüglich der Sublatio retinae in Erscheinmig. An 3 Fällen memes Materials vermochte ich diese Thatsache in höchst charakteristischer Weise zu ermitteln. In dem einen Beispiel zeigt eine Famüie m mehreren Generationen Erblindungen durch Sublatio retinae. Die Grossmutter ist in dieser Familie auf einem Auge erblindet (Sublatio reünae wahi- scheinlich, aber nicht mehr bestimmt zu erweisen), ihre drei Kinder, eines männlichen, zwei weiblichen Geschlechtes, sind sämmüich stark myopisch und die beiden Mädchen im Alter von 9 und 18 Jahren beiderseitig an Sublatio erblindet; der Knabe behält sein Sehvermögen bis in sein Mannesalter, zeugt aber eine kurzsichtige Tochter, welche im 7. Lebensjahre beiderseitig an Sublatio retmae erbhndet.

In einem anderen Falle ist der Vater stark kurzsichtig, erblindet in Folge seiner Myopie (Sublatio wahrscheinlich, da aber ärztliche Unter- suchung nicht durchführbar war, so will ich die Erblindung durch Sub- latio nicht als erwiesen betrachten) und zeugt zwei myopische Kmder, von denen das eine im Alter von 7 Jahren an Sublatio erbhndet, das andere zur Zeit der Untersuchung dieses Blinden noch sah.

In dem dritten Falle sind in einer Familie drei Geschwister durch Sublatio auf je einem Auge erblindet, während das andere Auge bei derselben durch ein Trauma verloren ging. Die Eltei-n sollen nicht myopisch gewesen sein, während bei den Kmdern leichte Kmz- sichtigkeit vorhanden gewesen sein soll.

Ueber den Eintritt der Sublatioblindheit konnte ich m 21 Fallen genaue Nachrichten erhalten, welche ich in den folgenden Zusammen- stellimgen mittheile:

- 91

Beide Aiigeu erblindeteu durch Sublatio im Laufe eines Jahres und zwar im 4. Lebensjahr Imal

0.

6.

7.

8.

10.

12.

14.

15.

18.

)}

1

1

2 1 1 1 1 1 » 1

lieber diejenigen Fälle, in denen die beiden Augen zu verschiedenen Zeiten erblindet sind, berichtet die folgende Zusammenstellung:

Das rechte Auge erblindete: im 7. Jahr durch Sublatio,

8. ,, 8.

12.

12. 12.

Trauma, Sublatio,

Das linke Auge erblindete: im 8. Jahr durch Sublatio,

"II' » )) » 12. Trauma, 12. Sublatio,

Das linke Auge erblindete: im 18. Jahr durch Sublatio » 9. )5 12. ,,

1 S

14

Das rechte Auge erblindete:

im 12. Jahr durch Sublatio 17 1 ^ 14

Das Vorstehende zeigt also, dass in 3 Fällen ein Auge früher dm-ch Verletzung und das andere später durch Sublatio verloren ging; in 4 Fällen befiel die Sublatio " zuerst das rechte und in 3 Fällen zu- erst das linke Auge. Der längste Zwischenraum, welcher zwischen der Entstehung der Sublatio auf beiden Augen verfloss, betrug sieben Jahr. Am Häufigsten gingen beide Augen im Laufe eines Jahres zu Grunde, wie dies die vorige Tabelle gelehrt hat,

Blennorrhoea gonorrhoica ist in der Jugendblindheit mit einem nur geringen Prozentsatz von 0,47 7o vertreten und zwar ent- stammen die meisten dieser Fälle aus den neapolitanischen Anstalten; aus Deutschland ist kein einziger derartiger Fall in unserem Material enthalten. Von den 15 Blennorrhoeblinden haben 11 eine Gonorrhoe erworben und sich dann selbst infizirt; bei den 4 übrigen ist die Ueber-

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traguüg iu fi-über Kindheit dui-ch Personeu erfolgt, welche an Gonorrhoe gelitten und in der Umgebung der Blinden sich befunden liatten.

Die 15 durch spontane Keratitis bedingten Erblindungsfiille bieten keine Veranlassung zu besonderen Bemerkungen, und das Näm- liche gilt von der Chorioiditisblindheit.

Diphtheritis conjunctivae und zwar die spontane Augeu- diphtherie ist in 14 Erblindungsfällen in unserem Material vertreten, d. h. also mit 0,44 "/o. In der Reihe der idiopathischen Augenerkrank- ungen nimmt sie natürlich einen höheren amaurotischen Werth ein und beträgt unter diesen der Prozentsatz 1,32 "lo. Von unseren 14 Diph- theritisblindeu sind 8 Deutsche und zwar vertheilen sich dieselben so über Deutschland, dass 6 derselben Norddeutschland angehören und nur 2 auf Süddeutschland (München) entfallen.

Ausser diesen 14 Fällen von idiopathischer Diphtheritis conjunctivae zählt unser Material noch 11 in Folge von Scharlach und 3 in Folge von Masern bedingter Diphtheritisbliudheit. Es würden uns also im Ganzen 28 Fälle von Blindheit durch Diphtheritis zur Verfügung stehen. Berechnen wir aus diesen sämmtlichen Fällen den amam-otischen Werth der Diphtherie für die Jugendblindheit im Allgememen, so würde em Prozentsatz von 0,87 "/o sieb ergeben.

Das Verhältniss, in welchem die verschiedenen Formen der Diph- theritis zu einander stehen, ist folgendes:

Unter 28 Fällen von Diphtheritisbliudheit sind

14 Fälle von spontaner Diphtheritis = 50,00 */'o

11 Diphtheritis nach Scharlach = 39,29 3 » Masern = 10,71

Von aUen 28 Fällen der Diphtherieblindheit entfallen nicht weniger als 20 auf Deutschland und da wir 1595 deutsche Jugendblinde zählen, so kommen in Deutschland 1,25 "/o auf die Diphtheritisbliudheit (nicht auf die spontane allein, sondern auf alle Formen der Diphtheritis Die Veitheilung über Nord- und Süddeutschland ei-folgt m der Weise, dass 24 Fälle = 85,71 % auf die norddeutschen und 4 Falle = 14 29 7o auf die süddeutschen Blindenanstalten kommen. Das Ge- sagte zeigt, dass Deutschland und vor Allem Norddeutschland von der

In der graphischen Darstellung V ist der Prozentsatz der Dipbthent.s- Blindh it für Deutschland nur mit 0,50 - angegeben, doch handelt es s.ch dahe. nur um die spontan entstandenen Fälle und nicht um etne Zusammenfassung aller, auch der im Gefolge von Exanthemen entstandenen Fttlle.

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Augeudiphtheritis , sei es mm, dass dieselbe spontan oder im Gefolge akuter Exantheme auftritt, in nicht unbeträchtlichem Umfang heim- gesucht wird.

Die Neigung, welche die verschiedenen Lebensalter für die Er- werbung der Diphtheritisblindheit besitzen, gestaltet sich nach unseren Beobachtungen in der Weise, dass vom zweiten bis vierten Jahr die Gefahr den grössten Höhepunkt erreicht und dann bis gegen das neunte Lebensjahr hin allmählich abfällt. Jenseits des neunten Jahres ist in unserem ]Material eine Erblindung durch Diphtheritis nicht mehr erfolgt.

Gla ucom zählt in unserem Material nur 6 Fälle, d. h. also 0,19 '^lo der Jugendblindheit überhaupt. Der früheste Termm des Auftretens des Glaucoms fällt in das fünfte Lebensjahr, dann folgt das achte, eilfte, zwölfte, ueimzehnte, ZAvanzigste Jahr. Die genauen Ki-ankengeschichten, welche wir gerade über diese 6 Fälle besitzen, lehren, dass das Glaucom stets unter dem Bild des Glaucoma simplex aufgetreten ist; Anfälle von akutem Glaucom sind nicht verzeichnet, vielmehr erfolgte der Verfall des Sehvermögens stets allmählich. Fünf unserer Blinden sind iridektomirt worden, aber ohne Erfolg; der sechste ist einer Operation nicht unter- worfen worden.

Bemerkenswerth sind besonders 2 Fälle, weil bei ihnen die Here- dität des Glaucom in höchst charakteristischer Weise in Erscheinung tiitt. In dem einen Fall erblindete ein zwanzigjähriger Jüngling an Glaucom, dessen Mutter bei seiner Geburt bereits glaucomblind war. Und in dem zweiten Fall ist das Glaucom an verschiedenen Mitgliedern einer Familie ganz ungewöhnlich früh zum Ausbruch gelangt. Die Mutter ist in diesem Fall an Glaucom erblindet und ihre drei Kinder insgesammt auch und zwar im Alter von neunzehn, zweiundzwanzig und fünfimd- zwanzig Jahren; alle drei Kinder waren ohne jeden Erfolg iridektomirt worden.

Myopie ist mit 4 Fällen unter den 3204 Fällen von Jugend- blindheit vertreten. In 2 Fällen derselben ist die kongenitale'' Be- lastimg nachweisbar, insofern bei dem einen derselben noch zwei Ge- schwister des Blinden hochgi-adig myopisch sind und in dem anderen der Vater und die Schwester myopieblind sind. In einem dritten Fall haben die Eltern und Geschwister des Blinden normale, nicht kurz- sichtige Augen und in dem vierten Fall fehlen nähere Angaben über den Augenbefund der Angehörigen.

Unter den durch idiopathische Augenerkrankungen entstandenen Erblmdungsformen möchte ich nur noch der G 1 i om b 1 i nd h ei t mit

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einigen Worten gedenken. Fälle von doppelseitigem Gliom sind ja über- haupt gerade niclit häufig und desshalb dürfte sich die Erwähnung eines solchen von mir beobachteten Falles nicht als interesselos erweisen. Ein zweijähriger gesunder Knabe, dessen Eltern gesund smd und der fünf gesunde Geschwister hat, erkrankte an Gliom auf dem rechten Auge. Das Auge wird alsbald entfernt und der Nervus opticus voll- kommen intakt, das Gliom nur auf das Bulbusinnere beschränkt ge- funden. Das linke Auge war zur Zeit der Enukleation noch gesund. Bereits drei Monate nach der Operation des rechten Auges wird Eut- wickelung des Glioms auch auf dem linken Auge, konstatirt, welches in Zeit von etwa Jahr totale Erblindung des linken Auges herbeiführt.

Viertes Kapitel.

Die Verletzungsblindheit.

§ 14. Allgemeine Bemerkungen über die Bedeutung der Verletzungs- biindheit für die Jugendblindiieit.

Die Verletzungsblindheit nimmt zu den übrigen Gruppen der Jugend- blindheit eine Stellung ein, welche hinter derjenigen Stellung, welche sie in einem aus allen, speziell den späteren Altersklassen zusammen- gestellten Blindenmaterial inne hat, nur wenig zurückbleibt. Denn unsere frühere Untersuchungsreihe, welche vorwiegend nach dem 20. Lebens- jahr Erblindete enthielt, warf für die Verletzungsblindheit 10,75° aus, während unsere heutigen ausschliesslich jugendliches Material 8,15 zählt. Dieser Unterschied von 2,b0^l^ könnte auf den ersten Anblick vielleicht auffallend gering erscheinen, besonders wenn man bedenkt, dass für die Altersklassen jenseits des 20. Lebensjahres in dem Beruf so häufig eine Veranlassung für Augenverletzungen liegt, ein Faktor, welcher für die beiden ersten Lebensdezennien doch wenig oder gar nicht in Beü-acht kommen dürfte. Wenn nun ganz gewiss auch der Beruf für die ersten 20 Lebensjahre eine nur nebensächliche Erblind- ungsgefahr bedingt, so wird diese Thatsache doch durch andere Ver- hältnisse wenigstens bis zu einem gewissen Grade wieder ausgeglichen. Es ist in dem kindlichen resp. jugendlichen Alter nämlich die Gelegen- heit, eine sogenannte zufällige Verletzung der Augen zu erleiden, offen- bar eine grössere, als in den späteren Lebensepochen. In dem ersten Lebenslustrum ereignen sich durch Unaufmerksamkeit der Eltern resp. Pfleger bedauerlich oft Verletzungen der Augen und in dem zweiten und dritten Lustrum bieten dann wieder die Spiele mit stechenden, schneidenden, durch Schlag oder Explosion wirkenden Gegenständen

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eine reiche Quelle der Augenunfalle. Auf diese Weise geschieht es, dass die Verletzuugsblindheit im Allgemeinen auch in der Jugendblind- heit eine recht beachteuswerthe Kolle spielen.

Was sodann die einzelnen Formen der Verletzungsblindheit anlangt, so wii-d die folgende Zusammenstellung über das Verhältniss Auflilärung geben, in welchem die analogen Formen eines nur jugendliche Individuen und eines alle Altersklassen umfassenden Blindenmaterials zu einander stehen.

Das Blindenmaterial zählt

ausschliessl. alle Jugendbliude : Altersklasseu :

Verletzungen der Augen 2,37 "/'o 4,03

Verletzungen des Kopfes 1.03 0,27

Ophthalmia sympathica traumatica .... 4,58 4,50

Verunglückte Operationen *• 0,16 1,93

Ein Blick auf die vorstehenden Zahlen zeigt, dass die direkten Verletzungen der Augen und die missglückten Operationen in einem alle Altersklassen umfassenden Blindenmaterial grössere Quoten besitzen, als wie in emem ausschliesslich nur Jugendblinde zählenden Material. Die sympathische Entzündung ergibt flir die Jugendblindheit den gleichen prozentarischen Werth wie filr ein Blindenmaterial, das vornehmlich die jenseits des 20. Lebensjahres liegenden Lebensperioden berücksichtigt. Die Verletzungen des Kopfes ergeben aber för die JugendbHndheit sogar eine etwas grössere Quote, als wie wir dieselbe bei unseren früheren Unter- suchungen, welche alle Lebensklassen umfassten, gefunden hatten. Aller- dings ist der betreffende Unterschied kemeswegs ein erheblicher, vor allen Dingen nicht ein so erhebUcher; dass man in demselben nun sofort den Ausdruckeines für die Jugendblindheit allgemeingültigen Gesetzes sehen könnte Es wird erst noch einer Reihe anderer Untersuchungen bedüi-fen, ehe man mit Sicherheit wird entscheiden können, ob för das jugendliche Alter Verletzungen des Kopfes thatsächlich eine erheblichere Erblindungs- gefahr in sich schliessen, als wie dies för die späteren Lebensphasen der Fall ist Die Möglichkeit ist ja doch wohl nicht so ohne Weiteres von der Hand zu weisen, dass in der Beschaffenheit des jugendlichen Kopf- skelettes und Gehirns gewisse Momente liegen könnten, welche wahrend

^T^Td^etraclitung der Iridocyclitis sympathica (vgl. Paragraph 17) werden wir den Nachweis führen, dass die Gleichheit des prozcntarischeu A\ erthes. we cheTli yn^pathische Ophthal.nie in unserem Material diesse.ts nnd jense.ts Ts 20 Lebensjahres zeigt, in Wahrheit einer höheren Belastung des jngendhchen Alters mit Sympathieamaurose gleichkommt.

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der ersten Lebeuslusti-en der Entstehung von bedenklichen Konsequenzen aus verhältnissmässig leichteren Kopfverletzungen gewissen Vorschub zu leisten im Staude wären,

§ 15. Blindheit entstanden durch direkte Verletzung der Augen.

Die direkten Verletzungen der Augen spielen, wie wir dies bereits im vorigen Paragraphen angedeutet haben, in der Jugendblindheit aller- dings nicht eine so hervorragende Rolle, wie in der Erblindung der späteren Lebensjahre, doch ist ihr amaurotischer Werth immerhin noch gross genug, indem der Prozentsatz 2,37 7o beträgt. Und zwar sind die Augen der Knaben in höherem Grade gefährdet, als wie die der Mädchen, denn jene steuern 3,13 7o imd diese nur 1,09 % zu den Er- blindungen bei, welche durch direkte Augenverletzungen hervorgerufen worden sind.

Bei der durch unmittelbare Verletzung der Augen hervorgerufenen Blindheit ist es von Wichtigkeit, zu wissen, ob die Verletzung beide Augen zu gleicher Zeit zerstört hat, oder ob ein Auge bereits blind war, als die Verletzung das andere noch sehende Auge vernichtete. Für imser heutiges Material lassen sich diese Verhältnisse sehr genau ermitteln: von den einschlägigen 76 Fällen gingen 23 mal beide Augen nicht durch die gleiche Verletzimg verloren und in 53 Fällen zerstörte eine Verletzung zu gleicher Zeit beide Augen ; prozentarisch ausgedrückt würden wir für den ersten Fall 30,26, für den zweiten 69,74 7,, er- halten. Füi- unser früheres Untersuchungsmaterial, welches Blinde aller Altersklassen enthielt, war das Verhältniss gerade das umgekehrte; dazumal waren Einäugige in 67,82 7o durch Verletzung erblindet und in 32,10 "/o hatte das Trauma beide Augen zugleich zerstört. Ist nun dieser Unterschied zwischen unserer früheren und jetzigen Untersuchuugs- reihe ein zufälliger oder ist er in der verschiedenen Beschaffenheit des :\Iaterials begründet? Ich für meinen Theil möchte eher geneigt sein, •las Letztere anzunehmen und zwar auf Grund folgender Ueberlegung. Es scheint mh- ziemlich sicher, dass in dem Lebensabschnitt, welcher die ersten zwanzig Jahre umfasst, weniger Einäugige vorhanden sind, als in den späteren Lebensphasen, wo die Gefahren des Berufes doch immerhin eme recht beträchtliche Menge Einäugiger schaffen. Sind nun die Einäugigen über die verschiedenen Altersklassen in verschiedener :\Ienge vertheilt, so wird natürlich diejenige Lebensepoche, welche weniger Einäugige zählt, auch weniger Fälle liefern müssen, in welchen Einäugige dm-ch Verletzung des noch funktionirendeu Auges erblindet sind. Und da nun, nach unserer Annahme, die ersten zwanzig Lebensjahre weniger

Magnus, Jngendblindheit. 7

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Einäugige besitzen, als die späteren Lebensabschnitte, so wird mau bei einer Untersuchung, welche nur die ersten zwanzig Lebensjahre, berück- sichtigt, auch weniger oft Fällen begegnen, in welchen Einäugige durch Verletzung blind geworden sind.

Der Umstand, dass Einäugige in unserem Material mit 30,26 "/o und in unserer früheren Untersuchungsreihe gar mit 67,82 bei der Erblindung dui'ch Augenverletzung betheiligt sind, ist in gewisser Beziehung von nicht zu unterschätzender Wichtigkeit. Bedenken wir nämlich, dass die Zahl der Einäugigen im Allgemeinen doch eine beschränkte ist, dass die Anzahl der Einäugigen gegenüber der Menge der Doppeläugigeu ganz gewiss eine verschwindend kleine ist, so wird uns der grosse Prozentsatz, mit welchem die Einäugigen sich bei der Verletzungs- blindheit betheiligen, mit Eecht befremdend erscheinen müssen. Wemi die Einäugigen entsprechend dem numerischen Verhältniss, in welchem sie zu den Doppeläugigeu stehen, zur Verletzungsblindheit beisteuerten, so müsste die auf sie entfallende Quote eine um Vieles geringere sein, als Avie sie in der That ist; die Einäugigen würden dann nicht 30 oder gar 67 o/„ zur Verletzungsblindheit beisteuern, sondern höchstens 2 oder 3 °/o.

Wie ist nun aber die hohe Belastung der Einäugigen mit Ver- letzungsblindheit zu erklären? An einen Zufall, der vielleicht durch irgendwelche Umstände des Untersuchungsmaterials bedingt sem könnte, darf unter keinen Verhältnissen gedacht werden. Zwei ganz verschiedene Untersuchungsreihen haben uns beide das nämliche Resultat ergeben, beide haben für die Einäugigen eine ganz unverhältnissmässig hohe Quote der Verletzungsblindheit ausgeworfen. Wenn also der Zufall mit vollster Sicherheit ausgeschlossen werden kann, so müssen w uns nach einer befriedigenden Erklärung der fraglichen Thatsache umschauen. Zuvörderst wird man nicht ausser Acht lassen dürfen, dass Unfälle, welche um- ein Auge zerstören, ungleich häufiger sich ereignen, als wie solche, welche beide Augen zu gleicher Zeit vernichten. Da nun aber der Verlust eines Auges den Einäugigen schon blind macht, den Doppel- äugigeu aber nicht, so muss im Allgemeinen der Einäugige eme etwas höhere Quote der Verletzungsblindheit besitzen, als dies nach dem numerischen Verhältniss, in welchem er zur Anzahl der Doppeläugigeu steht, erwartet werden sollte. Diese Thatsache allein genügt aber nicht, um den hohen Prozentsatz, welchen der Einäugige zur Erblindmig dm-ch Augenverletzung beiträgt, zu erklären. Wir müssen noch nach emem anderen Erklärungsmoment suchen und, ich glaube, wu- finden em solches, wenn w annehmen, dass der optische Zustand des Einäugigen die Entstehung einer Augenverletzung erleichtert, ja ihr sogar einen

99

gewissen Vorschub leistet. Darüber kauii doch wohl kein Zweifel be- stehen, dass der Einäugige dem Doppeliiugigen gegenüber sich in dem Zustand einer recht beträchtlichen optischen Inferiorität befindet. Wenn nun auch gewisse Nachtheile seiner oj)tischen Leistungsfähigkeit all- mählich durch Uebung beseitigt werden können , so sind doch andere unter keinen Verhältnissen auszugleichen. Zu den letzteren gehört die Beschränkung des Gesichtsfeldes, welche der Einäugige besitzt. Sie setzt den Einäugigen immer in die Lage, dass er eine von dieser oder jener Seite seinem Auge drohende Gefahr nicht zur richtigen Zeit be- merkt imd ilu- desshalb nicht auszuweichen vermag. Für die arbeitende Klasse wird diese Thatsache sehr oft zu der traurigen Konsequenz des Verlustes des noch sehenden Auges führen und das Gleiche beobachten wir im Kindes- wie Knabenalter. Das einäugige Kind ist bei seinen lebhaften Spielen der Gefahr, sich das gesunde Auge durch Anlaufen gegen einen Gegenstand seiner Umgebung zu verletzen, in höherem Grade ausgesetzt, als das zweiäugige Kind. Und ebenso ist die Gefahr, in das sehende Auge einen Schlag oder Stoss zu erhalten, welchem das doppeläugige Kind zur rechten Zeit ausweicht, vorhanden. Und schliesslich darf man auch nicht vergessen, dass der Einäugige genöthigt ist, das sehende Auge der Arbeit zuzuwenden; auch Zehender^) bemerkt, dass der Ein- äugige un^^^llkül•lich das sehende Auge dem betrachteten Gegenstand zuwende und aus diesem Umstand, wenigstens oft wenn auch nicht immer eine gewisse Gefahr für das noch funktionirende Auge hei-ge- leitet werden könne.

Indem sich nun diese beiden Faktoren, die Beschränkung des Ge- sichtsfeldes und die Neigung des Einäugigen das noch sehende Auge dem ihn beschäftigenden Gegenstande etwas mehr zuzuwenden, summiren, «rgeben sie für den Einäugigen eme besonders grosse Gefahr,''') durch Augenverletzung zu erblinden, und mit dieser Gefahr müssen wir rechnen, wenn wir eine möglichst ergiebige Verhütung der Verletzungsbliudheit anstreben. Im Hinblick auf die soeben dargelegten Verhältnisse wird der einäugige Knabe bei der "Wahl seines Berufes mit einer gewissen Vorsicht zu Werke gehen müssen; besonders Avird sich diese Noth- wendigkeit für die körperlich arbeitenden Volksklassen ergeben.

Alle Berufsarten, welche viel mit schneidenden und stechenden

'j Zehender, Die Blinden in den Grossherzogth ümern Mecklen- t>urg. Eine statistische Skizze. Rostock 1871. p. 58.

Man vergleiclie über die grössere Gefahr der Einäugigen durch Ver- letzung zu erblinden noch das, was ich in meiner Arbeit über Blindheit. Bresla^ 1883, p. 184 n. ff. gesagt habe.

7*

100

Instrameuten , mit Feuer, Anibos und Hammer zu schaffen liabeu, werden dem Einäugigen leicht Gefahren für sein einziges Auge bereiten, und desshalb sollte er dieselben ängstlich meiden. Ob sich die Zulas- sung der Lehrlinge zu derartigen Gewerben durch gesetzliche Vorschriften regeln lassen könnte, vermag ich nicht zu übersehen; innerhalb der Innung Hessen sich wohl Vorkehrungen ü-effen, um nur zweiäugige In- dividuen zu den fraglichen Berufsarten zuzulassen. Auch die Fabriken, deren Betrieb Veranlassung zum Abspringen von Metall- und Holz- partikelchen gibt, oder deren Handhabung offenes Feuer, schneidende und stechende Instrumente verlangt, oder die dui-ch Entwicklung vou schai'fen ätzenden Dämpfen u. dgl. m. sich auszeichnen, sollten gehalten sein, nur doppeläugige Personen zm- Arbeit zuzulassen. Der Schwer- punkt bei allen derartigen Vorschriften müsste aber unbedmgt auf die wirkliche Blmdheit des einen Auges gelegt werden. Denn Leute, ^ die auf einem Auge schlechter sehen, als wie auf dem anderen, sind keines- wegs einer solchen optischen Inferiorität unterworfen, wie der einseitig Blinde. Schwachsichtigkeit eines Auges beeinträchtigt die Grösse des Gesichtsfeldes meist nur wenig und gerade die Beschi-änkung des Ge- sichtsfeldes war es ja, aus welcher wir die grössere Erblindungsgefahr durch Verietzung für den Einäugigen hergeleitet haben.

Von Wichtigkeit dürfte es mmmehr noch sein, die Arten der Augenverletzungen genauer kennen zu lernen. Es wird sich empfehlen, die°verschiedenen Verietzungsformen in der Weise zu betrachten, dass wir diejenigen Fälle, in denen beide Augen zu gleicher Zeit durch die Verietzung zerstört wurden und diejenigen, in denen Einäugige ihi- einziges Auge verioren haben, getrennt von einander untersuchen. Be- ginnen wir mit der Betrachtung der doppelseitigen Augenverietzungen.

Doppelseitige Verletzungsblindheit zählt unser Material 53 Fälle doch ist in 7 derselben die Form der Verietzung nicht näher mitgethei'lt; die übrigen 46 Fälle dagegen geben vollsten Aufschluss über die Art der Verietzung, sowie über den Zeitpunkt ihres Emtnttes. Die folgende Zusammenstellung berichtet über die einzelnen Formea der Verietzungen und deren numerisches Verhältniss zu einander:

Schuss

Schlag

Stich

Quetschung bei Zangengeburt

15

32,60 0;(

13

28,26

11

23,91

4

8,69

2

4,34

1

2,17

101

Explosionen nehmen laut der vorstehenden Tabelle unter den Fällen doppelseitiger Verletzungsblindheit den ersten Rang ein. Nur in 2 der beobachteten Fälle geschah die Verletzung im Beruf; beide- inale waren es jugendliche Arbeiter, welche beim Steinsprengen beide Augen zugleich verloren. In den übrigen 13 Fällen handelte es sich iusgesammt um Exj)]osioneD , welche durch Spielereien mit Pulver, Kupferhiltchen , Kinderkanonen u. dgl. m. verursacht worden waren. Angesichts der so häufig im Kindesalter durch Explosionen verursachten Verletzungsblindheit scheint der von Ai'U ') seiner Zeit gemachte Vor- schlag, den Verkauf von Zündhütchen (natürlich inbegriffen alle ex- plodirenden Gegenstände) an Kinder gesetzlich zu verbieten, dui'chaus gerechtfertigt. Den besten Schutz gegen die in Rede stehende Erblind- uugsgefahr sollte die Kinderwelt aber immer bei den Eltern und Er- ziehern finden; doch ist leider der Kampf gegen Leichtsinn und Un- vernunft, wie auf anderen Gebieten des Lebens, so auch auf dem hier uns beschäftigenden meist ein vergeblicher. Ueber die verschiedenen Lebensjahre der beiden ersten Decennien vertheilen sich die Explosions- erblindungen in der Weise, dass eigentlich erst mit dem fünften Lebens- jahr dieselben in grösserer Zahl auftreten, um dann aber in den folgen- den Jahren stetig zuzunehmen. Vor dem fünften Lebensjahr kommen dieselben nur vereinzelt vor. ^

Verbrennungen sind mit 28,26 °/o nächst den Explosionen die häufigsten Formen der doppelseitigen Verletzungsblindheit der Jugend- zeit. Sie beginnen ihre verderblichen Wirkungen schon in der frühesten Kinderzeit; mit den ersten Schritten, welche das Kind macht, ist es von dieser Gefahr bedroht. Meist ist es ein Sturz ins Feuer, in heisse Asche, das Uebergiessen mit siedenden Flüssigkeiten u. dgl. m., welche die Zerstörung der Augen herbeiführen. Während für die ersten zwei oder drei Lebensjahre die genannten Unfälle am häufigsten die Augen bedrohen, tritt in der zweiten Hälfte der Kinderzeit und in dem darauf folgenden Knaben- und Jünglingsalter die Verletzung mit Kalk in den Vordergrund. Jenseits des fünfzehnten Lebensjahres werden die dojDpel- seitigen Verbrennungen der Augen dann seltener.

Schussverletzungen zählt vmser Material 11. Auch diese Verletzungsformen treten häufiger erst in der zweiten Hälfte der Kind- heit auf und stets sind es dann die unseligen Spielereien mit Schiess- waffen, welche den Unfall verursachen. Gegen den Ausgang^ des uns

') Arlt, Die Pflege der Augen im gesuudeu und kranken Zu- stande nebst einem Anhange über Augenglilscr. Prag 18G5. p. 75.

102

hier beschäftigenden Lebensabschnittes nehmen die Zerstörungen der Augen dui-ch Schüsse an Zahl ganz bedeutend zu.

Die doppelseitigen Verletzungen durch Schlag oder Stich sind in den ersten zwanzig Lebensjahren verhältnissmässig selten; erst die Berufsthätigkeit pflegt derartige Unfälle in grösserer Zahl herbeizuführen.

Die Verletzungsblindheit der Einäugigen bietet in unserem Material Stoff zu nicht unwichtigen Bemerkungen. Was zu- vörderst den Verlust des ersten Auges anlangt, so sind laut unseren Beobachtungen 10 mal Verletzungen und 8 mal Erkrankungen die Ur- sache gewesen; 5 mal war eme einseitige angeborene Blindheit vor- handen. Ueber die Verletzung, welche die definitive Erblindung be- dingte, liegen nur 9 genauere Nachrichten vor; darnach war 5 mal ein Schlag oder Stoss, 2 mal Stich, Imal Explosion und Imal Schuss die Veranlassung zu dem Verlust des einzigen noch sehenden Auges. Ver- gleicht man diese allerdüigs sehr dürftigen Zahlen mit denjenigen, welche Avir vorhin für die gleichzeitige Verletzung beider Augen angegeben haben, so werden wir alsbald recht erhebliche Unterschiede bemerken. Während bei der gleichzeitigen Zerstörung beider Augen Explosion, Verbrennung und Schuss die Hauptrolle spielten, Schläge, Stösse und Stiche aber nur nebensächlich in Betracht kamen, ist bei der Ver- letzungsblindheit der Einäugigen gerade das mngekehrte Verhalten das massgebende; hier sind Schläge und Stösse die am häufigsten vor- kommenden Erblindungsursachen, während Explosion und Schuss ge- ringere Bedeutung haben. Der Zeitraum, welcher zwischen der Er- blindung des ersten und der Verletzung des zweiten Auges liegt, ist. bei imseren Blinden ein selir wechselnder; er schwankt zwischen 1 und 20 Jahren und lässt sich irgend eine gesetzmässige Erscheinung in der chronologischen Aufeinanderfolge der Erblindung des ersten und der Verletzung des zweiten Auges nicht auffinden.

Zu beachten wäre vielleicht noch die Thatsache, dass von den 23 Einäugigen, welche dm-ch Verletzung erblindet sind, 17 zuerst das rechte und 3 zuerst das linke Auge verloren haben ')• Diese Erscheinung fällt uns aus dem Grunde auf, weil wir so häufig bei getrennter Er- blmdung beider Augen das rechte zuerst verloren gehen sahen. Wie wir im Paragi-aph 17 bei Besprechimg der dui-ch Trauma hervorge- rufenen sympathischen Ophthalmie sehen werden, ist unter 147 Fällen dieser Ei-blindungsform 87 mal das rechte und 60 mal das linke Auge

>) Bei 3 Blinden fehlen die näheren chronologischen Mittheilungen tther den Eintritt der Blindheit auf dem rechten und linken xVuge.

- 103

zuerst erbliudet. Unter den 30 Fällen von Ophtahnia sympathica traumatica , welche Avir in unserer früheren Untersuchuugsreihe ^) mit-

Kurve der Erblindungsgel'ahr durch Verletzung der Augen in den ersten 20 Lebensjahren.

Massstab : 5 mm = 1 7o-

Fig. 2.

getheilt hatten, war das rechte Auge 22 mal und das linke 8 mal zu- eilst erblindet. Aehnliche Beobachtungen haben Avir in unserem früheren

') Magnus, Die Blindheit u. s. w. p. 204.

104

Material auch bei Gelegeuheit der Erblindung durch Netzhautablösuug gemacht; unter 28 derartigen Erblindungsfällen war 19 mal das rechte und nur 9 mal das linke Auge das zuerst erblindete. Auch unser heutiges Material, das allerdings niu' über 7 Fälle von Sublatiol)lindheit genügende Aufklärung gibt, zeigt uns das rechte Auge 4 mal und das linke 3 mal als das zuerst erblindete. Wenn ich nun die mitgetheilteu Zahlen auch noch für viel zu klein erachte, um aus ihnen schon eine grössere Erblindungsneigung für das rechte Auge abzuleiten, so sind die- selben doch gewiss auffallend und verdient die Frage: ob das rechte Auge im Allgemeinen einer ausgesprocheneren Erblindungsgefahr ausgesetzt sei als das linke, jedenfalls die Aufmerksamkeit späterer Untersucher.

Was nun schliesslich noch die Vertheilung der Verletzungsblmd- heit über die einzelnen Lebensjahre der zwei ersten Decennien anbe- trifft, so bewegt sich die Quote derselben in einer vom ersten bis zwanzigsten Lebensjahr aufsteigenden Kin-ve. Die folgende Zeichnung gibt von diesen Verhältnissen, sieht man von den im Material ge- gebenen Zufälligkeiten und den durch sie bedingten Schwankungen der Kurve ab, ein genügend klares Bild. Wenn man die Spitzen der Kurvenschwankungen mit einander verbindet, so wird man ungefähr die Art und Weise des Anstieges der Verletzungsblindheit zu erkennen vermögen. Die grösste Höhe erreicht die Kurve in der Zeit zwischen dem fünfzehnten und zwanzigsten Jahr, während ihr niedrigster Stand in die Zeitperiode vor dem fünften Jahr fällt.

§ 16. Blindheit verursacht durch Verletzung des Kopfes.

Die Bedeutimg dieser Form der Blindheit für die Jugendbliiidheit im Allgemeinen haben wir schon im Paragi-aphen 14 besprochen und können wir daher hier auf das dort Gesagte verweisen.

Die Erblindung entwickelt sich bei Verletzungen des Kopfes auf Grund recht verschiedener pathologischer Vorgänge, je nachdem dem Bulbus selbst oder den nervösen Centren aus dem Unfall pathologische Konsequenzen erwachsen. Geschieht das erstere, mrd das Sehorgan selbst in Mitleidenschaft gezogen, so kann einmal die Netzhaut oder der Sehnerv durch die mit dem Unfall verknüpfte Erschütterung des Kopfes Veränderungen erleiden , welche wir opthalmoskopisch ja zum Theil wenigstens kennen, und als deren traurige Folgezustände sich gar nicht selten Sehnerven atrophien entwickeln. Ueber die primären oph- thalmoskopischen Veränderungen, wie sie sich bald nach dem Unfall zeigen, gibt unser Material so gut wie gar keinen Aufschluss; nur

105

iu einem Fall wurde nach einem heftigen Stui-z auf Steinhaufen unter heftigen Kopfschmerzen die Entwicklung einer Neuritis beobachtet, welche mit Atrophia optica endigte. In anderen Fällen entstehen unter der Kopferschütterung Risse und Blutergüsse iu den Umhüllungen des Bidbus, welche dann wieder zu Iridochorioiditis führen. Aber wenn auch das Sehorgan selbst nicht mit in das Bereich der Kopferschütter- ung gezogen ist, so kann doch Erblindung erfolgen und zwar auf Grund der im Gehii-n durch die Erschütterung eingeleiteten Veränder- ungen oder durch traumatische Meningitis; als Schlussakt Aver den wir hierbei wohl stets eine Atrophie des nervus opticus nachweisen können. Derartige Fälle pflegen häufig von noch anderen Folgen der Gehirner- schütterung begleitet zu werden und auch unser Material enthält solche Fälle. Zehnmal sind nämlich in Folge der Kopferschütterung ausser Blindheit noch andere pathologische Erscheinungen aufgetreten imd' zwar 1 mal Schwindelanfälle , 2 mal Geistesschwäche , 1 mal Sprach- störungen, 2 mal Schwerhörigkeit, 1 mal epileptiforme Anfälle, 1 mal Lähmung der rechten Seite, 2 mal Hydrocephalus.

Was nun das Verhältniss anlangt, in welchem die Sehnerven- atrophie imd Iridochorioiditis sich nach Kopfverletzungen entwickeln, so zählt imser Material unter 33 Fällen 26 mal Atrophia nervi optici und 7 mal Iridochorioiditis, die erstere stellt sich also in 78,78 "/o, die letzere nur in 21,2l7o ein.

Dürfen wir nun noch einen Blick auf die Natur der Kopfverletz- img werfen, so wurden 21 mal Sturz auf den Kopf und 11 mal Schlag gegen den Kopf als ursächliches Moment angegeben ; in 1 Fall fehlen die näheren Mittheilungen.

Sturz auf den Kopf. Die Mehrzahl der durch Sturz ver- ursachten Erblindungen ist in unserem Material in den ersten Lebens- jahren entstanden. Von den uns zur Verftigung stehenden 21 Fällen ist bei 14 in den ersten 6 Lebensjahren die Erblindung erfolgt, und nm- bei 5 nach dem sechsten Lebensjahre i). Als Grund des Blindseins wird 20 mal Atrophie des Sehnerven und 1 mal Iridochorioiditis an- gegeben. Der Sturz erfolgte 1 mal in frühester Kindheit vom Arm der Kindsfrau; 5 mal handelte es sich um Sturz aus dem Fenster. In den übrigen Fällen sind besondere Mittheilungen nicht vorhanden.

Erblindung durch Schlag gegen die Schädelwand findet sich nach unserem Material vorwiegend mit Beginn des zweiten Lebenslustrums.

') 2 Falle lassen eine genaue chronologische Bestimmung des Erblindungs- eintrittes nicht zu.

106

Ueber die Natur der Kopfverletzung liegen auch einige Mittlieilungeu vor; 3 mal handelte es sich um Hufschläge gegen den Kopf, l mal um Fall eines schweren Gegenstandes auf den Schädel; 1 mal um Schlag eines Baumstammes bei einem jugendlichen Holzfäller. Die Gegend des Schädels, welche von dem Schlag betroffen wurde, ist nur in einigen wenigen Fällen näher bestitnrat. 5 mal wird mit vollster Bestimmtheit die Stirn als die Verletzungsstelle bezeichnet.

§ 17. Erblindung durch Ophthalmia sympathica traumatica.

Bereits in meinen im Jahre 1883 veröffentlichten Untersuchungen über Blindheit«) wies ich darauf hm, dass das jugendüche Alter einen ziemlich hohen Prozentsatz zur Erblindung diu'ch Ophthalmia sympathica Ijeizusteuern schiene. Ich glaubte damals durch eine grössere Zahl von Augenverletzungen im Kindes- und Jünglmgsalter meine Beobachtung erklären zu können. Unser heutiges Material wirft aber auf diese Frage ein ganz neues Licht. Eine beträchtlichere Zahl von dh-ekten Augen- verletzungen entfällt nach unseren jetzigen Erfahrungen auf die ersten zwei Lebensdecennien nicht; trotzdem Spielerei und Unglücksf äUe das kmd- liche Auge recht oft schädigen, erreicht die Verletzungsblindheit, d. h. die durch unmittelbare Verletzung der Augen bedingte Amaui-ose m dieser Lebensperiode doch nicht eine so hohe Quote, als wie sie m emem aus allen vornehmlich den späteren Altersklassen zusammengesetzten Blinden- material sich findet. Unser heutiges nur jugendliche Blmde bemck- sichtigendes Material ergibt nämlich als Quote der Verletzmigsblmdheit 2 37 o/o während unsere frühere Untersuchungsreihe fast noch einmal so viel nämlich 4,03 "/o zählte. Wir müssen also mibedingt mit der That- sache rechnen, dass die ersten zwanzig Lebensjahre einer geringeren direkten Verletzungsgefahr des Auges unterliegen, wie die späteren Penoden unseres Daseins. Entsprechend diesem Umstand müssten die ersten beiden Lebensdecennien unbedingt auch einen germgeren Prozentsatz von Ophthalmia sympathica traumatica liefern; denn die Quote der sympathi- schen Ophthalmie muss doch zm: Zahl der Augenverletzung in der innigsten Beziehung stehen. Mit der steigenden Zahl der Augenver- letzungen, mit der grösseren Menge der Einäugigen sind ja doch auch die Bedingungen für die Entwickelung des sympathischen Prozesses erheblich gefördert, während bei einer geringeren Anzahl von Einäugigen aua die Gelegenheit für das Auftreten der sympathischen Opthalmie

') A. a. 0. p. 203.

107

eine geringere wird. Wir müssen desshalb unbedingt erwarten , dass die Quoten der Verletzungs- und der sympathischen Erblindung ge- wisse Uebereinstimmimgeu zeigen. Für unser früheres Material trifft diese theoretische Voraussetzung auch durchaus zu, denn dazumal er- hielten wir für die Verletzungsblindheit 4,03 7o und für die Blindheit diu-ch Ophthalmia sympathica 4,50"/o, für unser heutiges ausschliesslich jugendliches Material gestalten sich nun aber diese Verhältnisse er- heblich anders. Wir haben jetzt eine Verletzuugsquote von 2,37 ° 'o, aber nicht auch eine dieser Höhe der Verletzungsgefahr entsprechende Quote der sympathischen Ophthalmie, vielmehr eine um vieles höhere; dieselbe beträgt 4,587ü. Eine solche Höhe steht ziu- Zahl der Ver- letzungen im jugendlichen Alter aber durchaus nicht im Verhältniss; da die ersten Lebensdecaden weniger Gelegenheit zu Augenverletzungen geben und auch, wie wir gefunden zu haben glauben, weniger Verletz- imgen und weniger Verletzungsblindheit zählen, so müsste auch die Zahl der sympathischen Ophthalmien eine dementsprechend geringere sein.^ Ist sie dies aber nicht, ist die Zahl der sympathischen Opthalmieu ebenso gi-oss wie in den späteren, Augenverletzungen viel mehr ausge- setzten Lebensperioden, so ist diese Thatsache unbedingt eine ungehörige imd darum befi-emdende. Wir dürften angesichts der soeben erörterten Verhältnisse desshalb vielleicht die Vermuthung äussern, dass in dem jugendlichen Alter möglicherweise gewisse Bedingungen gegeben sein könnten, welche der Entwicklung des sympathischen Prozesses besonderen Vorschub leisteten. In dieser Ansicht könnte man wohl auch noch diu-ch den Umstand bestärkt werden, dass die Quote der sympathischen Erblindung in einer Reihe von Jahren, etwa vom achten bis fünfzehnten Lebensjahr, eine Höhe zeigt, welche hinter der der cerebralen Blindheit nur wenig zurückbleibt; und doch ist diese Blindheitsform eine der er- giebigsten überhaupt. Welcher Art die Verhältnisse sein mögen, welche in den ersten drei Lebenslustren die Entwickelung des sympathischen Prozesses begünstigen, darüber erlaube ich mir vor der Hand absolut kein Urtheil, wie ich auch die soeben geäusserte Vermuthung nicht mehr als eben nm- eine Muthmassung sein lassen möchte. Es wird späteren weiteren Forschungen vorbehalten bleiben, definitiv festzustellen, ob der sympathische Prozess in den jugendlichen Lebensepochen wirklich häufiger sei und welche Erklärung eventuell für diese Erscheinung zu geben sem wird. Für unser heutiges Material steht die Thatsache unbedingt fest, dass die Zahl der durch sympathische Ophthalmie Erblindeten viel gi-össer ist, als sie im Verhältniss zu den direkten Verletzungen der Augen sein sollte.

108

Ueber die Verletzung des zuerst erbliudeten Auges, auf Grund deren sich dann der sympathische Prozess entwickelt hat, gibt unser Material in 88 Fällen genügenden Aufschluss, und zwar wie folgt:

Verletzungen erfolgten

mit schneidenden Instrumenten . . . 34 mal

durch Wurf (Ball, Stein, Eis, Holz) . 13 Schuss (Pfeil, Bolzen u. s. w.) .12

Schlag oder Stoss 9

Glas- oder Porzellansplitter . . 5 ,,

Kupferhütchen 4

Kratzen (Dorn, Fingernagel, Katze) 3

Explosion (Pulver, Dynamit) . . 2

,, Eisensplitter 2

Holzsplitter 2

Fall gegen das Auge .... 2

Der Zeitraum, welcher zwischen der Verletzung und dem Ausbruch der Ophthalmia sympathica liegt, lässt sich in 109 Fällen folgender- massen bestimmen:

Der sympathische Prozess entstand nach Verlauf von nicht 1 Jahr 66 mal 6 Jahren Imal

1 vollen Jahres 23 7 1 ^

2 Jahren 6 8 2

3 4 9 1 .

4 1 10 " 1 "

5 2 13 1 .

Nach dieser Zusammehstellung war also in 81,65 aller unserer Fälle bereits 1 Jahr nach der Verletzung mit dem Eintritt der Irido- cyclitis sympathica die definitive vollständige Erblindung eingetreten, eme Thatsache, welche für die Prophylaxe dieser so ergiebigen Er- blindungsfoi-m die grösste Beachtung verdienen sollte.

Bemerken wollen wir noch, dass 87 mal das rechte und 60 mal das linke Auge das primär i) verletzte war und dass 67 mal die Enu- cleation des verletzten Auges ausgeführt worden war. Es empfiehlt, sich noch einen Seitenblick zu werfen auf das Verhältniss, m welchem die traumatische zu der nicht traumatischen Ophthalmia sympathica in unserem Material steht. Von der ersteren zählen wu- 147, von der letzteren 9, also in Summa 156 Fälle; es entfallen demnach auf die

1) Man vergleiche Seite 102—104 dieser Arbeit.

109

traumatische 94,23 °/o, aiif die nicht traumatische 5,77 ''/„. In unserer früheren Arbeit hatten wir für die traumatische Ophthahnia sympathica 74,5 imd füi* die nicht traumatische 25,4 ".o gefunden.

Kni've der Erblindnngsgefahr durch Ophthalmia symi)athica traumatica in den ersten 15 Lebensjahren.

Massstab: 5 mm = l"/o-

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Fig. 3.

Ich habe nun noch den Versuch gemacht, die Quote, welche jedes einzelne Lebensjahr für die Erblindung dui'ch Ophthalmia sympathica zeigt, zu bestimmen und aus den gewonnenen Zahlen eine Kurve der Erblindungsgefahr durch Iridocyclitis sympathica traumatica herzustellen. Ich habe diesen Versuch aber nur für die ersten 15 Lebensjahre durch- geführt, weil jenseits des fünfzehnten Jahres unser Material leider etwas

110

lückenhaft Avird. Es pflegen ja Individuen, welche nach dem fünfzehnten Jahre erblinden, meist schon eine genügende Schulbildung empfangen zu haben und werden dieselben deshalb im Allgemeinen die Blindeu- Erziehungs- Anstalten weniger häufig aufsuchen. Dazu kommt noch, das? die Erblindungsgefahr gerade nach dem fünfzehnten Jahr eine sehr ge- ringe ist. Die genannten Momente bewirken es, dass in den Blinden- Erziehungs- Anstalten gerade die Jahrgänge vom fünfzehnten bis zwanzig- sten Jahre am schwächsten vertreten sind. Desshalb habe ich da, wo das Material gar zu lückenhaft war, von der Verwerthung desselben zur Konstruktion von Kurven Abstand genommen.

Unsere vorstehende Kurve zeigt, dass die Gefahr der sympathischen Ophthalmie eigentlich erst mit Abschluss des ersten Lebenslustnims eine bedeutendere wird und von da ab in ziemlich steilem Anstieg aufstrebt. Jenseits des zehnten Jahres zeigt unsere Kurve einen Ab- fall der wohl den Zufälligkeiten des numerisch beschränkten INIaterials zuzuschreiben ist, da diesem Abfall alsbald wieder ein Anstieg folgt.

Für die möglichst erfolgreiche Verhütung der Erblindung durch Ophthalmia sympathica traumatica dürften die beiden Momente von Wichtigkeit sein, dass einmal das jugendliche Alter der Entstehung der sympathischen Iridocyclitis einen gewissen Vorschub zu leisten scheint und dass ferner in 81,65 «/o aller unserer Fälle der Eintritt der Erblindung bereits ein Jahr nach der Verletzung eme un- abänderliche Thatsache geworden war. Im Hinblicke auf diese beiden Faktoren halte ich die konservativen Bestrebungen bei Augenverletz- ungen jugendlicher Individuen für durchaus unangebracht. Ist die Verletzung der Art, dass von einer Herstellmig des Sehvermögens nicht mehr die Kede sein kann, so sollte der Arzt, handelt es sich um jugendliche Patienten, unbedingt sofort zu Enucleation resp. Evisceration übergehen. Wohl weiss ich aus eigener Erfahrung, dass in der Praxis dieser mein Kath recht häufig den erheblichsten Schwierigkeiten begegnet. Die Eltern und Angehörigen der verletzten Kinder wollen von einer Entfernung des Auges nichts hören, auch wenn die Herstellung des Sehvermögens vollständig ausgeschlossen bleibt, ihnen sind die konservativen Heilprinzipien allemal viel zusagender als die operativen, doch darf uns dieser Umstand von der sofortigen Ent- fernung des verletzten Sehorgans nicht abhalten. Entschlagen wn- uns des Wunsches, das verletzte Auge zu erhalten, sobald wir uns von der dauernden Sehunfähigkeit desselben überzeugt haben, und greifen wir unter diesen Umständen sofort zur Scheere, so wird die grosse Quote, welche die sympathische Blindheit gerade in den ersten zwanzig Lebens-

III

jähren aufweist, bald auf ein Minimum herabgesunken sein. Denn mit dem Hinausschieben der Operation gefährden ^xh• ja nach den Er- fahrungen unseres Materials gerade bei jugendlichen Individuen das gesunde Auge in ganz besonders hohem Grade. Was kann es solchen Verhältnissen gegenüber da noch für Momente geben, welche der kon- servativen Therapie das Wort reden düi-ften?

§ 18. Die durch missglückte Augenoperationen liervorgerufene Blindheit

ist für die uns hier beschäftigende Altersperiode, wie dies ja auch nicht ' anders zu erwarten ist, eine numerisch höchst unbedeutende ; ihre Quote beti-ägt nur 0,16 °/o. In 3 Fällen führten Operationen eines Schicht- staares zui" doppelseitigen Erblindung imd in zwei anderen Fällen Schiel- operationen. Diese beiden letzteren sind in ihrer Art so selten und eigenartig, dass wir dieselben noch besonders hervorheben wollen. In dem einen dieser Fälle wurde eine doppelseitige Schieloperation vor- genommen und am Tage nach derselben aus Versehen zur Eeinigung der Augen ein mit blennorrhoischera Sekret infizirter Schwamm benützt. Im immittelbaren Anschluss an diese Prozedur trat Pauophthalmitis ein, welche mit einer vollständigen Phthisis beider Bulbi zum Ab- schluss kam.

Der zweite Fall ist dem soeben geschilderten ziemlich ähnlich. Hier trat ein oder zwei Tage nach einer doppelseitigen Tenotomie starke Eiterung ein unter gleichzeitigem Ausbruch von Scharlach. Woher bei diesem Patienten die Wundinfektion gekommen, ob vielleicht eine diph- theritische Entzündung als Komplikation des Scharlach aufgetreten sein mag, darüber lassen sich bestimmte Angaben nicht geben. Der Schluss- akt war auch in diesem Fall totale Phtisis beider Augäpfel.

Jedenfalls sind beide Fälle darnach angethan, die gleichzeitige Tenotomie beider Bulbi arg in Misskredit zu bringen.

Fünftes Kapitel.

Blindheit erzeugt durch Körpererkrankungen.

S 19 Die Stellung, welche die durch Körpererkrankungen bedingte Blindheitsgruppe zu den übrigen Gruppen der Jugendblindheit einnimmt,

haben w bereits in § 12 kurz berührt. Wir haben an jener Stelle darauf aufmerksam gemacht, dass in den ersten zwanzig Lebensjahi-en die Allgemeinerkrankungen, fassen wii" dieselben zu emer Gruppe zu- sammen, eine viel höhere Blindenquote entwerfen, als wie m den spateren Lebensperioden. Die Allgemeinerkrankungen bethätigen in den ersten beiden Lebensdecennien eine viel grössere Wirksamkeit als Blmdheits- erzeuger, wie dies in den späteren Lebensabschnitten der Fall ist Uas klinische Verständniss dieser Thatsache wird uns aus einer Beteachtmig der verschiedenen hier in Frage kommenden Erblindungsformen unschwer erwachsen. Im Allgemeinen zählen die ersten zwanzig Lebensjahre mehr AUgemeinerkrankungen, welche das Sehorgan in den Kreis ihrer pathologischen Thätigkeit ziehen, als die späteren Altersklassen^ Vor Allem sind es die akuten Exantheme, die Ski'ofolose und die Gehn-n- erki-ankungen. welche den Augen während der beiden ersten Lebens- decaden Gefahr bringen. Dem gegenüber kommen jenseits des zwanzig- sten Lebensjahres hauptsächlich nur die Erkrankungen des Gehirns und Rückenmarkes als Blindheitserzeuger in Betracht AUerdings entfalten die Erkrankungen der nervösen Centraiorgane nach dem z^^^nzlgsten Jahre eine recht bedeutende amaurotische Thätigkeit und steigert sich dieselbe sogar bei gewissen Krankheitsformen, z. B. der Tabes bis gegen tslüufzigste Jahi hin in recht schnellem Wachsthum,-) doch dürfen

'^^^^^^^ich. hierüber meine Untersuehuugeu der Breslauer Bliudcn. Archiv für Augenheilkunde. XIV. p. 416.

cerebralen Erkrankungen in reiclilicher ralle Erblincinngen liefern Und da nun ausser den Gehirnerkrankungen in den ersten zwei Decennien

hnm der Erbhndungsformen, d,e durch Allgcmeinerkrankungen ent-

"^a: Tas V h ^"'^ ^'rf--. A.' he ten

wd man das Verhaltmss, m welchem die verschiedenen Allgemein- erkranhmgen vor und nach dem zwanzigsten Jahre als ErblinTn" r r -mittelbaren Vergleich efs hen Th

und nl ''--^^Wedenen Allgemeinerkrankungen vor

schraffi , r ^•''^ "«'■eneinander gesteift Die

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zwanzigsten Lebensjahre an. Ich glaube diese Darstellung ist «„

t tr """""^ Bemerkungen nicht erfordern Lte

v:,:häLis Tr r°i'° -^^ d-

Verhaltn s, der cerebralen Amaurose. Nach unserer Tabelle ist die Quote dreser Blindheitsform nach dem zwanzigsten Jahr fas dleU

n.cht den Schluss ziehen, dass von Seiten des Gehirns in den etten wanzrg Jahren wnklich eine viel geringere Gefahr der Erblindung drohe ab spater; ein solcher Schlnss wäre irrthümlich. Das Verhältniss m welchem d,e cerebrale Amaurose vor und nach dem zwanl^ten Jahr m unserer Darstellung zu einander stehen, ist ledigliohT jL^ durch dre Beschaffenheit des Blindenmaterials. Das den e 't en £ Lebensjahren angehörende Material zeichnet sich durch eine grosse Mengf von BlmdhetWällen in Folge von Exanthemen und Skrofulosf au well

iauv::s:ef;°^"''^''"r' ™° ^™ ^^'^^

Anzahl von Blmdheitsformen emem Material zufliesst, dem anderen aber uK^ht so muss natürlich die Quote einer bestimmten BlindlSsfo™ welche m beiden Untersuchungsreihen vorkommt, durch diese Veri m'

Silken o'b T "Tf ^^'^ 0»^"«- anderer Pol n

smken, ohne denselben steigen. Es ist also der Stand der eerebrZ

Aniaurosecuote m unserer Tafel lediglich durch das Material zu erklät, Blil f ,t «>f »»Wiche Ausdruck der vom Gehirn droh ndTn Elndhe,t.,gefahr anzusehen, sondern nur als Ausdruck des Wer^W msses, m welchem er zu den anderen Blindheitsformen vo^ d .ac dem zwanzigsten Lebensjahre steht. Wenn wir die Erblindung gefahr. welche dem einzelnen Individuum in Wirklichkeit aus n^r

Magnas, Jugendblimlhoit.

114

Erkrankung droht, also hier aus den Gehirnerkrankungen kennen lernen wollen, so können wir zu dieser Kenntniss nur in der ^ eise

Intoxikation

Scrofuloso SypMlis

Wochonljett und Scli-wnngerschivtt

Exanthem

nicht bestimmt

Scharlach

Masern

Typhus

Pocken

Bindegewebe u. Haut

Uropoetisches System

Verdauungs- Organe

Gefäss-Systom

Bückenmark

Gehirn mit seinen Häuten

Tussis convulsiva

Intermittens Unbekannt

115

selbst auf die Gefahr hin, für viele meiner Leser etwas Selbstverständ- liches und darum Ueberflüssiges gesagt zu haben.

Die vorstehende Darstellung gibt also das Verhältniss wieder, in welchem die durch Allgemeinerkrankungen hervorgeinfenen Erblindungen zu einander stehen.

§ 20. Die einzelnen Formen der durch Allgemeinerkrankungen erzeugten Erblindungen.

Ihrem amaurotischen Werth nach gruppiren sich die AUgemein- «rkrankungen in folgender Weise:

Erkrankvmgen des GehuTis imter

1063

Fällen 262 mal

24,65

o/o

Scrofulose ,

>j

243

=

22,86

»

V anola

j>

22,58

l.»XUl UilXl

114

10,73

5)

Scarlatina

»

»

97

9,13

)J

Typhus

)>

)>

32

3,01

Syphilis

)i

)(

32

3,01

JJ

Exanthem imbekannter Natur

j>

>j

14

1,32

»

Tussis convulsiva

>>

4

0,38

Bleivergiftung

))

5)

2

0,19

»

Blutbrechen

))

»

2

0,19

)>

Morbus macidosus

»

1

0,10

lutermittens

))

))

1

0,10

>>

Cholera

j)

»

1 »

0,10

J>

Phlegmone orbitalis

))

!)

1 »

0,10

)>

Tabakvergiftung ,

»)

1 »

0,10

Unbekannte Allgemein-

erkrankung „

»

»

16

1,51

Wir wollen nun die einzelnen Erkrankungsformen in der Eeihen- ll folge, wie sie die vorstehende Tabelle zeigt, betrachten.

Gehirn mit seinen Häuten. Bei einer methodischen Unter- suchung von Blinden lassen sich zwar die schweren Folgen, welche Erkrankungen des nervösen Centraiorgans und seiner Hüllen für das Sehorgan haben, mit Sicherheit nachweisen, aber ein verlässlicher Rück- schluss auf die klinische Wesenheit der ursprünglichen Gehirnerkrank- ung ist aus dem Befund des erblindeten Auges allein nicht möglich. Die Blinden oder deren Angehörige geben wohl den Zeitpunkt der Er- krankung an, sie wissen auch mitzutheilen, dass das betreffende Individuum mit Krämpfen oder unter heftigem Kopfschmerz, Erbrechen, Lähmungen

8*

118

7 mal

u. dgl. m. erkrankt ist. Derai-tige Angaben enthalten fast alle unsere Protokolle, aber eine bestimmte Diaguosse ist aus solchen anaranestischen Nachrichten allein nicht zu gewinnen, und desshalb müssen wir auf eine aenaue klinische DifFerenzirung der verschiedenen cerebralen Krankheits-

prozesse verzichten.

AVas nun die unmittelbare Ursache der Erblindung anlangt, so werden in 238 Fällen darüber sichere Mittheilungen gegeben, während sie in 24 Fällen fehlen. Darnach hat die Gehirnerkrankung m 212 Fällen zu Atrophia nervi optici geführt und in 26 zu Iridochorioiditis ; auf die cerebrale Atrophie entfallen demnach 80,92 °/o, auf die cerebrale Iridochorioiditis nur 9,93 7o.

Die cerebrale Erkrankung hat in einer Eeihe von Fällen noch andere Körperorgane in ihren Kreis gezogen und fanden sich dement- sprechend an der Person des Blinden noch folgende Gebrechen:

Epileptiforme Anfälle ^^^^

Störungen des geistigen Lebens 7

Taubheit oder Schwerhörigkeit o ^>

Störungen des Geruches 3

Lähmungen einer ganzen Seite 3

eines Armes

der Beine

allgemeine Lähmung

des Sphincter vesicae

Chorea

Periodischer Kopfschmerz mit Erbrechen und profusem

Kopfschweisse

Taubstummheit ....

Ausser den genannten pathologischen Zuständen, deren genetische Beziehungen zu der Gehirnerkrankung wohl ziemlich klar auf der Hand liegen, wurden an den Blinden noch folgende Erscheinungen beobachtet: Glotzaugen . . . 3 mal Zwergwuchs . . . 1 » Wolfsrachen . . . 1 » Zur Vei-voUständigung des pathologischen Bildes wird es ferner auch beitragen, wenn wir die Nachrichten, welche über den Gesund- heitszustand der Eltern und Geschwister unserer Blmden noch vorhegen, mittheilen. Ueber die Gesundheitszustände der Eltern smd 5ma ^ ach- richten gegeben ; darnach war der Vater 1 mal ein Säufer ^ ^alschwadv sinnig, imal waren beide Eltern, und 1 mal nur die Mutter an Tubei- kulose gestorben.

1 1 l 1

1 1

117

LTeber die Geschwister fliessen die Mittheilimgen etwas reichlicher,

insofern hier 15 mal Erkrankungen derselben erwähnt werden und zwar;

Blindheit eines Bruders oder einer Schwester 6 mal

zweier Geschwister 3

Geistesschwäche 3

Krampfzustände 2

Tuberkulose i

)j

Die Gehirnerkrankungen liefern ferner nächst der Blennorrhoea neonatorum während der ersten zwanzig Lebensjahre die meisten Erblind- ungsfälle; ihre Blindheitsquote beträgt 8,187«. Ueber beide Geschlechter vertheilt sich die cerebrale A maurose in der Weise, dass das männliche Geschlecht viel stärker von ihr heimgesucht wird, als wie das weibliche, <ienn auf das erstere entfallen 9,96%, auf das letztere nur 5,19 "/o.

Unser Material gibt uns sodann noch genügenden Aufschluss über den Eintritt der Erblindung, resp. der Erkrankung, welche den Ver- lust des Sehvermögens bedingt hat. Doch reicht unser Material nur bis zum Abschluss des fiinfzehnten Lebensjahres; jenseits desselben wird es so lückenhaft, dass wir es zu einer statistischen Verwerthung nicht mehr fär geeignet erachten. Es steigt nach unseren Ermittelungen also die Quote der cerebralen Blindheit mit Beginn des zweiten Jahi-es steil an und erreicht zwischen viertem und eilftem Jahre die grösste Höhe, imi dann wieder etwas abzufallen. Die folgende Kui've wkd diese Verhältnisse klar zui- Anschauung bringen, vornehmlich wenn man die Gipfel derselben diu-ch eine Linie sich verbunden denkt. Diese Linie dürfle ungefähr das An- und Absteigen der Erblindungsgefahr der ein- zelnen Lebensjahre veranschaulichen.

Schliesslich wollen wir noch eines interessanten Punktes gedenken, nämlich der Schädelgestaltung der durch cerebrale Erkrankungen Er- blindeten. Im Ganzen werden 62 mal, d. h. also in 23,67 Miss- bildungen des Schädels erwähnt und zwar folgende Formen: Hydrocephalus mehr oder weniger ausgeprägt 27 mal

Thurmschädel 27

Mikrocephalus ^

Nicht näher definu-te Schädelform .... 7 Von besonderem Interesse ist die Komplikation der Sehnerven- atrophie mit Thurmschädel, und da gerade dieser Symptomen- komplex em im Ganzen noch wenig gekannter ist, so wollen wir den- selben emer genaueren Betrachtung unterziehen, i) Ich selbst bin dm-ch

')/'^*° vergleiche die Mittheiluugen, ^y eiche Hirschb er g auf Grund eigener Beobachtungen und gestützt auf die spärliche Kasuistik der einschlägigen Literatur

118

meine Blindenuutersuchungen auf diese Vereinigung von Thurraschädel mit Sehnervenatrophie schon seit längerer Zeit aufmerksam geworden und habe ich fünf derartige Fälle genau untersucht. In aUen fünfen fiel die staxke Ausdehnung des Schädels im vertikalen Durchmesser

Kurve der Erblindungsgefahr durch Gehirnerkrankung in den ersten 15 Lebensjahren.

Massstab: 5 mm = 1 %•

0

21%

Wo Wk-

13% 17% 16°lo

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WU 13% T2% 11%

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8°k 7%f 6

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^ g o ^ ü a 13 1* JJJahr

si .nl Iii 'lOM. iio 7;L >7l. «i. io^ wo o.'L^

Fig. 5.

„eten einer rundlichen Gestaltung der Schädelkapsel im AUgememe» Dabei machte sich eine Hahnenkamm ähnliche Erhöhung m de

CcDlMlblatt für pmkti.cho Aagenhe.lkMde. ».ebentei Jah.6»»g- Leipzig 1883.

119

Gegend der grossen Fontanelle in eigenartiger Weise bemerkbar. Der Sehnerv war in den von mir untersuchten Fällen stets hochgradig atrophisch, silberweiss mit scharf umschriebenen Kändern und mehr oder minder atro- phischen Gefässen. Das Sehvermögen war entweder völlig geschwunden, oder beschränkte sich auf quantitative Lichtempfindung. Die Protokolle meines Materials enthalten auch eine Anzahl einschlägiger Fälle und ergibt die Zusammenstellung dieser und meiner Beobachtungen folgendes Ergebniss.

Im Ganzen fanden sich unter 262 durch cerebrale Erkrankungen im ersten bis zwanzigsten Jahre Erblindeten 27 mal Thurmschädel d.h. also in 10,30 7o ; alle Fälle waren mit Sehnervenatrophie vergesellschaftet und zwar wird der Zustand des Sehnerven 2 mal als Atrophia ex neu- ritide und 25 mal schlechthin als Atrophia bezeichnet. Neben der Blind- heit waren an der Person des Blinden noch folgende pathologische Er- scheinungen nachweisbar:

Zwergwuchs .... Imal

Fehler des Geruchsinnes 2

Taubheit 1

Epileptiforme Anfälle . 2

Geistesstörungen . . . 1

Glotzaugen 2

Die Beschreibimgen des Schädels betonen hauptsächlich die auf- fallende Verlängerung des vertikalen Durchmessers ; 4 mal wird auf eine eigenthümliche kammartige Erhöhung in der Gegend der grossen Fon- tanelle aufmerksam gemacht.

Ueber Eltern und Geschwister konnte ich nur 2 mal genaue Nach- richten erhalten. In dem einen Fall waren beide Eltern tuberkulös und in dem anderen Fall hatte ein Bruder genau dieselbe Kombination von Sehnervenatrophie mit Thurmschädel. Dieser letztere Fall erscheint mir von ganz besonderem Interesse, da er die Möglichkeit, den fi-ag- ll liehen Symptomenkomplex auf gewisse angeborene ätiologische Momente zurückführen zu können, eröffnet. Herr Medicinalrath Prof. Dr. Fonßck hierselbst hat jüngst seine Beobachtungen, welche er bei der Sektion eines mit Sehnervenatrophie und Thurmschädel behafteten Knaben gemacht hat, in einem Vortrag mitgetheilt und aus seinen Aeusserungen geht hervor, dass als das Primäre des gesammten Symptomenkomplexes vielleicht gewisse Störungen in der Entwicklung der Schädelkapsel an- gesehen werden könnten. Diese Anschauung gewinnt au Bedeutung, wenn wir hören, dass, wie es unser Material einmal ergibt, mehrere Kinder einer Familie Thurmschädel und Atrophie haben. Die Vor-

120

Stellung, class in solchen Fällen gewisse kongenitale Störungen an der Entwicklung des Kopfskelettes wirksam sind, ist dann sehr naheliegend.

Nun noch einige Bemerkungen über besondere, das Auftreten der mit Thurmschädel komplizirten Blindheit begleitende Erscheinuugen, soAvie über die Entstehungszeit derselben. In 7 Fällen wird mit Be- stimmtheit angegeben, dass schwere Konvulsionen der Entwicklung der Blindheit vorausgegangen Avären. Die Entstehungszeit der totalen Blind- heit wird in 25 Fällen in folgende Lebensjahre verlegt: In die frühesten Lebensabschnitte 5 mal

In das zweite Lebensjahr dritte vierte fünfte siebente neunte eilfte

3 2

7 4 2 1 1

Als die vorliegende Arbeit bereits unter der Presse sich befand, hatte ich Gelegenheit, in der Poliklinik einen neuen Fall von Thurm- schädel mit Atrophia nervi optici zu sehen. Es handelte sich hier um ein 2j ähriges Mädchen, welches bis gegen Ende des ersten Jahres ganz gesund gewesen sein sollte. Bei den ersten Spielversuchen des Kindes hatte die Mutter eine auffallende Sehschwäche des Kindchens bemerkt ; dasselbe konnte das Spielzeug nicht finden, tastete nach demselben wie ein Blinder. Bei der ophthalmoskopischen Untersuchung erschien der Sehnervenquer- schnitt graulich weiss und mit nicht ganz scharfen Umrissen; doch war diese letztere Erscheinung kaum merklich angedeutet. Die Netzhautvenen waren normal, die Arterien vielleicht etwas dünner wie gewöhnlich. Dabei prominirten die Augen ganz auffällig und zeigten einen sehr ausgeprägten Strabismus divergens. Der Schädel war in der vertikalen Achse sehr bedeutend verlängert und die Gegend der grossen Fontanelle dm-ch eine deutlich ausgeprägte hahnenkammartige Erhöhung gekenn- zeichnet. Die Eltern der Patientin schienen, soweit ich dies überhaupt feststellen konnte, gesund zu sein und hatten dieselben ausser der mir vorgestellten Kranken noch einen älteren gesunden Knaben.

Skrofulöse folgt in der amaurotischen Rangordnung der Allgemem- erkrankungen mit 22,86 °/o unmittelbar auf die cerebrale Blindheit. Der pathologische Prozess, mittelst dessen die Erblindmig bei skrofulösem All- gemeinleiden erzeugt wird, spielt sich in der Mehrzahl der Fälle in der Cornea ab, und nur vereinzelt im Uvealtraktus. Nach unserem Material ist die Cornea für die Erblindung 231 mal, d.h. also in 95,06 "/o und

121

der Uvealtraktus nur 12 mal, d.h. in 4,93 "/o verantwortlich zu machen. Von Wichtigkeit wäre sodann noch zu ermitteln, ob Stadt oder Land einen

Kurve der Erblindungsgefahr durch Skrofulöse in den ersten

16 Lebensjahren.

Massstab: 5mm = 1 °/„.

Fig. 6.

grösseren Prozentsatz zur Skrofuloseblindheit beisteuert. Wir wollen diese Frage wieder an der Hand unseres deutscheu Materials untersuchen, wie

122

wir dies bereits bei Gelegenheit der Blennorrhoe') gethan haben. Im Ganzen beherbergten die deutschen Blinden - Anstalten zur Zeit unserer Unter- suchung 110 Skrofuloseblinde, von denen der Ort der Erblindung bekannt war, und davon waren 50 in der Stadt, d. h. 45,46 °/« und 60 auf dem Lande, d. h. 54,55 »/o erblindet. Nach den offiziellen statistischen Mittheilungen wohnen nun im deutschen Reich etwa /s aller Einwohner in Orten mit mehr und «/s in Orten mit weniger als 2000 Einwohnern. Rechnen wir nun die ersteren als Stadt- und die letzteren als Landbewohner, so müssten von unseren deutschen Skrofuloseblinden '^1 d. h. 44 = 40,00 «/o auf die Stadt und 66 = 60 00 «/ auf das Land entfallen. In Wirklichkeit entwirft unser Material aber 4546 0/0 Skrofuloseblinde für die Stadt und 54,55 °/o für das Land Es wäre hiernach also für die Stadt die Skrofulosequote etwas gi-össer, als sie thatsächlich sein sollte. Und dieser Unterschied dürfte in Wirklichkeit noch wachsen, wenn wir erwägen, dass die Landbevölkerung wohl doch mehr als wie 'I , der Gesammtbevölkerung ausmacht

Ein erheblicher Unterschied in der Belastung der beiden Geschlechter mit der Skrofulose-Amaurose ist nicht vorhanden; denn auf das mann- liche Geschlecht entfallen 7,07 «/„ und auf das weibliche 8 45 /o. Im Uebrigen nimmt die Skrofulöse mit 7,58 '7o den di-itten Rang unter allen Formen der Jugendblindheit ein.

Ueber die einzelnen Lebensjahre vertheilt sich die Erblindung durch Skrofulöse in der Weise, dass mit deüi zweiten Jahr die _ SkroMose- quote rasch wächst und dann bis zum fünfzehnten Jahr sich ziemhch hoch erhält. Sehen wir von den Zufallschwankungen ab und verbinden wir die höchsten Gipfelpunkte der Kurve durch eine Grade so durfte diese wohl ungefähr den Verfauf der Erblindungsquote dm-ch Skrofulöse in den ersten fünfzehn Lebensjahren wiedergeben.

Variola Die durch Pocken bedingten Blindheitsfälle zeigen, in unserem Material wenigstens, eine dreifache Erblindungsmöglichkeit, insofern die sekundäre Augenerki-ankung avif der Hornhaut, m dem Aderhauttraktus oder in den nervösen Organen des Sehorganes sich entwickelt; und zwar verhalten sich diese 3 Formen der Erblmdung m der Weise dass entfallen: auf die Cornea 96,66 «/«, auf den Uveal- traktus 2,50 °/o und auf den nervösen Apparat 0,83"/,. Die Erkrank- ungen de^ nervösen Apparates haben mu- in zwei Fällen nach Variola Blindheit erzeugt und beide male zeigte sich der Nervus opticus b. der späteren Untersuchung als total atrophisch. Der eme dieser Falle ist

•) Man vergleiche Seite 76—78 dieser Arbeit.

123

durch Beigabe der Krankengeschichte vervollständigt. Es handelte sieb hier um ein neunzehnjähriges Mädchen, welches im Gefolge von Variola plötzlich erblindete imd sich bei der späteren Blindenuntersuchung als imheilbar blind durch Sehnerven atrophie zeigte. Dieser Fall wird in seinen pathologischen Bedingungen durch eine in der neuesten Zeit von Riedl^) mitgetheilte Beobachtung verständlich gemacht. Riedl sah eine junge an Variola hämorrhagica erkrankte Frau plötzlich erblinden und ergab die Nekropsie retrobulbäre Neuritis. Aehnliche Beobachtungen sind auch bereits früher von anderen Autoren mitgetheilt worden; so gedenkt z. B. Zülzer'^) der im Gefolge von hämorrhagischen Pocken anfti-etenden plötzlichen Erblindungen.

Die klinischen Erscheinungen in Cornea und Uvealtraktus sind durch die Arbeiten von Landesberg ^ Adler, Manz, Coccius^) u. A. so genau beschrieben worden, dass wir unter Hinweis auf die Literatur von einer weiteren Betrachtung dieses Punktes Abstand nehmen, um uns mit der viel wichtigeren Frage zu beschäftigen: welchen Einflus» die Impfimg auf das Zustandekommen der Erblindung ausübt.

Dass mit Einführung der Pockenimpfung die Zahl der Blinden erheblich abgenommen habe, ist eine Thatsache, welche von den ver- schiedensten Autoren wiederholt betont worden ist. So sollen z. B. nach den Angaben von Carron de Vülars vor der Vaccination in Frankreich 35 "/q aller Blinden durch Variola erblindet sein, nach Ein- führung derselben aber nur noch 7 "/q.* j Auch Hirschberg ^) hat in neuerer Zeit wieder auf die Abnahme der Pockenblindheit mit Ein- führung der Vaccination hingewiesen. Ich habe mir nun ganz besonders angelegen sein lassen, die Beziehungen, welche zwischen der Höhe der * Variola - Amaurosequote und der Vaccination bestehen, klar zu legen. Unser Material von 240 Variolablinden ergibt zuvörderst Folgendes:

') Riedl, Ein Fall von plötzlicher Erblindung durch Variola. Wiener med. Presse 1885. Nr. 11.

») Zülzer, Beiträge zur Pathologie und Therapie der Variola. Berliner klinische Wochenschrift 1872. Nr. 51 und 52.

') Man sehe ein: Jahr eshe rieht über die Leistungen und Fort- schritte im Gebiete der Ophthalmologie. Zweiter Jahrgang. Tübingen 1873, und: Vierter Jahrgang. Tübingen 1875.

*) Man vergleiche die schon wiederholt citirten Arbeiten von Dumonf, Fuchs und mir.

') HirseJiberg, Ueber die variolöso Ophthalmie. Berliner klinische Wochenschrift 1871. Nr. 24.

124

Von 240 Pockenblinden

sind geimpft mit Erfolg 24 = 10,00 "/„

zweifelhaftem Erfolg 7 = 2,92

ohne Erfolg 16 = 6,67

brach unmittelbar nach der Impfung Variola aus bei 2 = 0,84

sind nicht geimpft 140 = 58,34

fehlen Mittheilungen über die Impfung bei . . . 51 = 21,25

Die vorliegende Zusammenstellung lehrt also, dass bei mehr als der Hälfte aller Pockenblinden die Impfung nicht vorgenommen worden Avar und dass nur in 10 "/o die erfolgreiche Impfung einen Schutz gegen die Erblindung nicht gewährt hatte. So wichtig es nun auch gerade wäre, diese nach erfolgreicher Impfung eingetretenen Erblindungsfälle «,uf das Genaueste zu untersuchen, so bietet doch unser Material dazu keinen Stoff und vermag ich desshalb über diese Fälle auch weiter keinen Aufschluss zu geben.

Den klarsten Einblick in die Beziehungen, welche zwischen der Höhe der Variolablindheitsquote und der Vaccination bestehen, werden wir unbedingt dann gewinnen, wenn wir den Gehalt an Pockenblind- lieit in den Anstalten der verschiedenen europäischen Länder ermitteln und die gewonnenen Zahlen mit den daselbst herrschenden Impfgesetzen vergleichen. Ich habe nun eine derartige Zusammenstellung in der folgenden Tabelle versucht:

Länder mit Impfzwang.

In den Blindenanstalten finden sich Pockenblinde in Deutschland .... 3,45%

England 1>63

Dänemark .... 0,43

Länder ohne Impfzwang. In den Blindenanstalten finden sich Pockenblinde

in Holland 6,95%

Belgien 10,48

Spanien 10,85

Italien 11.53

Oesterreich-Ungarn . . 21,06 Ein Vergleich zwschen diesen beiden Abtheilungen zeigt, dass w den Ländern i), welche gesetzlichen Impfzwang haben, die Pockenblind-

>) In unserer graphischen Darstellung XII ist auch noch Frankreich, Nor- wegen, Schweden vertreten; allein von einer allgemeineren Verwerthung der be;

125

heit in den Blinden-Anstalteu einen verschwindend kleinen Prozentsatz beansprucht, während in den Ländern, welche keine obligatorische Vaccination besitzen, die Pockenblindheit in den Anstalten bis zu ganz erstaunlich hohen Prozentsätzen steigt ; so ist z. B. in den Blinden- Anstalten Oesterreich - Ungarns die Pockenblindheit mit einem höheren Prozentsatz vertreten, als selbst die Blennorrhoea neonatorum. Der Umstand, dass die Länder ohne Impfzwang so verschiedene Quoten der Pockenblindheit zeigen, kann bei genauerer Ueberlegung kaum befremdend erscheinen. Die Impfgesetze in den verschiedenen Ländern ^) smd ja doch sehr von einander abweichend; in einzelnen Ländern übt die Regierung einen grösseren Druck auf die Bevölkerung bezüg- lich der Vaccination aus, als in anderen. In gewissen Ländern wieder Avird auch ohne Impfzwang die Impfung ziemlich allgemein betrieben, in anderen wieder nicht. Diese Umstände müssen aber alle un- bedingt in der Pockenblindheitsquote sich verrathen. Und sie thun dies auch; so macht z. B. Pfeiffer') darauf aufmerksam, dass in Belgien und Holland zwar 'kein Impfzwang bestehe, aber doch die Impfung gut gehaudhabt werde. Theoretisch würde man aus diesem Umstand auf eine nicht hohe Pockenblindheitsquote in den Blinden - Anstalten der genannten Ländern schliessen und unser Material bestätigt diesen Schluss ; ein Blick auf die vorstehende Tabelle und auf Tafel XII zeigt,, dass Holland und Belgien unter den Ländern ohne Impfzwang die ge- ringste Quote haben. In.Spanien, welches in unserer Tabelle die dritt- kleinste Pockenblindheitsquote besitzt, herrscht, wie mir mein Freund Professor Carreras-Aragö schreibt, ein indii-ekter Impfzwang, insofern zur Auftiahme in die Schule ein Nachweis über die erfolgte Impfung erforderlich ist.

Auf Tafel XII sind noch die Schweiz mit 2,73 7o imd Russland mit 1 7,60 "/o Pockenblindheit verzeichnet, beides Länder, in denen Impf- zwang besteht. Wenn wn- aber trotz des daselbst bestehenden Impf-

diesen Ländern genannten Zahlen glaubten wir deshalb Abstand nehmen zu müssen, weil sich dieselben nur je auf eine Anstalt stützen. Bei den prozen- tuahschen Verhältnissen einer Anstalt ist aber die Möglichkeit des Zufalls ein& so grosse, dass von einer Verallgemeinerung gar nicht die Rede sein kann.

') Man vergleiche- die Mittheilungen, welche über die Impfgesetze der ver- schiedenen Länder gemacht sind in-: Veröffentlichungen des kaiser- lichen Gesundheitsamtes IX. Jahrgang. 1885. Nr. 11—21.

') Pfeiffer, Di e Vaccination, ihre experimentellen 'und erfah- rungsgemUsscn Grundlagen und ihre Technik mit besonderer Be- rücksichtigung der animalen Vaccination. Tübingen 1884. p. 158.

126

zNvanges die beiden Länder doch nicht in unsere Tabelle aufgenommen und den anderen Ländern mit Impfzwang angereiht haben, so geschah dies aus folgenden Gründen. In der Schweiz sind die Impf Verhältnisse ziemlich verwickelter Natur; in einzelnen Kantonen ist Impfzwang, m anderen nicht und in noch anderen ist erst vor kurzem der Impfzwang aufgehoben worden. Da nun unser Material nicht vollständigen Auf- schluss darüber gibt, ob die einzelnen Individuen Kantonen mit oder ohne Impfzwang angehören, so konnten wir die für die Schweiz berech- nete Quote eben nicht zu allgemeinen Betrachtungen verwerthen.

Bezüglich Russlands liegen die Verhältnisse gleichfalls recht eigen- thümlich. In diesem Land ist Impfzwang, aber bei den eigenartigen Zuständen dieses Reiches, seiner grossen räumlichen Ausdehnung, semer dünn gesäeten Bevölkerung kann der Impfzwang nicht in der gewünschten Weise durchgeführt werden, wenigstens nicht mit Hülfe der Aerzte. Herr College Dohrowolsky schreibt mir aus Petersburg, dass für die Aus- fühi'ung derVaccination auf dem Lande aus Mangel an Aerzt«n Laien herangezogen werden müssten. Dieser Umstand lässt den Segen des Impfzwanges für Russland denn doch nicht in der gewünschten ^ eise 2ur Geltimg gelangen, denn die Ausführung der Impfung ist nun em- mal nicht ein Geschäft, welches Laienhänden ohne Weiteres übertragen werden darf Pfeiffer^) sagt deshalb auch, dass in Russland trotz des Impfzwanges das Impfwesen nur mangelhaft betrieben werde. Da nun das Gesetz an sich noch keinen Schutz gewährt, sondern immer ^st die richtige Handhabung desselben, so kann es uns weiter nicht Wunder nehmen, wenn die russischen Blindenanstalten einen so hohen Prozent- satz an Pockenblinden besitzen.

Jedenfalls beweisen unsere Zusammenstellungen, dass in den Län- dern mit und ohne Impfzwang ein ganz bedeutender Unterschied m der Zahl der Pockenblinden-Anstalts-Zöglinge vorhanden ist. Angesichte solcher Thatsachen aber, wie sie unser Material zu Tage gefördert hat kann für- den Opthalmologen wohl kaum noch der gelmdeste Zweifel darüber bestehen, auf welche Seite er sich im Kampf um die Vacci- nation zu stellen habe. Der Ophthalmologe kann und darf nrn- em unbedingter Anhänger des Impfzwanges sein und wir müssen Fuchs ) deshalb aus vollster Seele beistimmen, wenn er die Nothwend.gkeit des Impfzwanges so lebhaft betont. Dass die Impfgesetzgebung, betrachten

;j Fuöhsjie Vrs.c^o und die Verhütung der Blindheit u. s. w.

pag. 88.

127

wir speciell nur die deutscheu Verhältnisse, der Verbesserung fähig, ja sogar recht bedürftig sein kann, ist eine Frage, welche ausserhalb des Rahmens unserer Untersuchung liegt. Uns kommt es an dieser Stelle lediglich nur darauf an, die absolute und unerlässliche Nothwendigkeit des Impfzwanges auf das Energischste zu betonen und auf das Ein- diinglichste auf die Lehren hinzuweisen, welche die Ophthalmologie über den Erfolg imd die Bedeutung des Impfzwanges verkünden rauss. Da wir nicht gesonnen sind, uns in den Streit, welcher im Augenblick immer noch um den Impfzwang tobt, tiefer einzulassen, als es unsere Blindheitsstudien gebieten, so könnten wir eigentlich es bei dem Ge- sagten bewenden lassen. Wir wollen aber doch noch einer erst vor Km-zem erschienenen Arbeit gedenken, welche Dr. Lorinser ^) in Wien gegen den Impfzwang gerichtet hat. Dieser Autor sucht die günstigen Verhältnisse, welche gerade bezüglich der Pockenerkrankungen in Deutsch- land herrschen, dadurch zu erklären, dass er meint, die epidemische Verbreitung der Diphtheritis in Deutschland schliesse bis zu einem ge- wissen Grade die Pocken aus. Nun wir hätten Herrn Kollegen Lorinser ganz gewiss in seinen wissenschaftlichen Anschauungen ebensowenig gestört, wie wir dies den anderen Impfgegnern gegenüber auch nicht für unsere Aufgabe erachten. Wenn aber Lorinser des Weiteren sich zu folgenden Aeusserungen versteigt : „Es scheint der Gesundheitszustand in Wien trotz des Mangels der Zwangsimpfung immer noch viel besser und beneidenswerther als der von Berlin, wo die Blatternfälle nur des- halb viel seltener sind, weil die Diphtheritisepidemie die herrschende Rolle spielt" und „Gegenüber den grossen unerbittlichen Naturgesetzen, nach denen Epidemieen kommen und verschwinden, erscheint somit die Impfung und der Impfzwang als eine müssige Spielerei, mit welcher sich ängstliche Gemüther beruhigen und täuschen lassen", so halten wir es solchen Aussprüchen gegenüber doch für unsere Pflicht, auf das Nachdrücklichste auf die Lehren , welche uns das Studium der Blind- heit gibt, hinzuweisen. Kollege Lorinser hätte vielleicht weniger zu- versichtlich die sanitären Verhältnisse seiner Heimath als besonders beneidenswerth hingestellt, wenn er gewusst hätte, dass Oesterreich unter allen europäischen Ländern die grösste Quote der Pockenblindheit in seinen Blindenanstalten zählt. Und vielleicht hätte Herr Lorinser des Weiteren auch den Impfzwang nicht eine „müssige Spielerei" genannt, wenn er gewusst hätte, dass gerade diejenigen Länder, welche Impf- zwang besitzen, in der beneidenswerthen Lage sind, in ihren Blinden-

') Lorinser, Gegen den Impfzwang. Wiener medicinische Wochen- schrift. 1885. Nr. 49. p. 1512.

128

Anstalten eine verschwindend kleine Zahl von Pockenblinden zu be- herbergen.

Kurve der Erblindungsgefahr durch Pocken in den ersten

15 Lebensjahren.

22%

20".

J7'

M 13%

JO'.

3\ 8% 7% 6'

3% 1%

Ii. 6%

iO 11 ja J3 it liSJdltr 2?%

71%

20%

19%

17%

16%

ß'-o

11%

9% 7%

S% 4%

3% 2%

\o%

I 2 3 -t 5 ff 7 S 9 W Ji^ 1^ Jl, ^* J^^°^ 3jß mss mJ 2g<g H,n S.m J-t*2 12^ 8.00 8.00 Tncac ^jos^rmat G.ts'mna.

Fig. 7.

Jedenfalls wird man in dem weiteren Streit um den Impfzwang von jetzt an das Studium der Blindlieitsverhältnisse mehr heranziehen müssen, als bisher, wo. man gerade diese so wichtigen Verhältnisse so gut wie ganz vernachlässigt hat. Besonders wünschenswerth wäxe es, wenn man planmässige Blindeuuntersuchungen grösserer Gebiete, etwa von Provinzen, vornehmen wollte, denn gerade durch solche Unter-

129

suchuDgen würden unsere Kenntnisse über die auf en- und epidemischen Erkrankungen beruhenden Erblindungsformen in hohem Grade gefördert werden.

Die Thatsache, dass die Quote der Pockenblindheit in den ver- schiedenen europäischen Ländern so ausgedehnte Schwankungen auf- Aveist, werden wir nicht aus den Augen verlieren dürfen; sie lehrt uns, dass die Quote von 22,58 7n , welche die Pockenerblindung unter den Allgememerkrankungen unseres Materials i) besitzt und die von 7,49 "U welche ihr im Gebiet der Jugendblindheit überhaupt zufällt,^) nur als em ganz allgemeiner numerischer Werth angesehen werden' darf, ein Werth, der nur dann Gültigkeit hat, wenn man die Jugendblindheit im Allgemeinen betrachtet, ohne Rücksicht aui die Abstammung der Bünden. Die genannten Quoten unseres Materials haben, wenn wir so sagen dürfen, eine internationale Bedeutung, welche dann erst wieder für die emzelnen Länder einer besonderen Richtigstellung bedürfen.

Ueber beide Geschlechter vertheilt sich die Pockenblindheit an- nähernd in der gleichen Weise.

Schliesslich möchten wir noch der Verbreitung der Poeken blindheit über die verschiedenen Altersklassen unseres Materials gedenken. Darnach tritt die grösste Anzahl der Pockenerblindungen zwischen dem zweiten und achten Lebensjahr ein, und nimmt von da an ziemlich rasch ab; die vorstehende Kurve bringt diese Verhältnisse graphisch zur Darstellung.

Morbilli nehmen unter den Allgemeinerkrankungen den vierten Rang der Blindheitserzeuger mit 10,73 "/o ein, während ihr amaurotischer Werth für die Jugendblindheit im Allgemeinen nur 3,56 7o beträgt.

Die Erblindung trat ein entweder durch Zerstörung der Cornea in 82,45 7o sämmtlicher Fälle, oder dm-ch Erkrankungen des Uvealtraktus in 3,50 Vo oder endlich durch Erkrankungen des Nervus opticus in 8,77 7o, 3) welche mit Atrophia nervi optici endigten. Der Ausbruch einer Meningitis scheint das Mittelglied zwischen dem Exanthem und der Erkrankung des Sehnerven wohl in den meisten Fällen zu bilden, wie dies z.B. von den AmchNagel^) beschriebenen Fällen gilt. Unter Umständen kann das Exanthem auch zum Ausbruch einer Tuberkulose, resp. einer tuberkulösen Meningitis Veranlassung geben, welche dann

') Man vergleiche Seite 115 dieser Arbeit. *) Man vergleiche Seite 13 dieser Arbeit.

') In 5,26 7„ fehlen die näheren Angaben über die unmittelbare Ursache der Blindheit.

*) Nagel, Die Behandlung der Amaurosen und Amblyopien mit »trychnin. Tübingen 1871. p. 54.

Magnus, Jugendblindheit. g

130

wieder Blindheit bedingt. Einen solchen Fall habe ich bis zum Tode beobachten und durch die Sektion erhärten können. Es handelte sich hier um einen bis dahin gesunden dreijährigen Knaben, welcher an

Kurve der ErLlindungsgefahr durcli Maseru in den ersten

15 Lebensjahren.

Massstal): 8 mm = 1 "/»•

schweren Masern erlrankte. Einige Zeit nach Ucbcrstehen des Exan-

bemerkte die Mutter eine Dnbchülflichkeit in den Bern n KMcs welche sie aber als Schwächezustände in Folge der schweren MTstmalah, als aber zu diesen Störungen des Gehens s.ch Sch.clen

131

(Strabismus convergens sinister), Sehbeschwerden und eine leichte Ptosis rechts gesellten, brachte die Mutter den kleinen Patienten zu mir. Ich konnte jetzt ausser den bereits genannten Erscheinungen noch eine beiderseitige Neuritis konstatu:en. Der Fall verlief unter meinen Augen ziemlich rasch. Es entwickelte sich totale Ptosis des rechten Auges, Lähmung sämmtlicher Aeste des Oculomotorius auf beiden Augen, Imks ausserdem noch Abducenslähmung. Die Neuritis ging allmählich in Aü-ophie über und schliesslich ti-aten auch noch Lähmungserscheinungen der linken oberen Extremität auf. Nach etwa 6 Monaten von der ersten Vorstellung bei mir gerechnet war absolute Atrophia optica vorhanden. Das Kind stai-b schliesslich und die Sektion ergab eine tuberkulöse Meningitis.

Die Erblindung kann übrigens auch noch auf Grund einer andern Komplikation erfolgen, nämlich durch Diphtheritis. Unter unserm Material von 114 Masernblinden finden sich 3 derartige Fälle, d. h. also 2,63 7o.

Eine Bevorzugung des Geschlechtes lässt sich bei der Masernblind- heit nicht nachweisen.

Ueber die einzelnen Lebensalter vertheilt sich die Erblindimg durch Masern in der Weise, dass mit dem zweiten Lebensjahr bereits eine beträchtliche Steigerung der Erblindungsgefahr eintritt, welche bis gegen das vierte Jahr hin anhält und dann allmählich abfällt, wie dies die vorstehende Kurve darstellt.

S Carlatina nimmt unter den Allgemeinerkrankungen die fünfte Stelle als Blindheitsursache ein mit 9,13 'U. Für die Jugendblindheit im Allgemeinen beansprucht Scharlach 3,03 7o. Die zur Erblindung führenden pathologischen Vorgänge sind zu suchen in der Cornea, dem Aderhauttraktus und dem Nervus opticus; und zwar entfallen') auf die Hornhaut 83,50 7», auf Iris und Chorioidea 9,27 7o und auf den Sehnerv 6,16 7o. Besonders hervorzuheben ist noch die Komplikation mit Diphtheritis; aus ihr ging in 11 Fällen, d. h. in 11,34 totale Amaurose hervor.

Mädchen und Knaben betheUigen sich in der gleichen Weise an der Scharlachblindheit.

Ueber die einzelnen Lebensalter vertheilt sich die Scarlatinaamaui-ose in der Weise, dass das Maximum zwischen das dritte und achte bis zehnte Jahr fällt; nachher findet ein ziemlich schneller Abfall der Er- blindungsgefahr statt.

*) In 1,03 7„ fehlen die nälieieu Angaben.

9*

132

Typhus steuert zu der Jugeudblindheit im Allgemeinen nur 1,00 "/o und unter den Körperkrankheiten nimmt er mit 3,01 "/„ den sechsten Platz ein. Während bei den anderen akuten Exanthemen die Zerstörungen der Cornea, mochten dieselben nun primär in der Hornhaut oder sekundär durch blennorrhoische oder diphtheritische Prozesse der Konjunktiva entstehen, weitaus die Mehrzahl der Erblindungen lieferten, liegen die Verhältnisse beim Typhus etwas anders. Hier entfallen auf die Cornea nur 46,56 "/o, während auf den Sehnerven 28,12 'Vo und auf die Iris und Aderhaut 18,88 "/o kommen.

Die Vertheilung der Typhusblindheit über beide Geschlechter er- folgt in der gleichen Weise.

In dreien unserer Fälle entwickelte sich zugleich mit der Blindheit auch noch Taubheit, resp. Schwerhörigkeit.

Syphilis betheiligt sich an der Jugendblindheit nm- mit 1 Vo und zwar vertheilen sich die Fälle in der Weise, dass kommen auf: Sehnerv und Retina 18,75 7o Aderhaut. . . . 31,25"/» Cornea .... 18,75,, Unbekannt . . . 31,25,,

Mit Bestimmtheit konnte in 53 "U aller unserer Fälle die Syphilis als eine hereditäre erkannt werden; für den Rest waren sichere Nach- richten über den Gesundheitszustand der Erzeuger nicht zu erhalten.

Besonders bemerkenswerth ist eine Beobachtung, in welcher zwei Töchter eines syphilitischen Vaters beide dm-chlridochorioiditis erblindeten.

T u s s i s c 0 n V ul s i v a ist nur mit 4 Erblindungsfällen in unserem Material vertreten und zwar werden in zweien derselben Vereiteining der Hornhäute und in den zwei anderen Atrophie der Sehnerven als Blindheitsursache bezeichnet. Diese letzteren Fälle erfahren eme Be- stätigung durch die jüngst veröflfentlichte Beobachtung von Callan } der gleichfalls Atrophie des Opticus durch Keuchhusten entstehen sah. Nach der Anschauung dieses Autors soll eine durch Gehirnkongestion bewirkte Neuritis in den fraglichen Fällen das Bindeglied zwischen Keuchhusten und Blindheit darstellen.

Atrophie nach Blutungen finden wir in unserem Material zweimal. In dem einen Fall erblindete ein neunzehnjähriges Mädchen nach heftigem Blutbrechen ganz akut und in dem andern Fall handelte es sich um ein dreizehnjähriges Mädchen, welches zuerst profuses Nasen- bluten, alsdann mehreremale Haeraatemesis hatte und zwei Tage nach

n In 6.28 7„ fehlen die nilheren Angaben.

^) Ca?/a«, Atrophie beider Sehnerven in Folge von Keuch- husten. Amer. Journ. of Ophth. 1884. October.

133

der letzten Blutung erblindete. In diesem letzten Fall trat auch noch eine Lähmung der ganzen rechten Seite hinzu, welche dauernd blieb.

Intermittens und Cholera sind je mit einem Fall vertreten und zwar wird bei der erstereu Erkrankung Nem-itis, bei der Cholera Iridochorioiditis als Blindheitsursache angegeben.

Morbus maculosus führte einmal durch Blutergüsse in den Olaskörper zur Erblindung.

Phlegmone des orbitalen Zellgewebes führte in einem Fall zur Sehnervenatrophie. Es scheint sich hierbei um eine Infektion von der Lippe ausgehend gehandelt zu haben.

Bleivergiftung liefert zwei Fälle; beide betreffen Personen, welche im siebenzehnten resp. neunzehnten Jahr in Folge ihrer Berufs- thätigkeit als Maler erblindeten. Atrophie des Opticus wird beide Male als nächste Ursache der Amaurose angegeben.

Sechstes Kapitel.

Die Atrophia nervi optici in den ersten zwanzig

Lebensjahren.

Die ätiologischen Momente , welche im Laufe der ersten zwanzig Lebensjahre zur Entwickelung der Atrophie des Sehnerven Veranlassung geben können, sind recht zahlreich. In den verschiedensten Gruppen und bei den verschiedensten Formen der Jugendblindheit sind wir als Ursache des Erblindens der Atrophia nei-vi optici begegnet. Für einen vollständigen Ueberblick über alle Formen der Sehnervenatrophie, wie sie unser Material enthält, dürfte desshalb eine ZusammensteUung aUer von uns gesammelten Fälle sehr empfehlenswerth sein. Im Ganzen enthält unser Material unter 3204 Fällen doppelseitiger, während der ersten zwanzig Jahre entstandener Erblindungen 470 Sehnervenatrophien,

d. h. also 14,66ö/o. . ,

Es gruppiren sich nun diese unsere 470 Fälle ihrem prozentai-ischen

Werth nach in folgender Weise: ^ Cerebrale Sehnervenatrophie 45,10 °/o

Kongenitale "

Genuine einfache progressive Sehnervenatrophie . 12,55

Sehnervenatrophie nach Kopfverletzungen . . 5,53

Masern 2,12

Typhus 1,91 »

Scharlach 1,27

Syphilis 1,27

Papillitis 0.85

Pocken 0,63

Blutungen 0.42

Keuchhusten .... 0,42

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135

Sehnervenatrophie nach Bleiintoxikation . . . 0,42 "/„

Tabakintoxikatiou . . 0,21

Phlegmone der Orbita . 0,21

Intennittens .... 0,21

aus unbekannter Ursache . 2,76

Es sei uns nun noch gestattet, dieser unserer Reihe von Sehnerven- atrophien eine andere Reihe gegenüberzustellen , deren Entwickelung vorwiegend jenseits des zwanzigsten Lebensjahres liegt. Uldhojf^) und Büueiiein -) haben Zusammenstellungen von Sehnervenatrophien geliefert, welche zwar nicht ausschliesslich nur eine bestimmte Altersklasse be- rücksichtigen, aber doch der Hauptsache nach nur die späteren Lebens- abschnitte, wenigstens die jenseits der zweiten Lebensdecade liegenden Jahi'e umfassen. Aus einer Gegenüberstellung der von den genannten > Autoren und der von uns gesammelten Atrophien werden sich doch gewisse Punkte ergeben, welche auf die Vertheilung der einzelnen Atrophie- formen über die verschiedenen Lebensabschnitte ein charakteristisches Licht werfen. Aus diesem Grunde wollen wir demnach jetzt die Liste der Ükthqff'-Bäuerlein'schen Atrophien mittheilen. Beide Autoren haben im Ganzen 219 Fälle doppelseitiger Sehnervenatrophien gesammelt.

welche sich nach ihrer prozentaiüschen Bedeutung anordnen wie folgt:

Cerebrale Sehnervenatrophie 26,94 7o

Spinale 26,48

Genuine einfache progressive Sehnerveuatrophie ..... 20,54

Papillitische Sehnervenatrophie 7,75

Atrophie in Folge eines pathologischen Vorganges in der Orbita 3,65

Kongenitale Sehnervenatrophie 3,19

Atrophie bei Dementia paralytica 3,19

nach Blutungen 2,28

Tabakiutoxikation 1,82

Trauma 1,36

Bleiintoxikation . . 0,91

bei epileptiformen Anfällen 0,91

in Folge von Nephritis 0,45

bei Railway-Spine 0,45

') Uhthoff, Beitrag zur S ehn er venat r o p h ie. Greife's Archiv für Ophthalmologie. XXVI. Heft 1. p. 244. Schüler und Uhthoff', Beiträge zur Pathologie des Sehnerven und der Netzhaut bei A 11 ge m ei n- erkrankungen nebst einer Operations-Statistik 1882/3. Berlin 1884.

2) Bäuerkin a. _a. 0. p. 25.

136

Wenn raan die beiden Reihen mit einander vergleicht, so wird man ohne besondere Mühe die charakteristischen Eigenthümlichkeiten beider bemerken. Um aber das Verhältniss, in welchem die wichtigsten und ergiebigsten Formen der Sehnervenatropliie in den Lebensphasen vor xmd nach dem zwanzigsten Jahre zu einander stehen, recht klar zur Anschauung zu bringen, habe ich eine graphische Darstellung entworfen, welche die prozentarischen Werthe der fraglichen Formen in unmittel- barster Weise mit einander vergleichen lässt.

Graphische Darstellung des prozentarisclien Verhältnisses, in welchem die wichtigsten Formen der Atropliia nervi optici vor und nach dem

zwanzigsten Lebensjahre auftreten. Die scliraffii-teu Balken entspreclien der Erblindung vor, die schwarzen Balken der Erblindung nach dem zwanzigsten Lebensjahr.

l'Mg. 9.

Siebentes Kapitel.

Die Beziehungen zwischen Blindheit und den einzelnen Altersstufen während der ersten zwanzig Lebensjahre.

Die Grösse der Quote, mit welcher sich die einzelnen Lebensjahre an den verschiedenen Erblindungsformen betheiligen, haben wir schon bei der Besprechung der einzelnen Blindheitsforraen erwähnt; wo unser Material auslangte, haben wir in Form von Kurven die Summe der Erblindungen, welche die einzelnen Lebensjahre für die verschiedenen Blindheitsformen ergaben, darzustellen versucht. Natürlich gelten alle diese Kurven lediglich nur für unser Material, bewegen sich nur in dem Kähmen, welcher uns durch die numerische Beschaffenheit unserer Untersuchungsreihe aufgezwungen worden ist. Dürfte man annehmen dass aUe Lebensjahre, vom ersten bis zum zwanzigsten, entsprechend der ihnen mnewohnenden Erblindungsgefahr Zöglinge in die Blinden-Anstalten entsenden, so würde es ganz gewiss gestattet sein, aus den bei den An- staltspfleghngen ermittelten Erblindungsui-sachen und Erblindungsterminen gewisse allgemeine Schlüsse bezüglich der Erblindungsneigung in den emzelnen Lebensjahren zu ziehen. Einer einzelnen Anstalt gegenüber wäre man aber zu solch' einem Beginnen unter keinen Umständen be- rechtigt, denn bei der beschränkten Zahl der in einer Anstalt befind- lichen ZögUnge wirkt der ZufaU zu bedeutend mit. Anders liegen die Verhaltnisse, wenn man über eine grosse Anzahl von Anstalten verfügt wie wir in unserem Material; alsdann gleichen sich die Zufälligkeiten mehr oder mmder aus, und man könnte wohl im Allgemeinen zu dem Schluss gelangen, dass die Erblindungsgefahren der einzelnen Lebens- jahre und Erbhndungsformen wenigstens bis zu einem gewissen Grade in^nem grossen Material von Anstaltszöglingen zum Ausdruck kommen dürften. Allerdings immer nur bis zu einem gewissen Grade. Für die

138

nach dem zehnten bis fünfzehnten Jahr erblindeten Personen wird nämlich die Aufnahme in eine Blinden -Erziehungs- Anstalt zweifellos viel weniger oft nachgesucht, als wie für die vor dem genannten Leliens- termin erblindeten Kinder. Personen, welche nach dem fünfzehnten Jahr das Sehvermögen einbüssen, haben ja meist schon emen gewissen

Graphische Darstelhmg der 3Ienge von Erblindungen, welche auf die einzelnen Lebensjahre in unserem Material entfallen.

Massstab 3 mm = 1 7n-

Fig. 10.

Bildu,=gsgrad erreicht und begnügen sieh da^n häuBg mit demselben. Sind sfe nieht dureh ihre pekuniären Verhältnisse gezwungen , irgend etoe ihren Erwerb sicherstellende Fertigkeit zu erlernen .^rden s,e «oU den Anstalten fernbleiben. Anders liegen dagegen d.e Verhältnisse fu dteMhblindeu; diesen fehlt die geistige Erziehung meistens ganz oder

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fast ganz und dai-um werden sie den Blinden-Erziehuugs-Anstalten ge- wiss in besonders reichlicher Menge zuströmen. Diese Verhältnisse muss man unbedingt im Auge behalten, wenn man die Erblindungstermine, die man bei einer grösseren Anzahl von Anstaltspflegliugen ermittelt hat, untersucht. Mit Rücksicht auf diese soeben erörterten Umstände muss man desshalb auch die umstehende Kurve betrachten; sie stellt lediglich nur die Grösse der Erblindungsbewegung für die einzelnen Lebensjahre innerhalb des Rahmens unseres Materials dar.

Da mit der vorstehenden Kurve also immer nur ein recht be- schränkter Einblick in die Erblindungsneigung der ersten zwanzig Lebens- jahre gestattet ist, so werden wir die Beantwortung der Frage : welcher Erblindungsgefahr der Mensch von seinem Eintritt ins Leben bis zum Abschluss der zweiten Lebensdecade unterworfen sei ? auf einem anderen Wege suchen müssen. Und zwar steht uns hierfür eigentlich nur eine Möglichkeit offen, nämlich die, eine topographisch begrenzte Oertlich- keit, also etwa einen Regierungsbezirk oder eine Grossstadt u. dgl. m. auf ihren Blindengehalt zu untersuchen. Indem wir Zahl, Alter und Erblindungstermin der bei einer solchen Gelegenheit ermittelten Blinden mit dem Altersaufbau der Bevölkerung überhaupt in Verbindung bringen, kann es gelingen, für die einzelnen Jahrgänge einen numerischen Aus- druck der ihnen innewohnenden Erblindungsgefahr zu erhalten. Eine derartige Untersuchung habe ich vor zwei Jahren hier in Breslau durch- geführt und muss ich auf diese Untersuchung verweisen. Wir wollen uns aber nicht damit begnügen, auf unsere damals für die ersten zwanzig Lebensjahre berechnete Erblindungsgefahr hinzuweisen, vielmehr wollen wir uns über die Methode der Feststellung der für jede Alters- klasse entfallenden Erblindungsgefahr des Näheren auslassen. Veranlasst werden wir hierzu durch eine Arbeit, welche jüngst Herr Dr. Kersch- haumer^) veröffentlicht hat.

Vergegenwärtigen wir uns zunächst einmal, was wir bei der Blinden- untersuchung einer topographisch beschränkten Oertlichkeit an positiven Thatsachen finden können. Wir werden hierbei also, behalten wir bei- spielshalber einmal nur die Erblindungsgefahr eines bestimmten Lebens- abschnittes, also etwa der ersten 10 Lebensjahre, im Auge, folgendes finden. Wir werden ermitteln wie viel die untersuchte Oertlichkeit überhaupt Personen zählt, welche zwischen dem 1. und 10. Lebensjahre

') Kerschbatmer , Die Blinden des Merz oglh u ms Salzburg nebst Bemerkungen über die Verbreitung und die Ursacbon der Blind- heit im Allgemeinen. Wiesbaden 188G.

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erblindet sind und wir werden ferner finden, in welchem Alter diese Blinden am Tage der Untersuchung stehen. Wir können das Material also über die einzelnen Lebensdecaden der untersuchten Bevölkerung vertheilen und sagen: unter den untersuchten Personen sind z. B. x befindlich, die gegenwärtig zwischen l und 10 Jahr stehen und auch zwischen 1 und 10 Jahr erblindet sind; es sind sodann ^J Personen vorhanden, die gegenwärtig zwischen 10 und 20 Lebensjahr stehen, aber doch zwischen 1 und 10 Jahr erblindet sind; ferner finden wir z Individuen, die sich gegenwärtig zwischen 30 und 40 Jahr befinden, aber erblindet sind zwischen 1 und 10 Jahr; sodann werden w Per- sonen gefunden werden, welche zwischen 50 und 60 Jahr stehen, aber zwischen 1 und 10 Jahr erblindet sind; v Personen werden zwischen 60 und 70 alt sein, aber ihr Augenlicht verloren haben zwischen 1 und 10 Jahr und endlich werden ?• Individuen zwischen 70 und 80 Jahre alt und zwischen 1 und 10 Jahr erblindet sein. Und genau die nämlichen Erscheinungen lassen sich bei den in den anderen Lebensdecaden eintretenden Erblindungen nachweisen; auch diese werden sich über die verschiedenen Altersstufen des untersuchten Materials ver- theilen lassen, wie wir dies soeben mit den aus der ersten Lebensdecade stammenden Erblindungen gethan haben.

Gehen wir nun einen Schritt weiter und bedachten, welche Schlüsse wir wohl dai-aus ziehen dürfen, wenn wir wissen, in welcher Weise die in einer bestimmten Lebensdecade, z. B. der ersten, erfolgten Erblmdungen sich über die gesammte untersuchte Bevölkerung vertheilen. Könnten wir annehmen, dass die Sterblichkeit der Blinden und Sehenden die nämliche wär,e, so müsste der Gehalt, welchen die einzelnen Lebens- jahrzehnte der Bevölkerung an solchen Personen zeigen, die in der ersten Lebensdecade erblindet sind, einen unmittelbaren Rückschluss auf die Erblindungsgefahr gestatten, in welcher die den verschiedenen Lebensjahrzehnten angehörenden Individuen geschwebt haben, als sie m der ersten Decade ihres Daseins gestanden haben. Blinde und Sehende würden bei gleicher Lebensdauer ja doch genau in demselben Verhält- niss absterben und desshalb müsste jedes Lebensjahrzehnt einen Gehalt an Personen, die zwischen 1 und 10 Lebensjahr erblindet smd, zeigen, welcher in engster Wechselbeziehung zu der Erblindungsgefahr der ersten Lebensdecade stehen, als ein direkter Ausdruck derselben gelten müsste. Wenn ich also durch Untersuchung kennen gelernt habe, wie viel jede Generation der Bevölkerung Personen enthält, welche zwischen 1 und 10 Lebensjahr erblindet sind, und wenn ich die so gefundenen Zahlen in Verbindung setze mit der Gesammtzahl der Bevölkerung, so wurde

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ich, aber immer vorausgesetzt die gleiche Lebensdauer der Blinden und Sehenden , ohne Mühe berechnen können , wie viel von je Hundert, Tausend oder Zehntausend der Gesamratbevölkerung zwischen 1 und 10 Jahren das Augenlicht verloren haben, ^) Ich würde aber auch den aus der ersten Lebensdecade stammenden Blindengehalt jeder einzelnen höheren Altersgruppe separat mit deren Gehalt an Lebenden in Beziehung bringen und so die Erblindungsgefahr berechnen können, welche für jede einzelne höhere Altersgruppe beim Dui-chleben der ersten Decade vorhanden gewesen ist. Kerschbaumer'^) nennt die so gewonnenen Werthe den Ausdruck der vollen oder maximalen Erblindungsgefahr. Bringe ich ferner die bei der Untersuchung zwischen 1 und 10 Jahre alten Blinden mit dem Gehalt der ersten Lebensdecade an Lebenden in Be- ziehung, so erhalte ich nur die Gefahr, welche die Angehörigen der ersten Decade bis zum Termin unserer Untersuchung unterworfen waren und diesen Werth nennt Kerschbaumer den mittleren Werth der Er- blindungsgefahr. 3) Die durchschnittliche Gefahr des Erblindens 4) während der ersten Decade würde dann des Weiteren in der Weise gewonnen, dass die Gesammtzahl der in der ersten Decade Erblindeten in Ver- bindung gesetzt würde mit der Gesammtzahl der Bevölkerung. In dieser Weise ist früher Mayr und jetzt aufs Neue wieder Kersch- baumer bei der Berechnung der Erblindungsgefahr der verschiedenen Lebensperioden vorgegangen. Kerschbaumer hat das von uns soeben kurz skizzirte Verfahren, die Erblindungsgefahr der einzelnen Altersklassen zu berechnen, in seinem Werk in höchst klarer und lichtvoller Weise zur Darstellung gebracht und ist derselbe, stellt man sich lediglich nur auf den statistischen Standpunkt mit seiner Berechnungsmethode grössten- theUs wenigstens im Recht. Anders liegen dagegen die Verhältnisse, wenn man sich von gewissen medicinischen Gesichtspunkten leiten lässt, nämlich von der Rücksicht auf die Lebensdauer der Blinden. Kersch- baumer hat zwar diesen Punkt keineswegs aus dem Auge gelassen vielmehr spricht er an den verschiedensten Theilen seiner geistvollen' Studie von ihna, doch legt er ein zu geringes Gewicht auf denselben, und m Folge dessen verlieren alle die von ihm berechneten Werthe nicht unbeträchtlich an Sicherheit. Da wir die Lebensdauer der Blinden für die Berechnung der Erblindungsgefahr von nicht zu unterschätzender

') Man vergleiche Kersehhaumer p 10 ')P.11. P- 13.

*) Kerschbaumer p. 53.

~ 142

Wichtigkeit erachten, wollen wir zuvörderst kurz auf die Absterbever- hältnisse der Blinden eingehen.

Wie ich schon bei Gelegenheit meiner Untersuchung der Breslauer Blinden bemerkt habe, hat der Verlust des Sehvermögens an sich zwar keinen unmittelbaren Einfluss auf die Lebensdauer, aber trotzdem schemt doch die Lebensdauer der Blinden kürzer zu sein, als wie die der Sehenden Der Grund hierfür liegt entweder in gewissen socialen Ver- hältnissen, welche zui- Erzeugung bestimmter Blindheitsformen besonders reichlich beisteuern, oder in den pathologischen Verhältnissen, welche die Erblindung hervorrufen. Wir wollen dies alsbald an einigen be- sonders ergiebigen Blindheitsformen nachweisen. Die Blennorrhoea neo- natorum ist besonders reichlich vertreten im Proletariat und unter den unehelich Geborenen. Die Sterblichkeit in diesen Kreisen ist aber ganz besonders gross und so werden demi auch verhältnissmässig sehr viele blennon-hoisch erblindete Kinder vorzeitig sterben. Bei den durchj^^ hirnkrankheiten erzeugten Erblindungsformen ist eme erhöhte Sterblich- keitsgefahr gleichfalls vorhanden. Man vergleiche nur in den vorher- gehenden Kapiteln dieser Arbeit die Belastungen, welche die cerebrale Imaurose sonst noch an den Blinden zu Tage fördext, nämlich Lahm- ungen, Störung der geistigen Fähigkeiten, krampfartige Zufälle u. dgl. m. und man wird einräumen müssen, dass unter den Blinden mit cere- braler Amaurose zweifellos eine erhöhte Sterblichkeit herrschen muss. Da Blennorrhoe und cerebrale Krankheiten aber die ergiebigsten Blmd- heitsquellen der ersten Lebensdecade sind, so wird es ^^^f^^^'^^'^^^' die Sterblichkeit der in den ersten zehn Lebensjahren Erblindeten un- bedingt viel grösser sein muss, als die der Sehenden. Die m der ersten Lebensdecade erblindeten Personen, welche ich bei einer Untersuchimg in allen Altersklassen der Bevölkerung auffinde, smd desshalb mn- em Bruchtheil der wirklich in dieser Decade Erblindeten, diesen Verli^t an Blinden, welcher die grössere Sterblichkeit gewisser Blmdheitsformen _ und zwar sind dies gerade die ergiebigsten - bedmgt, darf ich nun aber bei Berechnung der Erblindungsgefahr durchaus nicht ausser Acht lassen. Kerschbaumer weist zwar wiederholt auf diesen di^^ vorzeitiges Absterben in Abgang gekommenen Theil der Blinden bm^ trifft aber bei seinen Berechnungen niemals ernstliche Massregeln, um difem Verlust rechnerisch gerecht zu werden. Und das erach^n wir für einen Mangel seiner sonst so vortrefflichen Darstellung Alle de maximalen, minimalen und durchschnittlichen Werthe welche Kersch. Zmer für die Erblindungsgefahr der einzelnen Altei-sklassen berechne , bleiben hinter der thatsächlichen Gefahr zurück, und zwar um so viel,

143

als das vorzeitige Absterben der Blinden hinter dem Absterben der Sehenden ziu-ückbleibt. Kerschbaumer berechnet also bei Licht betrachtet nicht die Erblindimgsgefahr selbst, sondern nur die Erblindungsgefahr vermindert um die grössere Absterbeordnung der Blinden. Kersch- baumer hat eben die volle wirkliche Gefahr (vorausgesetzt dass man ausschliesslich die absoluten Zahlen berücksichtigt), welche sich zusammen- setzt aus den bei der Untersuchung gefundenen und den vorzeitig ge- storbenen Blinden, verwechselt mit dem Schaden, welchen die Gesammt- bevölkerung im Augenblick der Untersuchung zeigt.

Wenn ich mich bei der Kritik der Maijr - Kerschbaumer''schen Be- rechnung der Erblindungsgefahr vielleicht etwas zu lange aufgehalten haben sollte, so geschah dies aus verschiedenen Gründen. Einmal lag mir daran, darauf hinzuweisen, dass diese Methode, trotzdem dieselbe vom statistischen Standpunkt aus eigentlich so gut wie unanfechtbar ist, doch medicinisch nur ganz unvollkommene Resultate zu ergeben vermag und zweitens wollte ich durch die Kritik auch für das von mir früher eingeschlagene Verfahren eine gewisse Berechtigung gewinnen. Ich habe nämlich, von der Unzulänglichkeit der Mayr'schen Berechnung über- zeugt, bereits früher i) den Versuch gemacht, die Erbliuduugsgefahr in einer anderen Weise für die einzelnen Lebensalter zu berechnen. Die Mayr- Kerschbaumer'sche Berechnungsmethode stellt einmal, wie wir soeben dar- zulegen bemüht gewesen sind, für die einzelnen Altersklassen nicht wirklich die volle Erblindungsgefahr dar, insofern das Absterben der Blinden grösser ist als der der Sehenden, und zweitens ver- mag dieselbe die durchschnittliche Erblindungsgefahr auch gar nicht einmal für die jetzt lebende Generation zu ermitteln, vielmehr setzt sich der Diu-chschnittswerth mosaikartig aus den für die verschiedensten Generationen der Bevölkerung früher massgebend gewesenen Gefahren zusammen. Wenn ich die durchschnittliche Erblindungsgefahr für die erste Lebensdecade der jetzigen Bevölkerung feststellen will, so kann ich, benutze ich das Mayr - Kerschbawner'sche Verfahren, dies immer nur in der Weise thun, dass ich aus den Gefahren, welche für alle Generationen der jetzt lebenden Bevölkerung vorhanden gewesen sind, ein Bild zusammensetze. Dieser Umstand ist aber ein recht bedeutungs- voller. Die Erblindungsgefahren einer bestimmten Lebensdecade, z. B. der ersten, sind und bleiben ja doch nicht für alle Generationen immer und ewig die nämlichen. Die Gefalu-, durch Blennorrhoe zu erblinden, ist z. B. für die ältesten vier Generationen unserer Bevölker-

') Magnus, Die Blindheit u. e. w. p. 234 bis 2S6.

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uDg, also für alle die Personen, welche jetzt zwischen 40 bis 80 Jahre alt sind, entschieden eine viel grössere gewesen, als für die jüngeren Generationen der jetzigen Gesammtbevölkerung. Der jüngere Theil der Bevölkerung hat ja zu einer Zeit den Gefahren der Blennorrhoe unter- standen, wo die Behandlung, Dank den Bestrebungen Grö/'e's, eine viel rationellere und wirksamere war als früher. Wir dürfen nie vergessen, dass die Erblindungsgetahr doch zu einem guten Theil bedingt wird durch die Leistungsfähigkeit der Therapie und da diese nun doch einmal zu verschiedenen Zeiten eine sehr verschiedene ist, so thut man nicht gut, wenn man zur Berechnung der Erblindungsgefahr, welcher die Bevölker- ung jetzt unterworfen ist, die aus früheren Zeitphasen stammenden Blind- heitsfälle benützt. Kerschhaumer hat sich der Bedeutung dieser soeben besprochenen Verhältnisse zwar auch nicht völlig verschlossen, aber er hat dieselben, wie ich glaube, doch zu gering angeschlagen.

Geleitet von den Bedenken, welche die Ma?/r'sche Berechnung bei mir hervorgerufen hatte, bin ich nun bestrebt gewesen, eine Methode zu finden, welche die Unzulänglichkeiten jenes Ma?/r'schen Verfahrens thunlichst zu vermeiden im Stande wäre. Ich bin dabei von folgenden Erwägungen ausgegangen und zwar wollen avü* wiederum unsere Be- rechnung an der ersten Lebensdecade demonstriren.

Wenn ich bei meinen Untersuchungen also gefunden hatte, dass Breslau x Personen zählte, welche in der ersten Lebensdecade stehen und auch in derselben erblindet sind, so hatte ich mit dieser Zahl x einen Ausdruck für einen TheU der Erblindungsgefahr ermittelt, unter welchem die Angehörigen dieser ersten Lebensdecade bis zu dem Augen- blick meiner Untersuchmg gestanden hatten. Die volle Erblindungs- gefahr, welcher dieser Bevölkerungstheil bis zu meiner Untersuchung unterlegen hatte, ist aber in der Zahl a; nicht enthalten; denn es fehlen ja die in Folge der grösseren Sterblichkeit der Blinden vorzeitig ge^ storbenen Blinden. Diesen Bruchtheil darf ich aber keineswegs über- sehen. Die volle Gefahr des Erblindens, welche den Angehörigen der ersten Decade bis zum Termin meiner Untersuchung gedroht hatte, ist also X -h z: Nach Beendigung meiner Untersuchung vergeht nun aber eine gewisse Keihe von Jahren, bevor alle die Personen, welche jetzt noch in der ersten Lebensdecade stehen, in die zweite Decade aufgerückt sind. In dieser Anzahl von Jahren, welche erforderlich sind, um die jetzige erste Decade in die zweite Decade aufrücken zu lassen, smd aber natürlich noch eine grosse Reihe von Erblindungsmöghchkeiten gegeben. Bezeichnen Wir die Summe dieser Erblindungsmöghchkeiten, welche den Angehörigen der ersten Decade auf ihrem Weg bis zur

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zweiten Decade noch drohen, mit y, so würde die volle Erblindungs- gefahr der ersten Decade gleich sein x z -\- y. Von diesen Werthen war mir durch meine Untersuchimgen nur x bekannt, z und y blieben mir unbekannt. Wollte ich nun nicht der Ma^/r'schen Berechnung folgen, so musste ich auf eine andere Möglichkeit denken, und y zu ersetzen. Und diesen Ersatz suchte ich nun in der Weise zu bewerk- stelligen, dass ich alle diejenigen Personen, welche zwischen dem ersten und zehnten Lebensjahr erblindet, bei meiner Untersuchung aber schon in höhere Lebensdecaden aufgerückt waren, der Zahl x hinzufügte. Ich nahm an, dass s -f y ungefähr gleich sein könne der Zahl dieser in der ersten Decade erblindeten, aber in höheren Lebensperioden befind- lichen Individuen. Ich belastete desshalb mit allen zwischen dem ersten und zehnten Jahre Erblmdeten, die ich in Breslau gefunden hatte, das Erblmdimgskonto der augenblicklich lebenden ersten Decade der Bres- lauer Bevölkerung. Diese meine Massnahme ist nun allerdinge durch- aus wülkürlich und darum für den streng geschulten Statistiker wenig annehmbar; dies gebe ich gern zu. Ich habe desshalb auch sofort dieser meiner Berechnung die Bemerkung beigefügt, dass dieselbe von FehlerqueUen keineswegs frei sei. Und dieser Ansicht bm ich auch heute noch. Wenn nun Kollege Kerschbaumer i) diesen unseren Ver- such, einen Annäherungswerth für die Erblindungsgefahr der einzelnen Lebensalter auf einem anderen Weg als dem Mayr'schen zu gewinnen einfach als wesentlichen Irrthum bezeichnet, so ist er damit, glaube ich' doch nicht so ganz im Eechte. Ein derartiger Vorwurf wäre wohl dann am Platze gewesen, wenn ich mir der Tragweite meines Ver- fahrens nicht bewusst, wenn ich der damit verbundenen FehlerqueUe unkundig gewesen wäre. Dies ist nun aber ganz und gar nicht der FaU; ich habe mein Verfahren absichtlich eingeschlagen und die Gründe welche mich zu demselben veranlasst haben, sind von mir bereits im Vorhergehenden dargelegt worden. Ich habe auch bereits darauf hin- gewiesen, dass ich sehr wohl weiss, wie willkürlich meine Berechnung ist und wie unmethodisch sie darum einem Statistiker erscheinen mag. Ich war aber zu derselben unbedingt berechtigt, da die Mayr-Kersch- öawmer'sche Methode, so berechtigt sie statistisch auch sein mag, doch grosse medicinische Schwächen hat und da ich fernerhin auch nur be- zweckte, für die Erblindungsgefahr gewisse Annäherungswerthe zu schaffen.

In wie weit nun die nach meiner Berechnung gewonnenen Werthe dem Thatsächlichen entsprechen, ist vor der Hand noch gar nicht end-

•) p. 52.

Magnus, Jngendblindheit. jq

- U6

gültig zu beurtheilen. Wir können weder sagen, dass meine Zahlen zu hoch noch zu niedrig seien. Die Werthe z (vorzeitiges Absterben) und y (zukünftige Erblindung der untersuchten Decade) müssen erst genauer bestimmt sein, ehe wir darüber entscheiden können, inwieweit meine Annäheruugswerthe den wirklichen Werthen nahe kommen, ehe wir Avissen, ob der Ersatz, welchen ich für z + gewählt habe, zu hoch oder zu niedrig gegriffen sei.

Inzwischen bin ich nun aber seit Publikation meiner beiden Unter- suchungen über Blindheit bestrebt gewesen, die Berechnung der Er- blmdungsgefahr exakter zu gestalten. Die genaue Kenntniss der den einzelnen Lebensphasen zukommenden Erblindungsgefahr ist eine so hochwichtige, dass die Berechnung von Mayr- Kerschbaumer, welche nur einen Theil dieser Gefahr zum Ausdruck bringt und mein Ver- fahren, welches nur allgemein gehaltene Annäherungswerthe liefern kann, auf die Dauer doch nicht zu genügen vermögen. Die idealste Methode wäre offenbar diejenige, welche ohne Appell an die Erblindungsgefahren der früheren Geschlechter sofort die numerische Wiedergabe der für jede Generation jetzt augenblicklich gültigen Gefahr gestattete. Und eine solche Methode könnte man vielleicht in dem folgenden Rechnungs- v^rfahren gewinnen. Zuvörderst halten wir uns bei dieser unserer neuen Berechnung lediglich nur immer an den Zeitabschnitt, füi- welchen mr die Erblindungsgefahr speziell zu ermitteln wünschen. Wenn wir z.B. die Gefahr der ersten fünf Lebensjahre finden wollen, so beschränken Wir uns lediglich auf den Theil der Gesammtbevölkerung , welcher in diesem Lustrum bei unserer Untersuchung steht, sowie auf diejenigen Blinden, welche gegenwärtig 1 und 5 Jahre alt sind. Die volle Er-, blindungsgefahr dieses Lustrums setzt sich nun zusammen emmal aus den Erblindungsfällen, welche vor unserer Untersuchung erfolgt smd und letzt von uns aufgefunden werden; dieselben seien = a^; ferner aus der Anzahl der vorzeitig gestorbenen Blinden = z und endlich aus der Erblindungsgefahr, welche die Angehörigen des Lustrums noch in dem Zeitraum nach unserer Untersuchung durchzumachen haben bevor sie in die nächst höhere Altersstufe aufrücken == y. Sehen wir nun einmal zu, in wie weit wir diese 3 Faktoren x H-_ c> + y in ihrem numerischen Werth zu durchleuchten vermögen, o; die Zahl der bisher im ersten Lustrum erblindeten Personen mit Abzug der vorzeitig Gestorbenen wird bei der Untersuchung sofoxt festgesteUt. ^ - die Anzahl der vorzeitig gestorbenen Blinden kann durch die Untersuchung nicht gefunden werden und müssen wir dieselbe dess- halb auf andere Weise zu ermitteln suchen. Wir müssen . zu diesem

147

Zweck zuvörderst die dui-chschuittliche Lebensdauer für die mit den verschiedensten Blindheitsformeu behafteten Personen zu finden bemüht sein; durch eine längere Keihe von Untersuchungen kann und wird es gelingen, für die verschiedenen Blindheitsformen die abweichende Absterbeordnung festzustellen. Wir werden finden, in welchem Ver- hältniss die Sterblichkeit der Blennorrhoeblinden , der mit cerebraler Amaurose, der Tabesblinden u. s. w. sich zu der der Sehenden verhält. Und wenn wir im Besitz dieser Erkenn tniss sind, dann werden wu: auch ziemlich genau bestimmen können, wie viel in jeder Lebensphase von den ihr eigenartigen Erblindungsfällen durch vorzeitigen Tod in Abgang gekommen sind. Wenn wir z. B. die Zahl der vorzeitig ge- storbenen Blmden für das erste Lebenslustrum ermitteln wollen , so werden wir zuvörderst zählen, wie viel Blennorrhoe- und Gehirnblinde dieser Lebensabschnitt überhaupt enthält, denn diese beiden Formen smd es ja doch, welche dem ersten Quinquennium hauptsächlich eigen smd. Wir werden alsdann aus der vorhandenen Zahl dieser Blinden und aus ihrer durchschnittlichen Lebensdauer ungefähr berechnen können, ^vie viel vorzeitig gestorben sein mögen. Natürlich gehört zu den eben beschriebenen Manipulationen wieder ein sehr umfassendes Blinden- material. Es werden erst noch in grösserem Umfang Grossstädte, Land- schaften u. dgl. m. untersucht werden müssen, um genau die Absterbe- ordnung der einzelnen Blindheitsformen und die numerische Vertheilung der verschiedenen Erblindungsarten über die einzelnen Lebensabschnitte zu ermitteln. Ich habe auf den letzteren Punkt in den verschiedenen Kapiteln der vorstehenden Arbeit bereits möglichst Rücksicht genommen und eme Anzahl von Kurven konstruirt, welche die Vertheilung der einzehien .Blindheitsformen über die verschiedenen Lebensjahre nach- weisen sollen.

^ ^ Aus dem Gesagten geht hervor, dass Faktor z die durch vor- zeitiges Absterben in Abgang gekommenen Blinden vor der Hand noch nicht in Rechnung gestellt werden kann. Es wird erst umfassender Untersuchung bedürfen, ehe wir einen sicheren numerischen Ausdruck für denselben zur Verfügung haben werden; doch kann es wphl nur eme Frage der Zeit sein, bis wir ein genügendes Material beisammen haben werden, um den Faktor z numerisch ausdrücken zu können.

Was nun schliesslich den dritten Faktor y ~ die nach vollendeter Untersuchmig auftretenden Erblindungen - anlangt,, so bietet die numerische Fixation weniger Schwierigkeiten. Wir sind doch wohl zu der Annahme berechtigt, dass die Absterbe- und Erblindungsverhältnisse desjenigen Bevölkerungstheiles, welcher den von uns untersuchtea Lebens-

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abschnitt noch grösstentheils zu durchlaufen hat, die nämlichen sein werden, wie sie für diejenigen gewesen sind, welche den fraglichen Lebensabschnitt schon zum grössten Theil durchlaufen haben und dabei einer Blindengefahr unterworfen gewesen sind, welche in der Formel a; + 3 zum Ausdruck kommt. Wir werden desshalb also wohl kaum fehl gehen, wenn wir annehmen, in dem von uns untersuchten Lebens- abschnitt werden nach Vollendung unserer Untersuchung ebenso viel Erblindungen produzirt werden, wie vor unserer Untersuchung, d. h. also auch x -\- z-. Wir werden also als Summe aller Erblindungs- fälle, welche die Angehörigen eines Lebensabschnittes vor dem Eintritt hl denselben bis zu ihrem Austritt aus demselben produziren, den Aus- druck haben 2 {x ^ z). Setzen wir nun diesen mit der Zahl der in dem betreffenden Abschnitt Lebenden (m) in Verbindung, so können wir die Erblindungsgefahr ohne Weiteres berechnen. Wollen w aber ganz genau verfahren, so müssen wir die Gesammtsumme der m dem untersuchten Abschnitt Lebenden m noch vermehren um die Zahl der vorzeitig gestorbenen Blinden die Formel, mit Hülfe welcher sich für jeden Lebensabschnitt ohne besondere Schwierigkeit die augenbhck- liche Erblindungsgefahr berechnen lässt, würde also lauten

2 {x + z) 100

Diese Formel besitzt den gar nicht hoch genug anzuschlagenden Vortheil, dass sie die für jedes Lebensjahr zur Zeit der Unter- suchung massgebende Gefahr zu berechnen gestattet Sie verschal uns also ein treues Spiegelbüd der augenblicklichen Leistungsfähigkeit der Therapie, während die Mayr - Kerschbaumer'sche Berechnmig d^e längst vergangene Gefahr alter Zeiten herauf beschwört und aus ihr für unsere moderne Zeit einen numerischen Ausdruck zu schaffen trachtet Und da überdies unsere Formel mit der erforderlichen -hnensch^n Genauigkeit verfährt unter gleichzeitiger Berücksichtigung der -edic-i- schen Inforderungen, so wüsste ich in der That im Augnblick besseres Verfahren für die Berechnung der Erblmdungsgefahr zu em pfehlen, als die Benützung unserer Formel.

Man lose Seite 21 ZeUe

26

30

36

88

39 39

Berichtigungen.

4 von oben »des nämlichenc statt

i oben >43«

15 oben »in Kenügendem«

13 " oben »6 Kinder«

3 '' unten .20.51 »0'=

8 unten .20,51 V

9 ,, unten .21,42 "/o«

»männlichen«. .42«.

»in geringem«.

Kinder«. .20,7500«. .21,420|„.. »20,510/0«.

I

Graphische

Lith lUist, V T Wim.Damsladl.

Darstellung I

Erblüidun^s - Ursachen -Anstallen

land's.

0 Jmaurosis congeniia,

i

^ Blenmrrhoecb neoncUßrimv Verletxungerb Yariolxt ' Cerebrunv ScarLaUmL ScroFulost < > MorbUXL

Vorlag V J F Bergmann, Wesbaden

«

I

i

Graphische Barste

Die Formen der Ju^encl-ß

Dargestellt nach 320if J wo 9 Männliche, a. 1195 Jit Mafsstab: 5hmm. ^ l%-

Gesammtxahl: 55] ' n J9 % , GesammixaU: W60 ' 33^o8%-

Männliche : 321 = W, 32 % Mätinliäie.: 626 = 31, te % '

Weibliche.: W -.18,15% . Weibliche.: 36,52%.

miiing HI liniiheit in

fugendblinden i'ibliciu

Europa

G: 261 >. 8, 15 % M: Wt ' W,06%

II' .55 = t gif %

Gesamtni-aahL: 1063 33. n%. Männliche. 686 - 31:15% Weibluhe: 377 = 31,5t %

G:t6e'8,io% M 168 '8.36%

W:I0I'8.K%

TL.d^iujerL

Verlelxys. Bändht

A llgememerkranJamgen,

r

i

pUjme/ilosa

Cataracta complicata

j4lbinismus

leriüachsunq der Lider nul. dem Bulbus

NicJU iiäJier besiimnile, former}

Bleruiorrhoea. neonatorum

Trachom. Keratitis

Jridochorioiditis

AU'ophicL neroL optici

VerLetxungen der Augen

VerLelxunncn des Kopfes

Ophthalmia sympatAica.

Scrorulos&

Syphilis

Cerehriun mit seinen Häuten

Morbilli ScarLaUna Variola

Unbekannte Ursachen

I

Anopht hulnms

Mü^rophllmlmus

ReliiiiUs pigmentosoj

Niehl geü'ennte formen.

Cataj'acla' congaä(a complica£a.

Keraloconus AlbinismiLs

JridochorioidÜis

ColobomiL dwrioUlcac

Reiinalalrophie

Atroplüxt neroh optici

BupliLhalmus

OwrioidUis ii. Cliorw -Retinitis

Blßiuiorrlwea neonatorum

Trachom

Diplitlmritvs conjiLiwLioae

UnbekaniiU Cor, junciioalProxesse

JridochoriouliUs CiwrioidUis Myopie

SubUUw retinae

Atpophia nervi optici

Glaiwoni

Gliom.

KercUilts Verl&lram£jen

VcrLelYMn^crL des Kopfes

Operationen

Ophthalmia sympaÜiiccL

jVor/jiUi Morbus maculosus Fhlegmone orbiialis

Tussis conoulsiDfv

Alropliia optÜKt nach Bäilunq

/llLgemmierkrankg. imJjeslifwnierJrt

BleioercjiTLumj

Exanthem luLbelzanntevAi't

ScroPuhse' Sifphiliä

Poeltcw

GeJiirih mit seiiien Häuten

ScJuu'lach. Typhus Unbekuhie. Urscwlien

S S s S S

Ii

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3 g. 5^

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1

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3

5

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Hydrophthalnnis m. MikrophUuilnius

ChorioidiUs Jridochorioidilis

Retinitis

Reünitis pUjmeatosa

Jtrophia neroL optici

Caicu'acla

Nicht näher besUnimte form, .

Blennorrhoea neonatorum

CoryunciioUis puralenta

Trachom

Diphiheritis coryanciioae

Jridochorioiditis

AlrophicL neroi oplici

Neuroretinilis Sublaiio retinae Myopie'

EssmJti&lLe PhUsis

Verletxiuigeny derJuge/i

Yerletxungen, des Kopfes

Ophthalmia sympathica

Scrolulose

Syphilis

Cei-ebritni mit seinen, Häuten,

Morbilli Scarlaiina VaribUL

Typhus

Stlnijei'e Unterleibs ErkNinkiuig

Unbekannte Ursachen

15%

W%

^

MihTuphtluilimis

Buphihalmu.i

h'i'lini/is pu/me/Uosa

Airophia ni'roi optici

Caiurada complicata

Bleimorplioexh lu'oiiaionun

Trachom

Dip/itheri/is coiijiiiictioae

KeralUis Chorioiditis JriilocJwrioUlilis

Atraphixv nervi,' optici

Verlcixiin/jert clerAiujen

Vcrlelxuntjeii dcsKopks

Ophtliaimixi Sympathien

ScroCiilose

Syplulis

Corijunclii)ilis gonorrhoica.

Ca-ebrum, nüz seinen Mulesv

Morbilli ScarlcvLinxt Vcwiola

TijphuM

■Sehinerp AUgeinein rrkrunhtiiKi unbe sltiuinlcr Natur

UnbeknimLe Ursachen-

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\0

5- ^

I

55

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:3

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I

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14

5

1

1

.■Inophthal/mts MücrophUialmas

BuplühalituLS

Alrophia rieroi optici

Rclüiitis pigmenlosa II. Reliruilatrophie/

KeralUis

Jridockorioidilis

Rettnilis proliferans

Albi/iLsrniLS

CataracLcb complicata/

Niehl getrennte Formen.

BlennorrhoecL neonatorum

Trachom,

DiphtheriUs conjiuvctivae

MennorrhoecL gpnorrhoica

yltrophicL neroi optici,

JridbchorioicUiis

Hyalins SitAlafio retinae

GlcuLcom.

OpMialmicL syni/jalhic/t, rwn IrauJuaUca.

VerLelTnaiy derAugen.

Verlelxung des Kopfes

Ophlhalmsa sympatJUca,

Nicht gelreMiUe Formcfh

Scrorulose

Syphilis

Cerebriuw mit seinen Häuten.

Morbilli ScarlalincL Variola,

Typhus

Exanlhcm. uiibelmnJerNulnr

Unbekaiuile Ursachai, .

3

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I

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W% t3% 30% 35%

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I

1^

i:

I

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AnophthcdmiLs

Mikj'opfUhalmus

Relinilis pigmentosa

MrophUv nervi optici

Catatxicta, complicata

Bleimorrhoea, neonalorum

Anderweitige- Coryunclioal Erkraitkjingerv

JridochorioidUis uCyelitis

Jtrophia neroL optici

Chorioiditis

Sublatio relinae

Mgopia eaxessioa.

VerLetxung des Kopfes

Opthatmia sympathica

OperalLon

Scrofulose/

Syphilis

CerebrujTL mit seüie/i Häuten.

Morbilli VarioUt

Typhus

Unbekannte Ursachen/

10%

15%

iO% 25% 30% 35%

I

I:

I

I

-1 1

5.

Mikrophthalmus

BufMialmus

HetinUis pignieiüosa

Reiinalat/'ophie

Alrophia neroL optici

Jridßchorioidilis W'

Cornea globosa dege/ieratioa

Cataracta compLicala

ßlennorrhoea, neonatorum

DiphtherilLs conjanctioaje

Keratitis JriLLs

JridochorioidiLis

Jtrophia neroi oplici

Verletxuagen. derAiujeti

OpMhalnüa sympatJüca

Scrnriüx)se

Syptülis

Cerehrum mit seinen Häuten.

Mm'biUi. ScarlatüuL

Variala

Unl>e.k.(uiie l'rsacJmr

10%

15%

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25%

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0%

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25%

Afikrophthcdm us

Chorioiditis

Coloboma- üwrioideaz

^ {Jridochorioidilis

5

I.

'S

I

Atrophia nemt optici

Catciracla, complicata

Unbestimmte formen

ßlemwrrhoecu neonatorum.

Trachom,

Jridochorioidilis

Atrophia neroL optici

Verletxungen der Jagen/

Verlelxunqe/v des Jopres

Scrofulose

Cerebrum. ijüL seinen Häuten

Morbilli Variola

Typhus

Aisschkig unbe,, slimnUer Natur

Jhtermiltens

VnbekannLe Ursachen

0%

5%

10%

15%

209h

§ ^ ^

0%

5%

10%

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Belgien :\AiisiaUen l'Iit Bände.

2

Dänemark iJnstaU 159 BLüicLr.

Beutsclilojid

21 Anstalten 1595 Blinde.

England t Anstalten Uli Blinde.

Frankreich l Anstalt 38 Blinde.

%

Hollandy

3 Anstalten, 115 Blinde.

Jlalien

5 Anstalten 260 Bände.

Norwegen I Anstalt m Blinde .

Oeslerreich - Ungarn 9 Anstalten 508 ^Blinde .

Russlandy 3 Anstalten m Blinde.

Schweden I Anstalt 59 Blinde.

Schnieiz 3 Anstcdten 13 Blinde.

Spojiien. 3 Anstalten 129 Blinde.

0%

5%

10%

15%

10%