DIE MEDICIN UNTER DER HERRSCHAFT DES BÄCTERI0L06ISCHEN SYSTEMS. Digitized by the Internet Archive in 2015 https://arcliive.org/details/b21717382 DIE MEDICIN UNTER DER HERRSCHAFT DES BACTERIOLOGISCHEN SYSTEMS, VON DR' A. WINDRATH IN CREFELD. VERLAG VON OTTO PAUL. BONN l.si)5. Bonn, Druck von Ernst Heydorn. MEINEN ELTERN, Vorwort. Gegen herrschende wissenschaftliche Ansichten öffentlich in Opposition zn treten, würde für einen praktischen Arzt gewagt sein, wenn es hierbei allein ankäme auf Beherrschung eines ausgedehnten Materials von eigenen Erfahrungen. Da indessen der Ursprung mancher Irrtümer der medicinischen Forschung in der Unklarheit über wichtige Grundbegriffe liegt, so bedarf es hier in erster Linie nur eines logischen Denkens. Dem Verfasser selbst wäre es nicht möglich ge- wesen, wahrscheinlich auch nie der Gedanke gekommen, zur Lösung wissenschaftlicher Fragen etwas beizutragen, wenn er nicht durch das Studium der Werke Kants auf manche Fehler in den herrschenden Anschauungen aufmerksam geworden wäre. Zu Dank verpflichtet bin ich Herrn Professor Cohen in Marburg und Herrn Dr. philos. Stadler, deren Werke mir, abgesehen von Friedrich Albert Lange's Geschichte des Materialismus, das Verständnis Kants wesentlich erleichtert ]-,aben. — Nochmals muss ich auch an dieser Stelle meinem Bruder E. Windrath, cand. theol. in Bonn, für seine stets bereite Unterstützung herzlich danken. Da das 7. Kapitel über die Therapie des bacterio- logischen Systems schon Ende vorigen Jahres abgeschlossen war, so konnte das neueste Material leider nicht mehr benutzt werden. Grefe Id, Februar 1895. Dr. Windrath. Inhalt. I. Teil. Eiiileitiinn- p. 1—4. 1. Kap. Kraiiklieiten iiiul speciüsche Heilmittel . . . p. .")— 15. 2. Kap. Ueber den Wert der Systeme p. 1(5 — 27. 3. Kap. Verg'iftnugen und Infectioueu p. 28 — 48. 4. Kap. Gifterzeugeude Organismen als Ursache der In- fectionskrankheiten [>. 40—68. 5. Kap. Constanz der i^acterienarten p. (iü — 7i). (>. Kaji. Die Bacterien in der Aussenwelt und das Ein- dringen derselben in den menschlichen Organismns p. SO— 9i{. 7. Kap. Die Tlieraiiie des bacteriolog'ischen Systems . . jt. 1)4 —15^ II. Teil. 8. Kap. Die wissenschaftliche Definition des Begriffes der Krankheit p. lt)l— 18 \). Kail. iJie wissenschaftliche Deiinition des Begriffes der Krankheitsursache p. 1813—207 10. Kap. Bacterien und Krankheiten p. 208 -231 I. Teil. / ; Einleitung". Im seltsamen "\Viders])ruche mit dem Gefühle der Genug- tliiiuiig- über die Fortschritte der naturwissenscliaftliclien Medicin steht die Verzweifelmig- über die Stagnation der internen Therapie. Der Anssprucli Bacos: ..Wissen ist Macht", scheint in der INFedicin nicht zuzutreffen. Denn von Naturhelieirschung, die doch Zweck aller Wissenscliaft ist, kann hier kaum die Rede sein; wahrscheinlich deshalb, weil die Grundlage der in- ternen Behandlungsweise, trotz aller Fortschritte, noch keine wissenschaftlich genügende ist. Andernfalls müsste es doch auf einem, wenn auch noch so eng begrenzten Gebiete Maximen der Behandlung" geben, welche allem Wechsel standhielten. IStatt dessen zeigt sich ein ewiges Schwanken aller Grundsätze. Be- handJungsweisen, die vor Generationen verworfen wurden, heute werden sie wieder empfohlen. \\^as damals als ein Fortschritt gepriesen wnide. heute wird es, vielleicht zu Gunsten eines ehemals überwundenen Standpunktes, abgewiesen. Die Geschichte der internen ^riierapie macht fürwahr den Eindruck einer beständigen, in sich selbst zurücklaufenden Ki'eisbewegung. Tn der jüngsten Zeit nun kündigt sich eine therapeutische Richtung an, welche auf Ginndlage der bacterio- logischen Entdeckungen eine wirklich wissenschaftlich exakte, experimentelle Behandlungsweise verspricht. Die Wirkung der von ihr entdeckten Heilfactoren soll in jed(Mn Falle mit der „Sicherheit eines Naturgesetzes" eintreten. Die Masslosigkeit einer derartigen Prätension muss bei jedem nüchtern Denkenden sofort Zweifel erwecken. Derartige übertriebene Versprechungen 1 zu machen, ist die Weise des kritiklosen Enthusiasmus, welcher der Medicin schon so viel geschadet hat und noch schadet. Trotz der negativen Ergebnisse und der gewaltigen Ent- täuschungen, welche die hacteriologischen Ideen der Therapie gebracht haben, setzen weite ärztliche Kreise Hoffnungen auf jene neue, in bacteriologisclieu Laboratorien entstandene Be- liandlungsweise, die Serum-Therapie. Eine Kritik dieser ]\Iethode kann wenigstens dazu beitragen, dem allzu gläubigen, den Augenblicksideen blindlings folgenden Enthusiasmus Ab- bruch zu tlum, und im Sinne einei" objectiveren Beobaclitung zu wirken. Die Serum-Tlierapie beansprucht, etwas völlig Neues zu sein und die Therapie endlich einmal aus der ewigen Kreis- bewegung auf fortschreitende Bahnen zu führen. Kann die Serum-Therapie wirklich mit keiner der historischen Methoden der Behandlung yeiglichen werden? Zur Entscheidung dieser Frage ist es erforderlich, diese Methoden sich kurz zu ver- gegenwärtigen. Man kann dieselben in eiuer für unsere Zwecke ausreichenden Weise in drei Klassen zusammenfassen: I. Die empirische Methode. a) Die voraussetzungslose Empirie. Dieselbe sucht durcv: das Mittel des Probierens Bereicherung der Zahl der Heilfactoren. b) Die von bestimmten Ideen geleitete Empirie. Ihr Ver- treter ist Hippocrates ; seine Beobachtungen am Kranken- bette wurden geleitet durch humoralpathologische Ge- sichtspunkte. II. Die dogmatische Methode, die sogenannte methodische Medicin. Diese geht nicht von einem bestimmten Gesichts- punkte bei ihren Beobachtungen aus, sondern glaubt, im Besitze einer vollendeten Einsicht in das Wesen der Krank- heit zu sein. Aus dieser Einsicht wird die Behandlungs- weise deduciert, III. Die Behandlungsmethode, welche auf unwissenschaftlichem Krankheitsbegi-itfe beruht und vom Aberglauben dirigiert ist. Diese macht die Krankheiten zu Realitäten und sucht specifische Heilmittel zur Bekämpfung' dieser Wesenheiten. Zu der Aunahnie der factischen Existenz solclier spe- cifisclier Heilmittel führen keine Gründe der Vernunft, sondern ein Glaube. — Die Blutserum-Therapie gelit aus von einer vermeintlichen Einsicht in das Wesen der Krankheiten und leitet hieraus ihre Metliode ah. Dieselbe bekämpft zudem Kranklieiten mit an- gebliclien speciflselien Heilmitteln. — Sie ist demnach durchaus nichts Neues, sondern gründet sieh auf Dogma und Aberglaube. 1. K a p i t 0 1. Krankheiten und specifische Heilmittel. Die Mediciii in praktisclier Hiiisiclit, als die Kunst der KraukenbeliandUmg- durch Arzneiniitiel, sucht ilir Ideal nicht in der Zukunft. Es ist ilir vielmehr gegeben bereits im Beginne ihrer Geschichte. Hippocrates, der erste Arzt, von welchem wir genauere Nachrichten besitzen, ist für alle Folgezeit von vorbildliclier Bedeutung geworden. Nicht auf wissenschaftliclien Leistungen — so gross dieselben auch gewesen sind — beruht dieselbe, sondern auf der vollendeten Art seiner Behandlnugs- weise. AVas allen folgenden, zumal den heutigen Aerzten die grössten Schwierigkeiten macht, das Individualisieren am Kranken- bette, in dieser Kunst war er Meister. Hippocrates individua- lisierte i)nmer. Von derjenigen Fessel, welche uns beständig beengt, vom Schema, war er völlig frei. Dem modernen Arzte ist die wichtigste Aufgabe am Krankenbette die Diagnose, das Erkennen der Krankheit. Ist letztere erkannt, so ist die Be- handlung damit gegeben. Man kennt die Mittel gegen die verschiedenen Krankheiten, oder weiss sie doch zu finden in den jähi'lich neu verlegten Receptsammlungen, Der kranke Mensch findet bei dieser Beliandlung der Krankheit häufig keine Berücksichtigung. Ihm ist Ja geholfen, hilft nur das angewandte Mittel gegen seine Krankheit. Allerdings wird seitens der klinischen Lehrer immer wieder die Notwendigkeit betont, auch den kranken Menschen zu berücksichtigen und sich nicht gänzlich vom Schema beherrschen zu lassen. Ahi'v selbst diejenigen, welche in der Kunst des Individualisierens — 5 — die Ersten sind, die besten Vertreter unseres Standes, können sidi, \Yie die Folge zeigen wird, vom Schematismns uiclit völlig iVei machen. Wo der moderne Arzt nur die Krankheit sieht, da sah Hippocrates nur den kranken Menschen. Das Leiden desselben war für ihn Kesultat der verschiedensten Factoren. wie abnormer Lebensgewohnheiten, socialer und beruflicher Schäd- lichkeiten, Einflüsse des Klimas u. s. w., so dass eigentlich niemals zwei Individuen aus denselben Ursachen krank werden konnten. Auch Hippocrates stellte mit allen ihm zu Gebote stehenden Hülfsmitteln seine Krankenuntersuchung an. Die succussio Hippocratis, das von ihm gefundene Plätschergeräusch bei Flüssigkeitsansammlungen im Pleura-lxaum, beweist die I>e- nutzung der physicalischenUntersiichungsmethode, einer Methode, welche erst nach mehr als 2000 Jahren von neuem entdeckt werden musste. Aber bei dieser Untersuchung Avar Hippocrates von einem anderen Zwecke geleitet als wir. Der moderne Arzt sucht die Diagnose, Hippocrates suchte die Einsicht in die Krankheitsprocesse jedes seiner Patienten, um hierdurch Fingei'zeige für eine günstige Beeinflussung des krankhaften Geschehens zu gewinnen. Die Geschichte hat uns viele Kranken- berichte von Hippocrates erhalten. Bei fast allen fehlt die Diagnose. Hippocrates stellte keine Diagnose aus dem ein- fachen Grunde, weil er keine Krankheiten kannte, sondern nur kranke Menschen. I)ie Bekämpfung der Kranklieiten^ besonders der Infections- kranklieiten ist die Devise der heutigen Medicin. Bekämpfen kann man selbstverständlich nur etwas, was existiert, was Realität hat. Sind denn nun die bekämpften Krankheiten reale "Wesen? Die Antwort ist sehr leicht. Für IMenschen ist das allein real, wovon die Sinne Kunde bringen. Ist dies der Fall bei den Krankheiten^ z. B. dem Typhus? Kann man denselben sehen, hat er Grösse und Gestalt, ist er weich oder hart, warm oder kalt n. s. w.? Die Fragen sind unsinnige. Also ist der Typhus kein reales, in Wirklichkeit existierendes, sondern nur ein gedachtes Ding, ein Begriff. ]\lau kann luin weiter fragen, ob der Krankheit als Begriff keine Art von — 6 — Realität zuznspreclieii ist. Mit dieser Frage wird eiu Problem berührt, dessen Erörteriiiig- nahezu mit der menschlichen Ge- schichte beginnt und heute nocli keineswegs zum Abschluss gekommen ist, wie die vor einigen Decennien über den Art- begriff in der Zoologie gefülirte leidenscliaftliche Discussion und die Unklarheit über den Kranklieitsbegriff in der Medicin be- weist. Und docli könnte selir wohl eine grössere Klarlieit in diesen Fragen in den Naturwissenschaften vorlianden sein, wenn dieselben sicli nicht so vollständig der Phih)Sophie entfremdet hätten. So kommt es, dass die Denkweise der heutigen Medicin über die Realität der Begriffe selbst hinter der des verachteten Mittelalters zurückstellt. Denn in dem Universalieustreit der Scholastiker handelt es sich um nichts anderes als um die Frage, ob den Begriffen Realität zukäme, und wie die Begriffe sich zu den einzelnen Dingen verhielten. Z. B. hat „das Pferd" eine Existenz vor den einzelnen Exemplaren und ausser denselben, oder ist „das Pferd" in den einzelnen Pferden realisiert, oder sind nur die einzelnen Individuen „die Pferde" real, „das Pferd" ein Begriff, der gewisse gemeinschaftliche Eigenschaften der ein- zelnen Wesen vereinigt? (üuiversalia ante rem, in re, post rem.) ~ Die grösste Zeit des Mittelalters herrschte die so- genannte realistische Ansicht, welche das Gemeinsame, den Begriff, für etwas Reales, für das Reale hielt. Gegen Aus- gang des Mittelalters trat der Nominalismus in den Vorder- grund, nach dessen Lehre das Allgemeine, die Speeles, nur etwas Conventionelles, nur ein Wort sei, welches nach be- stimmten Gesichtspunkten uud Aehnlichkeiten die Einzeldinge, welche für den Nominalismus das einzige Reale sind, zusammeu- fasst. In der Tendenz des Nomiualismus lag es demnach, den Streit um AYorte zu verlassen und sich wieder den einzelnen realen Dingen zuzuwenden. Aus diesem Grunde ging auch die Pflege der Naturwissenschaft aus dem Kreise der Nominalisten hervor. Ihre Enkel, die Aerzte von heute, sind dagegen wieder zurückgekehrt zu der realistischen Ansicht, nach welcher das Allgemeine, der Begriff, mehr ist als ein Wort. Wie kann überhaupt ein Befrriff als Realität gedacht werden; als ein ijn Sinne der platonischen Idee unverg-äiig-liches Musterbild, welchem die einzelnen Wesen mehr oder weniger adä'iuat sind? Die Krankheiten können derartige unvergäng- liche Musterbilder nicht sein, da dieselben im Laufe eines Jahrhunderts selten dieselben bleiben, vielmehr je nach der Auffassung und den Fortschritten der Wissenschaft die mannig- fachsten Veränderungen erleiden. Die Realität des Begriffes in die Dinge selbst verlegen, kann nichts anderes bedeuten als die Verwirklichung eines Typus, der docli irgendwoher stammen muss, und den man schliesslich, wie die Discussion über die Darwinschen Principien, speciell den Artbegritt; gezeigt hat, nicht anders zu retten wusste, als dadurch, dass mau ihn für einen realisisierten Gedauken Gottes erklärte. Eine solche Er- klärung ist eine der Wissenschaft unwürdige und zugleich ein Missbraucli des göttlichen Namens. Denn in Ansprach ge- nommen wird dieser über die Grenzen aller Wissenschaft hinausgehende und nie zu beweisende Gedanke nur dann, wenn es mit dem Wissen zu Ende ist, so dass in diesen Fällen die Gottesidee die unwürdige Rolle einer Zuflucht für die faule Vernunft spielt. Solche Erklärungsweiseu, wie Einflüsse immaterieller Wesen, soll die Naturwissenschaft ~ wie Kant in den Prolegomeua sagt — „ausschlagen und gar nicht in den Fortgang ilirer Erklärung bringen, sondern diese jederzeit nur auf das gründen, was als Gegenstand der Sinne zur Er- fahrung geliört und mit unsern wirklichen Wahrnehmungen nach Erfahrungsgesetzen in Zusammenhang gebracht werden kann." Wenn auch die „Realität" der Krankheit nicht zu retten ist, so muss doch die Frage, was der Krankheitsbegriff inhalt- lich bedeutet, einer Erörfceiung unteizogen werden Auf diese Frage.; was ist Krankheit, sind eine grosse Fülle von Antworten gegeben worden, deren Menge allein schon ihre Unzulänglich- keit beweist. Die einen Theorieen fassen die Krankheiten als etwas Negatives, einen Mangel der Gesundheit auf. Ihnen gegenüber sehen andere Theorieen in der Krankheit etwas Posi- — 8 tives, etwas zur GesiiiKllieit Hinzukommendes, gleiclisam ein fremdes Wesen im kranken Körper. Die diialistisclie Ansicht der Krauklieit vertreten oifeubar die modernen Erklärungs- weisen. Ks sollen deshalb auch nur die letzteren einer histo- risclieu Betrachtung gewürdigt werden. Der erste Vertreter dieser Anscliauung ist Paracelsus. Nach ihm ist die ivrankheit verursacht gleiclisam durcli einen Keim, einen Samen, der sich selbständig im menschlichen Körper weiter entwickelt. Die entwickelte Krankheit denkt er sich als einen Organismus. (Organismus ist bei Paracelsus gleichbedeutend mit dem Ausdruck Microcosmus, Mensch. Die äussere Natur nennt Paracelsr.s Macrocosmus, auch gradezu den äusseren Menschen.) „Eine jede Krankheit hat einen unsichtbaren Leib. Die Krankheiten werdeu geschmiedet und gemacht wie der Mensch und darum ist jegliche Krankheit ein ganzer Menscli. Also ist der Mensch selbander in solcher Krankheit und hat zwei Leiber zu gleicher Zeit in einander verschlossen und ist ein jMensch!" Der Krankheitsorganismus hat eine bestimmte Lebensdauer. Er endet mit der Krisis der Krankheit. Was über diese Krisis hinauswährt, ist — con- seqnenter Weise — nicht mehr morbus, sondern imbecillitas, quae relinquitur, oder eine neue Krankheit. Die naturhistorische Schule der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts hatte über Krankheit ähnliche Vorstellungen. Nacli Schönlein ist die Krankheit, speciell die anatomischen Verändei'ungen, etwas dem Körper Fremdes, etwas der Krank- heit als Wesen Eigenes, ein im Kranken wuchernder Or- ganismus. Er spricht von der Blütlie und Frucht der Krank- heit, von deren Fruclitboden, von Pericarpium etc. Schöuleins Ansichten sind seinen Vorlesungen, welche olme seine Erlaubnis publiciert wurden, entnommen und in ihrer Zuverhlssigkeit zweifel- haft; zudem sagt der neueste Geschichtschreiber der Medicin, sein Schüler Hirsch, dass Schönlein weit^ davon entfernt war, seine Ansichten für unnmstössliche AVahrheiten zu halten. Jene ihm zugeschriebene Ansicht von der Krankheit wurde von einigen seiner Scliüler und Zeitgenossen, die sich auf ihn — [) — beriefen, bis in's Lächerliche libertriebeu. ,,Der Erkrankte führt ein Doppelleben, indem ein Fremdes, die Krauklieit, sicli mit den Aenssernngen normaler Lebensfunction des eigenen Organismus vermischt. Die Krankheit ist gradezu ein Parasit. So viele Krankheiten, so viele Parasiten. Abweichung vom typischen Verlauf einer Krankheit ist dadurc h bedingt, dass die Krankheit als Organismus selbst wieder von einem anderen Parasiten bedrängt wird." „A\'ie es Parasiten der Parasiten giebt, so giebt es auch Krankheiten der Krankheiten" (Stark 1838', 18442). „Die Natur kennt keine Krankheiten, sondern nur Organismen, eine Art Schmarotzerwesen, welche als Organis- men auf der niedrigsten Stufe des Organischen stehen und dem höheren Organismus aufgedrängt sind." (Rob. Volz. 1839.) So ungeheuerlich und lächerlich diese Formulierungen auch erscheinen mögen, der Grundgedanke ist der herrschende der Gegenwart. Zwar sehen wir in der Krankheit mit ihren Symptomen nicht mehr einen Parasiten traumhafter Existenz, Wohl aber etwas Fremdes, nicht der eigenen Thätigkeit des Organismus Entsprungenes. Die Stellung der Bacterien ist längst keine rein aetiologisclie mehi-. Die Bacterien und ihre Lebenseigenschaften, besonders ihre hypothetischen Stoff- wecliselproducte sind das Heterogene, das ausgesprochene Krank- heitsbild Bedingende. Selbst die Ansicht, dass die Krankheit selbst erkranken könne, ist nur in der Formulierung abschreckend. Wenn jede Krankheit bedingt ist durch die Thätigkeit einer bestimmten Bacterienart, und deren Wachstum und Lebens- eigenschaft das Typische des Krankheitsbildes erklärt, so ist das Abweichen von diesem Typus bedingt durch Concurrenz einer zweiten Bacteiienart, durch sogenannte Mischinfection. Selbst die Ahnung, dass Krankheiten selbst wieder erkranken können, dass es auch eine Erkrankung der Krankheit gebe, scheint gegenwärtig Bestätigung, ja sogar therapeutische Ver- wendung zu finden. Aus dem Hamburger Krankenhause be- richteten kürzlich Professor Pumpf und Fränkel über günstige Heiluugsresultate bei Typhuskrankeu durch subcutane Injection Vdu Reinculturen des ])acilliis pyocyaneus. Durch den für — 10 — Meuschen angeblich ungefährlichen hacilliis pyocyaneus wird die krankmachende Function des Typhusbacillus beeinträclitig-t, kurz gesagt der Typhus selbst erkrankt. Der bacillus pyocyaneus ist der Parasit des Typhus. Die p]rklärung der Krankheit als eines Afterorganismus ist ungenügend. Dieselbe geht aus von dem Krankheitsbild. Im Krankheitsbilde aber sind sämtliche Symptome ziisammen- gefasst zu einem Schema, zu einem Ideal der Krankheit, dem alle einzelneu Krankheitsfälle mehr oder minder entsprechen müssen. Als ideales, gedachtes Gebilde ist das Kraukheitsbild etwas Fertiges, allem zeitlichen Wechsel Entrücktes. Es ist das in uns liegende Mass, mit dem alle realen Einzelfälle ver- glichen werden. Der erklärende Begriff des Organismus als eines fertigen Gebildes kann sich daher nur auf das ideale Bild der Krankheit beziehen. Da aber jede Krankheit ein Process, ein zeitlicher Ablauf mannigfaltiger Erscheinungen, kurz ein Geschehen ist, so kann die Erklärung auch nicht in einem fertigen Gebilde, einem Organismus, sondern in einem Vorgang gesucht werden. So sehen wir, dass dieselben Autoren die Krankheit bald als einen Organismus, bald aber wieder als einen Kampf zwischen dem menschlichen und dem Kranklieitsorganismus bezeichnen. Derselbe Paracelsus, der die Krankheit als einen Microcosmus, als einen zweiten Menschen bezeichnet, sieht dann auch an anderen Stellen wieder in der Krankheit einen Kampf des menschlichen Organismus gegen schädigende äussere Einflüsse. Ebenso leitet Schöulein die Krankheit ab von dem Gegensatz des individuellen Princips gegen das planetarische. Die Folge dieser zweifachen Er- klärung der Krankheit, einerseits als etwas Fertigen, eines Organismus, anderseits als eines Geschehens, eines Kampfes, ist begriffliche Verwirrung und Unklarheit ohne Ende. Gegenwärtig denkt mau trotz aller gepriesenen Fort- schritte über diese Verhältnisse nicht klarer als Paracelsus; vielmehr ist die Verwirrung in diesem Punkte grösser denn je zuvor. Man frage einen Bacteriologeu, was Krankheit sei, z. B. Typhus. Er wird nicht mehr antworten: „Eiu Or- — 11 — o-aiiismus im Organismus, ein Parasit", sondern: „Ein Zu- stand der Vergiftung des Körpers durch Bacteriengifte." Derselbe Bacteriologe wird aber auch keinen Anstand nelimen, anderseits wieder die Krankheit als eine Reaction. als eiueu Kampf des Organismus gegen Typhusbacillen und deren Gifte zu bezeiclinen. Um die Yerwirrnug vollständig zu maclieu, lasse man noch deu Kliniker antworten. Ihm ist die Krank- lieit. der Tx'phus, ein Einheitsbild, welches sich zusammeusetzt aus einer Meuge von Symptomen, wie Darnig-esclnvUreu, cliarac- teristischem Fieber, ]\lilzschwellung, Roseola etc. Also dreierlei Verschiedeues ist die Krankheit: 1) Ein Zustand der Vergiftung. 2) Eine Actiou des Bacteriengiftes und eine Reaction des Orgauisnius gegen dasselbe. 3) Eine Zusammenfassung aller von der Norm abweichenden Erscheinungen zu einer Einheit, dem Kranklieitsbilde. Aus diesen drei Bestimmungen lässt sich kein allen ge- meinsamer Begriff entnehmen. Man könnte in der ersten Be- stimmung eine ursachliche Erklärung der dritten sehen und sagen, die Krankheit sei eine Summe von Symptomen, deren Ursache eine Vergiftung durch Toxine sei. Dem widerspricht aber die zweite Bestimmung. Der Körper veihält sich deu Giften gegenüber nicht passiv, sondern activ, gleichsam ab- wehrend, meist mit Erfolg. Läge lediglich eine Vergiftung den Symptomen zum Grunde, der Organismus wäre dabei aber passiv, so wäre bei der Fähigkeit der Bacterien zur Ver- mehrung eine Heilung undenkbar. Daher ist die Krankheit ein Kampf gegen die Wirkung der Gifte. Hier muss der Kliniker opponieren. Ihm ist die Krankheit ja die Summe von Symptomen. Bevor er der Ansicht einer Reaction ernstlich näher tritt, wird er verlangen dürfen, dass nachgewiesen wird, welche Symptome seines Krankheitsbildes auf der Giftwirkung der Bacterien und welche auf der Reaction des Organismus gegen diese beruhen, z. B. ob das Fieber eine Vergiftungserschei- nung oder eine Abwehrmassregel des angegriffenen Kör- pers ist. — 12 — ^hm wende uiclit ein, dass docli niemand die Krankheiten ernstlich fiir etwas Reales halte, und dass, wenn ans Gedankenlosig- keit eine Personiftcatiou der Krankheit allerdings vorkomme, sie doch keinen sonderlichen Schaden bringe. Wird doch die Wesenhaftigkeit der Kranklieit heute sogar mit Bewnsstsein behanptet. Behring z. ?>. rechnet es Koch als grosses Ver- dienst an, die „Entität" der Kranklieit gesichert zu haben. Wenn dem so ist, wenn die Wesenhaftigkeit oiler Realität der Krankheiten gesichert ist, so kann die Anämie nicht ans- genommen werden. Wir befinden nns dann in der sonder- baren Situation, dass die Negation einer Realität ihrerseits selbst wieder Realität ist. Anämie ist die Negation normaler Blutfiille und doch als Blutmangel selbst real. Behring be- iludet sicli hier in Uebereinstimmnng mit einem alten Scho- lastiker, welcher Karl dem Grossen ein Weik .,De uihilo et tenebris" widmete, in welchem das Nichts, aus welchem Gott die AVeit geschaffen, für ein real existierendes Ding erklärt wird. (Cf. Lauge, Geschichte des Materialismus, pag. 140.) Der Schaden aber, der durch Personiftcation der Krank- heit angerichtet wird, ist nicht gering. Es verführt dazu, den einzelnen Fall unter ein bestimmtes Krankheitsbild zu rubri- cieren , d. h. eine Diagnose zu stellen und dann gegen die Krankheit ein Mittel zu verschreiben. Der kranke Mensch aber soll Gegenstand der Behandlung sein, nicht die personi- ficierte Krankheit. Leider verführt die Auffassung der Krank- heit als einer Realität zu dem Schlendrian der Behandlung der Krankheit. Man spricht von jNlitteln gegen Typhus, Diph- therie, Erysipel etc.; ja es erscheinen unifangreiclie Recept- sanimlungen aus Kliniken gegen alle Krankheiten. Die Be- handlung der imaginären Krankheit statt des kranken Menschen verleitet zu einem unglaublichen Probieren neuer Erzeugnisse der chemischen Industrie und zur Schablone. Doch alle diese Schäden treten noch in den Hinter- grund gegenüber dem zum Hemmschuh der wissenschaftlichen Therapie gewordenen allgemein herrschenden Wahn von spe- — 13 — cifisclieii Heilmitteln. Scliou Paracelsiis, der die Kraiiklieit, wie wir sahen, für etwas Reales hielt und für jede einen speciellen Organismus annahm, glaubte, dass es auch für jedes Leiden ein speciftsches Heilmittel gehen müsse. 400 Jahre haben es nicht erreicht, die Aerzte von diesem Aberglauben zu befreien, ja der Wahn von speciftschen Heilmitteln blüht augenblicklich mehr denn je zuvor. Schuld daran sind die Entdeckungen der Bacteriologie. Jetzt hatte man die Krankheitserreger ja in Händen und konnte man systematisch deren Widerstandskraft gegen alle j\[ittel prüfen. Man vergass, dass es vielleicht doch noch einen Unterschied giebt zwischen der Ursache der Ent- stehung und der Ursache des Geschehens in der entwickelten Krankheit. Eine Brandwunde ist nach gehobener Ursache noch lange nicht heil. Man sah nun einmal die Bacterien als das Keale der Krankheit an, und nun begann man den unerbitt- lichen Kampf gegen die Bacterien. Bacterieiivernichtuug durch Desinfection war die Parole. Ja, man ging — horribile dictu — so weit, die Desinfection des Darmkanals und die innere Desinfection des gesamten Orga- nisnms sich zur Aufgabe zu machen. Um den kranken Menschen kümmerte man sich kaum. Er wird gleichsam wie ein vom Teufel Besessener angesehen. War erst der Teufel, die Krank- heit, ausgetrieben, so war er ja gesund. Alle angebotenen Mittel wurden versucht unter der Voraussetzung, endlich einmal zur Entdeckung von specitischen Heilmitteln gelangen zu können. Und Avas war der Erfolg dieser Bestrebung? Trotzdem zu keiner Zeit wohl so viele alte und neue Arzneinüttel in Anwendung gezogen wurden, — die Bacillen spotteten aller Bemühung; der kranke Mensch hatte keinen Vorteil; die chemisch- pharmaceutische Industrie gelangte zu ungelieui-er Blüthe. Man liätte nun erwarten kJinnen, dass nach diesem vergeblichen Suchen nach Specificis die richtige Ueberzeugung endlich zum Dnrchbruch gelangt sei, dass es überhaupt keine specitischen Heil- mittel geben kann, weil es keine Krankheiten giebt, und dass ein gutes Arzneimittel genug leistet, wenn es ii'gend eine Function odei- Thiltigkeit des Organismus mit Sichei-heit beein- — 14 — fliisst. Aber der Glaube an speciflsclie Heilmittel war zu tief gewurzelt. Man fand den Gedanken „nocli einmal Jahrtausende nijtig- zu haben, um wieder vier weitere specifische Mittel zu finden", schrecklich. AMe würde man ei-st den Gedanken linden, dass es bisher keine specifischen Mittel giebt und dass es niemals dergleichen geben wird? Man i-esignierte und hoffte auf neue befruchtende Gedanken. Dieselben Hessen auch wirklich nicht lauge auf sicli warten. Mau macdite die sonderbare Entdeckung, dass die Bacterien sich principiell eigentlich selbst umbrächten, indem sie Stoffe erzeugten, die für sie selbst giftig wären. Diese Thatsaclie bildet den Ausgangspunkt einer Heil- methode, welche die gesamte gebildete Menschheit eine Zeit lang in Aufregung versetzte, der Kochschen Tuberculiu-Beliand- lung. Gefunden schien, was lange vergebens gesucht war, ein specifisches Heilmittel, ein Heilmittel zudem gegen die- jenige Krankheit, welche bis dahin stets unheilbar schien, und der ein Siebentel aller Menschen erliegen muss. Den hochgespannten Erwartungen folgte eine bittre Enttäuschung. Das Tuberculin als Heilmittel ist ausser Anwendung; es würde nur noch geschichtliches Interesse haben, gäbe es nur eine befriedigende Erklärung der Wirkungen desselben. Trotz dieser Enttäuschung, die in der Geschichte der Medicin ihresgleichen nicht hat, ist jetzt, drei Jahre nach der Tuberculin-Einführung, die Hoffnung, specifische Heilmittel zu finden, wieder von neuem belebt worden durch die Ver- sprechungen der Blut-Serum-Therapie. „Für jede Krankheit hat die Natur ein Heilmittel ge- schaffen", sagt Paracelsus. 400 Jahre nach ihm prätendiert Behring, der Wortführer und Popularschriftsteller der Blut- serum-Therapie, die Entdeckung dieser Heilmittel: „Jede Krank- heit verlangt zu ihrer Heilung ein besonders präpariertes Blutl" Und diese Bluti)räparation ist nach Behring ..für Tetanus und Diphtherie nahezu zum Abschluss gelangt für die übrigen Infections-Krankheiten aber nur noch eine Frage der Zeit'', principiell gelöst. Mit unerschütterlicher — 15 — Sicherlieit und seherliafter Begeistermig trägt der Autor seine Lehre vor, wie es bisher in wissenschaftlichen Darstellungen nicht iiblich war, die aber sicher nicht verfehlen wird, auf Manche Eindruck zu machen. Hätte Behring Recht, so ständen wir unmittelbar vor dem Ende der wissenschaftliclien Medicin. Nach Erreicliung ihres Zweckes, der Heilung, ist sie ja überflüssig geworden. Zwar sind unsere Einsichten in die Lebens processe noch sehr kümmerliche; aber lediglich der Liebhaberei einiger Biologen wegen wird man doch vom Staate nicht die Unterhaltung des kostspieligen Lehrapparates der medicinischen Facultät ver- langen können. Die Medicin verschwände von den Universitäten. Ironie des Schicksals, dass diejenige Disciplin, die unter allen das schwierigste übject, den menschlichen Organismus, zum Gegenstande ihrer Forschung hat, zuerst ihie Aufgabe löst, dass grade auf ihrem Gebiet, wo die Praxis nach allgemeiner Klage so weit hinter der Theorie zurückblieb, plötzlich das Verhältnis sicli umkehrt, und das praktische Können das theo- retische Wissen überflügelt. Die Voraussetzung der Serum-Therapie ist eine vermeint- liche Einsicht in das AVesen der Infectionskranklieiten. Ist diese falsch, so niuss das Vertrauen zu dieser neuen Lehr- bestrebung ei'schüttert w^ei'deu. Es fragt sich demnach: Ist das theoretische Fundament dieser Therapie ein sicheres, giebt es überhaupt eine abschliessende Erkenntnis in den Natur- wissenschaften? Diese Frage soll im nächsten Kapitel erörtert werden. 2. Kapitel. Ueber den Wert der Systeme. Auf die am Schlüsse vongen Kapitels gestellte Frage, ob das A\'eseii der Krankheit erkannt werden könnC; haben alle Systeme mit Ja geantwortet. Sie hehaupteti^n, eine end- gültige, abscliliessende Erkenntnis vom "\Wsen der Krankheit gefunden zu haben. Die kurze Lebensdauer aller Sj'steme beweist zur (lenüge das Gegenteil. Die Geschichte der Natur- wissenschaft lehrt vielmelir, dass jede Liisung eines Problems eine Eeihe neuer Rätsel aufgiebt. Vergegenwärtigt man sicli^ was zur Beantwortung dei- Frage nach dem Wesen der Krankheit gehört, so wird sofort erkannt werden, dass das AVesen der Krankheit für uns eine Chimäre ist. Nur Organismen erkranken. Krankheiten sind demnacli Lebenserscheinungen. Die Erkenntnis des Wesens der Krankheiten würde demnach die Erkenntnis des Wesens des Lebens voraussetzen. Die Biologie hat ilirerseits die Lebensvorgänge auf pliysicalische und chemische Gesetze zurück- zufüliren. kann also die Frage nach dem Wesen des Lebens nur auf die Cüiemie und Physik abschieben. Diese beiden Wissenschaften erklären die ihr Gebiet umfassenden Er- sclieinungen aus dem Begriffe der Materie und dem der Kräfte. Was diese sind, fragen sie niclit. Diese Fi age ist überhaupt keine naturwissenschaftliche mehr. Materie und Kraft sind naturwissenschaftlich nicht weiter erklärbare Funda- mentalbegriffe. Die Naturwissenschaften insgesamt, selbst im vollkommensten Zustande gedacht, Avürden demnach hier — 17 — eine iiiiüberwiiKlliche Schranke finden. Selbst innerhalb dieser Schranken kann die Naturwissenschaft niemals /um definitiven Abschluss g-elang-en. Es ist aussichtslos, zu liuffeu, dass wir jemals den einfachsten, einzelnen Naturvorgang- ursächlich erfassen werden, z. B. einen bestimmten Blitzstrahl. Was die Wissenschaft in diesem Falle vermag, ist die Einordnung diese)- Einzelerscheinung unter ihren Gattungsbegriff. Mit der Erkenntnis, dass der einzelne Blitz zu den electrischen Ersclieinungen ge- hört, unterliegt er allen Gesetzen, welche die Wissenschaft filr die electrischen Erscheinungen gefunden hat. Ein ursäch- liches Verständnis dieses einzelnen Naturvorgangs ist indessen hiermit keineswegs erreicht. Die Ursache hierzu verliert sich in der Unendlichkeit. Man vermag vielleicht noch zu finden, dass eine electrische Spannung zwischen Atmosphäre und Erde die nächste Ursache war, dass diese wieder durch abnorme Hitze und Wasserverdunstung bewirkt wurde, dass die Hitzewirkuug von der Sounenwärme heiTührt und so fort ohne Ende. Jedes ein- zelne Geschehen ist das letzte Glied einer unendlichen Kette, von der einige wenige Glieder noch erkennbar sind, deren Aus- gangspunkt für unser Verständnis aber stets unerreichbar ist. Wissenschaftliche Denkweise soll daher niemals vor einer Ursache als letzter halt machen, sondern zu jeder gefundenen Ursache soll eine neue Ursache gesucht werden. Die Aufgabe der Naturwissenschaft ist eine nie endigende, nie abschliessende. lu diesem Character der wissenschaftlichen Aufgabe liegt der Grund, dass, so oft auch die grijssten Entdeckungen die Vollendung der Wissenschaft im ersten Momente zu brin- gen scheinen, dennoch der Blick des Eorschei's das Ziel immer wieder von neuem in wechselnden Gestalten vor sich sieht. Entmutigend könnte dieses ewige Hinaiisrückeu des End- ziels der Wissenschaft nui- wirken, wenn hiermit die Einsicht in die Zwecklosigkeit des Wissens verbunden wäre. Jeder Fortschritt des Wissens ist aber zugleich ein Fortschritt in der Naturbeherrschung. Und wer kann wissen, wie weit es die Menschheit auf diesem Wege noch bringen wird. Ja, diese unendliche, aber beständig fortschreitende Entwicklung enthält 2 — 18 — geradezu etwas Tröstliches. Deuu der ('ledaiike, dass es einst ein (leschlecht geben küuiite, für das es keine Rätsel mehr gäbe, hat etwas abschreckendes. Vernunft zu besitzen und niclits mehr zu haben, woran sich dieselbe betliätigen kann, das wäre mehr als HöUenstrafe, wäre p:rstarrung in tödlicher Langeweile. Aus dieser Qual gäbe es nur eine Errettung, die Verwandlung entweder in Tiere oder Engel. Lessing schreibt: „Wenn Gott in seiner Rechten alle A\ ahrlieit und in seiner Linken den einzigen, immer regen Trieb uacli Wahrheit, obschon mit dem Zusatz, mich immer und ewig zu irren, ver- schlossen hielte und spräche zu mir: Wälde 1 Ich fiele ihm mit Demut in seine Linke und sagte: Vater, gieb, die reine Wahrheit ist ja doch nur fiir dich allein." — Auch die Medicin kann niemals zum Abschluss ihrer Forschung gelangen. Aus der Lösung jedes Problems erheben sich neue Fragen. Es giebt keine absoluten Wahrlieiten, auch nicht in der Medicin. Der Inhalt des jeweiligen Wissens ist eine „ unautiösliclie Verschmelzung von Irrtum und Wahrheit" (Kant). Und so wird es bleiben, so lange menschliche Vernunft noch Fragen stellen wird. Nicht das Erreichen des Ziels, son- dern die allmähliche, schrittweise Annäherung an dasselbe ist der Lohn wissenschaftlicher Arbeit. Und welches ist das letzte Ziel der pathologischen AVissen- schaft? Dieses ist das causale Verständnis der pathologischen Vorgänge. Da die Erklärung des Geschehens, der Verände- rungen im Organismus Aufgabe der Physiologie ist, so kann diese causale Eiklärujigs weise auch die pathologisch -physiologische genannt werden. Bisher hat dieselbe in der Medicin kaum An- wendung finden können. Es giebt dafür nur ein völlig befriedi- gendes Beispiel, der von A'ircho w gelieferte Nachweis des cau- salen Zusammenhangs von Thrombose, Enibolie und Metastase. Dagegen ist die medicinische Wissenschaft fast ausschliesslich der Aufgabe nachgegangen, Ordnung in die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen ihres Gebietes zu bringen Sie hat unter den pathologischen Symptomen diejenigen, welche in immer gleichem Zusammenhang auftreten, zu Typen, Krankheitsbildern, zu- — 19 — sammeug-efasst und ferner noch uaclige wiesen, dass diesen Sym- l)toinenl)ildern bestimmte patliolog'isclieVerändernngen der Organe entspreclien. Anch die ansclieinende Reg*ellosigkeit des zeitliclien Ab- laufs patholügisclier Vorgänge ist dem Gesetz unterworfen, in- dem die Forschung in dem Verlauf nicht nur der Krankheiten, sondern ancli einzelner, vielen Krankheiten gemeinsamer Sym- ptome, wie der Entzündung, der täglichen Fieberschwankungen, bestimmte Regelmässigkeiten erkannte. Diese Erklärungsweise ist die ordnende, systematisierende, den Inhalt ihres Gebietes in Unterarten, Arten, Gattungen und Klassen übersichtlich ein- teilende. Das Endziel derselben ist, wie in Zoologie und Bo- tanik, das natürliche System. Vorläuftg kann aber in der Pathologie von einem natürlichen System keine Rede sein, ja nicht einmal von einem künstlichen, nach willkürlichem Ge- sichtspunkte aufgestellten. Denn selbst ein künstliches System verlangt Ordnung nach einem Gesichtspunkt. So lange die Lehre von den Krankheiten, d. h. die Lehre von den krank- haften Vorgängen, nicht den ihr völlig fremden und ihr ver- derblichen Begriff der Krankheits-Ursache dauernd aus ihrem Ge- biet ausgeschlossen und dahin gewiesen hat, wohin er gehört, in die Lehre von den Ursachen der Gesundheitsstörungen, — so lange fehlt die primitivste Voraussetzung selbst eines künst- lichen Systems: der einheitliche Massstab. Die Erforschung der Kräfte alles krankhaften Geschehens findet man häufig noch als eine Aufgabe der Pathologie ange- geben. Mit Unrecht! Denn diese Kräfte sind längst bekannt, es sind keine anderen als die Kräfte der Natur iiberhaupt. Der menschliche Organismus ist doch ein materielles Ding, und alle Aenderung der Materie, für uns nur als Bewegung denkbar, ist Gegenstand der physicalischen Forschung. Wer die Kräfte kennt, auf deren Wirkung die Physik alle Bewegungserschei- nnngeu zurückführt, kennt auch die Kräfte, welche im mensch- lichen Organismus wirksam sind. Denn fiir die Physik giebt es nur eine Materie. Das ist der unveränderliche, in allem Wechsel behari-ende Träger der wechselnden Erscheinungen der — 20 — Natur. Diesem Begriff entspriclit doch ohne Zweifel der Körper des Mensclien und iufulgedesseu gelten für ihn auch die auf diesem Begriffe der Materie basierten Gesetze der Physik und keine anderen. Andere Gesetze und Kräfte wüi'deu einen an- deren Begriff der Materie als Substrat des nienschliclien Körpers voraussetzen, eine Voraussetzung, die bisher noch Niemandem in den Sinn gekommen ist. — • Aber immer wieder wird behauptet, dass ein Organismus durch physicalisclie Kräfte allein niclit begreiflich sei, dass noch ein anderes wirksames Princip (= Kraft) in jedem Orga- nismus angenommen werden müsse. Solchen Behauptungen gegenüber muss daran erinnert werden, dass dei- Begriff' Kraft anthropomorphistischen Ursprungs ist. Wie der Mensch eine Aenderung äusserer Dinge nur durch Aufwendnng eigner Kraft lierbeiführen konnte, so vermochte er, ohne sein Eingreifen erfolgende Vorgänge in der Natur mir dadurch zu erklären, dass er die änsseren Dinge mit den gleichen Eigenschaften, wie er sie besass und zur Herbeifdhi'uug ähnlicher Veränderung benutzte, ausstattete, ihnen Kräfte zuschrieb. Mit den mensch- lichen Kräften wurde nicht selten der Mensch mit allen übrigen Fähigkeiten und Eigenschaften in die Dinge hineingedacht; die Natur wurde beseelt. Die Nymphen und Dryaden, die Engel und Kobolde mussten zwar vor dem Lichte der Wissen- schaft weichen, aber ihr abgeblasstes Abbild hinterliess uns die Schar naturbelebender Gestalten in dem Begriff' der Kraft, und mit diesem Erbe die Gefahr des Anthropomorpliismus. Wer also angesichts unbegreiflicher Lebenserscheinungen sich auf eine besondere Lebenskraft beruft, der sehe zu, ob diese Kraft nicht eine Intelligenz nach Menschenart ist, welche die Thätigkeit des Organismus mit Weisheit regiert und eingreift, wo die physicalischen Kräfte allein nicht zu genügen scheinen. Selbst in wissenschaftlicher Anwendung ist mit dem Be- griffe Kraft keine Erweiterung der ICinsicht gewonnen. Denn was ist Kraft? Etwas Reales? Keineswegs! Alle realen Dinge müssen, wie schon gesagt wurde, für unsere Sinne wahr- nehmbar sein, müssen sinnliche Eigenschaften, wie Farbe, Ge- — 21 — scluuack, Geruch, Härte, Wärme etc., ausserdem noch eine bestimmte (xestalt und räumliclie Ausdelinung besitzen. Alles dies felilt einer Kraft. Es giebt keine grüne, weiche oder runde Kraft. Dieselbe kann daher auch nichts Reales, sondern nur etwas (bedachtes, ein Begriff sein. Alle Begriffe entstehen lediglich durch Erfahrung, durch Abstractiou von realen Dingen. Den Begriff' „Hund" bilde ich dadurch, dass mich Erfahrung mehrere wirklich existierende einzelne Hunde kennen lehrt ; den Begriff" Kraft kann ich auf diese Weise nicht erwerben. Denn es giebt keine Realitäten von einzelnen Kräften. Jede einzelne Kraft ist selbst schon etwas Gedachtes, ein Begriff*. Es geht hieraus hervor, dass Kräfte überhaupt nur Geschöpfe der menschlichen Vernunft, dass sie nicht einmal rein em- pirischen Ursprungs sind. Erfahrung giebt nur zeitlich auf- einander folgende Empttndungen, welche von unserer Vernunft nach ihren Gesetzen verarbeitet werden zu unserer Vorstellungs- welt. Eine dieser Arten der Verarbeitung der gegebenen Em- pliudungen ist die causale. Sie verknüpft, was empirisch nur zeitlich zusammenhängt durch Ursache und Wirkung. Und dieser nicht aus der Erfahrung, sondern aus der Vernunft stammende, auf bestimmte Erfahrungen angewandte Begriff der Ursache liegt auch jeder Kraft zu Grunde. Ist der wissenscjiaftliche Begriff der Materie der eines ausgedehnten, beharrenden, unveränderlichen Trägers sämtlicher Naturerscheinungen, so ist die Kraft die Ursache, durch welche die Materie den nnaufhiirlichen Wechsel ihrer Eigenschaften bewirkt, und zwar ist Kraft im wissenschaftlichen Sinne die ausnahmslos ununterbrochen wirkende Ursache. Wenn also der grösste Meister der inductiven Forschungsmethode, Keppler, der mit Hülfe dieser Methode die Planetenbahn des Mars ent- deckte, zur Erklärung der Planetenbewegung jedem Planeten einen Engel zuerteilte, so haben die modernen Ursachen der Bewegung der Himmelskörper nur den einen Vorzug vor der von Keppler angeuonnneuen Ursache, dass sie dem für mathe- matische Formeln erforderlichen (Jharacter des ununterbrochen ausnalimlos Wirkenden besseu entsprechen. An sich ist die — 22 — Wirkung- der Himmelskörper aufeinander mit Hülfe von Kräften, die durcli den leeren Raum tliätig sind, genau so unbegreiflich, wie die A\'irkiuigs weise der Kepplersclien Engel. Das Leben durch eine Lebenskraft erklären, lieisst dalier im Grunde nichts anderes als: das Leben ist die AVirkung einer Lebensursache. Hiermit ist selbstverständlich nichts gesagt, so lange nicht die Ursache bestimmteren Inhalt bekommt. Leider sorgt fast immer der Anthroponiorphismus für inhalt- liche Erfüllung des leeren Begriffes. Wer also noch besondere Kräfte der Lebensvorgänge annimmt, verfällt unrettbar ent- weder dem Antliropomorphismus oder dem Spiel mit leeren Worten. Die Biologie sucht im Organismus keine anderen Kräfte als die allgemeinen Kräfte der Ma- terie überhaupt. Aufgabe der Biologie kann nur sein, auf diese allgemeinen Naturkräfte die unbegriff eneu Naturerscheinungen zurückzuführen. Ein Blick auf die Geschichte der Wissenschaften lehrt die Wandelbarkeit der Kräfte und damit ihren subjectiven Character. Im Beginn wissenschaftlicher Forschung ist die Zahl der Kräfte nahezu so gross, wie die Zahl bekannter Dinge. Je mehr das Gemeinsame an den Erscheinungen be- kannt wird und die Einzeldinge zu Arten zusammengefasst werden, um so mehr verringert sich die. Zahl der wirkenden Kräfte. Nicht mehr jedes Einzelding, sondern jede einzelne Klasse von Dingen hat ihr wirkendes Princip. Wie aus Gemeinsamkeiten der Arten Gattungen und aus diesen Klassen entstanden und die Einteilung der Dinge immer einfacher wurde, ebenso ging es mit den Kräften. In der Physik schwand das Phlogiston, der Lichtaether, das magnetische und electrische Fluidum. Die unübersehbare Summe aller Natur- vorgänge ist jetzt zurückgeführt auf einen Fundamentalvorgang, die Bewegung. Die reiche Fülle der Gestalten der organischen Welt ist begriffen als Modificatiou eines einzigen Formelemen- tes, der Zelle. Und in der Chemie findet sich die Forschung auf dem AVege, sämtliche Elemente von einem einzigen ab- zuleiten. Ueberau dasselbe Streben, das Aufsteigen einer - 23 — letzten Art uud letzten Kraft, aus der alle Einzelding-e be- gritt'en werden können. Das Ziel aller Forsclinng-, allerdings das ewig- unerreichbare Ziel, ist der Monismus. Als gewinnreiclies Kesnltat der bislierigen Krörterung er- giebt sich der nietliodisclie Grundsatz oder die methodische Directive, dass wissenschaftlicher Fortschritt nur in einer Ver- ringerung der Zahl der Arten und Kräfte^ in einem Begreifen der Erscheinungen durch immer einfachere Principien bestehen kann. Einen Verstoss gegen diesen Grundsatz und eine Sünde gegen den Geist jeder Wissenscliaft begeht, wer nnbegreitiichen Erscheinungen eine neue Kraft unterlegt. Ein solcher verun- staltet die Wissenschaft durch Vermehrung der Kräfte. Die medicinische Wissenschaft enthält nur zu viele Beispiele dieser wissenschaftlichen Versündigung. Z. B. soll der Zucker hei Diabetes durch ein Ferment entstehen. Noch ein Ferment zu all' den anderen Fermenten? Der Grundsatz der monistischen Aufgabe weist dem gegenüber darauf hin, die vielen ver- schiedenen Fermente des Organismus in ein einziges aufzulösen, stellt uns sogar in Aussicht, dass es dereinst gelingen wird, ohne ein einziges Ferment die Lebensvorgänge zu begreifen ; denn der Begriff des Fermentes enthält immer noch eine con- struierte Kraft für eine unerklärte Erscheinung. Der monistische Gedanke birgt eine grosse Gefahr in sich, die Gefahr der Systembildung. Der unendliche Weg der Wissenschaft führt in ein dunkles völlig unbekanntes Gebiet. Die einzigen Wegweiser sind hier die Ideen. So oft diese das Gebiet des mensch- lichen Wissens erweitert haben, bedarf die Vernunft ihrer Führung uiclit mehr. Mit der Erweiterung des Gebietes ist ihr Gesichtskreis ein weiterer geworden. Sie hndet jetzt auf nunmehr bekanntem Gebiet bequemere und einfachere Wege uud neue Wegweiser zur Entdeckung und Erforschung neuer Länder. So spielen die alten Ideen ihre Rolle als Pfadtinder aus, und neue Ideen übernehmen die Führung. Deshalb sollte nie vergessen werden, was sie geleistet haben, dass jenes uns jetzt vertraute Gebiet einst ein Reich voll Dunkelheit war, in welches jene Ideen ehemals das erste Licht brachten. Nie — 24 — sollte eine Generation dessen nneingedenk sein, dass sie eines gesicherten Wissens mir deslialb sich erfreuen kann, weil die Vorfahren irrten. Wer die Leistungen vergangener Geschlech- ter niclit mit Pietät würdigt, wer in der Medicin mit Ueber- hebnng und Geriugschätzung auf die Irrtümer vergangener Zeiten herabblickt, der beweist gradezu einen Mangel an Bildung oder Anhängerschaft an ein Kranklieitssystem und einen beschränkten Gesichtskreis. AVer auf gebalinten Wegen wandert, hat es leicht, sich über Irrwege erhaben zu dünken. Etwas anderes ist es, einen bekannten Weg wandern, als einen neuen Weg finden. Wer so kurzsichtig ist, seinen Weg für den einzigen Weg zum Heil zu halten,' der möge sich ver- gegenwärtigen, dass, wie er über vergangene Irrungen, so kommende Generationen über seine angeblich nnumstösslicheu Thatsachen lächeln könnten. — Die sogenannten Krankheitssysteme sind alle dem eben geschilderten Irrtum verfallen. Ihre Idee ist nicht mehr ein Wegweiser, ein wissenschaftliches Hülfsmittel, sondern die Wahr- heit selber. Und zwar ist das einzige Gewisse, dem alle ein- zelnen Erscheinungen sich fügen müssen, dei- einmal zum Dogma gewordene Giundgedanke. Macht die Uebereinstimmung der Erfahrungsgegenstände mit der Theorie Schwierigkeiten, so wird nicht die Theorie in Zweifel gezogen, sondern an der einzelnen Erscheinung wird solange herumgedeutelt, bis sie sich der Theorie fügt. Die Folge davon ist, statt objectiver Würdigung der Thatsachen, ein Ueberwiegen oberflächlicher Erklärungen aller Schwierigkeiten, die ins System nicht passten, durch ge- dachte Möglichkeiten, durch Häufung von Veriegenheitshypo- thesen. Ein fernerer gemeinschaftlicher Zug aller Systeme ist die Verachtung alles früher Geleisteten. Wer die endgültige Wahr- heit erreicht hat, für den ist die bisherige Geschichte der Medicin lediglich eine Geschichte der Verirrungen. So lässt ein Bacteriologe die Geschichte der exakt wissenschaftlichen Medicin mit Kobert Koch erst beginnen. Demselben Bacteriologen ist alles früher geleistete nnr „Systembildung". Die Lehren der — 25 — patlu)log"isclien Anatomie, die thatsächlich den Fortscliritt der ]\rediciu zum griissteii Teile bewirkt liabeu, sind ihm ein Vor- urteil, von dem mau sich emaucipiereu muss, um in das bacterio- log-ische System eintreten zu können. In jedem Widerspruche sieht derselbe Bacteriologe den Einfluss überwundener Theorieen. ..Die alten Aerzte können sich in die bacteriologischeu Wahr- heiten nicht finden, weil sie in den Begriffen veralteter Systeme verknöchert sind." Alles früher in der Wissenschaft angeblich Geleistete war von ephemerer Existenz. Die modernen Lehren der Pathologie sind lautere, „durch exakt experimentelle Me- thoden gesicherte Wahrheiten." Die gefahrlichste Seite aller Systeme ist die Erstarrung im Dogma. Wenn die höchste Wahrheit einmal feststeht, wenn es sich nur noch darum handeln kann, alle etwaigen Dunkel- heiten durch dieses Licht aufzuhellen, so ist es selbstverständ- lich, dass alle Rätsel, welche einem unvoreingenommenen Blicke zu einem Problem werden , dem vom System Abhängigen von vorneherein gelöst sind. Dass irgendwelche Erscheinungen dem System direct widersprechen sollten , ist für einen Systematiker undenkbar. Einem solchen steht der Grundgedanke des Systems fest; ^\'iderspl•üche g^geii dasselbe sind nur scheinbar; es kommt nur darauf an. diesen Schein aufzulösen dadurch, dass die Dinge im Sinne des Systems gedeutet werden. Geht dies nicht sofort, so macht man solange Hypothesen, bis eine gefunden ist, welche den Frieden zwischen System und Ding wieder her- zustellen scheint. So z. B. ist es selbstverständlich für jeden Bacteriologen, dass Erscheinungen, welche seinen Ansichten widei'sprechen, niemals gefunden werden können. Bei der Diphtherie flnden sich neben dem Diphtheriebacillus an der krankhaften Stelle immer auch Streptococcen. Ist der Dipli- theriefali ein gewöhnlichei', so wird er dem P)acillus I-iöftler allein zugeschrieben. Gilt es aber, einen abnorm schweren Krankheitsverlauf zu erklären, und zeigt sich hierzu der Bacillus Löffler gänzlich unvermögend, so erinnert man sich auch der übrigen, in den jVCembranen enthaltenen Bacterien- arteu, und sieht jetzt eine Miscliinfection vor sich, V — 26 — Soll die iiiouistische Aufgabe uiclit iu Oberfläclilichkeit oder Vergewaltio img- der Ersclieiuungen ausarten, so miiss ihr gegen- übergestellt werden als ein fernerer methodischer Grundsatz: dass die Detailforschung durch immer genauere Beobachtung der einzelnen Dinge zu immer schärferer Abgrenzung der Arten gegeneinander gelange, dass sie, wo der oberflächliche Blick nur gleiche Erscheinungen sieht, durch tieferes Eindringen noch characteristische Verschiedenheiten entdeckt. — ,, Speeles non temere esse miunendas" niuss ein ebenso wichtiger Grundsatz bleiben wie der, die Arten bis zu einer höchsten allen gemeinsamen Art zu vereinfachen. Immer neue Verwandt- schaft und immer neue Unterschiede zwischen den Dingen zu suchen, verlangt die wissenschaftliche Methode, Geschieht nur das erste, so liegt die Gefahr der Systembildung nahe, geschieht nur das zweite, so befindet sich die Wissenschaft im Zustande stagnierender Empirie und Detailkrämerei. — Der Ausdruck Monismus ist neuerdings gebräuchlich ge- worden zur Bezeichnung einer Weltanschauung, die sich ihres früheren characteristischen Namens Materialismus anscheinend zu schämen beginnt. Mit diesem angeblichen Monismus darf unser Monismus nicht verwechselt werden. Dieser ist die ewig unlösliche Aufgabe der Wissenschaft, jener beansprucht unglaublicher Weise den Besitz endgültiger Lösung. Dieser sucht alles Mannigfaltige auf einPrincip zurückzuführen. Dass dieses aber der wissenschaftliche Begrilf der Materie sei, wie die monistische Weltanschauung will, ist kaum wahrscheinlich, da es in der Natur neben Bewegungen noch Empfindungen und geistiges Geschehen giebt, letzteres aber erst dann auf die Materie und deren Kräfte zurückgeführt werden könnte, wenn das mechanische Wärmeäquivalent für Gedanken und Empflndungen gefunden wäre. Noch ist es nicht gelungen, Gedanken in Bewegungen umzusetzen. Für den unwissen- schaftlichen Monismus ist das, was allen Naturerscheinungen zu Grunde liegen soll, nicht ein Begriff, ein Priucip, sondern eine Realität oder richtiger eine schwindelnde Fülle von Realitäten von kleinsten Körpercheu (Atomen). AVegen dieser I — 27 — Vielheit seiner das Einzelne bildenden Realitäten ist tilr den nnwissenschaftliclien Monismus die Bezeichnung' „Monismus" doch gradezu eine unsinnige. Jedesfalls braucht die Wissen- schaft deswegen nicht auf eine characteristische Bezeichnung zu verzichten, weil jene Weltanschauung sich dieselbe sclion augeeignet hat. Die bacteriologische Lehre von den Bacteriengiften scheint einen Fortschritt im monistischen Sinne zu enthalten, indem die Infectiouskrankheiten mit den früher von denselben scharf geschiedenen Vergiftungen vereinigt werden. Prüfen wir an der Hand der gewonnenen methodischen Grundsätze diese Lehre. * 3. Kapitel. Vergiftungen und Infectionen. Wenn die Kiuordiiung" der Infectiouskrauklieiten unter die Klasse der Vergiftung-en wirklich in wissenscliaftlicher AVeise begründet ist, so miiss bekannt sein: 1) welches die wichtigsten Vorgänge des krankhaften Ge- schehens bei Vergiftungen sind, 2) dass die früheren Differenzen zwischen Vergiftungen und Infectionskrankheiten keine principiellen, vielmehr Beide Aensserungen eines gemeinschaftlichen fundamentalen Factors sind. 3) Wenn Beides nicht der Fall ist, so müssen mindestens wichtige äussere Eigenschaften als beiden Atfectioneu gemeinsam nachzuweisen sein. Eine causale Einsicht in die Lebensprocesse und deren Ablauf, welche unter der Klasse der Vergiftungen zusannnen- gefasst sind, ist nun durchaus nicht vorhanden. Es ist völlig unbekannt, auf welche Art und Weise die Gifte ihre genau bekannten Wirkungen herbeiführen. Statt Kenntnissen existieren nur Hj^pothesen. Nach diesen liypothetischeu Er- klärungen sollen die Gifte zunächst nur eine Wirkung ausüben auf diejenigen Organe, deren functionelle Beeinflussung im Kraukheitsbilde dominiert, z. B. das Morphium auf die Ganglien- zellen der Hirnrinde. Die Art der Wirkung wird vorgestellt als eine chemische Vereinigung der Gifte mit gewissen, in den Zellen existierenden Stoffen, zu welchen sie eine besondere Affinität besitzen. Morphium lässt demnach alle übrigen Organe — 29 — des Körpers imberülirt, weil es durch eine aiisg'esprocliene Verwandtscliaft zu gewissen, im Geliirn vorkommenden Stoffen von den (langlienzellen mit Besclilag- belegt wird. Von diesen Stötten und der Art ihrer Afftnität zum Morphium kennt man ausser den beiden Namen nichts. Abgesehen von diesem Uebelstand enthält die Hy- pothese noch weitere Schwierigkeiten. Die AVirkung der (xifte soll eine cliemische sein, d. Ii. doch offenbar so viel, dass das Gift mit irgend welchen Substanzen eine Verbindung eingeht. Bei diesem Vorgang wird das Gift verbraucht. Es resultiert aus der Vereinigung desselben mit iigend einem Stoff ein neuer Körper mit neuen Eigenschaften. — Wenden wir diese Verliältnisse wieder auf das Morphium an, so muss dasselbe im Moment der ^\'irkung als Morphium verschwinden in einer chemischen Synthese. Jede ausser Function gesetzte Ganglienzelle würde also etwas von der einverleibten Morphium- dosis verbrauclien. Und trotzdem vermag Vioo gi' Morphium auf Millionen von Ganglienzellen lähmend zu wirken und zudem noch stundenlang ohne Unterbrechung! Würde dies schon eine chemisclie Leistung (chemisch soll die AVirkung der (xifte ja sein) sondergleichen sein, so ist der Effekt anderer Gifte, wie z. B. des Phosphor und Arsenik, nach der Hypothese der örtlichen EiuAvirkung gradezu undenkbar. Vioo gi' Phos- plior kann einem Menschen den Tod bringen, nicht in wenigen Stunden, sondern im Verlaufe von Tagen, ja selbst AVochen. In solchen Fällen sind regelmässig bedeutende pathologische Veränderungen fast sämtlichei- Leberparenchymzellen zu con- statieren. Diese A^eränderung der Million und aber Million Zellen kann doch nicht dadurch erklärt werden, dass das Vioo 8'!' Phosphor mit jeder einzelnen Zelle sich chemisch ver- bunden hat. Weshalb erschöpft sich das Minimum des Giftes nicht bei dieser chemischen Verbindung? A^ersch windet doch ausnahmslos bei einer chemischen Vereinigung zweier Körper jeder einzelne in der entstehenden chemischen A^erbindung. Säuren vermögen auf Basen chemisch zu wirken; aber als Säuren verschwanden sie bei diesem Vorgang als Componenten — Sü- des neuen Körpers, des Salzes. Oder sollte es vielleiclit eine Säure geben, welche in einer Menge von Vioo &i" "lit unend- lichen Quantitäten einer Base Verbindungen eingeht, Salze bildet und docli immer noch freie Säure bleibt? Eine chemische Verbin(hing ist zudem ein zeitlich äusserst schnell verlaufender Process, der nur so lauge dauert, bis keine freien Körper mehr zur Synthese verfügbar sind. Warum ist eine Phosphorver- giftung nicht mit Resorption der einverleibten Giftmenge, also in wenigen Stunden, beendet? AVarum dauert sie Tage und Wochen? Wirkt Vioo 8'i' Phosphor denn wochenlang ohne verbraucht zu werden? Im allgemeinen gilt die Ansicht, dass eine Vergiftung so lange dauert, bis das Gift aus dem Körper ausgeschieden ist. Beweise für dies zeitliche Zusammeutrelfeu giebt es nicht. Auf jeden Fall steht die P]rklärung der Beendigung der Ver- giftung durch Vollendung der Giftausscheidung im Wider- spruch zu der Theoiie von der örtlichen chemischen Wirkungs- weise der Gifte. Nach dieser muss consequenter Weise ange- nommen werden, dass die Vergiftungssymptome verschwinden, wenn das Gift au jene Stoffe gebunden ist, zu welchen es be- sondere Affinität besitzt. Nach dieser Theorie die wochenlange Dauer einer durch minimale Mengen von Phosphor herbeige- führten Vergiftung zu erklären, ist unmöglich. Wäre es er- laubt, eine Regeueration des Phosphors im kranken Organis- mus anzunehmen, das Verständnis der laugen Dauer der Ver- giftung würde mit einem Schlage gegeben sein. Doch die Fälligkeit der Selbstvermehrung ist ein Piivilegium derjenigen Krankheitsursachen, von denen mau überhaupt nichts weiss, also auch nichts beweisen kann. Der Phosphor ist nun aber einmal ein wohlbekannter Stoff. Wer dessen Vermehrung be- haupten wollte, müsste dieselbe mit der Wage beweisen. Bislier weiss die Chemie noch nichts von chemischen Stoffen mit dem Vermögen der Selbstvermehrung; ja sie wird, wie bisher, so auch fernerhin dergleichen dem Gebiet der Biologie überweisen müssen. Denn nur lebende Wesen vermehren sich selbst. Es ergiebt sich also, dass die gegebene hypothetische Krklilniiig- durchaus nicht im Stande ist, irg'end welchen cau- salen Einblick in den Mecluinisnms der Vergiftungserscheinun- g-en zu gewähren. Die zweite Aufgabe war, zu untersuchen, ob die früheren Differenzpunkte zwisclien Vergiftungen und Infectionskrauk- heiten priucipiell überwunden sijid. Als eine negative Be- dingung im Unterschiede von den Infectionskrankheiten galt bisher, dass bei einer Vergiftung das Gift nicht im Stande sei, sich im vergifteten Organismus zu regenerieren, und infolge- dessen auch eine Uebertragung der Vergiftung auf andere Indivi- duen ausgeschlossen sei. Dass ein cliemischer Körper sich nicht regenerieren kann, ist als selbstverständlich zuzugeben. Die zweite daraus abgeleitete Bedingung ist aber direct falsch, nicht aus logischen Gründeu, sondern weil sie den Thatsachen direct widerspricht. Die zweite Bedingung, positiv ausge- drückt, behauptet, dass Infectionskrankheiten deswegen an- steckend, von Individuum zu Individuum übertragbar sind, weil der Giftkörper innerhalb des ersten Individuums eine GiftvermehruDg durchgemacht habe. Dieses Argument galt' als der wesentliche Differenzpunkt. Die Forschung liat nun Thatsachen ans Licht gefördert, aus denen die Ueberti-agbarkeit einer Vergiftung hervorgeht und dieser Differeuzpunkt also hinfällig wird. Blutegel sterben in kürzester Zeit, wenn sie das Blut eines an Oxalsäure Ver- gifteten saugen. — Atropin schadet Kaninchen wenig. Der Genuss des Fleisches und Blutes derselben nach Kesorption von Atropin ist anderen Tieren und Menschen gefährlich. — Das Blut und die Secrete von Tiei'en, welche mit Arsenik uud Cyankali vergiftet sind, kann dieselbe Vergiftung bei anderen Tieren herbeiführen. — Die gewöhnliche Erklärung dieser Thatsachen behauptet, dass mit dem Blut und den Secreten das Gift auf das zweite Individuum übertragen wird. Hier- gegen muss eingewendet werden, dass von dem Stoff, welchen das erste Tier aufgenommen hat, sich regelmässig der grösste Teil in den Organen, besonders in Leber, Milz und Darm, be- findet ; der kleinste nur im Blute, dass von diesem letzteren auch — 32 — immer mir ein Teil, nie das gesamte Blut auf das zweite Tier übertrag-en wird. Die (liftmenge kann also nur in stärkster Verdünnung übertragen werden, so dass aus diesem Minimum die p]rkrankung eines zweiten Tieres nicht erkläi't werden kann. — Hierzu kommt noch die vorher schon erörterte Schwie- rigkeit, weshalb das Gift nicht im ersten Organismus durcli chemische Bindung unschädlich wird. Vergiftungen sind also übertragbar, und diese Tliatsache kann nicht durch die mini- malen Mengen des eventuell mit übertragenen Giftes erklärt werden. — Das Argument aber, dass Vei'giftungen nicht über- tragbar sind, weil das Gift sich nicht im ersten Individuum vei'meliren kann, ist einfacli falsch. Hieraus eihellt auch, dass der Schluss: „Weil die In- fectionskrankheiten von Individuum auf Individuum übertragen werden, müssen die Krankheitsursachen Organismen sein, welche sich in jedem erkrankten Körper vermehren", jedes logischen Zwanges entbehrt. Wenn Vergiftungen ohne Gift- vermehrung übertragbar sind, warum sollten es Infections- krankheiten etwa nicht seinV Die Argumentation enthält ausserdem auch noch den Fehler, dass sie nicht von That- sachen ihren Ausgang nimmt, sondern von einer unbewiesenen Hypothese. Der epidemische Cliaracter der Infectiouskrank- heiten ist eine Thatsache, die Verbreitung einer Infections- krankheit durch Ansteckung von Mensch zu Mensch ist dagegen eine Deutung von Tliatsaclien. Eine der fundamentalen Lehren der Bacteriologie ist somit bedenklich erschüttert. Mau kann nicht einwenden, dass die Uebertragung der Infectionskrankheiten eine Thatsache ist. Dies ist nicht geleugnet worden. A\'er wcdlte die Tliatsache der Impfinfec- tionen anfechten? Aber dass Epidemien durch Uebertragung von einem auf den andern entstehen, ist nicht bewiesen. Auch dass mit der Fähigkeit der gradezu endlosen Uebertragung der Impfinfection diese Fähigkeit bei der Vergiftung in nichts verschwinde, beweist nichts; giebt es doch Infectionskrank- heiten, die selbst experimentell nicht übertragen werden können, wie die Pneumonie. Denn die Erscheinungen, welche die söge- — 53 — iiauiiten rneiimouiecocceu bei Kaiiiiu:hen auslösen, haben mit dem, was nuin bisher unter Pneumonie verstanden liat^ nicht das mindeste g-euiein. — Es handelt sich eben um quantitative Abstufungen, nicht um (lualitative Unterschiede, um Ueber- gänge von der nichtübertragbaren Pneumonie zu der kaum — wenigstens nicht mit tödliclieiu Erfolge — übertragbaren Ver- giftung, z. B. durch Oxalsäure, bis schliesslich zu den ins End- lose infectiöse Kraft behaltenden Schutzblatterm So begründet diese Verwandtschaft allerdings die be- rechtigte Aussicht, in den bisher getrennten Klassen der Ver- giftungen und Infectionskraukheiten einen gemeinsamen Factor zu finden, sie als verschiedene Aeusseriingen derselben funda- mentalen Vorgänge begreifen zu lernen. Prüfen wir nun, ob die Infectionskraukheiten noch weitere Verwandtschaften mit Vergiftungen haben, oder ob es zwischen beiden pathologischen Processen eine absolute Schranke giebt. Als eine solche galt das Incubationsstadium der In- fectiouskrankheiteu. Während Vergiftungserscheinungen sich äussern, sobald das (4ift resoi'biert wird, also kurz nach Ein- verleibung desselben, soll bei Infectionskrankheiten der Orga- nismus auf das Eindringen der schädigenden Ursache anfangs gar nicht reagieren, sondern noch Tage, selbst Wochen nach- her in völliger Gesundheit bleiben, trotzdem er das Gift in seinem Körper beherbergt, bis plötzlich die Krankheit zum Ausbruch kommt. In dieses Schema passen die Dinge nicht mehr. Es giebt Vergiftungen, bei denen wohl eine Art Incubation zu beobachten ist. Und ob nicht der Organismus auf eine infec- tiöse Schädlichkeit sofort nach Eesorption derselben reagiert, ist bisher, wie ich glaube, nicht genügend beachtet worden, scheint mir aber wahrscheinlich. Dass es bei Vergiftungen ein Incubationsstadium giebt, beweist z. B. die Phosphorvergiftung. Nach Aufnahme des Phosphors zeigen sich zunächst entweder sofort oder nach Stunden eine Reihe gastrischer Erscheinungen: Druck und Brennen in der Magengegend, mehrfaches Erbrechen etc. Nach- dem diese Symptome einige Stunden angehalten haben, tritt in 3 der Eegel eine p]iipliorie /ou 2—3 Tag-ea ein. Dann erst be- ginnen die für Pliospliorvergiftnngen characteristischen Er- sclieinungen, wie Icterus und Leberscliwellnng, sich auszubil- den. Wie der Phosphor verhalten sich die meisten metallischen Gifte. Auf ein anfängliches, direct nach der Giftaufnahnie einsetzendes Stadium der gastrischen Erscheinungen tritt für verschieden hinge Zeit Wohlbeftnden ein, und dann erst bildet sich das cliaracteristische ^^ergiftungsbikl aus. — Andererseits kann bei einzelnen Infectionskrankheiten von einem Incuba- tionsstadiuni nichts wahrgenommen werden. Dasselbe wird lediglich geschlossen nach der Analogie des Verhaltens von einigen Infectionen, besonders von venerischen und Wund-Infec- tionen, bei denen die Kenntnis des Angenblicks der lufection die Kenntnis der Incubationsdauer zu einer sicheren macht. Aber bei einem acut einsetzenden schweren, nach Stunden tödlich endenden Cholerafall ist doch wahrlich ein principieller Unterschied von einer Vergiftung nicht bemerkbar. Welche Tliatsachen beweisen, dass hier eine Incubatiou vorausgegan- gen ist? Keine! Nur die Analogie scliliesst darauf; aber der Schliiss ist kein zwingender. Es giebt verschiedene Inteu- sitätsgrade der Vergiftungen z. B. durch Phosphor. Ist die Giftmenge eine sehr grosse^ so stirbt der Vergiftete im Ver- lauf von mehreren Stunden und erreicht nicht das, nach einem Intervall von mehreren Tagen beginnende zweite Vergiftungs- stadium. Wer kann behaupten, dass es nicht eine Intensität der Oholeravergiftung giebt, die sofort einen tödlichen Anfall auslöst? Niemals darf der völlig hypothetische Character der Lehre von der Incubation epidemischer Krankheiten vergessen werden. Dass ferner bei Infectionskrankheiten im Unterschied von chemischen Vergiftungen der Organismus direct nach der Aufnahme der Schädlichkeit nicht reagiere, halte ich, wie schon gesagt, flu- unrichtig. Es scheinen hier noch nicht genügende Beob- achtungen gemacht zu sein. Bedeutend ist sicherlich die Keaclion gewöhnlich nicht; und von den Augehörigen der Kranken und von diesen selbst ist eine vielleicht Tage oder - 35 — A^'oellen zurückliegende leiclite, mir einige Stauden aulialteude Störung- unbeaclitet geblieben oder dem Gedächtnis entschwun- den. Nach Analogie der ^'ergiflung durch Arzneigifte und gewisse Fermente müsste die erste sofortige lieaction des Or- ganismus in gastrischen Störungen gesucht werden. Bei einer Maseruepidemie konnte ich in fiinf Fällen voraufgegangene gastrische Störungen constatieren, welche als eine sofortige Reaction auf Giftresorption vielleicht gedeutet werden dürfen. Folgende zAvei Fälle seien erwähnt. Fritz Fr., 4 -lahre alt, er- krankte 7 — 8 Tage vor Ausbruch der Masern (Zeitangabe nicht ganz zuverlässig) in den ersten Stunden der Nacht an heftiger Diarrhöe. Im Verlauf einiger Stunden zwanzig Entleerungen. Am nächsten Morgen Wohlbeflnden, bis 3 Tage vor den Maseru Müdigkeit, Appetitlosigkeit etc. sich einstellten. — Gertrud H., 3 Jahre alt, klagte ungefähr G Tage vor Ausbruch der Masern über Leibschmerzen, und hatte nachmittags sechsmal dünneu Stuhl. Da schnell Bessei'uug eintrat, wurde keine ärztliche Hülfe in Anspruch genommen. — Fermeutinjectionen in das Blut erzeugen eine sofortige Reaction, welche sich eben- falls durch Magen- und Darmerscheinnugen, in besonders hef- tigen Fällen sogar durch blutige Durchfälle, äussern. Erst wenn darnach gleichsam eine Ruhepause eingetreten ist, be- ginnen tagelang ununterbrochen andauernde Erscheinungen wie Fieber, Mattigkeit, Appetitlosigkeit. (Alexander Schmidt, Blutlehre, Seite 256 und viele andere Stellen). — Um zu ent- scheiden, ob die Glycerinextracte eines Alkoholcoagulum von Blut und gewöhnlichen gutartigen Drüseneiters, subcutan appliciert, vielleicht ähnliche ^\'irkuug äusseren, wurden dieselben je einer Katze injiciert. Eine halbe Stunde nachher stellten sich bei beiden Tieren heftige DurchfäUe ein. Nach 12 Stunden Avar an l)eiden Tieren nichts mehr zu bemerken; auch in den nächsten Tagen waren beide munter. Das eine Tier blieb dauernd gesund. Dagegen das mit dem Eiterextract injicierte erkrankte unter immer intensiveren Symptomen und ging nach c. 14 Tagen zu Grunde. Die Temperatur am letzten Abend betrug bei der Katze 40,7. Bei der Section fand sich eine 36 — nur geringe Anscliwelliing der Milz, aber eine auffallende, bedeutende Vei'grösserung sämtlicher Mesenterialdrüsen, die Peyer'scheu Darra-Follikel waren geschwollen, aber ohne Ge- schwüre. Wie sclion erwähnt sind die Thatsachen der Incubation am augenscheiuliclisten bei venerischen Affectionen und accidentellen Wundkrankheiten. Und doch begründet aucli die Incubations- dauer letzterer keinen principiellen Uuterscliied von Vergiftun- gen, da dieselben Krankheitserscheinungen erzeugt werden können durch bacterienfreie (xifte. Dass die verschiedenen Schlangengifte nicht bacterieller Natur sind, ist wohl allgemein angenommen. Das frische Secret der Giftdrüse wurde bac- terienfrei gefunden. Und doch vermag ein Schlangenbiss, voi'ausgesetzt, dass die Giftwirkung nicht so heftig war, dass in kürzester Zeit der Tod erfolgte, Lymphangoitis, Phlegmone und Gangrän zu erzeugen. Auch in diesen Fällen ist die Ent- wicklung der Entzündung keine sofortige, sondern sie bedarf einer gewissen Zeit zur Ausbildung, so dass die Betroffenen häufig ihrer gewohnten Beschäftigung nachgehen, bis Schmerz und Anschwellung sie auf die Gefahr aufmerksam machen. — Man kann natürlich einwenden, dass mit dem Biss der Schlange Bacterien eingedrungen und diese die Urheber der Entzündung seien. Eine derartige Behauptung muss bewiesen werden, wenn sie berücksichtigt werden will. Bewiesen ist durch mehrfache Beobachtung, dass das Schlangengift frei von Bac- terien ist. Zudem wäre es äusserst merkwürdig, wenn alle Giftschlangen Bacterien in ihrer Mundhöhle behei'bergten, Avelche bei Menschen Phlegmone zu erzeugen im Stande wären, während die uichtgiftigeu Schlangen derartige Bacterien regel- mässig nicht hätten. Die Aufklärung aller dieser merkwürdigen Verhältnisse müsste notwendig erfolgen und zwar nicht durch Raisonnement, nicht durch xAusdenken leerer Möglichkeiten, sondern durch beweisende Thatsachen. — Uebrigens haben fermentreiche Flüssigkeiten überhaupt die Eigenschaft, leicht Entzündungen zu erregen. Nach den subcutanen Infusionen deflbrinierteu Blutes nach der von Zi emsen'sclien Methode, — 37 — erleben selbst Aerzte, die in der Handliabiuig der Antisepsis sicher sind, liäiiftg- Abscedieriingen. Miisste docli Behring dies Unglück sogar einmal nach Application seines Heilserums erleben. Aus den angeführten Ciründen geht mit Evidenz lier- vor, dass aiicli das für lufectionskrankheiten cliaracteristisch sein sollende Inciibationsstadium keine nnübersteigbare Schranke gegen die Vergiftungen bildet. Es gie))t auch bei letzteren häufig ein Incubationsstadium. Dass dieses Tncubationsstadium nur möglich sei unter der Annahme von der belebten Natur der Krankheitsursachen, widerspricht also gradezu den That- sachen. Alles, was die Bacterien vermögen, vermögen auch andere Krankheitsursachen; ja sogar nicht allein durch Bacteiien, son- dern auch durch das bacterienfreie Blut eines erkrankten Indivi- duums kann selbst eine Infectionskranklieit immer weiter über- tragen werden. Die Bahn zur Vereinigung beider Klassen pathologischer Veränderungen wäre demnach frei. Es fragt sich nur, ob die Ursache der lufectionskrankheiten, diese noch übrig bleibende Schranke, auch den Bedingungen eines Giftes entspricht. Von einem Gifte nuiss bekannt sein seine Herkunft und sein chemischer Cliaracter. — Die Abstammung der angeblichen Gifte ist eine bacterielle; die Ursachen der lufectionskrankheiten sind Stoflfwechselproducte der Bacterien , lautet die gegen- wärtige Ansicht. Dieselbe muss eine genauere Kenntnis des Bacterienstoffwechsels zur Voraussetzung haben; denn in der Wissenschaft pflegt mau ein Unbekanntes zunächst auf Be- kanntes zurückzuführen; aber vergebens würde man genauere thatsächliche Mitteilungen über ßacterienstoffwechsel suchen. AVas versteht man überhaupt nuter diesen Stoft'wechsel- producten? Da dieselben nicht im Körper der Bacterien bleiben, sondern als Gifte in den menschlichen Organismus gelangen, in die gelösten Bestandteile desselben, Blut und Lymphe, deponiert werden sollen, so muss unter den Stoff- wechselproducten der Bacterien dasselbe verstanden werden, was man bei anderen Organismen mit Kxcreten bezeichnet, so — 38 — dass der Alkoliol g-leiclisam der Urin oder die Faecalien der Hefepilze sein würde. — Während die Ziisammensetznug der Excrete bei allen übrig-en Organismen nahezu die gleiche ist, müssten diese bei jedem pathogenen Bacteriiim specifisch andere sein. _ Es ist klar, dass die Vernnnft sich sohinge stränben muss, etwas anzuerkennen, was ohne jede Analogie in der ganzen organischen Welt ist, bevor nicht eine Fülle von be- weisenden Thatsachen beigebracht ist. Analogieschlüsse hören auf, wenn jede Bacterienart besondere Lebensprocesse zeigt. Die Frage muss demnach für jeden pathogenen Bacillus einzeln beantwortet werden. Z. B. welches sind die Secrete und Ex- crete des Typhusbacillus, des Diphtheriebacilliis u. s. w.'? Aus welchen einzelnen Substanzen setzen sich dieselben zusammen? Welche dieser Substanzen ist die für den Menschen giftige? Antworten auf derartige Fragen giebt es nicht. — Aber irgend- welche Thatsachen müssen doch vorhanden sein, aus denen auf Stoffwechselproducte geschlossen wird? Nicht eine einzige Thatsache kann angeführt werden. Bekannt ist von den Stoff- wechselproducten der Bacterien einzig und allein der Name l — Es lassen sich allerdings aus Bacterien cultureu von den Bac- terien Steife trennen, welche giftig sind. Dies beweist höchstens die Existenz eines derartigen Stoffes überhaupt; aber noch nicht, dass derselbe ein Stoffwechselproduct der betreffenden Bacterien ist. — Doch was soll er denn sonst seinl Ohne die Entwicklung der Bacteriencultur wäre das Gift doch sicherlich nicht entstanden. Dieser Einwand liegt nahe. Dass irgend ein Zusammenhang zwischen der Giftentwicklung und den Bacterien existiert, ist klar; nicht aber, dass das Gift ein Excret der Bacterien ist. Und auf die Frage, was es anders sein sollte als Stoffwechselproduct, giebt es vom Standpunkte der Naturwissenschaft vorläufig nur die eine Antwort: Es ist eine ungelöste Aufgabel — W^er aber als Dogmatiker gleich eine fertige Antwort oder wenigstens einen Namen haben will, der hat doch jetzt schon Auswahl genug. Es giebt wohl kein zweites reales oder gedachtes Ding, welches über eine solche Fülle von Namen verfugte. Toxine, Toxalbumine, Globulo- 4 toxiue, Nucleotoxiiu', Toxopeptoue, Enzyme, Bacterieugifte, Stoffwechselprodiicte, sind einige Bezeiclinungen aus der grossen Fülle. — Je mehr Namen, um so weniger Wissen! Es ist docli wohl das methodisch Eichtige, ti'otz aller scheinbaren Verschiedenheit, hei allen Bacterien denselben Stoffwechsel zu suchen. Erst dann wird auch ein Licht fallen auf die vermeintlichen Stoffvvechselproducte. Denn bevor nicht dei'artige Stoffe mit Sicherheit als solche erkannt sind, ist es eine wahrscheinliche und erlaubte Annahme, dass Bacterien überhaupt keine Stoffvvechselproducte erzeugen. Das Einzige, was sie mit Sicherheit nach aussen abgeben, ist ein neues Exemplar ihrer Gattung, so dass — wenn mau durchaus die Bezeichnung Bacterienstoffwechselproduct für die AVissenschaft erhalten will, — man sagen kann, dass bisher nur ein sicheres Stoffwechselproduct der Bacterien bekannt ist, der Bacillus. Wenn die Bacterien ausserdem noch etwas nach Aussen eli- minieren, so ist es höchst wahrscheinlich allen Bacterien ge- meinsam: Wasser und Kohlensäure. Zu dieser Annahme be- i'echtigt ein Analogieschluss aus den allen lebenden Wesen ge- meinsamen Thatsachen. Zu der Mannigfaltigkeit der Stoff- wechselproducte kann man nur durch einen wissenschaftlichen Sündenfall sclilimmster Art gelangen. Nicht um sie damit einer Klasse bekannter Erscheinungen unterzuordnen, nennt man die hypothetischen Gifte Stoffvvechselproducte der Bacterien, — denn von dergleichen besitzen wir nicht die mindesten Kennt- nisse,- — sondern um das Oausalitätsbedürfnis einer unerklär- bareu Erscheinung gegenüber zu befriedigen, hat man für die- selben eine neue Kraft ausgedacht. Denn ob man die Wirkung der Bacterien sich dadurch klar zu machen sucht, dass man sagt, die Bacterien seien beseelt durch ein böses, krauknuichendes Princip, oder sie besässen eine Krankheit erregende Kraft, oder sie erzeugten giftige Stoffwechselproducte, ist alles gleich un- wissenschaftlich. Immer wird, anstatt Unbekanntes auf Be- kanntes zurückzuführen, dem Unbekannten eine neue Kraft untergelegt. — Aber Verminderung der Kräfte, das Begreifen aus immer einfacheren Principien ist Aufgabe derWissenschaft, — 40 — Vermehrung der Kräfte ist eine Verimstaltimg derWissenscliaft. So ist denn auch die Lehre von den giftigen Stolfwecliselpro- ducten der Bacterien eine Verunstaltung der Medicin, Dass mau derartiges sagen muss, ist gewiss bedauerlicli im höclisten Grade. Aber diese Denkweise hat der Uebel uocli mehr im Gefolge. Die schlimmsten sind OberHächlichkeit und Beciuemliclikeit. Es ist eine gewiss merkwürdige Thatsache, dass ein Problem fast stets den Cliaracter des Problems verliert, sobald es mit einem Namen beglückt ist. Jedem Begiiif muss etwas Reales ent- sprechen, dieses Fundament der scholastischen Denkweise scheint gradezu mit einer psychologischen Notwendigkeit zu entstehen. Die Folge dieser Macht des Wortes ist nicht nur, dass ein be- stimmtes Problem vergessen wird ; auch alle mit demselben zu- sammenhängenden Erscheinungen finden jetzt eine bequeme Er- klärung. Fordert heute eine rätselhafte Erscheinung eine Lösung, sicherlich müssen die Bacillen sie bringen. Zeigt eine Krankiieit Symptome, Avelche durch Anwesenheit von Bactei-ien nicht erklärt werden können, so lässt mau die Bacterien Gifte producieren, die infolge einer ihnen zugeschriebenen Löslichkeit und Resorbierbarkeit wirken können, wo es grade gewünscht wird. Genügt ein Gift nicht, so nimmt man einfach noch ein zweites an. Zeigt ein Krankheitsfall bedeutende Abweichungen vom durchschnittlichen Typus — Fälle, welche immer einen ge- fährlichen Character tragen — , so fi.ndet mau eine Misch- iüfectioü. Es ist dann sehr einfach, die hineingetragene Weis- heit wieder herauszunehmen und als eine vermeintlich empirisch erworbene Regel festzustellen, dass die Mischinfectionen sich durch einen schweren Krankheitsverlauf cliaracterisieren. — Ob uns alle lufectionskrankheiten bekannt sind, ist nicht sicher. Nehmen wir einmal an, in Central asien und Africa er- krankten die Menschen unter uns völlig unbekannten Sym- ptomenbildern. Die Erklärung ist sclion jetzt fertig. Da zu erwarten ist, dass in solchen Fällen Bacterien von characte- ristischeu Eigenschaften gefunden werden, so lässt man dieselben einfach die nötigen Gifte producieren. Denn es kann kein, noch so merkwürdige Erscheinungen verursachendes Gift übev- — 41 — liaiipt gedaclit werden, — die Bacterien werdeu es schon prodn- ciereu. Denn sie stossen sich nicht im Gedräug-e der Dinge im Raum, sie sind erliaben iiber den Zwang- der Thatsachen. Als Inftig-e Kinder der Phantasie kennen sie nur den einen Zwang, die Gedanken ihres Erzeugers zu ahnen, und seinem Auge das Bikl einer Realität des Gedacliten vorzutäuschen. Es wird der Medicin öfter das Lob gespendet, dass sie, befreit von Ki ankheitsdoctrinen und Kranklieitssystemen, jenen Fesseln dei* Vergangenlieit, mit ungetrübtem Blick die Dinge zu erforschen suche, und dass ihre methodischen Mittel keine anderen als die der übrigen Naturwissenschaften seien. Das erste Lob ist leider verfrüht. Wenn jemals die Medicin die Fessel eines Systems tragen musste, so in der Gegen- wart. Der Schaden ist deshalb nicht so gross wie bei früheren Systemen, weil der Einfluss der Naturwissenschaft bewirkt hat, dass behauptete Thatsachen durch Experimente bewiesen werden müssen. Iiulessen die Denkweise und auch die Tlierapie mit ihrem chimärischen ätiologischen Ziele, mit ihrem Bacillenkrieg und der Sehnsucht nach specifischen Heil- mitteln ist doch walirlich nicht g-rade günstig beeinflusst durch das bacteriologische System trotz alles üblichen Rühmens und Preisens. Aber auch an diesem System ist die Idee als der Hinweis auf die Wege zur Lösung, als Umschreibung der Auf- gabe wertvoll. Es Aväre thöricht, dies zu verkleinern. Welche Bereicherung an Thatsachen verdankt die Medicin dem Glück, dass ihre gesamte Forschung sich Weg und Ziel durch die bacteriologischen Ideen vorschreiben liess. Aber ist es des- halb notwendig, stets über den Uuterscliied zwischen Theorie und Thatsachen im Unklaren zu bleiben? Das zweite, was an der heutigen Medicin gelobt wird, dass sie nämlich keine anderen metliodisclien Mittel kenne und gebrauche als die übrige Naturwissenschaft, ist richtig, wird aber mit Unrecht gelobt. Denn dieser Umstand ist eher ein Unglück für die Medicin. Jede wissenschaftliclie Disciplin bedarf ihrer besonderen specifischen metliodisclien Mittel. Was kann ^. B. in der Biologie die Methode der Physik leistenV Angeuommeii. für die Physik selbst gäbe es keine Rätsel mehr, alle Bewegimgsersclieinungen wären von ilir völlig erkannt, — das Problem der Biologie wäre trotzdem noch genau so un- gelöst wie jetzt. Denn dass alle Lebensvorgänge lediglich nach physicalischen (xesetzen von statten gehen, ist scliou jetzt Voraussetzung; oder sollte Jemand auf dem Gebiet der Biologie bisher noch unbekannte physicalische Gesetze linden wollen? Kehren wir zum Thema zurück ! Es musste noch beant- wortet werden die letzte Frage, ob die Thatsaclie des Vor- handenseins eines giftigen Stoffes als Urheber der Infectious- krankheiten überhaupt feststeht. — An der Existenz der durcli Brieger's bewunderungswürdige Untersuchung gefundenen Ptomaine ist niclit zu zweifeln; aber niemand nimmt an, dass sie das causale Agens sind. Nur bei einer Krankheit, der Diphtherie, ist eine Substanz gefunden, welche das causale Princip der Diphtlierie zu sein scheint. -Dieses Gift ent- deckt, rein dargestellt und untersucht zu haben, ist das Verdienst von Roux und Ter sin. Dass bei dem völligen Mangel an Thatsachen die Existenz dieses einzigen Factums der bacteriologischen Idee einen grossen Rückhalt giebt, ist klar; ebenso dass dieser Thatsache ein ungeheurer Wert von Seiten der Bacteriologen beigelegt wird. Behring schreibt: „Die Diphtlierie ist es gewesen, bei welcher nicht bloss ein speciflsches Gift als ausschliessliche Ursache der Krankheit und des Todes supponiert, sondern auch in greifbarer Form nachgewiesen wurde, und von den Untersuchungen bei der Diphtherie ist daher der Beginn einer neuen Aera iu der Lehre von den Infectionskrankheiteu zu datieren, welche charac- terisiert ward durch die Auffassung der Infectionski-ankheiten als Reactionen auf die Giftwirkung belebter Organismen." Die Richtigkeit dieser angeblich revolutionierenden Ent- deckung, welche übrigens gleichzeitig mit den französischen Forschern von Löffler selbst, dem Entdecker des Diplitherie- bacillus, gemacht worden ist, haben alle ferneren Untersuchun- gen bestätigt, so dass die Thatsache der Existenz des Giftes unbestreitbar ist. Es fragt sich nur, ob hierdurch die Lehre — 43 — der neuen Aera in der Medicin etwas von ihrem rein phan- tastischen Oliaracter verliert und an Realität gewinnt. Das Gift von Koux und Yersin wird gewonnen aus Bacterieucultureu, wenn gewisse Bedingungen erfiiUt sind. Erstens muss die Bacteriencultur direct oder durch das Mittelglied von Reinculturen von einem Patienten stammen, der schwer an Diphtherie erkrankt war. Denn die von Diph- theriekranken gewonnenen Bacterieucultureu zeigen die gröss- ten Unterschiede der Virulenz, so dass manche Culturen, schon in kleinster Menge appliciert, schwere Krankheitserscheinungen herbeiführen, während von anderen Kranken stammende Cul- turen so wenig infectiös sind, „dass selbst mit grösseren Quan- titäten kaum deutlich erkennbare Krankheitserscheinungen hervor- gerufen werden 1" „Ganz ausnahmslos ist ceteris paribus die Giftausbeute aus Culturen um so grösser, je virulenter die zur Abimpfung benutzte Cultur gewesen war, und diese Culturen besitzen in der Regel nur dann den höchsten Grad der Virulenz, weun der Kranke, von dem sie stammen, den höchsten Grad des diphtheritischen Krankheitsprocesses zeigte." (Behring.) Für- wahr ! Merkwürdige Gifterzeuger, die nur dann diese Kraft besitzen, wenn sie von einem vergifteten Kranken stammen! Merk- wüi'diger Stoffwechsel, der heute diese, morgen jene Producte erzeugt 1 Zweitens ist nur aus älteren Culturen eine reichliche Giftmenge zu gewinnen. Die französischen Autoren con- statierten die Thatsache, dass Giftvermelirung und Bacterien- vermehrung nicht gleichen Schritt halten, vielmehr im um- gekehrtenVerhältnis zu einander stehen. Während der ersten 14 — 20 Tage ist die Bacterienvermehrung eine üppige, die Menge des Giftes aber eine, verschwindende, verglichen mit der späteren. Erst wenn das Bacterien Wachstum beendet ist, wenn die Bacterien in der Cultur zu Boden sinken, beginnt die eigentliche Giftvermehrung bis zur 7. und 8. Woche hin. Die von Ronx und Yersin entdeckten Thatsachen sind später von allen Untersucliern ebenfalls bestätigt worden, so dass diese frauzösischeu Autoren das Lob, eine neiie Aera begründet zu — 44 — haben, verdieiieu, weil sie neue Tliatsaclien eriüerteu, welche für das bacteiiulogisclie System gradezii veniichtend sind. Das Iiiudert aber nicht, dass eben diese Thatsachen als höchster Triumph der Bacteriologie betrachtet werden von modernen Scholastikern, Avelche die Dinge sich nacli den Ideen richten lassen. Eines Beweises bedürfen für sie die Ideen nicht mehr; deren Wahrheit steht unerscliütterlich fest, (xenugthuung ge- währt es nur noch, wenn neue Thatsachen bekannt werden, welche wieder einmal die Wahrheit ihrer Lehre beweisen oder zu beweisen scheinen, da man es mit Beweisen für selbstver- ständliche Dinge nicht eben allzu genau nimmt, weil sie doch im Grunde überflüssig sind. — So soll nun durch die Entdeckung von Roux, Yersin und Löffler bewiesen sein, dass das Diphtherie- gift Bacterienstolfwechselproduct ist. Ausser den erwähnten Thatsachen fanden diese Forscher noch, dass das Gift aus Culturen, welche auf den verschiedensten Nähr- böden gewachsen waren, gewonnen werden kann. Das Gift kann also nicht in den Nährböden in praeformiertem Zustande, aus dem es durch Einwirkung der Bacterien nur abgespalten zu werden brauchte, enthalten sein. „Beinahe zur Gewissheit" soll dann „die Abstammung der Giftsubstanz direct von den Zellleibern der Bacterien" gemacht sein durcli Guinochet, der in ei Weissfreiem, alcalisiertem menschlichen Urin die Diphtlierie- bacillen züchtete und daraus wie aus Peptonbouillonculturen das Gift extrahieren konnte. — Prüfen wir die einzelnen That- sachen und sehen wir zu, welche logischen Schlüsse aus den- selben gezogen werden können, selbstverständlich nicht, um damit etwas zu beweisen (denn in der Naturwissenschaft ist bekanntlich mit Schlüssen allein nichts zu beweisen), sondern nur um zu sehen, ob die Bacteriologie ihr bevorzugtes Mittel, das Eaisonnement consequent angewandt hat, und ob ihre Doctrin auf Schlüssen von logischer Stringenz aufgebaut ist. Durch die Thatsache, dass, solange die Bacterien sich vermehren, die Giftmenge eine sehr geringe ist, wird eine fundamentale Voraussetzung des Sj-stems total zertrümmert: iiämlich der Parallelismus zwischen Giftvermehrung und Bac- 45 — terieuvenneiining-. Deun durcli diese Annahme erklärte man ja die lange Dauer und die zunehmende Intensität aller iufectiösen Krankheitsprocesse. Bekanntlich werden nun induc- tive Regeln durch eine einzige Ausnahme gestürzt. Nacli- gewiesen ist, dass die Diphtlieiiehacterien von der angenomme- nen Regel eine Ausnahme machen. Der Fundamentalsatz des bacteriologischen Lehrgebäudes, dass die continuierlich zu- nehmende Intensität der Erscheinuugen bei Infektionskrank- heiten ihren Grund darin habe, dass die jMeuge des krank- machenden Giftes mit der ständig zunehmenden Bacterienver- mehruug ebenfalls ununterbrochen anwachse — dieser wichtige Satz ist gestürzt und hat aus wissenschaftlichen Darstellungen definitiv zn verschwinden. „Die Bacterien sind Gifterzeuger und als solche Urheber •der Infectionskrankheiten". So lautet ein zweiter, später näher zu besprechender Grundsatz des bacteriologischen Lehrgebäudes. Hier sei nur hervorgehoben, dass, wenn das zeitliche Zusammen- treffen der Bacterienvermehrung und der geringen Giftmenge einerseits, sowie der Sistierung der Bacterienvermehrung und der rapiden Giftvei'mehrung anderseits durchaus in ursächlichen Zusammenhang zu einander gebracht werden soll, dieser doch nur der sein kijnnte, dass die Bacterien Giftzerstörer sind. Solange sie günstige Existenzbedingungen finden und leben können, halten sie der Giftproduction das Gleichgewicht; haben sie aber ihren Nährboden — um bacteriologisch zu reden — erschöpft, sinken sie zu Boden, so giebt es keinen Widerstand mehr für das Auwachsen des Giftes. Demnach sind die Diphtlieriebacterien nicht Gifterzeuger, sondern — so weit mit logischen Mitteln allein etwas ausgemacht werden kann — Giftzerstörer. Ein zweites Fundament des bacterio- logischen Lehrgebäudes wäre damit wieder vernichtet. Der Stoffwechsel aller Organismen ist am lebhaftesten zur Zeit der grössten Lebensenergie, bei den Bacterien demnach während der Periode üppigen Wachstums. AVahrscheinlich wird der Energie des Stoffwechsels auch die Menge der Stoff- wechselproducte im allgemeinen entsprechen. Bisher ist wenig- ^ 4ö - steiis nocli kein lebendes Wesen gefunden worden, welches um so mehr Urin und Faeccalien produciert, je weniger Nahrung und Getränke es einfülirt. AVenu Bacterien sich nicht ver- mehren, nehmen sie sicherlich keine Stoffe mehr auf. Da die Diphtheriebacillen nach drei A\'ochen ihre Vermehrung ein- stellen, also auch nach aller Analogie keinen, respective nur noch stark verminderten Stoffweclisel haben können, müsste doch das Anwachsen der Giftmenge nachlassen, wenn das Gift Stotfwechseliu'odiict der Bacterien sein sollte. Da aber das Gegenteil der Fall ist, und mit der Sistierung des Bacterien- stoffwechsels das Gift erst recht zunimmt, so kann dasselbe kein Stoffwecliselproduct der Bacterien sein. Es bleibt noch das Argument, dass das Gift von den „Zellleibern der Bacterien" stammen müsse, da das Gift zu gewinnen ist aus Eeinculturen, welche auf den verschiedensten Substraten, selbst auf eiweissfreiem Urin, gewachsen sind. Eine Unabhängigkeit der Gifterzeugung von der Zusammen- setzung des Nährsubstrates wird hierdurch noch lange nicht bewiesen. Es ist eine Thatsache, dass die Diphtheriebacterien nicht auf jedem Nährboden gedeihen, dass die Zahl der ge- eigneten Substrate eine beschränkte ist. Die Ansicht, dass das Diphtheriegift in den Nährböden bereits praeexistiere und durch Einwirkung der Bacterien frei werde, könnte eher in der be- schi'änkten x\nzahl geeigneter Nährböden eine Stütze finden. Man könnte sagen, dass Diphtheriebacterien nur auf solchen Substanzen wachsen, welche das Gift, wenn auch an ver- schiedene Componenten gebunden, schon enthalten. Dass der eiweissfreie Urin aber das Gift nicht in irgend welcher Bindung enthalten solle, — eine derartige Behauptung beweist gradezu einen Maugel an physiologischen Kenntnissen. Denn es ist bekannt, dass jeder auch völlig eiweissfreie Urin Fer- mente enthält. Das von lionx, Y er sin nnd Löffler entdeckte und isolierte Gift kann nach dem Erörterten dem bacteriologischen System nicht das Fundament der Thatsachen bringen. In dem Lob eines Bacteriologen, dass mit der Entdeckung und ßein- ■- 41 ^ darstellung dieses G-iftes eine neue Aera der ]\rediciii beg'iune, liegt eine ^\'alll•lleit, aber eine für die Bacteriologie bittere Walirlieit. Denn das luftige (ledankengebilde des bacterio- logischeu Systems wird durch die von jenen Autoren ent- deckten Thatsachen zerstört. — Eine andere Lösung erfordert das Problem, welches die bacteriologische Idee nicht zu er- klären vermochte. Die Verdienste der bacteriologischen Idee für die Auf- hellung vieler Probleme zu bestreiten, naclidem der Glaube an deren absolute ^^'ahrheit zu Grunde gegangen ist, könnte nur ein bornierter Tlior fertigbringen. Für jeden Einsichtigen wird ein hohes, unvergängliches Verdienst dieser Idee, wie aller vergangenen Ideen, bleiben: die Fülle der neuen unter ihrer Führung gewonnenen Thatsachen. Dass die Lehren der Bacterio- logie wieder die Form eines unfehlbaren Systems annehmen konnten, ist gradezu ein psychologisches Problem. Forscher wie Roux und Y er sin entdeckten Thatsachen, die vernichtend für das Sj'stem sind, oline diese Consequenz zu ahnen und in ihrem Glauben an das System erschüttert zu werden. Und selbst Löffler, der verdienstvolle Entdecker des Diphtherie- bacillus, ein Autor von ungewöhnlicher Nüchternheit und Objectivität, der, als die meisten die pathogene Holle seines Bacillus für erwiesen hielten, nicht vergessen konnte, denselben auch einmal bei einem gesunden Kinde gefunden zu haben, und der deshalb sein definitives Urteil suspendierte, — selbst solche Männer stehen in so hohem Masse unter dem Banne der Idee, dass ihneu die AVidersprüche der Thatsachen nicht zum Bewusstsein kommen, ausser bei eigenen Entdeckungen, wenn Gewissenhaftigkeit immer wieder neue Einwände erhebt. Ob dieser fasciuierende Einfluss der Ideen nicht eher föi'dernd als hemmend für den Fortschritt der Wissenschaft ist, könnte man unentschieden lassen, wäre nicht der Einfluss auf die Therapie immer unheilvoll. Als Resultat der Erörterung dieses Kapitels ergiebt sich, dass Vergiftungen und Infectionskranklieiten in der Art ihrer Verbreitung und in ihrem Auftreten und Verlaufe keine prin- — 48 — cipielleu Abweichiiug'eu von einander zeigen, dass aber der Mangel an Wissen über die Herkunft und chemische Zu- sainmensetziiug der causalen Schädlichkeiten der Infectionskrank- lieiten, besonders aber die Ungewissheit, ob dieselben überhaupt Gifte sind, bisher noch nicht erlaubt, die Infectionskrank- heiten für Vergiftungen zu erklären, und die P]rscheinungen beider Klassen unter einem gemeinsamen Namen zu einer Klasse zusammenzufassen. Da aber die Therapie schon vor der Lehre von den Bacteriengiften eine antibacterielle war und als solche trotz Verwerfung der Lehre von den Bacteriengiften bestehen bleiben könnte, so müssen im Interesse der Therapie auch die übrigen Leliren der Bacteriologie einer Erörterung unter- zogen werden. 4. Kapitel. Gifterzeugende Organismen als Ursache der Infectionskrankheiten. Wie im vorigen Kapitel aiisg-efiihi-t, ist für die Iiifections- krauklieiteii eiu Stadium der Latenz, ein sogenanntes Inciiba- tionsstadium cliaracteristiscli. Wenn Jemand mit Typhus in- üciert, dennoch erst 14 Tage später erkrankt, welche Vorgänge spielen sich unterdessen in seinem Organismus ab? Auf diese Frage ist schon seit Jalirliundeiten vermutungsweise die Ant- wort gegeben worden, dass bei der Infection eiu Keim in den Organismus eindringe, der erst innerhalb desselben eine Ver- mehrung durclimachen, gleichsam ausgebrütet werden müsse, bevor Kranklieitserscheinungen von ihm erzeugt Averden können. Diese Ansiclit soll duicli die Bacteriologie zu einer bewiesenen gemacht sein. Und docli sind die modernen bacteriologischeu Entdeckungen durchaus ungeeignet, diese Voraussetzung ihres Systems zu unterstützen, ja, sie widersprechen ihr gradezu. Es ist eine fundamentale Annahme der Bacteriologie, dass, je stärker die Vermehrung der Krankheitsorgauismen, um so gi'össer die Giftmenge ist. Sämtliche Bacterien vermeliren sicli nun in rapider Weise. Wie mit dieser enormen Ver- melirung und entspreclienden Ansammlung von Gift ein In- cubationsstadium von 14 Tagen vereinbar ist, liat bisher nocli niemand zu erklären unternommen und wird auch niemand zu erklären vermögen. Von bacteriologischer Seite scheint die Frage der Incubation mit Schweigen übergangen zu werden. Bei einer Typhusinfection muss man doch wohl aunelimen, dass der nach 14 Tagen Erkrankte für die Entwicklung der 4 - 50 Bacterien ein .oihistiger Nälirboden" ist, wie der bacterio- logisclie tenniiius teclmicus lautet. Auf eiuein solclieu miiss selbstverstäudlicli das Wachstum der Bacterieu das denkbar üppigste seiu. Nun versuche man sicli auszudenken, zu welch unglaublicher Menge im Laufe von 14 Tagen, von der lufection bis zum Ausbruche der Krankheitserscheinungen, die Bacterien angewachsen sein müssen 1 Und trotzdem während dieser Zeit der Bacterien- und Giftvermelirung Wohlbeftnden? Unerklär- bares Eätsel! Wenn mau annimmt, dass die Bacterien sicli wohl ver- mehren, aber erst nacli 14 Tagen plötzlich giftig werden, so führt dieses sehr willkürliche Argument zu sondei-baren Con- sequenzen. Erstens widerspricht es der Fundamentalvoraus- setzung der bacteriologischen Annahme von Correspondenz der Bacterien- und Cliftvermehrung. Zweitens führt dasselbe gradezu zu Widersinuigkeiten. In der lijqiothetiscben Giftigkeit der Bacterien sieht man Producte des Stoffwechsels derselben. Die Typhusbacterieu müssten also in den ersten 14 Tagen nach der lufection einen anderen Stoffwechsel haben als uach Aus- bruch der Krankheit. Wesen mit der Fälligkeit ihreu Stoff- wechsel zu ändern, sind Insher noch nicht gefunden wordeu. Es gilt vielmehr in der ganzen Biologie, dass der Stoffwechsel eines Organismus als wesentlicher Ausdruck seiner Lebens- thätigkeit stets der gleiche bleibt, so dass man aus einer Ver- änderung des Stoffwechsels mit Sichei heit auf eine Erkrankung des betreffenden Wesens schliessen darf. Krankheit und Stoft'- wecliseländerung sind identisch. Also müssten nach 14 Tagen, wenn eine Aenderung des Stoffwechsels der Bacterien angenom- men wird, die Bacterien selbst krank geworden sein. Es ergäbe sich hieraus die höchst eigentümliche Consequenz, dass, wenn der Mensch krank wird, die Bacterieu auch krank werden; oder anders ausgedrückt, wenn der Mensch vergiftet ist, auch die Bacterien giftig werden; oder wie Behring von den Diphtheriebacillen (Geschichte der Diphth. pag. H2) sagt, dass sie „im Allgemeinen um so mehr virulent sind, je schwerer der Kraukheitsprocess war in dem Falle, von welchem sie her- - 51 - stammen". Die uäliereren Umstände der Incubationsdaner sind demnach diivchans nicht beweisend für eine belebte Natur der Kranklieitsursaclie. Eine weitere sclion erwähnte Veranlassung- zur Annalime belebter vermehr ung-sfähiger Gifterzeuger als Ursache der In- fectionskrankheiten ist der epidemisclie Uliaracter derselben. Man kann sich für die grosse Zahl von gleichzeitigen Erkran- kungen bei einer Infectionskrankheit zwei Arten der Einwir- kung der ursächliclien Schädlichkeit denken. Füntweder die Ursache entstammt derselben Quelle, oder die Ursache wird von einem Individuum auf das andere übertiagen. — Im ersten Falle, wenn die Ursache aus einer gemeinsam benutzten Quelle stammt, kann dieselbe nach bacteriologisciier Ansicht keine chemische Substanz, kein Gift sein. Denn chemische Sub- stanzen existieren immer nur in einer bestimmt begrenz- ten Menge, welche mehr oder minder schnell verbraucht werden müsste. Wenn nun bei der jüngsten Hamburger Cholera- epidemie anfangs täglich circa tausend Menschen erkrankten und in langsam absteigender Zahl Clioleraerkrankungen AVoche für Woche ein lialbes Jahr hiudurcli auftraten, so könnte das causale Agens keine chemische Substanz, sondern nur ein sich immer neu erzeugendes Wesen sein. Ein Stoff, ein Gift kann die Ursache nicht sein, weil dessen Menge schnell hätte ver- braucht werden müssen. — Da der Inhalt der Bassins der Wasserleitung doch häufig erneuert wurde, hätte mit jeder Neufnllung derselben eine bedeutende Verdünnung des etwa nocli vorhandenen Giftrestes stattfinden müssen. Mit ent- sprechender Verdünnung hätte aber entsprechende Abscliwächung der Giftwirkung parallel gelien müssen. Und angenommen, das Gift wäre jedesmal wieder neu in die Bassins der Wasser- leitung hineingelangt, so müsste es ja bei einer halbjährigen Dauer der Epidemie aus einem gradezu unerschöpflichen Vorrat stammen. Unerschöpflicher Vorrat ist ein Widerspruch; denn Vorrat, Menge ist ein bestimmt begrenztes Quantum. E'olglich bleibt nur die Annalime einer beständigen Neuentstehung der Schädlichkeit übrig. Dinge, welche sich regenerieren, immer wieder neu bilden, sind aber Organismen. Folg-licli zwingt die Art der Verbreitung der Cholera und ähnliclier Epideraieeu zur Annahme einer organisierten Krankheitsursache. — Diesem ganzen Schluss fehlt die Bündigkeit. Cholera und alle ähnlichen Epidemieen nehmen duch nach einer gewissen Zeit ein Ende; zudem wird die Zahl der täglichen P^rkrankungen nach dem Ausgang der Epidemie zu immer geringer; die einzelnen Ki'ank- heitsfälle werden immer gutartiger. IZs hat also doch den Anschein, dass eine Erschöpfnng und starke Verdünnung der Giftmenge stattfindet. Auf jeden Fall kann man aus der Art des Auftretens und Abiaufens der Cholera durchaus nicht auf eine unerschöpfliche Giftauelle schliessen. Ausserdem existieren eine Reihe von Thatsachen, welche dem Satz, auf den der bacteiiologische Syllogismus sich stützt, direct widersprechen. Es ist dies Jenes als sicher angenommene und daher keines Beweises bedürfende Urteil, dass nichtorganisierte Dinge der Vermehrung unfähig sind. Dem widerspricht z. B. folgende Thatsache. P'.ine und dieselbe Menge Salpetersäure ist im Stande, eine unendliche Menge Schwefelsäure zu erzeugen, unter geeigneten Bedingungen , gleichsam bei geeignetem Nährboden. Diese Bedingungen sind immer vorhanden, wo schwefelhaltiges Material verbrennt und die Verbrenuungs- produkte desselben mit Wasserdampf, Sauerstoff und Salpeter- säure zusammentreffen. Ein fernerer Beweis für die Entstehung einer grossen Menge anorganischen Stoffes bei gleichbleibender Ur- sache ist die Herstellung des Aethers. Solange man auch zu einer bestimmten Menge Schwefelsäure Alkohol hinzufügen mag, derselbe wird ohne A^erbrauch der Schwefelsäure in Aether übergeführt. Und vollends liefert die physiologische Chemie in den Fermenten Beispiele dafür, dass geradezu unmessl)ar kleine Quantitäten gewisser Stoffe im Stande sind, ungeheure Mengen eines neuen Productes zu erzeugen. Man macht in der Regel gegen diese Aehnlichkeit von Fermentwirkung und Bacterien- vermehi'ung den Einwand geltend, dass die Wirkung der Fer- mente immerhin eine begrenzte sei. Eine bestimmte Meno-e Pepsin z. B. kinme uiclit imeiidliclie Quautitäteu von Fleisch verdauen. Allerdings, in einer künstliclieu Verdanung-smiscliung sistiert nach einiger Zeit die Pepsinwirkuiig trotz Vorhanden- seins unverdauten Materials. Dieselbe Thatsache ist aber auch bei dem A\'achstuni der Bacterien zu beobachten. Dasselbe hört nach einer gewissen Zeit ebeu falls auf, selbst wenn noch eine Fülle geeigneten Nährmaterials vorlianden ist. Die Erklärung der Bacteriologie für diese merkwürdige Erscheinung ist eine überaus seltsame. Man sagt, die Bacterien erzeugen Stoff- wechselproducte, in denen sie selbst umkommen. Mit grösserem Rechte könnte die Physiologie die gleiche Erscheinung bei der Pepsinverdauung durch dasselbe Aigument erklären, weil der Physiologie die verdauunghemmenden Producte, die zu reich- lich vorhandenen Peptone, bekannt sind. Dass die eigenen Stoftwechselproducte für die Bacterien selbst giftig sind, vermag dagegen niemand zu sagen, da niemand dergleichen kennt. Früher hielt man die bei der Verdauung entstehende Carbol- säure für ein solches giftiges Stoffwechselproduct. Augenblick- lich ist man darüber einig, dass das Carbol ans Zerfall der eingeführten Eiweisskörper entstellt und kein Product des Stoff- wechsels der Bacterien ist. — Was im Reageuzglase geschieht, braucht darum noch nicht im lebenden Organismus statt zu finden, wo mit der Peptonerzeugung die Resorption gleichen Schritt hält. AVieviel ein und dieselbe Pepsinmenge im leben- den Organismus verdauen kann, ist nicht zu constatieren. Aber dass die Wirkung desselben eine ganz erstaunliche ist, beweist ein von Petit angestellter Verdauungsversuch, in welchem Pepsin im Stande war, in 7 Stunden das 500000-fache seines eigenen Gewichtes an Fibrin zu verdauen. (Pliysiolog. Chemie von Neumeister 1893.) Wenn man bedenkt, dass Pepsin rein nicht hergestellt werden kann, sondern dasselbe immer noch durch Eiweissköi-per verunreinigt ist, so stellt sich die Verdauungskraft des Pepsin in diesem Falle als noch grösser heraus. Ausser der Bündigkeit des Schlusses fehlt daher der Annahme belebter Kranklieitseri'eger auch noch die thatsächliche Voraus- — 54 — Setzung. Audi Fermente könnten eine unversiegbare Quelle immer neuer Giftmengen bilden. — Eine gewisse Unterstützung gewinnt der Scliluss auf organische Krankheitserreger in den erörterten Fällen durch die Analogie, durch die angebliche Notwendigkeit, Organismen für die zweite Art der Verbreitung von Epidemieen durch Uebertragung der Krankheit von Mensch zu Mensch anzunehmen. Mag Schwefelsäure auch unendliche Mengen Aether, Pepsin unendliche Mengen Peptone bilden können, so kann Schwefelsäure doch nicht wieder Schwefel- säure, Pepsin nicht wieder Pepsin erzeugen. Wenn aber ein Kranker auf einen Gesunden eine Krankheit überträgt, so muss das Gift bei beiden dasselbe sein; das erste Individuum kann nicht einProduct des ihn schädigenden Giftes an das zweite In- dividuum abgeben, sondern nur das Gift selbst, da die Krank- heit , also auch deren Ursache in beiden Fällen die gleiche ist. Der Erste ist erkrankt durch Aufnahme eines Minimums der Schädlichkeit. Wäre dieses Minimum ein cliemisclier Körper, so würde es durch das Blut und die Säfte des Kranken ver- dünnt Averden und bei einer Uebertragung auf einen Zweiten sollte von dieser Verdünnung des Minimums abermals ein Minimum die gleich heftigen Krankheitserscheinungen bedingen? Dies ist unmöglich. Folglich beweist die Uebertragung einer Krankheit eine Vermehrung des aufgenommenen Giftes im erkrankten Oiganismus. Kein Stoff kann sich selbst wieder erzeugen; dies vermögen nur Organismen. Folglich ist eine Uebertragung von Krankheiten von Mensch zu Mensch allein durch Organismen möglich. Aber schon die populäre Bezeichnung der Infectionskrank- heiten als ansteckende Krankheiten beweist die Möglichkeit einer anderen Auffassung. Die epidemische Verbreitung der Infections- kranklieiteu wird durch den Begriff der Ansteckung mit der Ausbrei- tung eines Brandes verglichen. Ein einziger Funke kann Städte einäschern. Nach Art der üblichen Argumentation müsste folgen- der Schluss gemacht werden: Die Feuermasse eines grossen Bran- des ist aus einem anfänglichen Minimum entstanden. Der ei ste auslösende Funke hat sich in kolossaler Weise vei-melirt. Tote — 55 — Materien vennehreu sich uiclit, folglicli ist der erste züudeude Fimke eiii organisiertes Wesen, denn nur solclie sind der Ver- nielirung filliig-. Dass nicht organisierte Stoffe sich nicht vermeliren können, dass dies nur lebenden Wesen möglich sei, — dieses Urteil von vermeintlich unerscliütterlicher Gewissheit ist keineswegs über allem Zweifel erhaben. Dass Pepsin mehr als das öOOOOOfache seines Gewiclites an Fibrin verdaut, ist doch kaum anders denkbar als durcli eine Ve)-mehrang des Pepsins durch eine Abspaltung desselben aus dem Fibrin während des Verdauuugs- processes. Hierfür spricht auch eiu Versuch von Grünhagen (Neumeister, Ph3^siologische Chemie 1893, Seite 183). Ge- (lUoUene Fibrinflocken wurden durch Abpressen von der ver- dünnten Salzsäure befreit und im Bi utschranke in einem Glas- tricliter mit enger Abflussiitfnung ausgebreitet. Wurde diese Fibrinmenge mit einigen Ti'opfen Pepsinlösung nur an einer Stelle benetzt, so w'ar der Trichter nacli einigen Stunden leer, das Fibrin also verdaut. Neumeister erklärt diese Erschei- nung dadurch, dass die verdauten Teile im Herabfliessen das Pepsin an die unverdauten Teile abgeben. Diese Erklärung ist doch wohl unmöglich, da das verflüssigte Fibrin schw^erlich den Berg hiuauffliessen kann, die oberhalb der mit Pepsin versetzten Stelle beflndiiche >'i])rinmenge aber auch verflüssigt wurde. Dieser Versuch kann daher nur so erklärt Averden, dass das Pepsin bei seiner Einwirkung auf die benachbarten Fibrinteile letztere in mehrere Producte spaltet, unter denen eins neuerzeugtes Pepsin ist. AVenn diese Neuentstehung des Pepsins aucli nur hypo- thetisch ist, so ist eine alle Bacterien Vermehrung weit hinter sich lassende Neuerzeugung des Fibrinferraentes bei der Blut- gerinnung eine nicht anzuzweifelnde Tiiatsaclic. — Lebendes Blut enthält keine, oder nach den neueren Untersuchungen von Alexander Schmidt, nur minimale Mengen des Gerinnungs^ fermentes. Ist das Blut zur Gerinnung gekommen, so ist die Fermentmenge eine ungelieuer grosse. In einigen Minuten hat sich das Minimum anfänglich vorliandenen Fermentes in rapider — 5G — Weise vermehrt. Das gerouueue Blut iu iiiiuinialsten Mengen einer gerinnbaren Flüssigkeit liiuzugesetzt, erzengt mit ein- tretender Gerinnung abermals die grössten P'ermentmengeu. Gegenüber einer derartigen, rapiden Selbstvermeliruug ver- schwindet alle Bacterienvermehruug. Das Fibrinferment entspricht vollständig der Anforderung einer Selbstvermehrung. — Es geht ans alledem hervor, dass die Griindannahme der parasitären Natur der Ursache der lu- fectionskranklieiten nicht notwendig ist, da Fermente alles das leisten könnten, was Bacterien auch leisten. Damit ist selbst- verständlich nicht gesagt, dass Organismen die Ursache epi- demischer Krankheiten nicht sein können; nur die unbedingte Notwendigkeit der belebten Natur der Krankheitsursachen ist abgelehnt. Zudem muss noch erwähnt werden, dass die ganze Argu- mentation der Bacteriologie von einer unbewiesenen Voraus- setzung ausgeht, dass nämlich die lufectionskraukheiten von Mensch zu Menscli sich verbreiten, kurz dass sie ansteckend sind. Der ansteckende Character der lufectionskraukheiten ist keine Tliatsaclie, sondern die logische Verarbeitung einer Tliatsache, eine Theoiie. Dieser Unterschied zwischen That- sache und Theorie darf nicht vergessen werden. Zwar wird man einwenden, dass die Ansteckung selbstverständlich sei und dass der Augenschein ja schon die Uebertraguug einer Krank- heit von Mensch zu Mensch täglich lehre, Berufung auf den Augenschein ist aber einer Wissenschaft nnwiirdig. Denn der Augenschein ist ja grade erst die Aufgabe jeder Wissen- schaft. Das Augenscheinliche soll cansal begriffen, den Natur- gesetzen uütergeorduet werden. Dies ist nur möglich durch Denken, nicht lediglich durch Anschanen der Dinge. Denn sonst müsste ein Neger befähigter sein, Wissenschaft zu er- zeugen, als der civilisierte Mensch. Naturvölker haben ja bekanntlich schärfere Sinne als Culturmenschen. Der Augen- schein lehrt gar nichts, ^^'er sich auf dieses, leider beliebte Argument beruft, muss einen Copernicus für einen Frevler an der Natur halten, der gelehrt hat, dass sich die Erde um die Soiiue drehe, wälireud doch der Aug-eiisclieiu jeden Tag- zeigt, (lass die Erde feststellt und die Soime auf- und iiuter- geht. Die Berufung auf den Augenschein ist Berufung auf populäre Erklärungsweisen. Letztere haben aber das eigeu- tiunliche Missgeschick, fast regelmässig falsch zu sein Auch in vorliegendem Falle ist die populäre Ansteckungserklärung, welche die medicinische Denkweise beherrscht, eine wahrschein- lich falsche Theorie. Air dieses Eaisonnement tritt an ^^'iclltigkeit in den Hintergrund angesichts der Tliatsache, dass die Bacteriologie bei bestimmt abgrenzbareu Kranklieitsbildern wohl charac- terisierte Bacteiien entdeckt hat. Zweifel an der Richtigkeit dieser Entdeckung sind ausgeschlossen; ob indessen dieses constante Vorkommen bestimmtei- Bacterienformen bei den einzelneu Infectiouskrankheiten den Scliluss auf die ätio- logische Rolle der Bacterien unabweisbar macht, kann bezweifelt werden. Bevor ein Bacillus mit Sicherheit als patliogen anerkannt werden kann, niuss derselbe den Koch'schen Postulaten entsprechen. Diese Postulate lauten: 1) Der Parasit muss in jedem einzelnen Falle der betreffen- den Krankheit angetroffen werden. 2) Er darf bei keiner anderen Krankheit als zufälliger nicht pathogener Schmarotzer vorkommen. 3) Die betreffenden Bacterien müssen unter Yei-hältnissen, welche die pathologischen Veränderungen und den kli- nischen Verlauf der Krankheit erklären, anzutreffen sein. 4) Vom kranken Köiper getrennt und in Reincultui en ziem- lich oft umgezüchtet, muss ein pathogener Bacillus im Stande sein, bei Uebertragung die Krankheit von neuem zu erzeugen. Diese Forderungen scheinen alle Bedingungen, welche die Kritik nur A erlangen kann, zu erfüllen, und sind sicherlich ein Beweis nüchteinen und gewissenhaften Vorgehens. Und dennoch genügen sie nicht. Sie basieren unbewusst auf einer irrtümlichen Voraussetzung, welche nicht dem Kopfe eines — 58 — Einzelnen entspruug-en, sondern das Product einer liistorisclien Entwicklnng ist. Dieser Irrtum bestellt in folg-enden drei un- bewiesenen Sätzen : 1) Jede Krankheit hat einen bestimmten Sitz. 2) Jede Krankheit entsteht durch einen örtlichen Reiz. 3) Die Stelle der örtlichen Reiz Wirkung- und der Sitz der Krankheit sind identisch. Diese Lehre ist entstanden in Opposition gegen die Doctrin von essentiellen Krankheiten, d. h. Krankheiten, die ohne Ver- änderungen im Organismus gleichsam gespensterhaft in dem- selben wirksam sind, und gegeuiil)er der hurnoralpathologisclien Doctrin von unbeAviesenen Anomalien der Säftemischuug und deren Ausscheidung- durch die Organe, an welchen späterhin die anatomischen Veränderungen zu constatieren waren. Der bereclitigte Kern dieser Lehre ist die Forderung, zu jeder Krankheit eine äussere Schädlichkeit und eine anatomische Veränderung zu suchen. Dogmatische Verirrung- ist aber die lierrscliende Ansicht, dass die von aussen einwirkende Schäd- lichkeit grade da ihren Angriffspunkt auf den Organismus ge- nommen habe, wo später die wesentlichsten, organischen Ver- änderungen zu linden sind. Diese Ansicht ist wieder die Consequenz eines falschen Kranklieitsbegriffes. Denn die Lehre vom bestimmten Sitz der Krankheit beruht allein darauf, dass man aus den Krankheiten Realitäten macht. Methodisch richtig ist, dass alle Krankheits- wie Lebensersclieinungeu ge- bunden sind an organische Elemente, die Zellen, und dass infolgedessen für jede abnorme Lebenstliätigkeit auch eine anatomisch sichtbare Veränderung der Zellen gesucht werden muss. Ferner ist richtig, dass jede Abweichung von der Ge- sundheit auf der Einwirkung- irgend einer Schädlichkeit beruht, dass nicht die Krankheit wie ein Teufel in den Menschen hinein- und wieder herausfährt. Aber hieraus folgt nie und nimmer, dass die Schädlichkeit an der Stelle der anatomischen Verändernngen eingewirkt hat. Dies ist sogar für die meisten Infectionskraukheiten direct falsch. Nehmen wir als Beispiel die Masern. Die Vernunft sträubt sich denn doch gegen die — 59 — Aimalime, dass jeder der tausend Masernflecke diircli einen örtlichen Reiz entstanden sein soll. Wie soll man sich ferner denken können, dass Organe, welche mit der Aussenwelt in keiner Berührnng- stehen, wie Gehirn, Leber, Knochenmark, durch einen äusseren Reiz direct heeinflusst werden können? Es ist doch nur möglich, dass eine Schädlichkeit in diese Organe auf dem AVege der Blutbahu gelangen kann, dieselbe also an irgend einer anderen Stelle des Körpers eingewirkt liat und in's Blut gedrungen ist. — Wie sind Vergiftungen mit der Lehre vom örtlichen Reize als der Ursache pathologischer Veränderungen zu vereinbaren? Es war eine natürliche Folge der soeben auseinander- gesetzten Lehre, dass man die Ursache der Krankheit an der Stelle suclite, an welcher dieselbe eingewirkt haben sollte, nämlich an den pathologisch anatomisch veränderten Organen. Jenes Koch'sche Postulat, dass patliogene Bacterien durch die Art des Vorkommens im Gewebe die pathologischen Verände- rungen und klinischen Symptome müssten erklären können, bezieht sich stillschweigend auf die Erklärung der örtlichen Veränderung durch direct einwirkenden örtlichen Reiz. Wenn bei bestimmten Organveränderungen bestimmte Bacterien regel- mässig gefunden werden, so sollen dieselben den Reiz repräsen- tieren, und zwar nicht allein den diese Veränderungen, sondern die gesamte Krankheit auslösenden Reiz. Nur wenn der Typhus im Darme seinen Sitz und Ausgangspunkt hat, hat es Zweck, den pathogenen Bacillus im Darme zu suchen. Denn anderen- falls, wenn die Darmaffection nicht das Primäre, nicht der Ausgangspunkt wäre, sondern eine Veränderung, welche erst im Verlaufe der Krankheit auf Ausscheidung einer bestimmten Schädlichkeit durch den Darm beruht, hätten etwaige, auf den Typhusgeschwüren gefundene Bacterien, seien sie auch noch so bestimmt characterisiert, keine ätiologische, sondern eine andere Bedeutung. Ist demnach das stillschweigend als bewiesen angenommene Fundament unrichtig, so zerfällt damit das dritte Koch'sche Postulat in sich selbst. — Im Folgenden wird an dem Beispiel dei- Diphtherie kurz das Tiiigiiche der Ansicht — 60 — nachgewiesen werden, auf welclier diese dritte Kocli'sclie Forderung- beruht. Die Diplitherie hat ihren ,.Sitz", wie heute gelehrt wird, auf den Tonsillen und der liachensclileinihaut der Kinder, selten der Erwachsenen, ^^'elches ist die Ursache der Veränderungen dieser Organe? .,Ein äusserer örtlich wirkenderEeiz," lautet die Antwort, ein Reiz, der nach Entdeckung des Diphtheriebacillus in dem von ihm erzeugten Gift gefunden sein soll. Es giebt nun viele Wege, um zur Klarheit über den Grund der Localisation einer Krankheit zu gelangen. Zunächst durcli experimentelle Wieder- holung des vermeintlichen Vorgangs. A\'er eine äussere Reiz- wirkung als Ursache aunimmt, für den ist dieser Weg der nächstliegende. - Bisher ist es nicht möglich gewesen, dasjenige Bacteriengift zu finden, durch dessen Application auf die Ton- sillen Diphtherie derselben entstanden wäre. ]\ran nuiss daher auf andere Weise zum Ziel zu gelangen suchen, nnd zwar dadurch, dass man das Zustandekommen derselben oder ähn- licher anatomischer Störungen an anderen Körperstelleu, oder andere verwandte Störungen an derselben Körperstelle in Bezug auf ihr Zustandekommen untersucht oder prüft, ob aus der Function der erkrankten Organe eine Einsicht in die Ur- sache der Veräiiderungeu zu erlangen ist. — Diphtheritische Ver- änderungen giebt es nun nicht allein auf den Tonsillen bei der Krankheit „Diphtherie"', sondern solche können an allen Schleim- häuten des Organismus auftreten. Dass derartige Sclileimliaut- störuügeu au irgend welclier Stelle des Körpers durcli directe Einwirkung eines von aussen thätigen Reizes hervorgehen, ist in keinem einzigen Falle bewiesen, sondern immer nur theore- tisch angenommen. Wohl aber giebt es eine Menge derartiger Sclileimhautverändeiuugeu, welche nur entstanden sein können durch die Ausscheidung einer Schädlichkeit am Orte der Ver- änderung. Bei Sepsis puerperalis findet sich ohne nietastatisclie Bacterienveibreitung neben anderen Störungen auch Diphtherie des Darms und der übrigen Schleimhäute. Da Bacterien hier nicht örtlich schädigend wirken können, so muss eine etwaige Laesion durch Ausscheidung einer Schädlichkeit entstehen. — (;i — Bei Cholera ftudet sich Diphtlieiie der Nierenbecken-, der Ureter- uiul Blaseu-Schleiiiihaut. Sogar bei Yergiftiiugen, z. B. tödlichen Vergiftuug-ennach Siiblinuilausspülnng des puerperalen Uterus, ent- stellen ansgedelinte diphtheritisclie Zerstörungen im Darm. Auch in den beiden letzten Fällen kann nur bei der Ausscheidung der Schädlichkeit die Zerstörung entstehen, da bei Cholera auf der Schleimhaut des Ureter nur circumscripte Veränderungen sich Huden, eine nachträgiich durch einen von den Nieren aus- geschiedenen Stoff bewirkte Störung keine circumscripte, sondern eine continuierliche und gleichinässige sein müsste. Ebenso kann bei Sublimatvergiftung die Zerstörung des Darms nur entstehen bei der Ausscheidung gleichfalls ans dem Grunde, weil die Zerstörung nnr einen Teil des Darins und von diesem nur be- stimmte Partieen betrifft. Während es also bei l)ii)htlierie anderer Schleimhäute in keinem Falle bewiesen ist, dass die- selbe durch ..äusseren örtlich wirkeiulen Rei/>" entstehen kann, giebt es eine Reihe diphtheritischer Zerstöi'ungen, welche un- miigUch anders als durch Ausstossung eines schädigenden Agens an der Stelle der T^aesion zu Staude kommen können. Es ist daher auch möglich, dass die Ivachendiplitherie entsteht im Moment der Elimination eines „Griftes". Die Mund- und Rachenschleimhaut ist ausgezeichnet durch die mannigfaltigsten pathologischen Veränderungen und durch die Mitbeteiligung bei den meisten Infektionskrankheiten und bei vielen anderen Störungen, S3'pliilis in allen Stadien affi- ciert die Rachenschleimhaut. Für jedes secundäre und tertiäre Syphilid eineu äusseren örtlichen Reiz annehmen; Messe jede dieser Veränderungen auf eine Neuinfection beziehen, was un- sinnig ist. Folglich können S3'philide der Rachenschleimhaut nur durch Secretion der causa morbi entstehen. H3'drargyrum, das angebliche Specilicum gegen Syphilis, vermag wie am Zahn- fleische auch an der Rachenschleimhaut Veränderungen hervor- zurufen, gleichgültig ob es intern, subcutan oder durch Ein- reibung incorporiert ist. Fast bei sämtlichen Infectionskrank- heiten macht sich eine mehr oder minder starke Beteiligung der Rachenschleimhaut bemerkbar. Z. B. bei Scharlach, — 62 — j\raserii, Pocken, Varicelleu etc. In allen diesen Fällen eine Äliscliinfection annelimen ist sehr bequem; uninöglicli aber ist eine derartige Annahme bei der Tuberculinwirkung. Diese bedingt liäufig aucli bei Niclittuberculösen eine leichte anginüse Rötung. Durch einen ungliicklichen Zufall stach sich der Ver- fasser bei einem Tierversucli die Nadel der Injectiunsspritze in die Hand, wobei geringe Mengen eines Wasserextractes von dem lange unter Alkohol aufbewahrten Blute einer Katze mit eindrangen. Abends stellte sich Frost, Temperatursteigerung bis 39,6 und lebhafte Halsschmerzen ein. Da ich mich nicht erinnere, je Fieber gehabt zu haben, glaube ich diese Tempe- ratursteigerung auf die Injection der geringen Menge des frem- den Blutes und dementsprechend die anginösen Beschwerden auf eine Ausscheidung im Halse beziehen zu dürfen. — Bei Vergiftungen und den verschiedensten Krankheiten finden sich also pathologische Alfectionen der Rachenschleimliaut, welche nicht anders als durch eine Ausscheidung erklärt werden können. Warum soll dies nicht auch bei Diphtherie der Fall sein? Und schliesslich — ergiebt sich vielleicht aus der Art der Anordnung der Veränderungen und aus der Function der veränderten Teile ein Hinweis auf die Entstehung der Rachen- diplitherie, — Zunächst ist auffällig ein in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle symmetrisches, Auftreten der diphtlieritischen Erscheinungen. Eine symmetrisch auf beiden Seiten des Pharynx gleichzeitig einwirkende äussere Ursache würde schwerlich zu finden sein; die Bacterien aber zu gleicher Zeit auf beide Tonsillen gelangen lassen und zwar in der Mehr- zahl der Fälle, das heisst gradezu ein Wunder annehmen. Vorher fragt es sich denn doch, ob die Function der Tonsillen das gleichzeitige symmetrische Auftreten derAffection nicht zu erklären vermag. Und dies ist tliatsächlich der Fall. Man hat bis vor nicht langer Zeit die Tonsillen für zwecklose Ge- bilde gehalten. Durch Stöhr ist aber der Nachweis geführt, dass dieselben wohl eine Function und zwar eine secretorische besitzen. Der Gehalt an Schleim und Speichelkörperchen des — t{3 — Secretes der Mundliölile wird zum o-rüssteii Teil von den Ton- sillen geliefert. Ununterhruclien wandern Leucocyten aus den Tonsillen in die Mundhöhle ans. Noch niemand war bisher im Staude, eine resorbierende Function der Tonsillen zu con- statieren. Eine solche ist auch sehr unwahrscheinlich. Denn was sollte ein resorbierendes Organ an einer Stelle, welche von allem resorbierbareu Material mit der gTössten Geschwindig- keit passiert wird. — Unter dem Epithel der Rachenschleim- haut befinden sich allenthalben l.ymphatische Elemente, aus denen ebenfalls durch das Epithel hindurch Leucocyten emi- grieren. — Die vorzugsweise symmetrische Anordnung der pathologisch-anatomischen Störung der Rachendiphtherie er- klärt sich ohne Zwang in völlig befriedigender Weise durch die secretorische Function der erkrankten Teile. Jede andere Annahme stösst bei genauer Vergegenwärtigung des Hergangs auf eine Menge Schwierigkeiten. Einzelne Annahmen, wie die bacteriologische; sind von vornherein unmöglich. Denn wie sollten Bacterien, die in ihren Bewegungen dem Zufall preis- gegeben sind, die ausserdem nicht sehen, riechen und fühlen können, in den meisten Fällen zugleich auf beide Tonsillen gelangen ? Die nicht auf der Function der erkrankten Teile basierten Ansichten geraten auch noch in Schwierigkeiten bei der Er- klärung des Krankheits Verlaufes. Sie müssen, um die All- gemeinerkrankung begreiflich zu machen, ein Gift resorbiert werden lassen, welches Fieber und die anderen entfernten Störungen auslöst. Für die Resorptionsfähigkeit der Pharynx- schleimhaut liegt aber nicht eine einzige beweisende That- sache vor. Zudem widerspricht die Pathologie durchaus einer Fiebererklärung durch Resorption irgend welcher Substanzen von der Rachenschleimhaut aus. Die Pathologie lehrt, dass von oberflächlichen Laesionen aus niemals eine besondere Re- sorption ftebererregender Stoffe stattftndet, dass eine Resorption solcher Substanzen nur dann eintritt, wenn dieselben aus einem Herd stammen, welcher unter einem erhöhten Druck steht. Das Bacteriengift der Diphtherie ist demnach für eine Er- — 64 — klänmg des Kraiiklieitsbildes der Diphtherie unbrauchbar, weil es sich au eiuer Körperstelle befindet, deren Function nicht Resorption, sondern Seci-etiou ist, weil es an dieser Stelle zudem nicht in gelöster Form, sondern eingeschlossen in ge- ronnene Cxewebsmassen existiert, und weil der zur Resorption erforderliche Druck nicht vorhanden ist. — Es sei noch erwähnt, dass die meisten Kinder schon 12-24 Stunden krank sind, bevor im Halse irgend welche Erscheinungen wahrgenommen Averden können. Die anatomischen Veränderungen der Rachenschleinihaut bei Diphtherie sind daher entstanden durch einen Act der Secretion. Sie entstehen im ]\Ioment der Secretion indem die ausgeschiedene Schädlichkeit eine Aenderuug ihrer Zusammen- setzung erleidet. Denn ein Gift, welches in der miuimalsten Menge Zellen verätzt, kann als solches im Blute unmöglich vorhanden sein. Im Augenblick der Secretion wird es von einem Stoff des Blutes abgespalten und verbindet es sich mit einem Bestandteil der Gewebszellen unter Gerinnung letzterer Zellen. — AVas soll nun unter diesen Umständen ein wenn auch ausnahmslos in jedem Fall vorhandener characteristischer Bacillus bedeuten und ein etwaiges von ihm erzeugtes Gifc? Eins kann er sicher nicht bedeuten: — die Ursache der Diph- therie. Und mag das sogenannte Diphtheriegift sein, was es will, niemals kann in ihm das causale Gift der menschlichen Diphtherie gefunden werden. — Das vierte Postulat von Koch verlangt, dass pathogene Bacterien, in Reiuculturen öfter umgezüchtet, die betreffende Krankheit zu übertragen im Stande sind. Dieser Forderung genügen aber nur sehr wenige Bacterien. Wenn auch durch Uebertragung von Bacterienreinculturen Tiere krank werden und zu Grunde gehen, vielleicht auch einzelne Symptome zeigen, welche an die entsprechende Krankheit bei Menschen erinnern, so liegt hierin doch kein Beweis, dass die übertragenen Bacterien auch die Erreger der menschlichen Infectionskrank- heiten sind. Welche Verschiedenheit z. B. im Verlauf der Meerschweinchen-Diphtherie und der des Menschen. Meer- — 65 — scliweinclien bekommen an der lujectionsstelle eine miss- farbige Inültratiou des subcutanen Zellgewebes und daran sich auscliliesseudes ausgedehntes Oedem. Im Pleuraraum und im Pericardium sind jedesmal bei der Section grosse Exsudatausammlungen zu constatieren. — Bei welcher Diph- therie des Menschen finden sich denn derartige Symptome und gleicher Verlauf? Die gewöhnliche Art der Diplitherie- erkrankungen der Kinder zeigt ein völlig anderes Bild. Es kommt allerdings vor, — aber sehr selten — dass kranke Menschen dieselben Symptome zeigen wie die iiificierten Meer- schweinchen. Dies sind Fälle septischer Diphtherie schlimm- ster Art. Zur Illustrieruug dieser Verwandtschaft möge folgende Krankengeschichte dienen. Maria K. , 4V2 Jahre alt, mit starker Tonsillar-Hypertrophie, erkrankte am 12. 10. 1893 abends unter heftigem Fieber an Diphtherie. Sofort mit Beginn der Erkrankung machte sich ein starker foetor ex ore bemerkbar. Am Abend des 13. 10. war das Kind fieberfrei, das Allgemein- befinden ein gutes. Diese günstigen Verhältnisse dauerten bis zum Abend des 15. 10. Nur der foetor ex ore war nicht zum Schwinden zu bringen. Ohne Temperatursteigerung wurde das Kind vom 15. 10. an leicht dyspnoisch; ausserdem schwollen die Submaxillardrüsen beiderseits an. Am 16. 10. abends, am vierten Tage nach Beginn der Erkrankung, musste ich mich zur Tracheotomie entschliessen, obwohl ich überzeugt war, dass eine Larynxdiphtherie nicht Ursache der Dyspnoe sei. Die Trachea war frei von Membranen und blieb bis zum Tode frei. Die Anschwellung in der Gegend der Submaxillardrüsen ent- wickelte sich in den nächsten Tagen zu einer kolossalen oedematösen, diffusen, entstellenden Geschwulst ohne entzünd- liche Symptome. In der Hoffnung, vielleicht doch noch etwas nützen zu können, eventuell Eiter zu finden, wurde beiderseits eine tiefe lucision gemacht; aber es sickerte nur eine wässerige, blutig gefärbte Flüssigkeit aus. Die Anschwellung schritt trotz Incision weiter fort. Als unerwünschte C'Omplication ent- stand von der Tracheotomiewunde aus ein Erysipel. Dasselbe 5 — 66 — ging aus von dem linken Wiindrand am oberen Winkel der Tracheotomiewunde. Anf der linken Seite des Halses war das Gedern stärker als rechts entwickelt, so dass icli den Eindruck erhielt, als ob das Erysipel veriirsaclit wäre durch Zutage- treten der Oedemfliissigkeit am linken Rand der Tracheotomie- wunde. — Die Temperatur des Kindes war bis dahin dauernd normal. Auch das Erysipel brachte nur eine einmalig-e un- bedeutende Temperatursteig-erung. Der Puls war verlangsamt — durchschnittlich circa 70 Scliläge in der Minute. Die Tem- peratur vom 19. 10. an bis zu dem am 23. 10. erfolgten Tode war subnormal; das Kind fühlte sich eisig kalt an; ein Ther- mometer konnte wegen starker motorischer Unruhe an den beiden letzten Tagen nicht gelegt werden. Die Kranke war während dieser Tage in beständiger Bewegung, welche inten- diert war; Krämpfe wurden während des Krankheitsverlaufs nicht beobachtet, dagegen ein ununterbrochenes Zähneknirschen so intensiver Art, wie ich es noch nicht gehört habe. Das Be- wusstsein blieb bis zum letzten Tage klar. Eine der äusseren entsprechende oedematöse Anschwellung musste sich in dem Pharynx, Larynx und Oesophagus umgebenden Zellgewebe ent- wickelt haben, da das Schlucken immer beschwerlicher wurde. An den beiden letzten Tagen wurden daher einige Male Nähr- klystiere appliciert und subcutane Kochsalzinfusion voi'genom- men. Der Tod des Kindes erfolgte am 23. 10. durch Ver- blutung. Es entwickelte sich eine schwere haemorrhagische Diathese. Ununterbrochen erfolgten Blutungen aus der Naseu- und Mund-Schleimhaut, aus dem Zahnfleische; einige Male kam hierzu noch Erbrechen grosser Blutmassen. Das Blut war völlig ungerinnbar, selbst nach Zusatz von Fibrinferment, über welches ich zufällig verfügte. — Das Bemerkenswerte an diesem Krankheitsverlaiif war der Uebergang einer anfänglich leichten Diphtherie nach 2V2tägigem Wohlbetinden in eine septische schwerster Art. Die Ursache dieses Umschlags des Krankheitscharacters durch eine nachträgliche Mischinfection zu erklären, ist sehr billig. Streptococcen stehen zu diesem Zweck in der Mundhöhle ja — 67 — immer zur Verfügiiuj?. Bei einer derartigen Weise der Er- klärung- muss man zuvor doch eine Antwort auf die Frage geben, weslialb denn nicht jede Diphtherie zu einer Mischinfection führt, da immer eine Menge verschiedener Bacterienarten in den Membranen zu finden sind. In dem mitgeteilten Falle war ausserdem der foetor sofort beim Beginn der Krankheit vor- handen, also auch die Mischinfection. Weslialb machte sich diese von Anfang an voi-handene ]\Iischinfection erst nach 2 Stägigem A\'ohlbetinden bemerkbar? So bequem die Annahme einer Mischinfection ist, ebenso ungenügend erweist sie sich aber auch. Eine Einsicht in den Hergang ist ohne derartige willkürliche Hülfsmittel er- reichbar. Das Kind litt an starker Tonsillar-H3''pertrophie, W'elche eine mangelhafte Ventilation des Rachenraums zur Folge hatte. Der verminderte Sauerstoifgeiialt der den Phar3'nx er- füllenden Luft begünstigte die Fäulnis des toten Materials, der Membrane. Dieselben unterlagen der Fäulnis und der Verflüssigung. Durch letztere wurde das in den Membranen eingeschlossene Gift gelöst, frei, drang in et\vaige epithel- bei'aubte Schleimhautdefecte ein und begann seine Wirkung immer weiter zu entfalten. Da die Verflüssigung der Mem- brane Zeit erfordert, so war in den ersten zwei Tagen nach Ablauf des Fiebers Wolilbeflnden vorhanden. Mit der Bildung von Membranen unter kurzdauerndem Fieber ist bei dem Kinde die Diphtherie im gewöhnlichen Sinne abgelaufen. Dass ein Zellen verätzendes Gift die Ursache der gewöhnlichen Dipli- thei'ie nicht sein kann, ist schon auseinandergesetzt. Was in den Membranen enthalten ist, entsteht erst im Momente der Ausscheidung, bei der Bildung der Membrane. Es muss also zum mindesten eine durch eine chemische Action, Coagulation der Gewebszellen, entstandene neue Verbindung zwischen even- tuellen Blutbestandteilen und Gewebszellenbestandteilen sein. Die Bacteriologie benutzt als Material ihrer Versuche aus- schliesslich die Diphtheriemembrane. Ihr Bacteriengift ist daher nicht das causale Agens der gewöhnlichen menschlichen Diph- therie. Wahrscheinlich ist es kein anderes als das bei dem — 68 — Kinde tUircli Verflüssigung der Membrane frei gewordene und die schweren Störungen verursachende Gift. Hierfür spricht auch eine Aehnlichkeit im Verlauf dieser Störung mit den Erscheinungen bei der Meerschweinchen-Diph- therie der Bacteriologen. Besonders auffällig ist in dieser Be- ziehung die Entwicklung eines kolossalen Oedems bei dem Kinde, genau wie es auch bei Tieren nach bacteriologischer Diphtherieinfection auftritt. Auch die Temperaturerniedrigung ist bei den Tieren nichts Ungewöhnliches. Zur Ausbildung der übrigen Symptome kommt es bei Tieren nicht, da dieselben vorher schon zu Grunde gehen. Vielleicht hat man auch bisher auf derartige Symptome nicht geachtet. Es geht also aus der Analj-se des geschilderten Falles deutlich hervor, dass die vierte Koch'sche Forderung noch nicht erfüllt ist, wenn Bacterien in Reinculturen ein Tier krank zu machen und zu töten vermögen; selbst nicht, wenn einige Symptome der gleichnamigen menschlichen Diphtherie sich bei Tieren wiederfinden. Bei den Wirkungen der Diphtherie- bacterien, die also niemals menschliche Diphtherie im gewöhn- lichen Sinne erzeugen können, liegen zndem die Verhältnisse noch günstig. Wenn aber Pneumonie-Bacterien deswegen pathogen für Menschen sein sollen, weil sie bei Kaninchen das Bild der Sepsis ohne jede Pneumonie erzeugen, so ist das eine sonder- bare Art exacten Beweises. Wer weiss, wie vielerlei Stoffe bei Kaninchen Sepsis erzeugen können! Ueber den specifischen Heilkörperu Behring's aber schwebt ein merkwürdiges Verhängnis. Behring immunisiert seine Tiere gegen septische Diphtherie und erklärt das so gewonnene Heilserum für ein Specificum gegen gewöhn- liche Diphtherie. Gegen septische Diphtherie müsste es nach Behring's Principien ein Speciffcum sein und grade hier ist es nach des Erfinders eigenen Aeusserungeu unwirksam. 5. Kapitel. Constanz der Bacterienarten. Im' Laufe der geschiclitlicheu Eiitwickliuig sind aus der Mannigfaltigkeit der p]rscheinungen des Gebietes der Patho- logie bestimmte Typeu lierausgeliobeu Avorden, welche sich zu unseren jetzigen Krankheitsbilderu entwickelt haben. Eine Krankheit denkt man sich als eine Einheit, besonders in ätio- logischer Beziehuug. So mannigfaltig z. B. die Krankheits- erscheinungen der Diphtheiie sind, sie werden zusammenge- halten unter dem einen Begriff durch die angenommene gemein- same Ursache. Wie früher ausgeführt, gilt jede Krankheit, auch die unter ätiologischem Gesichtspunkte geschaffene, durch die differentesten Symptome characterisierte, als geschlossene Realität. Wenn demnach jede Krankheit eine bestimmte Wesenheit repräsentiert, so muss ihre Ursache ebenfalls eine ganz bestimmte sein. AVenn also Bacterieu die Ursachen der Krankheiten sind, so musste es so viele Species von Bacterieu und so viele Species von Bacteriengiften geben, als es Krank- heitsrealitäten gab. Auch diese Lehre von der Specifität der Bacterieu ist die Consequenz der falschen Autfassung von der Krankheit als etwas Realem, fiir sich Existierendem, durch keine Brücke mit ähnlichen Krankheitserscheinungen Zusam- nienliängendem. Es musste die Aufgabe der Bactei iologie sein, so viele specifische Bacterienarten zu suchen, als Krank- heiten angenommen wurden. Da doch schliesslich die Krank- heiten Gebilde des menschlichen Verstandes sind, hätte die — 70 — Möglichkeit vurliegeu kijiineu, dass ein speciftsclier Krankheits- erreger für die eiue oder andere derselben nicht existierte; ferner anch, dass ein gefundener patliogener Bacillus nicht eine, sondern mehrere bisher getrennte Kranklieiten hätte ver- nrsacheu können. Dieser Möglichkeit gegenüber ist es doch immerhin ein Beweis für die Schärfe der Beobachtung der früheren Aerzte, dass nahezu für jede von ilinen aufgestellte Krankheit ein Bacillus gefunden wurde. Man hätte dem- nach von Seiten der Bacteriologen eine Anerkennung für diese Schärfe der Beobachtung der frülieren Aerzte erwarten dürfen, denn alle Krankheitsbilder sind dieselben geblieben. Statt dessen muss man merkwürdigerweise das Gegenteil con- statiereu. Man höre nur folgendes Urteil eines angesehenen Bac- teriologen: ..Es dürfte in der Geschichte derMedicin noch nicht dagewesen sein, dass in dem kurzen Zeitraum von wenigen Jahren sich eine so totale Umwälzung in der Krankheitslehre vollzogen hat, wie wir sie erlebten. Man lese Hufeland's und Schönlein's, oder anch Virchow's Darstellung solcher Krankheiten, die wir jetzt als tuberculöse, pneumonische, diph- theritische und so weiter bezeichnen, und vergleiche damit, was seit Robert Koch's Eintreten in die medicinisclie Forschung daraus geworden ist." — (Behring, Gesch. der Diphtherie Seite 201.) Was soll denn daraus geworden sein? Pneumonie ist Pneumonie geblieben; was sollte auch anderenfalls ein ent- deckter Pueunioniebacillus bedeuten? Ueber Hufeland's und Schönlein's Darstellung kann ich kein Urteil abgeben, aber die Darstellung Virchow's von genannten Krankheiten scheint — von nebensächlichen l'unkteu abgesehen — heute noch zu- treffend. Neben der cliaracteristischen Gewohnheit aller Anhänger von Krankheitsdoctrineu, die AVissenschaft erst mit dem Auf- treten des Gründers ihrer Theorie beginnen zu lassen, ist wohl die Verurteilung aller früheren Leistungen der Medicin beeiu- flusst von einer heftigen Animosität gegen Virchow. In diesem Falle hat sich der ßacteriologe, durch seine Gegnerschaft geblendet, in eine fatale Situation verrannt. Denn sind die — 71 — von den Früheren, besonders auch von Vircliow, aufgestellten Kranklieitsbilder seit Rob. Koch andei-e geworden, wie reimte sich dann dies mit dem Verdienste von Koch, die „Entität" eben dieser Krankheiten gerettet zu haben? Entitäten sollen sich nicht ändern. Entweder sind also die Krankheiten, wie sie Virchow geschildert, Entitäten, das heisst in sich abge- schlossene Arten, und die specilischen Bacterien sind Urheber derselben, oder sie sind lediglich Begriffe, die durch die fort- schreitende Wissenschaft, also durch Koch beseitigt und durch bessere ersetzt sind. Was dann aber die speciftschen Bacterien, wie z. B. der Tuberkelbacillus, noch sollen, ist unbegreitticb. Denn derselbe würde Urheber einer Krankheit sein, die nicht mehr existiert, sondern durch Koch aus der Wissenschaft ent- fernt ist. Wunderbar! Die Lehre von den specifischen Ursachen ist die Folge aus der ontologi sehen Krankheitsauffassung. Wenn jede Krank- heit etwas durch keine Uebergänge mit anderen Verwandtes, sondern in sich Abgeschlossenes, Unveränderliches, Starres ist, so folgt mit Notwendigkeit für jede Species eine besondere Art von Ursache. Die Specifltät der Bacterien und Bacterieugifte ; ist demnach kein Resultat der Forschung, sondern eine Con- sequenz aus der Annahme, dass Krankheiten Realitäten seien. — Hat sich dieselbe durchgängig bestätigt? Giebt es für jede Infectionskrankheit einen bestimmten Krankheitserreger? Im allgemeinen muss diese Frage bejaht werden; denn Koch und seiner Schule gelang der Nachweis wohlcharacterisierter Bac- tei'ien für die meisten Infectionskrankheiten. Die Lehre von der Specifität der Kranklieitserreger muss also in gewissem Sinne als berechtigt anerkannt werden, soweit nämlich diese Lehre ausdrückt, dass jeder Krankheit ein Bacillus von be- stimmter Form und bestimmten Lebenseigenschaften entspricht. AVenn man aber unter der Specifltät die Constanz und Unver- änderlichkeit der Bacterien versteht, verfällt man dem Irrtum. Denn selbst wenn thatsäclilich bisher niemals eine Veränderung eines pathogenen Bacillus seiner Form oder seiner Wirkung nach beobachtet wäre, wer wollte selbst dann behaupten, — 72 — dass derartiges iu AVirkliclikeit nicht möglicli sei? Die Er- fahruugeii der Bacteriülogie, auch die der klinischen Beobachtung lehren aber das gerade Gegenteil jenes Dogmas von der Un- veränderliclikeit der Speeles der Bacterien. Betrachten wir zunäclist das eine Fundament der Spe- cifität, die Constauz der Wirkung der verschiedenen patho- genen Bacterien. Die Wirkung derselben äussert sicli in ihrer angebliclien Gifterzeugung. Die Fähigkeit der Gifterzeugung, d. h. die Fähigkeit durch Uebertragung Tiere krank zu machen, ist nun bei aeroben Bacterien durchaus niclit constant, bei einigen sogar von einer nur nach Tagen sich bemessenden Ver- gänglichkeit. Alle Bacterien, die anaeroben ausgenommen, werden im Laboratorium in kürzerer oder längerer Zeit völlig ungiftig. Ferner liat die Bacteriologie trotz ihres Dogmas den Beweis gebracht, dass die Bacterien bei künstlicher Aenderung ihrer Existenzbedingungen sämtlich einen hohen Grad der Variationsfähigkeit ihrer Wirkungsweise besitzen. Die gefähr- lichsten Bacterien, die Milzbrandbacterien, lassen sicli durch eine Eeihe von Massnahmen künstlich in ihrer Virulenz ab- schwächen, ja sogar völlig unwirksam machen. Am häu- tigsten untersucht ist die Abschwächung der Bacterien durch die Wärme. „Koch, Gaffky und Löf f 1er stellten fest, dass eine Temperatur von etwa 42, 6^ geeignet ist, den Milz- brandbacillus seines giftigen Characters zu entkleiden." Ander- seits ist es auch möglicli, auf verschiedenste Weise einen schwach- giftigen Bacillus wieder giftig zumachen. Die gebräuchlichste Methode ist, dass man denselben auf ein sehr empfängliches Tier überimpft. — Das Dogma, dass die pathogenen Bacterien eine unveränderliche Constanz ihrer Wirkung äussern sollen, nimmt sich angesichts dieser Erfahrungen eigentümlich aus. Vielleicht meint man mit dieser Constanz der Wirkuug die Art des Wachstums der Bacteriencolonieen auf künstlichem Nährboden. Aber aucli hier ist es mit der Constanz des Wachstums misslich gestellt. Auf jedem bestimmten Nähr- boden nehmen die Bacteiieu auch bestimmte Formen des — 73 — Waclistums an, z. B. andere auf Kartoffeln , andere auf Nälir- gelatiue, andere auf Agar-Agar. Zudem bleibt sich das Wachs- tum auf einem und demselben Nährboden nicht einmal gleich. Diphtheriebacterien z. B. wachsen anfänglich sehr schlecht auf Agar-Agar, gehen aber nach kurzer Zeit häufig in üppiges Wachstum über. Es scheint, als ob es einiger Zeit bedürfe, bis sie sich dem vielleicht nicht zusagenden Nährbuden acco- modiert haben. Ist dies der Fall, so ist mit der Accomo- dation, mit dem beschleunigten Wachstum aber noch eine audei-e Aenderuug ihrer Wirkungsweise eingetreten: sie sind ungiftig geworden. Innerhalb des menschlichen Organismus variiert die Wirkungsweise der Bacterien ebenfalls. Pathogene Bacterien werden harmlos, harmlose dagegen pathogen. — Dem Erlöschen der Krankheit entspricht nicht jedes Mal ein Verschwinden der characteristischen Krankheitserreger. Dieselben sind häufig lange bis in die Reconvalescenz hinein zu beobachten. Im Allgemeinen ist aber in diesem Falle die Virulenz abgeschwächt. Selbst auf der Höhe des Krankheits- processes ist die Virulenz der Diphtheriebacterien keine con- stante. Aus ein und derselben Diphtlieriemembran lassen sich neben giftigen völlig ungiftige Culturen gewinnen. Ueberhaupt zeigen Diphtherie- und Pneumonieerzenger unter allen Bacterien die grösste Neigung in kürzester Zeit zur Harmlosigkeit zu variiei'eu. lu derselben direct von dem erkrankten Organismus stammenden Cultur können in der Nähe des Impfstriches ge- waclisene Bacterien noch giftig, die entfernteren, das heisst die jüngsten Sprösslinge ungiftig sein. — Gewöhnlich harmlose Bacterien werden unter Umständen pathogen, lieber das bac- terium coli giebt es bereits eine umfangreiche Literatur. Dieser nahezu constant im Darme des Gesunden zu findende „harm- lose Schmarotzer" äussert sich recht häufig durchaus nicht harmlos. Bei allen entzündlichen Aftectionen innerhalb der Bauchhöhle kann er vertreten sein. In diesen Fallen bewahren seine Keiuculturen selbst späterer Generationen für Tiere patho- gene I^igenschaften. Eine Eeincultur stammt von einem ein- zigen Bacillus. AVenn also der so- und sovielmillionste Nach- — 7-i — ]^omme — jede Bacterieuciütur bestellt ja aus Millionen von Individuen — dieses einen Bacillus noch giftig ist, so soll die Giftproductiou nach hacteriologischer Ansicht nur möglich sein dadurch, dass von dem ersten Bacillus die Fähigkeit de.r G-ift- erzeugimg auf alle Nachkommen übergegangen sei. Klebte das Gift nur mechanisch dem ersten Bacillus von seinem giftigen Nährboden her an, so müsste bei der rapiden Vermehrung der Bacterien in kürzester Zeit eine der Vermehrung entsprechende, unglaubliche Verdünnung des Giftes eintreten. — Am Beispiele der Selbstvermehrung des Fibriufermentes haben wir gezeigt, dass dieser Schluss kein notwendiger ist. Das Gift kann wohl dem ersten Bacillus nur mechanisch angehangen und sich doch unter geeigneten Bedingungen ohne Hülfe der Bacterien ins Ungemessene vermehrt haben. Letztere priucipiell mögliche Erklärung könnte man sich veranlasst sehen anzunehmen an- gesichts der Tliatsache. dass harmlose Darmbacterien sogar Cholera asiatica erzeugen können, wenn sie zufällig aus dem Blute von Choleraleichen cultiviert sind. Emmerich hatte in Neapel aus dem Blute und den Organen von Choleraleiclien einen Bacillus gezüchtet, welchen er im Gegensatze zum Kommabacillus für den wirklichen Er- reger der Cholera erklärte. Derselbe, in Reinculturen ge- züchtet, war im Stande, Meerschweinchen unter deutlichen Choleraerscheinungen zu töten. Weisser, ein Schüler Koch's, unterzog den Emmerich'schen Bacillus ueapolitanus einer ein- gehenden Untersuchung, und es gelang ihm der Nachweis, dass derselbe ein gewöhnlicher normaler Fäcesbacillus war, ein Be- weis, der von niemandem mehr, selbst nicht von Emmerich, angefochten wird. Das Merkwürdige an diesem Fäcesbacillus ist nun der Umstand, dass ihn Emmerich sehr giftig fand. Die von demselben mit diesen Culturen geimpften Tiere gingen aus- nahmslos zu Grunde, gleichgültig auf welchem Wege die Bac- terien appliciert wurden; und zwar entsprach das Krankheits- bild, sowie der anatomische Befund, zweifellos dem Bilde der echten Cholera asiatica. Von Weisser's Tieren verendete nur etwa die Hälfte. Der anatomische Befund zeigte in AVeisser's — 75 — Fällen ,.nüt Flüssigkeit massig- gelullte Dannscliliugen, die Schleimhaut des Darmes grau-rötlich gefärbt, die Peyer- schen Plaques in seltenen Fällen leicht gerötet und ge- schwüUeu.-' Frankel behauptet, dass dieser Befund „schlechter- dings kaum" mit dem Bilde zu vergleichen sei, welches uns bei echter Cholera der Meerschweinchen entgegentritt: „uiit schwappender Flüssigkeit geradezu überfüUter Darm, die Schleimhaut des Darmes lebhaft rosarot, die Peyer'schen Plaques geschwollen und eigentümlich verändert.'' (Fränkel, Gruudriss der Bacterienkunde, pag. 388.) Die Darstellung Fränkel's von den Leicheuveränderuiigen durch Bacillus neapoli- tanus macht nicht den Eindruck der Objectivität. Es ist niclit erlaubt, leichte Fälle zu benutzeu, um aus ihnen eine von den schweren Erkrankuiigsfällen ditferente Art von Krankheiten zu machen. Es giebt Typhusfälle mit kaum veränderten Peyer- schen Plaques und Fälle, in welchen die Plaques zu Ge- schwüren zerfallen sind; und trotzdem sind beide Repräsen- tanten des Typhus. Augenscheinlich handelt es sich beiWeisser's Tieren um Infectionen bereits abgeschwächter Art. Dies ist kein Wunder, wenn man bedenkt, dass die CultureU; mit denen Weisser arbeitete, bereits einer späteren Generation angehörten als die, mit welchen Emmerich seine Tiere inficierte. Diese Ab- nahme der Virulenz teilt der Emmerich'sche Bacillus mit dem Kommabacillus, der ja auch im Laboratorium bei weiteren Um- züchtungen schliesslich völlig ungiftig wird. Derselbe Unter- schied der Virulenzgrade zeigte sich auch an den Krankheits- erscheinungen der Tiere. Die Meerschweinchen Enimericlfs zeigten ausnahmslos Symptome der asiatischen Cholera. Von Weisser's Tieren, sagt Fränkel: .,Der Tod trat ein, ohne dass besonders auffallende oder gar an Cholera erinnernde Symptome vorhergegangen wäien, vor allem ohne Erbrechen und ohne flüssige oder auch nur breiige Darmentleerungen, ohne Krampf- anfälle." Fränkel ,,vergass wieder einmal, dass die Verhält- nisse beim Tiere häufig ganz andere sind als beim Menschen", wie er selbst Seite 365 seines Lehrbuches allen denen gegen- über betont, welche in dem Mangel der Symptome von Seiten — 76 — des Darmes bei mit Kommabacilleu iuficierten Meerschweiiiclien einen Beweis gegen die Specifität des Kommabacilliis sehen wollten. „Erbrechen können Meerschweinchen beispielsweise — so werden diese Gegner des Koch'schen Bacillus belehrt — überhaupt nicht; und das Fehleu der Diarrhöe findet seine Er- klärung in dem aussergewölmlichen Umfange des Coecums dieser Tiere." — Auf jeden Fall ist es eine merkwürdige Thatsache, dass der Fäcesbacillus Einmerich's bei jeder Art und Weise der Application im Stande war, bei Meerschweinchen das Bil 1 der Cholera asiatica zu erzeugen, während dies mit dem Koch'sclien Bacillus ohne complicierte Vorbereitung der Versuchs- tiere überhaupt nicht gelungen ist. Die Constanz der Wir- kungsweisen der Bacterien ist dasselbe, was man unter der Specifität ihrer Gifterzeugnug versteht. Nach obiger Aus- einandersetzung ist einzusehen, auf welcher Basis schwankend- ster i^rt dies Dogma von der Constanz der Speeles und von der Specifität der Bacteriengifte ruht. Besser ist es gestellt um die Constanz der Formen der Bacterien. Versteht man unter derselben, dass bei der näm- lichen Aftection dieselbe Form des Bacillus wieder zu finden ist, so kann die Specifität in diesem Sinne zugegeben werden. Auf der Thatsaclie des Auftretens derselben Formen unter denselben Bedingungen, d. h. bei denselben Krankheiten, beruht der grosse diagnostische Wert des Nachweises bestimmt ge- formter Bacterien. Soll aber mit der Specifität der Bacterien ausgedrückt werden, dass diese bei bestimmten Krankheiten auftretenden bestimmten J'ormen der Bacterien unveränder- lich sind, nicht aus einer anderen Form hervorgegangen sein können, so ist die Specifität in diesem Sinne Avieder ein Dogma, und zwar ein Dogma, welches auf dem Gebiete der Morpho- logie seit Darwin gefallen ist. Die Frage nach der Speeles der Bacterien ist eine Frage der Morphologie, AVenn die ätio- logische Forschung Fragen dieser Wissenschaft erörtert, so hat sie die Pflicht, die in letzterer herrschende Methode anzu- erkennen und zur ihrigen zu machen, nicht aber auf fremdem Gebiete auf eigene Faust vorzugehen. Ein methodischer Ge- — 77 — sichtspuukt der Morphologie ist der, die Artcoustanz als einen Aberglauben anzuseilen und keine Art als schleclitliin gegeben und unveränderlich, sondern durch Verwandtschaft und Ueber- gäuge mit ähnlichen Arten und Unterarten zusammenhängend zu betrachten und principiell überall solche Uebergäuge zu •suchen. Wenn nun Frankel in seinem Lehrbuch die Specifität der Bacterien formuliert in dem Satze: „Man muss unter den Bacterien eine Reihe wohl umschriebener, nach Form und Wirkung von einander unterschiedener Arten, Avelche nicht in einander Ubergehen, anei-kennen," so bedeutet das einen Abfall von dem wissenschaftlichen Grundprincip der be- schreibenden Naturwissenschaft. Zu diesem Verzicht auf wissen- schaftliche Methode zwingt kein Erfahrungsmaterial, ganz ab- gesehen davon, dass Grundsätze der Methode durch Erfahrungs- niaterial nicht schlechthin aufgehoben werden. Behauptet man also, dass die patliogeuen Bacterien von in der Regel harm- losen, vielleicht auch in ihrer Form von ihnen abweichenden Bacterien nicht abstammen können, so ist dies gegen die wissen- schaftliche i\[ethode der Morphologie. Wenn in Laboratorien die Bacterien ihre Formen bei- behalten, so ist in diesem Umstände kein Grund dafür zu sehen, dass die Beibehaltung dieser Form auch in der Natur die gleich coustante ist. Variieren geschieht nicht ohne Grund, d. h. ohne Aenderuug der Lebensbedingungen. Aus welchem Grunde soll eine angebliche Speeles von Bacterien im Labo- ratorium variieren auf unbewegtem, in der Zusammensetzung nahezu beständig gleichem Nährboden? Kann man diese Laboratoriumsbedingungen denn überhaupt vergleichen mit den im menschlichen Orgauimus stattfindenden krankhaften Pro- cessen? Nothnagel (Beiträge zur Physiologie und Patho- logie des Darmes. 1884, Seite 114) hat auf Grund micro- scopischer Untersuchungen von mehr als 800 Stühlen das Urteil gewonnen, dass je dünnflüssiger, wässeriger dieselben waren, um so mehr die Stäbchenbacterien überwogen, während in festen Stühlen die Ivugelform vorherrschte. Mit diesem Befunde stimmen auch die bacteriologischen Erfahrungen überein, welche als angebliche — 78 — Urlieber aller mit heftigen Diarrhöen verbundenen Darmaffectionen durchgängig Bacterien, keine Coccen gefunden haben. Aus welchem Grunde findet man bei Obstipation vorwiegend Coccen, bei Diarrhöe vorwiegend Bacillen? Wenn angenommen wird, dass Bacterien bei Diarrhöe überwiegen, weil sie Urheber der- selben sind, dann müsste Calomel im Darm in einen Bacillus verwandelt werden und ebenso viele Bacillen als Abführmittel existieren. Eecurriert man zur Erklärung auf das Argument vom günstigen Nährboden, lässt man die Bacillen, denen er- höhte Peristaltik behagt, die Coccen verdrängen, so giebt man hiermit zu, dass die bei Diarrhöe erscheinenden Bacterien immer schon im Darm praeexistieren und unter gewöhnlichen Umständen vielleicht auf ein enges Gebiet angewiesen sind. Wie auf diese AVeise bei beschleunigtem Stuhl die gewöhn- lichen Fäcesbacillen überwiegen, so können bei den stärksten Graden der Diarrhöe gekrümmte Bacterien bis zum Komma- bacillus die graden Bacterien wiederum verdrängen. Sind die letzteren nur selten vorwiegende, praeexistierende Bewohner des Darms, warum sollte es nicht auch der Kommabacillus sein, und derselbe nur unter ganz bestimmten Umständen seinen Schlupfwinkel verlassen können? Mit dieser Annahme wäre die Specifität der Bacterien gerettet, zugleich aber auch zugestanden, dass selbst Komma- bacillen normale Darmschmarotzer sind. Wer hiermit nicht einverstanden ist, der muss den Bacillen die Fähigkeit des Yariierens zuschreiben. Bei träger Darmfunction haben die Bacillen Zeit, zu Coccen zu variieren; bei erhöhter Peristaltik jedoch werden sie als Bacillen sclileunigst eliminiert und er- scheinen als solche in grösseren ]\[eugen in den Faeces. Bei dieser Annahme wäre es principiell nicht von vornherein un- sinnig, das bacterium coli zum Typhusbacillus und gar zum Vibrio Koch variieren zu lassen. Vom Standpunkt wissen- schaftlicher Methode kann gegen diese Annahme nichts ein- gewendet werden. Auch würde diese Ansicht dadurch nicht vernichtet, wenn es bei ihrer Leetüre Herrn Professor Frankel abermals ginge wie dem variierenden Bacillus, „dass er sich — 79 — kriiniint und giftig- wird.'-*) — Selbstverständlich betrifft diese Auseinandersetzung nur die Frage methodischer Riclitigkeit. Auf jeden Fall ist die Lehre von der Unveränderlichkeit der Bacterienformen ein Dogma, für das absolut keine beweisenden Thatsaclien vorliegen. Die Lehre von der Constanz der Arten, der Specihtät der Bacterien ist vielmehr deu Tliatsachen wider- sprechend und methodisch unrichtig. — *) Prof. Fiänkol machte letztere Benierkuiig in einer Recension über die Arbeit eines Pariser Forschers. (Deutsche niedicin. Wochenschrift, I8O0.) 6. Kapitel. Die Bacterien in der Aussenwelt und das Eindringen derselben in den menschlichen Organismus. Zu den Kocli'sclien Postiilaten möchten wir als ein weiteres, und zwar für den praktischen Arzt wiclitigstes, hinzufügen, dass ein pathogener Bacillus in einer derartigen Verbreitung und Anordnung in der Aussenwelt vorkommen niuss, dass die betreffende Infectionski'ankheit durch diese Verhältnisse ihre Erklärung findet. Diese Frage ist deswegen vor den anderen von besonderer Wichtigkeit, weil erst nach ihrer Lösung sichere und zuverlässige prophjdactische Massregeln getroffen werden können. "Wenn man weiss, wo die Ursache einer In- fectionskrankheit sich befindet, so lässt sich dieselbe mit viel mehr Aussicht auf Erfolg als bisher bekämpfen. Eine einzige sichere Erkenntnis auf diesem Gebiete würde von grösserem Wert sein als die Blutserum-Therapie und die specifiischen Heil- mittel, welche die Bacteriologie jetzt sucht. Die Bacteriologie ist ein Zweig der Hygiene, der Lehre von den äusseren Bedingungen der Gesundheit und den äusseren Ursachen der Störungen derselben. Deshalb sollte ihre eigent- liche Domäne nicht der menschliche Organismus selbst, sondern Luft, Licht, Boden, Wasser u. s. w\ sein. Nachdem die Bac- teriologie, irregeleitet durch die Theorie der localen Erkran- kungen auf Grund örtlich einwirkender Reize und durch das Bestreben, die örtlichen Reize an der Stelle der Localerkran- kungen zu fi.nden, sich neben der Entdeckung characteristischer Bacterien noch das Verdienst erAVorben hat, die gesamte medi- cinische Forschung mit ihrer exacten Methode vertraut gemacht 81 — zu liabeii, dürfte es für sie an der Zeit sein, das fremde Gebiet zu verlassen und auf die Erforschung- ihres eigenen sich wieder zu concentrieren. Es wird zudem niclit eher die ätiologische Rolle der Bacterien ausser Zweifel gesetzt sein, bis dieselben in der Aussenwelt in einer derartigeu Verbreitung nach- gewiesen sind, dass aus derselben die Entstehung und der Ver- lauf einer Epidemie begreiflich wird. Allerdings sind ja auch heute schon angeblich pathogene Bacterien in der Aussenwelt gefunden worden und geben diese Befunde, speciell bei der Tuber- culose, wertvolle praktische Fingerzeige. Aber bei den acuten Infectionskrankheiten ist unser Wissen über das Vorkommen der Bacterien in der Aussenwelt gering. Wo bisher Bacterien in der Aussenwelt gefunden wurden, kann man sich des Ver- dachtes nicht erwehren, dass dieselben nicht die Ursache der Epidemie, sondern die Folge derselben gewesen sind, d. h. erst nachträglich durch Dejection der Kranken und dergleichen dort- hin vei schleppt worden sind. Wer bei seinen Untersuchungen durchaus die bisher im kranken Organismus gefundenen Bacterien in der Aussenwelt in cliaracteristischer Verbreitung wieder linden will, der lässt sich — nach den bisherigen Erfahrungen zu schliessen — auf ein nicht sehr aussichtsreiches Unternehmen ein. Bisher ist ja für keine einzige Infectionskrankheit eine characte- ristische Verbreitung des ätiologischen Bacillus constatiert worden. — Angesichts dieses negativen Befundes über Vor- kommen der Krankheitsursache ausserhalb des Organismus sollte es um so mehr die Pflicht eines jeden Forschers sein, endlich einmal eine scharfe Grenze zwischen Thatsachen und Theorieen zu ziehen. Die Existenz characteristischer Bacterien ist Thatsache. Die Coincidenz derselben mit bestimmten In- fectionskrankheiten macht indessen die ätiologische Rolle der- selben noch lange nicht zu einer Thatsache. Dieselbe bleibt vielmehr eine Theorie, mögen ihre Bekenner noch so hochtrabende Worte reden und verächtliche Seitenblicke auf die Gegner werfen. Ja, nicht einmal eine berechtigte Ansicht ist sie trotz allge- meiner Herrschaft, sondern ein in der Art seines Auftretens 6 — 82 — verwerfliches Dogma, welches die wissenschaftliche Denkimgsart in hemmende Fesseln legt, wie denn auch der Unfelilbarkeits- glaube mancher Bacteriologen nnd die unverhohlene Verachtung jeder oppositionellen Ansiclit ein beschämendes Zeichen ist von Mangel an walirhaft wissenschaftlicher Denkungsart. Mag in anderen Disciplinen das Yei'kennen von Theorie und Tliatsaclie von schädlichen Folgen für die Forschung selbst sein; das l^ogma auf dem Gebiete der Mediciu kann unheilvolle Oon- sequenzen nicht nur für die Wissenschaft, sondern auch für das Wohl der gesamten Menschheit haben, weil das ärztliche Handeln direct beeinfliisst wdrd durch jeden wissenschaftlichen Fortschritt und jede Aenderung wissenschaftlicher Ansichten. Ein verkehrtes Dogma bewirkt uuzweckmässiges Handeln. Solange daher nicht in absolut einwandfreier Weise be"vviesen ist, dass eine bestimmte Infectionskranklieit nur eine einzige Ursache, und zwar in einer bestimmten Bacterienart hat, ist es Pflicht der Forschung, principiell zuzugeben, dass es für die eine Krankheit unendlich viele Ursachen giebt. Mag der Ein- zelne die Ursache einer Krankheit in einem specifischen Bacillus sehen, obgleich dies bisher noch in keinem einzigen Falle be- wiesen ist, nimmermehr berechtigt ihn dieser Umstand, jede andere Möglichkeit zu bestreiten; ja letzteres Vorgehen zeigt ihn nicht im besten Lichte. Es rauss eine methodische Forderung werden, bei der Aetiologie anzunehmen, dass eine und dieselbe Krankheit unendlich viele Ursachen haben könne. Was der Chemie möglich ist, die Herstellung eines und desselben Stoffes nach verschiedenen Methoden, sollte das in der Natur unmöglich sein? Als Beispiel führen wir die Ent- stehung des Fibrinfermentes an. Dasselbe kann aus geeignetem Material durch eine unglaublich grosse Menge von Mitteln ab- gespalten werden. Im Blutserum z. B., in welchem nach einiger Zeit das Ferment vollständig verschwindet, kann dasselbe wieder erzeugt werden durch alle regressiven Producte des Stoffwechsels durch andere Fermente wie Speichel, durch die Einwn'rkung von Bacterien u. s. w. Die Vorstellung, dass bei I — 83 — deu lufectiouskrankheiteii die Bacterien regelmässig- im er- krankten Organismus zu ftnden seien, dass diese characteri- stischen Bacterieiiformen zugleich die in der Aussemveit vor- handenen Krankheitsursachen repräsentieren, ist keineswegs bewiesen. Die Constanz des Vorkommens eiuer und derselben Bacterienform bei derselben Krankheit ist eine Thatsache, für welche doch noch mehr Erklärungen als die causale möglich sind. Ueber die Nützlichkeit oder Schädliclikeit der Bacterien zu reden ist, wie Behring bemerkt, ein müssiger Streit, und würde, wie die Entscheidung auch fiele, keineswegs die Con- stanz des Vorkommens erklären. Dieses Zusammentreffen ist Yoi'läufig noch ein Problem. — Auf jeden Fall ist es nicht not- wendig, dass bei jeder Infectionskranklieit ein Bacilhis in den Oi-ganismus eindringt; ja, es ist denkbar, dass ein Bacterium Ursache einer Epidemie sein kann, ohne jemals in einen Or- ganismus einzudringen. Mau redet so viel von Stofiwechsel- producten der Bacterien, allerdings ohne etwas vom Stoff- wechsel der Bacterien zu wissen; wenn denn einmal diese Stoff- wechselproductc giftig sein sollen, warum kann es nicht Bac- terien geben, die solche Gifte in der Aussen weit producieren, von wo dieselben auf verschiedensten Wegen in gelöstem und getrocknetem Zustande einverleibt werden können. Dass auf diese Weise eine Epidemie mit allen Einzelheiten des Beginnes nnd des Verlaufes erklärt werden kann^ soll — selbstverständlich völlig hypothetisch — an dem Beispiele der letzten Choleraepidemie in Hamburg dargelegt werden. — In der Aussenwelt sind zwei Arten von Bacterien in be- ständiger gemeinsamer Thätigkeit: Die Aeroben und Anaeroben, letztere in den tieferen Schichten des Bodens befindlicli. — Ohne auf das Thema der lediglich von der Phantasie erzeugten giftigen Stolfwechselprodncte der Bacterien einzugehen, lässt sich vom Stoffwechsel der anaeroben Bacterien das Eine mit Sicherlieit behaupten, dass dieselben energisch Sauerstoff an sich reissen und stark reducierend wirken. (Nitrate werden z. B. in Nitrite umgewandelt; ja, der Scliwefelwasserstoff zu Scliwefel reduciert.) Merkwürdigerweise vertragen die anaeroben Bacterien trotz ihres - 84 — Sauerstofifbedürfnisses die atmosphärische Luft nicht; sie sind darauf angewiesen, ihren Sauerstoff bedarf aus bestimmt zusammen- gesetztem Nährmaterial ohne Anwesenheit der Luft zu decken. Ein Bacillus, z. B. der Cholerabacillus, muss im Stande sein, eiue vollständige Erklärung einer Epidemie, wie etwa der letzten Hamburger, zu liefern. Leider ist der Cholerabacillus hierzu absolut nicht in der Lage, ja, aus seinem Verhalten in der Aussenwelt geht vielmelir liervor, dass er der Urheber der Cholera nicht sein kann; denn alle seine Eigenschaften sprechen gegen die Fähigkeit, Cliolera zu ei-regen. Um z. B. nur einige Widersprüche auzufüln-en zwischen den Lebenseigenschaften des CholerabaciUus und den Thatsachen der Choleraepidemie, so ist der Kommabacillus ein „zartes Wesen", welches im Kampfe ums Dasein mit anderen Bacterieu in einigen Tagen rettungslos verloren ist. Wie kann dasselbe eine Epidemie veranlassen, die länger als zwei Tage, ja ein halbes Jahr dauert? Wie kommt dies zarte AVesen, in den menschlichen Darm gelaugt, plötzlich zu solcher Stärke, dass es alle seine Feinde, die Fäulnisbacterien, die Bewohner des Darms, in kürzester Zeit aus ihrem angestammten Wohnsitze zu verdrängen vermag? AVeshalb war die Ausdehnung und die Schwere der Infection in Hamburg zu Beginn der Epidemie die grösste, von da an bis zum Erlöschen der Epidemie allmählich abnehmend? Wes- halb hat man die Kommabacillen, die bei einer Verbreitung der p]pidemie durch die ganze Stadt doch in grosser Zahl im Wasser enthalten gewesen sein müssen, — weshalb hat man dieselben trotzdem im Wasser nicht finden können u. s. w.? — Der Komma- bacillus ist nicht nur nicht in der Lage, die epidemiologische Thatsache klarer zu machen, er bringt sogar in feststehende Tliatsachen Unklarheit und Verwirrung. — Das mindeste, was von einer Hypothese verlangt werden muss, ist ihre Möglichkeit. Die hypothetische Erklärung der Hamburger Epidemie durch den Kommabacillus kann nicht einmal Anspruch machen, eine mögliche Hypothese zu sein. — Zum Beweise, dass zur Eiklärung der Hamburger Epi- demie es erstens nicht notwendig ist, dass dieselbe bedingt — 85 — ^vil'd durch einen in den Organismus eindringenden Bacillus, dass es zweitens sogar nicht einmal notwendig ist, dass die Cholera indischer Abstammung ist, soll das Zustandekommen der Epidemie durch f(dgende Möglichkeit erklärt werden. Die erste Aufgabe wäre die Erklärung der sogenannten örtlichen und zeitlichen Disposition; denn eine zeitliche Dis- position bestand in Hamburg im Herbste 1892 ohne Zweifel. Wochenlang vor Ausbruch der Cholera traten Darnikatarrhe in ungewöhnlich grosser Zahl und Heftigkeit auf, die mit einem Schlage den Chai-acter der Cholera asiatica annahmen. Eine örtliche Disposition bestand in Hamburg ebenfalls, weil auf diese Stadt allein sich die Cholera in epidemischer Form be- schränkte. Denn obwohl durch fliehende Hamburger über ganz Deutschland die Cholera verschleppt wurde, kam es doch nirgends zu einer Epidemie, AVoriu bestand die zeitlich-örtliche Disposition und wie ist dieselbe zu erkläi-en? Dem Clioleraausbruche voraus ging eine ungewöhnliche Hitze, längere Zeit hindurch anhaltend. Der Wasserstand der Elbe war so niedrig, dass die Schiffahrt be- hindert wurde. Infolgedessen kam ein Teil der die Stadt durch- ziehenden Kanäle tro(;ken zu liegen an Stellen, die sonst wasser- bedeckt blieben und Jahre lang geblieben waren. Ein an or- ganischem Material reicher Morast war hiermit der Luft und der Elinwirkung der aeroben Bacterien ausgesetzt. Bei der enormen Hitze entwickelten sich in den von hohen Häusern eingeschlossenen Fleets, in welche stellenweise kein Sonnenstrahl einzudringen vermag, abnorme Verhältnisse, wie sie im Heimat- lande der Cholera, in Indien, vielleicht an der Tagesordnung sind. Ein Fäulnisprocess in den wasserunbedeckten Morast- massen begann unter den denkbar günstigsten Umständen. Die Fäulnisproducte sickerten in die tieferen Schichten und waren hier der weiteren Zersetzung durch die anaeroben Bacterien und deren stark reducierender Einwirkung ausgesetzt. Die ge- lösten, ihres Sauerstoffes mehr oder minder beraubten, organischen Keste sickerten in die Tiefe, bis sie der Einwirkung von Ebbe und Flut ausgesetzt waren und durch den Mechanismus der — 86 — Auswaschung der Fleets durch Ebbe imd Flut in die P]lbe gelaugten, und von da iu das städtische Wasserwerk. Die Folge dieser ins Wasser aufgenommeneu. reducierten Eiweisskörper waren Darmaft'ectiouen in steigender Anzahl uud sich steigei nder Intensität. Somit wäre die örtliche und zeitliche Disposition erklärt. Ferner muss erklärt werden der Verlauf und Cliaracter der Epidemie. Das Nälirmaterial der Bacterien bleibt bei dem Zersetzungsprocess nicht immer das gleiche, dasselbe wird immer sauerstoffärmer, und dem entsprechend werden die löslichen Stoffe immer giftiger, bis der höchste GJrad der C4iftigkeit er- reicht und die Cholera in explosiver Form zum Ausbruch ge- langt. Diesen höchsten Grad der Giftigkeit hält die Cholera- ursaclie nui- eine gewisse Zeit bei. Dann mit Erschöpfung des Nährbodens tritt eine quantitative uud langsam eine qualitative Aeuderung des Giftes und hiermit eine Abnahme der Cholera au Intensität und Extensität ein. Die Cholera erlischt entweder bei völligem Verbrauche geeigneten Nälirmaterials oder dadurch, dass das AVasser ansteigt und mit dauerndem Luftabschlüsse der weiteren Tliätigkeit der aeroben Bacterien, auf deren Vor- arbeiten die anaeroben Bacterien ja angewiesen sind, ein Ende macht. Mit dem Ende der Thätigkeit der Bacterien ist die Epidemie ebenfalls erloschen. Ausser in Hamburg ist die Cholera nirgends epidemisch aufgetreten. Wo vereinzelte Fälle vorgekommen sind, wird es sich wohl um directe Inftcierung seitens eines kranken Flüchtlings handeln. Dass diese Fälle durch den Kommabacillus entstanden sind, ist vielleicht möglich. Die Epidemie in Hamburg würde nach dieser Hypothese mit sämtlichen Erscheinungen eine plausible Erklärung finden ohne Zuhilfenahme eines importierten Keimes. Denn warum sollte bei gleichen Verhältnissen wie in Indien die Cholera nicht auch hier spontan entstehen können? Für die Prophylaxe würde eine derartige Möglichkeit von heilsamem Eiutluss sein, indem sie die Aufgabe dringend vor Augen stellt, die günstigen Bedingungen der Entstehung der C'holera zu entfernen. — 87 - •Dass das Choleragift unbedingt durch Trinkwasser über- tragen werden niiiss, wer müclite ein solcher Dogmatiker sein, dieses zu behaupten? Nur in dem Falle, dass der Kommabacillus der Erreger wäre, niüsste diese Art der Verbreitung durch das Wasser die Regel sein, da der Koniniabacillus nur in feuchten ]\ledien leben kann, und ein so allgemeines, explosives Auftreten wie in Hamburg nur durch ein allgemein benutztes Mittel und nicht durch Obst, Käse uud andere Nahrung'Sgegenstände er- klärt werden kann. — Selbst, dass das Gift nur von den Ver- dauungswegen aus auf den Organismus wirkt, darf principiell nicht behauptet werden; denn warum sollten nicht giftige Gase die Ursache sein können? Giebt es doch in der von Menschen expirierteu Luft regelmässig Gase, die dem Menschen selbst gefährlich werden kimnen und zwar Gase, die sich dem Geruclis- orgaue sicherlich weniger bemerkbar machen als die Gase des faulenden Alorastes. Der Umstand, dass Tiere an Cholera nicht erkranken, spricht allerdings gegen diese Möglichkeit der Ueber- tragung durch Gase, schliesst dieselbe aber keineswegs aus. — Den Bacteriologen gegenüber, welche jede Beziehung der Cholera zum Boden ausschliessen, ein Standpunkt, der mit einer Reihe von Thatsacheu kaum fertig werden kann, weisen wir auf die ]\[ögliclikeit hin, dass die Uebertragung durch das Wasser stattfinden kann, und doch zu gleicher Zeit die Ent- stehung des Giftes im Boden möglich ist. Bedenkt mau, dass die meisten Epideniieen in die Zeit der grössten Hitze fallen, und dass während dieser Zeit die Keller ganz besonders zum Aufbewahren der Nahrungsmittel dienen, wie leicht könnten dieselben durch an diesem Orte durchsickerndes, oder aus- dunstendes Grundwasser vergiftet werden? Ueber derartige Möglichkeiten entscheidet kein Machtspruch und kein Dogma, sondern nur Beobachtung und Experiment; denn auf experimen- tellem Wege muss ein Teil der ätiologischen Fragen entschieden werden können. Speciell die Frage, ob bei sinkendem Grund- wasser ein entstandenes lösliches Gift im Boden sich weithin verbreiten könne, muss doch nicht schwierig zu lösen sein, wenn man durch Farbstoffe (Fluorescin) den Znsammenhang — 88 — zwischen einem See und einer entfernten Quelle beweisen kann. — Vom Standpunkte der wisseiisdiaftlichen Methode soll principiell aug'enommen w^erden, dass jede Infectionskranklieit, wie sie unendlicli viele Ursachen haben, so auch auf unendlich vielen Wegen sich verbreiten kann. So allein ist der Rückfall in ein Dogma ausgeschlossen. — Bei einer von Station zu Station sich verbreitenden Epi- demie, wie die Cholera meist auftritt, wäre es selbstredend ge- künstelt, für jeden Ort eine andere Ursache der Cholera vor- auszusetzen. Aber bei Epidemien, wo der Zusammenhang mit einer allgemeinen Choleraepidemie nicht erweisbar ist, wie dies z. B. bei der Hamburger und bei der in Niedleben aufgetrete- nen Cholera der Fall war, ist das Festhalten an einer einzigen Ursache, und zwar dem indischen Keime, ebenfalls äusserst gekünstelt. Keine Thatsache zwingt hierzu, wohl aber sollte einer einseitigen Auffassung die Rücksicht auf das allgemeine Wohl entgegentreten. Denn wie leicht ist es möglich, dass ein Dogmatiker eine Epidemie in dem Sinne seines Dogmas be- kämpft, und dieselbe eine andere Ursache und andere Wege der Verbreitung hätte. Derartige Einseitigkeit könnte gradezu verhängnisvoll sein. AVenn auch von keinem angeblich pathogenen Bacillus eine Art der Verbreitung in der Aussenwelt nachgewiesen ist, aus welcher eine epidemische Krankheit begreiflich würde, wenn es also mit der Vermeidung der Infectionskrankheiten trotz der emphatischen Behauptung Behring's vom Gegenteil bleiben wird wie bisher, so könnte vielleicht ein praktischer Gewinn erzielt sein, wenn festgestellt wäre, auf welchen Wegen überhaupt Bacterien in den Organismus des Menschen eindringen. — Bei der Klasse der durch absichtliche oder un- absichtliche Impfung übertragenen Infectionen ist der Weg bis zur Impfstelle klar. Hier besorgt der Mensch die Befördei'ung. — Eine zweite Kraft ist die Luft mit ihren Strömungen. Die experimentelle Bacteriologie hat den Nachweis geliefert, dass die Luft bei weitem nicht den Reichtum an Bacterien besitzt, wie früher geglaubt worden ist. Die ;?alil der in ihr ent- — 89 — halteuen Bacterien ist so ^mng, dass heute der Carbolspray, eiust ein zur Desiufectiou der Luft für notwendig gehaltener Apparat, überall den Sanimhing-en obsoleter Instrumente ein- verleibt ist. Der Chirurg ignoriert die wenigen Bacterieu der Luft Auch Strömungeu der Luft siud nicht im Stande, Bac- terieu aus günstigem Nährboden, auf dem ihr Vorkommen in grosser Menge nur möglich ist, aufzuwirbeln; denn ein günstiger Nährboden ist immer ein feuchter, und aus einem feuchten Vehikel können selbst starke Luftströmungen keine Bacterien entführen. Nur zu Staub vertiocknete Bacterien werden mit dem AVinde fortgerissen. — Wie die Chiruigie, müsste daher auch die interne Medicin die Luftinfection zwar nicht völlig ausschliessen, wohl aber zu den Ausnahmen rechnen. — Zur gesamten Haut Oberfläche können ferner die Bacterien durch das Wasser im Bade, durch inficiei te Kleider etc. gelangen. Auch diese Art des Vordringens der Bacterieu gehört zu den Seltenheiten, ist aber sicher constatiert und ist strenggenommen unter die Impfkrankheiten zu rechnen, z. B. Milzbrandinfectionen der Gerber und Metzger durch Tragen inticierter Häute. — I Am häutigsten müssen demnach patliogene Bacterien bis zur Körperobertläche des Menschen gelangen mit Speisen und Ge- tränken, und zwar in die Mund-Eachenhöhle, und in den Magen- Darmkanal; denn für fremde Keime gehören diese Organe mit ihren Flächen noch zur Oberfläche des Körpers; was sich dort an für den Körper fremden Stoffen befindet, ist noch ausserhalb des Organismus. In die Mundhöhle können Bacterien noch gelangen durch Instrumente, z. B. Essgeschirre, bei Kindern auch durch die eigenen Finger. Zieht man aus diesen Verhältnissen die Consequeuz, so müssen alle Infectionskrankheiten nach bisherigem, allerdings ungenauem Sprachgebrauch contagiös sein. Krankheiten mias- matischen Ursprungs können keine Organismen als Krankheits- ursache haben. Denn organisierte, also doch corpusculäre Wesen können nur ausnahmsweise in der Luft vorhanden sein; und Verbreitung durch die Luft erfordern doch grade die miasmatischen Tyranlvheiten, Folglich könueii miasmatische — 00 — Krauklieiten keine liifectionski-anklieiteii sein, können uiclit einen patliogenen Organismus zur Ursache haben. Nun liat man bei ^[alaria einen regelmässig vorkommenden patliogenen Organisnuis im meuschliclien Blut gefunden, folglicli ist die Malaria eine contagiöse und nicht eine miasmatisclie Krank- heit. Aber die Malaria zeigt eine unzweifelhafte Abhängigkeit von gewissen Verliältuissen der Atmosphäre. ]\ran hat i)eol)- achtet, dass in manchen Thälern, wo Malaiia einheimisch ist, an den umgebenden Bergen die Malaria mit steigender Höhe abnimmt. Von eiuei* bestimmten Höhenlage an sind die dort AVohnendeu von Malaria dauernd verschont. In manchen Gegenden tritt die Malaria bei bestimmter Windriclitnng auf, z. B. in Kom im Sommer, wenn der Wind aus der Cami)agna wellt, wo die Malaria einheimiscli ist. Aus diesen Tliatsaclien geht doch wahrscheinlicli hervor, und niemand hat bisher daran gezweifelt, dass die Malaria durcli die Luft verbreitet wird, also miasmatisch ist. Da eine derartige, nicht einmalige, zufällige, sondern regelmässige Verbreitung bei einer bac- teriellen Ursache unmöglich ist, so giebt es bei der Malaria keinen pathogeuen Organismus. Dieselbe ist keine Infectious- krankheit. Vorher schlössen wir aus der Thatsache der Consta- tierung eines Microorganismus bei der Malaria, dass die Malaria eine contagiöse Infectionskrankheit sei. Die logische Richtigkeit beider Schlüsse ist nicht anzufechten, also niuss bei dem absoUiten Widerspruch beider in den zu Grunde liegenden Begriffen ein Fehler sein. Sollte nicht vielleicht die angebliche aetiologische Rolle der Bacterien dieser Fehler sein? Wie dem auch sei, vor- läufig muss festgestellt werden, dass au der Vereinigung .der durch die Bacteriologie selbst eruierten Thatsachen mit dem bacteriologischeu System alle Logik zu Schanden wird. Wie werden ferner z. B. die Krankheiten des Respirations- apparates erklärt? Die croupöse Pneumonie ist ohne Zweifel eine Infectionskrankheit; dieselbe spielt sich vorwiegend in der Wand der Alveolen ab. Nach der herrschenden Ansicht ist die Ursache der Pneumonie ein örtlich einwirkender Reiz. Dieser Reiz ist nach den Lehren des bacteriologischen Systems — 91 — der Pueumococcus. Auf welche Weise kommen diese Pneiimo- cucceu bis iu die Alveolen oder noch g-ar in die Alveolenwand? Mit der Antwort: dnrcli die eingeatmete Lnft, ist man schnell bei der Hand. Die AVisseuscliaft vei langt, dass man einen eomplicierten Vorgang auflöst in einfachere Voi-gänge. Die Luft ist arm an Keimen. Aber es ist zuzugeben, dass, wenn in der Lnft eines geschlossenen Kaumes überliaupt Krankheits- erreger vorhanden sind, selbst in geringer Zalil, einige in die Luftweg-e gelangen können, weil ja immer neue Teile der Luft zur Einatmung gelangen. Aber damit sind sie noch nicht in den Alveolen. Der Organismus verfügt über Schutzeinrich- tungen, dnrch welche die Luft einer so gründlichen Filtration unterworfen wird, dass eine, Staub und Keime enthaltende, eingeatmete Lnft staub- nnd keimfrei ausgeatmet wird. Ein- zelne eingeatmete Bacterien müssen schon grosses Glück oder noch grössere Geschicklichkeit besitzen, um bis zu den Alveolen zu gelangen. Die Pneumonie kann nun in der Weise einer beschränk- ten Epidemie auftreten. So sind schon in Kasernen plötzlich Massenerkrankuugen an Pneumonie anfgetreten. Dass ein Krankheitserreger bis zu den Alveolen gelangt, ist nnr nuter ungewöhnlich günstigen Bedingungen möglich ; und nun soll sich dieser Glücksfall plötzlich zelinmal oder noch öfter bei den Mannschaften eines ivaseruentlügels wiederholen! Es ist dies annähernd so walirscheinlich als dass jemand zehnmal liinter einander das grosse Los der Staatslotterie gewinnt. — Es bleibt noch die Ausflucht, dass die Pneumouiebacillen aus der Mundhöhle, wo dieselben fast regelmässig, auch bei Gesunden, gefunden worden sind, aspiriert worden seien. So leicht aspiriert man indessen Partikeln ans der Mund- und Kachenhöhle nicht. Wenn dieser Zufall dennoch einmal ein- treten sollte, so wird, bevor das Partikel in die feineren Bron- chien gelangt, ein so intensiver Hnstenreiz ausgelöst, dass es bald aus den Luftwegen entfernt wird. Mit dem Factor der Aspiration könnte einigermassen sicher und regelmässig nur bei Moribunden zu rechneu sein. — 92 — Da die Wände des ganzen Respiratiouskanals einscliliess- lich der ^Iimd- und Eacheuliölile feucht sind, kann der Respi- ration sstrom von dort keine einzelnen Bacterien aufwirbeln. Es ist also nnwahrscheinlicli, dass ein einzelner Mensch an Pneumonie erkrankt dadurcli, dass Ki-ankeitserreg-er mit der eingeatmeten Luft in die Alveolen seiner Lunge gelangen. Eine Erklärung dieser Frage giebt das bacteriologische System überhaupt nicht, dafür aber ein Wort: Invasionl Ins Deutsche übersetzt lieisst das: Bacterien dringen ein, weil sie eindringen. Was mehr bei diesem AVort gedacht Avird, ist Anthroporaorphis- mus gröbster Art. — Dass die Bacterien mit Speisen und Ge- tränken zum Mensehen gelangen und zwar an die Oberfläche der Schleimliaut des Digestiousti-actus ist plausibel, und ist dieser Modus für die Bacteriologie der einzige, welcher Wahr- scheinlichkeit für sich hat. War bisher die Frage nur, wie die Bacterien zum mensch- lichen Organismns kommen, so bedarf es jetzt noch der wich- tigeren Untersuchung, wie die Bacterien von der Körperober- fläche an ihre Wirkungsstätte im Körper des Menschen ge- langen. Denn meist finden sie sich ja mehr oder weniger tief im Gewebe, wenigstens aber in den ersten Lymphbahnen, wenn man von den toxischen Darmbacteiien absieht. Die Lösung dieses Problems ist von verblüffender Einfachheit. Die Bac- terien sind das gesundheitschädigende, dem Organismns des Menschen feindlich gegenüberstehende Princip. Der Mensch und die Bacterien sind daher Feinde, welche sich gegenseitig bekämpfen. Weil der Mensch sich nicht bewusst ist, diesen Kampf angezettelt zu haben, vielmehr sich immer im Zustande der Verteidigung fühlt, müssen die Bacterien die angreifende Partei sein. Als solche machen sie eine Invasion, fassen irgendwo an einer laedierten Stelle des menschlichen Körpers FusS; dringen immer weiter vor im Kampf gegen die zur Ab- wehr herbeieilenden Zellen, und wenn das Glück ihnen günstig ist, und sie siegreich bis zum kreisenden Blute gelangen, so sind sie Herren des gesamten menschlichen Körpers. Sie durcheilen denselben n]it dem BUitstrom und^ wo sie eine ihnen zusagende Stelle gefunden haben, siedeln sie sich an. Dies ist die übliche Antwort, nnd sollte es irgendwo eine schwierige Situation in diesem Kampf geben, so frage man sich nur, wie man sich selbst in der Lage der Bacterien benehmen würde, und die Antwort ist gegeben. — Wenn vielleiclit Jemand diese Schilderung für übertrieben halten sollte, so lese er nur mit Aufmerksamkeit auf diesen Punkt das gebräuchlichste Lehr- buch der Bacteriologie und andere bacteriologische Schriften. Mit Citaten aus denselben wird er leicht ein noch farbenpräch- tigeres Schlaclitengemälde liefern können. Die Bacterien als streitbare Feinde des Mensclien sind Phantasiegebilde und oline Verwandtschaft mit wirklichen Bacterien. Sie sind Menschen im Kleineu, können handeln, Invasionen machen. Die wirklichen Bacterien gelangen nur dorthin, wo eine fremde Kraft sie hinträgt. Die specifischen Bacterien, als Kämpfer gedacht, fassen immer an ein und der- selben Stelle Fuss; sie können also wählen, demnach auch denken, unterscheiden, sinnlich wahrnehmen. Die wirklichen Bacterien entbehren wie aller übrigen auch der Sinnesorgane; Aeiisserungen von Intelligenz wurden an ilmen ebenfalls noch nicht beobachtet etc. Wie sie immer an dieselbe Körperstelle gelangen, bleibt Problem. Eins aber ist sicher, stammen die Bacterien von aussen, so gelangen sie in den Organismus nur durch eine Action des Organismus selbst, durch Resorption. — Die Bacteriologie begräbt so ein Problem unter einem Wust von Anthropomoiphismen. — 7. Kapitel. Die Therapie des bacteriologischen Systems. Es wird immer als Beweis für die causale Function der Bacterien hervorgehoben, dass das IncubatioJisstadium und der progressive Character der Infectionskranklieiten ihre befrie- digende Erklärung finden durch zunehmendes Anwachsen der Zahl der eingedrungenen Giftei'zeuger. Wie ausgeführt, fehlt es völlig an beweisenden Thatsaclien fdr die Anwesenheit der Bacterien während des Inciibationsstadiums. Dieselbe ist lediglich eine Gedankenconstruction, eine Hypothese, deren Möglichkeit nicht einmal einzusehen ist. Vierzehutägige Incubationsdauer bei l\yphus ohne regelmässigen Bacterien- befund beim Ausbruch der Krankheitserscheinungen; 1 — 2tägige Incubationsdauer mit Auftreten von Kommabacillen in Massen und Reinculturen bei Cholera, sind unvereinbare Widersprüche, sind unvereinbar mit allen Erfahrungen über Bacterienwachs- tum auf künstlichen Nährböden, welche eine nahezu gleiche Wachstunisenergie der meisten Bacterien lehren. Und auch nach Ausbruch der Krankheit verhalten sich Bacterienmenge und Intensität der Symptome kaum jemals gleich, weshalb man ja auch öfter statt der sichtbaren Bacterien ein erdachtes Bac- teriengift sich nach Wunsch vermehren liess. Doch einmal angenommen^ die bacteriologische Erklärung sei richtig, die Feinde der Menschen machten eine Invasion, sie fassten irgendwo Fuss, es gelänge ihnen, die „natürlichen Widerstände, über welche der Organismus ihnen gegenüber verfügt" (Frankel) zu überwinden, sie vermehrten sich unter zu- nehmenden Kranklieitsersclieinunoen und zunehmender Schwäche des erki-iinklen Organismus, so ergiebt sich als unabweisbare logische Consequeuz, dass nach Ausbruch einer Krankheit jeder erkrankte Organismus rettungslos verloren ist. Wenn er nicht im Stande war, mit Hülfe seiner natürliclien Widerstände den Augriff weniger Bacterien abzuwehren, wie kann er einer pro- gressiv wachsenden Zahl derselben Herr werden, zumal seine Kräfte von Tag zu Tag dahinschwinden? Naturwissenschaft kennt keine moralischen Vorschriften ausser der einen Pflicht, einen einmal aufgestellten Gedanken rücksichtslos durcli alle Consequenzen und widerstreitenden Vor- urteile durchzudenken. Nur schliessliche Uebereinstimnuing oder Widersprucli mit gegebenen Erscheinungen kann über die Wahrlieit des Gedachten etAvas ausmachen. Ergiebt sich, dass die Annahme in ihren ( 'Onsequenzen mit Thatsachen in unver- einbarem Widerspruch steht, so ist es eine zweite Pflicht wissen- schaftlichen Denkens, die Annahme als eine irrige fallen zu lassen. Eine Erklärung hypothetisch aufstellen, sie durch- führen, so weit die Thatsachen damit vereinbar sind, bei etwaigem ^^'iderspruch aber den Gedanken plötzlich abbrechen und sich damit entschuldigen, dass mau als experimentierender Naturforscher sich nicht zu selir in Speculation und Metaphysik einlassen könne, in der fernereu Darstelhmg aber wieder auf die Annahme, und zwar als auf eine bewiesene Annahme, zurückkommen, — das ist eine unerhörte Laxheit und Schwäch- liclikeit der Denkweise. Wo in aller Welt ist eine derartige Speculation oder Metaphysik als leere willkürliche Gedanken- spielerei zu fi.nden? Höchstens bei denen, welclie diese Namen in Nöten als Sclireckmittel unbefpiemen Frageru gegenüber benutzen. — Aber das Causalitätsbedürfnis lässt sicli auf die Dauer mit Worten nicht befriedigen. Es verlangt Gründe, denen in der Natur Tiiatsacheu entsprechen. Denn die Natur ist immer vernünftig, d. Ii. den Kräften unserer Vernunft gemäss, begreiflicli; das ist Voraussetzung der Naturwissenschaft, Irgend eine mit den p]rsclieiuungeu sicli deckende Verstands- einsiclit muss es für jeden Natur Vorgang geben, eine vorgeb- — 06 — liclie Erklärung-, welcher diese Uebereiustimmimg- fehlt, ist falsch. Sicher ist sie falsch, wenn sie zu directen Widersprüchen mit Tiiatsachen führt. Wenn Bacterien die Ursache der Infectionskrankheiten sind, so müssen die Krankheitserscheinungen solange dauern, als Bacteiien sich linden, und es müssten die Symptome mit der grösseren Zahl der Bacterien immer intensiver werden. Da nun der Widerstand des erkrankten Organismus täglich schwächer, die Zahl der Bacterien täglich grösser wird, so ergiebt sich als logische Consequenz, dass nacli Ausbruch der Krankheitssymptome jeder Erkrankte rettungslos verloren ist. Diese logische Consequenz steht aber mit der Thatsaclie, dass die meisten Krauken genesen, in unvereinbarem AViderspruch. Folglich ist die Annahme der causalen Funktion der Bacterien und des correspondierenden Verhältnisses von Bacterienzahl und Schwere der Erkrankung unriclitig. Die Bacteriologie zog diese Consequenz nicht; ihr war die pathogene Rolle der Bacterien einmal eine unumstösslicli sichere Thatsache. Die Thatsache der Genesung war aber ebenfalls unumstüsslich. Dieser Widerspruch konnte auf die Dauer nicht ertragen werden. Die Frage nach der Ursache der Heilung verlangte eine mit dem System harmonierende Beantwortung, zumal allgemein die höchsten Hoffnungen in therapeutischer Beziehung mit der bacteriologischen Forschung verbunden wurden. Es musste daher von der alten Hülfe des Ansdenkens irgend welcher Möglichkeiten und Verlegenheitshypothesen aus- giebig Gebrauch gemacht werden. Zunächst bot die Chemie ihre Hülfe an, alleidings um den Preis des Verzichtes auf die Kampftheorie. Nach dieser chemischen Theorie verhält sich der Körper während einer Krankheit völlig passiv, gleichsam als uninteressierter Zuschauer. Pasteur erklärte Krankheit als ein Aufgezehrtwerden von Bestandteilen des menschlichen Körpers durch Bacterien, welchen die betreffenden Bestandteile zusagen. Der Vorrat an dieser Bacteriennahrung sei aber kein unbegrenzter, weshalb derselbe nach einiger Zeit verbraucht würde, die Bacterien demnach — 97 — wegen Naliningsmaugel zu C4ruii(le gehen, der Kranke genesen niüsste. Hiergegen ist nnr zu bemerken, dass jede Wissen- schaft ihre eigenen methodischen Gesichtspunkte hat, und dass dieselben niclit beliebig von einer Disciplin auf die andere über- tragen werden können. Was auf dem Gebiete der Gähruugs- chemie richtig ist, kann in der Anwendung auf biologische Probleme gradezu unrichtig sein. Nach den Principien der Biologie, zu welcher doch auch die Pathologie gehört, kann Krankheit kein partielles Aufgezehrtwerden des Menschen sein, vielmehr müssen alle am Organismus wahi nehmbaren Verände- rungen — also auch Krankheiten — als Functionsäusserungen des Organismus selbst angesehen werden. Seit es Pasteur ge- lungen war, Tiere gegen Milzbrand zu immunisieren, hielt man die Ursache der Genesung und Immunität für identisch, eine Ansicht, die schon deswegen nicht richtig sein kann, weil das einmalige Bestehen vieler Infectionskrankheiten nicht nur nicht vor Wiederholung derselben Krankheit schützt, sondern sogar er- höhte Disposition ihr gegenüber hinterlässt, wie z. B. Pneu- monie und Erysipel. Nach der Theorie vom erschöpften Nähr- boden hat die Immunität ihren Grund darin, dass der von specifischen Bacterien verzehrte Körperbestandteil nicht wieder neu erzeugt wird, dass dieselbe Bacterienart daher wegen Nah- rungsmangel sich nie wieder ansiedeln kann. Für diese Be- hauptung lässt sich keine einzige bestätigende Thatsache an- führen, weshalb sie eine völlig willkürliche ist. Man dachte sich ferner als Grund der Heilung und Immunität eine durch die Krankheit erworbene Fähigkeit. Wie sich der Mensch an Morphium, Cocain und andere Gifte ge- wöhnen kann, ebenso sollte es auch mit den Bacteriengiften der Fall sein. Man stattete entweder den ganzen Organismus mit der Giftfestigkeit durch Gewöhnung aus, oder man schrieb die letztere nach Metschnikoff nur einer Art von Zellen zu, den Phagocj'ten. Abgesehen davon, dass die Metschnikoff'sche Theorie sich auf der Höhe des Anthropomorphismus bewegt, entspricht sie nicht den Thatsachen und ist zudem ohne jede Analogie Durch Erysipel z. B., diejenige Krankheit, welche 7 — 98 — von Metsclniikoff selbst als typisch für Pbagocytose gescliildert wird (Virchow's Archiv 1887), liiiiterlässt diircliaus keiue Gift- gewöhnung-. Zudem ist die g-ewölmliclie Giftfestig- keit, z. B. der Moiphiuisten, immer nur eine relative. Auch Morpliinisten können mit Morphium in entsprechend grosser Dosis vergiftet werden. Und selbst dieser relative Schutz gegen ein be- stimmtes Gift bildet sich nur nach längerem Gebrauch des be- treffenden Giftes, und verschwindet wieder mit Aussetzen des Giftes. Dass Giftwirkuugen von der kurzen Dauer der In- fectionskranklieiteu genügen sollen, um absolute und häufig das ganze Leben anhaltende Unempfänglichkeit gegen einzelne Bacterieugifte herbeizuführen, widerstieitet allen Erfahrungen, ist daher ebenfalls eine rein willkürliche Annahme. So scheint denn das bacteriologische System die Geister, die es rief, die immer wachsende Schar der Bacterien, nicht los zu werden, wenn nicht ein gütiger Meister als Retter naht. Und ein solcher Helfer in der Not erscheint denn auch wie ein deus ex machin a auf der Bildfläche in Gestalt neuer Sub- stanzen, w^elche im schlimmsten Augenblick die Bacterieugifte unschädlich machen. Eine Hypothese lässt merkwürdiger Weise die Heilsub- stanzen von den Bacterien selbst erzeugt w^erden. Wie die Darmbacterien das ihnen tödliche Phenol hervorbringen sollten, so Hess man auch aus dem Stoffwechsel der pathogenen Bac- terien neben den Giften für den Menschen auch Gifte für sie selbst hervorgehen. Der Mensch wurde gerettet, weil im Laufe einer Krankheit die bactericideu Stoffe über die den Kranken bedrohenden das Uebergewiclit erlangten. Die ihn bedrohen- den Bacterieugifte schied der Organismus nach der Genesung aus. Die ihre eigenen Erzeuger vernichtenden, Bacterien tötenden Bacterieugifte wurden vom gesunden Körper zurück- gehalten, Jahre, sogar Jahrzehnte lang. Auf ihrer Anwesen- heit beruhte die Immunität nach üeberstehen einer Krankheit. Die Bacterien bringen sich also nicht nur selbst um, sondern sie liefern auch die Waffen, mit deren Hülfe jeder fernere An- griff ihres Gleichen vom Menschen siegreich abgeschlagen wird. — 99 — Diese Hypothese hat das Uug-lück, zu ihrem Verstäudiiis ihrerseits wieder einer Hypothese zu bedürfen. Denn dass ein Fremdkörper eventuell Jahre lang- im Organismus verbleibt, ohne ausgeschieden zu werden, dass derselbe, obwohl im Blute gelöst, durch die energisclien Stoff Umsetzungen des mensch- lichen Organismus absolut luibeeinflusst bleibt, ist nicht zu be- greifen. Hypothesen für die Erklärung dieses Rätsels giebt es natürlich; aber sie bedürfen keiner Erörterung. Denn eine Hypothese selbst wiederum erst durch eine Hypothese denkbar maclien, ist wissenschaftlich nicht erlaubt. Nur die hypothe- tische Erklärung der Hypothese von Frankel (Lehrbuch 3. Aufl. pag. 202) mag erwähnt werden als ein characteristisches Bei- spiel für die Beherrschung des Denkens durch das System. Fränkel erklärt die retinierte Substanz für eine schwer lösliche, vielleicht der Klasse der Albuminoide angehörige. Wegen ihrer Schwerlöslichkeit fände eine langsame Resoi-ption statt. Aus diesem Grunde könne ihre Anwesenheit im Blut auch nicht sofort nach Erlöschen der Krankheit, sondern erst einige Zeit später nachgCAviesen Averden. Albuminoide, schwerlösliche Sub- stanzen, sind nun leicht nachweisbar;. Aber von einem VersucJ^i, sie zu finden, wird nichts erwähnt. Es genügt eben^ durch eine ausgedaclite Möglichkeit die Fragelust der Vernunft zu befriedigen und Risse im Bau des Sj'^stems zu verkleben. Wie schon in einem frühereu Abschnitt auseinandergesetzt wurde, ist die grundlegende Voraussetzung, dass die Bacterien sie selbst vernichtende giftige Stoffwechselproducte erzeugen, eine irrige. Das im Darm entstehende Phenol ist ein Zerfalls- product des Eiweiss, kein Stoffwechselproduct der Bacterien. Zudem kann im Organismus niemals eine Anhäufung etwaiger Gifte stattfinden; denn mit deren Erzeugung hält auch ihre Resorption und Ausscheidung gleichen Schritt. Fremdkörper — und ein Fremdkörper ist doch der durch Bacterien erzeugte Stoflf, — werden ausnahmslos vom Organismus in kürzester Zeit ausgeschieden. Konnten die Bacterien so die erwartete Hülfe gegen ihren eigenen Angriff dem kranken Körper nicht bringen, so blieb — 100 — nichts andei-es übrig, als dem Organismus selbst die Her- stellung heilender Substanzen zu übertragen; denn chemische, lösliche, und zwar im Blut gelöste Substanzen mussten die Helfer sein. A\'irkten doch auch vom Blut aus die zu pai'a- lysierenden Bacterieugifte. Rettung gegen die von den Bac- terien producierten Giftkörper brachten dem Kranken selbst- gesclialfene Heilkörper; Immunität erwarb er dadurch, dass er ununterbrochen Jahre lang die Heilkörper producierte. — Dies ist die augenblicklich herrschende Ansicht, „deren wissenschaft- liche Berechtigung von keiner Seite mehr bestritten wird," wie Behring, „der Autor der Lehre von den Antitoxinen" sagt. Aus dieser Lehre ist die Blutserum-Therapie deduciert. Eine Kritik dieser Lehre muss angei^icllts so wichtiger praktischer Consequenzen notwendig erscheinen. Die erste Voraussetzung der Serumtherapie ist die Specifi- tätenlehre in höchster Ausbildung. ,,Die Serumtherapie beruht auf der Annahme der Specifttät der Krankheitserreger, der Specifltät der Krankheitsgifte, der Specifttät der Immuni- sierungsmittel und dei' Specifttät der Heilköi'per." (Behring, Geschichte der Diphtherie, p. 203.) — Wer befieit ist von dem scholastischen Vorurteil, dass jedes Wort ein reales Ding bedeuten müsse, wer erkannt hat, dass Worte häuftg Zusammenfassung vieler Dinge nach gewissen gemeinsamen Eigenschaften, dass AVorte nur Begriffe, und Begriffe nur Geschöpfe unserer Vernunft sind, welche mit fortschreiten- der Wissenschaft inhaltliche Aenderungen erleiden, — der ist erhaben über den Glauben an speciftsche Krankheitser- reger, Krankheitsgifte und speciftsche Heilkörper. An die Möglichkeit specifischer Krankheitsursachen kann nur glau- ben, wer Krankheiten für reale Wesen oder Zustände hält, während im wissenschaftlichen Sinne unter dem Be- griff „Krankheit" nur verwandte Processe, Veränderungen, Lebens Vorgänge vereinigt werden. Wo hat es jemals einen Naturvorgang gegeben, der nur durch eine einzige Ursache hätte ausgelöst werden können? Nichts berechtigt dazu, bei den Krankheitsprocessen eine Ausnahme von der sonst aus- — IUI — luihmslüseii Regel zu raaclien; ja eine derartige Ausnahme würde im Widerspruch stehen mit dem Gesetz von der Einheit aller Naturkräfte, abgesehen davon, dass die Bacteriologie es nicht einmal vermoclit hat, entscheidende Beweise für die pathogene Rolle der Bacterien zu bringen. Das auslösende Moment der Infectionskrankheiten kann nur ein von Aussen wirkendes sein. Die Bacteriologie hat, von Ausnahmen abge- sehen, nur im menschlichen Organismus Bacterien gefunden. — Und dann äussert sich in der Annahme specitischer Ui-sachen wieder eine dogmatische Voreingenommenheit und Abhängig- keit des Denkens von einem System. Nur wer der Ueber- zeugung ist, der Abschluss der Wissenschaft sei in einem be- stimmten Punkte erreicht, kann sich zu der Behauptung ver- steigen, dass es für einen Vorgang nur eine einzige Ursache^ die von ihm angenommene, giebt. Kritisches Denken könnte höchstens öi-klären, dass bisher nur die eine Ursache gefunden sei, wird sicii aber nie anmassen, die einzig bekannte für die einzig mögliche hinzustellen. Aus vorstehendem „Theoretisieren" ergiebt sich also das Resultat, dass die fundamentale Voraus- setzung der Serum -Therapie eine unwissenschaftliche und irrige ist. Die specifischeu Heilmittel haben ferner zur Voraus- setzung specifische Giftkörper, respective Bacteriengifte. Da diese aber von nur hypothetischer Existenz sind, so bedarf es unanfechtbarer Beweise für die unter dieser hypothetischen Voraussetzung gefundenen Heilkörper. — Es ist wissenschaftlich ebenso verwerflich, neue Substanzen zu erdenken, wie unbe- kannte Vorgänge auf neue Kräfte zurückzuführen. Wäre letzteres gestattet, die Zahl der den menschlichen Organismus zusammensetzenden Stoffe müsste jährlich grösser werden, da die Forschung immer noch neue Functionen und Vorgänge ent- deckt. Eine Substanz, ein Stoff kann nie durch etwaige AVirkungen, sondern nur durch seine Eigenschaften er- kannt werden. Jede Substanz, jeder Stoff ist ein Ding mit Eigenschaften. Erst diese Eigenschaften berechtigen zur An- nahme der Existenz eines Stoffes. Eigenschaften sind sinn- — 102 — lieh Avalirnehinbar. Mau kann sie sehen, fühlen etc. Wer nur zu bestimmten Wirkungen einen Stoff annimmt, der dichtet. War nicht auch das Phlogiston ein solcher, nur durch Wii knngen characterisierter Stoff? wie aucli das electrisclie nnd magnetische Fluidum? und weiter rückwärts in der Geschichte der Wissen- schaft die Wesenheiten jedes Dinges und die beseelten, in den Dingen wirkenden Kobolde, Nymphen nnd Dryaden? Zudem ist das Phlogiston immer nur hypothetisch angenommen worden. Oder sollte wohl Jemand so überzeugt von dessen Existenz gewesen sein, dass er eine Portion Phlogiston zu irgend welcliem Zweck benutzt hätte? — Man kann niclit einwenden, dass es auch jetzt noch einen derartigen Stoff gäbe, den den Weltraum erfüllenden Aether. Denn dieser Aether bleibt immei- hypothetisch und von lediglich theoretischem Werte. Er hat nur den Zweck, die Bewegung des Lichtes begreiflich zu machen, er ist also ein theoretischer Notbehelf. Die Heilkörper aber haben einen wahrlich mehr als theoretischen Zweck; sie müssen deshalb existieren und durch Eigenschaften characterisiert sein. Mau erfährt wohl, dass diese Körper „im Bhit und dem daraus ge- wonnenen Serum zu finden sind"' und dass „gegründete Aus- sicht vorhanden ist, die in Frage kommenden Heilmittel aus dem Blut von den unwirksamen Körpern abzutrennen." Ferner sagt Behring, dass wir „an der Tetanusheilsubstanz, abgesehen von ihrer specifischen AVirkung, keine einzige positive Eigen- schaft kennen. Um die Tetanusheilsubstanz nachzuweisen, besitzen wir kein anderes Reagens, als den lebenden Organis- mus tetanusinftcierter Tiere. Alles was sonst bis jetzt zur Characterisierung der Tetanusheilsubstanz .... mitgeteilt ist, sind negative Kriterien, und zwar solche, die einer grossen Zahl verschiedenartiger Körper zukommen." (Behring, Blut- serum-Therapie II, pag. 12). Mau weiss also nur, welche Eigenschaften dieselben nicht haben. Die Heilkörper, Avelche im Blute sich finden, und dennoch voraussichtlich im Blute der- einst gefunden werden — denn rein darstellen ist finden — sind demnach ohne Eigenschaften nur Träger von Wirkungen; sie sind also erdichtet; ja die Heilkörper gegen Giftkörper sind — 103 — g'i-adezii beseelte Wesen, sind würdige Nachkommen der Dryaden und Kobolde. Denn in dem Kampfe des Organismus mit den Bacterien sind allmählich die ursprünglichen Kämpfer in den Hintergrund getreten. Statt ihrer agieren die von ihnen völlig abgetrennten AVaffeu selbständig gegeneinander. Wo im Körper das Bacterieugift auch erscheinen mag, man lässt den Heil- körper seinen Feind schon finden und unschädlich machen. Es ist nicht zu befürchten, dass diese Theorie der selbständig gegen einander kämpfenden Waffen je widerlegt w^erde, denn die letzteren sind unsichtbar, unerkennbar, nur durch ihre AVirkungen machen sie sich geltend und diese sind immer zu tinden: entweder der kranke Mensch stirbt oder er gesundet, entweder die Giftkörptn* haben das Uebergewicht oder die Heil- körper bleiben Sieger. (regen das Verlangen, dass die Arzneimittel, also auch die Heilkörper rein niüssten dargestellt werden, wendet sich Behring wiederholt. Er sagt, dass wir zwar von der chemischeu Natui' dieser Steife nichts wissen, aber ,, soweit darüber orien- tiert sind , dass wir selbst auf eine sogenannte Reindar- stellung verzichten." (Behring, Diphtherie, 186.) Er zweifelt fei-ner, ob die Auwendung der Arzneimittel in reiner Form so grosse Vorzüge habe. Opium würde von manchen Prak- tikern höher geschätzt, als sein Alcaloid Morphium etc. Letz- tereres ist gewiss für viele Fälle zutreffend. Aber Opium ist nicht deswegen wirksamer, weil es kein chemisch reiner Körper ist, sondern weil es eine Alenge von Alcaloiden in einer Mischung enthält, welche in bestimmten Fällen von Vorteil ist. Wären alle Bestandteile des Opium rein dargestellt und ihr Verhältnis zu einander im Opium bekannt, so Hesse sich durch künstliche Mischung derselben die gleiche Wirkung er- zielen, wie durch das natürliche Opium. Auf die Anwendung chemisch reiner Individuen muss aber dieMediciu dringen, weil mit diesen allein eine genaue Dosierung erreichbar ist und w^eil die wirksamen Bestandteile in den natürlichen Drogen nicht immer in gleicher Menge enthalten sind. Ist es denn bewiesen, dass die Heilkörper in immer — 1(14 — gleicher Stärke im Blute imiiiimisierter Tiere existieren, dass nicht das Blut zuweilen von ungewölmlicher Beschaffenheit ist, und dass diese nicht gefährlich für den Menschen sein kann? Erfahrung an Meerschweinclien allein entscheidet hier nicht. Dass das Blut nicht immer das gleiche ist, weiss man schon jetzt. Selbst im Laufe jedes Tages machen sich Scliwankuugen bemerkbar. Das Bhit zur Zeit der Verdauungsleucocytose unterscheidet sich von dem Blut eines Nüchterneu. Ferner unterliegt das Blut einer Aeuderuug zu bestimmten Jahreszeiten. Das Pferdeblut z. B. zeigt im Winter eine ei'höhte Neigung zum Zerfall, zur Gerinnung. (Alexander Scliniidt, Blutlehre pag. 27.) Derartiges Pferdeblut besitzt nach diesem Forscher häufig eine solche Spaltungsenergie, dass es sogar in unver- dünntem Magnesiumsalz-Plasma zur Bildung von Fibrinferment kommt, während normaler Weise Salzplasma derselben Concen- tration in 6 — Sfacher Verdünnung spontan ungerinnbar, also frei von Ferment bleibt. Auch Hammarsten, der ebenfalls mit Pferdeblut arbeitete, fand öfter im Herbst, wie ich glaube, ein nngewöhnliclies Verhalten desselben. Während ihm seine Methode fast ausnahmslos ein reines, auf Fernient- zusatz gerinnendes Fibrinogen gab, erhielt er im Herbst häufig ein völlig ungerinnbares Präparat. (Pflüger, Archiv.) Das Heilserum ist also, wie die anderen ungereinigten Arzneimittel, durchaus nicht immer von gleicher Zusammen- setzung, wenn mau der Ansicht ist, dass veränderte Wirkung nur durch einen neuen Stoff möglich ist. Und da diese ab- weichende AVirkung auch einmal schädlicli sein kann, so ist es durchaus berechtigt, sogar notwendig, den vermeintlich wirksamen Körper rein darzustellen. Sicherlich ist der Heil- körper bei dem täglichen und individuellen Schwanken des Blutverhaltens — letzteres ist, nach Alexander Schmidt be- sonders bei dem jetzt benutzten Pferdeblut der Fall — nicht immer in gleicher Menge in dem Serum enthalten. Mag Behring sich gegen das Verlangen nach lieindarstellung ener- gisch wenden, mag er die Ergebnisse der bisherigen Versuche in dieser Eiclitung eine Verballhornisierung des Heilmittels — IU5 — neuneii, uud mag- er auf die sogeuauiite „Reiudai-stellimg-" selbst verzichten — Aerzte, welche sich der Verantwortlich- keit für ihr Handeln bewasst sind, müssen wissen, was sie ihren Patienten einsi)ritzen, müssen über die Dosis eines ange- wandten Mittels sich jeder Zeit Gewisslieit verschalfen können und dürfen sich nicht lediglich auf die Angaben einer Actien- gesellschaft verlassen. Die Annahme von speciftschen Heilkörpern setzt voraus, dass es überhaupt specifische Heilmittel giebt. Dass dem nicht so sein kann, ist bereits erörtert. Selbst Chinin und Hydrar- gyrum können als solche nicht gelten. Specifische Mittel gegen Gifte sind bisher nur ein Wunsch, welcher aus einer wissen- schaftlichen Yerirrung sich herleitet. Heilkörper gegen Bac- teriengifte würden somit ohne alle Analogie sein. So ergiebt sich Folgendes aus der bisherigen Ausführung : Die Heilkör})er sind lediglich hypothetisch angenommen. Diese hypothetische Annahme stützt sich nicht auf Thatsachen, son- dern wiederum auf eine Hypothese, auf die Annahme von Bac- terieugiften. Die speciftschen Heilkörper sind ohne Analogie, man kennt von ihnen keine Eigenschaften, auch keine Wirkungen auf den gesunden Menschen. Nur die intensiv wirkenden an- geblich die lufectionskrankheiten bedingenden Bacteriengifte machen sie unschädlich. — Stoffe ohne Eigenschaften, ohne jede Wirkung ausser der einen speciftschen, waren bisher noch unbekannt. Sie sind fürwahr das reinste Mirakel. Wie Kräfte ohne stofflichen Träger, so sind Stoffe ohne Eigenschaften und ohne Kräfte, ausser einer speciftschen, undenkbar. Dergleichen sind Gespenster. So kann man an den Consequenzen schon den unwissenschaftlichen Character des grundlegenden Ge- dankens erkennen. — Die Lehre von den speciftschen Heil- mitteln mit ihren eigenschafts- und wirkungslosen Stoffen führt in das Fabelland des W^unders. Mit der Characterisieruug, mit der Artbestimmung der Heilkörper ist noch nicht auseinandergesetzt, wie man sich das Problem der Heilung gelöst denkt. Die Heilung soll durch die Heilkörper herbeigeführt \Yerden und zwar zu einer Zeit, wo — 10() — die Kräfte des kranken Organismns erschöpft sind, wo die Zalil seiner Feinde am g-rössteii ist. Woher stammt der Retter in höchster Not? Behring antwortet auf diese Frage ,,dass auch bei Fortfiilirung unserer Studien l)is zur äussersten Grenze des menschlichen Könnens immer noch die Frage nach dem primum movens übrig bleiben, dass immer noch ein mechanisch un- erklärbarer Rest speculativen Köpfen zu schaffen machen wird!'' Ist denn die Frage, woher die Heilköi per so plötzlich kommen, mechanisch unerklärbai ? Wenn das der Fall ist, wenn nicht einmal für das ..Woher" eine Antwort zu finden ist, so stehen wir vielleicht abermals vor einem Wunder? Und in der That, die Entstehung der Heilköiper ist ebenfalls ein AVuuder! Was an Einzelheiten über die Heilkörper noch augegeben wird, macht die Lehre von denselben nicht plausibler, sondern nur mysteriöse!'. Man müsste erwarten, dass die Heilkörper als die Ursache der Heilung, wenn auch nicht vor der Wendung zum Besseren oder vor der Krisis, so doch sicherlich direct nach Beendigung der Kranklieit in den ersten Tagen der Recon- valescenz im Blute nachweisbar sind. Aber dieser logischen Consequenz entsprechen keine Thatsachen. Die Heilkörper, die Ursache der Heilung, finden sich fast nie direct nach Beendigung der Krankheit, sondern in der Regel sind sie erst 8 — 14 Tage später im Blute nachweisbar. Die Heilkörper sind thatsächlich im Moment der Heilung noch nicht vorhanden. Sie entstehen erst Wochen nachher, haben also die überflüssige Wirkung, 8 oder 14 Tage nach der Heilung der Krankheit, dieselbe abermals zu heilen. Da die Heilkörper erst nach Ablauf der Krankheit gefunden werden, so sind dieselben vielleicht ein Product der Krankheit. Nach der Lehre der „neuen Aera" ist ja die Krankheit eine Reaction des Organismus auf Bacterieugifte. Eine Reaction auf Gifte ist schliesslich immer eine chemische Reaction. Krankheit wäre daiier eine chemische Reaction zwischen Bac- teriengiften und einem Köi'perbestandteil. Aus dieser Synthese muss ein neuer Körper hervorgehen als das Resultat derselben, als das Product der Krankheit. Da nun Heilkörper thatsächlich — 107 — erst nach Ablauf der Reaction, uach Beenclig-iing der Krankheit, auftreten, so würde diese Entstehiing'sweise wenigstens nicht den Thatsachen widerspreclreu, — um so mehr aber dem Zwecke der Heilkörper. Die Heilkörper sollen Ursache der Heilung sein. Wie ist es möglich, dass sie als solche zugleich das Product der Heilung sind? Nur wenn sie Ursache und Wirkung zugleich wären'. Dergleichen ist unsinnig und wider alle Gesetze der Vernunft. — Diese AVidersinnigkeiten zwingen zu einer anderen Er- klärungsweise der Herkunft der Heilkörper. So erklärt Behling die Entstehung der Heilkörper durch eine Art Eermentwirkuug der Bacteriengifte. Die Wirkung der Bacterienproducte ist nach seiner Autfassung eine „fermentähnliche in dem Sinne, dass sie nur den Anstoss zu gewissen Veränderungen im Organismus liefern, die dann ihrerseits erst Immunität (d. h. Auftreteu von HeilkiU-pern) bedingen." Der Begriff des Fermentes im angeführten Sinne bedeutet das Ende der Wissenschaft. Denn unter Fermenten im wissenschaftlichen Sinne dürfen nur Stoffe verstanden werden, welche auf eine noch unerklärliche chemische Weise bekannte chemische Producte erzeugen; nimmermehr aber Stoffe, zudem hypothetische Stoffe, welche einen physiologischen Vorgang völlig unbekannter Art, „Aen- derung im Organismus", herbeiführen, welcher seinerseits dann eine functionelle Eigenschaft, Immunität, bewirkt. Wirkungen eines Fermentes müssen immer bekannte chemische Körper sein. Von den Heilkörperu steht nichts als eine physiolo- gische AMrkung fest. Die Heilkörpei' waren ursprünglich nicht als Pi'oduct des Krankheitsprocesses angenommen, sondern als ein völliges Novum unbekannten Ursprungs, welches unvermittelt eingreift. AVie es im kranken Menschen entsteht, ist und bleibt unbegreiflich. Leicht aber kann sein Ursprung aus dem Gedankengaug seines Autors klargelegt werden. — Was nur von begrifflichem Werte ist, Geschöpfe der die Dinge oidnenden und klassiflcierenden Vernunft, blos Gedachtes, nämlich Gesundheit, Krankheit, Heilung, sind für Behring Realitäten, wahrhaft existierende, 108 — von einander scharf getrennte, diffei ente Zustände des nienscli- liclien Organismus. Jeder dieser mit einander nicht verwandten Zustände muss seine besondere Ursache haben. Die verstotf- lichte Ursache der Krankheit war das Bacteriengift. Als es späterhin Bedürfnis wurde, eine Erklärung für die Heilung zu finden, gab man diesem real genommenen Zustande ebenfalls seinen Träger, den Heilkörper, ohne sich klar zu machen, ob der Heilstoff mit dem Giftstoff überhaupt in Einklang zn bringen sei. Die Folge wai- eine Summe von Widersinnigkeiten. Gesund lieit, Krankheit, Heilung sind künstliche Trennungen der mensclilichen Vernunft. Es darf nie vergessen werden, dass diesen Begriffen ein und derselbe Factor zu Grunde liegt, nämlicli die Lebensäussei'ungen des Organismus in verschiedenen, ineinander übergehenden Formen. Selbst nach der heutigen Ansicht von der Krankheit als einer Realität bedarf es ausser Gesundheit nnd Krankheit keiner neuen Wesenheit mehr. Ist Krankheit aufgelioben, tritt Gesundlieit wieder in Kraft. Heilung ist nur die Negation der Krankheit. Die Heilkörper haben also ausser den bishei-igen überflüssigen noch die ebenfalls zwecklose Wirkung, dass sie etwas bewirken, was gar nicht existiert, nämlich Heilung als einen besonderen Zustand. Mit der Heilung soll nun auch das Problem der Immunität erklärt sein. Immun, gesichert ist der Genesene gegen eine neue Invasion derselben Bacterien, weil er seinen Helfer in der Not nicht entlässt, sondern noch Jahre lang immer aufs neue Heil- körper produciert. Selbst nach starken Blutverlusten bilden sich immer wieder die betrettenden Antitoxine. Wunderbar wie der erste Ursprung ist diese fortwährende Neuentstehung der Heilkörper. Nachdem die einzig denkbare Ursache ihres Ent- stehens, die Bacteriengifte, längst eliminiert sind, nachdem ihr einziger Zweck, die Vernichtung ebendesselben Bacterien giftes, längst realisiert ist, wodui'ch und weshalb werden die Heil- körper immer noch neu erzeugt? Wenn geantwortet wird: „durch ein Ferment", welches durch Einwirkung des Bacterien- giftes auf den Organismus bedingt ist, so erhebt sich dieselbe Frage dem Ferment gegenüber. — Es handelte sich demnach — 109 — bei (lieser Antitoxinproduction um einen Voi g-aug, um eine Ver- änderung- in der Erscheinungswelt, welche verursacht würde durch keine Ursache, kurz abermals um ein pures Wunder. Dies ist nun die Lehre, aus welcher die neueste Beliand- lungsweise, die Bhitserumtherapie deduciert ist. Da Heilung und Immunität dieselbe Ursache, die Heilkörper, haben, müssen auch die Heilkörper eines Immunen im Stande sein, den in einem Kranken wirkenden Giftkörper zu vernichten, also heilend zu wirken, vorausgesetzt natürlich, dass die Heilk(")rper eines jeden Individuums identisch sind. Denn bei Entstehung der- selben ist der einzelne Organismus ja beteiligt. Individuelle ([ualitative Unterschiede der von Verschiedenen producierten Heilkörper sind also immerhin möglich. Dass der specifisclie Heilkörper stets der gleiche ist, wird nicht durcli Thatsachen bewiesen, sondern das Dogma von der Specifttät der Bacterieu- gifte find Heilkörper verlangt die Identität der Heilkörper ohne Eücksicht auf deren Herkunft. Mensch, Pferd, Schaf, Ratte, Maus — alle erzeugen genau denselben Heilstoff. Gegen jede Krankheit, gegen jedes specifische Bacteriengift giebt es überhaupt auf der ganzen "Welt nur einen specifischen Heil- körper, weshalb Behring auch behauptet, dass Jeder, der ein Speciftcum gegen Diphtherie herstelle, sein Mittel fabriciere. Die Identität der Antitoxine bei Mensch und Tier ermöglicht die Realisierung der specifischen Therapie. Passende Tiere werden immunisiert; ihr Blut enthält das specifische Heilmittel. Dass die Uebertragung von Blut immuner Tiere den Menschen ebenfalls immunisieren muss, ist der Theorie nach selbstver- ständlich. Wie bedenklich es nun um die Folgerichtigkeit der Theorie auch bestellt sein mag, die Blutserumtherapie soll „auf dem gesicherten Fundamente experimenteller Beobachtung ruhen." Ein abschliessendes Urteil über diese Therapie macht daher noch die Prüfung der Ergebnisse dieser experimentellen Thätig- keit zur Bedingung. Zunächst muss leider constatiert werden, dass die acceptierten Lehren der Serumtlierapie einen bedeu- tenden Maugel an Kenntnissen der über das normale Blutleben — 110 — wissenschaftlich festg-estellteu Gesetze und Tliatsacheu beweist. Es ist siclierlicli eiue bemerkenswerte Erscheinimg-, dass Forscher, welche aus dem Blute epocliemacliende Heilmittel darstellen wollen, es nicht für erforderlicli lialten, die Lehren der Ph}'- siolog'ie zu berücksichtigen, i-esp. sich über dieselben zu infor- mieren. — Auch in der Wissenschaft giebt es ein Gesetz der Continuität. Keine Entdeckung frülierer Forscher ist nmsoust. Jede kann der Keim zu neuen Fortschritten sein nnd verlangt deshalb Berücksichtigung-. Sicherlich aber gilt dies von der Fülle von Thatsachen, welche von verschiedenen Forschern zur Lösung bestimmter, wichtiger Probleme zusammengetragen wnrden. Diese müssen wenigstens in etwa bekannt sein; an diese muss angeknüpft werden. Mit den Kräften seines eigenen Geistes, mit Genieschwüngen, wird Niemand in bisher uner- forschte Gebiete gelangen; leicht aber könnte ihn das Schicksal des Ikarus ereilen. Das Behring'sche Princip, mit litterarischen Studien sich nicht zu sehr abzugeben, da man schliesslich doch immer zu der Ueberzeugung gelange: „Es kann so sein, es kann aber auch anders sein'" (Blutserumtlierapie II. p. 67) spricht die Missachtung der Leistungen anderer und Ueber- schätzung eigenen Könnens und Leistens aus, wie denn auch in den Behring'schen Schriften im wesentlichen nur ein Autor immer wieder citiert und abgeschrieben wird — Behring. Etwas mehr Berücksichtigung anderer und etwas mehr litt(irarische Kenntnisnahme von den Leistungen der Forschung auf dem Gebiete der Physiologie des Blutes hätte viel Zeit und Mühe sparen und vor vielen Irrtümern bewahren können. Zunächst soll der experimentelle Nachweis geliefert sein, dass, wie das Bacieriengift, so auch die Heilkörper in gelöster Form und nicht an Zellen gebunden im Blute vorhanden sind. „Die zellfreien Körperflüssigkeiten", „das zellfreie Blut", „das von allen körperlichen Elementen befreite Blut" besitzen die Fähigkeit, zu heilen. (Behring, Diphtherie Seite 141.) Ent- sprechend den für Realitäten gehaltenen Zuständen, Gesimd- lieit, Krankheit, Heilung, soll ferner das zellfreie Blut sich verschieden verhalten : - 111 — 1) Das Blutsenim eines Gesunden ist scliadlos fiir ein In- dividuum gleicher oder ähnlicher Art. 2) Das zellfreie Blut des kranken Individuums enthält die Bacteriengifte; denn es vermag dieselbe Krankheit zu übertragen. 3) Das zellfreie Blut des Genesenen hat immunisierende Kraft, enthält den Heilkörper. Giebt es denn iiberhaupt zellfieie Körperflüssigkeiten? Giebt es ein von allen körperlichen Elementen befreites Blut? Sind die Eigenschaften eines solchen Blutes identisch mit denen des zellhaltigen Blutes? Die Blutserum-Therapie ist basiert auf dieser Annahme. Denn es ist eins ihrer Fundamente, dass in derselben Form wie im Blutserum, welches immer zellfrei ist, so auch im Blute des Lebenden die Heilkörper existieren. JSüllen doch auch die zu verniclitenden resorbierten Bacterien- producte im Blut gelöst sein. Die wissenschaftliche Voraus- setzung der Serum therapie ist ein Gebäude auf Sand gebaut. Die Grundlage desselben ist eine unbewiesene Annahme, die noch dazu mit den Lehren der Physiologie des Blutes im Widerspruch steht. Es giebt keine zellfreien Körpersäfte; es giebt kein zellfreies Blut. Wer mit derartigem Material ar- beitet, arbeitet mit Kunstproducten, mit Leichenteilen. Speciell das zellfreie Serum ist überhaupt kein Blut; aus den Eigen- schaften desselben kann nimmermehr auf Eigenschaften des Blutes geschlossen werden. Denn das Blutserum ist das Pro- duct einer tiefgreifenden Zersetzung des absterbenden Blutes. Kein einziger Bestandteil des lebenden Blutes, ausser den Salzen, findet sich im Blutserum wieder, — und doch soll die etwaige Lösung eines Stoffes im Serum beweisen, dass derselbe ebenfalls im Blntwasser gelöst ist. Die Bacteriologen reden vom Blutwasser des lebenden Blutes und von Gelöstsein von Stoffen in demselben, als wenn sich dergleichen von selbst verstände. Für Forscher, wie Alexander Schmidt, die ihr ganzes Leben auf das Studium des Blutes verwandten, ist nicht einmal die Existenz des Blut- wassers walirscheinlich. Dieser Autor verlegt die gesamte — 112 — Menge freien Wassers in die roten Bliitkörperclien. Diese sind das Eeservoir, mit dessen Hülfe der Wassergehalt des Blut- plasmas reguliert wird, aus welchem Wasser entnommen wird im Bedürfnisfalle nnd welches überflüssigen Vorrat aufnimmt. Alexander Schmidt stützt seine Ansicht durch folgenden Ver- such seines Schülers Krüger. Derselbe injicierte einer Katze eine Quantität 0,6 o/oiger Kochsalzlösung, welche lO^/o der prä- sumptiven Blutmenge betrug. Ein paar Minuten nach Schluss der lujection entnahm er dem Tier eine massig grosse Blntmenge und teilte sie in zwei Teile, mittelst welcher er den Wassergehalt des Gesamtbluts sowohl, als des Serums bestimmte. Er fand den ersteren, verglichen mit demjenigen des vor der Injection entnommenen Blutes beträchtlich erliöht, den des letzteren aber fast unverändert. Unter der Annahme, dass die Blutmenge des Tieres Vis des Körpergewichtes betrug, ergab sich, dass die ganze injicierte Wassermenge zur Zeit des betreifenden Aderlasses noch im Blute enthalten und von den roten Blutkörperchen aufgenommen worden war, ein Ergebnis, das später von Th. Lakschewitz bestätigt worden ist. Aus mehreren Versuchen desselben ergab sich, dass der Wassergehalt der roten Blutkörperchen in Folge der Injectioneu von 0,6 pro- centiger Kochsalzlösung um 52 — 115%, der des Serums aber gleichzeitig nur um 0,7 — 1,1% gewachsen war." (Alexander Schmidt, Blutlehre. 1892. pag. 243 f.) Wenn also selbst der Wassergehalt der Blutflüssigkeit durch die Zellen reguliert, von den Zellen sogar das Wasser aufgeuomnnnen nnd abgegeben wird, so wird es sich auch mit den Heilkörpern so verhalten. Dagegen behauptet das Argument der bacteriologischen Lehre, dass die Heilkörper gelöst sind, weil ihre Antagonisten, die Bacteriengifte, es gleichfalls sind; und diese sind im Blute gelöst, weil sie resorbiert sind. Also weil die Gifte resorbiert sind, sind sie gelöst, und weil sie gelöst sind, befinden sie sich im Blutwasser? Diese Argumentation setzt eine Physiologie ganz eigener Art voraus, welche mit der Lehre der wissen- schaftlichen Ph3^siologie kaum Aehnliclikeit hat. Wir müssen bei diesem Punkt einen Augenblick verweilen. Sind wirklich nur lösliche Substanzen resorbierbar'? Wäre das richtig, so könnte der Menscli z. B. kein Fett aus dem Darm aufnehmen, da dasselbe dort niemals zu einer Lösung, sondern nur zu einer Kmulsion verarbeitet wird. Der Darm nimmt aber sogar Fett auf, dessen Schmelzpunkt über der eigenen Körpertempe- ratur liegt, Avelches also im Darm nicht einmal flüssig wird. Selbst Kuochensequester, eiugenagelte Elfenbeiustifte können resorbiert werden. — Der Vorgang der Resorption ferner müsste nach bacteriologischer Voraussetzung ein rein physicalischer sein. Wie durch ein Filter gingen bei der Verdauung die ge- lösten Stoffe in's Blut, die ungelösten blieben zurück. — Und nun erst, welche Vorstellung vom Blut liegt der bacterio- logischen Lelire zum Grunde! Nach ihr ist dasselbe gleichsam ein Fluss, in welchem die Blutzellen wie Fische umherschwim- men. Die Quellen dieses Flusses, deren Wasser er mechanisch aufnehmen muss, linden sich im Verdauuugskanal, aus dem diffundierte gelöste Substanzen mit dem Quellwasser dem Flusse zugeführt werden. Welche Function die Blutzellen eigentlich noch ausüben, ist nicht klar. — Bei der CTcrinnung des Blutes soll eine Scheidung der normal differenten Elemente eintreten; das Blutwasser und w^as in ihm schon gelöst Avar, sondert sich von den Zellen. Anders, völlig anders, lauten die Lehren der Physiologie, deren Aufgabe doch die Erforschung dieser Erscheinungen ist, deren Urteil daher auch wohl massgebender sein wird; als das der Bacteriologie. Vor der Resorption findet allerdings eine Lösung der zu resorbierenden Substanzen statt; aber die Re- sorption ist keineswegs völlig auf gelöste Substanzen be- schränkt. — Die Resorption ist rein mechanisch nicht begreif- lich. Der Magen ist kein Sack von Pergamentpapier, durch den Stoffe ins Blut nach rein physicalischen Gesetzen diffun- dieren. Der Magen ist ein Organ; seine Function ist gebunden au die lebenden Zellen, seine elementaren Bestandteile. Die Resorption ist ein rein cellulärer Act. Nichts wird auf- genommen, ohne vorher von zelligen Elementarteilen resorbiert und in speciftscher Weise verarbeitet worden zu sein. Die 8 — lU Tliätigkeit der Zelleu be wirkt, dass die meisten Stoffe luicli der Eesorption als solche chemisch nicht mehr nachweisbar sind. — Bei der Darm-Resorption ist die hervorragende Be- teilignng der Leucocyten siclier coustatiert. Wiedersheim (Naturforscherversammhmg-, Freibni-g) konnte beobachten, dass dieselben sogar die Darmwand verliessen, sich im Darmlnmen mit Fettkörperchen beladen nud wieder znrück in die Darm- waud wanderten. — Die Gesetze der Resorption innerhalb der Gewebe sind keine anderen als die der Yerdanungsresorption. Wenn es daher Bacteriengifte giebt, so gelangen sie nicht anders ins Blnt als dnrcli Thätigkeit der Blutzellen, speciell der weissen Blutzellen; ja berechtigter als die Lehre von der activen Bacterieniuvasion wäre eine Auffassung, nach der die Bacterien nur dann im Organismus zu finden sind, wenn der Organismus selbst sie hereingeholt hat. Das Blut besteht nicht aus zwei Bestandteilen, Zellen und Plasma, sondern nur begrifflich machen wir eine derartige Trennung. In Wirklichkeit giebt es keine Blutzellen ohne Plasma und kein Plasma ohne Zellen. Die Physiologie be- trachtet das Blut unter demselben Gesichtspunkt, wie die übrigen Körperbestandteile, sie betrachtet das Blut als ein Gewebe, bestehend wie alle Gewebe aus Zellen und Inter- cellularsubstanz, dem flüssigen Plasma. Auch die Intercellular- substanz des Blutes, das Blutplasma, soll nach dem cellulären Princip wie alle übrige Intercellularsubstanz angesehen werden als eine Ausscheidung, als ein Pi-oduct der Zellen. Für diese Auffassung spricht ja auch die experimentell durch ^Alexander Schmidt constatierte Thatsache, dass selbst das Wasser des Blutes von den Blutzellen an das Plasma abgegeben wird. Für eine Reihe der übrigen Blutbestandteile hat Schmidt eben- falls die celluläre Abstammung nachzuweisen mit Erfolg sich bemüht. Bei diesem das Blut betreffenden Sachverhalt kommt die Lehre von dem im Blutwasser gelösten Bacteriengift und Heil- körper und von der im BlutAvasser sich vollziehenden Reaction zwischen beiden Substanzen sehr ins Gedränge. Die Ergeb- lüsse der pliysiulogisi-luMi Forscliung- stehen mit der l)acteiio- logischen Theorie der liifectioii, Heiliiug- und Immimität in schrutt'eni unvereinharen Widerspruch. Die Bacteriologie ver- stösst zudem gegeu das ( i rund princip der biologischen Forschung, dass alle Lehenserscheinuugen, also auch Krankheit und Im- munität, Functiousäusserungen von Organen sind, und dass die Thätigkeit der Organe die C4esamtarbeit der sie zusammen- setzenden Elementarteile, der Zellen, repräsentiert. Ein Oelöst- sein irgend einer Substanz, ohne dass dieselbe vorher in Be- rührung mit Zellen gekommen Aväre, ist ein Unding. Und nun erst zwei solcher Undinge, welche im „Blutwasser^' neben den Zellen auf einander reagieren l Wenn es dergleichen gäbe, — dem Oi'ganismus könnte es höchst gleichgültig sein, was zwischen diesen beiden Fremdkörpern, die in keiner Beziehung zu ihm stellen, vor sich geht. Solange nicht irgend welche Zellen des Organismus reagieren, geschieht im Organismus überhaupt nichts. Nur durch Thätigkeit der Zellen entsteht Gesundheit, Krankheit, Heilung und Immunität. Wenn die Jungen milzbrandkranker Tiere immun gegen Milzbrand sind, obwohl die Placenta nur ausnahmsweise per- meal)el für Bacterien ist, so kann dieser Umstand nicht be- weisen, dass die Immunität der Jungen auf Heilkörpern, auf gelösten Stoffen, beruht, welche auf dem Wege der Diffusion aus dem mütterlichen in den kindlichen Organismus gelangt sind. Zuvor müsste erst bewiesen werden, dass überhaupt zwischen Mutter und Frucht ein Austausch von Stoffen nur durch Diffusion möglich ist, was wohl schwer fallen wird, solange der kindliche Organismus zum grössten Teil aus colloiden nicht duffusiblen Substanzen, z. B. Eiweiss, besteht. — Es bleibt noch der gewichtigste Beweis der bacterio- logisclieu, rein chemischen Krankheits-Auffassung: das Blut- serum habe Bacterien- und Bacteriengifte vernichtende Kraft. Da dasselbe zellfrei ist, könne diese Kraft nur von einer ge- lösten Substanz ausgehen. Die Heilkörper sind also gelöste Stoffe. — Merkwürdigerweisse müssteu zunächst diese speci- fischeu Heilkörper in jedem Blut vorhanden sein; denn einen — 11(3 - Unterschied dei- Bacterien tötenden Kraft zwischen dem Blut- serum eines empfänglichen uud dem eines immun gemachten Tieres vermochte Lubarsch nicht zu finden. (Frankel, pag. 204.) Mag nun Blutserum nocli so starke Bacterien vernichtende Wirkungen besitzen, su ist dieser Umstand bei Beurteilung des Heilungsvorgangs und der Immunität ganz ausser Acht zu lassen. Blutserum ist, wie schon erwähnt, ein Leichenteil. Begrifflich unterscheidet man Blutzellen und Blutplasma, i^lutserum aber ist kein Bestandteil des Blutes und durchaus nicht identisch mit dem Blutplasma. Die Kenntnis des Unter- schiedes der grundlegenden Begriffe Serum und Plasma scheint völlig abhanden gekommen zu sein. In Behring's Schriften ist das Wort Blutplasma nicht zu finden. Als identisch mit demselben gilt Blutserum. Und nicht von diesem Autor allein, sondern fast allgemein werden Blutserum und Blut unterschiedslos ge- braucht. — Ohne diesen Mangel physiologischer Kenntnisse würde niemals die Leln-e von den gelösten Heilkörperu entstanden, würde niemals von Eigenschaften des Serums auf Eigen- schaften des lebenden Blutes geschlossen worden sein. — Das Blutserum enthält Bestandteile der weissen Blut- körperchen, von denen Vio ^^ei der Blutgerinnung zerfallen. Die in jedem Serum enthaltenen sogenannten Proto])lasmakörner sind Trümmer der Leucocj^teu. Auch das Heilserum enthält diese Trümmer der bei der Gerinnung zu Grunde gegangenen weissen Blutkörperchen. Das einfachste microscopische Prae- parat hätte den Beweis liefern können, dass das Blutserum mehr als die im lebenden Blut gelösten Stoffe enthält, dass es noch sichtbare Bestandteile der Blutkörper aufweist. Gäbe es Heilkörper, so könnten dieselben im lebenden Blut an die weissen Blutkörper wohl gebunden sein, selbst wenn sie im Serum gelöst sind. — Die von Behring aufgestellten Regeln über das differente Verhalten des Blutserums von gesunden, kranken und genese- nen Individuen entspiecheu auch nicht den Thatsachen. Diese Regeln sind gedankliche Constructionen. Das Blutserum eines gesunden Individunms soll uno-e- — 117 — fährlich sein fili- liuUvidueu gleicher oder ilhnUclier Art. Diesem ersten Satz widerspriclit eine maimigfaltige Erfahrung Uber die fälsclilich sogenannte Fermentintoxication. Bei der Ge- rinnung des Blutes entstellt nämlich neben anderen Zersetzungs- producten des Blutes das Gerinnungsferment, und zwar im Ueberschuss. Das Fibrinferment, entstanden durch Auflösung der weissen Zellen äussert nun, in's J^lut des Lebenden gelangt, auf dessen Zellen ebenfalls eine auflösende Wirkung. Je nach der Intensität dieser auflösenden Wirkung treten melir oder minder gefälirliche Zustände auf. Da die Auflösung der Leuco- cyten ausser einem weiteren Freiwerden von Fibrinfei'ment auch die Entstehung der übrigen Fibrinbildiier, der flbrinogenen und flbrinoplastischen Substanz bewirkt, so kann es innerhalb der Gefässe des lebenden Organismus zur Gerinnung und even- tuell zu plötzlicliem Tode kommen Und zwar kann diese A\'irkung eintreten nach Injection des eigenen Blutes des betrefl'enden Tieres. „Köhler gelang es, intravasculäre Ge- rinnung mit frischem, nocli körperwarmem defibriuiertem Blut, das er unmittelbar vor der Injection dem Versuchstiere selbst entnommen hatte, zu bewirken." (A. Schmidt, Blut- lehre, pag. 37.) Ferner sei nocli folgender Versuch von Alexander Schmidt augeführt. „Zwei Schafe, von welchen dem einen (15,7 Kilo schwer) nur 20 Ccm., dem andern (24,9 Kilo schwel') nur 30 Ccm. ihres eigenen, unmittelbar vorher ent- zogenen, rasch deftbrinierten und mit dem gleichen Volum Wasser verdünnten Blutes in die Vena jug. ext. zurückinjiciert wurden, erkrankten schwer; Dyspnoe, Hämoglobinurie und blutige Stühle traten gleich nacli der Injection auf; das kleinere Tier starb nach 12 Tagen, das grössere aber schon nach 6 Stunden." (A. Schmidt, Blutlehre, pag. 80 f.) — Auch Men- schen zeigen nach Transfusion deftbrinierten, also ferment- haltigen menschlichen Blutes fast regelmässig Fieberbewe- giingen. — Die erste Behring'sche Regel, dass das Blutserum für Or- ganismen gleicher oder verwandter Art ungefährlich ist, ist also falsch. Behring erklärt, dass, wenn Serumübertragung Tieren — 118 — derselben Rasse g-efälirlich wird, eine Verunreinig-ung- des Serum diircli Bacterien vorliegt, welche aus der Luft oder durch un- reine Instrumente liineingehmgt seien. AVenn ein Tier einige Minuten nacli Injection des defibrinierten eigenen Blutes an intravasculärer Gerinnung stirbt, oder nach einer lialben Stande schon heftiges Fieber liat, so sind hieran doch wolil nicht die Bacterien Schuld; denn diese bedürfen der Zeit zur Vermeli- rung. Die Bacterien dienen hier dem nicht ungewöhnliclien Zweck der Verteidigung erschütterter bacteriologischer Dogmen. Die zweite Regel, dass das bacteiienfreie Blut eines kranken Tieres die Krankheit übertragen kann, ist zuzugeben. Die dritte ebenfalls für die bacteriologische Diphtherie; ob sie für die von dieser differenten Menschen- Diphtherie gilt, bedarf noch des empirischen Beweises. Stände die immunisierende und heilende Kraft des Blut- serums nach überstandener menschlicher Krankheit fest, so Aväre die Erlangung heilenden Serums nur noch eine rein tech- nische Aufgabe. Da dies aber nicht der Fall ist, so muss auf die Erörterung der Methode der Herstellung von Heilserum noch eingegangen werden. — Diese Methoden haben nun alle das Gemeinsame; dass Versuchstiere erst gegen schwächere, dann gegen immer stärkere Giftwirkungen immun gemacht werden, dass eine immer zunehmende Immunität erzeugt wird. Zunehmende Immunität? Welch' merkAvürdiger Begrift'l Bisher verstand man unter Immunität Unempfängliclikeit gegen In- fectionskrankheiten. Kann man denn noch unempfänglicher als unempfängUch sein? Die Erfahrung von Jalii'hunderten hat ge- lehrt, dass es zum Erwerb der Immunität auf die Intensität der Erkrankung gar nicht ankommt. Ein leicht an Pocken krank Gewesener ist grade so immun wie der von schwerer B'orni Genesene. Auf dieser Thatsache allein beruht ja der Wert der Schutzpockenimpfung. Ist die Immunität nur relativ, entsprechend der Stärke der V(n'aufgegangenen Affection, so ist die Blatternimpfung gradezu unsinnig. Nun spricht aber die Erfahrung für dieselbe, wie analog auch für die übrigen In- fectionskrauklieiten eine absolute Immunität nicht in ?^weife| — 1 1 !) — ZU zielieu ist. Wer eine Tnfectiuiiskraiikheit, gegen die überhaupt Immunität existiert, gieichg-ültig ul) in kaum merkliclier oder nahezu tödlicher Intensität durchgemacht hat, besitzt Immunität gegen dieselbe. Die bacteriologisclie relative Immunität ist aber auch eine au Tieren festgestellte Tliatsache. Angesichts dieses Wider- spruchs muss Zweifel entstehen, ob die relative Immunität der Bacteriologie überhaupt eine Immunität ist, wie ja auch deren angebliche Meerschweinchen-Diphtherie etwas anderes ist als die gleichnamige Krankheit bei Menschen. Und in der Tliat ist die relative Immunität Behring's nichts anderes als eine Giftgewölinung, wie aus der Art der Behandlung der Versuchstiere hervorgeht. Ein Vorbild dieser Art der Immunisierung ist die Koch'sche Tuberculinbehandlung. Wie auf das Tnberculin, so reagieren die Versuchstiere auch auf das injicierte angebliche Di})htlieriegift mit Fieber nnd anderen Störungen. Mehrmalige Application derselben Gift- dosis führt scliliesslich keine Reaction mehr herbei; das Tier ist an das Gift in der verabreichten Menge gewöhnt. Wird jetzt aber die Giftmenge gesteigert, so tritt wieder dieselbe Reaction von Seiten des tierischen Organismus ein, und bleibt wieder aus nacli mehrmaliger Application der gesteigerten Gift- dosis. Allmählich kann so das Tier an immer grössere Gift- menge gewöhnt werden. F]s erwirbt gesteigerte Immunität und hiermit natürlich, der Theorie entsprechend, das Blut desselben gesteigerte immunisierende und heilende Kraft. — Diese Art der Erzeugung immer höherer Immunitätsgrade ist nun stets die näm- liche, gleichgiltig gegen welche Krankheit immuni- siert wird. Mei k würdigerweise ist die Art der Reaction von Seiten des behandelten Tieres ebenfalls im wesentlichen iden- tisch; und was noch erstaunliclier ist: ein Tier, welches grosse Mengen eines bestimmten Giftes verträgt, zeigt sich auch tolerant gegen Verabreichung grösserer Gaben anderer .,Bacteriengifte". „Ein Schaf, welches zu einem hohen Grade von Dii»htherie- immunität gebracht und ausserdem auch milzbrandimmun ge- macht Avar, erhielt, ohne tetanusimmun zu sein, von einer — 120 — Tetanusboiiillouclütur sofort das zwaiizigfaclie der für Schafe tödlichen Minimaldosis. Es hat zu keiner Zeit irgend welche Krankheitserscheinungen gezeigt." (Behring, Tetanus, pag. III.) Die 50 gr Heilserum, welche demselben nach der Infection verabreicht wurden, können diesen günstigen Verlauf wohl nicht erklären. Der Eintritt relativer Immunität vollzieht sich unter so übereinstimmenden Verhältnissen bei Tuberculin-Diphtherie- und Tetanus-Gift, dass ein diesen Giften gemeinsamer, wirkender Factor vermutet werden muss. Verstärkt wird diese Vermutung durch den Umstand, dass die nach Injection dieser Gifte zu constatierenden Blutveränderungen einander völlig gleich sind. Zunächst ist eine erneute Eeaction bei Steigerung der verabreichten Giftmeuge gefolgt von einem Schwinden der Heil- körper aus dem Blut, selbst wenn vorher der Heilwert des Blutes „ein so bedeutender war, dass man mit dem Serum tetauuskranke Schafe und Pferde heilen konnte". (Behring, Tetanus pag, 106.) „Und bei sehr starker Reaction kann es geschehen, dass am ersten und zweiten Tage nach der letzten Gifteinspritzung an Stelle der immunisierenden Substanzen tetanuserzeugende im Blut die Oberhand gewonnen haben." (Seite 107.) „Erst nach 8 — 10 Tagen ist der frühere Immuni- sierungswert wieder erreicht." Parallel dem Schwinden der Heilkörper geht nach Behring's Beobachtung eine verlangsamte Gerinnung, verminderte Serumausscheidung und anscheinend erhöhte Fibrinmenge. Dieser Zustand des Blutes dauert so lange, als Fieber vorhanden ist. Nach Schwinden des Fiebers beginnt das Blut wieder schneller zu gerinnen, die Serummenge wird grösser und übersteigt sogar die normale Menge. Es ftndet also eine Blutveränderung statt, gleichsam in Form einer stark abfallenden, stark ansteigenden und wahrscheinlich in immer kleineren Kurven sich verlierenden Wellenbewegung. Aehnliclie Beobachtungen wurden schon von Alexander Schmidt in ausführlicherweise mitgeteilt. Dieser Autor giebt zugleich die einleuchtende Erklärung dieser Blutveränderung. Das Blut enthält schon in der Noriu iinniei- geringe Ferment- meugeu. Experimentell lässt sich dieser Fermeiitg-elialt des lebenden Blutes in kolossaler Weise steij^ern. Häiiftg- tritt hierbei allerdings sofortiger Tod durch spontane intravasculäre Blutgerinnung ein. Ueberleben die Tiere den Eingritf, so folgt auf ein kurzdauerndes, nur nach Secunden sich bemessendes Stadium enormer (Terinnungsbeschleunigung mit momentaner Gerinnung des aus der Ader gelassenen Blutes ein längeres Stadium verzögerter Gerinnbarkeit, in schweren Fällen selbst völlige Ungerinnbarkeit des Blutes. Auch in diesem Stadium der Ungerinnbarkeit des Blutes starben die meisten Tiere. Bei den Genesenden fand Groth (Schmidt, pag. 66) mit wieder- kehrender Fähigkeit des Blutes zur Gerinnung eine erhöhte Fibrinnienge, wie dies auch von Behring in der Eeactious- periode nach 'J'etanusgiftinjection gefunden wurde. Die Er- scheinungen waren weniger intensive, wenn die causale Sub- stanz nicht direct ins Blut, sondern subcutan appliciert wurde. In diesen Fällen erreichte die Steigerung des Fermentgehaltes ihr Maximum erst am folgenden Tage. (Schmidt, pag. 85.) Das Belinden der Tiere war natürlich der Intensität der Blut- veräuderung entspreclieud. Bei einer Steigerung des Ferment- gehaltes bis zum 25faclieu des normalen, war au den Tiereu erstaunlicher Weise nichts zu bemerken. Dieselben waren munter und frasseu. Das einzig abnorme, was an ihnen constatiert werden konnte, war eine lieberhafte Temperatursteigeruug, genau wie sie Behring bei Pferden während der Reaction fand. In den Fällen intensiverer Wirkung verfielen die Tiere einem längeren Siechtum, aus dem nicht alle genesen sind. Bei diesen Tieren stellten sich Dyspnoe, Erbrechen, Diarrhoe, blutiger Stuhl, Muskelzittern ein. Bei den in diesem Zustand einge- gangenen Tieren fanden sich zuweilen Thrombosen der Haut- gefässe. Vergleicht man mit diesen Symptomen die bei Menschen beobachteten Erscheinungen nach Transfusion heterogenen Blutes, so tritt eine auffallende Uebereiustimmung zu Tage. Die loten Blutkörperchen werden aufgelöst und daher das Plasnm von Hämoglobin gefärbt. Wie (lie Tieie iiach Appli- — 122 - catioii von Hämoglobin dasselbe durcli die Nieren und den Dann entfernen, so findet sich auch beim Menschen nacli Trans- fusion von Lammblut Ausscheidung von Hämoglobin durch Urin, Darm, Bronchien und in die serösen Häute. (Pauum.) Durch Verkleben von Blutkörperchen kommt es zur Gerinnung innerhalb der Gefässe. Die Haut wird blaurot. Es treten hämorrhagische und urticariaartige Exantheme auf. Von Seiten der Lunge findet sich Dyspnoe und Haemoptysis ; von Seiten des Darms vermehrte Peristaltik, Leibsclimerzen, Erbrechen; von Seiten der Niere Cylinder und Infarkte. Fast regelmässig eine halbe Stunde nacli der Transfusion äussert sich lebliaftes Fieber; in schlimmen Fällen ist die Temperatur subnornial und mannigfaltige Blutungen erfolgen aus Nase, ]\[und etc. wegen Ungerinnbarkeit des Blutes. — Parallel mit diesen Symptomen geht bei Menschen ein Zerfall der Blutelemente, bei Tiereu eine Zerstörung der weissen Blutkörper. Eine Minute nach Application der schädigenden Substanz wurde die Zahl der weissen Blutkörperchen bis auf 10% reduciert befunden. — Man hat diese krankhaften Erscheinungen als Fermentin toxi- cationen bezeichnet; mit Unrecht. Es handelt sich überhaupt nicht um eine Vergiftung und die Wirkung einer bestimmten chemischen Substanz, sondern um einen Process, einen Vorgang im Blut, welcher zum Zerfall der Elemente desselben und damit zu einer Steigerung des vitalen Fermentgehaltes mit seinen pathologischen Folgen fiilirt. Die Zahl der diesen Process aus- lösenden Ursachen ist Legion. Schon jede Zelle des mensch- lichen Organismus ist reich an Substanzen, welche das Ferment aus seinem Mutterstolf abspalten können. Derartige, das Fer- ment von seiner unwirksamen Vorstufe abspaltende Substanzen nennt Schmidt zymoplastische. Da beständig Fibrinferment im normalen Blut, wenn auch nur in minimalen Mengen, zu finden ist, wie Schmidt und sein Schüler Jakowiky eruierten, so muss es eine physiologische Fernientabspaltung geben. Diese physiologische Fermentabspaltung ist wahrscheinlich bedingt durch den normalen Abbau der Eiweisssubstanzen. Die Pror (lucte dei"- regressiven Meti^-niorphose (ler Eiweisskiirper, wiö — 123 — Lecithin, Hypoxauthiii, Leucin, (ilyciu, Taiirin, Kreatinin, Xautiu, Guanin, Harnsäure, Harnstoff, wurden von v. Samson und Nauk als gerinnungbeschleuuigend gefunden mit Aus- nahme des Harnstoffs. (Schmidt pag. 98.) Sie müssen also fernientabspaltende Kraft besitzen. Normaler Weise fällt nun das Maximum der Erzeugung dieser Producte der regressiven Metamorphose in die ersten vier bis sechs Stunden nach der Hauptmahlzeit. Gleichzeitig findet der normale Anstieg der Körperwärme statt. Die regelmässigen Tagesflnctiiationen der Körpei-temperatur mit ihren höchsten Erhebungen vormittags zwischen 9 und 11 und nachmittags zwischen 4 und 6 Uhr werden bedingt durch Anstieg des Fermentgelialts des Blutes. Letzterer wiederum hat seine Ursache in dem erhöhten Ueber- tritt der Producte des regressiven Stoffwechsels ins Blut, welche mit der Resorption der Morgen- und ]\Iittagsmahlzeit regelmässig verbunden ist. Die Aufnahme der Nahrung wirkt somit durch das Mittelglied der Schlacken des Stoffwechsels z^'moplastisch und temperatursteigernd. Als Resultat ergiebt sich aus dem bisherigen eine Erweiterung unserer Einsicht in die Ursachen der täglichen Temperaturschwankungen. Der tägliche Temperaturverlauf, der continuierliche An- stieg der Körperwärme von den Morgenstunden bis zu ihrem Maximum und der geringen Erhebung während dieses Anstiegs in den Vormittagsstunden zwischen 9 und 11 Uhr findet eine einfache Erklärung durch den zunehmenden Fermentgehalt des Blutes. Gegen diese hier gegebene Theorie spricht der Umstand, dass nach der Abendmahlzeit eine Steigerung der Wärme nicht stattffndet, sondern dass dieselbe von 6 Uhr nachmittags an continuierlich sinkt bis in die ersten Stunden nach Mitternacht, und dann von diesem Minimum continuierlich wieder ansteigt. Dieser continuierliche Abfall der Temperatur von G Uhr nach- mittags an ist wahrscheinlich bedingt durch das Eingreifen eines dem zymoplastischen antagonistischen Factors, der zugleich auch die physiologische Ursache des Schlafes ist. Wäre die Ursache des Schlafes sicher bekaimt, so würde die periodisclie — 124 — tägliclie Temperatiirschwaiikimg vvalirsclieiiilicli völlig" begreif- lich sein. Um zu unserem Thema zurückzukehren, so ist sicherlich die regelmässige tägliche Temperaturerhöhung auf erhöhten Fermentgehalt des Blutes zurückzuführen. Hieraus folgt, dass der Organismus gleichsam täglich geübt wird in der Aus- gleichung zymoplastisch wirkender Einflüsse. Tuberculininjection und Application der Bacteriengifte haben nuu gemeinsam eine zymoplastische und fermenterhöhende Wirkung. Dies geht hervor : 1) Aus dem auffällig wenig gestörten Allgemeinbeftnden trotz hohen Fiebers bei typischer Reaction. An Tieren mit einem Anstieg des Fermentgelialtes des Blutes um das fünfundzwanzigfaclie des normalen, war nach A. Schmidt keinerlei Störung zu bemerken ausser Temperatur- steigei'ung. Ebenso waren Behring's Pferde bei typischer Reaction munter und völlig gesund bis auf das Fieber. 2) Die Blutveränderungen, welche Behring in der Reactions- periode beobachtete, sind die gleichen, welche auch Schmidt nach künstlicher Fermenterhöhung des Blutes constatierte. 3) Auch der Ablauf dieser im Blute stattfindenden Vorgänge zeigt nach Application der Bacteriengifte den von A. Schmidt nach künstlicher Fermenterhöliung gefundeneu auf- und abwogendeu Character. 4) Behring unterscheidet ausser der wirksamsten, der Tuber- culinwirkung entsprechenden Art der Reaction noch drei audere. Neben der einen (Erkrankung unter Erschei- nungen der betreffenden Infectionskrankheit) können die Tiere entweder keinerlei Symptome zeigen (nur die ver- langsamte Blutgerinnung beweist eine Veränderung im Organismus), oder aber auch in ein längeres Siechtum verfallen, selbst nach i\Ionaten noch zu Grunde gehen. — Dieses Siechtum nun hat mit der betreffenden Infections- krankheit nichts gemein. Es ist das Gleiche nach Tuber- culin, Tetanus und Diphtherieinjection. (Behring, Diph- therie, Seite 166.) Dasselbe Siechtun) fand schon A, Sclimidt bei seinen Tiereu nach künstlicher Steigerung* des Fermentgelialtes. 5) i^'ast sämtliclie atypische Tuberculiuwirkuugeu bei Men- schen finden ihr Analogon in den Erscheinungen nach Transfusion von Tierbhit, sind also wie diese in ab- normer Fermenterhöhuug und entsprechender Reaction be- gründet. — Der Organismus, täglich gezwungen, Fermentsteigerung zu überwinden, vermag aucli ein abnormes Anwachsen des Blutfermentes bis zum Hundertfachen zu ertragen. Eine öfter hintereinander erfolgende künstliche abnorme Erhöliung des Fermentgehaltes des Blutes ei'fordert von selten des Organis- mus eine öftere stärkere Auwendung physiologischer, täglich benutzter Kräfte. Eine Wiederholung derselben gesteigerten Tliätigkeit führt wie alle gesteigerte Thätigkeit zu erhöhter Leistungsfähigkeit durch Uebung. — Es darf mit Recht ge- schlossen werden: 1) Die speciftschen Bacteriengifte haben in ihrer Wirkung auf den Organismus nichts Specifisches, sondern lösen sämtlich nur einen bereits täglich stattfindenden Vorgang in verstärktem Masse aus. Die Bacteriengifte wirken mir zymoplastisch den Fermentgehalt des Blutes erhöhend. 2) Die gesteigerte Immunität gegen die Bacteriengifte ist, wie vermutet, überhaupt keine Immunität, sondern eine durch Uebung gesteigerte Functionsfähigkeit des Organismus. — Der Heilkörper, ausgedachter neuer Stoffe, bedarf es nicht. Dieses Ergebnis, dass die künstlich gesteigerte Immunität gegen Bacteriengifte und Tuberculin eine durch Uebung er- worbene erhöhte functionelle Leistungsfähigkeit normaler, täg- lich benutzter Fähigkeiten des Organismus ist, wird durch mehrere den bisherigen Theorieen direct widersprechende Thatsaclien bewiesen. 1) MitNachlass der Uebung verringert sich regelmässig auch die gesteigerte Leistungsfähigkeit. Wird nach langsam erlangter Toleranz gegen grössere Tiiberculindosen die Anwendung dieses Mittels ausgesetzt, so findet man häufig — 126 — uacli Wochen scliuii wieder die ursprüiigliclie Enipliud- liclikeifc. Ks treten liei erneuter Injection, sell)st mini- maler Dosen, wieder lieberhafte Reactioueu ein. 2) Eine Steigernng fuuctioneller Leistungsfähigkeit ist nicht l)is in's l^nendliclie möglich, dieselbe findet eine Grenze an der anatomischen Einrichtung des betreffenden Organs. Ein Muskel gewinnt an Kraft durch Uebung; wird dem- selben aber zu viel zugemutet, so tritt trotz Uebung schliesslich Dehnung und Lähmung desselben ein. Ein ent- sprechender Ausgang nnisste bei Application immer grösserer (xiftmengen erwartet werden, und ist in der That ein- getreten. Und zwar musste Behring selber die Beob- achtungen machen, "welche seine Heilkörper- und Im- munitätstheorie mit einem Schlage über den Haufen warfen. (Deutsche med. Wochenschrift 1893. p. 1253.) Estraten bei seinen Tieren zweierlei verschiedene Folgen der In- jection immer gesteigerter Giftmenge ein, entweder die Tiere erw^arben w i r k 1 i c h e , a b s o 1 u t e I m m u n i t ä t , oder sie wurden überempfin dlicli gegen das betreffende Bacterieu- gift. Im ersten Fall konnte Behring keine Culturen mehr finden, mit genügend starkem Gift, um Reactionen zu er- zeugen. Es war also offenbar die unserem Verständnis noch völlig verschlossene wahre Immunität eingetreten. Die grössten Mengen stärksten Giftes w'irkten nicht mehr zymopl astisch, waren ohne Einwii'kungen auf das Blut- leben; infolgedessen enthielt das Blut dieser Tiere keine Antitoxine. Solche Tiere waren, wie Behring sagt, für die Gewinnung von Heilserum verloren. — An diesem Er- gebnis scheitern alle bisherigen Hypothesen. Nach unse- rer Theorie enthält dies liesultat nichts wunderbares, ausser dem Wunder der wahren Immunität. Mit Eintritt der wahren Immunität haben die lietreftenden Bacterieu- gifte ihre zymoplastische Wirkung verloren, sie sind nicht mehr ein heterogener, sondern ein für das Blutleben gleichgültiger Stoff", dessen Einverleibung daher auch Reactionen nicht mehr auslöst. Aber die Widerspiiu-lu' gegen die Grundlage der Seruni- therapie — denn die Grundlage der Serunitlierapie ist die An- nahme, dass Innnuuität bewirkt werde durcli Auliäufiing von geb")Sten Heilkih-pern im Blut — werden noch schlimmer. Bei nur wenigen Tieren trat wahre Immunität ein mit Mangel an Antitoxineu, bei den meisten bildete sich nach fortgesetzter Behandlung mit gesteigerten Giftmengen neben Vorliandeusein eines grossen Ueberschusses von Heilkörpern ein Zustand der Ueberempfindlichkeit gegeu das Bacterieugift aus. Beh- ring schreibt (Deutsche med. Wochenschrift 1893): „Ich besitze Tiere — Pferde, Schafe und Ziegen — die auf den tausendsten, z. T. auf den millionsten Teil derjenigen Dosis stark reagieren, welche für andere nicht behandelte Tiere derselben Gattung noch indifferent ist." — ..Das merkwürdigste aber ist, dass die Tiere, welche unter dem Eintiuss der Oiftbehandlung so überempfindlich wurden, gleichzeitig ein Serum liefern können, welches in sehr hohem Grade antitoxische Eigenschaften be- sitzt." . . . Das kann so weit gehen, dass ein Pferd in 1 ccm seines Blutes genug Antitoxine besitzt, um eine solche Gift- nienge für nicht vorbehandelte Pferde unschädlich zu machen. Von welcher ein Bruchteil genügt, um das antitoxinliefernde Pferd selbst zu töten." Fürwahr, widerspruchsvolle Heil- körper, die in kleinsten Mengen andere Tiere retten, ihrem eigenen Träger aber in kolossalen Quantitäten nicht zu helfen vermögen! Kann es einen ärgeren Widerspruch gegen die wissenschaftliche Grundlage der Serumtherai)ie geben? Der Zustand der ßehring'schen Tiere lehrt, dass alle Functionssteigerung eine Grenze hat; wird diese überschritten, so ist eine Katastrophe unausbleiblich. — Ferner geht aus den Behriug'sclien Befunden hervor, dass der Besitz seiner soge- nannten Heilkörper gegen Infection wertlos ist, keinen Schutz gewährt, dass ferner von einer Vernichtung oder Paraly- sierung des Bacteriengiftes durch Heilkörper keine Bede sein kann; denn die grösste Menge angeblicher Heilkörper vernichtet ja bei seinen Tieren nicht die kleinste Menge Giftkörper. Wenn daher durch angebliches Heilserum überhaupt ein Nutzen g-eschaffeii wii'd, so kann derselbe nur dadurcli zu Stande kommen, dass das iujicierte Serum die anslösende Ursache eines Vorgangs im Organismus ist, welclier eventuell den Krank- heitsprocess günstig beeinflnsst. Die Mittel dieser günstigen Beeinflussung nach Sernm-Injection sind also keine anderen, als die eigenen pliysiologisclien Kräfte des Organisnms. Beh- ring nimmt zur Erklärung der allen seinen bisherigen Annah- men über die Ursache der Immunität zuwiderlaufenden That- sachen seine Zuflucht zu einer neuen Hypothese. Er con- statiert eine neue Art von Immunität, die ..(.Tevvebsimmnnität", welche ohne Antitoxine ist, welclie sogar zu diesen in umge- kehrtem Verhältnis steht, so dass, je melir Heilkörper das Blut enthält, nm so geringer die Gewebsimnuinität sein, und hier- durch die Ueberempfi.ndlicl)keit seiner Tiere ge'geu Bacterien- gifte trotz hohen Antitoxingelialtes ihres Blutes erklärt werden soll. — Warum nun gleich wieder eine neue willkürliche Hj'pothese? Das Verdienst, neue Thatsachen entdeckt zu haben, wird nicht geschmälert, wenn deren vorläufige Unbegreiflichkeit constatiert wird; verringert aber kann das Verdienst werden durch Zugabe willkürlich aufgei affter Hypothesen, abgesehen davon, dass die Cousequenzen derartig willkürlicher Hypothesen meistens un- sinnige sind und Gregnern billiges Angrilfsmaterial liefern. Eins muss noch erwähnt werden. Im Jahre 1892 ist Behl ing der Meinung (Blutserumtherapie I, p. 66), dass Immunsein auf einer Function lebloser Teile des Organismus beruht und dass die Hypothese, die Ursache des Imnuinseins sei „eine Function lebender Teile des Organismus", also eine Function der Zellen, in das Gebiet „metaphysischer Speculation übergreife, und sich aus diesen Gründen seiner Beurteilung vom experimentell- wissenschaftlichen Standpunkte aus entziehe." — Im Jahre 1893 (Deutsche med. Wochenschrift) sieht sich Behring gezwungen, diese hart verurteilte Ansicht zur seinigen zu machen, indem er die „Gewebsimnuinität" constatiert! — Die wissenschaftliche Voraussetzung der Serumtherapie ist somit eine völlig haltlose, und auch die Unterscheidung zwischen Gewebsimmunität und Antitoxinimmunität kann das Fundament nicht l)efestig-eii. Was sulleu Antitoxine, die niclit mir s(4bst in grüssten Mengen das Bacteriengift zn paralysieren nnfaliig sind, sundern mit deren Anwesenheit im Körper sogar eine gesteigerte Kmptlndlichkeit gegen Bacteriengift vereinbar ist? Dass trotz solcher krassen Widersprüche die Theorie von den Heilkürpern immer noch lebensfähig ist, sogar die Grundlage einer neuen therapeutischen Methode bleibt, ist einer der un- begreiflichen Widersprüche, an denen das bacteriologische System reich ist. Das Heilserum kann sicli auf eine wissenschaftliche Crrnndlage nicht mehr stützen. Die Gewähr seiner Bi-auchbar- keit kann wie bei jedem anderen Mittel nur der durch genane Beobachtung festgestellte Erfolg bilden. Für den Arzt bedarf es aber v o r Anwendung des Heilserums der Erledigung der Frage, ob das neue Mittel Gefahren bedingt, und eventuell welche. — Beantworten lässt sich diese Frage nur, wenn eine Kenntnis der physiologischen Wirkungen des Heilserums ge- Avonnen ist, wenn bekannt ist, welche Erscheinungen dasselbe beim Gesunden herbeiführt. Paral.ysierung des Diphtheriegiftes ist keine physiologische AVirkuug, keine Aenssei'ung fuuctioneller Beeinflussung des Organismus. Eine derartige Wirkung setzt ausserdem die Existenz eines speciftschen Diphtheriegiftes als bewiesen voraus, was für die gevvijhnliche Diphtherie des Menschen keineswegs der Fall ist, sondern höchstens für Fälle von septischer Diphtherie zugegeben werden könnte. Da sich aber das Heilserum sogar nach der Ansicht seines Erfinders gegen septische Diphtherie unwirksam erweist, also das even- tuelle Gift dieser Kranklieit nicht zu paralysieren vermag, so würde demselben streng genommen jede Wirkung fehlen. — Niemand aber wird ül)erzeugt werden können, dass ein Mittel Heilmittel sein kann ohne irgend welche Wirkung auf den Oi'ganismus auszuüben, und ohne die Fälligkeit zu besitzen, eventuell auch einmal Schaden zu stiften. Alle Arzneimittel können schädlich wirken; ja nicht nur Arzneimittel, sondern auch destilliertes W^asser, kurz alle innerlich und äusserlich zur Auwendung gelangenden Mittel, einschliesslich der Nah- 9 — 130 ruugsmittel. Jede Einwivkimg- beeinflnsst den ICranklieits- process sei es in giinstig-er, oder auch einmal in ungünstiger Weise. Mittel, welche niemals schaden könnten, wären Wittel oline jede Wirkung, wären der reine Spuk. — Auch das Diplitlierieserum kann nur dann existenzberecli- tigt sein, wenn es die Fähigkeit zu schaden besitzt. — Besitzt es diese Fähigkeit aber, so ist es notwemlig, zu wissen, wodurch es schädlich werden kann, was nur möglich ist durch Kennt- nis der physiologisclien Wirkungen. Unsere wertvollsten Heil- mittel sind zugleich die stärksten Gifte. Dass diese gefähr- lichen Stoffe in der Hand des Arztes höchst selten schaden, ist nur dadurch möglich, dass derselbe mehr von ilinen weiss, als dass sie gegen diese oder jene Krankheit helfen, dass demselben die physiologischen Wirkungen der Mittel genau bekannt sind. Leider fordern dagegen Stoffe, welche im Ver- gleich mit alten erprobten Mitteln wie Opium, harmlos zu nennen sind, jährlich Opfer. In der Regel sind dies die neuesten Erzeugnisse der chemischen Industrie, von deren Wirkung öfter dem sie Anwendenden weiter nichts bekannt ist, als dass sie gegen dieses oder jenes Leiden helfen sollen. Auch von allen diesen Präparaten Avird zu ihrer Empfehlung gerühmt, dass sie ohne Gefahren seien. Soll es nun vielleicht genügen, von dem Serum zu wissen, dass es Diphtherie heilt und unschädlich ist? Keineswegs! Grade in diesem Falle nicht. Mit der Anwendung anderer neuer Arzneimittel kann der Arzt es halten, Avie er will, mag er jede tlierapeutische Mode mitmachen und jedes neue Mittel sofort in Gebrauch nehmen und die grössten Erfolge damit erzielen, und nach einem halben Jahr mit einem noch neuereu dieselben günstigen Resultate erlangen und so fort — oder mag er sich ablehnend gegen jede Neuerung verhalten — die Entscheidung steht bei ihm. Dagegen ist er augenblicklich der Freiheit des Handelns bei der Diphtherie beraubt, weil die öffentliche Meinung derartig für das Heilserum gewonnen ist, dass oft genug diese, nicht der Arzt die Behandlung der Diphtheriekranken bestimmt. Es ist bei solcher Zwangslage - 131 — iinbeding-tes Erfordernis, wenigstens dazn beizntragen, dass die sclilimnisten P]ventualitäten vermieden werden. Dies ist nur möglich durch Kenntnis der Wirkungsweise des Mittels. Bisher sind physiologische Wirkungen des Heilserums, Wirknngen anf den Gesnnden, noch nicht beobachtet worden. Es soll ja auf Gesnnde überhaupt keine Wirkung ansüben. Direct wahrnehmbare Functionsändernngen des Organismns vermag demnach das Mittel schwerlich auszulösen; aber hiermit ist nicht ansgeschlossen, dass nicht wichtige Aenderungen des Blutlebens entstehen können, Avelche sich der directen Wahr- nehmung entziehen, vielleicht ancli beim Gesunden sofort aus- geglichen weiden, beim Kranken aber deutliche Störungen herbeiführen können. Bei dem Mangel an Erfahrungen über Wirkung des Mittels bei Gesunden bleibt nur der eine Weg, zur Einsicht in die Wirkungsweise zu gelangen: aus den am Krankenbette wahrgenommenen Vorgängen auf die plij'sio- logisclien AViikungen des Heilserum zu schliessen. Zweifellos wirkt das Serum temperaturlierabsetzend. Be- obachtet wurden ferner nach Injection von Heilserum: Urti- caria, purpuraartiges, aus blauroten Flecken bestehendes Exan- them, ausgedehnte Hauthaemorrliagieu, Neigung der Schleim- häute zu Blutungen, Nasenbluten, dysenterische Ersclieinungen, Schwellung und Schmerzhaftigkeit der Gelenke, nach Hanse- mann auch Laesion der Nieren. — Bemerkenswerter Weise treten diese Störungen nie in sofortigem Anschluss an die Injection des Heilserums auf, sondern erst eine geraume Zeit gpäter, gleichsam nach Ablauf eines Incubationsstadiums. Sucht man, um iiber die Ursache dieser Erscheinungen Klarheit zu gewinnen, Analogien^ so fällt zunächst auf die Verwandtschaft mit Purpura liaemorrhagica simplex, welche bei fieberlosem Verlauf ebenfalls characterisiert ist durch Schleimhautblutungen, Urticaria und Hautblutungeu verschie- denster Art. Gelenkschwellung und Muskelschmerzen bei vor- handenem liaemorrhagischen Exanthem weisen hin auf Ver- wandtschaft mit Purpura rheumatica. Leider ist über die Ursache dieser haemorrhagischen Affectionen nichts bekannt. Ks kann (laliei- voiliiiifig- nur die Tliatsaclie der Verwandt- scliaft constatiert werden, ebenso dass Teniperatureruiedrigiing-, Haut- und Sclileiniliantblutung-en, Nierenentzündungen in vielen Fällen septischer Diplitlierie gefunden werden. Wohl abei- können die genannten Ph'scheiuungeu beg-reiflicli werden durch die bei Transfusion heterogenen Blutes gewonnenen Erfahrun- gen. Nach Landois (Real-Encycl. Eulenburg-, Transfusion) ist nach Lammblut- Transfusion bei Menschen Temperatur- erniedrigung bis 35^ beobachtet worden. Urticaria, purpura- artige Exantlieme bestellend aus blauroten Flecken sind relativ häufige Folgen von Tierbluttrausfusiou; ebenso die Neigung der Schleimhäute und etwaiger Wunden zu Blutungen. Das Haenio- giobin des nach der l^ransfusion zerfallenden fremden Blutes, welches immer das eigene Blut des Empfängers in Mitleiden- schaft zieht, wird ausgeschieden durch sämtliche Schleimhäute ; daher das häufige Auftreten von Haemoi)t3^sis, von Diarrhöe, selbst blutiger Art; daher die Haemoglobinurie, welche nicht immer ohne Schaden für die Nieren von statten ging, wie der Befund von Cylinder und Infarcten beweist. — Alle diese nach Transfusion auftretenden Störungen sind die Folge eines durch das heterogene Blut ausgelösten Zerfalls der Blutelemente des Empfängers. Das fremde Blut bewirkt nicht als Gift diese Reihe von Stöi ungen, — diese bewii'kt der Organismus selbst — sondern das fremde Blut löst nur einen pathologischen ^'organg mit den angegebenen (Jonseciuenzen aus. Dieselben Vorgänge können noch durch eine Menge von anderen Substanzen aus- gelöst wei-den, z. B. durch alles Protoplasma, auch durch Hefe- pilze, wie schon Alexander Schmidt nachwies. Dies sei hier erAvähnt, weil neuerdings der Hefei)ilz als zweiter specifischer Urheber der ebenfalls durch subuormale Temperatur und Ungerinnbarkeit des Blutes characterisierten Cholera asiatica entdeckt wurde. Mit dieser zum zweiten Mal entdeckten Fähigkeit des Hefepilzes ist von bacteriologischer Seite in die Lehre von der Specifität der Krankheitsursachen Bresche gelegt worden. Denn genau so specifisch für Cholera wie der Hefepilz sind sämtliche Zellen, sogar die Zellen des — 133 — eigenen Organisimis. wenn sie ins liliit gelangen; ja jedes Protoplasma überliaiipt. Der specitischen Urlieber der ("lioleia Von iler Art der Kefepilze giebt es deninaeli tansende. Die K.rtahriüigen bei Lanimblnttransfusiun lehren nun, dass dieselben Erscheinungen Avie sie nach Seruminjectiun auf- treten, bedingt sind durch Auflösung d(^r roten und weissen Blutkörperchen durch das heterogene iUut. Audi das Heil- serum stammt V(tn heterogenem Blut. l)i(Miach seiner Injectitm beobachteten identischen Erscheinungen sind daher ebenfalls verursacht durch einen Zerfall des Blutes der diphtlieriekranken Kindel'. Mit der so gewonnenen Erklärung ist natürlich noch keine genaue Einsicht gegeben in die Art des Zustandekommens dieser Wirkungen. Heterogenes Blut hat zunächst den Effect der Fer- mentsteigerung des Blutes des Empfängers mit fieberhafter Tempe- raturerhöhung und beschleunigter Gerinnbarkeit. Die mit dem Fermentzuwachs verbundene Cxefahr der Spontangerinnung wird ausgeglichen, wie schon auseinandergesetzt wurde^ durch Ein- greifen eines antagonistischen Factors, durch den schon in Secunden das Blut völlig ungerinnbar werden kann. Wie die pathologische Fermentsteigerung Steigerung eines täglichen Vorgangs ist, so wird auch der entgegengesetzte, die Gerinn- barkeit aufhebende Factor nicht wie ein deus ex machiua in pathologischen Fällen eingreifen, sondern ebenfalls sein physio- logisches Vorbild haben. Bei dem täglich stattfindenden Fer- mentzuwachs um die Nachmittagsstuuden müsste eine jedes- malige intravasculäre Gerinnung eintreten, wenn dem nicht ein Einfluss des l^lutes entgegenwirkte. Die permanent flüssige Beschaffenheit des lebenden Blutes ist das Resultat antagonistischer, sich das Gleichgewicht haltender Einflüsse. Abnormes Anwachsen des einen l)ewii'kt als Ee- actiou verstäikte Actiou des Antagonisten. Eine sicher constatierte Wirkung des Diphtherieserums ist die Verringerung der Körperwärme. Ferner sind die haemorrhagischen Exantheme und die Neigung zu Scideimhaut- blutungen ebenfalls Folgen dieses Mittels. Das Heilserum — 134 — wirkt dalier der Fermeuterliöliuug entgegen ; es wirkt im Sinne des die Gerinnbarkeit des Blutes aufhebenden Einflusses. Wie Ferment- und Temperatur-Erhöhung, so gehen Abnahme der Gerinnbarkeit und Sinken der Körpertemperatur parallel. Als Beweis für letzteren Parallelismus seien angeführt der fieber- lose Verlauf der Purpura haemorrhagica simplex, die häuftg subnormale Temperatur bei septischer Diphtherie mit Ungerinn- barkeit oder herabgesetzter Gerinnbarkeit des Blutes, die öfter ungerinnbare Beschaffenheit des Cliolerablutes und die sub- normale Temperatur Cholerakranker. Die gleiche theerartige Beschaffenheit wie bei Cholerablut ftudet sich bei ungerinn- barem Tierblut. — Kurz bei allen pathologischen Affec- tionen, welche zur Herabsetzung der Gerinnbarkeit des Blutes führen, findet sich gleichzeitig auch eine Temperaturerniedrigung. Es ist demnach der Schluss, dass auch das Heilserum in der Tendenz dieses die Gerinnbarkeit aufliebenden Factors wirkt, kein allzu kühner. Zur experimen- tellen Verificierung der vorstehenden H y p o t h e s e fehlt mir leider die Möglichkeit. — Dass das Heilserum auf den Gesunden scheinbar ohne Ein- fluss bleibt, wird jetzt verständlich. Wie selbst bedeutende Erhöhung der Gerinnungstendenz vom Organismus ohne wahr- nehmbare Störungen compensiert wird, ebenso wird sicherlich auch ein Ueberwiegen des die Gerinnungsfähigkeit aufheben- den Factors vom gesunden Körper ausgeglichen. Während aber im ersten Falle Vei'änderungen im Organismus immerhin durch Fieber sich kundgeben, muss dieses Symptom im ent- gegengesetzten Fall natürlich fehlen. Aber trotz Fehlens jeg- licher Temperaturerhöhung können im Blutleben nicht unbe- deutende abnorme Vorgänge stattfinden. Es ist noch eine bemerkenswerte, der Erklärung bedürfende Erscheinung, dass die characteristischen Folgen der Heilseruni- injection nicht sofort nach der Application, sondern erst nach mehreren Tagen, nach Art einer Incubationsdauer sich einstellen. Eine Erklärung dieser Incubationsdauer ist, wie eine Er- klärung der Incubation überhaupt, schwer zu finden . Folgende — 135 — Hypothese biing-t vielleicht einig-es Licht. — Wenn die Wir- kung des Serum als temperaturvermindernd bezeichnet wurde, so ist damit keineswegs gesagt, dass dasselbe eine ununter- brochen subnormale Temperatur herbeiführt. Dergleichen giebt es nur bei Sterbenden; im lebenden Organismus wii-kt der antagonistische Einfluss dem entgegen. AVohl aber kann der normale tägliche An- und Abstieg der Temperatur sich dauernd abspielen auf einem über oder unter der ^^)l•m liegenden Niveau oder als tägliche kleine Erhebungen und Senkungen auf einer grossen, langsam durch mehrere Tage sicli hinziehenden Kurve. Wie in einem ruhigen Wasser eine Wellenbewegung nicht plötzlicli, gleichsam ruckweise zur Ruhe kommt, sondern in immer kleineren Erhebungen und Senkungen allmählich aus- läuft, ebenso kann nach einer tagelangen Erliijhung der Körper- wärme über das gewöhnliche Niveau nicht ein einfaches Zurück- kehren zur alten (^rleichgewichtslage erfolgen, sondern ent- sprecliend der Dauer und Höhe der Temperatursteigerung tritt für längere oder kürzere Zeit ein mehr oder minder tiefes Sinken unter die normale Höhe ein. Dass dies nicht eine rein willkürliche Annahme ist, geht aus dem bekannten ähnlichen Verhalten des Blutes liervor. Die Reaction der Versuchstiere Behring's dauerte in der Regel 8 — 1<» Tage, während dieser Zeit war die Sernmansbeute gering, die Fibrinmenge abnorm gross, die Gerinnung verlang- samt, der Gehalt an Antitoxinen verringert, oft vfdlig ver- schwunden. Nach Ablauf der Reactionsperiode war das Ver- halten des Blutes ein in allen Punkten anderes ; es gerann abnorm scliuell, die Serummeuge war grösser, die Fibrinmenge ent- sprechend kleiner als in der Norm, der Antitoxingehalt maxi- mal. Diese Aenderung des Blutverhalteus trat gleichzeitig ein mit der Entfieberung des behandelten Tieres. Nach einiger Zeit erfolgt abermals eine kleine Wellenbewegung, nach deren Ablauf dann das Niveau ein gleichmässiges zu bleiben scheint. Brieger und Ehrlich (Zeitschrift für Hygiene .1893, S. 336) fanden nämlich wie Behring während der Reactionsperiode der behandelten Tiere den Antitoxingehalt des Blutes minimal, nach — 136 — Ablauf der Jleaction, iiadi 8—14 Tageu maximal. Nach einer weiteren Zeitdauer trat abermals ein Sinken des Antitoxin- gelialtes ein. In den Zeiten der höchsten Erliebung und tiefsten Senkung- iiber oder unter das normale Niveau und des Ueberg-angs der WeWe abnormer Blutveränderimg von der Hebung zur Senkung und umgekehrt, müssen au die regulierenden Kräfte des Organismus die stärksten Anforderung-eu g-estellt werden, und letztere können in diesen Momenten eventuell nicht im Stande sein, das schwankende Gleichgewicht des Blutlebens wieder herzustellen. Das Heilserum vermag dementsprechend Erscheinungen krankhafter Art einige Zeit nach der Iiijection, nach mehr oder minder langer Latenz seiner Wirkungen, herbei- zuführen. — Aus der gegebenen Erklärimg müsste sich als eine notwendige Consequenz, gleichsam als eine Probe auf das Exempel, eine gewisse Regelmässigkeit in dem zeitlichen Auf- treten der Manifestation der Serumwirkung ergeben. Selbst- verständlich ist die im Augenblick vorliegende Summe von Beobachtungen zu klein, um aus derselben mit Sicherheit eine Eegel ableiten zu können. Denn wie schon die Beobachtimgeu über Incubationsdauer überhaupt lehren, ist dieselbe abhängig von vielen Factoren, besonders dem Zustand, in welchem sieh das Individuum im Moment der Einwirknng der caiisalen Schäd- lichkeit befand. In den bisher beobachteten Fällen von Spät- wirkungen des Heilserums tritt der Ausbruch der Erschei- nungen überwiegend 8, 14 — 15, oder 21 Tage nach der Injectiou ein. — Die Erfahrungen am Krankenbett sind zur Feststellung der Incubationsdauer ungeeignet. Denn da dieWirkimgen des Serums sich mit den der Diphtherie zu (jrunde liegenden Krankheitsprocessen in der mannigfachsten Weise kreuzen müssen und entsprechend modificiert werden, so geben die Beob- achtungen beim Ki-anken kein klares Bild. Geeigneter sind hierzu die Folgen der Seruminjection zum Zweck der Immuni- sierung gesunder Kinder. Wir werden uns daher zur Fest- stellung der Incubationsdauer des Heilserums auf solche Fälle beschränken, welche die Folgen der Seruminjection — i:57 — bei Gesimdeu klar lei>eii. Zu i;leiclier Zeit inuss zur Ver- iiieiduii*»- von Wiederholuug-eu die Fra^e, ob die propliylactisclie Heilseruminjeotioii iiberhaupt nützen kann und ub dieselbe mit Gefahren verbunden ist, erörtert werden. — Sernminj ectionen bei (xesunden sind völli»^ zweck- los. Ihr theoretischer Zweck, dem sie iiire Entdeckung- verdanken, die Paralysierung- des Bacteriengiftes ist ein völlig illusorischer. Denn das causale Agens der Diphtherie ist überhaupt kein Gift, sondern die anormal functionierenden normalen Lebenskräfte. Zudem hat zweitens Behring selbst durch Constatierung der Ueberempftndlicbkeit seiner Tiere trotz maximalen Anti- toxingehaltes ihres Blutes unbewusst den experimentellen Be- weis der Zwecklosigkeit immunisierender Injectionen erbracht, allerdings merkwürdigerweise ohne die Consequenz dieser Be- funde zu ziehen. Wenn Tiere bei maximalem Gehalt ihres Blutes an Antitoxinen empfindlicher gegen Infectionen ge- worden waren als je zuvor, welchen Zweck soll es liaben, der- artige, gegen Bacteriengifte ohnmächtige, die Emplindlichkeit gegen dieselben sogar steigernde „Gegengifte" Menschen prophy- lactisch zu injicieren? Drittens ist es direct unwissenschaftlich, anzunehmen, dass der Organismus vierzehn Tage und länger einen Fremd- körper nicht ausscheidet, denselben gar in seinem Blute un- verändert gegen ein etwaiges Bacteriengift in Reserve hält. — Das Heilserum wirkt, wie nachgewiesen, nur durch Aus- lösung eines physiologischen Processes von anormaler Inten- sität. Mag derselbe den diphtheritischen Krankheitsprocess günstig beeinflussen oder nicht, welchen Vorteil kann es brin- gen, künstlich das Gleichgewicht des Blutlebens eines Gesunden zu stören? Aber nicht nur zwecklos ist die prophylactische Injection, sondern durch Alteration des Blutlebens direct gefährlich. Denn nach dem Gesetz des periodischen Ablaufs der Gleich- gewichtsstörung des Blutes kann später noch nach Umschlag der Blutveräuderung in ihr Gegenteil eine Periode kommen, in welcher (lie im Blute stattfindenden Vorgänge mit den der — 138 — Diphtherie zu Grunde lieg-endeii Processen in derselben Ricli- tuuo- sich beweg-en. Die prophylactisclie Injection könnte leicht, statt zu immunisieren, die Empfindliclikeit gegenüber einer Diphtherie auslösenden Scliädliclikeit erliölienund auch etwaige Erkrankungen in ilirer Intensität steigern. Statistisch lässt sich diese Gefahi- ebensowenig wie ein etwaiger Nutzen der immunisierenden Seruminjection be- weisen, da niemand wissen kann, ob vom Scliicksal die Zahl der jälirliclien oder aucli melirjährigen Erkrankungs fälle und unter diesen die Zahl der schweren Erkrankungen ein für allemal praedestiniert ist. ]\Iau kann sogar annelimen, dass dies nicht der Fall ist. Wenn nach dem Urteil eines so er- fahreneu Kinderarztes wie He noch die Diphtlierie in den letzten Decennien zugenommen liat, und an die Stelle des leichteren Croup durclischnittlich die schwerere Diphtlierie getreten ist, warum soll das Verhältnis sich nicht auch einmal wieder in entgegengesetzter, günstiger Weise gestalten? Mit fortschreitender Markthygiene und hygieinisclier Controlle der Urspi'ungsstätten der Nahrungsmittel muss sogar eine Besserung erwartet werden. — Eine zweite gefälirliclie Folge aber lässt sich mit Gründen beweisen : die dir ecte Erzeugung von Diphtherie durch Diphtherieseruminjectionen. Dieser Beweis ist natürlich kein mathematischer, sondern ein auf Wahrscheinlichkeit beruhen- der. So lange über die Ursachen der Diphtlierie nichts bekannt ist, bleibt es unmöglich, Jemanden zu widerlegen, der alle inner- halb der nächsten Wochen nach Seruminjection eintretenden Fälle von Diphtherie -auf eine neue Infection zurückführt. Unter der Voraussetzung, dass Dipliiherie ein örtlich im Halse beginnendes, nur von dort aus den Körper in Mitleidenschaft ziehendes Leiden ist, bleibt übei-liaupt keine andere Möglicli- keit, als eine Diphtherieinfection anzunehmen. Nach dieser Auffassung müssen die gleich zu erwähnenden Vorkommnisse, wie die Verbreitung einer p]pidemie überhaupt, Spiel des Zu- falls bleiben. Wer sich aber der Forderung des metliodischen Ge- Sichtspunktes der Biologie unterwirft, dasS;. solange nicht in — 139 ~ unanfeclitbarei' Weise das Gegenteil bewiesen ist, alles, was innerliall) des Org-anlsnms gefunden wird, als Teil oder Pro- duct des Organismus betrachtet werden soll, und wer infolge- dessen Diplitheriebacterien als Teile, das Diplitlieriegift als ein Secret des Organismus betrachtet, — der wird, wie in allem Zufälligen überhaupt, auch hier das Gesetz suchen. Dass das Heilserum gradezu Diphtherie herb eizuf Uhren im Stande ist, geht mit Wahrscheinlichkeit aus folgenden That- sacheu hervor: Pullmann injicierte Heilserum zwecks Immunisierung drei gesunden Geschwistern eines Diphtlieriekranken. Dieselben blieben gesund bis sie gleichzeitig am 8. Tage nach der In- jection an Diphtherie erkrankten. — Derselbe Arzt injicierte prophylactisch in einem anderen Falle zwei Geschwister eines Diphtheriepatienten. Beide erkrankten gleichzeitig am 12. Tage nach der Injectiou schwer an Diphtherie. — (Deutsche Medi- cinalzeitung 1894, December). Hilbert behandelte prophylactisch 10 Kinder mit Heilserum. Es erkrankten am Abend des nächsten Tages 2 Kinder. Dieselben bleiben ausser Betracht. — Zwei andere aber, ein neunjähriger Knabe und ein vierjähriges Mädchen, erkrankten gleichzeitig 14 Tage nach der Heilserumiujection. (Berlin. Klin. Wochen- schrift 94. p. 1085). Gekünstelt AVäre es, diese gleichzeitigen Erkrankungen zufälliger Diphtherieinfection zuzuschreiben. Dies ist sehr unwahrscheinlich. In einer Familie erkranken in der Regel entweder alle zu gleicher Zeit oder kurz hintereinander an Diphtherie, selten aber tritt nach der Erkrankung eines ein- zelnen Familiengliedes eine längere Pause ein^ nach welcher gleichzeitig mehrere von der Krankheit befallen werden. Wahrscheinlicher ist, dass deswegen gleichzeitig mehrere Glie- der der Familie erkrankten, weil gleichzeitig dieselbe Schäd- lichkeit, die Sernminjection, eingewirkt hatte. An W^ahrscheinlichkeit gewinnt diese Annahme dadurch, dass auch in anderen Fällen nach annähernd gleichem Zeit- raum nach prophylactisclier Injectiou sich die Wirkung der- — 140 — selben mauifestiert : die Diphtherie. So erkrankten von 18 Kindern, welclie von Hilbert mit :50facher Antitoxinlösnnji- iujiciert waren, eins zwölf Tag-e, eins drei Wochen später. Es sei noch erwähnt, dass bei Anwendun«- GOfacher Lösung- Hilbert von 28 Kindern keins an Diphtherie erkranken sab. — Ein elfjähriges gesundes Mädchen erhielt von PuUniann eine pro- phylactische Heilseruniinjection. 8 Tage später Beginn der Er- krankung. 10 Tage nacli der Injection befand sich das Mäd- chen bedenklicli an Diphtherie erkrankt mit einer Temperatur von 40'^ und kleinem unregelmässigem Puls von 146 in der Minute und benommenem Seusorium. Am folgenden Tage trat ohne Serumbehandhmg völliges Wohlbefinden ein, welches die nächsten vier Tage andauerte, bis am 15. Tage nach der Injection die Erscheinungen, welche am 8. Tage nach der Injection ausge- brochen waren, sich genau, nur in kürzerer aber auch schlimme- rer Weise, wiederholten. Bei Diphtheriereconvalescenten und bei Kindern, welche nur leicht erkrankt zu sein schienen, treten etwaige Folgen der Seruminjection ebenfalls nach dem gleichen Zeitraum auf wie in den bisher angeführten Fällen. Nur sind dieselben anderer Natur. — Mendel injicierte einem schon fieberfreien Knaben Diphtlierieserum. Acht Tage später ti-at ein haemor- rhagisches Exanthem und scliwere Störung des Allgemeinbe- findens auf. (Berlin. Kl. Wochenschr. 94, p. 1089.) In dem Falle Asch wurde auf Drängen des Vaters eine zweite Serum- injection gemacht, die der Arzt wegen der angeblichen Unge- fährlichkeit des Mittels für gleichgültig hielt. 15 Tage später erkrankte das Kind an einem Exanthem und (xelenkschwel- lungen schwerer als vor 15 Tagen an Diphtherie. — (Berlin. Kl. Wochenschr. 1894. Nro. 51). Auch das Tetanuslieilserum scheint dieselbe Incubations- zeit zu besitzen. Buschke, Assistenzarzt an der chirurgischen Klinik in (xreifswald, war zweifelhaft, ob er sich durch Stich mit der Nadel der Injectionsspritze eine Tetanusiufection zu- gezogen habe. Nach Incision des Stichkanals und gründlicher ])esinfection dni-ch Buschke selbst und später nochmals durch ♦ Professor Helfericli traten denn aucli in deu iiächsteu Tag-eu keinerlei Gesnudheitsstörungen ein. Trotzdem Aviirde drei Tage nach der Verletzung das mittlerweile von Behring übeisandte Tetanusserum injiciert. s Tage nach der Injection l)racli ein haeniorrhagisclies Exantliem hei schwerer Störung des AUgeniein- heündens aus. (Deutsche niedicin. Wochenschrift 1893, 8. 1329.) Soweit also die bisherigen Beobachtungen einen Schluss gestatten, treten die Wirkungen der Seriiminjection häufig noch nach längerer Zeit ein. Dieselben haben ein Incubationssta- dium, dessen Dauer wahrscheinlich annähernd 8, 14 oder 21 Tage dauert. Bei gesunden Kindern werden zwecks Immuni- sierung Injectionen nur zur Zeit einer Diphtherieepidemie vor- genommen. Die etwaigen Wirkungen derselben bei gesunden Kindern sind zu solchen Zeiten gradezu l^rzeugung von Diph- therie. Dies geht daraus hervor, dass gleichzeitig injicierte Geschwister gleichzeitig erkrankten und zwar nach einer In- cubatiousdaner, welche sich auch bei anderen Einzelfällen nach Seruminjection wiederholt. Betreifs Anwendung des Heilmittels würde sich hieraus die Regel ergeben, dass prophylactische Seruminj ectionen zur Zeit einer herrschenden Diph- therieepidemie bei gesunden Kindern nicht angezeigt sind. — Völlig gesunde Kinder vermögen eine durch Seruminjec- tion bewirkte Störung zu compensieren. Leider kann niemand einem Kinde ansehen, ob das Gleichgewicht seines Blutlebeus nicht in geringer symptomloser ^^'eise gestört ist. Die Annahme, dass zur Zeit einer Diphtherieepidemie die tägliche Wellen- bewegung der Blutveränderung in abnorm steilen und hohen Kurven verläuft, ist nicht schlechthin von der Hand zu weisen. Mit ziemlicher Siclierlieit aber müssen derartige, nahe an's krankhafte sti'eifende Blutveränderungeu für die Uebergangs- Jalireszeiten vom Herbst zum AVinter und vom AVinter zum Frühjahr angenommen werden. Fanden doch Schmidt und Hammersten, dass das Blut sogar eines so widerstandsfähigen Tieres, wie des Pferdes, zu gewissen Zeiten völlig abweichend von der Norm ist. — Die regelmässig erhöhte Zahl der Er- kraiikimg-en und 'rodesfillle wälirend der Uebergaiigs- Jahres- zeiten lässt auch heim Menschen auf eine regelmässige, leicht zu Störungen führende Aenderung der Lehensprocesse seines Blutes scliliessen. Wenn Diphtherieseruminjectionen g-esunden Kindern im Frühling, Sommer und Herbst unscliädlicli sind, so ist noch keineswegs die gleiche Harmlosigkeit des Mittels für die Uebergangsjahreszeiten zum und vom Winter sichergestellt. Das Diplitherieserum könnte vielleicht ein g-efälirliches und zugleicli ungefährliches Mittel sein, je nach der Jahreszeit. Aeussern sich die A\'irkungen der prophylactischen Heil- der uminjection während einer Diphtherieepidemie bei Kindern vorwiegend als Diphtherie und zwar nach Ablauf eines be- stimmten Incubationsstadiums, so besteht die Art der Wirkung bei Diphlheriereconvalescenten und Erwachsenen in einer schweren Störung des Allgemeinbefindens, Muskelschmerzen, Gelenkschwellungen und Ausbruch von Exanthemen verschie- denster Art bei subnormaler oder fieberhafter Temperatur. Buschke vergleicht die Störung des Allgemeinbefindens mit dem Gefühl bei einem schweren Influeuzaanfall. Die haemor- rhagischen Exantheme, Urticaria mit purpuraartigen Haut- blutungen beginnen in der Regel von der Injectionsstelle aus. Bei Buschke war die Temperatur am 8. Tage nach der In- jectiou bei der Eruption eines haemorrhagisclien Exanthems erhöht. Abends 7 Uhr 88,2, um 8 Uhr 39,5. Den 9. und 10. Tag war bei schwerem Krankheitsgefühle und quälenden Muskelschmerzeu die Temperatur subuormal: Am 9. Tage morgens 36,2, mittags 37,5, abends 36,8. x\m 10. Tage morgens 36,8, mittags 36,5, abends 37,0. — In dem Mendel'schen Fall trat nach Injection, nachdem der Diphtheriereconvalesceut das Bett bereits verlassen hatte, ein haemorrhagisches Exanthem mit einer handtellergrossen Hautblutung an der Injectionsstelle und schmerzhafte Anschwellung der Fussgelenke ein bei einer subnormalen Temperatur von 36,8. Dabei war das Allgemein- befinden ein bedeutend gestörtes. — In einem zweiten Falle leichter Diphtherie erlebte Mendel schon 48 Stunden nach der Injection profuses Nasenblut , „welches den ohnehin schwäch- lu'lieii Knaben aufs äusserste reducierte". — Mo i / ard (Paris) beobachtete bei 231 mit Serum behandelten Kiuderu 83 mal spätei-e Folgen der Injectiou. l-tmal Urticaria, 9inal scarlatina- artiges Exanthem, 9 mal polymorphes Erythem, Imal Purpura. Urticaria sowie das polymorphe Erythem waren in der Regel nicht von Fieber begleitet; indesseu bestanden bei letzterem intensive Allgemeinerscheinungen und heftige Gelenkschmerzen, so dass man zuweilen irrtümlich acuten CTeleukrlieumatismus annehmen konnte. — In dem von Asch bericliteteu Falle trat am 15. Tage eiue sehr heftige Erkrankung auf. Dieses Mal unter hohem Fieber (morgens 39,5, abends 40,3) entstand ein vielgestaltiges F.rythem (keine Purpura) der ganzen Körper- oberfläclie, welches an der Haut des Rumpfes das Bihl einer diffusen scharlacliartigen Röte zeigt. Zudem bestand eine An- schwellung und bedeutende Schmerzhaftigkeit beider Fiissgelenke, sowie schwere Störung des Allgemeinbetindens. Vor Eruption des Erythems war eine erschwerte Reconvalescenz aufgefallen. Es bleibt nun noch die wichtigste Frage, ob das Mittel in seiner Anwendung bei Diphtheriekranken Gr e fahren im Ctc folge haben kann. Die beiden zuletzt erwähnten Beobach- tungen von Mendel und Asch lehren schon, dass gegen Ausgang des diphtheritischen Krankheitsprocesses, im Beginn der Recon- valescenz Seruminjectionen gefährlich werden können. Die physiologische AVirkung des Serums macht diese Gefahren der haemorrhagischen Diathese begreiflich. Wie bei Behring's Tieren mit Beendigung dei' fieberhaften Reaction eine völlige Unikelirung des Blutverhaltens eingetreten war, so muss mit Beginn der Reconvalescenz Diphtlieriekranker das Blutleben derselben teilweise in einer der abgelaufenen Periode entgegen- gesetzten Richtung sich bewegen. In gleicher Tendenz mit dem Organismus wirkt im Beginn der Reconvalescenz das injicierte Serum, Avie aus dessen temperaturerniedrigendem und geriunungliemmendeni Einfluss zu schliessen ist. Entspräche die Dauer des fieberhaften Processes einer Hebung der Welle, die erste Periode der Reconvalescenz einer Senkung, s^ folgte nach einiger Zeit abermals eine Hebung und auf diese Hebung — 144 - wieilenini eine Senkung-. Nacli der Sernminjection würde die W irkung- mit einer Wellensenkuug- l)eginnen, welche nacli 8 — ^10 Tagen übergelit in eine A\'ellenliel)uug etc. Wird nun am Schluss des l)i[)litlierieprocesses oder im Beginn der Kecon- valesceuz eine Seruniinjection gemaclit, so fällt das erste Serum- wirkungsstadiiuu zusammen mit dem zweiten Stadium der Diph- therie. Beide Stadien sind Senkungen der Welle. Der Dipli- theriei)rocess Avürde daher in ahnornier ^\'eise verstärkt werden, so dass schon in der ablaufenden Pei-iode der Bhitveränderung oder beim Bückschlag dei- Welle patliohjgisclie Erscheinungen mit verschiedenem Temperaturverhalteu auftreten können. Ent- sprechend findet man bei der im Laufe der ersten 8 Tage nach der Sernminjection eintretenden Nachwirkung Neigung zu sub- uormaler Temperatur (Buschke, Mendel); in der zweiten Periode bis zum 15. Tage Erscheinungen mit fieberhafter Temperatur- steigerung (Fall Asch und Pullmann); in der dritten Periode bis zum 21. Tage abermals subuormale Temperatur. Für letz- teres Ereignis kann nur ein Fall angeführt werden. Eine zweite Regel betreffs Sernmanwendnug muss daher vorschreiben: Niemals im Beginn der Beconvalescenz, ferner nie bei Besserung des Allgemeinbefindens, gleichgültig ob Fieber vorhanden ist oder nicht, Seruminjectionen vorzunehmen. Dass bei Fällen septischer Diphtherie mit Neigung zn Blutungen und subnormaler oder normaler Temperatur das Mittel contraindiciert ist, ist selbstverständlich. Von mehreren Beobachtern wird behauptet, dass das Pferdeserum häuflig Alljuminurie erzeugt. Hanse mann sah einen tödtlich verlaufenden Fall von acuter Nephritis nach Sernminjection. Es handelte sich um ein Kind, welches sich bemerkenswerter Weise wiederum in voller Beconvalescenz be- fand. Es erhielt wegen einer fraglich diphtheritischen Con- junctivitis nach Ablauf einer ohne Serum geheilten Bachen- diphtherie Injectionen am 1.. 3., 5. Tage. Am 6. Tage exitus letalis. Der Urin war am Tage dei- ersten Injection frei von Albumin. Bei der Section fanden sich die Nieren bedeutend — 145 — pathologiscli verändert. Nack Hansemanii ist auch Körte die häutige Coniplication mit schwerer Albuminurie nach Serum- iujection aufgefaUen. (Ikrlin. Klin. Wochenschrift. 1894. p. 1042.) — Eitter (Berlin. Kl W. S. 94), der unter 26 Fällen 8 mal schwere Albuminurie erlebte, suchte experimentell die Frage, ob das Serum Albuminurie herbeiführen könne, zu ent- scheiden. Er ei zeugte bei Kaninchen experimentell Albuminurie, liess dieselbe zur Heilung gelangen und machte dann die In- jection. Die Albuminurie trat wieder ein, bei gesunden Kauincheu jedoch nicht. — Beim Menschen scheint, falls nicht schon Albuminurie vorhanden ist, das Serum keine Laesion der Nieren zu verursachen, denn in all' den erwähnten Fälleu von Folgeerscheinungen der Injection wird Albumiuurie nicht er- wähnt. Jedoch auf Grund des Hansemann'schen Falles, der experimentellen Ergebnisse Eitters, der Erfahrung verschiedener objectiver Beobachter, würde eine directe Coutraindication der Anwendung des Pferdeserum bestehende Albuminurie sein; zumal theoretisch Nierenlaesionen geradezu erwartet werden mussten. Denn das Pferdeblut ist ein heterogenes Blut, welches zum Zerfall der Bluteleraente des Menschen führt. Diese Zer- fallsproducte werden zum Teil durch die Nieren eliminiert, ein Vorgang, der, wie die Folgen der Transfusion heterogenen Blutes lehren, nicht immer ohne Schädigung der Nieren von statten geht. — Zweifellos durch das heterogene Serum bedingte un- günstige Complicationen sind Herzschwäche, Lähmung und Tod durch Herzlähmung. Alle temperaturerniedrigenden und ge- rinnunghemmenden Momente beeinflussen die Herzthätigkeit in ungünstiger Weise. Zuweilen folgt nach ihrer Einwirkung auf ein Stadium der Pulsverlangsamung ein Stadium mit fi'e- quentem kleinem, kaum fühlbarem Puls, wie z. B. bei der Cholera. Auch bei der Cholera ist Pulsverlangsamung beobachtet. Im Sommer 1893 hatte ich Gelegenheit, bei einem Patienten von kräftiger Constitution, der an Cholera nostras mit Eeiswasser- stühlen, Wadenkrämpfen und 24 stündiger Auurie erkrankt war, eine auffallende Verlangsamung des Pulses bis zu 50 Schlägen 10 — 146 — zu beobacliten. Tu der mir ziigängTiclieu Literatur fand ich nur, dass 1892 bei der Stettiuer Epidemie von Cliolera asiatica die gleiche Beohachtimg gemacht wurde. Das andere Extrem, Beschleunigung des Pulses bis zur Unfiihlbarkeit, ist bei Cholera das gewöhnliche. Wodurch wird diese Herabsetzung der Herz- thätigkeit bei (Uiolera bewirkt? Durch ein Choleragift, nimmt man an. Diese ErkLärung ist unbrauchbar, weil mau das Choleragift nicht kennt, und eine physiologische Erklärung hiermit auch nicht erreicht wäre. Es muss also ohne die Zu- hülfenahme eines erdachten Clioleragiftes die Ursache des Dar- niederliegeus der Herzfunction gesucht werden. — Im Cholera- blut sind, durch Zerfall der roten Blutkörper bedingt, Gallen- säuren nachgewiesen. Von diesen ist bekannt, dass sie in geringen Dosen die Herzthätigkeit verlangsamen, in grossen lähmen. — Ein Zusatz von Gallensalzen verringert die Ge- rinnbarkeit des Blutes sogar noch ausserhalb des Körpers bedeutend. Gerinnungsliemmung, Temperaturerniedriguug, Herz- schwäche finden sich immer gemeinsam bei Cholera. Es liegt nahe, dieselben auf einen gemeinsamen ursächlichen Factor zu beziehen. Dieser Factor ist nun nicht etwa die Galleusäure, so dass nun Cholera als Gallensäurevergiftung aufgefasst werden müsste, sondern dieser gemeinsame Factor ist der Zerfall der Blutkörper. Die Art und Weise, auf welche dieser Zerfall der Blutkörper die Trias der Sj'mptome herbeiführt, auseinander- zusetzen, würde zu weitläufig sein. — Es genügt für unsere Zwecke, die Thatsaclie zu constatieren und daran zu erinnern, dass Pferdeblutseruui als heterogenes Blut ebenfalls nur durch Zerfall der Blutkörper wirkt. Da nun als Wirkungen des Serum Temperatiirverminderung und Herabsetzung der Blut- gerinnung, wie die haemorrhagische Diathese lehrt, festgestellt ist, und die Ursache dieser Symptome in Alteration des Blutes gefunden ist, so muss auch das dritte bei Cholera ausgeprägte Symptom des Blutzerfalls, Herzschwächung, nach Seruminjection ebenfalls erwartet werden. Nach Seruminjection sind sowohl abnorme Pulsverlangsamung wie Beschleunigung beobachtet worden. — Der Ring des Beweises ist hiermit geschlossen und — 147 — stärkt aiicli rückwärts wieder die Riclitigkeit der hypothetischen Ursache der Serumwirkuug-. Zum Schliiss miiss noch der Versuch g-emacht werden, die durch das Serum bedingten Lähmungen, besonders die Herzlälimung', dem Verständnis näher zu bringen. Denn an der Thatsache der Zunahme von Lähmung- nach Serumbe- handluug ist nicht zu zweifeln. Aus Körte's Statistik ergiebt sicli, dass von den 40 trotz Sernmbehandlung- gestorbenen Kindern 19, also die Hälfte, an Herzlähmung zu Grunde ge- gangen sind. Ausserdem erwähnt Körte 17 mal Eintritt von Lähmung bei Lebenden als Complication. Auch anderen Beob- achtern, wie Baginsky, ist eine Zunahme von Herzlähmung- aufgefallen. Selbst nach prophylactischer Injection des Serum ist einmal, ohne dass voraufgegangene Diphtherie beobachtet wurde, Gaumenlähmung eing-etreten. Unter den zwecks Im- munisierung von Hilbert injicierten Kindern erkrankte eins am dritten Tage fieberhaft, ,.eine HalsalFection konnte jedoch nicht constatiert werden. Drei Wochen darauf trat Gaumensegel- lähmung auf." Hilbert legte sich die Frage vor, ob nicht vielleicht eine Diphtherieerkrankung schon vor der Behandlung bestanden habe. Jedoch wurde von der Mutter des Kindes mit Bestimmtheit erklärt, dass das Kind völlig gesund gewesen sei. Man wird natürlich sagen können, die Diphtherie sei bei dem Kinde doch vorhanden gewesen, aber nicht bemerkt worden. Bevor man seine Zuflucht nimmt zu einer blossen Möglichkeit, welche der Beobachtung der Mutter und des Arztes zudem noch widerspricht, muss untersucht werden, ob die Serumwirkung nicht eventuell für sich allein Lähmung herbeifiihren kann. Nach meiner — allerdings nicht sehr ausgedehnten — Erfahrung zeichnen sich die Kranken, welche späterhin Lähmung erleiden, durch eine auffallende Verzögerung der Reconvalescenz, be- sonders eine hartnäckige Anämie aus. Das Gleiche kann, wie Asch mitteilte, auch nach Injection von Serum der Fall sein. Ferner verfüge ich zufällig noch über Temperaturtabellen von diphtheriekranken Kindern, welche später zum Teil schwere diphtheritische Lähmung erlitten. Diese Fiebertabellen lehren, — 148 — dass die Kranken bei Eintritt und während der Reconvalescenz subnorniale Temperatur hatten. — Die Tabellen gelten vom letzten Tage des Fiebers an. Ein Mädchen von 9 Jahren erkrankte einen Tag, nachdem der 11jährige Bruder nach nur 20stündiger septischer Diphtherie ge- storben war, ebenfalls schwer an Diphtherie des Rachens und der Nase. Nach 4 — 5 Wochen totale Gannienlähniung mit Unfähigkeit des Schluckens, Kehlkupflähmung mit Verlust der Fähigkeit zu husten. Accomodationsläiimung. Frequent irregulärer Puls. Ataxie, Avelche zeitweilig das Gehen unmöglich machte. Temperatur: 1. Tag 37 morgens 38,0 abends 2. 37,3 „ 37,G „ •1. „ 30,5 „ 36,8 4. „ H6,6 „ 36,7 „ T). „ 36,8 „ 36,8 „ 6. „ 36,2 „ 36,4 7. „ 36,0 „ 36,3 5) IT. Schwester der vorigen Patientin. 7 Jahre alt, gleichzeitig mit I. erkrankt, mit den gleichen späteren Lähniungserscheinungen ausser der Ataxie. 1. Tag 36,6 morgens 38,4 abends 2. „ 36,0 „ 36,2 3. „ 36,6 „ 37,0 4. „ 36,5 „ 36,8 5. „ 36,6 „ 36,5 6. „ 36,0 „ 37,0 »1 11 III. Schwester der vorigen. 6 Jahre alt, erkrankte 4 Tage später als die Geschwister. Verlauf der Diphtherie leichter, ebenso die späteren Lähmungen. 1. Tag — morgens 38,5 abends " 11 37,8 ,, „ 37 „ 36,7 „ 4. „ 36,1 „ 36,0 „ 5- . o6,3 „ 36,0 „ W. Gay t hon (London) berichtete über einen der seltenen J'älle von Lähmung nach Diplitherie der weiblichen Genitalien. Es handelte sich um ein kräftiges Mädchen. Dasselbe hatte nach 14tägiger Erkrankung eine Temperatur von 36,5. Nach weiteren 2—3 Wochen stellte sich zunehmende Lähmuno- des — 149 — Gaumens, des Kehlkopfes, der Accomodatiou eiu. Das Kind gino; zu Gnmde. (Allg. med. Ceutral-Ztg. 1893, p. 1217). Da also später durch Lälimuug complicierte Diphtlierie- fälle in die Reconvalescenz eintreten mit einer ausgesproclienen Neigung- zu subnormalen Temperaturen, so ist es nicht unAvahr- scheinlicli, dass das Serum durch Verstärkung der in der Reconvalescenz immer vorhandenen Tendenz zu abnormem Temperaturabfall, auch die übrigen Conse(iuenzen herbeizuführen vermag, dass das Heilserum in Fällen, welche sonst wahr- scheinlich ohne Lähmung geendet hätten, geradezu Lähmungen herbeiführt. — Behring behauptet auf (^rund ausgedehnter Ei-fahrungen, dass Seruminjectionen, zumal bei Gesunden, un- gefährlich sind. An der Richtigkeit dieser Beobachtung ohne Gründe zu zweifeln, wäre ungehörig. Aber selbst die auf aus- gedehnte Erfahrung gegründete Behauptung Behring's kann ein anderes Mal für andere Orte zu bestimmten Jahreszeiten völlig unriclitig sein. Denn wie schon ausgeführt ist, kann das Serum zugleich ein gefahrloses wie gefährliches Mittel sein. Das Auftreten von gleichzeitiger Diphtherieerkrankung mehrerer Geschwister nach gleichzeitiger prophylactischer Seruminjection, ferner das Auftreten dieser Diphtherieerkran- kungeu nach einer auch in anderen gleichen Fällen vorkommen- den entsprechenden Incubationsdauer machen es — ohne dass hierdurch die Richtigkeit entgegengesetzter Erfahrung auge- fochten wird — doch gradezu wahrscheinlich, dass das Heilserum allein schon Diphtherie erzeugen kann. — Wie der Satz von der Gefahrlosigkeit des Serums unrichtig ist durch eine Gene- ralisiei'ung, so ist auch die Fähigkeit des Serums Diphtheiie auszulösen an eine Bedingung gebunden, an die Bedingung einer vorhandenen allgemeinen Disposition der Kinder zur Er- krankung au Diphtherie. Es ist durchaus nicht notwendig, dass jeder Diphtheriefall auf eine allgemeine Disposition hin- weist, dies ist vielmehr direct falsch. Es wäre sonst unbe- greiflich, weshalb es zuweilen bei einigen p]rkrankuugen bleibt, das andere Mal wieder hundert Kinder erkranken. — Es wäre ferner gradezu ungereimt, bei nahezu sämtlichen Teilnehmern — 150 — eiuer Festgesell scliaft, welclie post festum fast alle an schwerer Diphtherie erkrankten, — ein kürzlich in einem Ber- liner Hotel vorgekommener Fall — eine Disposition znr Diph- therie vorausznsetzen, während die übrige Bevölkerung nicht disponiert ist. Solche Vorkommnisse beweisen, dass es zu einer Diplitherieepidemie kommen kann, sowohl auf Grund einer vor- handenen allgemeinen Disposition, als auch ohne Disposition durch ein auslösendes Moment von so intensiver schädigender Kraft, dass selbst der gesunde Organismus die gesetzte Störung des Gleicligewichtes niclit wieder herzustellen vermag. Bei eiuer Epidemie letzterer Art kann nur erkranken, wer der gemeinsamen Schädlichkeit ausgesetzt ge\Yesen ist. Hier wird deshalb die prophylactisclie Sernminjection entsprechend den Erfahrungen Behring's unschädlich sein. Bei einer Epidemie liingegen, welclie auf einer vorhandenen verbreiteten Disposition beruht, wird leicht eine prophylactisclie Sernminjection gradezu Diphtherie herbeizuführen im Stande sein. — Versuchen wir auf Grund des auf- und abwogenden Characters aller Blut- störungen und auf Grund der den beiden Autoren Schmidt und Hammarsten aufgefallenen und nebensächlich bemerkten be- deutenden Abweichungen des Pferdeblutes von der Norm zu gewissen Jahreszeiten, in die bisherige Dunkelheit, welche mit dem Begritte Disposition verbunden ist, einzudringen, — so besteht hypothetisch die Disposition in einer Bewegung der beiden Factoren des Blutlebens in abnorm steilen, bis au's Krankhafte grenzenden Kurven. Bei diesem Character der Disposition genügt daher ein sonst unschädlicher Einfiuss, um jetzt den diphtlieritischen Krankheitsprocess mit sämtlichen Consequenzen, also auch Lähmungen, auszulösen. Dass diph- theritische Lähmungen immer nur nach voraufgegangener, wenn auch noch so geringfügiger Veränderung der Rachen- organe auftreten, ist durch Beobachtung nicht immer fest- zustellen. In der Regel schliesst man aus dem Vorhandensein der Lähmung auf vorangegangene Diphtherie des Halses. Dieser Scliluss ist nicht lichtig, weil auch nach Diphtherie der weiblichen Genitalien Gaumenlähinung vorkommt; auch — 151 — ist nicht eiuzuselieii , weslialb durch Secretioiisorgaue wie es Tonsillen nud Pliarynxsclileimhaut ja sind, nicht ver- änderte normale Secrete untei- Schädig-img- (Lähmung-) der betreffenden Organe ausgeschieden werden sollten, wenn dasselbe durch die Nieren oft unter bedeutenden pathologischen Ver- änderungen dieses Organs bei gleichzeitiger Ausbildung- der Läh- mung- geschieht. — Von den vei'schiedenen parallel verlaufen- den hervorragenden Symptomen einer Krankheit kann das eine oder andere fehlen; der Grundprocess ist deshalb doch immer annähernd der gleiche. — So kann auch nach Seruminjection oline Pharynxveränderung späterhin Lähnumg herbeigeführt werden. — In dem Falle Hilbert ging der Lähmung zudem am dritten Tage nach der Injection eine deutliche Störung unter Fieber, aber ohne irgend welche Veränderung der Rachen- schleimhaut voraus. — Es liegt demnach kein zwingender Grund vor, bei diesem Falle im Gegensatz zu der ausdrücklichen Aus- sage der Mutter und den Beobachtungen des behandelnden Arztes, die Lähmung des Gaumensegels bei dem prophylactisch mit Serum behandelten Kinde auf eine vor der Injection oder nach derselben aufgetretene Rachendiphtherie zu beziehen. Lassen sich nun die Gefahren der postdiphtheritischeu Lähmungen vermeiden? Wann ist die Injection von Serum contraindiciert? Bei welchen Kranken? Durch welche Sym- ptome wird die Gefahr späterer Lähnnmgen signalisiert? Dass ein fieberloser Zustand eine Gegenanzeige gegen das Mittel bildet, ist einleuchtend. Deshalb ist der Gebrauch des Serum bei Reconvalescenten und Gesunden zu vermeiden. Auch bei Diphtlieriekranken, deren Geschwister kurz vorher an Diph- therie mit folgender Gaumenlähmung erkrankt waren, ist Serum- injection contraindiciert, denn unter solchen Umständen zeigt erfahrungsgeraäss bei allen später Erkrankten der Krankheits- process ebenfalls Neigung zum Ausgang in Lähmung. Hiermit ist aber auch alles gesagt, was sich über etwaige Contraindicationen sagen lässt. In sämtlichen ausser den an- geführten Fällen, also in allen Fällen beginnender Diphtherie ist der Arzt ohne Führer und Wegweiser; niemand vermag — 152 — den scliliesslicheu Ausgang einer Diplitlieiieerkrankuug, sicher- lich nicht den Ausgang in Lähmung, zu prognosti eieren; für unser Verständnis ist hier noch der Zufall unumschränkter Herrscher. Der einzige prognostisclie Hinweis auf später ein- tretende Lähmung würde — falls ein grösseres Material Be- stätigung brächte — die im Vorhergehenden iiervorgehoheue Temperaturerniedrigii ng unter die Norm im Beginne der Recon- valescenz sein. Aber dies Symptom kommt zu spät zur Ent- scheidung des Für und AVider der Serumanwendung. Bei der völligen Ungewisslieit der Folgen einer Seruminjection, bei dem Mangel schärfer präcisierter Lidicatiou und Oontraindi- catiou, bei der Möglichkeit unberechenbarer, unabwendbarer, späterer übler Folgen — kann das Verhalten des praktischen Arztes dem Heilserum gegenüber nur ein ablehnendes sein. Vor- läufig ist von der Anwendung des Diphtherieblut- serums überhaupt Abstand zu nehmen. Ja, die Anwen- dung des Serums steht vorläufig noch in Widerspruch mit der liöchsten ärztlichen Pflicht, welche an Wichtigkeit noch über der Aufgabe des ärztlichen Berufes, dem Heilen steht, — der Pflicht nicht zu schaden. Dieses Verbot der Seruminjection kann selbst eine günstige Statistik nicht aufheben, so lange nicht im einzelnen Falle die erwähnten Gefahren vermieden werden können. — Denn für den Arzt ist solange jede Sta- tistik wertlos, als er nicht die Ueberzeugung gewonnen hat, dass das Mittel im einzelnen Fall nicht gefährlich werden kann, oder, wenn dies unmöglich ist, dass wenigstens mit dem Ein- tritt der Gefahr bei Zeiten gerechnet und derselben vor- gebeugt werden kann. Denn der Arzt hat es doch nicht mit einer Menschenlierde zu thun. Es ist nicht seine Aufgabe von dieser möglichst viele Exemplare zu retten, möglichst günstige Resultate zu erlangen, selbst wenn dieses Resultat eventuell mit dem unvorhergesehenen, durch das Mittel bedingten Tode einiger, oder auch nur eines einzigen Exemplars erlaugt werden muss. Der Arzt steht in seiner Thätigkeit immer nur der einzelnen menschlichen Persönlichkeit gegenüber. Allein dieses einen Menschen Wohl hat er zu berücksichtigen. Er — 153 — muss deshalb von jedem Mittel wissen, welche Gefahren dasselbe im einzelnen Falle bedingt, nud ob dieselben derartige sind, dass ihr Ausgleich in seiner Macht steht. Niemals kann auf Grund eines Durclischnitts-Erfolges allein, sei er auch noch so eclatant, ein Mittel in Gebrauch genommen werden, wenn nicht zuvor die erste Bedingung der Unschädlichkeit im einzelnen Falle festgestellt ist. — Chloroform kann allerdings ebenfalls in jäher, unberechen- barer Weise den Tod bedingen und ist trotzdem in täglichem Gebrauch. Aber für den Ausgang einer Chloroformnarkose, vorausgesetzt, dass sie nach der Regel der Wissenschaft aus- geführt worden ist, trägt nicht der Arzt, sondern der Patient die Verantwortung, Dieser hat die Wahl, sich ohne Narkose oder mit Anwendung von Chloroform operieren zu lassen. Es ist sogar ge- setzlich unstatthaft. Jemanden zu narkotisieren, ohne dass der Betretfende oder sein Vormund die Zustimmung gegeben hat. Bei der Behandlung mit Arzneimitteln wird niemals die Entscheidung dem Krauken anheim gegeben, denn dies müsste wegen der Erregung des Kranken wieder der Pfliclit des nicht Schadens zuwiderlaufen. Der Arzt alleinträgt hier in jedem einzelnen Falle die Verantwortung. — Wenn auch das Heilserum als eine aus vermeintlich end- gültiger Wahrheit deducierte Heilmethode gewiss nichts Neues ist, — neu ist jedenfalls die therapeutische Verwertung der Wirkungen eines Mittels wie Blutserum. Während die übrigen Mittel des Arzneischatzes eine genau bekannte, von bestimmten Oi'ganen ausgehende W^irkung besitzen, so dass man bei ihrer Anwendung annähernd weiss, welche Erscheinungen die Folge sein werden, veranlasst das Serum keine Thätigkeit einzelner Organe, sondern eine Störung des Gleichgewichts der Function des Gesamtorgauismus, besonders des ICxtractes des gesamten Organismus, des Blutes. Diese Gleichgewichtsstörung wird in der Regel vom Oi'ganismns in kurzer Zeit wieder ausgeglichen, der Grund, WTshalb das Mittel für Gesunde angeblich wirkungs- los sein soll. Vermag sich der Organismus aber nicht wieder ins Gleichgewicht zu setzen, so ist die Folge nicht: genau auf - 154 bestimmte Orgaue localisierte Ersclieiiiungeu, sondern die Folge ist Krankheit, Krankwerden unter den mauuigfaltigsten Er- scheinungen. Ob das Mittel nützen kann, ob es den einer Krankheit zu Grunde liegenden Process durch Auslösung eines entgegen- gesetzten Processes aufzuheben vermag, oder, um bei dem Bilde der Wellenbewegung zu bleiben, ob es möglich ist, eine patho- logische Wellenbewegung durch eine künstliche Steigerung oder gar Auslösung einer entgegengesetzt verlaufe)iden Welle zu paralysieren, gleichsam durch eine Art luterferenzerscheiuung zur Ruhe zu bringen, — diese Möglichkeit muss zugegeben werden. In diesem Falle würde eine bestehende Krankheit geheilt durch künstliche Erzeugung einer andern, also wirklich der Teufel durch Beelzebub ausgetrieben. Dass eine derartige Behandlungsweise nicht ungefährlich ist, liegt auf der Hand; ja dieselbe ist nicht nur nicht absolut ungefährlich, wie der Enthusiasmus von ihr rühmt, sondern die Serumtherapie ist wahrscheinlich von den bisherigen Behandlungsweiseu im ein- zelnen Falle die allergefährlichste. — Vorstehende Hypothese über die Art der Wirkung der Serumiujectionen und die Erklärung der beobachteten Gefahren des Mittels ist eben eine Hypothese, macht nur den Anspruch eine Möglichkeit zu sein. Eins ist sicher, dass sie der Wahrheit näher kommen dürfte als die bisherigen Hypothesen mit ihren personificierten Bacteriengiften und Heilkörperu. Vor letzteren hat sie den Vorzug, das monistische Ziel der AVissenschaft nicht aus dem Auge zu verlieren, sie vermehrt die Kräfte und wirkenden Stoffe nicht, erklärt vielmehr sämt- liche pathologischen Erscheinungen des Heilserums als Aeusse- rungen physiologischer, normaler, aber einseitig über die Norm gesteigerter Thätigkeit des Organismus. Das Serum hat nichts Specifisclies, es wirkt nicht im Blut des Empfängers nützlich gegen irgend eine im Körper Avirkende fremde Schädlichkeit, — denn derartiges ist nicht bewiesen, sondern erdichtet — das Serum ist vielmehr eins der vielen Mittel, welche durch Alteration des Blutlebeus die Harmonie desselben stören. Erst 155 — die abnorm g-esteig-erteii gewöliulicliPii physiologischen Vorgäu^e maclien die erwähuteu patliologisclieu Erscheiiuingeu. — Die aufg-estellte Hypothese verringert die Zalil der Kräfte. Das Dogma von Krankheiten als \\'espnheiten mit speciflschen Ur- sachen wird durch sie beseitigt, statt dessen stellt sie nicht als infallible Lehre, sondern als methodischen Gesichtspunkt die Einheit aller Lebenserscheinungen auf. Gesundheit und Krank- heit sind beide zn betrachten als P^iuctionsänsserungeu des Organismus. Wälirend der Krankheit bewirkt nicht etwa ein fremdes irgend Etwas, ein Bacteriengift, die wahruelimbaren Erscheinnngeu, sondern der Organismns selbst mit keinen anderen Kräften als den alltäglich wirkenden. Gestört ist wälirend der Krankheit nnr das harmonische Zusammen- arbeiten aller Teile. — Auf Grund des methodischen Gesichtspunktes, von der Einlieit aller Lebenserscheinungen, w^elcher nie widerlegt werden kann, weil er nicht aus Erfahrungen abgeleitet ist, sondern aus dem Begriff des Organismus entspringt, dalier für jeden, der den gleichen Begriff des Organismus besitzt, gültig ist, — auf Grund dieses methodischen Gesichtspunktes ist die dargelegte Hypothese aufgebaut. Diese selbst ist keineswegs methodisch, sondei'n eine Verarbeitung empirischen Materials, daher auch keineswegs unwiderleglich, im Gegenteil wird dieselbe sicherlich erweitertem empirischen Material nicht entsprechen können, daher falsch sein. Die Basis der gesichelten physiologischen Erkenntnisse fehlt vorläufig noch, weshalb vage Ausdrücke wie „zymoplastische Substanzen" und bildliche Vergleiche wie „Wellenbewegungen" statt wiiklicher Erkenntnisse zu Hülfe genommen w^erden mussten. — Einseitig experimentelle Beschäftigung führt häufig zu einer Ueberschätzuug dieser wissenschaftlichen Thätigkeit. So sagt ein Bacteriologe, dass die tüchtigen Bacteriologen nicht viel theoretisiereu und dass diejenigen, welche viel theoretisieren, wenig zur Lösung der Immunitätsfrage beigetragen haben. Theoretisiereu ist notwendig und ohne dasselbe Wissenschaft unmöglich. Aber ohne Verificierung durch Beobachtung ist — 156 — Theoretisieieu lediglich ein mehr oder weniger geistreiches Spiel, eine Bescliäftiguug mit Ausdenken von Möglichkeiten. — Andererseits ist experimentelle Tliätigkeit allein steril. Vor dem Experiment mnss doch genau bestimmt sein, auf welche Frage mau durch das Experiment eine Antwort von der Natur er- zwingen will. P^inem Veiteidiger voraussetzungsloser Empirie gab Kant folgende feine Erwiderung: „Ich danke für den blos empirischen Reisenden und seine Erzählung. — Gemeinig- lich antwortet er, wenn man Avonacli fragt: Ich hätte das wohl bemerken können, wenn icli gewusst hätte, dass mau danach fragen würde 1*' — Die Ursache der Serumwirkung, deren Auffindung dringend erforderlich ist, lässt sich, wie jede Ursache nur durch Denken, durch luduction linden. Ist die hier gegebene causale Er- klärung — die ei ste causale Erklärung eines Heilmittels über- liaupt — eine irrige, sicherlich kann sie die Blicke der Beob- achtung wenigstens schärfen und Vei-aulassiing zur Entdeckung von sonst vielleicht unbeachtet gebliebenen Tliatsaclien werden. — So unentbehrlich das Tlieoretisieren für die wissenschaft- liche Beobachtung ist, so verwerflich ist dasselbe, wenn es das Handeln am Krankenbette beherrscht. Das ärztliche Handeln soll uiclit auf Hypothesen, sondern auf Thatsacheu gestützt sein. — Der citierte Verächter des Theoretisierens ist in ungewöhnlichem Masse diesem verhängnisvollen Fehler, die Behandhingsweise auf Hypothesen zu gründen, verfallen. — Die Serumbeliaudlung kranker Menschen stützt sich nicht auf Thatsachen, sondern ist eine aus einer Kranklieitsdoctrin deducierte Therapie. Mit der Schar aller der Vergessenheit anheimgefallenen therapeutischen Versuche gleichen Ursprungs teilt dieselbe auch den Charakter der grössten Einfachheit. Aus der Doctrin, aus einer angeblich unumstösslichen, sicheren Einsicht ergiebt sich eine ebenso bestimmte Behandhingsweise. Wird eine solclie gar auf eine vermeintliche Einsicht in das Wesen einer substanziierten Krankheit gegründet, besteht dieselbe in Anwendung eines einzigen specifisclien Mittels gegen das Kranklieitswesen, so ist die Sache von gei-adezu unglaublicher — 157 — Einfachheit. Diplitherie ist immer dieselbe; gegen sie giebt es nur ein einziges Speciflcnin. Aufgabe des Arztes ist, jedem Kranken das erforderliche Specificiim einzuspritzen. Die näheren Bestimmungen über die Art der Application werden bei der Verpackung des Mittels von der Fabrik jedes Mal gedruckt mitgegeben. — Zu Ende ist es mit dem bisherigen Ideal aller Aerzte, der Hippocratischen Behaudlungsweise. Wozu indivi- dualisieren 1 Es giebt ja nur eine Diphtherie und gegen diese nur ein Mittel. Ist dies dem Kranken gegeben, so ist geschehen, was überhaupt geschehen konnte. — Aber vielleicht erfolgt die Heilwirkung des Mittels doch nicht mit der „Sicherheit eines Naturgesetzes"? Jedenfalls stehen die bisherigen Procentsätze der Todesfälle bei Behand- lung mit diesem Speciilcum in merkwürdigem "\^'iderspruch zu der behaupteten Specitität. — Schon nach den bisherigen Er- fahrungen ist das Mittel kein Specificum. Dasselbe kann im günstigsten Falle nur ein öfter vorteilhaft wirkendes sein. So bleiben denn die Aerzte auch glücklich bewahrt vor der Eventualität, gleichsam Handlanger von Actiengesellschaften und Erfindern speciftscher Heilmittel zu werden; es stellt sich die Notwendigkeit des Individualisierens wieder ein. Beob- achtung am Krankenbett muss feststellen, unter welchen Um- ständen das Mittel wirksam, unwirksam oder gar schädlich ist, und hierzu bedarf es irgend eines Gesichtspunktes. — Naturerkenntnis führt zur Naturbeherrschung. Die Medicin steht erst im Beginne wahrer Naturerkenntnis d. h. der causalen Einsicht in den Mechanismus der Krankheitsprocesse. Da Krankheitsprocesse Lebensprocesse sind, so ist aller Fortschritt der Pathologie abhängig von der Kenntnis des causalen Zu- sammenhangs der normalen Lebensvorgäuge. Aus dieser Quelle allein, aus gesicherten Thatsachen und Gresetzen des normalen und krankhaften Lebens kann mit Aussicht auf Erfolg eine Therapie abgeleitet werden. Jede aus einer Kranklieitsdoctrin deducierte Behaudlungsweise muss falsch sein, weil jede Krauk- heitstlieorie irgendwie falsch ist. Es giebt nur eine rationale wissenschaftliche Therapie, die. physiologische. Bis diese er- — 158 — langt ist, verdient die eiiipiristisclie Therapie allein Vertrauen; jede, besonders die aus einer Doctrin eutspi-ung-ene Beliandlungs- weise bedarf zunächst des empirischen Nachweises ihrer Brauchbarkeit. Die doctrinären Voraussetzungen eines Mittels sind für die Therapie völlig wertlos und verführen leider liäufig — wie auch die seit Jahren herrschenden sanguinischen Er- wartungen auf ein aus bacteriulogischen Laboratorien stammen- des Heil beweisen — zur Kritiklosigkeit durcli Voreingenomnien- sein. — Mag das Serum nun die Probe unvoreingenommener Prüfung auf Grund von Erfalirungen bestehen oder niclit, — ein Ver- dienst muss man den serumtlierapeutischen Bestrebungen zuer- kennen, das ist das Verdienst, die Medicin wieder in die Baluien einer phj^siologischen KrankheitsaufTassung gelenkt zu haben, indem sie in den Krankheiten Processe, Vorgänge und niclit lediglich organische Veränderungen oder Zustände erblicken. Leider ist diese Ueberzeugung nie zum bewussten Durclibrucli, zur Herrschaft gelangt. Das entgegenstehende Hindernis eines falschen Krankheitsbegritfes hat die Serumtherapie nicht zu übei' winden vermocht. II. Teil. 8. K a p i t G 1. Die wissenschaftliche Definition des Begriffes der Krankheit. Die bacteriologischeii Entdeck imgen Pastenr's, beson- ders aber Robert Kocli's nnd seiner Scliüler sind mit Recht der Stolz der Medicin nnd ein Trinmph der natiirwissen- scliaftlich-experimentellen Methode. Das Lehrgeb ände des bacteri(dogischen Systems dagegen erinnert in mancher Be- ziehung an die Denkweise der Scholastik. Vor Rückfall in denselben Iri'tnm kann nur schützen Einsicht in die Ursachen der Entstehung desselben. Es kommt daher der Beantwortung der Frage, wie das bacteriologische System entstehen konnte, mehr als theoretisches Interesse zu. Die Wnrzel der Irrtümer des gegenwärtigen Systems ist eine zweifache: 1) Beherrschung der Denkweise durch ein Wort, 2) Die positive Aulfassuug der Krankheit. Die Lehren des bacteriologischen Sj^stems entspringen zum grössten Teil nicht aus irrtümlicher Deutung beobachteter Er- scheinungen, sondei'n aus dem logischen Zwange eines Wortes, sind Consequenzen des Ausdruckes „Kampf". Es würde nicht schwer fallen, ohne Kenntnis irgend welcher Thatsachen die wichtigsten Lehren der Bacteiiologie aus dem Satze abzu- leiten: ..Krankheit ist ein Kampf!" — Der Begriff „Kampf" bedeutet ein Gegeneinanderwirkeu zweier lebender, beseelter Wesen, ünbeseelte Dinge kämpfen nicht mit einander, sondern agieren und reagieren nur nach pliysicalischeu Gesetzen. Wer wird in dem Zusammenstoss zweier Züge einen wirklichen Kampf der beiden Locomotiven sehen! — Auch hat ausser dem 11 — 162 — Weisen von La Mauc-lia noch kein beseeltes Wesen g'eg-en einen nnbeseelteu, nni- nacli physicalisclien Gesetzen wirkenden (regner g-efocliten. In Itildliclieni Sinne redet man allerdings von einem Kampf gegen Naturgewalten, aber niemand wird bei dieser Bezeichnung den bikllichen Character derselben vergessen. Ist also Krankheit thatsächlich ein Kampf, so inuss dem Menschen ein lebender, beseelter Feind gegenüberstehen. Nur Intelligen- zen sind im Staude, anzugreifen, eine Invasion in feindliches Gelnet zu machen, an einer schwachen Stelle der gegnerischen Verteidiguugswerke Fuss zu fassen und ^'on doi't aus Schritt vor Schritt erobernd vorzugelien. Sagt man statt Intelligenz Bacillus, so hat man die Formulierung einer der Hauptlehren des bacteriologischen Systems. 1 )ie Bacterien sind die schlimmsten Feinde des Menschengeschlechtes, sie sind demselben an Schlau- heit, Einsicht und Energie ebenbürtig, ja leider nur zu oft überlegen, wie der tödliche Ausgang beweist. Mau kann nicht einwenden, dass das bacteriulogische System das Verhält- nis des Menschen zu den Bacterien nur bildlich als Kampf be- zeichne. Dasselbe hält thatsächlich die Bacterien für Feinde des Menschen, Mit dem Zwange logischer Notwendigkeit führt daher der Begriff' des Kampfes mit den feindlichen Bacterien zur Verniensci)lichung derselben und zu einer erschreckenden Verunstaltung der Wissenschaft durch Authropomorpliismen. Die Analyse des Begriffes Kampf ergiebt ferner noch, dass die Summe der Erscheinungen, welche unter diesem Be- griff ziisammeugefasst sind, aus zwei Factoren besteht: Angritt' und Abwehr. Das bacteriologische System geht auf diesen Punkt nicht ein. Es lässt z. B. betreffs des Fiebers unaufge- klärt, ob die Bacterien mit Wärmeerzeugung angreifen, oder ob sich der Körper mit Fieber seiner Feinde erwehrt. (lekämpft werden kann ferner nur mit AVaffen. Es giebt Waffen von physicalischer und chemischer Wirkungsweise. — Physikalische Wirkungen der Bacterien sind aussei- C'apillar- embolieen nicht bekannt. Folglich bleiben nur die chemischen Waff'en übrig. Substanzen von schädlich chemischerWirkung neu nt man allgemein Gifte. Demnach mussten die gefährlichen Feinde des .Arensc.lieii mit Giften an greife u , mit Bacteiieugiften. — Der Menscli kann seinerseits ebenfalls mit pliysicalisclien Mitteln kämpfen. Diese Verteidigiingsweise ist das (rrnndmotiv der Pliag-ücytentlieorie. Eine bestimmte Art von Lencocytheu ver- nichtet die eingedrnngeneu Feinde nach Art der Ranbtiere durch Fressen. Diese Fälligkeit der Pliagocytose setzt den Besitz von Intelligenz, respective Instinkten von Seiten be- stimmter Zellen voraus, abgesehen davon, dass dieser Theorie der Beweis durch Tliatsachen mangelt. So bleiben für den Menschen ebenfalls nnr chemische Mittel übrig': Heilkörper. Häufig- findet man statt Kampf das Wort ..Beaction". Die Sache bleibt dabei im wesentlichen dieselbe, nnr dass die agierenden Bacterien verschwinden nnd die Krankheitserscliei- nnng-en nnr den reagierenden Menschen zeigen.. Eine Definition des Begriffs Eeaction wird nicht geg'eben. Der Aiisdt'nck wird nach Belieben in psychologischer, physiologischer und che- mischer Bedentnug' angewandt. Der Organismus reagiert auf den Reiz d(\s Bacteriengiftes mit Herstellung- eines Heil- körpers; ein anderes Mal reagiert er auf den Reiz des Bac- terieng'iftes mit Krankheitssymptomen, wie der Muskel auf electrischen Beiz; und drittens findet eine chemische Reaction zwischen Gift und Heilkörper statt. Vergegenwärtigt man sich, dass mit Kampf und Reaction sowohl eine Handlung, als auch das Resultat, das Gesammtbild einer Handlung bezeichnet wird, so ergiebt sich fiir die zum Teil identischen Ausdrücke K'ampf und Reaction ein achtfach verschiedener begrifflicher Inhalt. Die Folge ist unangreifbare, unfassbare Verschwommen- lieit und Popularität. Denn populär sind immer nur die Lehren, welche entweder eine anthropomorphe Grundlage haben, oder der scharfen Praecision der Grundbegriffe ermangeln. Jedermann, vertraut mit dem Begriff ..Kampf", kann ohne Schwierigkeit die bacteriologischen Theorieen bis in die äussersten Consequenzen verfolgen. Schon allein die ungeprüfte Aufnahme dieses popu- lären Begriffes in die medicinisch-wissenschaftliche Terminologie hat einen Teil der Irrtümer des bacteriologischen Systems hervorgerufen. Nicht, wie stets hervorgehoben wird, auf — 164 — iufliictiv mitur'wissseiischaftlicliem Weg-e sind die l)Mcteriologisclieu Lelireu g-efiindoii Avorden. Dieselben sind das Resultat einer Deutung- neueutdeckter 'J'liatsaclien aus dem Gesiclitspnnkt eines ererbten Begriiltes. — Freilich ein Fortschritt niuss anerkannt werden, das ist die durchgängige Auffassung der Krankheit als eines Ge- schehens, eines ablaufenden Processes. Bedauerlich ist es daher, - und liier äussert sich der zweite ungiinstige Einfiuss, der Einfiuss eines den verschiedensten Bezeichnungen unbe- wusst zu Grunde gelegten Begriffes — dass dieser Gedanke preisgegeben und Krankheit nicht als ein Geschehen, eine Veränderung, sondern als eine existierende Eealität l)e- trachtet wird. — Derselbe Autor, welcher die Krankheit als einen Kampf des Organismus gegen Bacterien oder als eine Reaction gegen Bacteriengifte bezeichnet, schreibt ein Werk unter dem Titel: ..Bekämpfung der Tnfectionskrank- heiten." Da Kampf nur möglich ist gegen etwas, was wirk- lich und nicht blos gedacht ist, ferner nur g-egen ein beseel- tes Etwas, so kann die zu bekämpfende Krankheit nur ein reales und zugleich beseeltes Wesen, ein Parasit im Menschen sein. Die durchgängige Auffassung der Krankheit als eines Parasiten im Menschen ist eins der grossen Uebel der Medicin, ein Uebel, welches noch dadurch verschlimmert wird, dass jeder eine derartige Krankheitsauftassuug mit Ent- rüstung oder gar mit Verachtung von sich weisen würde, und trotzdem in seinem Denken von ihr beherrscht ist. Allen Namen, welche es auch immer sein müg'en, denen nicht der Begriff einer Veränderung, eines Processes zum Grunde liegt, wird der Begriff des Parasiten unbewusst untergelegt. Verlassen wir, um Klarheit zu gewinnen, den schola- stischen Kampfplatz und den Streit um Begriffe, und fragen wir die Dinge selbst: Wer kämpft und mit welchen Mitteln, unter welchen Erscheinungen? Oder wird vielleicht überhaupt nicht gekämpftV Und in der That, die letzte Annahme ist die richtige. Die Biologie weiss von keinem Kampf, oder sollte wenigstens nichts von einem Kampfe wissen. Denn Object. der Biologie uiiil ihrer ZAveig'wisseiisciiaft. der Patho- logie, ist nicht die Seele, die lutelligeuz des Menschen, sondern der Organismns nnd seine liCbenserscheinnngen. Ihre Anfgabe ist lediglich die cansal-niechanische Erklärung der Lebens- processe. Für die Biologie würde in dem Bacterienkanipfe der angegiitt'ene 'Peil fehlen; denn der Organismus kann nicht kämpfen nnd sich verteidigen, weil er keine Intelligenz, son- dern eine Einheit von Zellen ist. Und ob die angreifenden Bacterien Intelligenz und verniinftigen Willen haben, ist bisher auch noch nicht nachgewiesen. Eiir eine wissenschaft- liche Beobachtung kann also von einem Kampfe während einer Krankheit deshalb keine Rede sein, weil die Kämpfer fehlen. Und dennoch kämpft Jemand während der Krankheit einen oft schweren Kampf: Es kämpft die Persönlichkeit, der geistige Mensch, nnd zwar kämpft er gegen die Gegnerschaft seines eigenen Köri)ers. — Niemand fühlt sich mit seinem Körper identisch, vielmehr ist derselbe, dem unmittelbaren (lefiUil jedes ]\renschen nach, srhon ausserhalb der Persönlichkeit, ein Werk- zeug (lt;r Persönlichkeit, ein willenlos gehorchender Sclave aller Befehle des Menschen. Allerdings steht der Mensch seinerseits auch wieder in Abhängigkeit von seinem Körper, ein Vei'hältnis, dessen er sich in gesnnden Tagen niciit bewnsst wird, weil er seinen Körper nicht fühlt, ^'öllig anders gestaltet sich das Verhältnis aber l)ei Eintritt einer Erkranknng. Der Mensch erkennt seine Abhängigkeit \om Organismus, fühlt, dass er die Herrschaft über denselben veidiert, ja dass derselbe ihm sogar Schmerzen bereitet. Der allzeit willenlos gehorchende Sclave, der Körper, scheint sich aufzulehnen gegen seinen Gebieter. Der Mensch ist nicht mehr Herr seiner Glieder; Functionen, von (leren Ausübung ihm früher nichts bewusst war, muss er jetzt gleichsam selbst mit Anstrengung und Mühe übernehmen. Der Kranke kämpft um Luft, ringt nach Atem u. s. w., er kämpft gegen seinen rebellischen Sclaven, die Krankheit. Die Mittel der Verteidigung glaubt er bei einem treu gebliebenen Teil des Körpers zu finden. Der pathologische A'organg wird von ihm unwillkürlich in dualistischer Weise gedeutet. So entstellt hervor- g-eriifen diircli subjective Empftudung des Kranken, die positive Ansicht von der Kranklieit. Die Krankheit ist ein reales, be- seeltes Wesen, der abtrünnige vergeistigte Teil des Organismus. Während der tren gebliebene Teil des Organismns als das letzte Hiilfsmittel des Krauken seiiien (Miaracter als Werkzeug des Menschen niemals ändert und in der Folge unter den verschie- densten Bezeichnungen, Avie 'fuoic des Hippocrates, Natur- heilkraft der Neueren, immer denselben zweckmässigen Character beibehält, erleidet der andere personificierte Teil des Körpers, die Krankheit, die verschiedensten begiifflichen Wandlungen. Zunächst ist jede Krankheit etwas mehr oder minder Plötzliches. Sie wird vom Kranken empfunden als von aussen über ihn hereinbrechend. Dieses von Aussen eindringende feindliche Etwas wurde zu einem Keime gemacht, der. einmal in den Körper eingedrungen, mit zunehmenden Krankheits- erscheinungen wächst und mit fortschreitendem AVachstum den Menschen der Herrschaft über seine Glieder beraubt. — Die Krankheit wurde zu einem Parasiten. — Wenn daher Para- celsus und die Naturphilosophen dieses Jahrhunderts die Kranklieit als einen Parasiten oder als einen ..Alenschen im Menschen" bezeichnen, so verdienen sie wegen scharfer Präcision ihres Krankheitsbegriffs nur Anei'kennung. Vielleicht denkt dei* Leser: Wozu diese zwecklose Er- örterung? Was Paracelsus und andere lehrten liegt doch weit hinter uns. Heute fällt es doch Keinem mehr ein, die Krank- heit als einen Parasiten zu bezeichnen! — Allerdings der Name ist verschwunden, aber der Begriff des Parasiten be- herrscht leider noch immer die Denkwesie. Man redet von Realität und Entität, von einer Ontologie der Kranklieit und von Krankheiten als Einheiten. Doch dies sind nur abgeblasste Ausdrücke für die treffendere Bezeichnung Parasit. Jede posi- tive Auffassung der Krankheit, gleichgültig welchen Namen man ihr beilegt, offenbart sich bei genauer Analyse als die parasi- tische, muss sich als solche offenbaren. Der Unterschied zwischen unserer Denkweise und der des Paracelsus ist nur, dass wir von Vorstellungen, die Paracelsus mit ])ewusster Klarheit — 1G7 — definierte, bchei-rsclit ^vev(lell , (Anw. uns dessen klar 1)e\vnsst /n sein. Wils kann überhaupt ein Ideales sein ? Kiir Menschen können, wie schon erörtert wurde, reale Dinge nur solche sein, welche zur sinnlichen Wahrnchniung- (>elang'en. Die unüber- sehbare Menge der realen Dinge hat die menschliche Vernunft von jeher geschieden in belebte und unbelebte, organisierte und nicht organisierte. Andere Kealitäten existieren nicht. — Alle Dinge sind in beständigem Fluss. Während aber die nicht- organischen eine Aeuderung nur nach l^^inwirkung tdner äusse- ren Ursache zeigen, machen die JJewegungen der organischen Dinge den Rindruck voii freiwilligen aus inneren Gründen ent- standenen. Zu welcher Klasse von diesen Dingen sollen die Ivrankheiten, wenn sie etwas Wirkliches, Reales sind, gehören? Zu keiner, weil ihnen sämtliche sinnlichen Kigenschaften fehlen. Krankheiten sind also keine Realitäten. Aber einmal ange- nommen, Krankheiten wären etwas Reales, ein Ding, dann müssten dieselben, wie alle lealen Dinge dem Wechsel und Veränderungen unterworfen sein. Wer Krankheiten bekämpft und Specitica sucht, wird sagen: Die Krankheiten ändern sich, wie der Wechsel der Krankheitserscheinungen zeigt. Demnacli wären die einzelnen Symptome Eigenschaften der Krankheit, aus deren Summe die Krankheit bestände. Vorhin wurde gesagt, dass an der Krankheit sinnliche Eigenschaften nicht wahrnehmbar seien. Krankheiten müssten also Dinge ohne sinnlich erkennbare Eigenschaften sein, an denen trotz- dem ein ^Vechsel der Eigenschaften stattfände, was oftenkun- diger Unsinn ist. Die Krankheit als Realität (ens. to ov) kann demnacli nur eine Art Gespenst sein, ein „Wesen mit unsicht- barem Leib", wie der consequente Paracelsus sich ausdrückt, — ein Parasit. Die einzelnen Krankheiten werden ferner häufi.g als Einheiten bezeichnet. Auch dieses schlichten ^Ausdrucks Sinn ist Parasit. fCinheiten giebt es nicht in der Natur, ausser den organisierten Dingen. Einen Stein kann man in Stücke schlagen. .Jedes Stück ist wiederum ein Stein. Derselbe wie alles Nicht- — 168 — oi'gauisclie kauu nur gedacht werden als die Summe seiner Teile. Nicht so die Organismen. Ein lialbiei'ter Mensch ist kein Mensch melir. Ein Organismus ist nur zu begreifen als eine Einheit, zu der jeder Teil seine bestimmte Beziehung, seine Function hat. Wenn Krankheit eine Einheit ist, und Einheiten nur Organismen sind, so ist Krankheit ein Organis- mus und zwar ein Organismus im menschliclien Organismus, ein Parasit im Menschen. Beruft man sich auf die Einheit der Ursache oder wie der Terminus jetzt lautet, auf die „Specifttät der Ursache" jeder einzelnen Krankheit, so bleibt die Sache doch dieselbe. AVenn die Einheit der Cholera z. B. darauf beruhen soll, dass die Ursache der Cholera immer ein und dieselbe ist, wenn man dementsprechend behauptet, nur ein speciftsches Gift mache die Cholerasymptome, so ist dies specifische Gift eben der ..Organismus mit unsichtbarem Leib". Wie ein gespensterhafter Parasit, bemächtigt sich das Cholera- gift der Functionen einzelner Oi-gane. Es macht Diari-höen, Nierenerkrankungen, Aenderimg der Herzthätigkeit. Und "wie bewirkt es diese Erscheinungen? Es lähmt das Herz, reizt den Darm etc., handelt also genau wie ein intelligentes A^^esen, wie ein Mensch. Denn reizen und lähmen sind Ausdrücke ,,ex analogia hominis'-. Nur ein Mensch kann reizen und lähmen. — Manchem Avird diese Auseinandersetzung vielleicht als eitel Sophisterei erscheinen; aber mit Unrecht. Der Parasit, das fremde im Menschen beftndliche planmässig handelnde Wesen, verbirgt sich unter dem Worte ..Reiz'-. Ein Gift, das Cholera- gift, kann nur eine Wirkung ausiiben, nämlich eine chemische Reaction eingehen. — Den gespensterhaften, parasitischen Cha- racter der specifischen Bacteriengifte zeigt einleuchtend das Diphtheriegift. Diphtherie ist diejenige Krankheit, welche vielleicht die griissteu Varietäten in ihren Erscheinungen zeigt. Die ganze Mannigfaltigkeit derselben macht das Diph- theriegift, es macht Schleimhautnecrosen, Nierenentzündungen und nach längerer Zeit noch Herzlähmungen und Lähmung der Körpermusculatur. Und alles dies ohne dass dasselbe bishei- jemals innerhalb des menschlichen Organismus gefandou ist. Die Mannigfaltigkeit der DiphtUerieerscheiniing-en ist nur ge- (lanklieli als einlieitliclie Wii kuug des Diphtlieriegiftes coustnüert. Ausiialiinslos mnss wie die erörterten Bezeiclmuiigeu jede positive Benennung- der Krankheit die parasitäre sein, weil jede reale Auffassung /u einem Dualismus von Krankheit und krankem ]\Iensclien führt. So hat ein zweifaclier Irrtum - Abliängigkeit von dem einen Worte „Kampf mit wechselndem begrifflichen Inhalt und anderseits Abliängigkeit von einem, den wecliselndsten Be- zeichnungen unterliegenden Begriffe, — üble Consequenzeii für die Medicin gehabt. Es Avird notwendig sein, sich stets zu erinnern, dass E^rscheinungeu erforscht werden sollen, und die Sprache mehr oder minder unvermögend ist, die unend- liche Fülle der Erscheinungen mit cliaracteristischen Be- zeichnungen zu versehen, dass ferner ununterbrochen die Zahl bekannter Erscheinungen schneller anwächst, als die Aus-* drucksmittel der Sprache. Besonders darf aber nie vergessen werden, dass nicht jedem Wort ein reales Ding entspricht, und beherzigt werden mnss die Regel der Nominalisten, der Väter der Naturwissenschaft, dass Worte nur etwas Oonven- tionelles sind. — Dass der Inhalt der Worte ein ewig wech- selnder ist, zeigt keine Disciplin deutlicher als grade die Medicin. Die medicinisclien Ausdrücke vergangener Jahrhun- derte sind zum Teil bis heute dieselben geblieben, ihre Be- deutungen entschwanden. Ans dem schnelleren Anwachsen der neuen Thatsachen vor den Sprachmitteln entsteht der Zwang, alten Worten neuen Inhalt zu geben. So oft dies aber er- forderlich ist, wird genaue Praecisierung des neuen begriff- lichen Inhaltes des alten Wortes gradezu zur Pflicht. Das Hauptproblem einer \\'issenschaft gar durch ein poi)uläres Bild auszudrücken, ist wissenschaftlich nicht erlaubt. Die Definition der Krankheit als eines Kampfes leidet ferner an dem Fehler, auf die unwissenschaftliche Frage nacli dem Wesen der Kranklieit antworten zu wollen. Aufgabe der Naturwissenschaft ist nicht, nach dem Wesen der Dinge zu foischen. sondern eipzudi-ingen in den cansalen Zusannnenhang — 1 7(1 — der beuljacliteten Ersclieinungeu. Auf die Frage: Was ist Krankheit? ist iil^erUaniit nur eine wissenscliaftlich bereclitigte Antwort niüg'licli, die Antwort: Kranklieit ist das Problem der Pathologie. Dies scheint selir nichtssagend, da die Antwort völlig inhaltleer ist. Und docli ist es gerade dieser gänzliche Mangel an Inhalt, was die wissenschaftliche Bereclitigung der Antwort bedingt. Denn jede niateriale Aussage, was Kranklieit ist, niuss, weil sie vom jeweiligen Stand der Wissenschaft ab- hängt, falsch sein. Hieran zu erinnern, und Rückfall in Dogma zu verhüten, ist die Antwort: Kranklieit ist ein Problem der Pathologie, wohlgeeignet. Man wird niemals wissen können, was Krankheit ist, weil dieselbe als Problem eine nie völlig zu lösende, immer wieder hinausriickende Aufgabe ist. Zweitens ergiebt sicli aus obiger Deftnition die fördernde Vorschrift, Klarheit darüber zu schaffen, auf welches Gebiet •von Erscheinungen das Problem sich bezieht, und dies Gebiet von dem ähnlicher Probleme scharf abzugrenzen. Drittens muss, wie die Erforschung eines unbekannten Gebietes zum mindesten die Kenntnis der Himmelsgegenden voraussetzt, auch Uebereinstimmung gesucht werden in Gesichts- punkten und zwar niclit in individuellen, sondern in metho- dischen Gesichtspunkten, nach denen sich jeder, der Wissenschaft betreibt, richten soll. Niclit die Frage, was Krankheit ist, sondern als was Krankheit betrachtet werden soll, muss eine vor jeder Detailforschung vorhergehende Lösung gefunden haben. Suchen wir zunächst das Gebiet der Pathologie abzu- grenzen. Da Krankheit, wie erörtert, nicht selbst ein Ding, eine Realität, bedeuten kann, so muss sie Eigenschaft oder Veränderung eines Dinges sein. Leblose Dinge mögen noch so grossen Aenderungen unterliegen, sie sind deswegen nicht krank. Nur Organismen können erkranken. Nun müssen alle an einem Organismus wahrnehmbaren Veränderungen ausser Verletzungen als Functions- und Lebensäusserungeu desselben betrachtet werden. Krankheit ist demnach eine Lebensäusserung organi- sierter Wesen, Die Gesamtheit der Lebensäusserungen scheidet — 171 — die Venmuft in (lesmidlieit und Kranklieit. Gesundheit nrn- t'asst die normalen, Kranklieit die von der Norm al)weiclienden Functionsäusserung'en des Organismus. Die Lebensvorgiuige sind (Mijekt der biologischen Forschung. Die Patliologie als die Lehre von den anormalen Veränderungen des Organismus ist demnach ein Zweig der biologischen Wissenscliaft. Eine scharfe Abgrenzung der beiden Unterabteilungen der IMologie, der Physiologie und Patliologie. von einander ist unmöglich. Streng geschieden aber von der Pathologie muss die Aetiologie werden, deren Object niclit die causale Erklärung der Lebens- processe, sondern das Aufsuchen äusserer, die Gesundheit s('hädigender Momente ist. Die Aufgabe der Pathologie, der ^lechanismus des Ablaufs abnormer Lebens})rocesse. würde durch Kenntnis der auslösenden Momente nicht einmal gefördert werden. Wie wäre es sonst denkbar, dass das Wissen von der Art der Arzneiwirkung noch so gering ist. — Der Standpunkt des Pathologen dem kranken Organismus gegenüber ist ähnlich dem eines Ingenieurs gegenüber einer defecten Maschine, z. B. einer Loconiotive. Die Functionsstörung einer solchen wird dem Ingenieur nur klar werden aus der Untersuchung der Maschine selbst. Ob die Veranlassung der Schädigung ein Schienenbruch oder ein auf den Scliienen befindliches Hindernis gewesen ist, fördert ihn in seiner Aufgabe nicht im geringsten. Der Schaden ist einmal da. Er kann ihn nur aus der Zer- störung und Functionsabweichung der jMaschine selbst erkennen. Mit den veranlassenden Momenten, ihrer Herkunft und Ent- stehung, Jiat sich dagegen eine andere Behörde zu beschäftigen. Die Pathologie überschreitet bisher durch Aufnahme aetiologi- scher Momente ihre Grenzen. Dass ein derartiges Vorgehen nicht A'ermehrung sondei ii Verunstaltung der AVissenschaft ist, zeigen vielerlei Irrtümer und ]\rangel des Erfolges. Dass zwischen den Gebieten der Physiologie und Patho- logie eine scharfe Grenze nicht gezogen werden kann, wird einleuchtend, wenn die Differenz dieser beiden Unterarten der Biologie auseinandergesetzt und eine genaue Definition der Krankheit gewonnen ist. Uesundheil und Krankheit sind vorerst Begriffe, Geschöpfe der nieiischlicheii Vermmft. Mit Gesuudlieit werdeu die normalen Lebensvorgäuge bezeichnet; Krankheit ist eine Negation der das Leben beherrschenden Regeln, natiirlicli keine absolnte Negation — denn das wäre der Tod, respective das Anorganisclie, — sondern eine Ein- schränkung der normalen physiologischen Gesetze. Dieser negative Oharacter der Krankheit zeigt sich schon in dem Unistande, dass derselbe, von der irrigen Kampf- und Parasiten- theorie abgesehen, in jeder Antwort auf die Frage, was die Krankheit ist, mehr oder minder deutlich zu Tage tritt, so in der gebräuchliclisten Antwort: Ki'ankheit ist eine Gesund- heitsstörung. — Gegen diese Definition als eine Negation kann eingewendet werden, dass jede ^Vissensichafr ein bestiiun\tes Thatsachengebiet zu erforschen liabe. Wenn daher die obige Delinitiou riclitig sei, müsste die I^atliologie etwas Negatives, etwas nicht Existierendes erforschen, was unsinnig sei.. Die Pathologie habe aber wohl ein wirkliches Object: die Krank- heitserscheinungen. Diese seien real, fnr jeden wahrnehmbar und in den Lehrl)iichern als Symptome bestimmter Krankheiten genau beschrieben. AVas nicht existiere, könne nicht beschrieben werden, und was beschrieben werden könne, müsse existieren, folglich müssten auch die Krankheiten etwas Keales sein. — Der Schluss ist irrig, er beweist, was er schon als bewiesen vorausgesetzt hat. Er schliesst die llealität der Krankheit aus der Eealität der Krankheitserscheinungen. Nun fragt es sich weiter, wie die Realität der Krankheitserscheinungen bewiesen wird? Etwa durch sinnliche Wahrnehmung? Keines- wegs! Krankheitserscheinungen kann niemand wahrnehmen. Die gegenteilige Behauptung wäre wieder ein Beisi)iel von der ungünstigen Beeinflussung des Denkens durch Worte. \\'a.hi- nehmbar sind nur Veränderungen des Organismus. Nicht etwa das Fieber ist wahrzunehmen, sondern die AVärnie. Fieber ist ein sogenanntes Symptom. Ein solches ist niemals einProduct einer Wahrnehmung, sondern der Beurteilung von Wahrneh- mungen. Die fühlbare Hitze des Kranken ist wahrnehmbar, als solche zweifellos real, das Fieber abei' ist eine Beurteilung — 17;^ — der Hitze, also kein reales, sondern nur ein g-edachtes Ding. Und /.war Avird als Fieber die Hitze nach dem Beg'riff der Krankheit beurteilt. Die Krankheitseischeinung-en sind daher nicht leal, sondern nur Beurteilung realer Erscheinungen als krankhaft. Dem obigen Argument ist demnach der Boden entzogen. Der Schluss, dass die Detinition der Krankheit als Ne- gation irrig sei, weil sonst die Pathologie etwas nicht Exi- stierendes erforschen würde, miisste unanfechtbar sein, wenn in der gegebenen ])efiuition Thatsachen negiert würden. Thatsachen aber sind, weil sie sind. ]\Iit der Detinition der Krankheit als einer Negation werden nicht Thatsachen ne- giert, sondern lediglich eine Hegel, und zwar die der normalen physiologischen (iesetze. Die Thatsachen der patliologischen ^^'issenschaft können als an organischen A\'esen stattfindende Veränderungen nur Lebenserscheinungen sein. Nach dieser Definition wird es begreiflich, weshalb eine scharfe Abgrenzung von (Tesundheit und Krankheit, von Phy- siologie und Pathologie nicht . anzugeben ist. Die Grenze zwischen beiden biologischen Disciplinen ist eine ewig ver- ändei'liche, sie wird nicht durch Thatsachen gebildet, sondern hängt ab von einer wechselnden Beurteilung. Was früher den physiologischen Gesetzen zu entsprechen schien, wird mit fortschreitender Erkenntnis als Abweichung von denselben beurteilt. Wie viele neue Krankheiten haben aufblühende Sl)ecialdisciplinen, wie die Gynaekologie, entdeckt resp. ge- schaffen. Und weiden nicht noch immer neue Krankheiten gefunden? Die ihnen zu Grunde liegenden Lebensvorgänge sind ihrer Existenz nach nicht neu, wurden nur bisher nicht pathologisch beurteilt. ^\*enn Kraiildieiten Realitäten wären, würde eine beständige Verschiebung der Grenze von Patho- logie und Physiologie unverständlich sein, vielmehr müsste sich eine scliarfe unüberbrückbare Kluft finden, an der das Gebiet der (Gesundheit aufhöi-t, und das der Krankheit an- fängt. Die Definition der Krankheit als Lebensprocesse, welche voll der Noi-ni iiliysiolo.oischer (besetze melir oder minder ab- weiclieu. ist trotz ihrer Eiufaclilieit von den wichtig-sten Folgen. Sie erklärt zunilclist alle Kranklieitserscheimmgeu — dieser Ansdrnck ist unter der angegebenen Einschränkung brauch- bar — fiir liebensvorgänge, niid als solche für Functionen des Organismus. Bei den stärksten Krämpfen des T(!tanischen, der nuunterbrochenen Diai'rhöe der Cholerakraiiken ist kein anderer Factor in Tliätigkeit als der Organismus. Niemand anders er- zeugt das ( 'oma nach narkotischer Vei-giftnug als allein der Organismus, niemand den schwersten S('hüttelfrost als dei' Or- ganismns: ja das wenige Minuten nach Eindringen von Schlangen- gift eintretende tiUlliche Ende ist ein functionelles Resultat des laedierten Oi-ganismus. Auch der Tod ist eine Function des Organismus. Und alle diese Vorgänge sind bedingt duj-ch dieselben Ui'saclien wie in gesunden Verhältnissen. Die Contraction des tetanischen ^Muskels hat keine andere Ursache als die Function des Muskels überhaupt. Cholei'a-Diarrhoe, Schüttel- frost, Coma, Blutzersetzung hal)en dieselbe idn-siologische Ur- sache wie T)arm])eristaltik überhaupt, wie die normale al)endliche Temperatursteigerung, wie [»hysiologisclier Schlaf und physiolo- gische Blutregeueration. Nicht das Tetanusgift macht die Muskelcontraction. nicht ein ( holeragift die gewaltige Darm- peristaltik, nicht pyrogene Substanz das Fieber, nicht ein sep- tisches Gift die Zersetzung des Blutes — alles dies macht allein der Organismus, und zwar mit keinen anderen Mitteln, als den gewöhnlichen. Abweichend von der Norm ist allein die Inten- sität der Function. Uestört ist die Harmonie des Zusammen- arbeiteus der Teile des Organismus. Vielleicht erhebt sich gegen die letzten Ausführungen ein Protest. Aus einer Detinition, allein durch Denken, eine Wissenschaft lierauszusi)innen, ist die Manier der selig ent- schlafen geglaubten Naturphilosophie. Nur Beobachtung allein kann lehren, ob alle pathologischen Erscheinungen ({ualitativ normale Functionsäusserungen des Organismus sind. Hierauf ist zu erwidern, dass dies niemals eine Beobachtung lehren — 175 — kann, sondern dass das ([nalitative Gleichbleiben der Fnnction der Organe Voraussetziuii^- der [Beobachtung ist. Man hebe diese \'oranssetznng- auf, und die Pathologie als A\'issenschaft ist autgehoben. AVenn die Organe je nacli der einwirkenden Trsaclie heute diesti und morgen jene Function haben könnten, wenn z. !>. die Nieren heute Ihin, morgen GalU^, übermorgen Darmsaft secernieren, weichen Zweck sollte Beobaclitung noch haben'. Der Begriff der Function schliesst schon die qualitative Ihiveränderlichkeit ein. Denn Function ist identisch mit der Ausübung eines bestimmten Zweckes innerhalb der Einheit des Organismus. Wenn also die Function qualitativ unver- änderlich bleibt, wozu die Hunderte von verschiedenen Bacterien- giften annehmen 1 Ferner kann nicht jede Beobachtung brauchbare Kesultate liefern, sondern nur methodische Beobaclitung, d. Ii. eine von Principien und Gesichtspunkten geleitete Beobaclitung. Als erster Gesichtspunkt einer jeden Beobachtung ist früher schon der monistische hervorgehoben worden. Die Einheit der phy- siologischen und pathologischen Lebensprocesse bewegt sich doch sicherlich in der Richtung auf dieses Endziel. Als Gesichtspunkt und nicht als Tliatsache ist die Einheit aller biologischen \'oigänge, kranker wie gesunder, gemeint. Ob dieser (Gesichtspunkt der Zmückführung aller Lebensvorgänge auf physiologische Gesetze durchführbar ist, ob die Erschei- nungen der Pathologie derartige sind, dass sie der von der Vernunft sich selbst gestellten Aufgabe der Vereinfachung der Priiicii)ieu entsprechen, ist eine Voraussetzung, ein Glaube, abei' ein Glaube, ohne den A\'issenschaft unmöglich wäre. Denn die Begreiflichkeit der Welt ist kein Axiom, sondern ein Postulat. Entsprächen die Dinge nicht unserem Erkenntnisvermögen, so wäre das Princip des Monismus unsinnig, seine Aufgabe zwecklos. Wäre z. B. die bacteriologische Lehre richtig, dass Krankheiten A'ergiftnngen sind, und es so viele specifische (,4ifte gäbe mit specifischer Wirkungsweise als es Krankheiten giebt, so wäre Vereinfachung der Principien unmöglich, hiermit aber auch die 3[edicin als Wissenschaft aufgehoben. Aber niemand zweifelt, — 176 — (lass auch die abnormen Lebensersclieiuungeu .scliliesslicli aus wenigen Princiiiien beg-reiflicli werden, eine Zuversicht, durch die aUeiu schon die ganze Specifltätenlehre verurteilt ist. FAii Scluitz gegen Rückfall in Irrtümer und ein Wegweiser zum Avissenschaftlich monistischen Ziel ist der aus der wissenschaft- lichen Definition der Krankheit gwonnene Grundsatz , dass wissenschaftlich methodische Beobachtung die patho- logischen Erscheinungen auf dieselben Kräfte des Organismus zurückführen soll, welchen alle Lebens- erscheinungen überhaupt entstammen. Die einzelnen Krankheiten sind in der bisherigen P^r- ürterung unbei-ücksichtigt geblieben. Auch ihnen gegenüber niuss die Frage erhoben werden, als was sie betrachtet werden sollen. Um in der Mannigfaltigkeit der pathologischen Vor- gänge cim Krankenbette sich orientieren zu können, ist eine Ordnung des Gesamtgel)ietes der Pathologie erforderlich. Dies geschieht durch Zusammenfassung zu Krankheitsbildern. Diese Bezeichnung ,. Ki'ankheitsbild" ist geeignet, Missverständnisse zu veranlassen. Denn ein Bild ist etwas Unveränderliches; und Vorgänge, Ve r ä n d e r u u g e n sich als etwas U n v e r ä n d e r 1 i c h e s zu veranschaulichen, vermag kein Menscli. Allerdings ist schon jeder Begriff als solcher, also auch die Krankheit, etw^as Un- veränderliphes, einer Menge wechselnder, individueller Züge gemeinsam zu Grunde' Liegendes. Trotz der unendlichen Mannigfaltigkeit der Erscheinungen, welche z. B. duich den Begriff AVärme zusammengefasst w'erden, bleibt Wärme stets dasselbe. Während aber dieser Begriff' A"\'ärme nichts AVider- sprechendes hat, widerspricht die A'ereinigung von pathologischen Vorgängen zu einem Bilde der menschlichen Vernunft. Worauf beruht dieser Unterschied? Zunächst auf dem Unter- schiede von Vorgang und Ding, oder Veränderung und (-regen- staud. Während der Begriff AA'ärme als Molecularbewegung allen hierher gehörigen Vorgängen entspricht, so ist der Begriff des Bildes ungeeignet, Vorgänge zu vereinigen. Ferner liegt hier verborgen der Unterschied zwischen einem Begriff und einem realen Ding. Ein Bild kann man niclit (lenken, sondern muj^s man .sehen. Ein Begriff ist nur ein (bedachtes; zn einem Begriff kann alles vereinigt werden, sowohl was sinnlich walirgenonnnen, als anch, was nur gedacht werden kann. — Vereinigen ist nur dnrch Denken müglicli. Die Vereinigung krankliafter Erscheinnugen zn einer Krank- lieit kann daher nur ein Gedachtes, ein Begriff sein, ein Bild aber nur ein realer Gegenstand der Anschauung. Wie kann etwas (die Krankheit) zugleich ein rein Gedachtes nnd zugleich ein Bild sein? Der v orliegende Widersprucli kommt nicht zum Bewusstsein, weil überhaupt die Neigung besteht, bloss ge- dachte Ding-e zu wirklichen realen Dingen zu machen. Bei der Verbreitung- dieser Neigung und den wichtigen Folgen derselben, wie z. B. der realen Krankheitsauffassung, ist eine Untersuchung liber den Grund dieser Schwäche der Vernunft erforderlich. Die landläuftge Ansicht man könne Dinge und Gegen- .stände sehen, ist eine irrige, durch die Phj'Siologie der Sinnes- organe widerlegte. Letztere lehrt vielmehr, dass wir nur Farben sehen können; Farben aber sind keine äusseren Gegen- stände. Zu einem solclien ist erforderlich eine räumliche An- schauung. Empfindungen sind psychologisch betrachtet Ver- änderungen unseres Bewusstseins, physiologisch ausgedrückt: Verändei'ungen in der Geliirnrinde. Weshalb empftndeu wir nicht in der Gehirnrinde, weshalb sehen wir die Farben nicht dort, wo sie entstehen, sondern in der Aussenwelt? Eine Antwort auf diese Frage kann hier nicht gegeben werden. Es sei nur an die Thatsache erinnert, dass alle Em- l)findungen nach aussen projiciert werden. Aber auch hiermit ist noch kein Ding fertig. Denn ein jedes Ding hat Eigen- schaften, welche erst durch ihre Vereinigung das Ding machen. Diese Eigenschaften sind das an dem Ding sinnlich Wahr- nehmbare. Ein Gegenstand entsteht demnach durch Ver- einigung verschiedener Anschauungen zu einer Einheit. Da Vereinigen Denken und Denken nur möglich in Begriffen ist, so kann ein Gegenstand nur gedacht werden. Sinnlich wahrnehmbar siiul nur die Eigenschaften eines Gegen- 12 Standes. Was die Maiiüigfaltigkeit von Auscliaiiuugen zu einem Ding vereinig-t, ist der Begriff der Substanz und Accidenzeu in philosophischer Sprache, der Beg:riff des Dings und der Eigen- schaften in der gewöhnlichen Sprache. So oft eine Aussage über etwas gemacht wird, niuss ein Urteil entstehen. Ein Urteil ist ebenfalls eine Vereinigung von Begriffen, und zwar ist der vereinigende Begriff der des Subjects und Prädicats. Der vereinigende Begriff des Subjects und Prädicats ist mit dem des Dings und der Eigenschaften identisch, nur mit dem einen Unterschiede, dass dasSubject nur eine logisch grammaticale, das Ding, die Substanz aber eine gegenständlich reale Bedeutung hat. Logisches Subject eines Satzes kann alles sein. Zu einem Gegenstand ist aber er- forderlich empirische sinnliche Wahrnehmung. Nicht jedem Subject eines Satzes entspricht daher ein Gegenstand. Zum Subject eines Satzes kann auch eine Yeränderimg, ein Vorgang gemacht werden, w^ährend eine Veränderung als Gegenstand, als reales Ding, unmöglich ist. Verändern können sich nur Dinge, Es besteht nun — und hier ist die Quelle dessen, was vorher als scholastisches Vorurteil bezeichnet Avurde — ein Hang der Vernunft, das logische Subject eines Urteils zu ver- gegenständlichen zu einem Ding. — Das Ding ist die in allem Wechsel der Erscheinungen unveränderliche und beharrliche Substanz. Alle Eigenschaften sind in ewigem Fluss, die Dinge selbst unveränderlich. Das logische Subject begreift in sich aber keineswegs ein Beharrliches, Unveränderliches, ja die Ver- änderung selbst kann zum Subject gemacht werden, über welches etwas praediciert wird. Findet nun eine irrtümliche Substanziierung einer als Subject genommenen Veränderung zu einem Gegen stände statt, so wird die Veränderung hiermit zu einem beharrlichen, unveiäuderlichen Ding mit wahrnehm- baren Erscheinungen. Fieber ist ein Begriff", eine begriffliche Vereinigung einander ähnlicher Vorgänge. Sobald ein Urteil Übel- diesen Begi'iff Fieber abgegeben werden soll, wird das Fieber Subject eines Satzes, und trotzdem sein Inhalt eine Ver- änderung, ein Geschehen bedeutet, ist Fieber als Subject eines Urteils olme Widerspruch. Nun aber entsteht der Irrtum dadurch, dass das Sul)ject, der Process, das Geschehen, zu einem Ding gemaclit und dadurch widersinnig wiid. So kommt es, dass man die Symptome, die doch alle nur Vor- gänge bedeuten, zu AVirklichkeiteu, zu Dingen macht, dass man diese Symptome vereinigt betrachtet als Teile eines anderen realen Dinges, der Krankheit Die Krankheit wird zu einem Ding mit Eigenschaften, zu einer Realität. Und hier liegt der letzte Grund des falsclieu Krankheitsbegriifes. Die Auffassung der Kranklieit als einer Realität beruht auf dem Hang der Vernunft, das logisch-gramma- tikalische Subject eines Urteils zu projicieren in die Welt der Gegenstände und zu einem Ding mit Eigen- schaften zu substanziieren. Die Bezeichnung Krankheitsbild unterstützt diesen Irrtum erstens dadurch, dass ein Bild schon an sich ein Ding und zweitens noch zudem ein Gegenstand ist, welcher für unsere Vernunft nur als eine Einheit begriffen werden kann. Ein Bild ist nicht die Summe von Teilen, sondern ein einheitliches Ganzes, in dem jeder Teil eine bestimmte Stellung zum Ganzen l>at. Durch diesen Charakter einer Einheit entsteht aber eine Ver- wandtschaft mit dem Begriff des Organismus, der ebenfalls nur als eine Einheit gedacht wei'den kann. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Bezeichnung „Krankheitsbild" Veran- lassung Avurde, die substanziierte Krankheit auch noch als eine Einheit, als einen Organismus, als einen Parasiten zu denken. Es würde sich vielleicht empfehlen statt des irreführen- den Ausdruckes ., Krankheitsbild'' einen abgeblassteren, wie z. B. Typus oder irgend einen anderen passenderen in Gebrauch zu nehmen und z. B. statt der Bezeichnung „Krankheitsbild der Diiththerie'- sich der Bezeichnug „Typus des diphtheri- tischen Krankheitsprocesses" zu bedienen. Es ist interessant zu sehen, wie dieselbe Täuschung therapeutische Irrungen mit einander verbindet, welche im denkbar schärfsten Gegensatz zu einander stehen : nämlich den Nihilismus der Wiener Schule, welcher lehrte, dass mit fort- — 180 — schreitender Krkeniitiiis der Wirkiiugskreis der Aerzte immer kleiner werde, dass nur die Natur lieilen könne, und den Spe- cifitäten-Entliusiasmus der ('-! egenwart, welcher beanspriiclit, alle Krankheiten nahezu mit der Sicherheit eines Natur- gesetzes" heilen zu können. Beiden Riclituug-eu , Skepticismus und ]\[ysticismus, ist die Krankheit ein Ding. Kin solches muss nach den Gesetzen der A^ernunft immer dasselbe bleiben, mögen seine Eigen- schaften noch so sehr dem Wechsel unterworfen sein. Um ein Beispiel anzuführen, kann eine Rose nicht heute eine Rose * und morgen ein Veilchen sein, sondern muss immer eine Rose bleibe», sie mag sich zeigen als Knospe oder als entfaltete Blüte, farbenprächtig oder verwelkt, bis ihr Zerfall offenbart, dass auch sie keine letzte Substanz, sondern nur eine Modifi.- catiou der letzten für Menschen denkbaren Substanz, der zeit- lich beharrenden, i'aumerfüUenden Substanz, der Materie ist. Aus eben diesem Grunde der Substauziiei-ung der Krank- heit, ist dem Skeptiker Pneumonie immer Pneumonie, dem Modernen Tetanus immei- Tetanus. Der ,,Ui'lieber der Lehre von den Blutantitoxinen'' i)rotestiert energisch gegen eine Aeusserimg Buchner's, dass der Tetauusheilkörper bei ver- schiedenen Tierspecies qualitativ vielleicht verschieden sein könne, der Heilköi-per bei einer Maus nicht unbedingt iden- tisch mit dem Heilkörper des Menschen sei. (Behring, Serum- therapie II, Seite 8.) Für Behring ist Tetanus, gleichgültig welche Thierspecies erkranken mag, in jedem Fall immer dasselbe Ding. — ,,Die Specifltät der Krankheitserreger", die ,,Specilität der Krankheitsgifte", die „Specifltät der Immuni- sierimgsmittel" und die ,,Specitität der Heilkörper" — diese unaufhörlich gepriesenen Lehren haben zur Voraussetzung den Begriff des Dinges, der unveränderlichen Substanz, sind keines- wegs Ergebnisse der experimentellen Forschung. Ebenso wie dem heutigen Bacteriologen war auch den Wiener Nihilisten Krankheit ein Ding. Unter dem Eiufluss der die gesamte Medicin beherrschenden pathologischen Ana- tomie war eine derartige Auffassung sehr naheliegend. Demi — IHI — ilie einseitige Betrachtung- der Leicheubefiiude liess vergessen, (lass die Zustände an der Leiche Resultate von Lebenspro- cessen waren. So ist denn aucli dem Skeptiker eine bestimmte Krankheit immer dieselbe. Der Wortführer dieser Schule sagt : Gedämpfter Percussionsschall , Bronchialathmeu , Rasselge- räusclie etc. müssen immer und überall die Erscheinung einei- vollständig entwickelten croiipösen Pneumonie sein.-' Und dass hiermit nicht eine diagnostische, sondern eine reale Bestim- mung der Pneumonie gemeint ist, ergiebt sich aus dem folgen- den Satz: ..Der tartarus stibiatus muss sie (die Pneumonie) immer und überall heilen, wenn er das specifische Heilmittel der Pneumonie ist." (Dietel. Zeitschrift der Gesellschaft der Aerzte zu Wien, 1845). Der therapeutische Nihilist hat dem- nach, wenn er auch den tartarus stibiatus verwirft, den Glan- ben an specifische Heilmittel innerlich noch nicht überwunden. Ihm, Avie auch jedem anderen die Krankheit positiv Auffassen- den bleibt ja auch keine andere Möglichkeit, das reale Ding, Krankheit, gleichsam wie das Unkraut des Ackers auszu- raufen, oder durch specifische, alle anderen Pflanzen unbei'ührt lassenden (lifte zu vernichten. Die Wiener Schule fand keine Specifi.ca. Sie erwarb sich eben grade dadurch ein grosses Verdienst, dass sie tabula rasa machte mit allen, nui* auf (ilauben und Tiadition beruhenden Arzneimitteln. Tu Er- mangelung von Specificis blieb nur noch ein Ausweg, das Un- kraut auszuraufen, oder Nihilismus. Das Besti-eben der Wiener Schule ging denn auch auf ein ..mechanisches Princip", die Producte der Krankheit zu entfernen, wie Dietel sich aus- drückt, der sogar in consequenter Weise den Hydrocephalus durch Punction der Hirnhidile behandeln wollte. Da aber dieses ,, mechanische Princip" in den meisten Fällen sich un- ausführbar zeigte, so war die Aufgabe des Arztes am Kranken- bett das Nihil, die Aufgabe der Natur das Heilen. Genau so radical wie dei- Nihilist über die damaligen Arzneimittel, denkt Behring von den Arzneimitteln der Gegen- wart: ,,Viel Wertvolles haben Kliniker und Aerzte derPharma- cologie nicht zu verdanken!" (^Behring, Serumtherapie TT, 27.) — 1.82 — Das ..meehanisclie Princip'' ist seit der Mitte des Jalir- liimderts wohl gefürdert, aber geg-en die meisten Infectioiis- kranklieiteii ist die cliiriirgisch-mecliauische Beliandlung so aussichtslos wie vor 50 Jahren. Es bleibt demnach nur die .Hottuniig, das Unkraut der Krankheit durch dem Menschen gleichgültige Mittel, speciische Heilmittel, auszutilgen. Beide Eichtungen sind die Consequenzen desselben Irr- tums, der Siibstanziierung der Krankheit zu einem realen un- veränderlichen Ding. — Für die physiologische Auffassung ist Krankheit ein Geschehen, eine Summe von Processen. Es bedarf dalier vom physiologischen Standpunkt aus die Medicin keiner Speciflca, sie recurriert nicht auf ein ,,mechanisclies Princip"' — auf die schon in der Gegenwait übeitriebene specialistisch-locale Behandlung, sondern, da alles llesultat eines physiologischen Vorganges ist, darf sie hoffen, bei fortschreiten- der Einsicht in den Mechanismus dieser Vorgänge Mittel zu finden, mit welchen sie regulierend und fördei-nd einzugreifen vermag. 9. Kapitel. Die wissenschaftliche Definition des Begriffes der Krankheitsursache. Nacli dem Gesetz von der Erlialtung- der Kraft sind die manniofaltigen Bewegunj^en in der Natur nur Modilicationen eines fundamentalen Vorg-angs der Wärme- oder Molecular- bewegung-. In Wärme lässt sich jede Bewegung überführen, Wärme ist das Mass aller Kräfte. Specifisclier Ursachen, be- sonderer Kräfte oder gar Stoffe wie des electrischen Fluidums bedarf die Natui- Wissenschaft nicht mehr. Electricität ist Be- wegung" und wie jede andere ßewegiiug- in Wärme überführbar. Die Einheit aller Naturkräfte wird verbürgt durch das Gesetz von der Erhaltung der Kraft. Nur für zwei Klassen von Naturvorgängen haben speci- fische Ursachen ihre Berechtigung bewahrt. Die erste Klasse, die der geistigen Erscheinungen und deren Veränderungen, liegt völlig ausserhalb des Gebietes der AnAvendbarkeit des obersten Naturgesetzes und wird demselben niemals unter- worfen werden können. Denn die geistigen Gebilde sind ohne räumliclie Ausdehnung. Es giebt keine grossen und kleinen P'arben. Gerüche etc. Empfindungen und Begriffe können daliev auch keine räumliche Aenderung erleiden, weil sie unräumlich sind. Der Begriff der Pflicht kann sich nicht von rechts nach links bewegen. An sämtlichen geistigen Dingen ist nur eine rein zeitliche Veränderung, ein Aufeinanderfolgen oder Zugleicli- sein wahrnehmbar. — Eine Molecularbewegung hingegen be- steht in einer Aenderung der räumlichen .Stellung der einzelnen Molecüle. Nur füi" die i-äumlichen Bewegungen, für Bc- — 184 — wegiiu^eu im eigeutlicheu Sinne g-ilt das oberste Naturgesetz. — Wer behauptet, Emplindung gelie aus Molecularbewegiing- des Gehirns hervor, lässt eine räumliche Bewegimg in eine rein zeitliclie übei-gehen, lässt die Molecularbeweguug aus dem Raum verschwinden. Für menschliches Begreifen heisst das, Kraft in Nichts verschwinden lassen, und das höchste Naturgesetz durch- brechen. (F. A. Lange, Gesell, des Materialismus, II. Buch, II. Abschnitt). — Es ist daher vom Standpunkte der Wissen- schaft notwendig, dass das g-eistig-e Geschehen specifischen Ur- sachen zugewiesen wird. — Die zweite Klasse von Dingen, für deren Entstehung speciflsche Ursachen angenommen werden, sind die Organismen. Jeder Organismus stammt von einem Organismus, aus einem organischen Keim. Die lebenden Wesen stehen keineswegs ausserhalb des Geltungsbereichs des Gesetzes von der Erhal- tung der Kraft; im Gegenteil, alle an ihnen wahrgenommenen Veränderungen unterliegeu demselben ausnahmslos. Auch dass die Entstehung eines organischen Wesens durch physicaliscli- chemische Kräfte allein unmöglich sei, wäre eine unwissen- schaftliche dogmatische Ansicht. Denn die Frage nach dem, was möglich ist, hat jede Wissenschaft abzuweisen. Specilische Ursachen alles Lebenden sind aus methodischen Gründen notwendig. Es soll Aufgabe der Forschung sein, nach den specifischen Ursachen der Organismen in jedem Falle zu suchen, und sich niemals bei etwaigen Schwierigkeiten mit der bequemen Annahme einer generatio aequivoca zu begnügen. — Abseits von den Wegen der AVissenschaft fristet noch eine Art specifischer Ursachen ein zähes Leben, Zeugen einer längst überwundenen Denkweise: Die übersinnlichen Ursachen. Mit Erstaunen kann man in der Gegenwart noch von Heilung durch Teufelaustreibung, von Krankheitserzeugungen durch „bösen Blick" etc. lesen. Und auch die herzlos uncliristliche Ansicht von der Sünde als Ursache von Krankheiten, speciell von Geisteskrankheiten, findet noch einflussreiche Vertreter unter Nichtmedicinern. — Naturwissenschaft hat es nur mit Er- fahrungsgegenständen zu thuii. Da Uebersinnliclies nie Gegen- — 185 — stand der Erfaliruug wii-d, kann es auch von keiner Natur- wissenschaft, also aucli niclit von der Medicin, erforscht werden. Es ist sogar ein Gebot der Pflicht für dieselbe, niemals Ueber- sinnliches in den IJereich ihrer Erörterungen zu ziehen. Es geschieht dergleiclien doch lediglich, wie Kant sagt, wenn die faule Vernunft (ignava ratio) zu bequem ist, bei Schwierigkeiten die eigene Thätigkeit zu steigern. — In der Medicin der Ver- gangenheit haben übernatürliche Ursachen eine bedeutende Rolle gespielt. Tu der Gegenwart sind sie, wie gesagt, aus dem Reiche der Wissenschaft geschwunden, Aveshalb dieselben weiterei' Erwähnung nicht mehr bedürfen. Wenn demnach auf dem ganzen Gebiet der Naturwissen- schaft nur für Intelligenzen und Organismen specifische Ursachen notwendig und berechtigt sind, so müssen die Bacterien als specifische Ursachen von Krankheiten entweder Keim eines Organismus oder einer Intelligenz sein. In völliger Ueberein- stimmung mit diesem Resultat befindet sich das Ergebnis des vorigen Kapitels, in welchem der Nachweis geführt wurde, dass die Krankheit als ein Parasit, ein Mensch im Menschen gedacht wird. — Bacterien als specifische Krankheitsursachen sind nichts anderes als entwicklungsfähige Intelli- genzen und Keime von Krankheitswesen. — Aber — wird man vielleicht einwenden — Bacterien sind Bacterien und bleiben Bacterien. Bacteiien sind schon an sich Microorganismen. Unmöglich können sie zugleicli der Keim eines anderen Dinges, dei- Krankheit, sein! Wenn dem so wäre, so hätte man doch schon aus den Reinculturen das neue Wesen, dessen Keim der Bacillus sein soll, die Krankheit ent- stehen sehen müssen. Und nun erst die aus einem Bacterium entstandene unbegrenzte Zahl derselben zu einem einzigen, in- telligenten Weesen vereinigen zu wollen, sei doch schon wahre Tollheit. Allerdings! Aber es handelt sich ja gar nicht um die Frage, was die Bacterien sind, sondern als was sie in ihrer Rolle als specifische Ursachen der Infectionskranklieiten gedacht Averdeu. Und in dieser Rolle werden sie eben als organischer Keim und Intelligenz gedacht. — ' ^ 1h6 — Eine der Winzeln dieses Irrtums liegt in dem irreführenden, niemandem klar bewnssten Dualismus von Organismus und Körper, nicht von Körper und bewusster Seele. Letzterer ist eine aus dem Gefiilil des Kranken, ersterer eine aus der wissenscliaftlichen Beti'aclitung des Lebenden entspringende Deutung. Jede wissenschaftliche Beschäftigung mit den Problemen der Biologie zwingt mit Notwendigkeit, - und hat auch die Forscher der vergangenen Zeit gezwungen ~ den mensclilichen Körper als einen Organismus zu betrachten, als eine Einheit. Nur allein durch ihre Beziehung zu dieser Einheit, durch ihren Zweck innerlialb des Ganzen sind die Teile eines Körpers zu verstehen. Causal-mechaniscli kann der Körper nicht nur nicht erforscht^ sondern nicht einmal beschrieben werden. Man ver- suche nur, das menschliche Auge zu beschreiben, ohne sich von dem Begriffe des Organismus, der Einheit, innerhalb welcher das Auge ein Organ ist; einen bestimmten Zweck zu erfüllen und eine bestimmte Function auszuüben hat, leiten zu lassen, — und die Unmöglichkeit wird sofort klar werden. Der Be- griff der Function, der zweckmässigen Thätigkeit eines Organs legt nun die Gefahr der Personiflcation sehr nahe; denn ein zweckmässiges Handeln ist das Privilegium von Persi)nlich- keiten. In der Tliat sind denn auch derartige vergeistigte Func- tionen die Spiritus und archaei der Alchymisten, z. B. der innere Alchymist des Paracelsus, welcher im Magen sitzt und aus den eingefülirteu Nahrungsmitteln das Brauchbare von dem Un- brauchbaren, den Giften, scheidet. Desselben Ursprungs sind auch die vielen spirituS; deren sich der „Erneurer der Natur- Avissenschaften", Baco, zur Erklärung der Natur Vorgänge be- diente, Geister, welche auf die menschlichen Geister durch Sym- pathie und Antipathie einwirken können, wie denn auch Baco au die Wirksamkeit des ..bösen Blicks" glaubte (Fr. A. Lange, Gesch. des Materialismus I. Buch, IT. Abschnitt, III. Kap.). Selbst heute noch treiben die ..Lebensgeister im menschlichen Körper ihr überflüssiges wenn auch harmloses Spiel. — •— 187 — Einen gewaltigen Fortschritt brachte das System des Aninüsmiis von Stahl, in welchem der Begrift' des Körpers als eines Organismus, einer Einheit, zum ersten Male in gross- artiger Weise zum Ausdruck gelangte. An die Stelle der vielen Lebensgeister trat hier die Seele (anima), als einheitliche Leiterin der Thätigkeit des Körpers. Die Seele ist die Trägerin der harmonischen Einheit aller Körperfunction ; sie kämpft für den Bestand des Körpers während einer Krankheit. Die meisten Erscheinungen während eines Krankseins sind zweckmässige Abwehrversuche der Seele. Verwerflich ist es daher, das Fieber zu bekämpfen, eine Ansicht, welche heute wieder an Verbreitung gewinnt, zur Zeit der küustlichen Herbeiführung von Fieber in Gestalt von Tuberculinreaction sogar allgemein wai*. — Nur in der einheitlichen Leitung der Seele iiat der Organismus Bestand; verlässt sie beim Tode den Köi-per, so ist die Einheit desselben zerstört. Der Körper ist kein Organismus mehr, sondern Materie, wie alle Materie, und zerfällt in seine elementaren Bestandteile. — So hatte der Begriff der Einheit einen scharfen Ausdruck erhalten; zugleich war aber durch die Hervorhebung eines besonderen, beseelten, vom Körper getrennten Princips ein Dualismus von Organismus und Körper entstanden. Un- klar blieb in dem StahTschen System, ob die anima, die Leiterin des Körpers, von der bewussten Seele getrennt oder mit ihr identisch gedacht war. Doch scheint Stahl trotz vieler Schwankungen und einer Vermischung beider Begriffe durch- gängig an ein besonderes Princip — er spricht sogar von einer anima vegetativa — gedacht zu haben. — Eine schärfere Tren- nung beider Principe der vegetativen und bewussten seelischen Einheit gelangte in der Folge in dem Begriff der Lebenskraft zuui Ausdruck. Hinter diesem abgeblassteu Ausdruck der Lebenskraft verbirgt sich die anima vegetativa Stahl's. — Auch die Lebenskraft ist die Einheit des Organismus, aber getrennt vom Körper und beseelt. Als ein mit bewunderungswürdiger Technik ausgestattetes Wesen fügt und erhält sie die Elementar- bestandteile, welche ohne Wirkung der Lebenskraft nie ver- einigt bleiben würden und bei ihrem Erlöschen ^sofort sich — 188 — Avieder treuuen, zu einer Einlieit, zu eiueui lebeiuKgen Org-auis- nuis zusammen. — Uns, dem lebenden Geschlecht, ist nicht mehr die Lebens- kraft oder gar eine Seele Träg-erin der Einlieit des Körpers. M ir finden die Einheit in dem Organismus selbst. Wenn wir somit niclit mehr die Sprache Stahls reden, su haben wir trotzdem das Denken in den Begriffen dieses Mannes noch niclit abgelegt. Lebenski-aft, ()rgani.snnis . und wie die Be- zeichnungen nucli heissen mögen, alles sind nur andere Namen für dasselbe Ding; aucli wir denken den Organismus noch als eine anima, denn auch wii- liaben den Dualismus von Organis- nuis und Körper noch nicht überwunden. Kinen grossen Teil der Schuld trägt wiederum die Sprache. Wir können die Action des Organismus nicht anders austlrücken als dadurch, dass derselbe zu einem handelnden Subject eines Satzes gemacht wird. Bei der Neigung, das Subject eines Satzes zu einer Substanz, zu einem Dinge zu erheben, wird der Organismus zu einem Ding, und, wegen der Nebenbedeutung des Zweck- mässigen, Einheitlichen des Begriffes Organismus, zu einem beseelten nach Zwecken liaudelnden Princip. Als solches ist er getrennt vom Körper, der als eine nahezu tote Masse gedacht wird, Avelche nur durch beständige Heize des Organismus in Thätigkeit gehalten wii'd. Der Begriff des Beizes enthüllt auf das Klarste die unbewusste Auffassung des Organismus als eines intelligenten, den K("»rper dirigierenden Princips; denn nur ein beseeltes A\'esen kann reizen. Niemand vermag sich einen Stein in solcher 'fliätigkeit vorzustellen. — Da nun die Organe nicht selbständig thätig sind, sondern nur in Function erhalten werden durch die vom Organismus aus- gehenden physiologischen Reize, so ist es einleuchtend, dass dieselben auch jedem anderen sie treffenden Reize gehorchen müssen. Wie viele Abführmittel giebt es'. Und alle sollen nur durch Reizung der Darmmusculatur wirksam sein! Und fragt man, wie die Bacterien als Ursache der Infections- krankheiten wirken, so lautet die Antwort: Durch Reizung und Lähmung dieses odei- jenes Organes. Sie üben alsd eine — 189 — Tliätigkeit in verstärkter oder liemiueiider Weise aus. welche vordem von dem vergeistigt gedachten Organismus geleistet wurde. Infolgedessen werden sie ebenfalls vergeistigt und zu planmässig liandelnden Wesen erhohen. - AVas so erstaun- lich schien, ist also docli wahr: Bacterien als specitische Ursache von Krankheiten werden, resp. können nur gedacht werden als Intelligenzen und zwar im einzelnen Krankheits- falle nicht als so viel Millionen Intelligenzen, Avie etwa Bac- terien vorhanden sind, sondern als eine einzige, einheit- lich handelnde. Thatsächlich geschieht dies unter der Vor- stellung des feindlichen Angriifs der Bacterien, einer gleichsam nur von einem Willen beseelten Kämpferschar. Kerner werden die Bacterien gedacht als der Keim, aus welchem sich der Parasit Krankheit" entwickelt. Der Entfal- tung des Keims parallel geht daher auch die Schwere der Krank- heitserscheinungen. — Wie mächtig in dunkler Weise diese Vorstellung eines im menschlichen Körper wachsenden feind- lichen Wesens die Gedanken beherrscht, geht deutlich aus dem Umstände hervor, dass die gleiclimässige Zunahme der Inten- sität der Krankheitserscheinungen und der Zahl der Bacterien als ein Beweis für die pathogene Eolle der Bacterien selbst bei solchen pathologischen Processen erklärt wird, in denen dieser Parallelismus allein schon ein hinlänglicher Beweis sein musste, dass die betreffenden Bacterien die Krankheitsursache nicht sein können. So soll z. B. die speciftsche aetiologische Function des Kommabacillus bewiesen sein dadurch, dass der- selbe sich bei allen Fällen von Cholera, nur bei Cholera, findet, und seine Vermehrung Hand in Hand geht mit der Entwicklung der Krankheitserscheinungen. In Wirklichkeit beweist das Hand in Hand gehen von Cholerasymptomen und Bacterien- verniehrung, dnss die Kommabacillen unmöglich die Ursache der Cholera sein können. Denn wie ist es denkbar, dass Bac- terien, welche, wenn auch nicht vernichtet, doch in ihrem Wachstum ausnahmslos auf bewegtem Nährboden behindert sind, sich in dem stürmisch bewegten Darm Cholerakranker ver- mehren können, und zwar um so schneller, je intensiver der — 190 — Nälirbodeii bewegt ist? Ihid weiter 1 Wie ist denkbar, dassje lieftio-er die Diarrhöen, je mehr Bacterien nach aussen befördert werden, \\m so grösser ihre Zahl wird? Dei gleichen Widersprüche werden ruhig ertragen, wenn nur die Cholerabacterien in die Rolle des fremden parasitischen Wesens hineinpassen. Zu diesem Zweck musste, da der p:ntfaltung der Parasiten die Intensität der Kranklieitssymptonie entsprechend gedacht wird, der Parallelismus, das Hand in Hand gehen von Bacterien- wachstnm und Krankheitserscheinungen für jeden augeblich pathogenen Bacillus gefordert und nachgewiesen werden, gleich- giltig ob die biologischen Eigenschaften der Bacillen, wie in dem angeführten Falle des Kommabacillns, dieser Polle wider- sprechen oder nicht. Eine Bestätigung der bisherigen Auseinandersetzung lässt sich dadurch bringen, dass von einem andern Ausgangspunkt aus dasselbe Resultat gewonnen wird. Der in der Medicin gebrauchte Begriff einer Wirkung ist nicht der wissenschaftliche. Auf die Frage nacii der Wirkung des Kommabacillus wird jeder, der nicht durch die Frage stutzig geworden ist, antworten: Cholera. Die Ursache der Cholera ist der Kommabacillns. Die AVirkuug des Komma- bacillus ist natürlich Cholera! Man darf — so übertrieben es auch klingen mag — mit gutem Recht behaupten, dass dieser einfache Satz ein schlimmes Verhängnis für die Medicin gewesen ist, und dass aus ihm die gesamte moderne Specifitäten- Lehre mit notwendiger Couse(j[uenz entstanden ist. — Wenn der Kommabacillus Cholera bewirkt, um bei diesem Beispiel zu bleiben, so ist die Wirkung, Cholera, etwas, was bis dahin noch nicht existierte, etwas völlig Neues. Und zwar wird dieses Neue als ein Ding gedacht wie das vorige Kapitel zeigte. Die Ursache der Cholera müsste demnach eine schöpfe- rische Kraft besitzen, sie müsste ein neues Ding erzeugen können oder eine neue Eigenschaft eines Dinges. — Da aber für den menschlichen Verstand alle Dinge materiell sein müssen, und da das Quantum der Materie nicht vermehrt, noch ver- mindert werden kann, so ist es unmöglich, dass durch eine tlr5>aclie ein neues Ding- bewirkt wird. Alles scheinbare Neii- eutstelien ist nur eine Veränderung der letzten Snbstanz der Materie. Eine nene Eigenschaft eines Dinges kann ferner durch eine Ursache ebenfalls nicht geschaffen werden. Denn Eigenschaften sind eben das, was einem Dinge eig-en ist. Keine Ursache vermag- dem Ding' neue Eigenschaften anzuhängen, und wenn der Augenschein doch hierfür zu sprechen scheint, z. B. die Sonne dem Stein doch eine neue Eigenschaft, die Wärme zu erteilen scheint, so ist dies eben nur Schein, wie gleich gezeigt werden soll. Erzeugen, in dem Sinne wie ge- wöhnlich die Function einer Ursache gedacht wird, — erzeugen vermag nur eine bewusste Intelligenz. Denn diese allein ist mit der Fähigkeit, neue Dinge zu schaffen, ausgestattet. Er- zeugende Kraft legen wir ferner dem organischen Keime bei, nämlich die Kraft zur Schöpfung eines neuen Exemplars einer bestimmten Art. Aber diese letztere Art der Erzeugung muss vom Standpunkte der fundamentalen Wissenschaft, der theo- retischen Ph.ysik, schliesslich nicht als eine Neuschöpfung, sondern lediglicii als eine Veränderung der Materie betrachtet werden. Wenn man demnacli ohne kritische Korrektur dem Zwang der Worte folgend Kommabacterien Cholera verursachen lässt, so kann die Ursache in diesem Sinne wiederum nur eine specifische Ursache, also ein wachsendes vernünftiges Wesen oder Keim eines Organismus sein. Zu ganz anderen Ergebnissen führt der wissenschaft- liche Begriff der Ursache und Wirkung. Ein Körper beharrt so lange in der eingenommenen Lage, bis er durch Einwirkung einer äusseren Ursache in Bewegung versetzt wird. Die Wirkung einer Ursache ist ein Geschehen, eine Aenderung. Aendern kann sich nur ein Ding, also in dem Beispiel der Körper. Welche Aenderung des ruhenden Körpers ist die Wirkung? Man darf nicht sagen: Die Bewegung. Denn diese ist im Sinne des Beispiels ein neuer Zustand, und keine Aende- rung. Die Wirkung soll nicht ein durch die Ursache geschaf- fener Zustand, sondern ein Vorgang, eine Aenderung sein. Die AVirkuu.t;- einer äusseren Uisache auf eiuen ruhenden Körper kanu daher nur das U ebergehen des Körpers aus dem Zustand derKuhe in den der Bewegung- sein. Wirkung einer Krank- lieitsursache in wissenschaftlichem Sinne ist dasUeber- gelien des Organismus aus dem Zustand normaler in den an ur mal er i^^mction. eine Definition, welche sofort zu einer i)liysiologischen Auffassung führt und liierdurch, sowie durch ihre Uebereinstimmung mit dem wissenscliaftliclien Be- griffe der Kiankheit als abnormer Tiehensprocesse, ihre wissen- schaftliche Richtigkeit bewtdst. Es bedarf noch der Feslstelhmg des Begriffs der Ursache. Die Verknüpfung von Ursaclie und Wirkung setzt eine Walir- nehmung zeitlich aufeinander folgende]- Erscheinungen voiaus, von denen die zeitlich vorhergehende die Ursache, die folgende die Wirkung ist. Indessen nicht jede 8uccession von Wahrneh- mungen wird nach dem Begriff \H>n Ursache und ^^'irkung verknüpft. Bei der ^^'ahl'nehmung der einzelnen Teile eines Hauses kann ich ,, zuerst von der Spitze desselben anfangen und beim Boden endigen, oder auch von unten anfangen und oben endigen, imgleichen rechts oder links etc.'' (Kant, Kritik der reinen Vernunft, Kirchmaun'sche Ausgabe. 7. Aufl. pag. 211.) Die Succession der ^^'ahrnehnlungen ist in diesem Falle völlig gleichgiiltig. Sind aber aufeinander folgende "Wahrnehmungen durch des Verhältnis von Ursaclie und Wirkung mit einander verknüpft, so ist diese Verknüpfung eine notAvendige, so ist es nicht mehr möglich, wie in dem Beispiel des Htiuses, die Stellung des zeitlich Folgenden mit der des Vorhergehenden beliebig zu vertauschen, denn die Wirkung kann nicht vor der Ursache sein. Sobald zwei Erscheinungen dem Begriffe von Ursache und Wirkung untergeordnet sind, sind sie in eine be- stimmte zeitliche Ordnung eingetreten, ist ihr Verhältnis das einer notwendigen Verknüpfung; denn, ..alles, was geschieht (anhebt zu sein), setzt etwas voraus, worauf es nacli einer Regel folge". (Kant, Kritik d. r. V. pag. 207.) Die Ursache ist daher die Bedingung, auf welche die Wirkung mit Notwendigkeit erfolgt, ist die der Wirkung zeitlich immer vorhergehende Erscheinung. Der leUiereii Bestinumiufi- sclieiuen iiiiii viele Kisclieüiuii- ,i;en /.u widerspreelieu : denn „der g'riisste Teil der wirkenden rrsiichen in der Natur ist mit ihren Wiikiingeii zugleicli. nnd das Gesetz gilt doeli" ( Kant, K. d. r. p. 218.) Dieser AVider- si)rncli löst sich dadurch, dass es bei der \'erkniiiit'ung der ?]r- sclieimmgen nach Ursache und Wirkung- nicht auf den tliat- sächlichen Ahlanf, sondern nur auf die Ordnung in der Zeit ankommt. .,Das Verhältnis hleiht, ■\veiin gleich keine Zeit verlaufen ist. Die Zeit zwischen der Kansalität der Ur- sache und deren nnmittelliaren A\'irkung kann A'erschwindend sein; aber das A'erhiiltnis der einen zur anderen bleibt doch immer der Zeit nach bestimmbar.'" (Kant. K. d. r. V.. [). 218.) Der g-eheizte Ofen nnd die warme Luft des Zimmers sind gleichzeitig; dennoch ist das Verhältnis beider zeitlich so ge- ordnet, dass die warme Ijuft nicht Ursache des geheizten Ofens sein kann. A\'irkung" ist Veränderung einer Substanz. Die Not- wendigkeit dieser Veränderung wird durch die Ursache bedingt. Es fragt s'ich noch, wo die Bedingung, die Ursache, zu suchen ist. An der sich ändernden Substanz? Vertreter des dogma- tischen Monismus, welche die gesamte Natur belebt und beseelt sein lassen, suchen die Ursache der Naturvorgäuge in inneren Ursachen, welche nur Gefühle und Willensregungen sein können. Häckel meint, dass die Bewegung der Atome bei Bildung und Auflösung von Verbindungen nur erklärbar sei, wenn wir ihnen Emptindungen und Willen beilegen. In der Annalnne innerer Ursachen der Naturvorgänge scheiden sich aber, wii; an vielen anderen Punkten, die AVege der Wissen- schaft streng von denen der monistischen AVeltanschauung. Die gesamte Naturwissenschaft beruht auf dem Gesetz der Trägheit der ^Faterie, welches besagt, dass jeder Jv<)rper in dem einmal eingenommenen Zustand beharrt, bis durch eine äussere Ursache eine Aenderung desselben bewirkt wird. Alle Be- wegung hat eine äussere Ursache AVer Bewegung durch A^'illensäusserung der beAvegten Dinge erklärt, der muss auch die Älöglichkeit zugeben, dass die Dinge einmal anders wollen, 13 — 194 — dass der Mond z. B. sich eiues Tages einmal nicht mehr um die Erde drehen wolle. — Die Anuahme innerer Ursachen für Bewegungen ist der Tod der Naturwissenschaften. Für diese giebt es nur äussere Ursachen. Alles was existiert ist nun entweder eine Substanz, ein Ding, oder Eigenschaft, Bestimmung einer Substanz. Die Ursache muss daher an einer zweiten Substanz zu finden sein, ist aber weder die Substanz selbst, noch Eigenschaft an der- selben; sie ist die Causalitcät einer Substanz oder eine Function, eine Handlung, eine Kraft derselben, — Ausdrücke, welche alle nocli einen Rest von Anthropomorphismus entlialten. Gegen die Lehre von der Causalität als einer notwendigen zeitlichen Verknüpfung ist häufig eingewendet worden, dass es in der Natur eine Reihe von aufeinander folgenden Erschei- nungen giebt, welche mit Notwendigkeit aufeinander folgen, ohne doch im Verhältnis von Ursache und Wirkung zu stehen. Auf jeden Tag folgt notwendig eine Nacht. Deswegen sei der Tag noch nicht Ursache der Nacht. Der Einwurf erledigt sich sehr einfach dadurch, dass die Ursache Function einer Substanz und Wirkung Aenderung einer zweiten Substanz ist. Sind denn Tag und Nacht Dinge oder sind es vielleicht nur ver- schiedene Zustände eines Dings? Im letzteren Falle muss die Ursache des Wechsels der Zustände dieses Dinges noch gesuclit werden. Die Sonne ist durch ihr Leuchten die Ursache, dass die rotierende Erde aus dem beleuchteten Zustand Tag in den lichtlosen Zustand Nacht regelmässig übergeht. Eins der wichtigsten Argumente für die pathogene Rolle der Bacterien stützt sich auf die regelmässige Coincidenz von bestimmten Bacterienformen mit bestimmten Krankheiten. In vielen Fällen ist dieses Zusammentreffen sogar das einzige Argument für die aetiologische Function der Bacterien. Z. B. fehlt beim Diphtheriebacillus der Parellelismus von Krankheits- intensität und Bacterienwachstum ; ferner findet sich der Diph- theriebacillus auch bei anderen Krankheiten und sogar bei Gesunden, weshalb man schon von Dipktheriekranken und Diplitheriegesunden gesprochen hat. Nahezu constant nun ftiidi't sicli der Löf fler' sehe Bacillus bei allen Diplitlierie- krankeii. l iid dieses constaute Ziisanimeutreffeii luuss daher .«••euiig-en zum Beweis, dass die LötFler'schen Bacterieii Ursache der Diphtherie sind. \\'ie mit dem Lüttler'sclieu, so verhält es sich auch mit dem Koch "scheu Kommabacillus. Demi das Hand in Hand Gehen von Eacterieuzahl und Schwere der Erkrankung bei Cholera ist keineswegs ein Gesetz, sondern eine Oonstrnction. Auch beim Kommabacillus bleibt die Hauptstiitze des Beweises seiner specifischen krankheitserregenden Function sein nahezu regelmässiges ^'orkommen iu jedem Cliolerafall. „Diese innige Beziehung" — heisst es in einem bacteriologischen Lehrbuch — ..konnte nur die von Ursache und ^^'irkung sein und nur eine Gegnerschaft, welche nicht sehen wollte, vermochte dies noch zu bestreiten." .Sind denn etwa diese Beziehungen inniger als die zwischen Tag und Nacht? Doch wohl nicht; das gleich- zeitige Auftreten von Bacterien und Ki-ankheiten beweist allein noch keine causale Beziehung zwischen beiden. Bevor iiber etwaige causale Beziehung etwas ausgemacht werden kann, bedarf es einer Untersuchung, ob die Bacterien und der kranke Körper verschiedene Substanzen sind, oder ob nicht die Bac- terien, da sie vorwiegend im menschlichen Körper gefunden wurden, nicht zum menschlichen Körper gehören. Denn wäre letzteres der Fall, so müsste die Frage lauten, durch welche Ursache der Körper, resp. die Körperzellen, in Bacterien und andere Zerfallsproducte übergeführt wird. — Diese Möglichkeit hat man, trotzdem die bisherigen Erklärungen der Bacteriologie bei jedem Schritt auf uniiberAvindliche Schwierigkeiten stiessen, nicht nur nicht erörtert, man hat nicht einmal an Derartiges gedacht. Der Mangel an wissenschaftlicher Klarheit über den Causalitätsbegriff rächt sich dadurcli, dass die Pathologie ahnungslos au der i'ichtigen Erklärung des Zusammenhangs von bestimmten Bacterienformen und l)estin)mten Krankheitsprocessen vorbeigegangen ist. Wenn es somit immer zweifelhafter wird, ob die Bac- terien die Ursachen der Krankheiten sind, so müssen als solche — 196 — (4ifte augenomuieu werden. — (4ifte? Waruiii? A\'eil irgend eine Ursaclie die Krankheiten doch liahen müssen V Keines- weg-s! Die Krankheiten bedürfen keiner Ursachen, weil sie nicht existieren. Es gieht in Walirlieit nur Lebensprocesse, welche wir als anormale ansehen. Eine Krankheitsursache im wissenschaftlichen Sinne ist die Bedingung, und zw^ar die äussere Bedingung, w^elche ein Uehergehen des Organismus aus dem Zustand normaler in den Zustand anormaler Function notwendig- macht. Wes- halb diese Bedingung durchaus ein Gift sein muss, ist nicht einzusehen, wohl aber liegt der Verdacht nahe, dass das Gift Avieder der Keim des „Menschen im Menschen" ist; und dass es als ein ganz bestimmtes, für jede Krankheit wieder specifisches gedacht Avird, — Auch eine positive Krankheitsursache als einzig mögliche gedacht, hat zu ihrer geheimen Voraussetzung* das positive Krankheitswesen. — Betrachtet man das Leben als einen Process, als eine Bewegung, und zwar als eine im Gleichgewicht befindliche Be- wegung aus mannigfaltigen zum Teil einander entgegenwirken- den Factoren, so kann die Harmonie aller functionierenden Teile gestört werden in gleicher Weise durch eine Negation, eine Schwächung, Avie durch einen positiven ZuAvachs und ein UeberAviegen irgend eines Factors. Nimmt doch jetzt schon eine negative Krankheitsursache in der Aetiologie eine Avichtige Stellung ein: Die Erkältung. Der Laie denkt sich hierbei die Kälte zAvar positiv, als eine Schädlichkeit, Avelche auf seinen Körper einstürmt. Für natur- Avissenschaftlich Gebildete bedarf es indessen keines BcAveises, dass ein kalter Luftstrom nichts positives auf den jMenscheu überträgt, sondern ihm etAvas raubt, nämlich Wärme. Wer also Erkältungen annimmt, für den ist es klar, dass Krank- heiten durch Verminderung eines zum Leben uotAveudigen Ein- flusses ausgelöst Averden können, resp. für den Avürde dies klar und selbstverständlich sein, Avenn sein Denken nicht gänzlich von der Vorstellung des Parasiten Krankheit in Fesseln gelegt wäre. Diesem positiven Krankheitsgebilde zu — 197 — Liebe imiss als dessen Ursache die Kälte auch iu etwas Positives umgedeutet werden, was Wirkungen entfalten, besonders aber den Organismus reizen kann. — Kann denn der Kältereiz ge- leugnet werden? Der Vorgang als thatsächlicher kann natür- lich nicht geleugnet werden ; aber seine Deutung als eines Reizes ist anfeclitbar und muss angefoeliten werden, wenn ver- gessen wird, dass das Wort „Reiz" eine Uebertragung aus dem geistigen Leben auf das rein körperliche ist. — Auf der Haut, resp. an deu ghitten Muskelfasern der Hautgefässe, tritt durch Wärmeentzielmng eine Gleichgewiclitsstörung ein, welche zur Contraction der Gefässe führt. Dem widerspricht anscheinend, dass Contraction der Blut- gefässe durch Kälte doch nur eine rein functionelle Wirkung sei, noch keine Gleicligewichtsstörung voraussetze. Diese rein functionelle Beeinflussung werde ja grade mit Reizung be- zeiclinet. — Hierin, in dieser Aulfassung, liegt der folgenschwere Irrtum, dass der Organismus das functionerregende, reizende, vergeistigte Agens sei, und als solches auch durch eine unendliche Menge anderer .\gentien, die Krankheitsagentien, ersetzt werden könne, welche die trägen Organe ebenfalls durch Reizung zur Thätigkeit vei anlassen. Der Begriff" der Reizung als einer rein fuuctionellen Beeinflussung widerspricht dem ,, anatomischen Gedanken". AVie für jede pathologische Function eine patholo- gische Veränderung der Zellen, ebenso notwendig muss auch für jede normale Function eine nachweisbare Veränderung der functionierenden Organe gesucht werden. Betrachtet man die Teile eines ruhenden Organs als im Gleichgewicht befindlich, so muss jede Veränderung, also auch jede normale Function des Organs eine Störung des Gleichgewichts bedeuten. Der anatomisch- physiologische Gedanke verlangt, dass die gleiche Function durch die gleiche Veränderung der functionierenden Teile bedingt ist und nicht, dass ein Oi'gan auf hunderterlei Weise reagieren kann. Alles, was auf einen Muskel reizend wirkt, veranlasst Contraction desselben, veranlasst daher in Consequenz des anatomischen Ge- dankens dieselbe anatomische Veränderung im Muskel. Selbst electrische Reize des Muskels können nur indirect eine Con- — 1Ü8 — tractiou desselben auslösen indem sie die gleiche anatomische resp. cliemische Aeuderung- des Muskels herheiführeii. welche jeder Zusammeuziehnng- des Muskels zu Grunde lieg t. Dass die Faradisierimg- dei- Musculatur thatsächlich zu einem Zerfall von Zellsubstanzen führt, nicht rein functiouell wirkt, geht aus den sehr sorgfältigen Beobachtungen W. Mitchell's hervor, der nach electrischer BehandUmg- der Körpermusculatur ein Steigen der Temperatur in den nächsten 1—2 Stunden beob- achtete. (Neurasthenie und Hysterie von W. Mitchell, Berlin, 1887). Demnach ist auch der sogenannte Kälter ei z zur Er- klärung der Contraction der Gefässe etc. entbelirlich. Wie jede Function auf einer vorübergehenden Aufhebung" des Gleich- gewichtes beruht, und zwar auf einer stoiflichen Aenderung- der organischen Substanz, so kann auch Kälte, d. Ii. Wärme- verlust eines bestimmten Organs oder des ganzen Körpers, zum Zerfall von Körpersubstanz führen, welcher je nach der Inten- sität des Zerfalls Auslösung normaler Function, Auslösung pathologischer Folgen, Zerstörung des Lebens der Zelle und Gangrän bedingen kann. So liefert die richtige Deutung einer alltäglich con- statierten Krankheitsursache, der Erkältung, den Beweis, dass Krankheit entstehen kann ohne positive schädigende Ursache, lediglich durch Entziehung, Verringerung der Eigenwärme des Körpers, dass eine Krankheit nacli einmaliger Wärmeentziehung' längere Zeit dauern kann, dass während dieser Zeit ein fremdes schädigendes Agens im kranken Körper nicht wirksam zu sein braucht, sondern dass Krankheitsprocesse Lebensprocesse, func- tionelle Bethätigungen der normalen Kräfte des Organismus sind. Wenn Krankheit nicht mehr als eine Entität, als ein reales Wesen, sondern als ein Vorgang, ein Process, eine Be- wegung aufgefasst werden muss, so bedarf es aber auch, falls positive Momente für die Störung des Gleichgewichtes angenommen werden, keiner Gifte, keiner so groben greifbaren Dinge, wie wir anzunehmen pflegen. Im Zeitalter der Kraftübertragung giebt es doch Hunderte von Beispielen, dass durch die geringfügigsten Ursachen die gewaltigsten AVirkungen lierbeigefiihrt werden — 199 — köimeii. Durch Druck auf den Kuopf einer electrisclieu Leitung- werden Maschinen in Bewegung- gesetzt, welche Hun- derte von Centnern zu lieben vermögen. Und an ähnlichen Beispielen fehlt es doch auch in der Natur nicht. Unwägbare EinllUsse, ein Sonnenstrahl oder ein leichter Hauch der Luft, ein fallendes Steinclien vermag das Gleicligewiclit der Schnee- niassen im Gebirge aufzuheben, und eine Lawine stürzt zu Thal. Ist das Steinchen Ursache der Bewegung, schiebt dasselbe die gewaltigen Schneemassen vor sich her? Thöriclite Frage. Einmal in Bewegung, geliorchen die bewegten Massen dem Naturgesetz der Schwere. Auch die Krankheit hat keine anderen Ui-sachen als die gesetzmässige AVirkuug der Kräfte des Lebens. Ebenso wenig wie lawinentreibender Kräfte bedarf es zum Ablauf der Kranklieitsprocesse besondei-er Kräfte oder Gifte, welche hinter jedem Symptom, jeder Functionsäusseruug des Organismus als reizende oder lähmende, agierende Wesen stecken, ist das Gleichgewicht der Lebensvorgänge einmal gestört, sind die Lebensbewegungen einmal abgelenkt aus der normalen Balm, so ist Krankheit vorhanden und nimmt ohne nachhelfende Einfliisse unaufhaltsam ihren gesetzmässigen Ab- lauf, bis sie an Einrichtungen des Körpers sich bricht, zum Stillstand kommt, oder bis der überwiegend in Thätigkeit ge- setzte Factor so weit verbraucht ist, dass seine Antagonisten wieder das Gleichgewicht erlangen, oder im ungünstigen Falle l)is die einheitliche Funktion des Körpers unrettbar vernichtet ist, und tödliclies Ende eintritt. Zwecklos sind bei dieser physio- logischen Krankheitsauffassung permanent anwesende Bacterien, oder Bacteriengifte und andere giftige Körper. Die Krank- heit verläuft ohne alle Hülfe. Finden sich Bacterien und gif- tige Stoffe in dem erkrankten Organismus, was niemand leug- nen wird, so sind sie nicht als Ursache, sondern als ein Pro- duct des Stoffwechsels des kranken Körpers zu betrachten. — Krankheitsursachen sind Lebensursachen. Aufgabe der aetio- logischen Forschung ist die Entdeckung der Krankheit aus- lösenden, das Gleichgewicht des Organismus aufhebenden äusseren Einflüsse. — — 2o laiig-e eine Wirkung dauere aucli die Ursache in Fuuctitdi seiu niuss. 2) eiue nur durcli die Belierrscliung des Denkens durch den ßegriiit' des Krankheitsparasiten entschuldbare Anmassung der Vernunft, zu wissen, dass es für jede Krankheit nur eine, die grade gefundene Ursache giebt. — \'or der Erkenntnis, dass Krankheiten Lebensprocesse sind, und dass Lebeusbewegungen wie alle Bewegung durch hunderterlei Einflüsse aus ihrer gewohnten Bahn abgelenkt, werden können, niuss das ganze Gebäude des bacteriologischen S.vstenis verschwinden. Das Zusammentreffen bestinnnter Bac- terien mit bestimmten Krankheiten kann nicht l)e weisen, dass die Bacterien die Krankheit hervorrufen, da man der Ursachen für Krankheiten unendlich viele suchen soll. Die Coincidenz bestimmter Bacterien mit ))estimmten Krankheiten kann nicht als ein Beweis für, sondern nur als ein Beweis gegen die ursachliche Function der Bacterien angesehen werden. Aber stellen wir uns einmal auf den bacteriologischen Standpunkt, dass dort, wo die A\'irkuug w^ahrgenomnien wird, auch die Ui'sache zu finden sein müsse, so ist wohl einleuch- tend, dass bei bestimmten Krankheiten immer dieselben Bac- terien vorhanden sind. Aber warum sollte nicht die Ursache, die Bacterien, auch ohne die Wirkung gefunden werden können? Die Bacteriologie wird antworten, dass dies ja der Fall sei, dass im Strassenstaub, in der Luft und au anderen Orten Bac- terien gefunden werden können, wo eine Zersetzung organischen Materials unmöglich ist. Ein Voi-kommen der Bacterien an diesen Stellen ist aber ein so spärliches, dass man es als zufällig, als eine Ausnahme von der Regel betrachten und bei Beurteilung etwaiger Wirkungen ausser Betracht lassen darf. Kein Uhirurg wird eine Störung der Wundheilung auf etw^aige J^acterien der Luft zurückführen. Die Ursache ist die Bedingung der Wirkung. Letztere tritt ein, wenn die Bedingung realisiert ist, wenn die Ursache wirkt. Wird aber die Bedingung nicht realisiert, wirken die Bacterien nicht ein, so fehlt auch die Wirkung, zersetzt sich - 212 — auch totes organisches Material nicht. Nun ist aber die vierte der vorher aufgeführten Thatsachen die, dass organisclies totes Material immer fault. Die Bactei'iologie muss dalier nachweisen, welclier Factor die Bedingung der Fäulnis reali- siert, und zwar ausnahmslos, welcher Factor jedesmal totes Material und Bacterieu zusammenbringt. Dadurch dass Bac- terien, wenn sie auf geeignetes Material gelangen, Zersetzung erregen, ist noch keineswegs begriffen, durch welclie Ursache die Bacterien immer auf totes Material in der Natur, wo es auch sei, gelangen. Die Frage lautet nicht nach der Ursache der Fäulnis, sondern nach der Ursache, welche die Bedingung der Fäulnis ausnahmslos realisiert; oder anders ausgedrückt: Welches sind die Factoren, welche die Vereinigung jedes toten Materials mit Bacterien zu einer ausnahmslosen machen? Die Bacteriologie giebt, allerdings ohne sich des Pj'oblems klar bewusst zu werden, eine Erklärung, eine Erklärung freilich, wie sie ähnlich vielleicht noch niemals in einer Wissenschaft gegeben worden ist. Die Wissenschaft hat die Aufgabe, zu den einzelnen Erscheinungen das Gesetz zu suchen. Die Bacteriologie hingegen löst das, was schon rein empirisch als unter einer ausnahmslosen Regel stehend erkannt wurde, wieder auf und zudem noch in eine Summe reiner Zufällig- keiten. Die bacteriologische Erklärung der Ausuahmslosigkeit der Regel ist folgende: Bacterien sind Fäulniserreger, welche von aussen an die Stelle ihrer Wirksamkeit gelangen. Die Ursachen, weshalb sie ausnahmslos dorthin gelangen, sind eine lange Liste aller Möglichkeiten, welche die Phantasie nur auszudenken vermag. — Die willkürliche Ausnutzung des Zufalls, das Herbeiziehen jeder denkbaren Möglichkeit mögen einige Beispiele verdeut- lichen. Jeder Urin, welcher der Luft ohne Kautelen ausgesetzt wird, unterliegt einer ammoniakalisclien Zersetzuns", welche regelmässig begleitet ist von der Anwesenheit von Bacterien. Wie wird nun diese ausnahmslose Gälirung und die ausnahms- lose Anwesenheit von Bacterien erklärt? Wie gelangen diese Spaltpilze zu jeder Urinmenge? — Sie kleben_vielleicht an den — 213 — Uriubeliiilteru. lautet die Antwort; oder der Urin kommt mit ii'gend welchem Gegenstand in Berührung, woran Bacterien haften. Genügt diese Erklärung der Ausnahmslosigkeit noch nicht, so muss die Luft die Eolle der Uehertragung spielen, ungeachtet, dass die experimentelle Bacteriologie seihst nachgewiesen hat, wie gering der Keimgehalt der Luft ist. Genügt auch das noch nicht, so macht man die Bacterien einfach allgegenwärtig „ubiquitär", mit welchem Wort die Frage allerdings gelöst wird. Urin gährt dann deswegen überall, weil Bacterien überall sind. Aber selbst das genügt für Menschen noch nicht, weil nur Allwissenheit die Allgegenwart der Bacterien erkennen kann. — Die Erklärung der Verbindung von weingeistiger Gährung des Ti-aubensaftes mit Hefepilzen ist die gleiche, mit lauter Zufälligkeiten rechnende. Als Mittel der Vereinigung herrscht hier die Luft vor mit ihren durchschnittlich 6 Keimen im Kubikmeter. Ob unter diesen sechs Keimen überhaupt Hefepilze gefunden worden sind? Angenommen dies sei der Fall, so haben die übrigen fünf Keime doch sicher die gleichen Aussichten, zum Traubensaft zu gelangen, wie die Hefepilze. Sie müssten also auch eine entsprechende Veränderung des organi- schen Substrates, des Ti'aubensaftes, herbeiführen. Dies ist aber nicht der Fall. Warum nicht? Weil es nicht nötig ist: Alkohol kann vom Hefepilz allein erzeugt werden. Bac- teriologisch wird dies durch die Lehre vom günstigen Nähr- boden ausgedrückt. Traubensaft ist für die Hefepilze ein idealer Nährboden, für andere Bacterien aber ein weniger zusagender. Daher werden letztere durch das üppige Wachs- tum der Hefepilze verdrängt. Dass aber unter den wenigen Keimen der Luft regelmässig ein Sprosspilz sich befindet, war nur eine Annahme und zudem noch eine sehr unwahrschein- liche. Wie nun, wenn es der Zufall einmal wollte, dass Spross- pilze fehlten und irgend welche Spaltpilze, etwa Milzbrand- oder Diphtheriebacterien die Alleinherrschaft auf dem Nälir- substrat des Traubensaftes hätten! Die unangenelime Folge dieses Zufalls könnte sein, dass statt der wundervollen Bacchus- gabe unglückliche Sterbliche Milzbrand- oder Diphtheriegift — 214 — tiiukeii würden. Nur allein vom Zufall kauu es nach heutiger Ansicht abhängen, wenn uns dieses Verhänguis nicht öfter ereilt. Jeder Keim der Luft hat doch die gleiche Aussicht für sicli wie der Hefepilz. Ihn dieser unangenehmen Eventualität zu entgehen, bleibt kein anderes Mittel, als dem Hefepilze die (labe der Allgegenwart, der Ubiquität zu verleihen. Er klebt in Menge immer an der Obertläche der einzelnen Beeren der Traube. Die Frage ist natürlich trotz dieser Antwort genau dieselbe geblieben. Wie gelangt der Keim zu jeder Beere? Und w^aruui gelangen die anderen Keime nicht auch dorthin? Der Zusammenhang von Bacterien und Krankheiten bietet nicht die gleichen Schwierigkeiten, weil immer nur einige Menschen erkranken. Alles tote Material zerfällt. Aber nicht alle Menschen erkranken bei einer Epidemie. Weshalb der eine gesund bleibt, der andere erkrankt, ist für die Wissen- schaft oft, leider nur zu oft, rein zufällig, d. Ii. der causalen Einsicht noch nicht zugänglich. Deswegen aber braucht die Art der Uebertragung der Bacterien auf den menschlichen Organismus noch keineswegs zufällig zu sein, und der übliche Clebrauch alles dessen, was denkbar ist zur Erklärung der Bacterienübertragung, ist damit noch lange nicht gerechtfertigt. Nicht wie ßacterieniibertragung möglich ist — möglich ist dieselbe durch alles, was der Mensch berührt und wodurch der jVrensch berührt wird — , sondern wie dieselbe in Wirk- lichkeit stattfindet, soll erklärt werden. Es giebt zwei Klassen von Krankheiten, die chirurgischen und venerischen, bei denen der Weg der sogenannten Bacterien- invasion bekannt ist. Diese Krankheitsprocesse sind Impfinfec- tioneu und dadurch verursacht, dass auf frische Wunden zer- setztes organisclies Material und Bacterien künstlich durch Hände oder Instrumente etc. übertragen werden. Der Operateur selbst besorgt die Vereinigung von Bacterien und krankhaften Vorgängen. Kein Chirurg wird angesichts einer accidentellen Wundkrankheit an so und so viele Möglichkeiten der Infection denken, besonders nicht daran, dass zufällig Keime aus der Luft auf die Wunde gefallen sein könnten. Er ist von vorn- — 215 — herein überzeugt, dass Bacterien während der Operation in die Wunde hineingetragen wurden. Impfung ist das alle cliirur- gisclien A\'undal¥ectionen mit ihren Bacterien vereinigende Moment. Durch dieses wird die empirisclie Regel der Ver- bindung von Krankheit und characteristisclien Bacterien völlig plausibel erklärt. Ganz anders liegen die Verhältnisse aber bei den eigentlichen Tnfectionskrankheiten, Hier stellt das Aus- denken von Möglichkeiten, wie Bacterien auf den Menschen übertragen werden könnten, in höchster Blüte, und zwar zieht mau im einzelnen Falle alle Möglichkeiten zugleich zur Er- klärung heran. AVie wird z. B. die Ausbreitung einer Cholera- epidemie erklärt? Ist dieselbe so ausgedehnt, dass vielleicht, wie jüngst in Hamburg, täglich 800 Menschen erkranken, so muss das Vehikel der Uebertragung ein allgemeines von jedem Menschen gebrauchtes sein. Dies ist die erste Annahme. Das wären also Luft und Wasser. Die Luft ist nicht heranzuziehen, Aveil Kommabacillen nur als Leichen in die Luft gelangen. Es bleibt also noch das Wasser. Dies genügt, wie es scheint, allen Anforderungen für die Erklärung der Ausdehnung einer Epidemie in modernen Städten, deren Bewohner das Wasser in der Eegel aus einer Quelle, einer gemeinsamen Wasser- leitung entnehmen. — Eine Consequeuz dieser Ansicht müsste, nebenbei bemerkt, die Gefährlichkeit und Verderblichkeit solcher Wasserleitungen sein. — Aber wie war es früher, als eine gemeinsame Wasserversorgung noch nicht existierte und jedes Haus noch seinen eigenen Brunnen hatte? Man kann doch nicht annehmen, dass damals Haus für Haus Komma- bacillen in jeden Brunnen verschleppt wurden. Werden Wasser und Luft als Vehikel ausgeschaltet, so müssen andere mögliche Transportmittel für den Bacillus erdacht werden. An Obst und Nahrungsmitteln kann derselbe haften, ferner an gebrauch- ten Kleidungsstücken Cholerakranker, in deren Dejection der Bacillus fast stets in grosser Anzahl vorkommt. Auch sorgt — wie Fränkel in seinem Lehrbuche sagt — ..der Mensch dafür dass der Kommabacillus nicht zu Grunde geht, indem er die — 216 Dejectioueu Cholerakrariker in Wasser schüttet, nach Möglich- keit verdünnt, mit seinen Fingern auf neue Nährböden über- trägt, die Wäsche damit beschmutzt und den Bacterien so hundert Mittel giebt, sicli unbeschädigt durchzuschlagen, und ihnen liundert Wege erölfnet, sich kampfeslustig weiter zu ver- breiten." Und mit solchen hundert Wegen glaubt man die Verbreitung einer schweren Epidemie zu erklären? Durch tagtäg- liche Wiederholung solcher möglichen Zufälle sollen Hunderte von Menschen erkranken nicht nur einige Tage, sondern Wochen, Monate, ja — in absteigender Intensität freilich — ein halbes Jahr lang? Eine Häufung derartiger Möglichkeiten längere Zeit hindurch Tag für Tag ist eine Unmöglichkeit. Diese Er- klärung ist gradezu absurd und ungeheuerlich für jeden, der einmal versucht hat, sich den Hergang im concreten Falle klar zu machen. Das Operieren mit ausgeklügelten Möglichkeiten ist überhaupt unwissenschaftlich. Möglich ist alles, was den Gesetzen der Vernunft nicht widerspricht, was sich denken und anschauen lässt. Die Aufgabe jeder Naturwissenschaft ist es, untei- den hundert denkbaren Möglichkeiten das Wirk- liche zu finden. Gelingt dies nicht, so erklärt man die Sache für vorläufig dunkel. Das Problematische der Sache wird dann wenigstens nicht vergessen, während bei dem Reden von Möglichkeiten der Gedanke entsteht, ein wirkliches Wissen zu besitzen. Wie mit der Cholera, verhält es sich mehr oder minder mit den übrigen Infectionskrankheiten. Selbst wenn man die methodischen Irrtümer in den Grundlehren der Bac- teriologie völlig übersieht, so ist bei der Auffassung der Bac- terien als Erreger der Krankheiten die ausnahmslose Ver- einigung von Krankheiten und characteristischen Bacterien nicht begreiflich, selbst nicht unter Zuhülfenahme einer Summe von unwahrscheinlichen Zufällen. Die pathogene Rolle der Bacterien war unsererseits nur vorläulig zugestanden, um die Consequenzen dieser Meinung darzulegen. In Wirklichkeit konnte den Bacterien eine patho- gene Function nicht mehr zuerkannt werden. Die Unmöglich- keit der Erklärung der in diesem Kapitel erörterten Probleme — 217 — ist ein Be\veis> mehr, dass die Auffassiiug- der Bacterieii als Urheber der Kranklieiten eine irrige ist. — Es ist öfter — allerdings mehr in mündlicher Erörterung- als in der Litteratur — vermutet worden, die Krankheit sei die Ursache der Anwesen- lieit der Bacterien. dieselbe ziehe die Bacterien gleichsam an. Diese Annahme ist gradezu unsinnig. Denn Krankheit ist seiher eine Verändernng eines Dinges, des Organismus, kann also nur Wirkung, niemals Ursache sein; denn Ursache ist die Fähigkeit eines Dings, Function einer Substanz, Krankheit ist kein Ding, keine Substanz. Der causale Gesichtspunkt muss daher völlig ausser Betracht bleiben. Eine andere Er- klärung des gemeinsamen Aufti-eteus von Bacterien und Krank- heiten muss gesucht werden. Es bleibt nur noch die Möglich- keit, dass bei bestimmten Veränderungen organischer Körper Bacterien von selbst entstehen, oder aber dass sie schon unter normalen Verhältnissen immer in jedem organischen Material vorhanden sind und nur bei A'eränderung desselben deutlich sichtbar werden. Diese beiden Eventualitäten scharf zu scheiden, ist wichtig, weil mit der Negation der ersteren die zweite keines- wegs widerlegt ist. Die erste Annahme, dass Bacterien von selbst bei be- stimmten Veränderungen des organischen Materials entstehen, würde dem Grundsatz der Ausschliessung der Generatio aeciui- voca zuwider sein. Dieser Grundsatz aber muss anerkannt werden, weil ohne denselben das Denken neuen und fremden organischen Gebilden gegenüber leicht der Bequemlichkeit und Willkür anheimfallen und ihrem Ursprung nach rätselhafte Erscheinungen von selbst entstehen lassen würde, ungefähr wie man nocli heute bisher unbekannte Eigenschaften des Blutes nach übei-standener Krankheit nicht als vorläufig problematiscli hinstellt, sondei-n erklärt als Wirkungen eines durch generatio aequivoca entstandenen Heilkörpers. Als Grundsatz ist die Verwerfung der Generatio aequivoca unentbehrlich zurDiscipli- nierung der Vernunft; als eine positive Lehre aber unwissen- schaftlich und Dogma. Denn ob eine Urzeugung überhaupt jemals stattgefunden hat, kann niemand wissen. Grundsätzlich — 218 — und weil liierdurcli der gesetzliclie Ziisaiiimeiiliaug- von Bacterien und Zersetzungen docli nicht klarer wird, niuss die Entstehung- der Bacterien durch g-eueratio aeciuivoca abgelehnt werden. Hiermit ist aber keineswegs ausgeschlossen, dass die Bac- terien aus dem organischen Material entstehen; es ist nur die Entstehung ohne Keim ahgelelint worden. Diese Keime in dem organischen, lebenden Material zu suchen, verbietet der obige Grundsatz keineswegs. Aber grade diese Möglichkeit der Ent- stehung der Bacterien aus Keimen, welche in den organischen Massen vor deren Zerfall praeexistieren, wird von der Bac- teriologie als generatio aequivoca und als widerlegt angeselien und zwar als so unzweifelhaft definitiv widerlegt angesehen, dass jede gegenteilige Annahme mit den stärksten Ausdrücken verurteilt wird. Frankel sagt, ..durch die That der einfluss- reichen Persönlichkeit Pasteurs seien diese überlieferten Irr- tümer endgültig und so völlig abgefei'tigt, dass sie nur noch zuweilen ganz verstohlen und schüchtern wie Klänge aus einer längst vergangenen Zeit zu uns dringen." Trotz dieses poetischen Bannstrahls ist es erforderlich, die modernen bacteriologischen Anschauungen betreffs generatio aequivoca einer Kritik zu unter- ziehen. Nochmals sei hervorgehoben, dass die Negation der generatio aeriuivoca als „Grundsatz" anerkannt "werden muss, dass es aber vom wissenschaftlichen Staudpunkte aus keine positive Lehre über generatio aequivoca geben, dass dieselbe nicht einmal eine Avissenschaftliche Frage sein kann. Ob Ur- zeugung statt gefunden hat, stattfindet oder stattfinden kann, mag eine Frage für eine Wissenschaft der Götter sein. Menschen können nie wissen, was alles stattfand und etwa stattfi.nden kann. — Das bacteriologische Dogma lautet: Jede Zersetzung organischen Materials ist bedingt durch die Thätigkeit der Bacterien. Diese werden immer von aussen auf das zersetzungs- fällige Material übertragen, entwickeln sich nie aus diesem selbst. Ein Beweis liierfür ist natürlich überhaupt unmöglich. Ausserdem ist, was als solchei- augeführt wird, ein totaler Trugschluss. Der schwere Fehler besteht darin, dass aus einem Begriff des Obei-sat^es auf einen Begriff des Untersatzes ge- — 219 — schlössen wird, welcher mit ihm nichts gemein hat ausser iin- g'lücklicher Weise den Namen. Dieser Schlnss ist folgender: Organisclies Material, sterilisiert, zersetzt sich nur, wenn Bac- terien von aussen auf dasselbe gebracht werden. Oi'ganisches Material in der Natur zersetzt sich immer, unter Anwesenheit von Bacterien. Folglich wird das organische Material in der Natur ebenfalls zersetzt durch Bacterien, welche von aussen auf dasselbe gelangt sind. Dieser Schluss würde richtig sein, wenn die Natur alles tote organische Material sofort nach dem Tode sterilisierte, stundenlang bei einer Temperatur von 120'^ kochte. Da dies aber nicht der Fall ist, so schliesst mau aus dem Begriöe des sterilisierten Materials auf den des oi'ga- nischen Materials unter natürlichen Verhältnissen, also auf etwas völlig anderes. Weil aus einem gekochten Ei kein Huhn entsteht, schliesst doch niemand, dass aus einem unge- kochten Ei das Huhn nur dadurch entstehen kann, dass nach- träglich ein Keim in das Ei gelangt. Ein gekochtes Ei und ein ungekochtes sind eben verschiedene Dinge. Grade so ver- schieden aber ist methodisch sterilisierte peptonhaltige Flüssig- keit von orgaiiischem Material unter natürlichen Verhältnissen. Die bisherigen Experimente l)eweisen demnach durchaus nicht, dass in der Natur eine TJebertragung von Bacterien zur Zersetzung organischer Körper notwendig ist, wohl aber glauben wir hinreichend bewiesen zu haben, dass eine derartige TJeber- tragung im Widerspruch steht mit der Thatsache, dass alles Organische in der Natur zerfällt. Es bleibt also die letzte Möglichkeit der Erklärung der ausnahmslosen Gemein- schaft von zerfallenden organischen Körpern und Bac- terien unwiderlegt und mit keinem methodischen Grundsatz im AViderspruch stehend, nämlich die Annahme, dass diese Gemeinschaft des wiegen eine aus- nahmslose ist, weil es schon in der Norm nichts Or- ganisiertes ohne Bacterien giebt, weil die Bacterien notwendige Bestandteile des gesunden menschlichen Organismus sind. Dieser Ansiclit steht entgegen das Vco'urteil von der — 220 — parasitären Natur der Bacterien. Die Bacteriologie beantwortet die erste der eingangs aufgestellteu Fragen, die Frage nach der Ursache der Bacterien, mit der Erklärung, dass die Bac- terien als Parasiten Organismen sind und Organismen wieder von gleiclien Organismen abstammen. Es bedarf also der Unter- sucliung, ob die Bacterien wirklich Organismen sind. Der Be- griff des Organismus, so weit er hier in Betracht kommt, ist in der Morphologie gegeben. Ein Organismus ist eine Einheit vieler Zellen oder wenigstens eine einzige Zelle. Sind die Bacterien Zellen? Man redet zwar genug von Bac- terienzellen. Behring lässt von den Zellleibern der Diphtherie- bacillen das Diphtheriegift abstammen. Frankel erörtert sogar die Möglichkeit, dass die Milzbrandsporen mit der bewunderns- würdigen Fähigkeit höherer Organismen ausgerüstet sind, mit der Fähigkeit der Wärmeregulierung. Ob aber Bacterien Zellen sind, hält man nicht für notwendig zu untersuchen. Dies gilt für selbstverständlich, denn sie sind ja Microorganismen. Wir wollten aber grade wissen, ob sie Microorganismen sind und verlangten zu diesem Zwecke die Characterisierung der Bac- terien als Zellen. Diese Entscheidung ist nicht einmal mit Schwierigkeiten verbunden. Die unbedingt notwendigen Desi- derate einer Zelle sind Kern und Protoplasmamasse. Ein Gebilde, welchem diese Differenzierung in Kern und Protoplasmamasse fehlt, kann nicht Zelle sein. Bisher ist es nun nicht gelungen, an irgend einem Bacterium einen Kern wahrzunehmen, folglich sind Bacterien keine Zellen, also auch keine Organismen und auch keine Parasiten. — Nils Sjöbring (Centralblatt für Bac- teriologie, Bd. XI, No. 3 u. 4) konnte allerdings in Milzbrand- bacillen, verschiedenen Vibrionen und Coccen Körnchen nach- weisen, welche in einer glänzenden centralen, homogenen Masse lagen und durch Carbolmethylenblau sich besonders leicht färbten. Aber es fehlte eine scharfe Abgrenzung dieser centralen Masse von dem übrigen Bacterieninhalt, so dass selbst durch diese genauen Untersuchungen ein Kern nicht gefunden wurde. Trambusti und Galeotti (Centralblatt für Bacteriologie, XT, No. 23) konnten ebenfalls in einem nicht pathogenen Bacillus — 221 — lies Trinkwassers Köruclieu nachweisen, aus denen sogar eine Eeproduction von Bacterien stattfiuden konnte, Körnchen, welclie eine auffallende Verwandschaft liinsichtlich der Färb- l)arkeit mit Zellkernen hatten. Aber trotzdem ist zwischen Kernen einer Zelle und derartigen Körnchen doch noch ein solclier Unterschied, dass die Anwesenheit dieser Gebilde nicht berechtigt, den betreffenden Bacillus fiir eine Zelle zu erklären. Es bleibt daher bei dem Satz: Bacterien sind keine Organismen. Es giebt nur einen Ausweg, ihren Oharacter als Organis- mus zu retten, nämlich der Zelle ihre Rolle als Elementar- organismus abzusprechen und den Bacillus für die letzte allem Organischen gemeinsame Form zu erklären. Dies geht aber nicht au, weil die höheren Organismen niemals sich aus Bac- terien als ihren Elementarteilen zusammensetzen. AVas sind denn aber die BacterieU; wenn sie keine Orga- nismen sind? Sie haben doch sehr viele Eigenschaften mit Organismen gemeinsam, sie wachsen, sie vermehren sich, zeigen einen Stoffwechsel und gar Eigenbew^egung? Um Klarheit zu gewinnen, ist zunächst ihre Stellung zum menschlichen Orga- nismus in Betracht zu ziehen. Der menschliche Organismus muss als eine Einheit beurteilt werden. Es fragt sich nun, wie weit soll diese Beurteilung als Einheit ausgedehnt werden. Die einzig mögliche Antwort ist die, dass alles, was ausnahmslos bei jedem Organismus vorhanden ist, als zur Einheit desselben gehörig angesehen werden soll. Ob es thatsächlich zu derselben gehört, ist eine andere Frage. Es handelt sich hier nur um den methodischen Gesichtspunkt, aus welchem die betreffenden Erscheiuungen beurteilt werden sollen. Eine derartige metho- dische Directive ist aber unbedingtes Erfordernis, um subjective AVillkür auszuschliesseu; es könnte sonst ja der eine etwas zur Einheit des Organismus rechnen, was der andere als einen Fremdkörper im Organismus ansieht. Beurteilen wir die Bacterien nach diesem methodischen Massstabe, dass alles, was ausnahmslos bei jedem Organismus vor- handen ist, zur Einheit desselben gerechnet werden soll, so ist es klar, dass die Bacterien als zum mensch- 222 — Jiclieii Oig-aiiismu.s gelii»rig-. als Teile des iiieiiscli- lirlien Körpers angeselieii werdeii müssen. Auch der Umstand, dass die JUictei-ien sich nur im \'er- dauiingskanal befinden sollen, nie im g-esunden Gewebe, und dass, was im Darm ist, sicli doch nodi ausserlialb des Orga- nismus befindet, widerlegt die aufgestellte Ansicht nicht. Denn mit demselben Recht müssten die immer zahlreich ebendort an- wesenden Aveissen Blutkörperchen auch nicht als Bestandteile des Oi'ganismus gelten. Und sind nicht ausser den Leucocyten regelmässig noch eine Menge anderer wertvoller Bestandteile des Organismus im Darm, die Verdauiingssecrete? Zuzug-eben ist allerdings, dass nicht sämtliche Bacterien des Darmes Be- standteile des Organismus sind. Warum dies aber nicht bei der Menge Bacterien in der IMundliöhle der Fall sein kann, ist nicht einzusehen. Ist doch durch die ununterbrochene Bewegung der Zunge dort ein Wachstum von Bacterien unmöglich. Gewöhnlich wird hervorgehoben, dass die Bacterien ül)erall seien, nur nicht im gesunden Organismus. Dem gegenüber zwingt der methodische Gesichtspunkt, die Bacterien, weil sie bei allen Menschen und Tieren vorhanden sind, auch als Be- standteile des gesunden Organismus zu betrachten. Es liegt nahe, zu vermuten, dass das, was im Darm Ba- cillus ist; im Gewebe in anderer Form erscheint, wie fast alles, was aus dem Darm aufgenommen wird, hinter der Darmwaud nicht mehr in seiner früheren Beschaffenheit nachzuweisen ist. Ohne Pepton und Albumosen kann ein Oi-ganismus nicht exi- stieren. Diese Stoffe müssen demnach als notwendige Bestand- teile des Körpers augesehen werden, und doch ist man bisher nicht im Stande gewesen, mit unaufechtl)arer Siclierheit im Blut und Gewebe das resorbierte Pepton als solches wieder zu finden. Ebenso verhält es sich mit den übrigen Nahrungs- mitteln. Aus Fett bilden sich beim Verdauungsprocess Seifen. Im lebenden Gewebe finden sich keine Seifen. — Stärke wird zu Dextrin und Maltose verdaut. Aber weder der eine noch der andere Bestandteil ist im Gewebe nachweisbar. Nahezu alles, was aus dem Verdauungstractus resorbiert wird, erscheint im — 223 — Gewebe in anderer Form. AVaruiii nullte clie-s bei den Bacterien iinmüg'licli sein ? Die Bacterien jsind als Beistandteile des Organismus zu l)etracliten, sind aber keine Zellen. Sie könnten demnacli nur Teile von Zellen sein. Auf experimentellen Beweis kann liier, wo es sich nur um metliodiscbe Fragen handelt, nicht eingegangen werden. Eins der stärksten Motive, die Bacterien als in Opposition zum menschlichen Organismus zu denken, liegt in dem Umstand, dass dieselben erst uacli dem Tode in Tliätigkeit zu treten scheinen. Bei den Fäulnisprocessen lernte man zuerst die Wirksamkeit der Spaltpilze kennen, und die durch das Wort Fäulnis hei'vorgerufene Nebenvorstellung des Unangenehmen und ästhetisch Widerwärtigen haben unbewusst die wissenschaft- liche Beurteilung der Bacterien beeinflusst und beeinflussen sie noch. — Die ohnehin schon grossen Einfluss auf das Denken ausübende Macht der A\'orte äussert ihre verhängnisvollste Wirkung, wenn in ihnen eine l^eziehuug zum subjectiv Ange- nehmen und Unangenehmen ausgedrückt ist. Die Medicin ge- wöhnt ihre Schüler zwar zur Abstraction von dieser gewöhnlichen Bedeutung der Worte; indessen bei dem Worte „Fäulnis" scheint dies nicht völlig gelungen zu sein. Ja, der Antliropomorpliismus in der Uehre von der P'eiudschaft der Bacterien gegen das Menschengeschlecht hat vielleicht zum Teil seinen Grund in der widerwärtigen Empfindung, die mit der Bezeichnung „Fäulnis" ausgelöst wird. Im wissenschaftlichen Gebrauche dürfen Worte nur Be- zeichnungen für sinnlich wahrnehmbare Thatsachen, nicht aber Beurteilungen von Thatsachen nach subjectiven Empflndungen enthalten. So können auch die Worte .,Tod" und „Fäulnis" wissenschaftlich nur bestimmte Veränderungen der organischen Körper bezeichnen, oder allenfalls noch eine Beurteilung von Naturvorgängen nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten. Für die Biologie als die W' issenschaft von der Function des Organis- mus kann nun Tod nicht das Ende des Lebens bedeuten. Es löst sich nicht plötzlich das Leben vom Körper. In der Natur — 224 — giebt es keine Siirünge. Tod kaun iiiclits anderes sein als das P^nde der einlieitl iciien Gesamtfiiuction der (~)rg-aue. Einzelne Orgaue vermögen ilire Functionsfäliigkeit trotz völlig aufgehobener Harmonie der Gesamtfnnction noch eine Zeit lang beizubehalten, wie z. B. künstlich durchblutete Muskeln noch stundenlang nach dem Tode durch electrische Reize zur ('on- traction gebracht werden können. Der letzte Elementarorganismus ist die Zelle, aber die Zelle ist immer noch ein Organismus, eine Einheit mannigfaltiger Organe. Wenn die Gesamtfunction der Zelle aufgehoben ist, muss deshall) auch die Thätigkeit der Teile erloschen sein? Keineswegs! Die Zelle stii'bt an Nahrungsmangel nach Er- löschen der Circulatiou. Die widerstandsfähigsten Teile der- selben leben weiter, indem sie ihr Nährmaterial der übrigen Zellsubstanz entnehmen, ja sie vermögen, weil durch keinen Antagonismus von Kräften mehr gehemmt, nach Zerfall der regulierenden einheitlichen Gesamtfunction der Zelle erst recht sich zu entwickeln. Diese letzten Teile des Organismus sind die Bacterieu. Der Körper fällt also nicht fremden Schmarotzern zum Raube, sondern er löst sich selbst auf und lebt in seinen letzten Teilen vielleicht noch lange. Leben, Tod und Fäulnis sind demnach keine durch absolute Grenzen von ein- ander geschiedene Zustände, sondern es sind veränderte Lebeus- erscheinungen nach Auflösung der Einheit der Gesamtfunction des Organismus. Von Virchow ist der Medicin das Fundamentalprincip der Cellularpatliologie gegeben worden. Weil das Leben des Organismus nur begriffen werden kann aus der Function seiner letzten Teile, weil diese, die Zellen, Träger des Lebens sind, sollen alle krankhaften Lebensäusserungen des Oiganismus auf diese Elementarteile zurückgeführt werden. Und da nach einem weiteren methodischen Grundsatz der medicinischen Forschung, von Virchow der anatomische Gedanke genannt, zu jeder Functionsstörnng eine anatomische Laesiou gesucht werden soll, so schreibt das cellularpathologische Princip vor, jede krankhafte Störung der Function, jede wahrnehmbare Krank- — i225 lieitt>ersclieiiiuii8- zuiückzutulircu auf eint; anatomisch nachweis- bare' Verändenmg- der Zellen. Behring- ist das ]\[issg-eschick zugestossen, die Cellular- patliolügie zu den veralteten Systemen zu zählen. Aber wissen- schaftlichen \'erirrungen gegeniibei-, wie sie der „Autor der Lehre von den Blutantitoxinen'' sicli zu Schulden kommen lässt, der Lebenseigenschaften wie Immunität in Sperrdruck definiert als eine „Function nichtorg-anisierter Teile des Org-anismus", ist die (lellularpathologie wahrlich noch sehr am Platze. Und ihr Princip, die Function des Organismus auf organisierte Elementarteile, auf die Zellen zurückzuführen und nicht auf die Thätigkeit iigend welcher Gl-ewässer, — sei es auch das in seiner Existenz problematische Blutwasser — ist not- wendiger denn je zuvor zur Discipliuierung der Forschung, Aber es könnte immerhin zweifelhaft bleiben, ob die Zelle der letzte Elementarbestandteil des Körpers ist. Das Princip als solches würde hierdurch allerdings nicht beeinflusst. Nur das letzte Element der Tjebeusfunction wäre ein anderes geworden. An die Stelle der Zurückführung pathologischer Erscheinungen auf die Zelle würde die Zurückführung auf den neuentdeckten Elementarteil des Organismus treten. Selbst diese Eventualität ist ausgeschlossen, denn die Zelle ist in der That der letzte Elementarorganismus, die letzte Klasse aller organisierten Wesen. Wenn aucli in jeder Zelle Bacterien als Bestandteile vorhanden sind, wenn auch die Bacterien, ohne Zellen zu -sein, zu leben scheinen, so ist es zweifellos, dass niemals ein höherer Orga- nismus, selbst nicht eine einzelne Zelle, als aus einer Summe von Bacterien bestehend aufgefasst werden kann. Denn eine Zelle entstellt niemals aus Bacterien allein. Ihre Entstehung erfordert noch andere Bestandteile ausser diesen. So wird man, ohne deswegen als Dogmatiker gescholten werden zu können, annehmen dürfen, dass das Princip der Cellularpatho- logie dem Schicksal zeitlicher ^Vergänglichkeit nicht anheim- fallen wird. Bisher schien wie dies Virchow in seiner Rede über ^lorgagni auch betont, eine Eeihe von Krankheiten dem cellu- 15 lareii i'rinciii uidit zugäiitiUrli zu sein. Selbst liei sehr schweren Krankheitserscheinungen lassen sich häufig' curre- spoudierende anatoniischo Veränderungen nicht nachweisen. Schon durch diese eine Tliatsaclie wiirde die Cellularpatho- lügie als ..System" widerlegt sein; als „Triucii)" kann sie dagegen durch Thatsaclien überhaupt nicht widerlegt werden. Denn Principien stammen aus dei- Vernunft des iMenschen, sind die Werkzeuge und :\Iittel der Vernunft zum Auf linden und Aufklären der Thatsaclien. Wohl aber kann es .Schranken ihrer Anwendung geben, wold kann ein Princip, wie jedes Werkzeug, durch ein besseres (ersetzt werden und niuss ersetzt werden, wenn es sich dauernd unbrauchbar erweist. Diesem Schicksal könnte auch die Cellularpathologie verfallen, wenn es mit Hülfe derselben unmöglich bliebe, klinische Krankheits- erscheinungen anatomisch zu localisieren, die entsprechenden anatomischen Laesioneu zu denselben zu linden. — J^s lie.gt auf der Hand, dass, wenn liacterien Teile der Zellen sind, durch diese Einsicht für das cellularpatholugische Princip mit einem Male sich ein grosses, l)isher verschlossenes Anw'endnngs- gebiet eröffnen würde. Zu den bisherigen Arten der i)athologisch-anatomischen Zellveränderuugen kommt eine neue Klasse, die des Zellzer- falls zu Bacterien. Während bei den übrigen pathologischen Aenderungen, z. B. fettiger Entartung", die Zelle ein immer gleiches Bild bietet, kaum Modificationen der Laesion je nach der Ursache und ( )ertlichkeit zeigt, ist der Zellzerfall zu Bac- terien von einer grossen ^Mannigfaltigkeit. (Geringe Modi- ficationen des pathologischen Processes bedingen die andere Form der Bacterien, so dass sie Störungen anzeigen, die jeder anderen Analyse entgehen müssten. So ist die Entdeckung der Bacterien im Grunde eine grossartige Bestätigung der Brauch- barkeit der (!ellularpathologie, des cellularen Princips, Die nachgerade mit der Bacteriologie identisch gewordene Hygiene hat durch Mangel einer Grenzbestinimung ihres Ge- bietes sich gänzlich verirrt anf das Gebiet der klinischen und pathologischen Forschung. Sie muss sich wieder auf ihre specielle Aufgabe, die Erfoi'scliimg- der Kraukheitsiirsiaclie ausserhalb des meuschlicheu Organismus beschränken. Denn jede Krankheit wird schliesslieli veranlasst durch eine äussere Ursache. Das Problem, welches den Ausgangspunkt dieser Er- örterung bildete, der ausnahmslose Zusammenhang von Bac- terien mit Krankheiten, Gährungen, Fäulnis, bietet jetzt keine Schwierigkeiten mehr. Bacterien sind deshalb immer an- wesend im zerfallenden organischen Körper, weil sie schon normaler Weise in demselben vorhanden sind. Wo in Fäul- nis begriffenes Material überhaupt existiert, da sind auch als Teile von ilim die Bacterien. Und wie einfach jetzt der Zusammenhang von charac- teristisclien Bacterien und pathologischen Veränderungen des lebenden Organismus sich erklären lässt, möge an dem Bei- .spiel der IJholera gezeigt werden. — Xur durch eine unmög- liche Summiernng von möglichst glücklichen Zufällen konnte, wie nachgewiesen, die Bacteriologie die Ausdehnung einer Cholei'aepidemie begreiflich machen. Hiermit war aber nur die eine Hälfte der Schwierigkeiten gelöst: das Zusammenkommen I)eider Factoren, des Bacillus und de.s ]\lenschen. Es müssen die Bacterien als Krankheitsursache noch an den Ort ihrer Wirksamkeit gelangen, in den Darm. Auf diesem Wege abei' stehen den Kommabacillen bedeutende Hindernisse und Ge- fahren entgegen. Znnäclist die Gefahren der Magenverdauung. Wie alle Bactei'ien, so sind auch die Kommabacillen sehr em- ptlndlich gegen Säure, besonders gegen mineralische Säuren. (TegenUber doi- Salzsäure des Magens, die dem Kommabacillus gnide besonders gefälirlii;h ist, sind die Kommabacillen vei- loren. Diese gefährliche Klippe müssen sie also überwinden. Alle erdenkbaren zur Hülfe herbeigezogenen Möglichkeiten waren unvermögend, die glückliche Ueberwinduug der i\lagen- verdauung plausibel zu machen. Es bliel) nichts anders übrig, als auf Seiten des Menschen den Magen lahm zu legen. Man formulierte als Bedingung der Acquisition der ('holera eine individuelle Disposition des Menschen — eine Thatsache, die — 228 — allerdings uiclit zu bestreiten ist, da sonst walirsclieinlich alle Bewohner eines Ortes erkranken würden — und bestimmte diese Disposition näher als eine Schwäclie der Magenfiinction. Auf diese Weise Hess man den Bacillus den Gefahren .der Magenverdanuug glücklich entrinnen und im alkalischen Darm- inhalt schrankenlos sich vermehren. Bei näherem Zusehen stellt sich aber der Aufenthalt im Darm für den Kommabacillus als mindestens grade so gefährlich heraus, wie der im Magen. Denn erstens ist die ßeaction des Düuudarmiuhalts durchschnitt- lich überhaupt nicht alkalisch, sondern sauer, allerdings sauer durch die im allgemeinen für Bacterien ungefährlicheren, dem empfiudliclien Kommabacillus aber immerhin noch unzuträglichen organischen Säuren. Und dann trifft der Kommabacillus im Darm mit seinen gefährlichsten Feinden, den Fäulnisbacterien zusammen, die hier zahlreicher sich befinden, als an irgend einer anderen Stelle der Aussenwelt. — Im Kampf um's Dasein mit diesen Fäulnisbacterien ist der Kommabacillus, ein ., aus- nehmend zartes Gebilde", dem ..Angriff derselben in der Eegel schnell unterliegend." Nur hier im Darm entwickelt er mit einem Male Eiesenstärke. Saure Reaction schadet ihm nicht, seine Feinde, denen er in der Aussenwelt durchschnittlich in zwei Tagen erliegt, verdrängt er aus ihren angestammten Wohnsitzen und macht sich zum Alleinherrscher des Darms. Schrankenlos vermehrt er sich. Wenn ihm auch zum Gedeihen für gewöhnlich ein bewegter Nährboden durchaus hinderlich ist, so überwindet er nach völliger ^[etaniorphose aller seiner Fähigkeiten auch dieses Hindernis noch. So muss denn der Kommabacillus, um au den Ort seiner AVirksamkeit zu ge- langen, seine biologischen P^igenscliaften völlig ändern und zudem noch vom Glück unterstützt den Gefahren der ]\lagen- verdauung entrinnen. Die postulierte Disposition, die Ver- dauungssclnväche, kann allein auch nocli nicht helfen, denn auch bei Verdauungsschwäche ist der jMageninlialt wie immer sauei-. Ist der Mageninhalt ausser bei Cholera selbst und Ileus alkalisidi gefunden worden? Trotz Verdauungsschwäche umss der Kommabacillus also inuner noch Glück haben, um un- — 229 — g-eseliädig-t den Magen zu passieren. lu einem Falle ginge dies wohl an; aber dass er an einem Tage bei 800 nud melir Menschen dasselbe Glück hätte, Störung der Magenverdaunng zu linden und den Gefahren eines wenn auch schwacheu Magens 800 Mal glücklich zu entrinnen, und zwar Tag für Tag immer wieder — das ist kein Glück mein-, sondern ein pures Wunder. ^\'ie einfach erklären siclidem gegenüber alle diese uu- lösbaren Schwierigkeiten bei der Annahme, dass der Komma- bacillns eine characteristische Art des Zellenzerfalles ist. Durch welche Ilrsaclien dieser Zerfall, durch welche Ursachen die Cholera ausgelöst wird, ist absolut dunkel. Sei es nun ein eingeatmetes oder ein im IMagen resorbiertes lösliches Gift, oder noch etwas anderes — es löst einen Process aus mit abnorm gesteigertem Zellzerfall und abnormer Secretion normaler Zer- fallsproducte, aber zum Teil an anormalen Stellen, z. B. Harn- stoff und phosphorsaure Ammoniak-j\[agnesia statt in den Nieren, im Darm. Es bedarf nicht der Anthropomorphismen des Kelzes eines inuiginären Giftes zur Erklärung dei- örtlichen Erscheinungen im Darm und der Erhöhung der Peristaltik. Diese hypothetische Keizwirkung eines liTpothetisclien Giftes führt ausserdem wieder zu Unmöglichkeiten und "Widersprüchen. AVeshalb z. B. verätzt dieses Gift in der Regel nur das untere Ileum? ^^'enn die Bacterien sich beständig vermehren und dementsprechend mehr Gift erzeugen, so müsste die (riftwirkung mit zunehmender Tiefe des Darmes continuierlich zunehmen. Indessen schneidet häufig die anatomische Verändei'ung mit der Ileocoecalklappe l)lötzlich ab, trotzdem diclit oberhalb derselben die Zerstörungen am intensivsten sind. Eine Erklärung für diese Erscheinung ist wie die jeder [)athologischen Veränderung nur möglich aus der Eunctiou der erkrankten Teile. Bei Cholera sind die oberhalb der Ileocoecalklappe am zahlreichsten vertretenen Peyer'schen Plaques hauptsächlich erkrankt. Dieselben sind nicht Pesorptionsorgane, wie fälschlich angenommen wird. (legen eine derartige Function spi'icht der i\Iangel an zufülii'eiuleu (-iefässen von 'h'r Seite des Darinluinen hei-, abgesehen davon, — 230 — dass eiue derai-tige Fuuction vuii seiteii eines Organs, welches der Oontractilität ermaugelt, nielit zu begreifen ist. Dagegen sind sie den Tonsillen in ihrer oberflächliclien Lage und im Bau gleich^ und da diese als Secretionsorgane erkannt sind, werden es die lymphatischen Elemente des lleums ebenfalls sein. Da die Zahl der Follikel im unteren Ileiim die grüsste im ganzen Darnikanal ist, und hier die Zerstörungen am intensivsten und deutlichsten ausgesprochen sind, so können die örtlichen Darm erscheinungen nur durch den Act der Secretion bedingt sein. Es gelangt ferner kein Gift, nichts völlig Neues, gewöhn- lich im Körper nicht Vorhandenes zur Ausscheidung, sondern die gleichen Producte wie in der Norm, oder doch diesen sehr nahe verwandte. - Die Läsion der Darmwand beruht nur auf dem unglücklichen Umstände, dass Endproducte des Stoff- wechsels in den Darm ausgeschieden werden, welche normaler Weise durch andere Organe zur Entfernung gelangen. Bei dieser Ausscheidung normaler Producte an anormalen Stellen findet eine Zerstörung der Oberfläche der Darmschleimhaut, hauptsächlich der Plaques, und ein Zellzerfall zu Bacterien, zu Kommabacillen statt. Die Bacterien entstehen demnach bei der Secretion. Mit der Intensität derselben muss auch der Zellzerfall correspondieren. Daher, je stür- mischer die Erscheinungen, um so zahlreicher die Cholera- bacterien — Verhältnisse, die sonst allen G esetzen des Bacterien- wachstums direct widersprechen. Die Erhöhung der Peristaltik, die heftigen Diarrhöen, durcli einen örtlich wirkenden Heiz zu erklären, heisst sie durch nichts erklären. Der Darm ist vom Darmlumen aus durch Eeizapplication auf die Schleimhaut künstlich kaum in Bewegung zu bringen. Dies haben die Versuche Nothnagels zur Evidenz bewiesen. Es gelang diesem Forscher mit keinem einzigen Mittel, selbst nicht mit concentrierten Säuren, von dt^r Darm- schleimhaut aus die Peristaltik zu erhöhen. Peristaltik uiul Secretion gehen wahrscheinlich im ganzen Darmtractus Hand in Hand. Ein Hinweis darauf ist die Ur- sache der abfühi'enden AVirkung des einzigen Mittels, welches — m bei Ai)i»Ucatiou auf die naniiscliieiiiiliaul, die reristaltik zu v,v- liölien vermag-, des (ilycerin. Dasselbe entzieht dem (rewebe enei'giscli Wasser, also auch der Darmschleimliaut, und veran- lasst dadurch eine Strinnung- zum Darminnereu, Secretion und peristaltische Bewegung. — Auch die peristaltisclie Wirkung des Kochsalzkrystalls bei Application desselben auf die Aussen- wäiule des Darms wird auf dieselbe ^^'eis(' zu Stande kommen: denn KochsalzkrystaUe entziehen ebenfalls dem (lewehe Wasser. Erhöhnng der Peristaltik bei Cholera wird demnach durch erhöhte Aussclieidung in den Darm bedingt. Die Correspondenz von Bacterienmeuge, Intensität der Aussclieidnng und Erhöhung der Darmbewegung ist hiermit klar, l'^lbenso ist jetzt völlig begreiflich, wie die Gegenwart der Konnnabacillen bei allen Cliolerakranken naclnveisbar ist. DieBacterien sind eben Teile des kranken Organismus selbst. Ferner lintlen die örtlichen Zerstörungen im Darm durch Ausscheidung natürlicher, aber nicht an diese Stelle gehöriger Prodiicte, ihre ganz zufriedenstellende Erklärung. — Hiermit ist die Schwere der Allgemeinerkraukuug ja noch keineswegs aufgeklärt. Das soll später versucht werden. Es kam hier nur darauf an, zu zeigen, wie einfach sich die Be- antwortung vieler bisher unlösbarer Fragen gestaltet, Avenn man die Bacterien als Zerfallsproducte der Zellen des mensch- lichen Organismus betrachtet. -- Selbst wenn diese Hypothese ohne experimentellen Beweis bliebe, wiirde die Einfachheit, mit der sie so vieles ohne Zuhilfenahme von Möglichkeiten aller Art erklärt, schwer für dieselbe in die Wagschale fallen. Denn eine branclibare. durch P^rfahrung bewährte Regel sagt, dass die Natur in ihren Mitteln immer einfach ist. I I