R.C.P. EDINBURGH LIBRARY
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LEHRBUCH
DER
GESÄUMTEN PSYCHOTHERAPIE
MIT EINER
EL\LE1TENDEN DARSTELLUNG DER HAUPTTH ATS ACHEN
DER
MEDICINISCHEN PSYCHOLOGIE
VON
DR. L. LÖWENFELD,
SPECIALARZT FÜR NERVENKRANKHEITEN IN MÜNCHEN.
WIESBADEN.
VERLAG VON J. F. BERGMANN. 1897.
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Alle Rechte Vorbehalten.
Druck der kgl. Uuiversitätsdruekerei von H. Stttrtz in Würzburg.
HERRN GENERALARZT A. D.
DR MORIZ NEUHÖFER
RITTER HOHER ORDEN
ZU SEINEM 50 JÄHRIGEN DOKTORJUBILÄUM
GEWIDMET.
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Verehrter Freund und Jubilar!
Du hast in den jüngsten Tagen unter regster Theilnahme aller Dir Näherstehenden Dein öOjähriges Doktorjubiläum gefeiert und blickst nunmehr auf eine nur Wenigen gegönnte Reihe von Jahren zurück, während welcher Du als eine Zierde unseres Standes Deine segensreiche, vom Geiste reinster Humanität erfüllte Thätig- keit der leidenden Menschheit gewidmet hast. Bei mir werden es dagegen demnächst 25 Jahre, dass ich jenen Pfad betreten habe, den man ärztliche Praxis nennt. Die ungezählten Beweise hingebender Freundschaft, mit welchen Du während dieser langen Zeit und schon früher mich überhäuft, das Wohlwollen, mit welchem Du alle meine litterarischen Bestrebungen begleitet hast, sie haben mich ermuthigt, diese Schrift als ein Zeichen meines Dankes und meiner Verehrung Dir zuzueignen.
L. Löwenfeld.
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Vorwort.
Die Schriften, welche bisher unter dem Titel „Psychotherapie“ dem ärztlichen Publikum angeboten wurden, beschäftigen sich lediglich mit Hypnose und hypnotischer Behandlung. Das Buch, welches ich hiemit der Oeffentlichkeit übergebe, enthält die erste Darstellung des ganzen Gebietes der Psychotherapie. Dass diese einem Bedürfnisse entspricht, dürfte aus meinen Aus- führungen im letzten Theile des ersten Abschnittes (p. 8 — 11) sich ergeben, auf welche hier verwiesen sei. In der Beurtheilung der Arbeit werden voraussichtlich zwei Strömungen sich geltend machen ; den einen (den Suggestionsspecialisten insbesonders) wird es viel- leicht scheinen, dass ich der Psychotherapie den somatischen Heil- verfahren gegenüber zu wenig, den anderen, dass ich derselben zu viel Bedeutung beimesse. Ich selbst kann mir nur das Zeugniss ausstellen, dass ich mich bemüht habe, den Mittelweg einzuhalten uud meine eigenen Erfahrungen sowohl als die in der Litteratur enthaltenen Beobachtungen möglichst kritisch zu verwerthen. Auch dürfte zu berücksichtigen sein, dass nur eine Form der Psycho- therapie , die hypnotische Behandlung , bisher in ■ der Litteratur eine reichlichere Bearbeitung' gefunden hat, die übrigen Formen derselben dagegen sehr vernachlässigt wurden und für manche Theile der Schrift es an verwerthbaren Vorarbeiten überhaupt gänzlich fehlte.
Mit den psychologischen Vorbemerkungen, welche ich dem psychotherapeutischen Theile der Arbeit vorausschickte, habe ich
X
Vorwort.
mich keineswegs auf ein Gebiet begeben, welches mir bisher fremd war. Meine Beschäftigung mit Psychologie reicht bis in die ersten Jahre meiner ärztlichen Thätigkeit zurück, und ich habe es früher oft bedauert, dass sich mir keine Gelegenheit zur litterarischen Verwerthung meiner psychologischen Studien bot. Im vorliegenden Falle musste ich aus räumlichen Gründen meine Ausführungen auf das Nöthigste beschränken; ich hoffe jedoch, dass das Ge- botene nicht nur eine genügende Grundlage für das Verständniss der Psychotherapie liefern, sondern auch bei manchem Leser ein weitergehendes Interesse für die Seelenkunde erwecken wird.
München, den 3. September 1896.
L. Löwenfeld.
Inhaltsverzeichniss.
Seite
I. Abschnitt. Geschichtliches; gegenwärtiger Stand der Psycho- therapie ^
II. Abschnitt. Die Hauptthatsachen der medizinischen Psycho-
logie 12
A. Geist und Körper. Ober- und Unterbewusstsein. Spaltung
der Psyche. Geistige Sonderexistenzen 12
B. Arten der Vorstellungen. Vorstellungsassociation- und Dis- junktion ... 22
C. Gefühle, Stimmungen, Affekte ’. . 27
D. Ego, Selbstbewusstsein 30
E. Wille und Aufmerksamkeit 32
F. Einfluss geistiger Vorgänge auf die Entstehung und Heilung
von Krankheitszuständen 38
1. Pathogene und curative Wirkungen des Vorstellens 40
2. Pathogene und curative Wirkungen der Gemüths-
bewegungen 46
3. Pathogene und curative Wirkungen des Willens . . 51
III. Abschnitt. Die Psyche des Kranken 54
IV. Abschnitt. Allgemeine Psychotherapie 73
A. Psychische Behandlung im weiteren Sinne 73
Die Persönlichkeit des Arztes 74. Der Verkehr mit dem Kranken 75. Die Krankenuntersuchung 78. Die Aufklärung des Kranken über seinen Zustand 80. Rathschläge für Neu- linge in der Praxis 91. Stützung des ärztlichen Ausspruches durch Anordnungen 92. Die Gesunderklärung 99. Geistige Direktion des Kranken 94. Regulirung der Lebensweise 96. Beschäftigung des Kranken 97. Zerstreuungen 101. Lektüre 102. Theaterbesuch, Musikübung 106. Gesellige Unterhalt- ung, Spiele 107. Reisen und Ausflüge 108. Naturgenüsse 109.
Die Umgebung des Kranken, Krankenzimmer 110. Verhalten der Pflegepersonen 111. Milieu 112. Isolirung des Kranken 113. Geistige Ruhe 115. Eheschliessung als psychisches Heil- mittel 117.
XII
luhaltsverzeichniss.
Seite
B. Besondere psychotherapeutische Verfahren 118
1. Psychische Gymnastik 118
II. Suggestivbehandlung 118
a) Suggestivbehandlung im Wachzustände. . . . 126 h) Hypnose und hypnotische Suggestivhehandlung . 135
III. Die Breuer-Fr eud’sche kathartische Methode . . 162
IV. Behandlung durch Erregung von Affekten (Emotions-
therapie) 167
V. Wunder-, Glaubens- und Gehetkuren 170
V. Abschnitt. Spezielle Psychotherapie 176
I. Krankheiten des Nervensystems
a) Organische Gehirn- und Rückenmarkskrankheiten 176;
b) Neurasthenie 184; c) Hysterie 187; d) Angstzustände (Phobien) und Zwangsvorstellungen 195; e) traumatische Neurosen 205; f) Melancholie 209; g) Schlaflosigkeit 212;
h) Epilepsie, Chorea, lokalisirte Muskelkrämpfe, Stottern 214;
i) Neuralgien und algische Affektionen, Cephalea 217.
II. Affektionen des Respirationsapparates 221
HL Affektionen des Cirkulationsapparates 228
IV. Affektionen des Verdauungsapparates 232
V. Störungen der sexuellen Funktionen beim Manne .... 237
■ VI. Krankhafte Zustände des weiblichen Sexualapparates . . 242
VII. Störungen des Hamapparates 245
VIII. Alkoholismus, Morphinismus 248
IX. Gelenk- und Muskelkrankheiten 249
X. Chlorose 251
XI. Anwendung der Psychotherapie in der Chirurgie, hei Augen-
und Ohrenkrankheiten und in der Geburtshülfe .... 252
XII. Die sogenannte moralische Orthopädie 255
Register 257
I. Abschnitt.
Gesehiehtliehes; gegenwärtiger Stand der Psychotherapie.
Die Psychotherapie ist keine Errungenschaft der Neuzeit. Wenn wir in der Geschichte nach den ersten Anfängen unserer Kunst forschen, so ergieht sich als unbestreitbare Thatsache, dass unter den verschiedenen derzeit angewandten Heilmethoden die Psychotherapie die älteste ist, dass sie die erste und ursprüng- lichste Form darstellt, in welcher die praktische Heilkunst geübt wurde. Diese Thatsache kann nicht auffällig erscheinen, wenn wir die Verhältnisse der Menschen in jenen Epochen, von Avelchen wir die ersten geschichtlichen Ueberlieferungen besitzen, und ins- besonders ihre religiösen Anschauungen berücksichtigen. Das Ver- langen nach Hilfe in Krankheitsnöthen bestand bei dem Menschen jedenfalls vor der Kenntniss irgend Avelcher natürlicher Heilmittel und Krankheitsursachen. Es ist daher begreiflich, dass man die Krankheiten auf den Einfluss jener übernatürlichen GeAvalten, Götter oder Dämonen, zurückführte, welchen man die Macht über die menschlichen Geschicke, die belebte und unbelebte Natur zu- schrieb, und um Heilung zu finden, durch Opfer oder auf anderem Wege den unglückbringenden Zorn der Götter zu besänftigen, durch Beschwörungen die Dämonen aus dem Körper zu bannen oder deren Einwirkung zu verhindern suchte. Als die Vermittler zwischen Göttern und Menschen wurden die Priester angesehen, welche auch den Dämonen gegenüber eine anderen Sterblichen nicht verliehene .Macht besitzen sollten. An diese Avandte sich der
Löwen fo 1 (1 , Psychotliorapie. j
2
Gescliiclitliches.
Tjeiflencle, dem materielle Heilmittel nicht zu Gebote standen, und so war die älteste Medizin lediglich Priestermedizin, die älteste Therapie eine Art Vorstellungstherapie. Der Kranke erwartete von der Intervention des Priesters Hilfe, und der Priester gewährte diese, indem er durch irgendwelche Maassnahmen (Gebete, Be- schwörungen etc.) in dem Kranken den Glauben an bevorstehende Heilung erweckte^), welcher jedenfalls häufig nicht ohne günstige Wirkung blieb.
Wenn wir von dieser ältesten Periode ausgehen, so können wir in der Entwicklung der Psychotherapie vier Perioden unter- scheiden :
1. Die Periode der rein oder vorwaltend religiösen (priester- lieben, magischen) Psychotherapie, deren Dauer bei den einzelnen Kulturvölkern jedenfalls verschieden war und sich nicht näher bestimmen lässt. Zufällige Erfahrungen und absichtliches Suchen führte allmählich zur Entdeckung und Anwendung von materiellen Mitteln , welchen man eine Heilkraft bei bestimmten Leiden zu- schrieb (Arzneimitteln, chirurgischen Eingriffen). Die meisten der in jenen Zeiten innerlich und äusserlich als Arzneimittel gebrauch- ten Stoffe entbehren jedoch nach unseren jetzigen Kenntnissen jeder physiologischen Wirksamkeit. Sie konnten daher, sofern ihre Anwendung überhaupt eine Heilwirkung herbeiführte, nur auf suggestivem Wege nützen; ihre Verwerthung charakterisirt sich demnach als Suggestivbehandlung (larvirte Suggestion nach der derzeitigen Terminologie) ; neben dieser profanen Psychotherapie erhielt sich die religiöse nicht nur, sie behauptete in der Praxis allem Anschein nach längere Zeit entschieden den Vorrang.
2. Periode. Mit der Entwicklung eines selbständigen, vom Priesterstande unabhängigen Aerztestandes trat die religiöse der
1) So verhielt es sich wenigstens bei den Sumeriern, den ältesten Be- wohnern Babyloniens und Entdeckern der Keilschrift, den alten Indern, Juden und den Römern der ältesten Zeit; auch in der Therapie der alten Aegypter spielten Beschwörungen und Zauberformeln eine bedeutende Rolle ; durch solche wurden an sich indifferente Stoffe, wie „die Milch einer Frau, welche geboren hat“ zu Heilmitteln erhoben oder mit magischen Kräften ausgestattet. Be- sondere Zaubersprüche waren bei der Bereitung aller Medikamente und beim Einnehmen derselben gebräuchlich. Manche Mittel (Wundermittel) wurden von den Göttern selbst erfunden erachtet.
Geschichtliches.
3
profanen Tsyclio- (resp. Suggestiv-)therapie gegenüber mehr und mehr zurück, ohne jedoch zu verschwinden. Thatsächlich hat sicli ja auch und zwar in allen Ländern die religiöse Psychotherapie neben der profanen bis zum heutigen Tage erhalten. Zu der larvirten und unabsichtlichen Suggestivtherapie gesellte sich jedoch mit der Erkenntniss, dass seelische Zustände für die Entstehung und Beseitigung von Krankheiten von Einfluss sind, allmählich eine weitere Form psychischer Therapie, die man als psychische Allgemeinbehandlung bezeichnen kann: Beseitigung von Schädlich- keiten, welche auf die Psyche und dadurch auf den Körper un- günstig einwirken, Herbeiführung eines der Genesung förderlichen Gemüthszustandes, Zerstreuungen.
Diese Form psychischer Therapie wurde schon von hervor- ragenden Aerzten des griechisch-römischen Alterthums geübt, wie aus einer Reihe von Andeutungen in ihren Schriften hervorgeht. Hippokrates, Aretaeus und Galenus erklären die Freude als ein die Genesung in vielen Fällen förderliches Mittel. Erasistratus erkannte aus dem Pulse die psychische Natur des Leidens des kranken Königssohnes Antiochus und empfahl seinem Vater das richtige psychische Mittel gegen dasselbe, die Abtretung seiner Gattin Stratonike an den unglücklich liebenden Sohn. Asklepiades verordnete bei melancholischen Zuständen heitere phrygische Melo- dien, bei maniakalischen ernste dorische und lydische Weisen, Aretaeus bei der religiösen Form der Melancholie neben dem Flötenspiele andere Zerstreuungen und ermunterndes Zusprechen.
Zu gleicher Zeit mit der religiösen verlor die magische Psycho- therapie, die in Form von Beschwörungen, Zauberformeln und Wundermitteln Anwendung fand, erheblich an Ansehen ; wenn auch hervorragende Aerzte wie Galenus derselben durchaus nicht ent- rathen wollten und deren ausgezeichnete Dienste in einzelnen Fällen rühmten, so erachtete doch der grosse römische Jurist Ulpian diese Heilpraktiken wenn nicht geradezu für Schwindel , doch als nicht in das Gebiet der Medizin gehörig^).
3. Periode. Langsam, doch entschieden machte auch im Mittelalter die rationelle profane Psychotherapie Fortschritte.
1) Vergl. die Sclirift meines Bruders, Dr. jur. Tli. Löwenfeld: Iniisti- inabilität und llonorirung der artes liberales nach römischem Recht.
4
Goscliichtliches.
Alexander von Tralles (525— GÜ5) enipt'ald bei Melancliolie Ueisen und andere Zerstreuungen, aucli leichte Beschäftigung und rieth, auf Erfüllung der Wünsche der Kranken Bedacht zu nehmen. Von den Aerzten der griechisch-arabischen Schule hat Isaak Ju- daeus (f 940) bereits die psychotherapeutische Bedeutung der Prognose hervorgehoben: „Den Kranken sollst du beruhigen, seine Genesung ihm in Aussicht stellen, wenn du auch selbst nicht davon überzeugt bist, da du damit seine Natur unterstützest.^^ Wilhelm von Saliceto (gest. 1280) er- kannte die Bedeutung des Vertrauens des Patienten für den Kur- erfolg; nach ihm soll der Arzt sich möglichst bemühen, durch langes Befühlen des Pulses, eingehende Erhebung der Anamnese und auf anderem Wege das Vertrauen des Kranken und seiner Umgebung zu erwerben, weil dadurch das Heilverfahren vermöge der Einbildungskraft des Patienten sich wirksamer xmd erfolgreicher gestalte, als durch Anwendung vieler Medikamente und Instrumente. Er empfiehlt ferner ebenfalls die Prognose dem Kranken gegenüber günstig zu stellen, die Umgebung jedoch über den wirklichen Sach- verhalt aufzuklären ^). Dieser Fortschritt in den ärztlichen An- schauungen übte jedoch zunächst auf die Verwerthung der religiösen und theologischen Psychotherapie keinen Einfluss.
Mit der Ausbreitung des Christenthums erlangte diese Form der Psychotherapie allmählich wieder grösseren Aufschwung. Was früher die heidnischen Priester der Aeskulaptempel geübt hatten, übten nun Mönche und Weltgeistliche, auch Bischöfe und selbst einzelne Päpste, und bei dem tiefgläubigen Sinne, welcher das ganze Mittelalter auszeichnete, ist es nicht zu verwundern, dass man der von priesterlicher Seite gespendeten Hilfe besonderes Vertrauen entgegenbrachte. Gebete, Beschwörungen (Exorcismen), Kreuzes- zeichen, Handauflegen, Salbung, geweihte Kräuter, geweihtes Wasser, zählten zu den Hauptmitteln der theologischen Psychotherapie, deren Wirksamkeit nur von der Wunderthätigkeit der Gebeine und anderer Reliquien der Heiligen übertrofi'en wurde. Und wie im Alterthum in den Tempeln des Aeskulap, so drängten sich wieder an einzelnen Orten, den Gräbern der Heiligen und Wall-
1) V. Pagel, Medizinische Deontologie. Allg. nied. Ceutralztg. Nr. 25, 1896.
GescliiclitHclies.
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fahrtsorten, deren Kirchen die Reliquien berühmter Heiliger auf- bewahrten, die Kranken in dem Glauben zusammen, daselbst durch ein Wunder Genesung zu finden. Noch im Anfänge des vorigen Jahrhunderts bildete das Grab des Jansenisten Paris auf dem Kirchhofe St. Medardus in Paris eine Stätte, an welche zahlreiche gläubige Kranke pilgerten; die Wunder, welche sich an dieser Stelle ereigneten (ekstatische und Krampfzustände insbesonders) waren jedoch von einer Art, dass die französische Regierung sich genöthigt sah, den Kirchhof zu schliessen. Die Ausbreitung, welche der Dämonen-, Hexen- und Besessenheitswahn im 15., 16. und 17. Jahrhundert erreichte, verschaffte einer Form der theologischen Psychotherapie, dem Exorcismus, eine ganz gewaltige Bedeutung, zumal selbst hervorragende Aerzte wieLepois, AmbroisPare, Plater und selbst noch Willis den Dämonenglauben theilten und Erki’ankungen durch dämonische Einwirkung annahmen. Diese Anschauungen fanden noch in der 2. Hälfte des vorigen Jahr- hunderts in dem schwäbischen Geistlichen Gassner einen energischen Vertreter; der Erfolg, welchen Gassner durch seine exorcistischen Kuren erzielte, vermochte jedoch nicht zu verhindern, dass der Glaube an die Heilkraft des Exorcismus mehr und mehr schwand ; schon im vorigen Jahrhunderte urtheilten manche Aerzte über die Wunderthätigkeit Gassner’s sehr abfällig (so insbesonders Tissot).
Ein Zeitgenosse Gassner’s war Messmer, und wenn auch die von diesem viel verketzerten Arzte aufgestellte Lehre von dem thierischen Magnetismus nichts enthält, was nicht von Paracelsus anfangend bereits eine Reihe mehr minder gelehrter Aerzte, Philo- sophen und Alchimisten angenommen hatte, so kann ihr doch jedenfalls das Verdienst nicht abgesprochen Averden, dass sie den Anstoss zur Erforschung jener Erscheinungen gab, mit Avelchen sich die als Hypnotismus bezeichnete Sparte der Psychologie be- lässt. Der Entwicklungsgang des Hypnotismus von M e s s m e r bis Braid, von Braid bis Liebault und von diesem bis in die Gegen- Avart ist so vielfach bereits geschildert, dass Avir darauf verzichten können, hier auf denselben einzugehen. Die philosophische und psychologische Bildung, Avelche die Aerzte des vorigen Jahrhunderts, in dieser Beziehung vortheilhaft von den zeitgenössischen Vertretern der Medizin sich unterscheidend, im Durcliscbnitt besassen, hatte
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Geschichtliches,
die wohl begreitiiche Folge, dass man bei der Krank enbebandlung auf Beeinflussung der Psyche grosses Gewicht legte. „Der Arzt“, bemerkt Baas in seiner Geschichte der Medizin, „basirte seinen Heilplan auf den ganzen Menschen, den er vor sich hatte, noch nicht auf innerhalb desselben nachweisbare pathologisch-anatomi- sche Veränderungen; er war nach Hippokrates’ Forderung zugleich Psycholog, resp. Philosoph, nicht technischer Heilkünstler allein.“ Bei keinem Arzte des vorigen Jahrhunderts tritt jedoch die Werth- schätzung der psychischen Therapie prägnanter hervor als bei Keil, dessen Thätigkeit allerdings z. Th. noch in den Anfang dieses Jahrhunderts fällt; kein anderer Arzt war auch vor ihm und noch lange nach ihm so sehr bemüht, die Bedeutung der Psychotherapie für die ärztliche Praxis klar zu stellen wie Reil. Er wollte, dass die allgemeine Heilkunde den zwei anerkannten Kurmethoden, der chirurgischen und medizinischen, die psychische als ebenbürtig hin- zufüge und erklärte: „Die medizinischen Fakultäten werden nach dieser Acquisition genöthigt sein, den vorhandenen zwei Graden noch einen dritten, nämlich die Doktorwürde in der psychi- schen Heilkunde zuzufügen“. Seine „Rhapsodien über die Anwendung der psychischen Kurmethode auf Geistes- zerrüttungen“ enthalten, wenn sie sich auch hauptsächlich mit der Behandlung der Geisteskrankheiten befassen, neben manchen sehr beachtenswerthen psychologischen Bemerkungen auch eine Reihe von Ausführungen über psychische Heilmethoden im Allge- meinen, welche von der Feinheit der Beobachtungsgabe des Autors wie von dessen Denkschärfe ein glänzendes Zeugniss ablegen.
Die Anregung, welche Reil geben wollte, fiel auf keinen sehr fruchtbaren Boden. Wenn auch manche Aerzte in den ersten Decennien dieses Jahrhunderts, in dem sie den sogenannten ani- malen Magnetismus anwandten, in ausgedehntem Maasse, wenn auch ohne Absicht, Psychotherapie betrieben, im Ganzen war die gewaltsame, auf grobsinnliche und unmittelbare Erfolge berechnete Therapie der ersten vier Decennien dieses Jahrhunderts mit ihren enormen Blutentziehungen, ihren Ableitungen auf die Haut, ihrem Purgiren etc. durchaus nicht dazu angethan, die Psychotherapie zu fördern. Auch mit dem Aufschwünge, welchen die wissenschaft- liche Medizin von den vierziger Jahren anfangend nahm, wurde
Gescliiclitliches.
7
es nicht besser, in mancher Hinsicht sogar noch schlimmer. Die ausserordentlichen Fortschritte, welche die Diagnostik in verhält- nissmässig kurzer Zeit machte, führten dazu, dass man in der Stellung einer exakten Diagnose die vornehmste Aufgabe des Arztes erblickte und in Anbetracht der geringen Leistungen der bisherigen internen Therapie diese als einen mehr nebensächlichen Theil der ärztlichen Thätigkeit ansah. Der aus dieser Auflassung resultirende, insbesonders von der Wiener Schule geförderte therapeutische Nihilismus war auch der Psychotherapie durchaus nicht günstig, obwohl der Mangel an Vertrauen zu den internen Mitteln einen Stimulus zu energischerer Kultivirung und weiterer Ausbildung der Psychothei-apie hätte bilden sollen. Wenn man auch unter dem Titel „ut aliquid fiat“ thatsächlich psychisch behandelte, so war doch von einer zielbewussten Psychotherapie wenig die Rede; der Nihilismus erstreckte sich auch auf die psychische Behandlung. Indess auch diese Phase wurde überwunden, und die derselben folgende, seit Mitte der sechsziger Jahre ungefähr bemerkbare Reaktion, an deren Herbeiführung der mächtige Aufschwung der Arzneimittellehre und die Entwicklung der physikalischen Heil- methoden einen besonderen Antheil haben, neigt wieder mehr nach dem anderen Extrem, einer Ueberschätzung der pharmazeutiscben Heilmittel, welche allmählich auch zu einer Ueberfluthung des medizinischen Marktes mit neuen Mitteln dieser Art führte.
4. Periode. Seit Mitte der achtziger Jahre erst ist die Psychotherapie in eine weitere Entwicklungsphase getreten; diese knüpft sich vorzüglich an zwei Namen: Liebault in Nancy und Charcot, Liebault den Begründer der Suggestivtherapie, welcher die Heilung von Krankheitserscheinungen durch Erweckung von Vorstellungen — Suggestion — lehrte, und Charcot, welcher die Entstehung von Krankheitserscheinungen durch Vorstellungen in unwiderleglicher Weise nachwies. Liebault hatte bereits 1866 in einer allerdings an wunderlichen Ausführungen reichen Schrift seine Ansichten und Erfahrungen über den „künstlichen Schlaf“ (die Hypnose) dargelegt ; dieses Werk fand jedoch in medizinischen Kreisen keinerlei Beachtiing. Erst seitdem Bernheim, Avelcher veranlasst diu’ch Dumont 1882 mit der Hypnose und dem Liebault- schen Verfahren sich zu beschäftigen anfing, ilie Aufmerksamkeit
8
(jiogenwilrtiger Stand der l’sycliotlierapie.
weiterer Kreise auf dieses durch eine Anzahl von ruldikationen, insbesonders sein Bucli ,,De la Suggestion etc/‘ (1. Aufl. 1886), ge- lenkt hat, erlangte die Lehre Liebault’s die ihr gebührende Anerkennung. Die Schule von Nancy erwarb sich alsbald eine Reihe begeisterter Anhänger in verschiedenen Ländern, welche z. Th. neben der therapeutischen auch die psychologische Seite des Hypnotismus kultivirten. Hiebei wurden aber auch über die mächtige Rolle, welche die Suggestion in unserer Therapie über- haupt spielt, gewichtige Aufklärungen gewonnen und der Weg zur Erkenntniss der Suggestivwirkung vieler Heilagentien angebahnt, deren therapeutische Leistungen man früher von psychischen Ein- flüssen unabhängig erachtete (interne Mittel , Elektrotherapie, Massage, Hydrotherapie, Badekuren etc.). Die an die Entdeckung Charcot’s von dem pathogenen Einflüsse gewisser Vorstellungen sich anschliessenden Forschungen haben auf der anderen Seite gezeigt, dass das Gebiet der durch Vorstellungen bedingten Krank- heitszustände ein sehr grosses ist und somit für die Psychotherapie ein Feld sich bietet, dessen Umfang man früher nicht ahnte. Hiemit sind wir bei der Gegenwart angelangt; wie steht es nun in dieser mit der Psychotherapie? Die Antwort wird sich aus Folgendem ergeben.
Ueber den Werth der Hypnotherapie sind, wie wir später sehen werden, die x\nsichten noch sehr getheilt; dagegen sind unter den wirklich hervorragenden, völlig auf der Höhe der Zeit stehenden Aerzten aller Länder wohl nur wenige mehr zu finden, welche verkennen, dass für die Beseitigung vieler Krankheits- zustände geistige Einflüsse von grosser Bedeutung sind und daher der Psychotherapie ein grosses und lohnendes Gebiet offen steht. Diese Anschauung ist jedoch noch keineswegs in das Bewusstsein der Masse der ärztlichen Praktiker gedrungen, und ebensowenig sind die Wege, auf welchen die in der menschlichen Psyche liegen- den Heilkräfte bei Krankheiten nutzbar zu machen sind, der Masse der Praktiker klar. Die Schuld an diesem schwer wiegenden IMiss- stande fällt hauptsächlich der Art der Vorbildung für den ärztlichen Beruf zu, welche unsere Mediziner heutzutage an den Universitäten geniessen oder genauer gesagt, welche ihnen durch die Prüfungs- ordnungen aufgezwungen wird. An keiner unserer l'niversitäten
9
Gogenwiii'tiger Stand der Psychotlierapic.
werden Vorlesungen über Psychotherapie gehalten oder praktische Unterweisung in derselben ertheilt. Der Studienplan der Mediziner enthält auch nichts, was zum privaten Studium dieses Zweiges der Therapie anregen könnte. Man verlangt von dem Studenten zwar eine gewisse Kenntniss der Pflanzenphysiologie, für welche er in seiner künftigen Thätigkeit niemals Verwendung hat, beansprucht von ihm dagegen nicht das elementarste Verständniss für die höchst- stehenden Funktionen des menschlichen Organismus, die Thätig- keiten der Psyche, die Gesetze, welche diese beherrschen und denen ihr Einfluss auf den Körper im gesunden und kranken Zu- stande unterliegt^).
Dieses Nichtverlangen führt in den Köpfen vieler, vielleicht der meisten jungen Mediziner zu der Vorstellung, dass die Psycho- logie und die sich auf ihr aufbauende Psychotherapie wohl nur von sehr untergeordneter Bedeutung für den Arzt oder eine Art scheinwissenschaftlichen Firlefanzes, ähnlich der Alchimie, sein müsse, dessen der physiologisch ausgerüstete Arzt, welcher Digi- talis und Jod, Morphium und Chloral zu verwenden weiss, getrost entrathen kann. Und doch unterliegt es keinem Zweifel, dass die jungen Kollegen, wenn sie mit nur ein Viertel ihrer gegenwärtigen Kenntnisse in der Materia medica und auch mit geringeren Kennt-
1) Die Bedeutung der Psychologie für die Medizin wurde schon von Reil völlig gewürdigt. „Sie (die Psychologie) ist eine Naturlehre eines Theils des Gegenstandes, arif welchen der Arzt wirken, den er also auch kennen muss .... Und gesetzt auch, die Seele wäre nichts Körperliches, so greift sie immerhin in dasselbe ein und verrückt dem Arzt seine Zirkel, wenn er ihre geheimen Spiele nicht kennt. Dann hat die Seele Krankheiten wie der Körper, die miteinander in einer beständigen Wechselwirkung stehen. Die Psychologie bietet ferner dem Arzte eine eigene Klasse von Instrumenten zur Korrektion der Fehler organischer Körper an. Und endlich muss die psychische Kurmethode als Inbegriff von Regeln, psychische Mittel zu bestimmten Zwecken anzuwenden, aus ihr entlehnt werden.“
Ebenso eindringlich wie Reil vor fast lÖO Jahren hatPorel in jüngster Zeit auf die Bedeutung der Psychologie für die Medizin hingewiesen. „Wie kann man einen Begriff von Psychiatrie und Geisteskrankheiten haben“, be- merkt Porel, „wenn man keinen Begriff von Psychologie und Gehirnfunk- tionen besitzt? Aber ich gehe weiter und behaupte, dass niemals der Arzt einen annähernd richtigen Begriff der Funktionen des menschlichen Körpers und ihrer Störungen, der Krankheiten, haben wird, so lange er das Gehirn und die Psychologie nicht kennt.“
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Gegenwärtiger Stand der Psychotlierapie.
nisson in einzelnen theoretischen Fächern, dafür jedocli in Psycho- logie und Psychotherapie geschult in die Praxis träten, dass sie nicht nur der leidenden Menschheit ungleich grössere Dienste zu leisten vermöchten, sondern auch selbst namentlich im Beginn ihrer praktischen Thätigkeit ungleich weniger Schwierigkeiten finden würden. Sie würden sich leichter das Vertrauen ihrer Patienten erwerben und erhalten, mit ungleich besserem Verständ- niss an die Behandlung vieler Krankheitszustände und die Be- urtheilung ihrer Heilerfolge herantreten und müssten nicht erst im Laufe der Jahre allmählich durch eigene widrige Erfah- rungen zu der Erkenntniss gelangen, dass der Arzt auch mit der Psyche des Kranken bei seinen Heilbemühungen sehr zu rechnen hat.
Dass die zahlreichen Publikationen der Suggestionstherapeuten sehr wenig dazu beigetragen haben, bei der grossen Menge der Praktiker die Werthschätzung der Psychotherapie zu erhöhen, liegt an mehreren Umständen. Zunächst an der wenig freundlichen Stellung, welche die grosse Mehrzahl der als Autoritäten von den Praktikern angesehenen Persönlichkeiten, insbesonders der Kliniker, der Hypnotherapie gegenüber bisher eingenommen hat, sodann aber auch an den übergrossen Prätensionen, mit welchen dieser Zweig der Psychotherapie dem ärztlichen Publikum präsentirt wurde. Diese erhellen am deutlichsten aus dem Umstande, dass manche Aerzte Schriften über Behandlung mit Hypnose und hyp- notischer Suggestion unter dem Titel „Psychotherapie“ veröffent- lichten, als ob es keine andere Art psychischer Behandlung gebe als die hypnotische. Diese Uebertreibungen waren keineswegs dazu angethan, der Indifferenz bezüglich der Psychotherapie im Allgemeinen und der hypnotischen Behandlung im Besonderen zu steuern.
Eine Aussicht, dass seitens der medizinischen Fakultäten für die Ausbildung der Aerzte in der Psychotherapie gesorgt werden wird, besteht leider vorerst nicht. Auch die jüngst veröffent- lichte Zusammenstellung „der Ergebnisse der kommissarischen Berathungen über die Revision der medizinischen Prüfungen“, enthält nichts, was auf irgend eine Absicht, das Studium der
Aussichten für die Zukunft.
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l’sycliotherapie zu fördern, liinweist. Und die Früchte, welche die verlangte Wiedereinreihung der Psychiatrie unter die Prü- fungsgegenstände bei den der psychologischen Vorbildung er- mangelnden Studirenden zeitigen kann, werden sich als taube Nüsse erweisen. So können wir nur hoffen, dass diese Schrift in die Kreise gelangt, für welche dieselbe bestimmt ist, und da- durch Abhilfe geschaffen wird.
II. A b s c li n i 1 1.
Die Hauptthatsaehen der medizinisehen
Psyeholog’ie.
A. Geist und Körper. Ober- und Unterbewusstsein.
’ Spaltung der Psyclie. Geistige Sonderexistenzen.
Die Art des Zusammenhanges zwischen Körper und Seele, zwischen geistigem und leiblichem Leben ist von altersher Gegen- stand spekulativer Betrachtungen gewesen, und gar mannigfaltig sind die Theorien, die im Laufe der Jahrhunderte bezüglich des- selben ausgesonnen wurden. Mit der ärztlichen und überhaupt der naturwissenschaftlichen Erfahrung lässt sich zweifellos die als monistisch bezeichnete Auffassung am besten vereinbaren. Die geistigen Thätigkeiten, von welchen wir irgend eine Kenntniss haben, sind bei Mensch und Thier an das Funktioniren des Central- nervensystems gebunden. Es unterliegt auch keinem Zweifel, dass beim Menschen die geistige Verrichtung, von welcher wir im eigent- lichen Sinne Bewusstsein und bewusste Erinnerung haben, das Vor- stellen, insbesonders mit der Thätigkeit der Grosshirnrinde zusam- menhängt ’)• Man kann annehmen, dass mit dieser das geistige Leben in der Weise verknüpft ist, dass je einem geistigen Vorgänge eine
1) An der Basis der Grosshirnheinisphiiren verschmilzt der Streifenhügel mit der Rinde des Grosshirns; die betreffenden Theilo des Streifenhügels (Sclnvanz- kern und riitamen des Linsenkerns) könnten in ihrer Bedeutung für die psychi- schen Funktionen der Grosshirnrinde gleichwerthig sein.
Bewusstsein und psycliische Thiltigkeit.
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Veränderung in dem Molekularznstande l)estinimter Rindeneleniente entspricht und beide Vorgänge, der geistige und der nervöse, nicht von einander getrennt und verschieden sind, sondern zu- sammenfallen, sofern das, was unserer inneren, subjektiven Auf- fassung als geistig erscheint, der äusseren Betrachtung als nervöser Molekularvorgang sich darstellt ^). Mit dieser Annahme haben wir für die Deutung der uns im Folgenden beschäftigenden Er- scheinungen schon eine wichtige Grundlage gewonnen. Die Hervor- . rufung körperlicher Veränderungen durch psychische Vorgänge lässt sich darauf zurückführen, dass von den Centren der Gross- hirnrinde aus durch nervöse (rein materielle) Vorgänge körperliche Veränderungen veranlasst werden.
Ebensowenig als man nach dem eben Bemerkten in den psychischen Vorgängen etwas von den nervösen Getrenntes und Trennbares erblicken darf, ebensowenig darf man andererseits das psychische Leben mit den Vorgängen in unserem Bewusstsein ohne Weiteres identifiziren, wie es allerdings vielfach geschehen ist. Die Vorstellungen, welche den Inhalt unseres jeweiligen Be- wusstseins bilden und während unseres wachen Zustandes in un- aufhörlicher Folge sich aneinander ketten, stellen nur eine Seite unserer psychischen Thätigkeit dar. Vergleichen wir das geistige Leben mit den Vorgängen auf einer Bühne, so entsprechen die Akte unseres Bewusstseins den Vorgängen im Vordergründe der Bühne. Die Thätigkeit auf der Bühne beschränkt sich, wie wir wissen, keineswegs auf das unserem Blicke zugängliche im Vorder- gründe derselben Geschehende. Eine geordnete, zusammenhängende Darstellung hat zur Bedingung die unablässige Mitwirkung zahl- reicher hinter den Koulissen thätiger Faktoren, deren Einzel- leistungen unserer Wahrnehmung entzogen sind. Ebenso ist der wechselnde Inhalt unseres Bewusstseins nicht lediglich durch die
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in dessen Rayon eintretenden geistigen Elemente, resp. die diesen
1) Dass auch die Thätigkeit der subkortikalen Centren einer subjektiven Seite, eines gewissen Bewusstseins nicht entbehrt, wird von vielen und wohl mit Recht angenommen; allein diese subjektiven Vorgänge sind für unser Kgo nicht vorhanden, i. e. wir haben von denselben keinerlei Kenntniss, weil zwischen denselben und den Vorgängen unseres Ichbewusstseius kein associa- tives Band besteht.
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Grade des Bewusstseins, Ober- und Unterbewusstsein.
entsi)rechenden cortikalen Vorgänge, sondern noch durch eine Menge anderer Prozesse bedingt, welche sich im Bereiche der den psychischen Verrichtungen dienenden Grosshirncentren abspielen. Man hat früher diese nicht in der gewöhnlichen Bewusstseinsbe- leuchtung sich vollziehende, vorbereitende und begleitende geistige Thätigkeit als unbewusstes oder latentes Vorstellen, als unbewusste oder automatische Gehirnthätigkeit (uncon- scious cerebration) etc. etc. bezeichnet. Indess lehrt die Beobach- tung, dass die Eigenschaft des Bewusstseins den . geistigen Elementen, welche Bestandtheile des jeweiligen Bewusstsseinszustandes sind, nicht in gleicher Weise anhaftet, dass es Grade des Bewusst- seins giebt, oder, bildlich gesprochen, in der Sphäre des Bewussten die Beleuchtung von dem Centrum gegen die Peripherie allmählich abnimmt. Neben der in einem gegebenen Augenblicke in völliger Klarheit unserem Bewusstsein gegenwärtigen Vorstellung befinden sich andere, die geringere Deutlichkeit in verschiedenen Ab- stufungen zeigen. Schon dieser Umstand macht eine strenge Sonderung von Bewusstem und Unbewusstem schwierig. Es kommt jedoch noch eine Keihe anderer Thatsacheii in Betracht. In unserem Geiste können gleichzeitig verschiedene Prozesse vor sich gehen. Bei einer Person, welche in eine schwierige Arbeit völlig vertieft ist, mag es verkommen, dass sie auf eine Frage der Um- gebung eine Antwort ertheilt und nachträglich weder von der Frage noch von der Antwort etwas weiss. Wenn hier auch die bewusste Erinnerung für eine Gruppe geistiger Geschehnisse — das Vernehmen der Frage und die Formung der Antwort — fehlt, so kann man doch kaum dieselben als völlig der subjektiven Seitß des Bewusstseins ermangelnd betrachten. Wir wissen ja, dass wir von gar manchen zweifellos mit Bewusstsein verknüpften psychischen Vorgängen nachträglich keine oder nur eine höchst verschwommene Erinnerung haben. So erleben wir es nicht selten, dass wir am Morgen uns mit Bestimmtheit erinnern, einen Traum gehabt zu haben, von dem Inhalt desselben uns jedoch nichts in das Gedächtniss zurückrufen können. Statt zwischen bewussten und unbewussten geistigen Vorgängen zu unterscheiden, scheint es uns daher gerechtfertigt, mitUessoir ein Oberbewusstsein und ein Unterbewusstsein anzunehmen. Dem Oberhewusstsein
Ober- und Unterbewusstsein
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gehören die während unseres wachen Zustandes sich abspielenden psychischen Akte an, deren wir völlig und zweifellos bewusst und zwar ichbewusst sind, d. h. die bei ihrem Bewusstwerden auch sogleich mit dem den Grundstock unserer inneren Erfahrung bildenden Vorstellungskomplexe unseres Ego sich verknü|)fen, die wir als unser geistigen Persönlichkeit angehörig erkennen. Dem Untei’bewusstsein fallen die psychischen Elemente mit weniger klarem Bewusstsein zu, welche neben den oberbewussten einher- gehen, sowie jene, welchen wir eine subjektive Seite (Bewusstsein) nicht auf Grund direkter innerer Erfahrung^, sondern lediglich auf Grund von Analogieschlüssen zuerkennen. Die beiden Sphären des Ober- und Unterbewusstseins berühren und beeinflussen sich in mannigfacher Weise. Vorstellungen, welche aus dem Oberbe- wusstsein scheiden, treten in das Unterbewusstsein über und setzen in diesen ihre associativen Wirkungen fort, deren Kesultat dann wieder in das Oberbewusstsein tritt. Wir begegnen auf der Strasse z. B. einer bekannten Person, deren Name uns jedoch nicht ein- fällt. Wir kümmern uns um diesen Umstand nicht weiter und nach einer Weile, während welcher wir anscheinend, d. h. in unserem Oberwusstsein, nicht mehr an die Person dachten, fällt uns der Name plötzlich ein. Die Vorstellung der betreffenden Person ist hier offenbar mit ihrem Scheiden aus dem Oberbe- wusstsein nicht aus der Sphäre der geistigen Thätigkeit geschwun- den, sie hat associative Vorgänge im Unterbewusstsein angeregt und das Resultat dieser, der Name, ist wieder in das Oberbe- wusstsein eingetreten.
Dessoir glaubt, man müsse „in. jeder Hemisphäre ein paral- leles Substrat sowohl für Unterbewusstsein als für Oberbewusstsein annehmen. Flechsig hält es für fraglich, ob das unbewusste (i. e. unterbewusste) Arbeiten der Associationscentren mir gewissen Elementen (vielleicht den centralsten der nicht direkt mit den Sinnessphären zusammenhängenden Neurone) zukommt, oder allen ohne Ausnahme, sobald die Erregung unter eine gewisse Intensität sinkt. Daran ist allerdings nicht zu ZAveifeln, dass in jedem ge- gebenen Momente ober- und unterbewusste Vorgänge an die Thätig- keit verschiedener Gehirnelemente geknüpft sind. Hieraus dürfen Avii jedoch keineswegs folgern, dass das Substrat beider Vorgänge
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Ober- und Unterbewuastsein.
im (Jehirne constant ein verscliiedenes ist. Die Thatsachen, welclie die Selbstbeobaclitung lehrt, sprechen vielmehr dafür, dass die gleichen (iehirnregionen und cortikalen Schichten bei den ober- wie bei den unterbewussten psychischen Akten betheiligt sind; es hängt oft'enbar häufig nur von zufälligen Umständen ab, ob wir mit einem Gegenstände uns ober- oder unterbewusst beschäf- tigen. Wenn ich mir eine Thatsche, die ich wissen möchte, augen- blicklich nicht in’s Gedächtniss zurückrufen kann, und ich darüber nicht weiter nachdenke, so fällt mir dieselbe oft nachträglich plötzlich ein; das Unterbewusstsein hat hier die Reproduktion der betreffenden Vorstellung übernommen; wenn ich mir jedoch Zeit genommen hätte, mich länger zu besinnen, so hätte mein Ober- bewusstsein die gleiche Leistung zu Stande gebracht. Wir be- schäftigen uns mit einem Probleme, ohne, momentan zu einer Lösung desselben zu kommen; am nächsten Tage findet sich diese bei Wiedei’aufnahme des Problems ohne Weiteres; das Unterbe- wusstsein hat hier die Ueberlegungen des Oberbewusstseins fort- gesetzt und zu einem Abschlüsse gebracht ; wenn wir diesen näher in’s Auge fassen, so ergiebt sich jedoch zweifellos, dass wir durch oberbewusstes Nachdenken zu demselben Resultate hätten gelangen müssen.
Wichtige Angelegenheiten beschäftigen uns abwechselnd im Ober- und Unterbewusstsein. Wir erhalten z. B. die Nachricht von einem wichtigen Familienereignisse; wir können, da noch viel laufende Geschäfte zu erledigen sind, uns mit derselben zunächst nicht länger beschäftigen; allein man findet, dass wir je nach der Art der erhaltenen Nachricht heiterer oder ernster als gewöhnlich oder verstimmt sind ; die Nachricht regt offenbar in unserem Untei’be- wusstsein weitere Associationen an, und diese werfen an das Ober- bewusstsein einen Reflex in Form einer Stimmung. Dass das Unterbe- wusstsein mit einer Intelligenz ähnlich dem Oberbewusstsein arbeitet, kann nach den erwähnten Leistungen desselben schon nicht mehr bezweifelt werden. Allein die Intelligenz der unbewussten psychi- schen Thätigkeit ist doch in gewisser Hinsicht von anderer Art wie die des Oberbewusstseins. Die unterbewusste psychische Arbeit wird nicht in der Weise wie die oberbewusste von momentanen Eindrücken und den Erinnerungen der jüngsten Zeit beeintlusst.
Unterbewusstsein, Einheit der Persönlichkeit,
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Sie bewegt sich caiich nicht in neuen schwer zugänglichen associa- tiven Bahnen, sondern in häufiger benützten und daher keine be- sonderen Hemmnisse bietenden Gedankenpfaden. Sie wickelt sich daher mehr automatisch, reflexartig ab und ist desshalb im Stande, sicherer und deutlicher das zu Tage zu fordern, was der Lebens- erfahrung, den Denkgewohnheiten und dem Charakter des Indi- viduums entspricht, als die oberbewusste Ihätigkeit. Dass das Unterbewusstsein für seine Thätigkeit ein eigenes Gedächtniss hat, ist indirekt aus dessen Leistungen schon zu erschliessen. Die Existenz dieses gesonderten Gedächtnisses ist auch auf experimen- tellem Wege an Gesunden und Kranken (Hysterischen) nachgewiesen worden (Binet, P. Janet etc.). Dieses Gedächtniss kann durch Hebung bei Gesunden zu sehr bemerkenswerther Ausbildung ge- langen.
Das unterbewusste psychische Leben ist bei gesunden Indi- viduen allem Anscheine nach sehr verschieden entwickelt und ver- schiedener Leistungen fähig. Die Einheit unserer Persönlich- keit aufzugeben, besteht desshalb jedoch keine Veranlassung. Das Verhältniss des Oberbewusstseins zum Unterbewusstsein ist nicht das zweier völlig koordinirter psychischer Sphären oder, um ein Bild zu gebrauchen, zweier Geschäftspartner, sondern eher das eines Amtsvorstandes zu seinen Hilfsarbeitern. Der Chef kann nicht alle ihm zufallenden Arbeiten allein ausführen, er überlässt daher die Erledigung derselben zum grossen Theile seinen Unter- gebenen (Unterbewusstsein), diese übernehmen auch manche von aussen zugehende Arbeiten ohne besonderen Auftrag (unterbewusste Verarbeitung äusserer Eindrücke); der Chef erhält jedoch von allen wichtigeren Geschäften Kenntniss und die Leitung des Ganzen bleibt immer in seiner Hand. Unter pathologischen Verhältnissen kann das Unterbewusstsein jedoch eine Selbständigkeit und Leistungsfähigkeit gewinnen, dass der Anschein eines Nebeneinander zweier Ego’s (eines primären und sekundären) entsteht. Wir wollen hier von den zahlreichen Versuchen, welche von französischen Eorschern insbesonders (Pierre Janet, Binet und Fere) zur Auf- deckung der Leistungen des Inconscient (Unterbewusstseins) bei Hysterischen angestellt wurden, nur einen anführen. Giebt man einer Hysterischen mit Anästhesie eines Armes in die gefühllose
LUwonfolil, Psyclioth<'rii))io. 2
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Spaltung der Psyche, geistige Sonderexistenzen.
durch einen Schirm verdeckte Hand einen Bleistift, so kommt es bei einzelnen dieser Personen vor, dass sie ganze Seiten voll schreiben, ohne ihre Unterhaltung über ganz andere Gegenstände zu unterbrechen. Das Oberhewusstsein nimmt hier allem Anscheine nach keine Notiz von dem, was die hland ausführt').
Wie neben den im Oberbewusstsein aneinander sich reihenden psychischen Prozessen andere psychische Vorgänge sich abspielen, von welchen das Ego, d. h. das Oberbewusstsein nichts weiss, so können auch in der Zeitfolge die dem Oberbewusstsein ungehörigen, mit unserem Ego verknüpften und jeder Zeit in das Gedächtniss zurückrufbaren psychischen Thätigkeiten durch andere abgelöst werden, welche in keine oder wenigstens keine feste und dauernde associative Beziehung zum Ego treten und wegen dieses Mangels an Verbindung von diesem aus nicht in das Gedächtniss zurück- gerufen werden können, für dieses also quasi nicht existiren. Diese besonderen, von dem normalen Oberbewusstsein isolirten Bewusst- seinszustände hinterlassen wie jeder geistige Akt gewisse Spuren und sind daher, wenigstens sehr häufig, wenn auch nicht von dem Ego reproduzirbar , so doch auf anderem Wege der Erinnerung zugänglich. Verwandte derartige vom Ego isolirte Bewusstseins- zustände können sich untereinander associativ verknüpfen, d. h. augenblicklich vorhandene Bewusstseinszustände mit den Erinne- rungen früherer ähnlicher in Verbindung treten und so sich neben dem Grundkomplexe des Ego geistige Sonderexistenzen ent- wickeln. Man spricht dann von einer Spaltung des Bewusst- seins oder der Psyche, einer Verdoppelung oder Ver- vielfältigung der geistigen Persönlichkeit, einem ersten (normalen) und einem zweiten Zustande.
Die Bildung geistiger Sonder existenzen kann sich unter normalen soAvohl als pathologischen Verhältnissen vollziehen, auch
1) In jüngster Zeit hat von Schrenk-Notzing eine andere Deutung dieser und anderer dem Unterbewusstsein zugeschriebener Leistungen vei’sucht. Nach seiner Ansicht wendet sich die Aufmerksamkeit bald der einen Reihe psychischer Vorgänge (der Unterhaltung), bald der anderen (dem Schreiben) zu; beide Reihen gehören also dem Oberbewusstsein an, sind jedoch durch keine Erinnerung miteinander verknüpft. Gegen diese an sich gewiss berech- tigte Auffassung erheben sich jedoch manche Bedenken , auf welche wir hier nicht näher eingehen können.
Hypnoide Zustände. 19
auf artifiziellem Wege herbeigeführt werden. Unter normalen Verhältnissen zeigt nur das Traumvorstellen die Eigenschaften eines zweiten Zustandes. Der Traum, welcher uns in unmögliche Situationen versetzt, um die Schranken des Raumes und der Zeit sich nicht kümmert und von der Logik unseres wachen Denkens keinen Gebrauch macht, bekundet sich hiedurch zur Genüge als ein von unserem wachen (Ober-) Bewusstsein verschiedener geistiger Zustand; er behält jedoch den Charakter einer geistigen Sonder- existenz nur dann, wenn von demselben keine oder nur summari- sche Erinnerungen verbleiben. Dem Traumbewusstsein nahestehen- den Zuständen begegnen wir auch im wachen Geistesleben.
Jähe und mächtige seelische Erschütterungen können auch den normalen Menschen in einen Zustand versetzen, in welchem derselbe sich momentan in seiner Lage nicht zurecht findet, von der äusseren Welt keine oder nur mangelhafte Notiz nimmt und wie im Traum handelt, einen Zustand, von welchem nachträglich keine oder nur eine verschwommene, cursorische Erinnerung vor- handen ist. Von verschiedenen Seiten (Thorburn, Page, Char- cot) ist die geistige Verfassung der unter der Einwirkung einer starken seelischen Erschütterung (psychischen Shock’s) stehenden Personen mit der Hypnose verglichen worden, und dieser Vergleich ermangelt nicht der Berechtigung, wesshalb wir auch mit Breuer und Freud diesen Zustand als hypnoid zu bezeichnen nicht an- stehen. Der geistige Horizont des Individuums ist Avährend des- selben mehr oder minder, immer aber erheblich eingeengt und in Folge dieses Umstandes die Empfänglichkeit für Suggestionen (die Suggestibilität) erhöht.
Die Vorstellung irgend eines körperlichen Uebels, welche in diesem Zustande durch eine ungewöhnliche Sensation oder sonstwie hervorgerufen wird, erfährt keine Korrektur, keine Bekämpfung durch antagonistische Vorstellungen und ist daher in der Lage, sich zu fixiren, zumal wenn dieselbe unerinnerbar, d. h. dauernd vom Oberbewusstsein ausgeschlossen ist.
Phantasievorstellungen, welche in diesem Zustande auftreten, werden nicht von Wahrnehmungen unterschieden, und so ereignet es sich, dass manche Personen nachträglich in gutem Glauben Er- lelmisse erzählen, welche ganz und gar nicht dem wirklichen Sach-
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Hysterische Anfälle, Epilepsie.
verlialte entspi'echen. Die seelische Veränderung, welche der psychi- sche Shock allein nicht selten produzirt, kommt natürlich noch leichter zu Stande, wenn zu dem psychischen ein physischer Shock, eine gewisse Gehirnerschütterung oder Erschütterung des ganzen Körpers und damit auch des ganzen centralen Nervensystems sich gesellt, wie es bei Unfällen verschiedener Art, insbesonders bei Eisenbahnunfällen häufig der Fall ist.
Dass neben den im Vorstehenden erwähnten, sozusagen typi- schen, hypnoiden Zuständen auch minder ausgeprägte — rudimen- täre — Vorkommen, erscheint naheliegend, wenn wir berücksichtigen, wie verschieden die Intensität der in dem geistigen Leben des Einzelnen auftretenden psychischen Traumen und wie verschieden die psychische Resistenzfähigkeit gegen solche bei verschiedenen Menschen ist. Wenn eine unverdiente Kränkung, eine Beschämung nicht so mächtig in das seelische Leben eingreift, wie die gänzlich unerwartete Nachricht von dem Tode eines nächsten Angehörigen oder eine plötzlich auftauchende eminente Lebensgefahr, so haben wir dafür in der Verschiedenheit der Affektgrösse in den einzelnen Fällen eine ausreichende Erklärung. Die Verschiedenheit der geistigen Konstitutionen andererseits bedingt es, dass der eine in der grässlichsten Situation seine Fassung völlig bewahrt, „den Kopf nicht verliert^% der andere schon durch kleinliche Wider- wärtigkeiten ausser Rand und Band gebracht wird.
Von den pathologischen Vorkommnissen, welche zur Bildung geistiger Sonderexistenzen (eines zweiten Zustandes) führen, sind in erster Linie die hysterischen Anfälle zu erwähnen, welche mit Amnesie für die Anfallsereignisse verknüpft sind. Bei öfterer Wiederkehr solcher Anfälle kann man beobachten, dass die Kranken sich ihrer früheren Anfallserlebnisse während der Attaque zum Theil wenigstens erinnern und dieselben auch in gewissem Sinne verwerthen, während sie im wachen Zustande von den Gescheh- nissen während der Anfallszeit nicht die verschwommenste ^mr- stellung haben.
Abnorme Bewusstseinszustände, welche die Charaktere einer geistigen Sonderexi.stenz aufweisen, werden ferner bei Epilepsie (Anfälle von Petit Mal und psychische Aequivalente), hei Intoxi-
Hypnose.
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kationen (Rausch, Urämie etc.), Infektionen (Fieberdelirien) und verschiedenen Psychosen beobachtet.
Eine auf artifiziellem Wege herbeigeführte geistige Sonder- existenz repräsentirt die Hypnose mit Amnesie nach dem Erwachen, der hypnotische Somnambulismus^). Die vollständigste Amnesie während des wachen (normalen) Zustandes verhindert je- doch den in den hypnotischen Zustand Versetzten nicht, sich an das während früherer Hypnosen Erlebte genau zu erinnern. Ja, diese Erinnerung kann sich auf Hypnosen zurückerstrecken, welche vor vielen Jahren statthatten, auch wenn im wachen Zustande für die Ereignisse derselben vollkommene Amnesie bestand. So be- richtet Wolfart von einer Frau, welche nach 13 Jahren im hyp- notischen Schlafe sich an alles erinnerte, was 13 Jahre vorher während des gleichen Zustandes mit ihr sich ereignet hatte. Ein Umstand, der hier besonders hervorgehoben werden muss, ist, dass sich in der Hypnose nicht nur die Erinnerung an Vorgänge während früherer Hypnosen, welche für das normale Bewusstsein (Ober- bewusstsein) nicht vorhanden ist, einstellt, sondern auch anderen Phasen der psychischen Existenz angehorige Erlebnisse, für welche im wachen normalen Zustande Amnesie besteht, sich wieder in das Gedächtniss zurückrufen lassen. So kann in der Hypnose die Er- innerung an Traumvorfälle, von welchen das wache Ego nichts weiss, an die halliicinatorischen oder wirklichen Erlebnisse während hysterischer Anfälle und während hypnoider Zustände, für welche im wachen Zustande Amnesie besteht, an manche anscheinend voll- ständig vergessene oder absichtlich aus der Erimierung verdrängte Vorgänge des normalen geistigen Lebens, auch an Eindrücke des wachen Zustandes, welche in diesem nur vom Unterbewusstsein perzipirt wurden, reproduzirt werden. Dessoir ist desshalb zu der Auffassimg gelangt, die Hypnose bestehe lediglich in der artifiziellen Freilegung einer Unterbewusstseinsschichte, die gewöhnlich bloss verborgen hinter dem normalen Bewusstsein wirkt. Diese Auffassung ist geeignet zu einer Verwässerung des Begriffes „UnterbewusstseiiP'
1) Die als natürlicher oder pathologischer Somnambulismus (Noktambulis- mus, Nachtwandeln) bezeichnetcn Zustände gehören entweder der Hysterie (Mehrzahl der Fälle) oder der Itpilepsie an; aus diesem Grunde wurden die- selben nicht speziell erwähnt.
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Arten der Vorstellungen.
ZU lüliren. Die mit der Erinnenmgskette des normalen wachen geistigen Lebens (des Ego) nicht verknüpften Vorslellungsreihen treten allem Anscheine nach zum Theil wenigstens zu einander in associative Beziehungen (unterbewusste Vorgänge des wachen Zu- standes, Träume mit Amnesie, Hypnose, hypnoide Zustände, hyste- rische Anfälle, aus dem Gedächtniss des Oberbewusstseins ver- schwundene oder verdrängte Erinnerungen). Diese von der Normal- psyche des wachen Zustandes abgespa-ltene Gruppe psychischer Elemente zu einem Unterbewusstsein zusammen zu fassen, besteht keine Berechtigung. Wir können ein über Jahre sich erstrecken- des Fortbestehen von Gedächtnissbildern in einer anderen Form als der in unserem Gehirne lokalisirter und irgendwie fixirter Er- regungsdispositionen (dynamischer Spuren) nicht annehmen; dies gilt natürlich in gleicher Weise für die der wachen Normalpsyche angehörigen wie für die von dieser abgespaltenen Vorstellungsreihen. Ob wir als Unterbewusstsein lediglich die neben dem Oberbewusst- sein beständig einhergehenden psychischen Vorgänge auffassen, oder demselben auch die Fähigkeit zuschreiben, gelegentlich das Oberbewusstsein zu verdrängen und sich an die Stelle desselben zu setzen, immer müssen wir die Vorstellungen des Unterbewusst- seins , wie die des Oberbewusstseins als aktive und nicht bloss potentielle betrachten, wenn wir nicht jede Unterscheidung zwischen 'Unterbewusstsein und Gedächtniss aufgeben wollen.
B. Arten der Vorstellungen. Vorstellungsassociation
und Disjunktion.
Die Vorgänge, welche in unserem Bewusstsein durch äussere Eindrücke unmittelbar hervorgerufen werden, werden als Em- pfindung, Wahrnehmung oder einfache Vorstellung be- zeichnet. Das Wiedereintreten einer Wahrnehmung in das Bewusst- sein ohne Einwirkung eines äusseren Eindruckes bezeichnen wir als Erinnern, die betreffende Vorstellung als Erinnerung, das Wiedereintreten von Bestandtheilen früherer Wahrnehmungen in Form neuer Vorstellungsgebilde als Phantasie vorstellen, die
1) Breuer bezeichnet dieselben als „bewusstseinsunfällige“ Vorstellungen,
Sitz der Vorstellungen; Associationsgesetze,
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betreffenden Vorstellungen als Phantasievorstellungen, beide Arten der Wiedereinführung in das Bewusstsein als Repro- duktionsthäti gkeit. Man unterscheidet ferner Einzelvor- stellungen, welche einem bestimmten Sinneseindrucke oder Komplexe von Sinneseindriicken entsprechen, Allgemeinvor- stellungen (conkrete Begriffe), welche lediglich die in einer Reihe von Einzelvorstellungen constant wiederkehrenden Bestand- theile in sich vereinigen, und abstrakte Begriffe^), welche die Beziehungen von Vorstellungen zu einander repräsentiren. Als selbständige, von den Einzelvorstellungen unabhängige Gebilde figuriren die Begriffe in unserem Bewusstsein nicht ; sie besitzen in demselben jedoch eine Vertretung in gewissen konventionellen Einzel- vorstellungen, den Laut- und Bewegungsbildern unserer Sprache.
Was den Sitz der Vorstellungen anbelangt, so hat man bis in die letzten Jahre fast allgemein angenommen , dass Wahr- nehmungen und Erinnerungen an die gleichen kortikalen Gebiete, die Sinnescentren, gebunden sind. In neuerer Zeit scheint die An- nahme mehr und mehr Anhänger zu gewinnen, dass Wahrnehmung und Erinnerung an verschiedene centrale Elemente sich knüpfen. Flechsig glaubt, dass die Centralneurone®) seiner Associations- centren bis zu einem gewissen Grade selbständig i. e. ohne Theil- nahme der Sinnescentren Erinnerungsbilder vermitteln könnten. Von manchen Seiten (so insbesondere von Benedict), hat man das begriffliche Denken speziell in das Stirnhirn verlegt. Flechsig erachtet dasselbe als den Hauptsitz des Vorstellüngskomplexes des Ego. Wir werden auf diesen Punkt an späterer Stelle noch zurück- kommen.
Geht die Anregung zum Wiederbewusstwerden einer Vorstellung von einer im Bewusstsein gegenwärtigen Vorstellung aus, so haben wir es mit dem als Vorstellungsassociation bezeichneten Vorgang zu thun. Dieser unterliegt den sogenannten Asso- ciationsgesetzen, deren man gegenwärtig gew'öhnlich nur 2 an- nimmt: Das Prinzip der Contiguität und das Prinzip der
1) Nach dieser Unterscheidung sind Baum, Haus conkrete, Tugend, Schönheit abstrakte Begriffe.
2) llechsig bezeichnet als Centralneurone der Associationscentren Neu- rone, welche mit den Sinnescentren nicht in direktem Zusammenhang stehen.
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Associationsgesetzö.
Aeh nlichkeit. Das Prinzip der Contiguität (Prinzip der Co- existenz und der Succession, der Angrenzung in Zeit und Raum) lässt sich dahin formuliren: dass Vorstellungen, welche öfters gleich- zeitig oder in unmittelbarer Folge produzirt wurden, geneigt sind, einander in’s Bewusstsein zurückzurufen (sich zu associiren). Das Prinzip der Aehnlichkeit besagt lediglich, dass jede Vorstellung ein Bestreben hat, sich mit ihr ähnlichen unter den früher im Bewusstsein vorhanden gewesenen zu associiren. Das Prinzip der Contiguität ist lediglich der psychologische Ausdruck des für alle Nervencentren gütigen Satzes, dass Erregungsvorgänge bei ihrer Fortpflanzung unter einer Mehrheit ansprechbarer Bahnen die- jenigen bevorzugen, auf welchen sie sich vordem am häufigsten fortpflanzten, weil in diesen Bahnen in Folge der an jede Erregungs- leitung sich knüpfenden Nachwirkungen die Ausbreitung jeder neu- ankommenden Erregung weniger Widerstände zu überwinden hat. Es liegt in der Natur dieses Prinzips, dass das, was für die Asso- ciation von Vorstellungen untereinander gilt, auch für die Asso- ciation von Vorstellungen mit Gefühlen (Affekten), Bewegungen und sonstigen körperlichen Vorgängen zutrifft. Das zufälligerweise gleichzeitige oder unmittelbar aufeinanderfolgende Statthaben einer Vorstellung und eines solchen Vorganges (z. B. von Erbrechen) schafft ein associatives Band , eine Art funktionellen Connex zwischen beiden, die Vorstellung ist alsdann bei ihrem nächsten Auftreten in der Lage und geneigt, den betreffenden Vorgang zu reproduziren.
Das Prinzip der Aehnlichkeit lässt sich auf dasselbe physio- logische Gesetz wie das der Contiguität zurückführen. Die beiden Prinzipien der Contiguität und Aehnlichkeit machen sich besonders bei der Verknüpfung von Vorstellungen und Angstzuständen geltend. Eine Situation, in welcher zufälligerweise einmal ein Angstzustand aufgetreten ist, — z. B. Aufenthalt in einem Theater — führt sehr leicht wieder zu einem Angstzustande, und nachdem sich bei dieser Gelegenheit öfters Angstanfälle eingestellt haben, ist es etwas sehr Gewöhnliches, dass auch unter ähnlichen Verhältnissen, beim Besuch von Konzerten, Restaurationen, überhaupt irgend welcher mit Menschen angefüllter Räumlichkeiten der Anfall eintritt (Prinzip der Aehnlichkeit.)
Verlust von Erinnerungen.
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Das Prinzip der Contiguität besitzt nicht nur für die Asso- ciation der Vorstellungen des Obei’bewusstseins (ieltung, sondern auch für die Verknüpfung oberbewusster mit unterbewussten Vor- stellungen. Durch äussere Eindrücke sowohl, als durch reprodu- zirte Vorstellungen können Erinnerungen geweckt werden, welche unterbewusst bleiben und zum Auftreten körperlicher Stöiungen oder von Affekten, welche unmotivirt erscheinen, Anlass geben. Ein Patient meiner Beobachtung erhielt während einiger Zeit öfters Mittags Briefe sehr aufregenden Inhalts, deren Lektüre ihm Uebel- keit, Brechreiz und zum Theil auch Erbrechen verursachte. In der Folge stellten sich bei ihm Jahre lang um die Mittagszeit Ueblichkeiten und Brechreiz ein, ohne dass der Patient sich irgend einer Veranlassung bewusst gewesen wäre. Die Zeitvorstellung (Mittag) erweckte hier im Unterbewusstsein die Erinnerung an jene peinlichen Mittheilungen, welche dann die erwähnten Be- schwerden herbeiführten. Eine Patientin Nuss baums wurde bei der Wiederaufnahme einer Arbeit (eines Gemäldes), mit welcher sie sich mehrere Monate nicht beschäftigt hatte, jedesmal von einem unerklärlichen Kummer befallen. Als Grund dieser Erscheinung stellte sich heraus, dass die Patientin zu jener Zeit, als sie mit dem Gemälde begann, eine sehr traurige Nachricht erhielt. Der Anblick des Bildes weckte hier im Unterbewusstsein die betreffenden Erinnerungen, von welchen jedoch nur der daran haftende Affekt in das Oberbewusstsein gelangte.
Die Erfahrung lehrt, dass von den Vorstellungen, welche wir in unserem Bewusstsein (Oberbewusstsein) früher hatten, manche sehr leicht, manche schwer und manche überhaupt nicht reproduzir- bar sind. Letztere sind „vergessen^h Der Verlust von Erinne- rungen (Amnesie) kann jedoch sowohl scheinbar als reell sein. Wir haben oben gesehen, dass mitunter in der Hypnose ganze Reihen von Erinnerungen auftauchen, welche in unserem normalen wachen Bewusstsein nicht geweckt werden können. Bei manchen krankhaften Zuständen (Hysterie, Geistesstörungen) sind temporär grosse und wichtige Vorstellungsreihen nicht reproduzirbar, welche unter normalen Verhältnissen jeder Zeit der Erinnerung zugänglich sind. Zerstörungen im Bereiche der Grosshirnrinde können je nach ihrer Lokalisation zu dauerndem .Ausfälle der einen oder anderen
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Verdrängung (Disjunktion) von Vorstellungen
Reihe von Erinnerungsbildern führen. Ob beim geistig ent- wickelten Menschen ohne Untergang der entsprechenden cortikalen Elemente ein gänzlicher Verlust von Erinnerungen möglich ist, muss derzeit dahingestellt bleiben, Avenn auch manches dafür spricht.
So peinlich für einzelne Kranke der Mangel gCAvisser Er- innerungen sein kann, so peinlich ist für viele andere die Unfähig- keit, das Beharren gewisser Vorstellungen im Bewusstsein oder die häufige Wiederkehr derselben zix verhindern. Die Kunst des Vergessens ist keine sehr leichte, in gewissem Maasse jedoch jedem zugänglich; die Unterweisung in dieser Kunst bildet einen wichtigen Theil der psychischen Therapie. Was man aus dem Gedächtniss verdrängen, vergessen will, sind in der Regel Vorstellungen pein- lichen Inhalts, Erinnerungen an widerwärtige oder schmerzliche Erlebnisse oder Vorkommnisse, welche zu peinlichen Vorstellungen. Vorwürfen, Sorgen oder Befürchtungen Anlass gaben und noch geben. Eine direkte Wegräumung derartiger Vorstellungen aus dem Bewusstsein ist nicht möglich; die Verdrängung (Disjunktion) lässt sich nur auf Umwegen erreichen:
a) Durch Meidung jeder Gelegenheit, Avelche Anlass zur Re- produktion der betreffenden Vorstellungen geben könnte;
b) durch anhaltende Beschäftigung mit Gegenständen, welche ein Abschweifen des Vorstellens auf die zu meidenden Gebiete möglichst verhindern (je nach dem Charakter des Individuums ernste Arbeit, Studium, Lektüre und andere sogenannte Zerstreuungen);
c) durch Beseitigung oder erhebliche Verringerung der pein- lichen Gefühlsbetonung der betreffenden Vorstellungen; diese kann auf sehr verschiedene Weise erzielt Averden, durch Ausweinen, Sichaussprechen Dritten gegenüber, Beichte, Gebet und Bussübungen (selbstauferlegte oder von geistlicher Seite angeordnete), aber auch durch öftere ruhige, allseitige Erwägung der Sachlage; mit der Beseitigung der affektiven Seite verlieren die betreffenden Vor- stellungen an associativer Tendenz, sie treten unter das Gros der Alltagserinnerungen, die keine Seelenstürme veranlassen und nach und nach dem VergessenAV erden anheimfallen.
Mit dem Vergessen, i. e. der Verdrängung aus der Erinne- rung des OberbeAVUSstseins sind nun die unbequemen Elemente
Zwangsvorstellungen, Gefühle. 27
keineswegs ans dem Hauslialte der Psyche ganz entfernt; sie sind zunächst nur aus dem geistigen Verkehr gebracht und in eine Spliäre gebannt, welche von dem Lichte unseres gewöhnlichen Be- wusstseins nicht beleuchtet wird, in das Unterbewusstsein. Von diesem aus können dieselben, wie Breuer und Freud gezeigt haben, die verschiedensten hysterischen SymjDtome auslösen. Nach Freud führt bei zur Hysterie Disponirteu (oder Hysterischen) der Versuch, eine peinliche Vorstellung absichtlich aus dem Bewusst- sein zu verdrängen, resp. dieser den begleitenden Affekt zu ent- ziehen, dazu, dass die freigemachte affektive Erregung in die körperliche Innervation ihren Weg nimmt und dergestalt hysterische Symptome hervorruft (Con Version). Bei Personen, welche diese Disposition nicht besitzen, bleibt nach Freud der durch Willens- anstrengung losgelöste Affekt auf psychischem Gebiet (im Ober- bewusstsein) und hängt sich an andere Vorstellungen, welche dadurch zu Zwangsvorstellungen^) werden.
C. Gefühle, Stimmungen, Affekte.
Jeder äussere Eindruck erzeugt in unserem Bewusstsein neben der Wahrnehmung oder einfachen Vorstellung ein weiteres subjek- tives Element, ein Gefühl der Lust oder Unlust. Auch die reproduzirten Vorstellungen ermangeln eines begleitenden Gefühls- tones nicht. Lust und Unlust bilden die Grundtöne aller unserer Gefühlsformen, durch Hinzutreten von Vorstellungselementen ent- wickelt sich aus denselben die Mannigfaltigkeit unserer komplexeren Gefühle. Man kann, wenn man die Auslösungsart der Gefühle berücksichtigt, die durch äussere Eindrücke hervorgerufenen, den Wahrnehmungen anhaftenden Gefühlstöne als sinnliche Gefühle von den durch Reproduktionsvorgänge ausgelösten idealen unter- scheiden; diese Unterscheidung ist jedoch keineswegs strikte durch- führbar, da die Gefühlstöne der Wahrnehmungen zum grossen Theil von Associationen abhängen. Das Roth des Blutes kann als Sinnesreiz in uns keine andere Vorstellung erwecken als das Roth
1) Dass Zwangsvorstellungen nicht ausschliesslich auf diesem Wege ent- stehen, müssen wir hier nebenbei bemerken.
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Gomüth, Stimmung.
irgend eines Seidenstoffes oder Anstriches; wenn trotzdem der Anblick einer Blutlache in uns ein (refühl des Grauens erregt, während der Seidenstoff' und der Anstrich andere Gefühle verur- sachen, so kann dies nur durch Associationen bedingt sein, welche der Anblick des Blutes veranlasst. Betrachtet man das V erstellen minus Gefühl als die intellektuelle Seite des Seelenlebens, den Verstand, so bildet die Gefühlsseite das, was man geAvühn- lich als Gemüth bezeichnet. Man stellt bekanntlich häufig den trockenen Verstand dem Gemüth gegenüber; man spricht von Ver- standes- und Gemüthsmenschen, von Gemüthsreichthum , und Gemüthsarmuth oder G-emüthlosigkeit, von erhöhter gemüth lieh er Erregbarkeit (Emotivität, GemüthsschAväche) und gemüthlicher Stumpfheit, Gemüthsverrohung. Was hierunter zu verstehen ist, ergiebt sich aus der erwähnten Auf- fassung des Gemüthes ohne Aveiteres. Auch Avas Avir unter Ge- müthsruhe und GemüthsbeAvegung zu verstehen haben, kann keinem Zweifel unterliegen. Gemüthsruhe ist jener seelische Zustand, in Avelchem kein einzelnes Gefühl sich stärker geltend macht; der Gemüthsruhe steht die Gemüt hsbewegung, der Affekt, als jener seelische oder Gemüthszustand gegenüber, Avelcher durch Auftreten intensiver und jäh auftretender Gefühle charakteri- sirt ist ’).
Die stärkeren Gefühlstone, Avelche einzelnen im BeAvusstsein vorhandenen Vorstellungen anhaften, habep eine Neigung abzufärben, d. h. sich anderen mit schAvacher Gefühlsbetonung ausgestatteten Vorstellungen mitzutheilen; dergestalt können alle oder der über- Aviegende Theil der Avährend einer geAvissen Zeit auftretenden Vor- stellungen gleichartige Gefühlsbetonung erlangen; diesen Zustand gleichartiger oder vorherrschend gleichartiger Gefühlsbetonung des Vorstellens heissen Avir Stimmung und man kann nach den Grundtönen der Gefühle Lust- und Unlust st immun gen (Ver- stimmungen) unterscheiden.
Daneben kommen jedoch auch Gemüthszustände mit Avider- streitenden Gefühlen, gemischte Stimmungen vor, in AA'elchen
>) Intensive Gefühle Avorden desshalb auch häufig mit den Affekten ideu- tifizirt.
Einfluss der Stimmungen auf den Ablauf des Vorstellens.
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Lust und Unlust sich den Vorrang streitig machen. Die Stimmung, in welcher wir uns befinden, hängt nicht immer von der Gefühls- betonung der im Bewusstsein (Oberbewusstsein) vorhandenen Vor- stellungen ab; nicht selten drängen sich Vorstellungen, welche dem Untei’bewusstsein angehören, wie wir zum Iheil bereits gesehen haben, mit ihrer Gefühlsseite in das Oberbewusstsein und verur- ursachen -in diesem eine Stimmung, welche sich aus dem Inhalt des OberbeAvusstseins nicht erklären lässt; so beeinflussen mitunter Traumerlebnisse, welche im wachen Zustande der Erinnerung sich entziehen, die Stimmung am folgenden Tage; auch aus dem Körper stammende Eindrücke, Organempfindungen, welche nicht in das OberbcAvusstsein gelangen, können auf die Stimmung Avirken.
Stimmungen und Affekte beeinflussen den Ablauf des A or- stellens in erheblichem Maasse und je nach ihrer Gestaltung in sehr verschiedener Weise. Im Allgemeinen gilt die Regel, dass bei Unluststimmungen und Affekten die Association erschwert, der Wechsel der Vorstellungen verlangsamt, bei Luststimmungen und Affekten die Association erleichtert, der Wechsel der Vorstellungen beschleunigt ist. Schwierige geistige Arbeiten erheischen daher eine geAvisse Luststimmung — Anregung — oder Avenigstens völlige Gemüthsruhe. Träger Ablauf der Association oder Hemmung derselben in einer geAvissen Richtung (z. B. Unfähigkeit, den Sinn einer Bemerkung zu erfassen) erzeugt häufig eine Unluststimmung. Die Hemmung soAvie die Beschleunigung des Vorstellungsablaufes in den Stimmungen und Affekten ist nicht frei von einer geAvissen Einseitigkeit; in den Unluststimmungen ist die Reproduktion von ^ orstellungen mit angenehmem Gefühlston mehr gehemmt als die solcher mit Avidriger Gefühlsbetonung und in den Luststimmungen be- trifft die Erleichterung der Association mehr die Vorstellungen mit heiterer als die mit unangenehmer Gefühlsbetonung. Das Gleiche gilt für die Affekte. Dem Verstimmten erscheint alles grau in grau, dem Avahrhaft Vergnügten alles in rosigem Lichte. Sehr intensive Affekte Avirken übrigens, Avelcher Art ihr Gefühls- charakter auch sein mag, zunächst hemmend auf die Association. Ijine mächtige freudige Ueberraschung führt in den ersten Momenten ebenso Avie Scham, Wuth, Schrecken zu einer Art Betäubung, einem Nicht fassen können. Auf der anderen Seite kann es in der Todes-
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Lange’s AfFekttheorie, Ego.
angst, welche den von plötzlicher Lebensgefahr Ueherraschten befällt, zu einem blitzartigen Auftauchen der wichtigsten Lebens- erinnerungen kommen.
Wir haben oben bemerkt, dass die komplexeren Gefühle (Neid, Furcht, Zorn, Freude, Scham etc. etc.) durch Verschmelzung der Lust- und Unlustgefühle mit reproduzirten Vorstellungselementen entstehen. Diese Auffassung steht in Widerspruch mit einer Aftekt- theorie, welche in neuerer Zeit manche Anhänger gefunden hat und ihren Hauptvertreter in, Lange (Kopenhagen) hat. Nach dieser Theorie sollen die körperlichen Phänomene, welche nach der An- sicht anderer die Aeusserung oder Wirkung der Affekte bilden, durch für jeden einzelnen Affekt verschiedene Veränderungen in den Funktionen der vasomotorischen Apparate bedingt sein und das Wesentliche des Affektes bilden,' sofern dieser lediglich das Bewusstsein oder Gefühl dieser körperlichen Vorgänge darstellt. Wir erröthen nach dieser Theorie nicht-, weil wir uns schämen, sondern wir schämen uns, weil wir erröthen; wir zittern nicht, weil wir uns fürchten, sondern wir fürchten uns, weil wir zittern. Diese Theorie ist völlig unhaltbar; ein und derselbe Eindruck kann in uns die verschiedensten Affekte hervorrufen; wir können uns bei dem Anblick einer bestimmten Person heute freuen, morgen ärgern und ein anderes Mal fürchten; diese Verschiedenheit der Affekte bei gleich bleibenden optischen Bildern kann unmöglich von irgend etwas anderem als den Vorstellungen herrühren, welche der Gesichtseindruck jeweilig mehr oder minder deutlich wachruft oder anklingt. Wenn wir uns fürchten, so wird durch Zittern unserer Glieder zwar die Angst verstärkt, allein Zittern muss an sich durchaus kein Angstgefühl hervorrufen, man zittert auch vor Freude, Aerger, Wuth, Spannung.
D. Ego, Selbstbewusstsein.
Schon im Vorhergehenden hatten wir mehrfach Veranlassung, die Begriffe Ego und Selbstbewusstsein zu berühren. Bei der Ver- schiedenheit der Deutungen, welche denselben gegeben werden, müssen wir hier noch etwas näher auf dieselben eingehen. Die
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Ego.
Vorstellungen, welche im Laufe unseres Lebens durch äussere Ein- drücke und lleproduktionsvorgänge in unserem Geiste hervorgerufen werden, verknüpfen sich allmählich zu Gruppen oder Systemen (Komplexen), welche zum Theil dieselben Elemente nur in wechseln- den Verbindungen enthalten. Die bedeutungsvollste aller dieser Gruppen bildet jener Komplex, welcher alles unsere leibliche und geistige Persönlichkeit Betreftende in sich vereinigt und seine Ver- tretung im Bewusstsein durch das Lautsymbol „Ich^^ (Ego) hat. Das Kind weiss seiuen Leib nicht von der Aussenwelt zu unter- scheiden. Ganz allmählich gelangt es dahin, die Gruppe von Vor- stellungen, welche sich auf seinen Körper beziehen, von den Vor- stellungen zu trennen, welche die äusseren Dinge in ihm erwecken,
i. e. seine leibliche Persönlichkeit als etwas Umgrenztes und von anderen Dingen Verschiedenes aufzufassen, und noch länger währt es, bis sich in ihm der Begriff eines geistigen Ego bildet. Das Ego des geistig entwickelten Menschen baut sich natürlich je nach der Lebensgestaltung und den äusseren Verhältnissen des Indi- viduums aus sehr verschiedenen Elementen auf. Im Allgemeinen lassen sich folgende Hauptbestandtheile unterscheiden:
1. Die Vorstellungsgruppe des leiblichen Ego, welche alle auf die Eigenschaften und Thätigkeiten des eigenen Körpers sich be- ziehenden Vorstellungen umfasst,
2. Die Erinnerungen aller wichtigen Lebensereignisse und die damit zusammenhängenden Vorstellungen der gegenwärtigen bürger- lichen Stellung und Familienbeziehungen (historisches, soziales und verwandtschaftliches Ego).
3. Alle durch Erziehung, Gewohnheit, Lebenserfahrung, Lernen und Einflüsse des Milieus gewonnenen leitenden Anschauungen (Grundsätze), Gefühls-(Geschmacks)-Richtungen, ferner die hiemit und mit den körperlichen Trieben zusammenhängenden Neigungen und Begehrungen (moralisches , sinnliches, religiöses, politisches, ästhe- tisches etc. Ego).
Die Bestandtheile des Ego unterliegen begreiflicher Weise fortwährend gewissen Modifikationen und Ergänzungen. Unsere Erlebnisse und Lebenserfahrungen mehren sich unaufhörlich und damit ändern sich auch zum Theil unsere Lebensanschauungen
I
32 Selbstbewusstsein, Wille.
und Neigungen mehr oder minder. Das Ego des Jünglings ist daher ein anderes als das des reifen Mannes und das des Greises wieder von dem des reifen Mannes verschieden. Den momentan im Bewusstsein sich ahspielenden Vorgängen gegenüber figurirt das Ego als ein beständig vorhandener, aber keineswegs unveränder- licher Hintergrund. Je nach der Affinität der im Bewusstsein auftauchenden psychischen Elemente zu dieser oder jener Vor- stellungsgruppe des Ego wechselt die den Hintergrund darstellende Seite desselben. Manche Ideen berühren nur iinser verwandtschaft- liches, andere nur unser bürgerliches und wieder andere nur unser moralisches Ego ; es können aber auch zwei oder mehrere unserer Partialegos durch gewisse Vorstellungen berührt werden, dann entsteht mitunter ein Interessenstreit, wir fühlen zwei Seelen in unserer Brust, von den miteinander um den bestimmenden Einfluss auf unser Han- deln ringenden Partialegos siegt natürlich das kräftiger entwickelte, wenn dem gegnerischen nicht besondere Umstände zu Hilfe kommen. Zu dem Hintergründe des Ego treten jedoch nicht alle in die Sphäre des Bewusstseins eintretenden psychischen Elemente inBeziehung. Nur denjenigen Elementen, welche irgend eine Seite des Egos in leisere oder stärkere Mitschwingung versetzen, schreiben wir Selbst- bewusstsein zu, den übrigen nur Bewusstsein. Für die Er- klärung mancher psychopathologischen Erscheinungen ist diese Unter- scheidung, wie wir zum Theil bereits gesehen haben, von Wichtig- keit. Von einzelnen französischen Beobachtern (so insbesonders von Pierre Janet) werden die hysterischen Anästhesien aut einen Mangel der Perception personelle für die betreffenden Sen- sationen zurückgeführt ; die anästhetischen Hysterischen fühlen, sehen und hören nach dieser Theorie, ihre Sensationen bleiben jedoch unterbewusst (subconscient) ; sie, d. h. ihr Ego weiss von denselben nichts, assimilirt dieselben nicht. Für manche hysterische Anästhe- sien scheint diese Auffassung ganz zutreffend.
E. Wille und Aufmerksamkeit.
Nach dem Si)rachgebrauche, welchem auch die Medizin bisher sich nicht zu entziehen vermochte, besässen wir in dem Willen ein besonderes geistiges Vermögen oder eine Kraft, welche in weit-
Willeiisvorstell Hilgen.
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«fehenclstem Maasse unser Handeln iind den Verlauf unseres Denkens bestimmt. Die Mehrzahl der Psychologen der Jetztzeit bestreitet jedoch die Existenz eines selbständigen, von Vorstellen und Fühlen unabhängigen Willensvermögens und unsere innere Erfahrung be- rechtigt uns auch nicht ziir Annahme eines solchen. Wir wissen nur von einzelnen psychischen Vorgängen, Avelche man wegen der Uebereinstimmung in geAvissen Avesentlichen Merkmalen als Wollen oder Willensakte (Willensbethätigungen, Willensäusserungen), bezeichnet. Diese Vorgänge charakterisiren sich jedoch als A or- stellungen und sind, Avie Avir sogleich beifügen Avollen, Avenn sie auch anderen Vorstellungen gegenüber eine eigenartige Stellung einnehmen, doch den Gesetzen des Vorstellungsablaufes unter- Avorfen.
Wenn wir uns zunächst fragen, welche psychische Elemente bei dem Vorstellen, AA^elches Avir Wollen nennen, gegeben sein müssen, so finden Avir folgende:
a) Eine Z i e 1 v o r s t e 1 1 u n g, i. e. die Vorstellung eines aus- zuführenden Aktes oder (durch äussere Handlung oder innere Thätig- keit, Vorstellen) zu erreichenden Zieles. Jedes Wollen muss auf einen ZAveck gerichtet sein ; die Zielvorstellung kann ganz schematisch sein, ist aber immer mit einem mehr oder minder ausgepi'ägten Lustgefühlston oder mit einem Komplexe von Gefühlstönen aus- gestattet, unter welchen die angenehmen übei’Aviegen.
b) Die Verknüpfung dieser Vorstellung mit dem Vorstellungs- komplexe unseres Ego. Die A'^erknüpfung ist eine derartige, dass das Ego als die Quelle oder das Bestimmende der Zielvorstellung erscheint. Der sprachliche Ausdruck: „Ich Avill“ lässt hierüber keinen ZAveifel.
c) Das Gefühl einer geAvissen Freiheit, eines Anderskönnens. Dieses erklärt sich aus dem Umstande, dass den Vorstellungen, Avelche der Willensvorstellung vorhergehen und deren Bildung be- einflussen, den Motiven, nicht' das Gefühl des ZAvingenden anhaftet und neben diesen meist andere Vorstellungen (Motive) auftauchen, Avelche anscheinend einen anderen AVillensakt nach sich ziehen könnten. Dieses Gefühl der Freiheit ist jedoch keinesAvegs bei allen Willensakten gegenAvärtig. Mitunter fühlen Avir deutlich einen von unserem Ego ausgehenden iinabAvendbareji Einfluss auf unser
I.U WC n fol (1, IVychothoriipic. . 3
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Wirkungen der Willensthütigkeit.
Wollen; wir fühlen, wir können nicht anders, wenn wir z. B. an- gesichts grosser Noth eine Gabe darreichen, wenn wir unsere innerste Ueberzeugnng in einem Falle aussprechen.
Nach ihrem Inhalte sind die dem Gebiete des Wollens ange- hörigen Vorstellungen sehr verschieden; dabei Aveisen sie Ueber- gänge von dem Einfachsten zu dem Komplizirtesten auf. Wenn wir ein Bein heben oder einen Federstrich machen av ollen, so handelt es sich um einfachere Vorgänge, als wenn Avir einen Spazier- gang machen oder eine grössere Zeichnung ausführen wollen. Eben- so enthält das einen Gedanken sich einprägen oder eine Thatsache sich in’s Gedächtniss zurückrufen Avollen viel Aveniger Vorstellungs- elemente als das eine Sprache erlernen, ein Buch schreiben Avollen. Manche Willensakte sind gleichsam nur Ueberschriften über ganze Reihen von Vorstellungen, welche einzeln Avieder grössere geistige Operationen anregen müssen, bevor sie zu Handlungen führen (Künstler Averden Avollen, berühmt Averden Avollen etc.).
Verfolgen Avir die Vorgänge, Avelche die Willensakte im Gefolge haben, die Wirkungen der Willensthätigkeit im Einzelnen, so sehen Avir, dass dieselben z. Th. äusserlich in Bewegungen unseres Körpers, Handlungen, und einzelnen Verrichtungen innerer Organe, zum Theil innerlich, im Bereiche der beAvussten psychischen Prozesse sich geltend machen. Auf dem Gebiete der motorischen Leistungen linden Avir die Willensthätigkeit ebenso Avohl als anregendes, au.s- lösendes, Avie als hemmendes Agens ; Avir sind nicht nur im Stande, unsere Glieder willkürlich zum Behufe dieser oder jener Verrichtung in Bewegung zu setzen, sondern ancb BeAvegungen oder Bewegungs- antriebe reflektorischer oder automatischer Natur Avillkürlich zu hemmen und Avillkürlich begonnene und automatisch fort- gesetzte BeAvegungen jederzeit zum Stillstände zu bringen. Wir sind ferner im Stande, von den Empfindungen, Avelche von einer Melirzahl sich uns darbietender äusserer Eindrücke in. uns aus- gelöst Averden, einzelne durch einen Willensvorgang, die Avillkür- liche Aufmerksamkeit^), zu besonderer Deutlichkeit zu erheben
1) Man unterscheidet neben der willkürliclien eine unAvill kiirl iclie Aufmerksamkeit; bei letzterer zieht der Eindruck (oder die Vorstellung) das Aufmerken nach sicli ; ein unerwarteter Eindruck, ein plötzlich auftauchen- der Gedanke „fesselt“ unsere Aufmerksamkeit.
Einfluss des Willens auf das Vorstellen.
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und gleichzeitig die übrigen zu verdimkeln und bei rein as.socia- tivem Verlaufe unseres Vorstellens einzelnen Vorstellungen durch einen Willensakt besondere Stärke und Andauer zu verschaften, in Folge welcher sie für die llichtung der Association bestimmend werden, und daneben auftauchende Associationen an weiterer Ent- wickelung zu hemmen.
In der rein geistigen wie in der somatischen Sphäre äussert sich demnach die Willensthätigkeit im Wesentlichen in zwei Formen: einer anregenden, bahnenden und einer hemmenden, ein- schränkenden. Da die cortikalen Territorien, an welche die Bewegungsvorstellungen geknüpft sind, auch die Ursprungstätten der wichtigsten psychomotorischen Bahn, der Pyramidenbahn, bilden, und eine Bewegung wollen die Vorstellung derselben in einer gewissen Stärke reproduziren bedeutet, so wird es unserem Ver- ständniss nicht schwer, das Auftreten einer Körperbewegung als Folge oder Wirkung eines Willensvorganges zu begreifen. In diesem Punkte besteht auch kaiim eine Meinungsverschiedenheit. Dagegen sind wir über die Art des centralen Vorganges, durch welchen der einzelne Willensakt die Lenkung des Vorstellungsveidaufes und die grössere Deutlichkeit durch äussere Eindrücke hervorgerufener Empfindungen bewirkt, noch keineswegs im Klaren, hierüber gehen auch die Ansichten der Psychologen weit auseinander. Ich glaube, dass bei dem derzeitigen Stande unserer Kenntnisse folgende Auf- fassung am meisten für sich hat.
Unser Vorstellen ist immer von gewissen psychomotorischen Erregungen begleitet, welche zu Muskelkontraktionen und dadurch zu Spannungs- und Thätigkeitsgefühlen führen. Je mehr das Be- streben besteht, eine Empfindung oder Vorstellung deutlicher zu gestalten und die Keproduktion anderer Vorstellungen zu ver- hindern, i. e. die Aufmerksamkeit zu conzentriren, um so deutlicher treten diese Spannungsgefühle auf, welche in erster Linie das Bewusstsein einer Thätigkeit oder Anstrengung des Ego bei dem
1) Die Spannungsgefühle machen sich beim Lauschen in den Ohren, beim Seilen in den Augen und beim Nachdenken im Kopfe geltend. Bei gespannter •Aufmerksamkeit bekundet sich der seelische Zustand auch äusscrlicli in starrer Körperhaltung, einer Spannung der Gesichtszüge und Abschwächung der respi- ratorischen Bewegungen (athemloses Lauschen).
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OG
Bedeutung des frontalen Associationscentrums.
Vorgänge vermitteln. Dieses Bewusstsein beruht auch niclit lediglich auf Täuschung.
Nach den jüngsten anatomischen Forschungen Flechsigs bildet der grösste Theil des Stirnlappens (die vordere Hälfte der ersten und der grösste Theil der 2. Stirnwindung, an der Basis insbesonders der Gyrus rectus) ein Associationscentrum, i. e. ein Centrum, welches nicht direkt mit Sinnesleitungen in Zusammen- hang steht. Dieses Centrum steht nach Flechsig vielleicht mit allen Sinnessphären, sicher jedoch mit der cortikalen Riech- und Körperfühlsphäre in Verbindung; letzterer Umstand und patho- logische wie physiologische Erfahrungen^) scheinen darauf hinzu- weisen, dass das frontale Associationscentrum von ganz besonderer Bedeutung für das Ichbewusstsein, das Bewusstsein unserer körper- lichen und geistigen Persönlichkeit, ist. Es liegt nun sehr nahe, dass dieses Centrum einerseits bei jeder (oberbewussten) Vorstellung in eine gewisse associative Miterregung geräth — wir erkennen eine Vorstel- lung als uns angehörigen geistigen Akt nur dadurch an, dass wir sie in Beziehung zu dem Vorstellungskomplexe unseres Ego bringen — andererseits hinwiederum auf die zugeleitete Erregung mit einer Reaktion antwortet, welche für den weiteren Verlauf des Vor- stellens, für die Bahnen, welche dieses einschlägt, bestimmend ist ^).
Alle Thatsachen unserer inneren Erfahrung sprechen dafür, dass
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1) Das Stirnhirn wurde schon früher von einzelnen Forschern (so von Ferrier und Hitzig) als Sitz höherer psychischer Funktionen betrachtet; für diese Auffassung hat sich in jüngster Zeit auch Bianchi auf Grund seiner experimentellen Beobachtungen an Hunden und Affen erklärt. Nach Flechsig zeigen Paralytiker, bei welchen nur das frontale Associationscentrum deutliche Veränderungen aufweist, einen psychischen Symptomenkomplex , welcher in seinen wesentlichen Zügen mit den Erscheinungen übereinstimmt, die von Bianchi an Affen nach beiderseitiger Exstirpation des Stirnhirnes beobachtet wurden. Das Verhalten der betreffenden Kranken spricht für eine tiefer gehende Schädigung des Persönlichkeitsbewusstseins (solange Reizerscheinungen ver- wiegen, masslose Selbstüber- oder Unterschätzung, schliesslich völlige Interesse- losigkeit, Sichselbstvergessen, ürtheilsschwäche). Die Fähigkeit, die Aufmerk- samkeit willkürlich zu lenken, geht hiebei auch verloren.
2) Wahrscheinlich fliessen die von dem frontalen Associationscentrum ausgehenden Erregungen z. Th. auch der Köl’perfühlssphäre (i. e. dem psj'cho- motorischen Centrum) zu, wodurch die von dieser vermittelten Spannungs- und Thätigkeitsgefühle verstärkt werden, welche dann wieder associativ verstärkend auf einzelne Vorstellungen oder Vorstellungsgruppen ein wirken.
Ego und Wille, freier Wille.
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es clcas Ego mit den in ihm vereinigten Gnindriclitungen unseres Denkens und Fühlens ist, welches den Verlauf unseres Vorstellens, die Richtung unserer Aufmerksamkeit und zwar sowohl der so- genannten willkürlichen als der unwillkürlichen bestimmt. Die Vorstellung „Ich will“ ist darum von wesentlich anderer Bedeutung und Tragweite als eine beliebige andere Vorstellung; hinter jeder Willens Vorstellung steht das ganze Ego mit allen seinen leitenden, treibenden und hemmenden Tendenzen. Dieser Einfluss des Ego verleiht unserem Denken den Charakter des Geordneten, unserem Handeln den Charakter der Besonnenheit; wenn der Einfluss des Ego abgeschwächt wird, zeigt sich beim Denken eine Neigung des Vorstellens zum Abschweifen nach den verschiedensten Richtungen (vom Hundertsten ins Tausendste kommen), im Handeln ein Ueber- gewicht der Triebe, Affekte und Leidenschaften; die Selbstbe- herrschung i. e. die Beherrschung dieser psychischen Faktoren durch das Ego geht verloren.
Von einem freien Willen, d. h. einem durch unsere nervös- psychische Constitution nicht in zwingender Weise bedingten Wollen kann nach dem Vorstehenden natürlich keine Rede sein. Ob wir in einem gegebenen Falle a oder b wollen, hängt, abgesehen von den momentanen besonderen Umständen ganz und gar von der Constitution unseres Ego ab; ob wir uns für a oder b ent- scheiden, die Entscheidung ist immer eine nothwendige Folge der in den vorhandenen Umständen und dem Ego gegebenen Prämissen. Dagegen sind wir berechtigt, eine Willenskraft von anderen Vor- stellungskräften zu unterscheiden, obgleich wir die Existenz eines besonderen Willensvermögens nicht anerkennen können; der Unter- schied liegt nur in der quantitativen, nicht in der qualitativen Seite. Es ist begreiflich, dass ein so mächtiger und in sich ge- schlossener Vorstellungskomplex wie der des Ego in associativer Beziehung einen stärkeren Einfluss auszuüben vermag als beliebige isolirte Vorstellungen oder Vorstellungsgruppen. Was man unter Stärke oder Schwäche der Willenskraft zu verstehen hat, ist nun auch ohne Weiteres verständlich. Dabei dürfen wir aber nicht ausser Acht lassen, dass, da das Ego bei verschiedenen Menschen sehr verschieden ist, willensschwac.h und willensstark niclit immer das Gleiche bedeutet, Willensstärke kann der Ver-
38 Einfluss geistiger Vorgänge auf Körperverriclitungen.
brecher in der Verfolgiing seiner Pläne ebenso gut entfalten, als der edelste Mensclienfreund, und Willensschwäche kann unter Um- ständen eine Tugend bilden.
F. Einfluss geistiger Vorgänge auf die Entstehung und Heilung von Kranklieitszuständen.
Dass die Wirkungen psychischer Prozesse über das Gebiet des Geistigen hinausreichend in die Sphäre des Körperlichen sich er- strecken und hier selbst mächtige Veränderungen in den Verrich- tungen der Organe herbeiführen können, ist schon lange Gegenstand allgemeiner Erfahrung. Jedermann weiss, dass wir an dem Gesichts- ausdruck und der körperlichen Haltung eines Menschen schon zu erkennen im Stande sind, ob derselbe in ruhiges Nachdenken ver- sunken ist, oder ob in seinem Gemüthe lebhafte Gefühle sich geltend machen, ob ihn Freude erfüllt oder schwerer Kummer niederdrückt. Das Erblassen, Zittern und in Schweiss gerathen bei Angstzuständen, die Röthe des Zornes und der Scham, die leb- haftere Herzthätigkeit bei freudiger Erregung (das Hüpfen des Herzens), der Stillstand der Athmung beim Erschrecken, der Thränen- ausbruch bei tiefer Trauer sind Thatsachen der allgemeinen Er- fahrung. Nicht minder deutlich als die eben erwähnten, der Wahr- nehmung ohne Weiteres zugänglichen. Umstände sprechen die pletysmographischen Untersuchungen Mosso ’s undEere’s für das Eingreifen der psychischen Vorgänge in die somatischen Lebens- Yorgänge. Die genannten Beobachter fanden, dass jeder Sinnes- eindruck, jede Gemüthsbewegung die Cirkulationsverhältnisse an der Körperperipherie beeinflusst. Die Einwirkung geistiger Prozesse auf den Stoffwechsel Gesunder ist zwar noch nicht genügend untersucht, sie kann jedoch nach den derzeit vorliegenden physiologischen und pathologischen Erfahrungen (Hunger in Folge geistiger Anstrengung, Vermehrung der Phosphorsäure- und Harnstoffausscheidung bei geist- iger Anstrengung (Zülzer, Byasson, Mosler), Appetitmangel und Körpergewichtsabnahme bei Verstimmungszuständen etc.) nicht bezweifelt werden.
Andererseits gewinnen wir durch die pathologischen und kura- tiven Effekte geistiger Thätigkeiten wieder manchen werthvollen Aufschluss über die in physiologischer Breite sich vollziehende Ein-
Somatische Leiden psychischen Ursprungs. 39
Wirkung der geistigen auf die körperlichen Verrichtungen. Wir dürfen nicht annehinen, dass bei der Herbeiführung und Beseiti- gung somatischer Krankheitszustände durch psychische Einflüsse Vorgänge im Spiele sind, die bei normalem Ablaufe der psychi- schen und somatischen Funktionen gänzlich fehlen. Allem An- scheine nach handelt es sich vielmehr nur um Aenderungen (Stei- gerung, Minderung etc.) in den beständig vor sich gehenden Ein- wirkungen der Psyche auf die somatischen Funktionen.
Strümpell ist der Ansicht, dass die Zahl der durch primär psychische Vorgänge entstandenen, scheinbar rein körperlichen Er- krankungen mindestens ebenso gross ist als die Zahl der wirklich rein körperlichen Krankheitszustände. Diese Ansicht dürfte sich von der Wirklichkeit nicht sehr entfernen. Ueberblicken Avir die somatischen Leiden und Störungen psychogenen Ursprungs, so linden wir, dass dieselben fast alle Organe und Organsysteme be- treffen : die Haut mit ihren Anhangsgebilden, die Muskeln und Ge- lenke, den Cirkulations-, Respirations- und Verdauungsapparat, die Harn- rind Geschlechtsorgane, die blutbildenden Drüsen; auch Störungen der allgemeinen Ernährung und des Stoffwechsels können, wie schon erwälmt wurde, durch psychische Einflüsse bedingt oder mitbedingt sein. Die Beziehungen, welche zwischen dem veran- lassenden psychischen Momente und der körperlichen Störung be- stehen, sind jedoch in den einzelnen Fällen sehr verschieden und wir können im Allgemeinen drei Arten der Beziehungen unter- scheiden :
1. In einer Gruppe von Fällen haben wir es nur mit schein- bar körperlichen Störungen zu thun; d. h. der Zustand der Organe, an welchen sich die Störung kund giebt, weist keine Veränderungen auf, der Krankheits Vorgang bleibt auf das psychische Gebiet be- schränkt, und die körperliche Störung schwindet mit der Beseitigung der psychischen Ursache. Zwei Beispiele werden dies verständlich machen. Die Vorstellung, den Arm nicht bewegen zu können, ver- ursacht eine psychische Lähmung des Armes ; in den Muskeln des Armes, den Nerven desselben und selbst den motorischen Bahnen für die Innervation der Armmuskeln im Rückenmarke und Gehirn ist hier nicht die geringste Veränderung vorhanden ; die Lähmung schwindet mit der Beseitigung der ursächlichen Vorstellung. Die
Pathogene Wirkungen des Vorstellcns
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Vorstellung, rückenmarksleidend zu sein, verursacht Ilückenscliinerzen und Parästhesien in den Gliedern. Auch hier besteht an der Wirbelsäule, in den Gliedern und im Kückenmarke keine Ver- änderung, und die Schmerzen etc. verlieren sich, sobald die ver- ursachende Vorstellung geschwunden ist.
2. In einer weiteren Gruppe von Fällen führt der psychische Vorgang zu objektiv wahrnehmbaren Veränderungen in dem Zu- stande oder der Thätigkeit einzelner Organe, welche jedoch die psychische Einwirkung nicht oder wenigstens nicht lange über- dauern. Ein peinlicher Affekt verursacht vorübergehend Erbrechen, Diarrhoe, eine Ohnmachtsanwandlung oder Cessiren der Menses. Die Vorstellung des Zitterns veranlasst Zittern.
3. In einer dritten Gruppe von Fällen werden durch ver- einzelte oder wiederholte, resp. über längere Zeit sich erstreckende psychische Einwirkungen andauernde Krankheitszustände herbei- geführt. Eine heftige Gemüthsbewegung (Zorn oder Schrecken) verursacht eine Gefässzerreissung im Gehirn und in Folge dieser eine dauernde Hemiplegie. Aufregung, Sorgen und Kummer ver- anlassen die Entwickelung chronischer organischer Herzleiden. Angst und Kummer bewirken plötzliches oder sehr rasches Ergrauen der Haare.
Wenn wir nunmehr die pathogenen und kurativen Einflüsse, welche psychische Prozesse bei somatischen oder anscheinend somatischen Krankheitszuständen ausüben, näher in Betracht ziehen, so ergiebt sich Folgendes;
1. Pathogene und kurative Wirkungen des Vorstellens (der intellektuellen Thätigkeit).
I. Die intellektuelle Thätigkeit an sich kann nur unter zwei Bedingungen Ursache von Krankheitszuständen werden, wenn sie überhaupt im Uebermaasse betrieben wird, also bei geistiger Ueber- anstrengung, oder wenn das Vorstellen sich vorwaltend in Richt- ungen bewegt, welche in besonderem Maasse geeignet sind, gewisse körperliche Vorgänge zu beeinflussen. Die Zahl der Krankbeiten, in deren Aetiologie man geistiger Ueberanstrengung eine Rolle zugeschrieben hat, ist eine sehr erhebliehe. Trotzdem sind wir
Pfit'hogenG Wirkungen des Vorstellons.
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über die pathologischen Wirkungen übermässiger intellektueller Tlnitigkeit keineswegs genügend aufgeklärt, weil diese zumeist mit Schädlichkeiten anderer Art, psychischer oder somatischer Natur (andauernden oder sehr häufig wiederkehrenden Gemüths- erregungen, Mangel körperlicher Bewegung, Missbrauch von Stimu- lantien etc.) vergesellschaftet ist. In der grossen Mehi’zahl der Fälle entwickeln sich unter dem Einflüsse intellektueller Ueber- arbeitung neurasthenische Zustände, deren syniptomische Gestaltung in den einzelnen Fällen wechselt (Erscheinungen cerebraler Neu- rasthenie, nervöse Dispepsie etc. etc. ’) Von manchen Seiten (Hack Tuke, Richardson) wird allzu angestrengtes Studium als eine Ursache des Diabetes betrachtet. Dass geistige Ueberanstrengung auf bestehende. Erkrankungen, insbesonders solche des Nerven- systems ungünstig einwirkt, unterliegt keinem Zweifel. Einseitige Richtung des Depkens auf den Körperzustand — die hypochondrische Denkweise — führt ungemein häufig zu körperlichen Störungen, bei deren Entstehung ein Circulus vitiosus im Spiele ist. Die Empfindungen, welche die Verrichtungen unserer inneren Organe verursachen, gelangen unter normalen Verhältnissen nicht in unser Bewusstsein (OberbeAvusstsein) ; sie senden in dieses nur eine Art Gesammtrepräsentation in Form des sogenannten Gemeingefühls; richtet sich die Aufmerksamkeit anhaltend auf einen Körpertheil oder das körperliche Verhalten im Allgemeinen, so werden die entsprechenden cortikalen Elemente der Körpergefühlssphäre in einen Zustand erhöhter Erregbarkeit versetzt, deren Folge ist, dass eine Reihe gewöhnlich unterbewusst bleibender , aus dem betreffenden Körpertheil oder dem Körper überhaupt stammender Eindrücke bewusste Empfindungen hervorruft. Diese veranlassen auf associativem Wege Vorstellungen, welche sich wieder mit dem körperlichen Befinden beschäftigen und insbesonders Vorstellungen, deren Inhalt die mit einem gewissen Angstaffekte verknü])fte Er- Avartung irgend eines Uebels ist. Diese rufen zum Theil auf asso- ciativem Wege durch Erregung von Elementen der Körpergefühls- sphäre die ihrem Inhalt entsprechenden Sensationen, zum Theil durch Auslösung centrifugal sich fortleitender, bahnender und
') Vergl. Löwe Ilfeld, Pathologie und Therapie der Neurasthenie und Hysterie, p. 54 und 214.
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Heilwirkungen des Vorstellens.
liemmender Erregungen ihrem Inhalte entsprechende Funktions- störungen hervor. So kann die Vorstellung nach dem Essen bevor- stehender Magenbeschwerden solche herbeiführen, das Befühlen des Pulses in der Erwartung, eine Anomalie der Herzthätigkeit zu finden, Unregelmässigkeiten der Herzaktion veranlassen. Auch die anhaltende Kichtung des Voi’stcllens auf das Sexuellsinnliche, Lascive (die Gedankenunzucht) ist nicht ohne schädigende Folge. Dadurch entwickelt sich allmählich ein Zustand anormaler Reiz- barkeit der genitalen Lendenmarkscentren, in Folge dessen schon Vorstellungen sexuellen Inhalts Pollutionen herbeiführen können.
Dass die intellektuelle Thätigkeit — geistige Beschäftigung — auch Heilwirkungen ausüben kann, ist eine alte Erfahrung. Kant hat in seiner berühmten Abhandlung „Von der Macht des Gemüthes durch den blossen Vorsatz seiner krankhaften Gefühle Meister zu sein“ gezeigt, dass durch angestrengte Richtung des Denkens auf ein beliebig gewähltes Objekt und dadurch bewirkte Ablenkung der Aufmerksamkeit von gewissen Körpergefühlen die Intensität dieser so herabgesetzt werden kann, dass sie keine Belästigung mehr bilden. Kant empfahl auch das Philosophiren als ein Mittel der Abwehrung mancher unangenehmer Gefühle. Die geistige Beschäftigung ist jedoch nicht bloss ein Mittel, um widrige körperliche Empfindungen herabzudrücken, sie ist auch sehr geeignet, seelische Schmerzen 'zu mildern, peinliche Vor- stellungen allmählich aus der Erinnerung zu verdrängen und da- durch auch deren körperliche Rückwirkungen zu beseitigen^).
II. Schon aus dem im Vorstehenden Bemerkten ist ersichtlich, dass bestimmte einzelne Vorstellungen zum Auftreten körperlicher oder anscheinend körperlicher Störungen den Anstoss geben können. Die Beziehung, welche in diesen Fällen zwischen der pathogenen Vorstellung und ihrer Wirkung obwaltet, ist nicht immer von gleicher Art.
a) In einer Reihe von Fällen ist die Vorstellung inhaltlich ihrer Wirkung congruent; die Vorstellung des Gelähmtseins er- zeugt Lähmung, die Vorstellung des Nichtempfindens Anästhesie,
1) Weiteres über den Einfluss geistiger Beschäftigung bei Krankheits- Zuständen siehe später Abschnitt IV.
Pathogene Wirkungen einzelner Vorstellungen.
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die Vorstellung des sexuellen Unvermögens Impotenz, die Vorstel- lung eines bevorstehenden Schmerzes Schmerz, die Vorstellung einer bevorstehenden Hautblutung Stigmatisationserscheinungen. Die Wahrnehmung eines Krampfzustandes erzeugt einen ähnlichen bei dem Wahrnehmenden (Psychische Infektion).
b) In einer weiteren Reihe von Fällen mangelt die Congruenz zwischen Vorstellung und Wirkung; die Wirkung steht jedoch mit der Vorstellung in einem physiologischen oder logischen Zusammen- hänge. Vorstellungen erotischen Inhalts rufen Erektion und Ejaku- lation hervor, die Erinnerung an eine übelriechende Speise (oder einen peinlichen Vorfall) erzeugt Erbrechen. Die Wirkung der Vorstellungen erklärt sich in diesen Fällen aus dem funktionellen, physiologischen Connexe der betreffenden cortikalen Elemente mit anderen centralen Elementen. Die Wirkungen hypochondrischer Vorstellungen können auf einen solchen Connex nicht zurückge- führt werden. Wenn die Vorstellung, rückenmarksleidend zu sein, im einen Falle heftige Rückenschmerzen und Parästhesien in den Beinen, im anderen dagegen Schwächegefühl und Unsicherheit der Beine, wie ich es beobachtete, die Vorstellung, an einem Magen- leiden zu laboriren, im einen Falle nur heftige Schmerzen nach dem Essen, im anderen Appetitmangel und Brechneigung verur- sacht, so können wir nur annehmen, dass die betreffende Vor- stellung eine wahrscheinlich unterbewusste logische Weiterverarbei- tung erfahren hat, deren Ergebnisse — gewisse Spezialvorstellungen — in den einzelnen Fällen wegen der Verschiedenheit der An- schauungen über die Symptomatologie der fraglichen Leiden variiren und daher verschiedenartige . Störungen bedingen.
c) In einer dritten Reihe von Fällen handelt es sich lediglich um zufällige, durch associative Verhältnisse (Prinzip der Contigui- tät) bedingte Verknüpfung von Vorstellungen mit nervösen Stö- rungen. Einige Eälle, welche dieser Kategorie angehören, wurden bereits mitgetheilt. Einem Patienten meiner Beobachtung fiel ein schwerer eiserner Gegenstand auf eine grosse Zehe, wobei er einen heftigen, den ganzen Körper durchfahrenden Schmerz empfand; in der Folge fühlte er, wenn er nur an das Anstossen eines Körper- theiles an einen festen Gegenstand dachte, einen den Körper durchzuckenden Schmerz.
Heilwirkungen von Vorstellungen
U
Auch bei der Heilung Icrankhafter Zustände durch Vorstellungen — lleilvorstellungen — haben wir es mit verschiedenen Vorgängen zu thun. Tst eine Krankheitserscheinung von einer Vorstellung abhängig, so lässt sich dieselbe dadurch beseitigen, dass wir eine Gegenvor- stellung bei dem Kranken hervorrufen, welche die pathogene Vorstel- lung verdrängt; hiemit schwindet auch deren Wiidamg. Die Art der heilenden Vorstellung muss sich natürlich nach der Art der vorhan- denen pathogenen Vorstellung oder deren Wirkung richten. Eine durch Vorstellung bedingte Lähmung heben wir, indem wir bei dem Kranken die Vorstellung des Nichtgelähmtseins, des Bewegenkönnens erwecken, der durch Vorstellung verursachte Schmerz wird durch die Vorstellung, dass der Schmerz schwinden wird, das von einer Vorstellung abhängige Erbrechen durch die Vorstellung, dass der Magen die Speisen behalten wird oder gesund ist, beseitigt.
Indess wird nicht, wie Strümpell glaubt, nur das, was durch Vorstellung entstanden ist, auch durch Vorstellungen zum Schwin- den gebracht. Wir sind in der Lage, durch Vorstellungen auch eine Eeihe zweifellos von psychischen Einflüssen unabhängiger, durch rein somatische Vorgänge veranlasster Störungen zu mildern und zu heben, insbesondere Schmerzen verschiedenen Ursprungs und andere Gefühlsstörungen, Appetitmangel, Darmträgheit, Menstrua- tionsanomalien, rheumatische Zufälle *). Wir dürfen nicht annehmen, dass die Beseitigung eines durch ein liOkalleiden verursachten Schmerzes durch die Vorstellung des Schwindens desselben dadurch bewerkstelligt wird, dass die Vorstellung auf den krankhaften Zu- stand des betreffenden Körpertheiles oder die Nerven desselben einwirkt; die Hebung des Schmerzes geschieht sehr wahrscheinlich nur dadurch, dass durch die Heilvorstellung das Bewusstseinwerden der von den affizirten Theilen ausgehenden Erregungen verhindert wird, indem dieselbe einen hemmenden Einfluss auf die Elemente der cortikalen Körpergefühlssphäre ausübt, welche mit dem be- treffenden Körpertheile in Verbindung stehen. In den Fällen da-
1) Zu erwähnen ist hier auch die Beseitigung von Warzen durch An- wendung von sogenannten Syinpathioinitteln oder Besprechen ; das heilende Moment bei diesen Kuren, über deren Wirksamkeit in manchen Fällen von selir kritischen Beobachtern berichtet wird, ist jedenfalls die Vorstellung des Schwindens der Warze.
Pathogene und kurative Wirkungen unterbewusster Vorstellungen. ^5
gegen, in welchen clurcli Vorstellungen die Absonderung des Magen- Lftes oder die Tliätigkeit der Darniinuskulatur angeregt oder die Cirkulations- und Ernäbrungsvorgänge eines Körpertbeils beeinflusst werden, müssen durch die Vorstellungen centrifugal sich fort- pHanzende Erregungen ausgelöst werden, welche durch periphere, sekretorische, muskulomotorische (Bewegungsnerven des Darmes, Vasakonstriktoren), hemmende (vasodilatorische) und / trophische Nerven den betreffenden Organen übermittelt werden.
Wir haben im Vorstehenden bei Besprechung der pathogenen und kurativen Wirkungen der Vorstellungen nicht zwischen ober- und unterbewussten unterschieden. Die pathogenen Vorstellungen sind jedoch nicht sämmtlich oberbewusst. Ein sehr 'beträchtlicher Theil derselben (Autosuggestionen, unterbewusste Zwangsvorstellungen und pathogene Erinnerungen) gehört dem Unterbewusstsein an. Der Patient weiss von diesen Vorstellungen nichts und betrachtet desshalb die Wirkungen derselben als Aeusserungen rein körperlicher Leiden. So werden z. B. durch Autosuggestionen nach dem Essen entstehende Magen- schmerzen gewöhnlich als Symptome eines Magenleidens betrachtet, Diarrhoe, welche in Folge von Autosuggestion nach Genuss ge- wisser Speisen auftritt, wird auf eine Darmschwäche oder Darm- katarrh bezogen; ein Neurasthenischer, bei welchem in gewissen Situationen, z. B. beim Aufenthalte in geschlossenen, von vielen Menschen frequentirten Lokalen, Herzklopfen und Unregelmässig- keit der Herzthätigkeit sich einstellen, glaubt herzleidend zu sein. Der Vorgang im letzteren Falle ist jedoch folgender: Die Vor- stellung des Aufenthaltes an dem betreffenden Orte erweckt im Unterbewusstsein des Patienten Zwangsvorstellungen beängstigenden Inhalts (die Vorstellung eines drohenden Unfalles, des Nichtau,s- haltenkönnens etc.), welche die erwähnten Störungen der Herz- thätigkeit hervorrufen, ohne dass dabei im Oberbewusstsein sich ein Angstgefühl primär geltend macht (larvirte Angstzustände E. Hecker). Wie die pathogenen Vorstellungen, so können aber auch die kurativen unterbewusst sein. Die im hypnotische]i Somnambulismus gegebenen Heilsuggestionen entziehen sich der Kenntjiiss des Patienten (d. h. seines Oberbewusstseins). Ihre Wirk- samkeit wird dadurch nicht verringert, sondeni erhöht.
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Patliogeno Wirkungen der Gemiitlisbewegnngen
2. Pjithog-ene und kurative Wirkuuf^'eii der (ieuiüths-
bewej^uugeii.
Der Einfluss der Gemütlisbewegimgen als patliogener psycliisclier Faktoren überwiegt dermassen den der Vorstellungen, dass man häufig, Avenn man von psychischer Verursachung von Krankheits- zuständen spricht, lediglich auf die GemüthsheAvegungen Bezug nimmt. In der That sind die durch Vorstellungen erzeugten Leiden, Avenn auch zum Theil sehr hartnäckig und beschwerlich, doch im Grossen und Ganzen gutartiger Natur, Avährend durch Gemüths- heAvegungen ^zum Theil schwere und andauernde, das Leben ver- kürzende Erkrankungen verursacht Averden; auch ist bekannt, dass der Tod unmittelbar durch mächtige Affekte herbeigeführt Averden kann. Insbesonders in der Aetiologie der Nervenkrankheiten spielen GemüthsheAvegungen eine Avichtige Kolle. Ihnen fällt ein sehr bedeutender An theil an der Verursachung der Psychosen und der verbreitetsten Neurosen, der Neurasthenie und der Hysterie zu, sie figuriren ferner unter den ätiologischen Momenten zahlreicher anderer Nervenkrankheiten, so namentlich der Epilepsie, Chorea minor, Paralysis agitans, Myoclonie und anderer Krampfleiden, des Morbus BasedoAvii, der multiplen Sklerose und der Myelitis. Auch die übrigen Organe unterliegen mehr oder minder einem schädigenden Einflüsse seitens gemüthliCher Erregungen. Solche können die EntAvicklung von Lungenleiden begünstigen, indem sie die Lebensenergie des Lungengevvebes herabsetzen, zur Entstehung von Herzleiden beitragen und solche auch direkt herbeiführen, Ikterus und Funktionsstörungen im Bereiche des Intestinaltraktus (Störungen des Magenchemismus, Diarrhoe^ Obstipation), Ame- norrhoe und Metrorrhagien , Abortus , verschiedenartige Haut- aft'ektionen (Herpes, Urticaria, Hauthämorrhagien, BlutscliAvitzen), bei Brüchigkeit det Gehirngefässe Gehirnblutungen, bei Phthise Haemoptoe, endlich auch Diabetes nach sich ziehen.
So verschiedenartig die pathogenen Wirkungen der Gemüths- erregungcn sind, so kommen dieselben doch fast ausschliesslich einer Art dieser Erregungen zu, den peinlichen (Sorgen, Kummer, Aerger, Zorn, Schrecken, Angst); körperliche Erkrankungen
Kurative Wirkungen der Gemüthsbewegungen.
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in Folge freudiger Affekte kommen kaum vor^); die Todesfälle, welche durch solche mitunter verursacht werden, betreffen nur Per- sonen, bei welchen Erkrankungen (insbesonders Herzleiden) bereits bestehen. Indess beobachten wir von gemüthlichen Erregungen nicht bloss schädliche, sondern auch heilsame "Wirkungen und zwar von den peinlichen ebensowohl als von den freudigen. Kurative Eff ekte werden zwar häufiger durch freudige als durch peinliche Affekte herbeigeführt, die Heilwirkungen letzterer stehen jedoch an Ent- schiedenheit und Kaschheit denen der freudigen Erregungen in keiner Weise nach, und sie beschränken sich auch keineswegs aut psychisch verursachte oder nervöse Leiden. Man hat Beseitigung gichtischer und rheumatischer Zufälle und von Ascites (durch Anregung der Diurese und Diaphorese) ebenso wohl als von hysteri- schen Krämpfen durch Schrecken und Furcht gesehen.
Heber die Vorgänge, durch welche die pathogenen und kura- tiven Wirkungen der Gemütsbewegungen zu Stande kommen, haben uns neuere Forschungen manchen wei’thvollen Aufschluss verschafft; doch ist sehr viel auf diesem Gebiete noch in Dunkel gehüllt. Wir müssen uns hier auf einige allgemeine Andeutungen über die Wirkungen der Affekte, insbesonders in der somatischen Sphäre beschränken.
Die psychischen Vorgänge, welche Avir als gemütliche Er- regungen oder GemüthsbeAvegungen bezeichnen, gehen unzweifelhaft mit entsprechenden cortikalen Erregungen einher. Der Stärke des Affektes korrespondirt die Stärke und Ausbreitung der corti- kalen Erregung; bei den akuten Affekten (Schrecken, Angst, Zorn etc.) haben Avir es mit jäh ansteigenden und rasch oder all- mählich Avieder absinkenden Erregungen, bei den chronischen (Kummer, Sorgen, Keue etc.) mit geringgradigeren, aber andauern- den Erregungen zu thun. Der Verbrauch von Nervenkräften bei intensiven oder länger Avährenden Affektzuständen äussert sich ähnlich wie bei anstrengender, rein intellektueller Thätigkeit (geistiger Arbeit) in einem Gefühle allgemeiner Abspannung, An-
H Geistige Störungen in Folge mächtiger freudiger Erregungen sind melir- facli beobachtet worden.
‘•i) V. Hack-Tiike, Geist und Körper, 2. Aull. p. 193 und 258 u, A.
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Kntliulniig der cort.ikalen AfTekterregung.
gegrift'enlieit oder Erscliöpfiuig. Die Ausbreitung der cortikalen Erregung erklärt sich aus der Menge von Associationen, Avelche die alfekterregende Vorstellung oder Wahrnehmung anklingt; sub- jektiv macht sich dieses Anklingen in der Intensität des erregten Gefühles geltend, welche auch noch durch die Stärke des An- klingens bedingt wird. Eine verletzende Aeusserung seitens eines Diitten versetzt gewöhnlich nur einen kleinen Theil der Vorstellungs- komplexe unseres Ego, die Vorstellungen, welche mit unserem Be- griffe persönlicher Ehre Zusammenhängen, und zwar in nicht sehr intensiver Weise in Mitschwingung; der Affekt, der dadurch erregt wird, der Aei’ger ist daher ein mässiger; die Wahrnehmung einer plötzlich auftauchenden Lebensgefahr für die eigene Person oder einen unserer nächsten Angehörigen versetzt dagegen das ganze grosse Vorstellungsgebiet unseres Ego, resp. einen >der wichtigsten und gefühlreichsten Vorstellungskomplexe desselben,, unser Familien- ego, blitzartig in intensive Mitschwingung, dem entspricht die Gewalt des Affektes, welchen die Situation hervorruft. Die Schnelligkeit der Ausbreitung und die Intensität der cortikalen Erregung machen es einigermassen verständlich, dass in der Wirkung auf die cortikalen Funktionen die mächtigen peinlichen Affekte der mechanischen Gehirnerschütterung sich sehr nähern.
Die cortikalen Aff ekterr egungen haben ein Ten- denz centrifugal abzuströmen, .sich zu entladen. Eine Entladung findet auch immer mehr oder minder, auf die eine oder andere Weise statt und zwar in bahnenden und hemmenden Er- regungsströmen. Die Affekte der Freude und des Zornes äussern — entladen — sich vorzugsweise in motorischen Aktionen, die Freude in Lachen, Jubeln, Springen, Singen und anderen lebhaften Bewegungen, der Zorn in Schimpfen, Wettern, Faustballen und vergeltenden Hand- lungen, der Seelenschmerz dagegen in Seufzen, Schluchzen und Thränenergüssen, Schrecken und Angst in Erblassen, Zittern und motorischer Schwäche (Hemmung der willkürlichen motorischen Innervation und Erregung der Vasokonstrikturen). Die Einwirkung auf die inneren Organe (Herz, Verdauungsapparat etc.) bei den einzelnen Aftekten wechselt im einzelnen Falle in ihrer Art, In- tensität und Lokalisation. Der Eine kann vor Freude nicht essen, bei dem Anderen regt die Freude den Appetit zu ganz ungewöhn-
Entladung der Affekterregung.
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liehen Leistungen an. Diese Verschiedenheiten hängen zum Theil von den Wegen ab, welche die sich entladende Affekterregung in Folge primärer Veranlagung oder durch Krankheit erworbener Disposition der Nervenapparate, sowie in Folge von Erziehung, Ge- wöhnung und äusseren Einflüssen sich wählt, zum Theil von dem jeweiligen Zustande der inneren Organe und der mit ihnen zusammen- hängenden Nervenbahnen. Wenn die corticale Erregung bei pein- lichen Affekten in motorischen Keactionen oder Anregung der Thränensekretion (im Weinen) einen genügenden Abfluss findet, so bleibt für die Einwirkung auf die lebenswichtigen Organe nur mehr ein geringes Erregungsquantum frei, die Art der Entladung der Affekterregung ist hier eine der Erhaltung der Gesundheit günstige. Dagegen ist es bekannt, dass der stumme, thränenlose Schmerz, der Zorn, welcher verbissen, der Aerger, welcher hinunter- geschluckt werden muss, die Sorgen, welche in das Innerste des Herzens verschlossen und der Aussenwelt durch Lächeln und anderen Formen der Heuchelei verhüllt werden, am Marke des Lebens zehren, i. e. tief schädigend in die Körperöconomie ein- greifen. Die den inneren Organen zufliessende Erregungssumme kann jedoch, auch wenn die Möglichkeit einer ergiebigen Entladung nach aussen besteht, eine abnorm erhebliche sein, wenn durch an- geborene Beschaffenheit (Nervosität) oder acquirirte Veränderungen des Nervensystems die Widerstände, welche die Ueberleitung der Erregung auf die visceralen Bahnen bei dem Gesunden erschweren, allgemein verringert sind, oder durch krankhafte Zustände ein- zelner Organe die Leitungswiderstände in den dieselben mit dem Gehirn verknüpfenden Bahnen für centrifugale und centripetale Er- regungen vermindert werden. So erklärt es sich, dass bei Ner- vösen die Erregungen peinlicher Affekte Functionsstörungen seitens des Herzens, des Magens, Darmes etc. leichter herbeiführen als bei Gesunden und bei anatomischen Veränderungen oder nervösen Affektionen innerer Organe nach diesen hin die Affekterregung be- sonders leicht ihren Weg findet, sodass bei Herzleiden Störungen der Herzthätigkeit und Schmerzen in der Herzgegend, bei Magen- leiden Magenbeschwerden, bei Darmaffektionen Diarrhoe, Leib- schmerzen etc., bei Erkrankungen der weiblichen Sexualorgane, Schmerzen oder andere Störungen im Bereiche dieser (Amenorrhoe,
Lö wo n fol d , Psychotherapie. 4
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Heilwirkungen der Aflekte
Metrorrhagien etc.) entstehen. Auch für die Lokalisation der durch geiuüthliche Erregungen verursacliten dauernden Leiden sind die angegebenen A^erhältnisse von Gewicht.
In welcher Weise die Lleilwirkungen peinlicher Affekte bei nicht nervösen Erkrankungen , wie Gichtanfällen , rheumatischen Affektionen, zu Stande kommen, hierüber ermangeln wir noch jeder Aufklärung. Der günstige Einfluss, welchen freudige Affekte und Stimmungen auf zahlreiche nicht nervöse Krankheiten aus- üben, dürfte sich hauptsächlich aus der förderlichen Einwirkung dieser Gemüthszustände auf die Thätigkeit des Cirkulations- und Verdauungsapparates erklären’); diese spielt jedenfalls auch bei den Heilaff'ekten, welche freudige Erregungen bei nervösen Leiden herbeiführen, häufig eine bedeutende Rolle. Die Freude ist ein mächtiges Tonicum für das Nervensystem. Sie erleichtert die willkürliche Bewegung und den Ablauf des Vorstellens, — sie er- leichtert auch die Verdrängung unangenehmer körperlicher Sen- sationen und peinlicher Erinnerungen aus dem Bewusstsein und kann direkt krankhafte Vorstellungen mit ihren Folgen beseitigen^). Die nervösen Affektionen , welche im Gefolge von Gemüthsbeweg- ungen schwinden, gehören vorwaltend dem Gebiete der Jlysterie an. Auch bei diesen Heilungen handelt es sich um Vorgänge verschiedener Art. Man hat z. B. öfters Beseitigung länger be- stehender hysterischer Stummheit durch Schrecken beobachtet. In diesen Fällen überwindet die Affekterregung die wahrscheinlich intracortikalen Hemmungen, welche die willkürliche Innervation
1) Es ist übrigens wahrscheinlich, dass die freudigen Affekte und Stim- mungen auch direkt anregend auf den Stoffwechsel wirken ; dass die depressiven Affekte Anomalien des Stoffwechsels steigern und direkt verursachen können, unterliegt keinem Zweifel (Auftreten von Diabetes und Gichtanfällen, Bildung von Toxinen in der Milch stillender Frauen im Gefolge von peinlichen Affekten, Veränderung des Fleischgeschniackes vor der Tödtung gehetzter und geängstig- ter Thiere [Mariot]).
2) Ein mit einer hysterischen Arthralgie eines Fussgelenkes behaftetes junges Mädchen meiner Beobachtung nahm hinkend an dem Maifeste ihrer Klasse Theil; als die Spiele begannen, minderte sich das Hinken und später wurde beobachtet, dass das Mädchen sich ebenso frei umhertuinmelte wie die übrigen Kinder; sie war von ihrer Arthralgie befreit. Unter der Freude des Spieles verschwand die Vorstellung, dass das Gehen Schmerzen im Gelenke verursachen müsse, und hiemit auch der Schmerz und das Hinken.
Pathogene Wirkungen des Willens.
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der Sprachmuskulatur verhindern; hiemit wird die Bahn für die motorischen Sprachleistungen wieder für die Willenserregungen zu- gänglich ; die Vorstellung des Nichtsprechenkönnens, welche primär oder sekundär die in Frage stehenden Hemmungen auslöste, schwindet. Während hier der Affekt eine Hemmung wegräumt, bewirkt er in anderen Fällen die Hemmung krankhafter Bewegungs- antriebe. So hat die Furcht vor schmerzhaften Eingriffen (Opera- tionen, faradischen Pinselungen etc.) zur Beseitigung hysterischer Krämpfe und krampfartiger, primär vom Willen abhängiger und dann allmählich durch die Gewohnheit automatisch gewordener Bewegungen (Tics, Husten, Rülpsen etc.) in manchen Fällen geführt.
3. Pathogene und kurative Wirkungen des Willens.
Durch Willensakte können Krankheitszustände nicht direkt hervorgerufen werden, auch die Herbeiführung von vorübergehenden Störungen in den Funktionen der lebenswichtigen Organe durch Eingreifen des Willens zählt zu den physiologischen Ausnahms- vorkommnissen. Dem Naturforscher R. W. Fox gelang es nach dem Berichte Hack Tuke’s, seinen Puls willkürlich um 10 — 20 Schläge in der Minute zu vermehren, anderen Personen (Oberst Townsend^), ein von Dr. Darwin beobachteter Mann) brachten es zu Stande, willkürlich ihre Herzthätigkeit zu verlangsamen und selbst zeitweilig ganz zu hemmen. Willkürliches Erbrechen wird öfters beobachtet, während willkürliche Herbeiführung von Darm- entleerung etwas ganz Exceptionelles ist^). Indirekt können Willens-
1) Von Oberst Townsend wird erzählt, dass er im Stande war, sich nach seinem Belieben in einen scheintodartigen Zustand zu versetzen und darin längere Zeit zu verharren. Aehnliches wird von indischen Fakiren (Jogins) berichtet, welche sich angeblich lebendig begraben und nach einer gewissen Zeit wieder exhumiren lassen. Die an einzelnen Indiern, welche sich in jüngster Zeit in Europa an verschiedenen Orten producirten, gemachten Beobachtungen haben jedoch ergeben, dass die Herabsetzung der respiratorischen und cirkula- torischen Thätigkeit während des sogenannten Jogaschlafes keine so weitgehende ist, wie man bisher vielfach annahm.
2) ln der Literatur findet sich nur eine Beobachtung dieser Art von Dr. Darwin (dem älteren) mitgetheilt.
4*
52 Kurative Wirkungen des Willens.
akte auf verschiedene Weise Krankheitszustände verursachen, so durch Verdrängung peinlicher Vorstellungen, wie wir bereits ge- sehen haben, durch öftere Auslösung von Bewegungen, welche all- mählich vom Willen unabhängig — automatisch — werden (Torti- collis mental, Tics etc.), durch Einleitung von Handlungen, welche Schädigungen der Gesundheit nach sich ziehen.
Die Bedeutung des Willens als gesundheiterhaltender und Heilpotenz ist früher häufig überschätzt worden. So erzählt Goethe, dass er bei einem Faulfieher der Ansteckung unvermeidlich aus- gesetzt gewesen sei, und diese nur durch die Macht seines Willens von sich abgehalten habe. Dass der Wille das Eindringen der Infektionskeime in den Körper direkt nicht verhindern kann, wenn diese hiezu Gelegenheit finden, hierüber hegt heutzutage wohl Niemand einen Zweifel; dagegen vermag der Wille viel, was zur Verhinderung des Wirksamwerdens der in den Körper einge- drungenen pathogenen Keime beiträgt, indem er auf Einhaltung einer hygienischen Lebensweise hinwirkt und Angstanwandlungen mit ihren der Körperökonomie nachtheiligen Folgen hintanhält. Direkte kurative Wirkungen werden durch Willenseinflüsse nur bei Nervenkrankheiten erzielt. Die Kraft eines energischen Willens kann hier sehr viel leisten durch Ueberwindung motorischer Schwächezustände, Verdrängung krankhafter Gefühle und Vor- stellungen aus dem Bewusstsein, Einschränkung und Unterdrückung von Affektzuständen und durch Hemmung krankhafter Bewegungen und Bewegungsantriebe (von Krämpfen, nervösem Husten etc.). In manchen Fällen von Epilepsie können beginnende Anfälle durch einen Willensakt unterdrückt werden; ich habe selbst zwei Fälle dieser Art beobachtet, in welchen die Krämpfe an einem Arme gewöhnlich begannen ; gelang es den Patienten . die Finger der betreffenden Hand rechtzeitig energisch zu strecken, so sistirte der Krampf; in anderen Fällen läs^ sich der Eintritt der Bewusst- losigkeit willkürlich eWas hinauszögern; ich habe ferner beobachtet, dass der Eintritt hysterischer Schlafzustände durch einen Willens- act hinausgeschoben, bei nicht sehr erheblicher Neigung zu den- selben auch ganz verhindert werden kann; so wenig glaublich es erscheint, ich habe auch den Eindruck gewonnen, dass durch.
Einfluss des Willens auf schädliche Gewohnheiten.
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Willenseintiüsse die Dauer des hysterischen Schlafzustandes sich abkiü’zen lässt ^).
Dass der Wille auch ein sehr wichtiger Faktor bei der Be- kämpfung schädlicher Gewohnheiten und Neigungen (Missbrauch geistiger Getränke, Uebermaass im Kauchen, Masturbation, ge- schlechtliche Excesse etc.) ist, bedarf keiner weiteren Darlegung.
1) Es handelt sich hier wahrscheinlich um einen ähnlichen Vorgang wie heim Erwachen aus dem natüi'lichen Schlafe zu einer bestimmten Zeit in Folge eines Vorsatzes.
III. Abschnitt.
Die Psyche
des Kranken.
So wie zur erfolgreichen Behandlung eines Leidens mit so- matisch wirkenden Heilmitteln neben Kenntniss des vorliegenden pathologischen Zustandes sorgfältige Berücksichtigung der Körper- constitution des Patienten erforderlich ist, so erheischt auch eine sachgemässe psychische Therapie eingehende Beachtung der see- lischen Constitution des Patienten, i. e. strenges Individualisiren. Ein verordnetes Abführmittel kann im einzelnen Falle, wenn wir die somatische Constitution des Kranken ausser Betracht lassen, seinen Dienst versagen oder sehr unangenehme Zufälle herbei- führen; ebenso kann eine psychische Einwirkung, z. B. eine ge- gebene Aufklärung von dem einen Kranken achtlos .hingenommen werden, bei dem anderen dagegen weitgehende unangenehme Folgen nach sich ziehen. Das seelische Verhalten der Kranken ist jedoch nicht in der Weise der üntersuchung zugänglich wie der körper- liche Zustand, und die Patienten geben darüber auch zumeist nicht mit derselben Unbefangenheit und Bereitwilligkeit Aufschluss wie über Eigenthümlichkeiten ihres Körpers. Der Arzt ist daher sehr häiihg bei der Beurtheilung der geistigen Individualität seiner Kranken zum grossen Theil auf seine durch Erfahrung gewonnene Menschen- kenntniss und seine Combinationsgabe angewiesen. Der erfahrene Praktiker, der in der Schule des Lebens nicht vergebens Lehrgeld bezahlt hat, wird daher in der psychischen Therapie ceteris paribus mehr leisten können als der Neuling, allein auch dieser Avird
Psychische Eigenthümlichkeiten des Kindesalters.
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manchen erfreulichen Erfolg sich sichern und schwerwiegende Fehler vermeiden, wenn er wenigstens sich bemüht, die Erfahrungen anderer sich zu Nutzen zu machen und sich bei seinem Vorgehen von gewissen Regeln leiten lässt.
In erster Linie haben wir Alter und Geschlecht des Patienten in Betracht zu ziehen. Von den verschiedenen Lebensaltern seien hier nur die Extreme, das Kindes- und Greisenalter, berührt. Dem Kinde mangelt die Lebenserfahrung und Urtheilsfähigkeit des reiferen Alters, während seine Phantasie lebhafter als in späteren Jahren, weil durch Verstandesthätigkeit weniger eingeschränkt ist. Das Kind ist daher suggestibler als der Erwachsene, dabei auch mehr zu blindem Vertrauen in die Macht des Arztes und, wenn überhaupt an das Gehorchen gewöhnt, mehr zu widerstandsloser Unterordnung unter die ärztliche Autorität geneigt. Zur suggestiven Beeinflussung des Kindes genügen aus diesen Gründen meist ein- fachere Mittel als beim Erwachsenen, und wir erreichen bei demselben häufig durch Wachsuggestion die gleichen Erfolge wie beim Erwachsenen durch Zuhilfenahme der Hypnose. In Folge ihrer grösseren Suggestibilität sind Kinder auch für die von ihrer Umgebung ausgehenden Eindrücke zugänglicher; ihr ganzes geisti- ges Verhalten wird durch diese leichter und nachhaltiger beeinflusst als bei dem Erwachsenen, eine Erfahrung, die schon in verschiedenen Spi’üchwörtern ihren Ausdruck gefunden hat. Kinder sind aber auch gemüthlich erregbarer, leichter einzuschüchtexm und dabei weniger der Selbstbeherrschung fähig als der Erwachsene. Ist ihre Angst durch irgend einen Umstand einmal erregt, so richten Vernunftgründe dagegen meist nicht viel aus. Der Arzt kommt bei ihnen gewöhnlich leichter und sicherer ans Ziel, wenn er durch freundliches Entgegenkommen und Eingehen auf ihre Weise ihre Zuneigung zu erwerben trachtet, als wenn er als Wauwau sich gerirt, oder sich die Rolle eines solchen von den Angehörigen auf- octroiren lässt. Die Stimmung wechselt bei dem Kinde rascher als bei dem Erwachsenen, vom Weinen zum Lachen ist nur ein Schritt. Das Kind ist auch weniger im Stande und geneigt, sich anhaltend mit irgend einem Gegenstände zu beschäftigen, seine Aufmerksamkeit ermüdet rascher und wird dann leicht durch neue Eindrücke abgezogen. Auch bei Schmerzen und anderen
56 Psychisclie Eigenthümlichkeiten des Greisenalters.
Bescliwerclen lässt sicli seine Aufmerksamkeit leichter als bei Er- wachsenen durch zerstreuende Einflüsse ahlenken; unter Scherz und Spiel vergisst es rasch körperliches und seelisches Ungemach. Das Kind ist ferner im Allgemeinen hei leichten sowohl als bei scliAvereren Erkrankungen wegen seines Zustandes unbesorgt; es kann jedoch durch seine Umgebung (auch durch den Arzt) ängst- lich und hypochondrisch gemacht werden und seine lebhaftere Phantasie begünstigt dann die Bildung von schädlichen Auto- suggestionen in erheblichem Maasse. Ein Uebermaass von Be- obachtung und Bemitleidung seitens der Umgebung ist daher bei Kindern ebensowenig zuzulassen als bei Erwachsenen.
Was das höhere Alter anbelangt, so spricht man zwar von Greisen, welche kindisch werden, das, seelische Verhalten im Greisen- alter weist jedoch vorherrschend einen Gegensatz zu dem der Kinderjahre auf. In den Greisenjabren verliert die Phantasie an Schwung, das Gefühl an Lebhaftigkeit ; das Gedächtniss für frische Eindrücke nimmt mehr und mehr ab, während die Erinnerungen aus früherer Zeit noch treu bewahrt werden. Die Sinne werden stumpfer, die Denkprozesse verlaufen im Allgemeinen langsamer, schwerfälliger, neue Gedanken lassen sich nur schwer anregen. Der Greis ist daher weniger suggestibel als der Mann in rüstigerem Alter und das Kind, weniger beeinflussbar durch Eindrücke der Gegenwart, zäher an Gewohnheiten und einmal gefassten Ent- schlüssen haftend — conservativer — dabei aber ruhebedürftiger und wegen der relativen Monotonie seines Denkens und seiner verminderten Antheilnahme an den Vorgängen der Aussenwelt mehr zur Beachtung der körperlichen Gefühle geneigt; durch letzteren Umstand wird die Entwicklung von Launenhaftigkeit und Hypochondrie begünstigt.
Durch die Gestaltung des Seelenlebens, welche das Greisen- alter bedingt, wird die psychische Behandlung in manchen Be- ziehungen erleichtert, in manchen erschwert. Der Greis macht geringere Ansprüche an das Leben und an sich selbst ; für ihn ist die Erhaltung des Lebens die Hauptsache, die Erhaltung der Arbeitsfähigkeit, auf Avelche der in Jahren weniger vorgerückte Mann häufig mehr Gewicht legt als auf das Leben, zumeist von untergeordneter Bedeutung. Auch Avenn das Leben ihm schon zur
Psychische Eigenthümliclikeiten des weiblichen Geschlechtes.
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Bürde geworden ist, will er dieser Bürde keineswegs ledig werden. „Keiner ist so alt, dass er nicht wenigstens noch ein Jährchen hoffte“, bemerkt Weber mit Recht. Tröstlichem Zuspruch sind alte Leute zumeist leicht zugänglich, Aenderungen in ihren Lebens- gewohnheiten sind dagegen bei ihnen schwer durchführbar, auch müssen wir bei denselben auf manche Beschäftigungen und Zer- streuungen, welche bei jüngeren Individuen sich nützlich erweisen, verzichten (Gymnastik, Sportsübungen, Reisen etc.). Was der Arzt besonders ad notam nehmen darf, ist, dass Hochbejahrte zwar bei allen ärztlichen Verordnungen eine sorgfältige Berücksichtigung ilares Alters erwarten, dabei aber keineswegs an dasselbe erinnert sein wollen, im Gegentheil wünschen, dass der Arzt ihnen von der Last ihrer Jahre etwas wegsuggerirt ; in gewissem Maasse kann er dies auch thun, indem er von ihren Schwächen und Gebrechen möglichst wenig Aufhebens macht, dagegen aber die guten Seiten ihres Zustandes möglichst hervorhebt.
Von den durch das Geschlecht bedingten Unterschieden in dem psychischen Verhalten, welche für die Psychotherapie in Betracht kommen, müssen wir vor Allem die grössere gemüthliche Erreg- barkeit (Emotivität) des weiblichen Geschlechtes hervorheben. Diese erleidet während gewissen Lebensphasen — Pubertätsentwicklung, Menses, Gravidität, erste Zeit der klimakterischen Periode — eine nicht unerhebliche Steigerung. Die intellektuelle Seite des Seelen- lebens weist dagegen bei der Frau qualitativ und quantitativ ge- ringere Leistungsfähigkeit als beim Manne auf (Ueberwiegen des Herzens über den Verstand)^). Auch die Willensenergie ist bei der Frau im Allgemeinen geringer als beim Manne. Hiemit hängt eine weitere seelische Eigenschaft des weiblichen Geschlechtes, die grössere Suggestibilität desselben, zusammen^).
Was die Frau in ihrem Denken, Fühlen und Wollen von dem Manne unterscheidet, begründet auch, wie ich schon anderen Orts bemerkte, ihre überwiegende Disposition zur Hysterie. Die Frau entfernt sich auch in ihrem Seelenleben von dem Kinde weniger
1) Benedict ist der Ansicht, dass das Weib speziell für das höhere — begriffliche oder abstrakte — Denken schlecht veranlagt ist.
2) Wahrscheinlich besteht auch beim weiblichen Geschlechte eine grössere Disposition zum Hypnoidzustande.
58 Psychische Eigenthlimlichkeiten dos weiblichen Geschlechts.
als der Mann, und der Satz, Frauen sind grosse Kinder, enthält eine gewisse Wahrheit. Die grössere Suggestibilität des weiblichen Geschlechtes bedingt es, dass die Angehörigen desselben mehr als Männer durch Aeusserlichkeiten in der Person des Arztes und dessen Verhalten eingenommen und abgestossen werden und der erste Eindruck bei denselben oft massgebend ist. Die grössere Emotivität macht sie in ihrer Stimmung veränderlicher, leichter zum Hoffen und Jubeln, aber auch leichter zum Sorgen und Ver- zagen geneigt; die grössere Emotivität und Suggestibilität des weib- lichen Geschlechtes erklären es, dass die sogenannten Wunder- und Glaubenskuren bei Frauen ungleich häufiger als bei Männern zu Stande kommen.
Ein weiterer sehr berücksichtigender Umstand ist, dass das Sexualleben im weiteren Sinne für die Psyche der Frau von viel grösserer Bedeutung und viel häufiger eine Quelle schädigender und krankmachender gemüthlicher Erregungen als beim Manne ist. Der grösste Theil der Frauen betrachtet das Gattin- und Mutter- werden als Lebenszweck. Das Unerfülltbleiben oder die nur partielle , Befriedigung der dahin zielenden Wünsche kann für ihr Gemüths- leben nicht gleichgültig bleiben. Dabei spielt die erzwungene sexuelle Abstinenz eine weit geringere Rolle als die Nichtbefriedig- ung ideeller Wünsche und Neigungen. Was man auch von der Stärke des Sexualtriebes bei der Frau sagen mag, die sexuell- sinnliche Bedürftigkeit ist sicher bei der Frau im All- gemeinen geringer als beim Manne, grösser ist dagegen entschieden das Liebesbedürfniss und die Nichtbefriedigung dieses Bedürfnisses schlägt viel schlimmere Wunden als die sexuelle Ab- stinenz. Das grössere Liebes- oder wenigstens Zärtlichkeitsbe- dürfniss beim weiblichen Geschlechte darf seitens des Arztes nicht ganz unberücksichtigt bleiben. Mehr als durch erhebliche körperliche Beschwerden wird oft die Frau bei Krankheiten durch lieblose Behandlung seitens des Gatten oder anderer Angehöriger bedrückt, und der Arzt darf daher nie verabsäumen, solcher nach Kräften entgegenzutreten. Frauen erwarten im Allgemeinen auch bei Krank- heiten mehr Mitgefühl und Theilnahmsbezeugung, werden auch durch solche mehr erfreut und getröstet als Männer. Wir müssen ihnen auch bei gutem Verhalten Lob und Anerkennung
Bildungsstufe und äussere Stellung des Kranken. 59
in reichlicherem Maasse spenden als den Angehörigen des starken Geschlechtes.
Neben dem Alter und Geschlechte haben wir vor allem der Bildungsstufe und äusseren Stellung des Kranken Rechnung zu tragen. Die psychische Wirkung, welche wir bei dem Gelehrten durch einfache Aufklärung über den bestehenden Zustand erreichen, erzielen wir bei dem Bauersmann auf dem gleichen Wege nicht, wohl aber durch Verordnung irgend eines indifferenten Mittels; während der Gelehrte uns oft dankbar ist, wenn wir ihn mit dem Gebrauche von Medikamenten verschonen, entspricht dies den Wünschen des Bauernmannes durchaus nicht, dieser verlangt nach einer sicht- und greifbaren Hilfe und ist in erster Linie geneigt, die Nichtgewährung solcher auf Unfähigkeit des Arztes zurückzu- führen. Bei der Berücksichtigung des Bildungsgrades des Patienten dürfen wir nicht übersehen, dass Bildung und Verstandes- schärfe durchaus nicht immer parallel gehen, und dass wir bei manchen zu den Gebildeten zählenden Personen einem
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Hang zum Aberglauben und einer Kritiklosigkeit begegnen, die wir bei den gänzlich ununterrichteten Angehörigen der unteren Stände häufig vermissen. Wollten wir einem intelligenten Arbeiter das Tragen eines Amulettes oder ein sogenanntes Sympathiemittel gegen gewisse Beschwerden verordnen, so würden wir meist nur ein Achselzucken hervormfen; in den Kreisen der Gebildeten, speziell bei manchen Damen, finden dagegen derartige Mittel noch immer Anklang. Auf diesem Umstande beruht es, dass manche Charlatane gerade aus den sogenannten besten Ständen sich eines Zulaufs erfreuen, welchen man in unserer aufgeklärten Zeit nicht erwarten sollte, und dass in den gleichen Kreisen Patent-, Geheim- und Schwindelmittel, wie das Weissmann’sche Schlagwasser, die Mattei’schen Tropfen und Pillen etc. etc. noch immer mächtigen Absatz finden. Die äusseren Verhältnisse des Kranken kommen für die psychische Therapie aus mehreren Gründen sehr in Be- tracht. Das gleiche Leiden ist für Individuen von verschiedener ökonomischer oder gesellschaftlicher Stellung von sehr verschiedener Bedeutung. Eine Erkrankung, welche bei einem Kleingewerbe- treibenden den wirthschaftlichen Ruin, bei einem Beamten die Vernichtung der Carriere und damit auch schwere materielle Nach-
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Nicht gesund werden wollende Unf'allskranke
tlieile herbeiführen kann, zieht bei einer verheix’atheten Dame aus den wohl situirten Kreisen, deren Obliegenheiten auf den Haus- halt sich beschränken, oder bei der ledigen Tochter einer reichen Familie ähnliche Folgen nicht nach sich. In ersteren Fällen stellen sich schwere Sorgen wegen der Zukunft ein, welche nicht nur auf die vorhandenen Krankheitserscheinungen ungünstig einwirken, sondern auch neue Symptome hervorrufen können. Die psychische Therapie darf natürlich diesen Sachverhalt nicht unberücksichtigt lassen; ihr fällt es zu, die Sorgen des Kranken, dieselben mögen gerecht- fertigt oder unbegründet sein, thunlichst zu erleichtern, seinen Muth und seine Hoffnung stetig zu beleben. Dies bildet für uns oft schon eine recht mühsame Aufgabe, doch gestaltet sich die Sachlage noch viel schwieriger, wenn der Kranke den Wunsch, gesund zu werden, überhaupt nicht oder wenigstens nicht in ernst- hafter Weise hegt. Diesem anscheinend unnatürlichen und unver- ständlichen Verzichte begegnet man durchaus nicht selten und zwar unter sehr verschiedenen Verhältnissen. Von den Unfalls- kranken finden gar manche, so lange ihre Ansprüche auf Ent- schädigung nicht definitiv geregelt sind, es vortheilhafter , krank zu bleiben, als durch Wiedererlangung der Gesundheit in die früheren Verhältnisse zurückversetzt zu werden. Die Andauer des Krankseins verhilft ihnen zu einer, wenn auch kleinen, so doch ohne besondere Leistung zufallenden Rente oder einer einmaligen grösseren Abfindung, während die Genesung ihre Entschädigungs- ansprüche ganz oder zum grössten Theil hinfällig machen würde. Wenn Vorstellungen dieser Art dazu führen, dass an sich heilbare Leiden unverändert sich erhalten, so darf man die Erklärung hiefür durchaus nicht immer lediglich in Simulation suchen. Die fraglichen Vorstellungen sind sehr wohl geeignet, ohne dass eine Absicht des Patienten hiebei mitspielt, bestehende nervöse, speziell psychogene Störungen zu unterhalten. Ist der Arzt zu der Ueberzeugung gelangt, dass der Kranke in dem Fortbestehen seines Leidens einen Vortheil erblickt, so wird er sich nicht lange mehr mit Kurversuchen abmühen, sondern den Patienten auf eine allerdings etwas harte Weise zu der Einsicht bringen, dass das Gesundwerden für ihn eine Nothwendigkeit ist. Dies geschieht dadurch, dass man nach dem Vorschläge Strümpell’s
Die Suggestivwirkung des Preises von Heilmitteln.
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die zu gewährende Rente in einer Weise bemisst, dcuss der Patient alsbald sieb veranlasst siebt , wieder zu einer Beschäftigung zu greifen. Der Zwang der Notb wirkt hier auf die Psyche mächtiger
als alles ärztliche Argumentiren.
Bei einer Reihe anderer Leidender, welche von der Andauer ihres Krankheitszustandes durchaus keine materiellen Vortheile zu erwarten haben, finden wir den Verzicht auf das Gesundwerden darin begründet, dass sie sich mit ihrem leidenden Zustande so- zusagen abgefunden, den Gedanken des Invalidseins in den Besitz- stand ihres Ego aufgenommen haben und die äusseren Verhältnisse für sie auch keinen Stimulus zum Wieder erwerbe ihrer Gesund- heit liefern. Diese sanftmüthige Ergebung in das Schicksal , die bei unheilbaren oder in ihrem Verlaufe durch ärztliches Eingreifen nicht modificirbaren Krankheiten gewiss höchst anerkennenswerth ist, verdient bei heilbaren Leiden durchaus keine Bewunderung. Sie äussert keinen wohlthätigen Einfluss auf den vorhandenen Zu- stand, sondern führt lediglich zur Verschleppung desselben, sie geht auch nicht aus philosophischen oder religiösen Erwägungen hervor, dass man sich dem Verhängnisse (oder der von Gott auf- erlegten Prüfung) fügen müsse. Sie ist lediglich der Ausfluss einer vis inertiae, mit welcher der Arzt einen schweren und unablässigen Kampf zu führen hat, wenn irgend welche Umstände es nothwendig machen, gegen das bestehende Leiden vorzugehen.
Die materiellen Verhältnisse des Kranken kommen für die psychische Therapie noch in anderer Hinsicht in Betracht. Die sehr verbreitete, aber keineswegs begründete Anschauung, dass der Heilwerth eines Mittels einigermassen im Verhältnisse zu dessen Preis stehen müsse, bedingt es, dass theueren Mitteln und Kuren im Allgemeinen mehr Vertrauen entgegengebracht wird als billigen. Wo es sich um Erzielung psychischer Wirkungen handelt, erreichen wir daher mit dem theueren Spermin Pöhl zumeist mehr als mit irgend einem billigen indifferenten Mittel, mit einer theueren Badekur mehr, als mit einem gewöhnlichen billigen Landaufenthalt. Die Suggestivwirkung mancher Geheimmittel wird jedenfalls durch den hohen Preis derselben mitbedingt. Es liegt nahe, dass man kostspielige Verfahren und Medikamente zum Zwecke psychischer Beeinflussung im Allgemeinen nur bei vermöglichen Patienten em-
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Die Suggestivwirkuiig des ärztlichen Honorars.
pfielilt, bei gering Bemittelten dagegen nur ausnahmsweise, wenn man die Ueberzeugung gewonnen hat, dass mit billigen oder nichts kostenden Mitteln nicht die gleiche Wirkung zu erzielen ist und der zu erwartende Erfolg dem erforderlichen Geldopfer entspricht.
Auch die Bemessung des ärztlichen Honorares ist für die psychische Therapie durchaus nicht belanglos. Man kann zwar nicht sagen, dass das Gewicht, welches dem Bathe eines Con- siliarius beigelegt wird, in direktem Verhältnisse zur Höhe des von diesem liquidirten Betrages steht, allein man darf auch nicht annehmen, dass diese für die Taxirung der gegebenen Vorschriften seitens des Patienten ganz belanglos ist. Es trägt daher im All- gemeinen keineswegs zur Mehrung der Werthschätzung gegebener Verordnungen bei, wenn von vermögenden Personen für eine Con- sultation ein auffallend geringes Honorar verlangt wird; zu leicht schleicht sich bei dem Berathenen der Gedanke ein, dass die von dem Arzte selbst so nieder bewerthete Leistung am Ende auch nicht mehr werth sei. Eine zu bescheidene Honorarforderung kann daher sogar gegen das Interesse des Patienten sein. Wenn man von wirklich Armen kein Honorar nimmt , so wird dies meines Erachtens niemals den Zwecken der psychischen Therapie zuwiderlaufen, und wenn solche auch, wie es mitunter vorkommt, sich bereit erklären, ihren letzten Groschen zu opfern, um ihre Gesundheit Avieder zu erlangen, so wird kein anständiger Arzt sich dadurch verleiten lassen, seine Hilfeleistung von solchen Opfern abhängig zu machen. Dagegen darf man es sich bei Gering- bemittelten immerhin überlegen, ob man ihnen mit völlig unent- geltlicher Behandlung auch eine Wohlthat erAveist; wenn auch Geldersparniss dem mit Glücksgütern nicht Gesegneten im Allge- meinen als eine entschiedene Annehmlichkeit erscheint, so lässt sich derselbe, Avenn es sich um Wiedererlangung der Gesundheit handelt, durch diese Kücksicht allein durchaus nicht immer be- stimmen. Wir sehen nicht selten, dass Personen mit sehr be- scheidenem Einkommen, Avelche auf unentgeltliche Behandlung seitens eines oder mehrerer Aerzte Anspruch haben, nicht bei diesen, sondern bei einem Arzte Hilfe suchen, Avelcher von ihnen Zahlung zu verlangen berechtigt ist, oder dass sie von einem sie billig behandelnden Arzt himveg und an einen anderen mit viel
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Charakter der Kranken; Willenskräftige.
höheren Honorarsätzen sich wenden. Es erscheint daher auch nicht befremdlich, dass wir bei manchen wenig Bemittelten bessere Erfolge erzielen, wenn Avir für die geAA^ährte Behandlung ein ge- ringes Honorar annehmen, als AA'^enn AAÜr auf jede Entschädigung verzichten. Das Vertrauen zu den ärztlichen. Maassnahmen und Verordnungen Avird bei dem Patienten gesteigert, Avenn dieser das BeAvusstsein hat, dass er die Dienste des Arztes nicht ganz ohne Gegenleistung in Anspruch nimmt und diesem gegenüber nicht lediglich in der Rolle eines Almosenempfängers sich befindet.
Neben den im Vorstehenden erwähnten Momenten haben wir ganz besonders den Charakter des Kranken in ErAvägung zu ziehen, wenn AAÜr durch Einwirkung auf dessen Psyche einen Amrhandenen Krankheitszustand zu beeinflussen versuchen. Es würde uns hier- zu Aveit führen, wollten wir auf alle die verschiedenen Charakter- arten eingehen, denen der Arzt in praxi Rechnung zu tragen hat; wir können uns hier nur mit den Avichtigsten in Betracht kommen- den Typen beschäftigen.
Willenskräftige, energische Naturen erleichtern dem Arzte die Aufgabe der psychischen Behandlung in mehrfacher Hinsicht. Sie wehren sich, ohne dazu angespornt zu werden, gegen eine Beein- flussung ihres Denkens, Fühlens und Handelns durch vorhandene körperliche Uebel; Schmerzen und anderes Ungemach halten sie nicht ab, ihrer geAvohnten Berufsthätigkeit nachzugehen, im häus- lichen Kreise und in der Gesellschaft den Anforderungen ihrer Stellung Rechnung zu tragen. Solche Naturen finden daher häufig in sich selbst die Mittel, ihr Leiden (Avenigstens nach seiner sub- jektiven Seite) einzudämmen und dessen Bedeutung für ihre Lebens- gestaltung herabzusetzen. Nicht anzuspornen, sondern zu reguliren, von verderblichen Richtungen ahzuhalten und häufig zu beschränken hat hier der Arzt den Thätigkeitstrieb des Kranken. Der im Banne der Berufs- und Familienpflichten stehende muss auf die Pflicht der Selbsterhaltung hingewiesen Averden. Trost bei kleinen Leiden ist hier überflüssig, allein auch eine schmerzliche Wahrheit, A'on Avelcher eine schwächere Natur niedergedrückt Avird, erträgt der Willenskräftige, ohne aus dem GleichgeAvicht zu kommen. Wir dürfen jedoch auch dem Willensstärken nicht allzuviel zu- muthen und nicht glauben, dass Avir bei demselben der Erhaltung
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Dio Willensschwächen.
dei' Willenskraft keine Sorge ziizuwenden haben. Es giebt Um- stände, welche auch die Energie des tbatkräftigsten Mannes lahm legen können; hieher gehört der Gedanke, einem unheilbaren, trost- losen Siechthum verfallen zu sein, oder in einem Zustande eminen- ter Lebensgefahr sich zu befinden. Auch dem Willenstarken können wir daher keineswegs unter allen Umständen die Wahrheit über seinen Zustand offenbaren.
Der Willensschwäche gegenüber hat der Arzt oft einen schweren Stand, in welcher Form auch diese Charaktereigenthümlichkeit zu Tage treten mag. Dieselbe ist an kein bestimmtes Temperament gebunden, äussert sich jedoch je nach dem Temperament in ver- schiedener Weise, bei dem Phlegmatischen in stumpfer, träger Resignation, bei dem Cholerischen in unberechtigter Ungeduld und lauter Ungeberdigkeit, bei dem Sanguinischen in Wankelmuth, einem stetigen Schwanken zwischen frohen Hoffnungen und guten Vorsätzen und Vei'zagen und Energielosigkeit. Gleichmuth und zäheste Beharrlichkeit erheischen diese Willensschwächen alle seitens des Arztes; er darf es sich nicht verdriessen lassen, wenn seine Mahnungen zur Thätigkeit bei dem Phlegmatischen, zur Geduld bei dem Cholerischen und zum Ausdauern und zur Konsequenz bei dem Sanguinischen immer und immer wieder erneuert werden müssen ; er darf es sich nicht verdriessen lassen, wenn sein Eifer, sein guter Wille zu helfen bei dem Kranken nicht die entsprechende Anerkennung findet, weil dieser glaubt, er sollte ohne eigene Mit- wirkung von seinem Leiden befreit werden; er darf den Gleich- muth auch nicht verlieren, wenn er einen mühsam errungenen Fortschritt verloren gehen sieht und mit seiner Behandlung meder von vorne anfangen muss. Ungemein viel Geduld erheischen seitens des Arztes auch die allzu Aengstlichen, die ständig in krankhafter Weise um ihr Befinden besorgten Hypochondrischen, wie diejenigen, bei welchen die Neigung zu übertriebenen Befürchtungen nur intercurrent bei Erkrankungen oder speziell einzelnen Symptomen gegenüber sich kund giebt. Wir dürfen bei diesen Kranken nie ausser Acht lassen, dass ihre Befürchtungen zum grossen Theil nicht das Produkt logischer Erwägungen, sondern Zwangsvorstel- lungen sind, welche durch die Erkenntniss ihrer Unbegründetheit nicht beseitigt werden. Es darf uns daher weder befremden,
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Berücksichtigung übertriebener Aengstlichkeit.
noch irritiren, wenn wir eine beruhigende Aufklärung unzählige j\lale wiederholen müssen, wenn die harmloseste Anordnung auf ernste Bedenken stosst und mitunter durch unser Eingreifen in Folge der Angst und Autosuggestionen des Kranken Wirkungen hervorgerufen werden, die wir in anderen Fällen nie beobachten. Zufällige Umstände, insbesonders traurige Erfahrungen bei Freun- den oder Verwandten bedingen nicht selten eine übertriebene Aengstlichkeit speziell in Bezug auf ein einzelnes Symptom. Nervös- dyspeptische Erscheinungen können so als Anzeichen eines be- ginnenden Magenkrebses, Herzklopfen als Symptom eines schweren Herzleidens, Gedächtnisschwäche als Folge von Gehirnerweichung gedeutet werden. Derartige Befürchtungen werden nicht immer dem Arzte ohne Drängen geoffenbart; wir finden dieselben auch nicht lediglich bei Personen, deren Gebühren ohne Weiteres auf übertriebene Aengstlichkeit oder wenigstens Beunruhigung schliessen lässt. Der Arzt thut daher immer gut, wenn er bei Kranken, welche unbegründete Aengstlichkeit wegen ihres Zustandes ver- rathen, der Quelle der Beunruhigung nachgeht und sich ver- gewissert, welche Krankheitserscheinungen insbesonders zu Befürch- tungen Anlass geben und ob bei der üblen Deutung dieser nicht zufällige Umstände im Spiele sind. Es trägt in der Kegel sehr zur Beruhigung der Kranken bei , wenn sie erfahren , dass die Umstände, welche sie speziell in Angst versetzten, z. B. das Schicksal eines vermeintlich ähnlich Erkrankten, durchaus keinen Bezug auf ihren Fall haben. Der Arzt darf sich aber auch durch die anscheinende Gemüthsruhe mancher Patienten nicht täuschen lassen; vorsichtiges Sondiren führt mitunter zu der Entdeckung, dass die der Umgebung und dem Arzte gegenüber zur Schau ge- tragene Unbesorgtheit nur eine Maske ist, hinter welcher zeitweilig oder beständig schwere Sorgen sich bergen. Gelingt es dem Arzte nicht, diese zu ermitteln und zu zerstreuen, so kann all sein Be- mühen, zu helfen, erfolglos bleiben.
Ein Umstand, auf den wir hier noch hinweisen müssen, ist, dass der Arzt im Verkehr mit hypochondrischen und sehr ängst- lichen Patienten eine gewisse Vorsicht in seiner Rede nie verab- säumen darf; manchen dieser Kranken gegenüber ist es geradezu erforderlich, jedes Wort abzuwägen, will man nicht zu ganz unbe-
LOwonfold, Psychotherapie.
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Optimistische und leichtsinnige Kranke,
reclienbaren Missdeutungen Anlass geben; sie klammern sich mit- unter an eine Bemerkung, welche der Arzt zufällig gemacht hat, und geben derselben einen Sinn, welcher sie in die grösste Beun- ruhigung versetzt; versucht man dann, ihnen die Irrthümlichkeit ihrer Deutung darzulegen, so glauben sie, dass man nur aus Schonung ihnen die Wahrheit vorenthalten will. Die übermässig Aengstlichen und Schwarzseherischen haben ihr Gegenstück in den Optimisten und Leichtsinnigen. Es giebt Menschen ohne aus- gesprochen heitere Gemüthsart und ohne Neigung zur Unbedacht- samkeit, welche in Bezug auf ihre Gesundheitsverhältnisse einer unwandelbaren günstigen Meinung sich hingeben. Auch traurige Erlebnisse in ihrem Familienkreise bringen sie nicht von dieser Denkweise ab. Während der Hypochonder in jeder harmlosen Er- scheinung das Anzeichen einer schweren Erkrankung erblickt, finden diese in sehr ernsten, selbst bedrohlichen Zufällen keinen Grund zur Beunruhigung. Der Arzt hat dieser Gattung von Optimisten gegenüber bei ernsten Leiden oft einen schweren Stand, er muss auf der Durchführung der Maassregeln bestehen, welche er für nützlich oder nothwendig erkannt hat, und soll den Patienten, wenn es nur irgendwie zu vermeiden ist, nicht in dem für ihn werthvollen Glauben an die Unbedenklichkeit seines Zustandes stören. Anders ist dagegen mit den im eigentlichen Sinne Leicht- sinnigen zu verfahren, welche ihrem Zustande keine Beachtung schenken , lediglich weil sie auf die gewohnten Lebensgenüsse nicht verzichten wollen und allzusehr geneigt sind, die berechtigten Mahnungen des Arztes als Uebertreibung aufzufassen. Kann der Arzt auch nicht hoffen, den Charakter dieser Unbesonnenen zu ändern, so darf er doch auch den Optimismus derselben nicht nähren; er muss denselben mitunter sogar gründlich zerstören, wenn der Kranke auf anderem Wege nicht zu zweckmässigem Ver- halten zu bewegen ist. In den Wirkungen kommt dem Leichtsinn häufig das Uebermaass von Selbstlosigkeit, der Hyperaltruismus, gleich. Wir sehen namentlich bei leidenden Frauen gar oft, dass sie ganz in der Fürsorge für ihre Angehörigen aufgehend auf ihr eigenes Befinden keinerlei Rücksicht nehmen, um ihren vermeint- lichen Pflichten nach allen Seiten hin zu genügen. Der Auf- opferung dieser allzu Selbstlosen kann am besten Einhalt gethan
Religiöser Charakter des Kranken.
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werden, wenn man ihnen vorstellt, dass sie durch Vernachlässigung der Pflicht der Selbsterhaltung den Interessen ihrer Angehörigen ebenso sehr zuwider handeln als ihren eigenen. Bei den Ego- istischen hingegen, welche bei kleinen Uebeln eine ungeheure Selbst- bemitleidung an den Tag legen und durch das Uebermaass ihrer Klagen und Ansprüche ihrer Umgebung das Leben sauer machen, zeifft sich oft der Hinweis auf schwerere Kranke, welche ihr trauriges
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Schicksal mit voller Ruhe tragen, recht nützlich. Daneben muss das Schädliche dieser willenslosen Hingabe an die Krankheit, des Sichbeherrschenlassens von den momentanen unangenehmen Ge- fühlen betont werden.
Ein wahrhaft religiöser Charakter bildet für den Kranken einen Schatz, den der Arzt, wie immer auch seine eigenen An- schauungen in Glaubensangelegenheiten sein mögen, wohl ausnützen, aber in keiner Weise schmälern oder in seiner Bedeutung herab- drücken darf. Die Macht des Glaubens ermöglicht bei denjenigen, welche denselben in vollem Maasse besitzen, nicht nur Heilungen durch gewisse psychische Kuren, welche bei Freigeistern nicht ver- sucht werden können und bei Schwachgläubigen jedenfalls erfolglos bleiben ; sie verleiht auch Geduld bei schwerem Leiden und mildert die Angst vor dem Tode, ja sie setzt an deren Stelle oft frohe Hoffnung. Wenn ein Kranker bemerkt: „Unser Herrgott muss mich wohl recht lieb haben, weil er solche Leiden über mich ver- hängt“, was könnte der Arzt an Trost aus anderer Quelle ihm verschaffen, was an Wirkung dieser Auffassung gleich käme, welche in dem Leiden eine Wohlthat, einen Beweis besonderer göttlicher Zuneigung erblickt. Bei streng gläubigen Katholiken habe ich mitunter religiöse Bedenken gegen die Anwendung der Hypnose gefunden. Man wird in solchen Fällen jedenfalls am besten thun, auf die hypnotische Behandlung zu verzichten.
Von grosser Wichtigkeit ist dieKenntniss des Gemüthszustandes, wie der sinnlichen, intellektuellen, ethischen und ästhetischen Nei- gungen und Abneigungen des Patienten. In der Gemüthssphäre haben wir die Anlässe und unterhaltenden Momente vieler Krankheitszu- stände zu suchen. Manches von dem, was die Kranken seelisch be- drückt, wird dem Arzt ohne Weiteres geoffenbart, wie der Kummer über schwere Erkrankung oder den Verlust von theuren Familiengliedern,
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Gemütliszustand und Neigungen des Kranken.
Aufregungen im Geschäfte, im Dienste etc. etc. Vieles muss der Arzt durch taktvolles Befragen der Kranken oder ihrer Ange- hörigen, durch sorgfältige Beobachtung des Verhaltens dieser gegen- einander und der häuslichen Verhältnisse zu eruiren trachten. Es darf dem Arzte nicht entgehen, wenn der Patient von schweren Existenzsorgen gequält wird, wenn Kummer über bedeutende Ver- mögensverluste, erlittene Kränkungen oder vernichtete Carriereaus- sichten in ihm nagt, wenn ihm durch hoffnungslose Liebe, eheliches Unglück oder missrathene Kinder anhaltendes Herzeleid bereitet wird. Die Quelle dieser gemüthlichen Erregungen kann der Arzt zwar gewöhnlich nicht beseitigen, aber er ist im Stande, durch theilnehmenden und verständigen Zuspruch viel, sehr viel zur Milderung derselben beizutragen; manchen Kranken ist es schon eine Erleichterung, wenn sie dem Arzte gegenüber, dessen Theil- nahme und Verschwiegenheit ihnen sicher ist, ihr Herz ausschütten, ihre geheimsten Zweifel, Beängstigungen, Sorgen und Neigungen aussprechen können. Der Arzt gewinnt hiedurch einen Schlüssel zu manchen sonst unerklärlichen Erscheinungen, aber auch eine mächtige Handhabe, den Leidenden geistig aufzurichten, zu stützen und ihm die richtigen Wege zu weisen.
Der Arzt darf aber auch nicht ermangeln, sich darum zu be- kümmern, ob der seiner Fürsorge Empfohlene ein Freund heiterer Geselligkeit ist, ob er ein besonderes Interesse für Lektüre, Musik oder Theater besitzt, oder ob er für Naturgenüsse schwärmt, ob er neben seinem Berufe noch Nebenbeschäftigungen oder Lieb- habereien kultivirt, ob er irgend einem Sporte huldigt und ein Freund körperlicher Bewegung oder derselben abgeneigt ist, endlich wie es sich mit seinen Inclinationen für leibliche Genüsse, ins- besonders für die Freuden des Bechers verhält. Bei den Individuen im jugendlichen und mittleren Lebensalter darf auch die Klar- stellung der Vita sexualis nach ihrer psychischen und physischen Seite nicht vernachlässigt werden. Viele weibliche Kranke schliessen in dieser Sphäre wurzelnde Gemüthserregungen, Leiden, Hoffnungen und Wünsche in den innersten Schrein ihres Herzens, und der Arzt hat viel Vorsicht und Takt aufzuwenden, um den für ihn no^hwendigen Einblick in dieses Innerste zu erlangen.
In der Mehrzahl der Fälle hat der Arzt keine Gelegenheit,
Veränderungen der Psyche in P'olge von Krankheiten.
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das geistige Verhalten seiner Patienten im gesunden Zustande zu beobachten; er kann nur durch die Mittheilungen des Kranken und seiner Umgebung, Berücksichtigung seiner äusseren und häus- lichen Verhältnisse, sowie seiner beruflichen oder sonstigen Leist- imgen gewisse Aufschlüsse hierüber erlangen. Das Bild, welches wir auf diese Weise von der geistigen Persönlichkeit des Patienten gewinnen, dürfen wir nicht ohne Weiteres für den augenblicklichen Zustand als zutreffend erachten, da durch Erkrankung, abgesehen von den eigentlichen Geistesstörungen, häufig weitgehende Ver- änderungen auf seelischem Gebiete herbeigeführt werden; aus diesem Grunde ist es aber auch nicht statthaft, aus der geistigen Ver- fassimg, in welcher sich uns der Kranke präsentirt, auf dessen Verhalten im gesunden Zustande direkt zu schliessen.
Die Veränderungen, welche die Psyche durch Krankheit er- fährt, sind zum Theil günstiger, zum Theil ungünstiger Natur, weit vorherrschend von letzterer Art. Der nachtheilige Einfluss macht sich auf allen Gebieten des Seelenlebens geltend; die in- tellektuelle Leistungsfähigkeit und das Gedächtniss können herab- gesetzt, die Willensenergie mehr oder minder geschwächt, Charakter und Stimmung in unvortheilhafter Weise verändert werden. Weit seltener sind wir in der Lage, eine veredelnde, läuternde Wirkung von Leiden zu constatiren. Diese betrifft nie die intellektuelle Seite, gewöhnlich nur das gemüthliche Verhalten und den Charakter. Kein beschränkter Mensch wird durch Erkrankung klug; dagegen sehen wir mitunter, dass eigensinnige, störrische Individuen ge- fügig, rauhe, leidenschaftliche Naturen sanftmüthig und zarten Kegungen zugänglich, Hochmüthige bescheiden. Hartherzige und Gefühllose mitleidsvoll, Genussüchtige entsagend werden. Diese Wirkungen sind nicht immer dauernd; mit der Besserung macht sich nicht selten der alte Adam wieder bemerklich.
Der Arzt hat bei der psychischen Behandlung sowohl den normalen Geisteszustand seines Patienten, als die durch die Er- krankung bedingten Veränderungen desselben in Rechnung zu ziehen. Einem Offizier, der Schlachten mit Auszeichnung mitge- macht und alle Strapazen eines Feldzuges ertragen hat, können wir andere Leistungen zumuthen als einer von Haus aus ängst- lichen, verzärtelten Frau ; wir würden aber irren, wenp wir glauben
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Einfluss chronischer Krankheiten auf die Psyche.
wollten, dass der im Feld so tapfere Offizier auch körperlichen Schmerzen und Leiden gegenüber sich besonders muthig und stand- haft zeigen müsste, dass bei ihm krankhafte Angstzustände über- haupt nicht Vorkommen könnten, oder er solche besonders leicht überwinden müsste. Krankheit und Unglück können den Be- herztesten, der keine Gefahr scheute, zum Feigling, den that- kräftigsten Mann von kühnem Unternehmungsgeiste zaghaft und wankelmüthig machen.
Am wenigsten dürfen wir aber glauben, dass Kranke den Verstand und die Urtheil ss chärfe, welche sie in gesunden Tagen besassen und auch während ihres Leidens noch in anderen Angelegenheiten an den Tag legen, in der Auffassung ihr es Zustandes und der Wahl der Mittel zur Bekämpfung desselben bekunden müssten. Dieselben Menschen, welche als Gesunde sehr wohl einsehen, dass gegen den Tod kein Kraut gewachsen ist und dass es unheilbare Krankheiten giebt, hegen als Kranke keinen Zweifel, dass es gegen ihr Leiden, welcher Art dasselbe auch sein mag, irgend ein Mittel geben müsse und es sich nur darum handele, dieses zu finden. So darf es uns nicht wundern, wenn wir sehen, dass auch skeptische Gebildete in Krankheitsnöthen ebenso nach dem Strohhalme greifen, welcher sich in den Anpreisungen eines Charlatans ihnen darbietet, wie der einfältigste Bauersmann und mitunter sich der Behandlung eines Kurpfuschers mit einer Vertrauensseligkeit, Ausdauer und Selbstüberwindung hingeben, zu welcher sie sich einem Arzt gegenüber nicht aufschwingen würden.
Von den chronischen Krankheiten beeinflussen viele die Psyche in besonderer Weise. Die sorglose, selbst hoffnungsfrohe Stimmung und die Euphorie vieler Lungenleidender, deren Zustand bereits keine Hoffnung auf Besserung mehr zulässt, sind bekannt. Herz- kranke zeigen häufig eine Eeizbarkeit, Launenhaftigkeit und Furcht- samkeit, welche früher an ihnen nicht beobachtet wurde. Magen-, Darm- und Leberleiden ziehen, wie schon die Bezeichnungen Melancholie und Hypochondrie andeuten, Verstimmungszustände, insbesonders solche mit krankhafter Richtung der Aufmerksamkeit auf das körperliche Befinden nach sich. Erkrankungen in der
Einfluss chronischer Krankheiten auf die Psyche.
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Sexualsphäre und Anomalien der Vita sexualis bilden ebenfalls häufig eine Quelle gemütblicher Depression, aber auch abnormer gemüthlicher Keizbarkeit und insbesonders von Angstzuständen. Bei Apoplektikern begegnen wir häufig einer krankhaften Gemüths- weichheit und Rührseligkeit, während Epileptiker durch Neig- ung zur Zornmüthigkeit, Rücksichtslosigkeit, Eigensinn und mür- risches Wesen sich hervorthun. Mit der Chorea geht gewöhnlich erhöhte gemüthliche Erregbarkeit, Neigung zur Zerstreutheit und Vergesslichkeit einher. Suggestibilität , Emotivität und Willens- schwäche sind die geistigen Stigmata der Hysterie, die allerdings in den einzelnen Fällen in sehr verschiedenem Maasse ausgeprägt sind. Bei Neurasthenie finden wir neben Herabsetzung der intellektuellen Leistungsfähigkeit und der Willensenergie gesteigerte gemüthliche Erregbarkeit, hypochondrische und hypochondrisch melancholischeVerstimmung, Angstzustände undZwangsvorstellungen. Mit der Fettleibigkeit ist oft Denkträgheit, Schlaffheit und Neig- ung zur Bequemlichkeit verknüpft, mit der Anämie abnorme Reiz- barkeit, Zaghaftigkeit, Schreckhaftigkeit und Wankelmuth.
Unter den chronischen Intoxikationen üben insbesonders der Morphinismus und der Alkoholismus einen ausgesprochenen depra- virenden Einfluss auf das seelische Verhalten. Die Veränderung betrifft weniger die intellektuelle Seite als den Charakter; die Willenskraft und die höheren (ethischen und ästhetischen) Ge- fühle nehmen mehr und mehr ab; dadurch gewinnen momentane Stimmungen, Triebe und Affekte einen ganz ungebührlichen Ein- fluss auf das Handeln des Kranken. Bekannt ist die Feigheit und Verlogenheit der Morphinisten, der Egoismus und die brutale Rücksichtslosigkeit der Alkoholiker. Das Verhalten letzterer ent- wickelt sich öfters zu einer wahren psychischen Degeneration, in- dem allmählich auch die intellektuelle Seite, Gedächtniss und Ur- theilsfähigkeit mehr und mehr leiden.
Die im Vorstehenden angeführten Anomalien gehören dem grossen Gebiete der von Koch als „psychopathische Minderwerthig- keiten'^ zusammengefassten, „theils als angeborenen, theils als er- worbenen, den Menschen in seinem persönlichen Leben beeinflussen- den psychischen Regelwidrigkeiten an, welche auch in schlimmen Fällen doch keine Geisteskrankheiten darstellen, welche aber die
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Psychopathische Minderwerthigkeiten.
damit beschwerten Personen auch im günstigen Falle nicht als im Vollbesitze geistiger Normalität und Leistungsfähigkeit stehend er- scheinen lassend^
Den auf hereditäre Belastung zurückzuführenden Minder- werthigkeiten begegnen wir bei Kranken jeder Art, begreiflicher Weise jedoch vorherrschend bei Nervenkranken. Da diese Zustände von grosser Bedeutung sind und bei der Behandlung jedes einzelnen Falles, bei welchem sie sich finden, eingehende Berücksichtigung erheischen, seien dieselben hier zum Schlüsse noch in Kürze nach Koch ’s Darstellung skizzirt.
Koch unterscheidet 3 Abstufungen: Hereditäre psycho- pathische Disposition, hereditäre psychopathische Be- lastung und hereditäre psychopathische Degeneration.
Die psychopatische Disposition giebt sich durch gesteigerte Empfänglichkeit für Eindrücke, nicht selten geradezu durch Em- pfindlichkeit und Verletzlichkeit, oft auch durch Mangel an That- kraft kund. Die psychopathische Belastung kennzeichnen: Ano- malien der psychischen Erregbarkeit ; insbesondere Steigerung der- selben (Aengstlichkeit, Schreckhaftigkeit, Wehleidigkeit, Rührselig- keit, übertriebene Empfindlichkeit, Zornmüthigkeit, Neigung zum Schwärmen etc.), Mangel an Ebenmaass auf geistigem Gebiete, ein ungebührlich in den Mittelpunkt gerücktes, verschrobenes und widerspruchsvolles Ich (Nebeneinanderbestehen von Verschwendungs- sucht und Geiz, von grundlosem Hochmuth und übel angebrachter Bescheidenheit, vonNeigung und Abneigung gegen dieselbe Person etc.), Seltsamkeiten und Verkehrtheiten (Excentricitäten in der Lebens- führung, lächerliche Gewohnheiten, Perversitäten des Gefühllebens), Zwangsdenken und Zwangstriebe, endlich etwas Periodisches, ein gewisses Schwanken in der Stimmung und in dem psychischen Ge- sammtverhalten. Bei der psychopathischen Degeneration besteht neben den sonst vorhandenen psychischen Anomalien eine habituelle geistige Schwäche und zwar eine Schwäche, die sich entweder vor- wiegend auf dem intellektuellen oder vorwiegend auf dem moralischen Gebiete oder endlich annähernd gleich stark auf diesen beiden Gebieten geltend macht.
IV. Abschnitt.
Allgemeine Psychotherapie.
A. Psycliisclie Beliandlimg im weiteren Sinne.
Die psychische Therapie gilt mit Eecht als ein besonderer Zweig der Heilkunde, der auch ein gesondertes Studium verdient. Doch dürfen wir desshalb nicht glauben, dass in der Praxis ihre Verwerthimg von der der somatischen Heilmethoden sich stricte trennen lässt. Wir sind zwar in der Lage, einen Kranken rein psychisch i. e. lediglich durch Beeinflussung seiner Psyche zu be- handeln und zu heilen, also psychische Therapie isolirt anzuwenden, aber umgekehrt können wir wenigstens bei urtheilsfähigen Kranken keine Art somatischer |Behandhmg ausüben, ohne mit derselben eine gewisse psychische Beeinflussung zu verknüpfen. Welche Ver- ordnungen wir auch geben, welche Proceduren wir vornehmen, immer zielen wir daraufhin, bei dem Kranken den Glauben zu erwecken, dass ihm genützt wird. Die Vorstellungen, Avelche das ärztliche Eingreifen bei dem Patienten hervorruft, entsprechen je- doch nicht immer den ärztlichen Intentionen und Wünschen; sie können je nach ihrer Art den allgemeinen Zustand des Leidenden oder einzelne Symptome im günstigen oder ungünstigen Sinne beein- flussen, oder auch keine besondere Wirkung in der einen oder anderen Richtung äussern. Nimmt der Leidende die Verordnungen des Arztes mit vollem Vertrauen hin, kommt er denselben mit der Zuversicht nach, dadurch Besserung oder Heilung zu erlangen, so wird er meist auch irgend eine günstige Veränderung in seinem
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Die Persönliclikeit des Arztes.
befinden walirnehmen. Diese mag rein subjektiv und transitorisch sein, ist aber sicherlich doch für den Kranken von nicht zu unter- schätzender Bedeutung. Selbst Todkranke werden durch die Hoff- nung, welche sie auf die Heilkraft eines ihnen dargebotenen neuen Mittels setzen, oft wesentlich erleichtert. Erweckt das verwendete Mittel dagegen statt froher Erwartungen Befürchtungen wegen etwaiger schädlicher Wirkungen, so kann es verkommen, dass trotz objektiver Besserung der Kranke sich schlimmer fühlt. Indess sind nicht lediglich die Massnahmen, welche der Arzt zum ausge- sprochenen Zwecke der Behandlung verordnet oder selbst ausführt, geeignet, einen förderlichen oder ungünstigen Einfluss auf die Psyche des Kranken auszuüben; alle Momente, welche bei dem Verkehre des Arztes mit dem Kranken von dem ersten Gegen- übertreten an auf die Psyche des letzteren einen Eindruck machen, können in ähnlicher Weise sich wirksam zeigen. Die psychische Therapie beschränkt sich daher durchaus nicht auf gewisse, spezielle therapeutische Verfahren; in das Bereich der- selben fällt das ganze Ve r halten des Arztes, sein Thun sowohl als sein Lassen, soweit es den Kranken angeht.
Zuvörderst haben wir hier die Persönlichkeit des Arztes in Betracht zu ziehen. Man spricht häufig von dem Zauber einer Persönlichkeit, dem unwiderstehlichen Zwange, den sie auf ihre Umgebung und selbst ihr ferner Stehende ausübt. Auch Aerzte sind mitunter im Besitze dieses Zaubers, wenigstens ihren Pa- tienten gegenüber. Wenn wir jedoch nachforschen, welche Fak- toren diesen zwingenden Einfluss bedingen, so finden wTr, dass meist weniger die Persönlichkeit an sich, als der Ruf, welcher dem Manne vorher geht, den Patienten gefangen nimmt. Es liegt nahe, dass ein Mann von imposanter Erscheinung, der mit dem Selbstbewusstsein überlegener Intelligenz und wohl gesicherten Rufes und dabei doch mit den gewinnenden Formen des Welt- mannes dem Patienten entgegentritt, auf diesen einen mächtigeren Eindruck macht, als eine unansehnliche Persönlichkeit von schüch- ternem Auftreten und linkischen Manieren. Allein der Zauber, welcher Patienten gefangen nimmt , haftet mitunter Persönlich- keiten an, welche weder durch ihr Aeusseres, noch durch ihre Bildung und Intelligenz imponiren können. Amalie Hohen-
Die Persönlichkeit des Arztes, Verkehr mit dem Kranken,
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ester, die Doktorbäuerin, hat denselben in reichem Maasse auf Patienten und Patientinnen der höchsten Stände ausgeübt, und Kneipp, der schlichte Landpfarrer, übt einen solchen noch täglich aus. Hierin liegt etwas sehr Tröstliches für die grosse Mehrzahl der Aerzte. Eine imponirende äussere Erscheinung kann sich der Arzt nicht verschaffen, wenn ihm die Natur diesen Vor- zug versagt hat, und der Ruf, welchen der ärztliche Praktiker und der Kurpfuscher bei dem Publikum gewinnt, entspricht bekanntlich nicht immer den wirklichen Leistungen derselben. Bleibt daher der Zauber der Persönlichkeit den meisten Aerzten vorenthalten, so kann doch jeder sein Benehmen derart einrichten, dass dasselbe dem Patienten Achtung und wenigstens ein gewisses Maass von Vertrauen abnöthigt. Man darf jedoch nicht glauben, dass die Erreichung dieses Zieles ohne ernstes Streben und stetige Selbst- kritik möglich ist. Wer in das Zimmer eines Schwerkranken mit salopper Kleidung, nach Bier riechend und vielleicht noch mit der Cigarre im Munde tritt, darf nicht erwarten, dass er dem Kranken ohne Weiteres Vertrauen einflösst; auch derjenige nicht, der ge- schniegelt und gebügelt in dem Aufzuge eines richtigen Gigerls sich präsentirt. Wer auf seinen äusseren Menschen zuviel ver- wendet, von dem nimmt man mit Recht an, dass er selbst seinen geistigen Werth nicht zu hoch taxirt. Die Kleidung muss den Ernst des Mannes und auch seine Selbstachtung verrathen; wenn in manchen Ländern die Aerzte noch gegenwärtig ähnlich den Geistlichen einen geschlossenen Habit tragen , um durch ihr Aeusseres schon eine gewisse Berufswürde zu dokumentiren, so ist dieser Usus durchaus nicht werthlos. Dass in dem Entgegen- kommen des Arztes eine dem Stande des Patienten angemessene Höflichkeit und theilnehmende Freundlichkeit sich bekunden soll, wird wohl allgemein zugegeben werden. Es ist aber sehr wenig angebracht, wenn der Arzt speziell durch Höflichkeit Eindruck machen oder gar durch Kriecherei sich rasch in die Gunst der bei ihm Hilfe Suchenden versetzen will. Wer eine Öchustersgattin zur gnädigen Frau erhebt und sich der Kommerzienräthin sub- missest zu Füssen legt, mag allerdings diese Patientinnen in eine sich günstige Stimmung versetzen und sich auch die Kundschaft mancher eitler Personen für längere Zeit sichern; allein er darf
Verkehr mit dem Kranken.
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nicht erwarten, dass er für den Ernstfall sich eine Autorität bei seinen Patienten erwirbt. Wenn schon in dem Verkehre des Arztes mit dem Patienten ein Gönnerschaftsverhältniss sich ausdrücken soll, so ist es immer besser, wenn irgendwie die soziale Position des Patienten dies zulässt, dass der Arzt die Rolle des Gönners übernimmt, als dass er sich selbst durch Uebertreibung der Höf- lichkeit in die Stellung eines Untergebenen herabdrückt und da- durch die Aufgaben, die er dem Patienten gegenüber zu erfüllen hat, sich bedeutend erschwert. Täglich kann man sich überzeugen, wie schwierig und unangenehm die Thätigkeit des Arztes sich ge- staltet, wenn derselbe bei seinen Patienten keine Autorität ge- niesst. Der Rath, welchen der gefügige, von Höflichkeit über- fliessende Hausarzt vergeblich Monate lang immer wieder ertheilt hat, wird sofort befolgt, wenn ein anderer, dem Patienten fern stehender Arzt, und dieser braucht durchaus kein berühmter Con- siliarius zu sein, denselben giebt. Um Autorität bei den Patienten zu erlangen, muss aber der Arzt sorgfältig alles meiden, was ihm den Anschein geben könnte, als ob er auf anderem Wege als durch seine medizinischen Leistungen sich die Gunst der sich ihm Anvertrauenden erwerben wollte. Besonders knapp zu bemessen ist die Freundlichkeit verzogenen Kindern und jungen Damen gegen- über, denen schon durch das erste Gegenüb ertreten klar gemacht werden muss, dass sie sich dem ärztlichen Willen strikte zu fügen haben. Hat man sich versichert, dass dieses Verhalten den er- forderlichen Eindruck hervorgerufen hat, so kann man gelindere Seiten aufziehen und sich zu dem Patienten auf einen freund- schaftlicheren Fuss stellen. Wie notliwendig ein derartiges Vor- gehen mitunter ist, hiefür will icli nur ein Beispiel anführen. Ein hysterisches junges Mädchen, welches seine ganze Familie beherrschte, beschwerte sich nach meinem ersten Besuche ihrer Mutter gegen- über über mein absichtlich sclmoft’es Benehmen, das in einer ihr sehr auffälligen Weise von der alle Zeit sehr liebevollen Theil- nahme des sie bisher behandelnden Arztes abstach. Die Bemüh- ungen dieses Kollegen hatten jedoch nicht zu verhindern vermocht, dass das Leiden des Mädchens sich über eine Reihe von Monaten hinzog und dabei sich stetig verschlimmerte, während unter meinem etwas rauheren Anfassen alsbald Besserung und nach einer kleinen
Vorkehr mit dem Kranken
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Zahl von Wochen auch vollständige Genesung eintrat. Da die Be- handlung im Wesentlichen eine psychische war, hätte mein Vor- gänger sicherlich den gleichen Erfolg erzielen können. Die Patientin kam übrigens selbst nach Kurzem zu der Einsicht, dass ihr mein an sich weniger angenehmes Vorgehen mehr nützte als die Liebens- würdigkeit meines Vorgängers. Indess wird von dem Arzte, welcher den Kranken unter allen Verhältnissen geistig aufrichten, ihm über die schwierigsten Lagen hinweghelfen soll, viel mehr verlangt als mehr oder minder freundliches Entgegenkommen. Dem Schwer- kranken gegenüber, welcher mit Angst in dem Gesichte des Arztes forscht, muss dieser es verstehen, den Ernst der Lage, seine Be- sorgnisse durch keinen Blick, keinen Zug zu verrathen, er muss es verstehen, zu lächeln, wenn der Menschheit ganzer Jammer ihn anfasst. Mehr als langathmige Trostreden wirken oft die heitere oder unbefangene Miene des Arztes, gemessenes Vorgehen und ein gelegentlich hingeworfenes harmloses Scherzwort, und auf der anderen Seite darf der Arzt nicht erwarten, dass seine beruhigen- den Versicherungen viel Eindruck machen, wenn er mit ängstlicher Hast den Kranken untersucht und von seinen Zügen Bestürzung abzulesen ist. Auch die Stimmung, in welche der Arzt durch seine eigenen Verhältnisse versetzt wird, darf sich nicht in seinem Aeusseren und seinem Gebühren wiederspiegeln, wenn er dem Kranken gegenübertritt; dieser mag den ungewöhnlichen Ernst seines Berathers auf seinen Zustand beziehen und mit Besorgnissen erfüllt werden, welche nicht ohne nachtheilige Folgen bleiben können. Für die psychische Beeinflussung des Kranken sind auch die Ge- duld imd Aufmerksamkeit, welche der Arzt seinen Klagen gegen- über bekundet, nicht ohne Bedeutung. Nicht wenige Kranke nehmen, wenn sie einmal im Sprechzimmer sich beflnden, die Zeit des Arztes in einer Weise in Anspruch, als ob dieser mit Niemand in der Welt ausser mit ihnen sich zu befassen habe. Besonders und mit Kecht sind in dieser Beziehung die hypochondrischen Neu- rastheniker, les hommes aux petits papiers Charcot’s gefürchtet, die ab ovo anfangend die unbedeutendsten Vorkommnisse ihres Lebens dem Arzte mittheilen zu müssen glauben, weil sie diese für die Beurtheilung ihres Zustandes für wichtig halten und auch der Meinung sind, dass alle Details ihres Leidens für den Arzt in
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liolieni Maasse interessant seien. Zur Beruhigung dieser Patienten trägt es sehr viel bei, wenn man ihnen (wenigstens bei dem ersten Zusammentreffen) gestattet, ihrem Erzählungsdrang einigermassen nachzugeben und ihre Detailmalerei mit Aufmerksamkeit verfolgt; es wird hiedurch dem bei diesen Patienten allzuleicht sich ein- stellenden Zweifel begegnet, ob ihr Leiden auch genügend er- gründet und nicht für die Behandlung wichtige Umstände über- sehen worden seien.
Die Untersuchung des Kranken bildet, auch wenn mit der- selben seitens des Arztes durchaus keine andere Absicht als die Gewinnung einer Grundlage für die Diagnose verknüpft wird, eben- falls einen Faktor der psychischen Therapie. Es liegt nahe, dass bei ernster Erkrankten oder solchen, die es zu sein glauben, eine gründliche, alle Organe berücksichtigende Untersuchung das Ver- trauen zu dem Arzte hebt und zugleich beruhigend wirkt. Bei ängstlichen Gemüthern ist der Einfluss einer eingehenden Unter- suchung bei leichteren Afl’ektionen jedoch verschieden. Ein Theil derselben wird durch dieselbe angenehm berührt, weil sie dadurch die Gewissheit erlangen, dass ihre Befürchtungen unbegründet waren. Bei anderen wirkt dagegen die Untersuchung beängstigend ; die Exploration der Brustorgane erregt Vorstellungen eines vielleicht bestehenden Lungen- oder Herzleidens, die Untersuchung des Urins Befürchtung eines Diabetes oder Morb. Brightii. Ich habe es mehr- fach erlebt, dass speziell die Urinuntersuchung Kranke in hohe Aufregung versetzte. Es unterliegt keinem Zweifel, dass bei sug- gestiblen Personen durch die Untersuchung und selbst durch einfache Fragen neue Krankheitserscheinungen hervorgerufen werden können (so z. B. Anästhesien bei Hysterischen). Es ist daher öfters nothwendig , wenn man die Untersuchimg auf Organe oder Körpertheile ausdehnt, bezüglich welcher der Kranke sich völlig gesund erachtet, dass man demselben aus- drücklich erklärt, die Exploration der betreffenden Theile geschehe nur der Vollständigkeit der Untersuchung halber oder aus Prinzip, nicht auf Grund der Annahme, dass derselbe Sitz irgend welcher krankhafter Veränderungen sein könnte oder müsste. Durch die Aengstlichkeit eines Patienten allein darf sich der Arzt jedoch auch nie abhalten lassen, zur Sicherheit seiner Diagnose eine voll-
Untersuchung des Kranken.
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ständige Untersuchung vorzunelimen. Hat er sich jedoch von dem normalen V erhalten einzelner oder aller inneren Organe überzeugt, so empfiehlt es sich nicht, die Untersuchung derselben immer wieder vorzunehmen, wenn dies nur den Wünschen des Kranken entspricht, in dem vorhandenen Leiden dagegen eine Veranlassung hiezu nicht gegeben ist. Durch diese häufigen Untersuchungen wird bei ängstlichen Patienten keine nachhaltige Beruhigung er- zielt, sondern der Zustand des Zweifels erhalten und ihre Auf- merksamkeit immer wieder auf einzelne Organe in nachtheiliger Weise gelenkt. Dagegen kann durch in grösseren Intervallen w'iederholte LTntersuchungen mitunter entschieden genützt werden. So habe ich bei hypochondrischen Herzneurasthenikern gefunden, dass es auf dieselben immer wieder günstig wirkte, wenn eine nach längerer Pause wiederholte Untersuchung ihnen die Gewiss- heit verschaffte, dass in der Zwischenzeit ihr Herz keine Ver- änderung erfahren hatte. Die Untersuchung muss in manchen Fällen, wenn sie dem Arzte die erforderliche Aufklärung bringen und damit auch für den Patienten sich nützlich erweisen soll, in der Weise geführt werden, dass die Aufmerksamkeit des Patienten von dem untersuchten Körpertheile abgelenkt wird. Bei Patienten, z. B., die an Tremor leiden und desshalb ängstlich sind, sieht man häufig, dass dieselben erheblich zittern, wenn sie sich bei irgend welchen verlangten Bewegungen von dem Arzte beobachtet wissen; gelingt es, die Kranken zur Vornahme gewisser Bewegungen zu veranlassen, während man ihre Aufmerksamkeit in anderer Richt- ung völlig in Anspi'uch nimmt, sodass sie weder an die Bewegung, noch an das Beobachtetwerden denken können, so findet man mit- unter, dass das Zittern nur minimal oder überhaupt nicht sich geltend macht. Dieser Nachweis verfehlt bei keinem Kranken seine beruhigende Wirkung. Aehnlich muss man bei der Unter- suchung hyperästhetischer Körperpartien Vorgehen, wenn die H^’-per- ästhesie voraussichtlich psychischen Ursprungs ist. Wenn der Kranke erfährt, dass der nach seiner Meinung so überaus empfind- liche und bei blosser Berührung schon schmerzhafte Theil starken Druck erträgt, ohne dass dabei eine unangenehme Sensation ent- steht, so wird derselbe, wenn er auch nicht immer von der psychischen Natur seines Schmerzes sofort überzeugt ist, doch
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Aufklärung des Kranken.
wenigstens von der Vorstellung abgebracht, dass der empfindliche Theil Sitz irgend eines schweren Leidens ist.
An die Untersuchung des Kranken reiht sich naturgemäss die Aufklärung an, welche wir demselben über seinen Zustand geben. Dass diese einen überaus wichtigen Faktor der psychischen Be- handlung bildet und ihre Formulirung sorgfältige Berücksichtigung der Individualität des Kranken und der ganzen Sachlage erheischt, hierüber kann für den erfahrenen und denkenden Praktiker kein Zweifel bestehen. Wir sehen jedoch fast täglich, dass gerade in diesem Punkte Aerzte schwerwiegende Missgriffe machen und Ver- stösse begehen, durch welche nicht nur die Kranken geschädigt werden, sondern öfters auch das Ansehen des ärztlichen Standes erheblich leidet. Dass mitunter irrthümliche Diagnosen und Prog- nosen Patienten und deren Angehörigen mitgetheilt und dadurch schwere Beängstigungen in Fällen hervorgerufen werden, in welchen zu solchen ein Anlass de facto nicht besteht, ist noch keineswegs das Schlimmste. Derartige Missgriffe begegnen gelegentlich selbst sehr erfahrenen und gewissenhaften Aerzten, und es wäre bei der Unzulänglichkeit unseres Einblickes in viele Krankheitszustände ganz ungerechtfertigt, dieselben zum Gegenstände von Vorwürfen zu machen , wenn für die Mittheilung der Diagnose in dem Zu- stande des Kranken oder dessen Verhältnissen ein ausreichender Grund vorlag. Wenig und zum Theil überhaupt nicht entschuld- bar ist dagegen der Usus so mancher Aerzte, ihre Diagnose, ob sicher oder zweifelhaft , unverblümt und uneingeschränkt dem Kranken bekannt zu geben, auch wenn dessen Interesse dies durch- aus nicht erheischt und die Eröffnung geeignet ist, Angst oder schwere Sorgen bei dem Leidenden hervorzurufen und dadurch seinen Zustand zu verschlimmern. Ich habe es erlebt, dass Aerzte selbst leiblichen Verwandten, einem Bruder imd einer Schwester gegenüber es nicht für nothwendig erachteten , von einem der- artigen grausamen Vorgehen Umgang zu nehmen. Wenn wir uns fragen, wie dieses Verhalten sich erklären lässt, so würden wir entschieden irren, wenn wir dasselbe immer auf Gefühlsmangel oder Gefühlsrohheit der betreffenden Aerzte zurückführen wollten. Diese Faktoren spielen wahrscheinlich nur in einem kleinen Theile der Fälle eine Bolle; viel häufiger haben wir es mit anderen Momenten
Die Aufklärung des Kranken.
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zu thun. Dcas Bestreben mancher Aerzte, dem Kranken und seinen Angehörigen durch ihre Sachkenntniss zu imponiren und dadurch ihren Vortheil zu wahren, oder wenigstens sich gegen die Nach- rede einer falschen Auffassung der Erkrankung zu schützen, ist so gross , dass daneben die Rücksicht auf das Empfinden des Kranken rind seinen Zustand nicht zur Geltung kommt. Bei anderen handelt es sich dagegen lediglich um Gedankenlosigkeit ; sie äussern ihre Ansicht über den vorliegenden Zustand, ohne irgendwie den Ein- fluss zu erwägen, welchen ihre Erklärung auf das Gemüth des Patienten ausüben mag. Mitunter sehen wir auch, dass sich uner- fahrene oder übertrieben gewissenhafte Aerzte durch die Erklärung des Kranken, er sei auf alles gefasst, und man solle ihm nur reinen Wein einschenken, sich zu Aufschlüssen verleiten lassen, welche im Interesse des Patienten besser unterblieben sein würden. Von den vielen Patienten, welche dem Arzte versichern, dass er ihnen rückhaltlos die Wahrheit über ihren Zustand eröffnen darf, und welche dies geradezu verlangen, ist nur ein sehr kleiner Theil wirklich ge- willt und gefasst, die Wahrheit zu hören und zu er- tragen, wenn dieselbe trauriger Natur ist; in den meisten Fällen läuft das Verlangen nach wahrheitsgemässer Aufklärung auf einen Selbstbetrug hinaus. Der Patient hofft und wünscht nur etwas Tröstliches zu hören, und will durch seine Betheuer- ungen sich eine Art Versicherung verschaffen, dass der voraus- sichtlich tröstliche Ausspruch des Arztes nicht lediglich durch die Absicht der Schonung dictirt ist. Der Arzt, welcher sich durch den anscheinenden Stoicismus des Kranken täuschen lässt, kaim daher leicht Unheil stiften, ebenso wie der allzu gewissenhafte, welcher glaubt, dem ausdrücklichen Wunsche des Patienten gegenüber keine Verschleierung des Sachverhaltes sich gestatten zu dürfen.
Die Auffassungen, von welchen sich die Praktiker bei der Aufklärung der Kranken über ihren Zustand leiten lassen, weichen offenbar in manchen Punkten von einander ab. Es ist daher nicht überflüssig, wenn wir vor allem hier hervorheben, dass der Arzt weder eine moralische, noch eine rechtlich e Verpflich- tung hat, die Anschauungen, welche er bezüglich der Diagnose und Prognose in einem Krankheitsfall ge-
Löwenfeld, Psychotherapie. g
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Die Aufklärung des Kranken.
Wonnen liat, dem betreffenden Patienten mitzutheilen, auch wenn derselbe dies bestimmt beansprucht. Wenn der Arzt auch bei der Aufklärung, welche er dem Leidenden über seinen Zustand giebt, seinem Berufe als Helfer treu bleiben und sich gegen Missgriffe möglichst schützen will, so muss er dabei die Grundsätze zur llichtschnur nehmen, welche sein Handeln dem Kranken gegenüber übei’haupt zu bestimmen haben, da die Auf- klärung des Patienten zweifellos einen Theil und zwar keinen untergeordneten der ärztlichen Thätigkeit bildet: Pr im um non nocere und dem Kranken, soweit es die Sachlage er- möglicht, zu nützen, seinen Zustand zu erleichtern. Von der Pflicht, diesen Grundsätzen Rechnung zu tragen, kann den Ai’zt weder das persönliche Interesse, seine Sachkenntniss in günstigem Lichte zu zeigen und eine Anzweiflung derselben zu ver- meiden, noch der ausgesprochene Wunsch des Patienten entbinden. So wenig der Arzt das Verlangen eines Schwerkranken nach einer Morphiuminjektion, welche ihn von seinem Leiden erlösen würde, erfüllen darf, ebensowenig darf er auf Wunsch eine Aufklärung geben, welche schädi- gend wirken könnte, ausser in den Fällen, in welchen gewichtige Interessen der Angehörigen oder des Kranken selbst es nicht gestatten, diesem seinen Zu- stand zu verheimlichen. Gegen den Vorwurf, die Ivrankheit nicht recht erkannt zu haben, kann der Arzt in den meisten Fällen sich dadurch schützen, dass er den Verwandten oder Bekannten des Patienten seine wirkliche 'Auflassung des Zustandes mittheilt.
Um den therapeutischen Werth der Aufklärung im vollen Maasse zu würdigen, müssen wir uns vergegenwärtigen, welch’ mächtigen Einfluss soAvohl auf einzelne Krankheitssymptome, als den gesammten Zustand die Anschauung ausüben kann, welche der Patient von der Art seines Leidens, der Dauer und dem Ausgange desselben hat. Wir erachten es als natürlich, dass ein Schwer- kranker Besorgnisse Avegen seines Zustandes hegt und ein mit einem leichten Uebel Behafteter sich keinen schlimmen Gedanken hingiebt. Diese der Art des Leidens adäquate Auffassung Anden Avir jedoch keinesAvegs in allen Fällen. Wir sehen manche SchAver- kranke, Avelche keine Ahnung der Gefahr ihres Zustandes be-
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Die Aufklärung des Kranken.
schleiclit, welche bei den schlimmsten Zufällen sich keinem trüben Gedanken hingeben und am Rande des Grabes noch keineswegs der Hoffnung auf Genesung entsagen, und auf der anderen Seite eine Menge von Personen, welche sich durch unbedeutende oder Avenigstens ganz gefahrlose Aff’ektionen allen Lebensmuth rauben lassen und an jede geringfügige Störung die sclnversten Befürch- tungen knüpfen. Die Gemüthsruhe und Hoffnungsfreudigkeit jener Optimisten kann zAvar den Verlauf einer fortgeschrittenen Phthise oder eines Carcinoms nicht aufhalten, ist aber trotzdem für die Leidenden von eminentem Voidheil; ihr Krankheitsgefühl sowohl als die Last und Qual vieler einzelner BeschAverden AAÜrd dadurch verringert und hiemit der Gesammtzustand Avesentlich erleichtert. Bei schweren, aber ihrer Natur nach heilbaren Erkrankungen ge- sellt sich zu dieser schon sehr schätzensAverthen Wirkung noch eine andere viel AAUchtigere; durch das envähnte seelische Ver- halten des Kranken wird dessen Widerstandsfähigkeit Avesentlich erhöht, so dass selbst bei verzAveifelter Lage mitunter noch ein günstiger Ausgang eintritt, Avährend unter gleichen Verhältnissen bei hoffnungsloser Stimmung des Kranken dessen Schicksal besiegelt ist. Bei den Pessimisten andererseits sehen Avir nur zu häufisr, dass durch ihre übertriebenen Befürchtungen an sich geringfügige Beschwerden gesteigert und unterhalten, daneben aber auch manche neue Störungen hervorgerufen werden. Was vielen Kranken eine glückliche seelische Disposition verschafft, muss der Arzt bei den Leidenden, Avelche dieser Naturanlage ermangeln, durch seinen Einfluss herbeizuführen trachten. Seine allerdings nicht immer leichte Aufgabe ist es, den Kranken von der Angst um das Kom- mende, dieselbe mag begründet sein oder nicht, und damit auch von allen durch diese verursachten ErschAverungen und Compli- kationen seines Zustandes zu befreien, ZAveifel und Trübsinn bei ihm zu verscheuchen und ihm Hoffnung und Lebensmuth einzu- flössen. Von Reil wird erzählt ,, dass die von ihm behandelten unheilbaren Kranken unter seiner Eürsorge ZAvar das Leben, aber nie die Hoffnung verloren. Aehnliches kann der schlichteste Prak- tiker erreichen, der bei seinem Wirken am Krankenbette ledig- lich vom Geiste der Humanität sich leiten lässt.
Zunächst haben Avir hier der Frage näher zu treten, ob es
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Die Aufklilrung: des Kranken.
notliwendig oder erspriesslich ist, jedem Kranken eine Aufklärung über seinen Zustand zu geben. Nach meiner Erfahrung verlangen viele Patienten keinen Aufschluss über die Art ihres Leidens, sie begnügen sich mit der ärztlichen Verordnung, die ihnen Hilfe in Aussicht stellt; mitunter ist es mir auch vorgekommen, dass sich Patienten ausdrücklich jeden Aufschluss über die Ai’t ihrer Er- krankung verbaten ; es waren dies Menschen, welche befürchteten, in der optimistischen Auffassung ihres Zustandes durch den ärzt- lichen Ausspruch gestört zu werden, und es für das Beste hielten, die günstige Meinung, welche sie sich gebildet hatten, in keiner Weise anfechten zu lassen. Selbstverständlich hat der Arzt keine Veranlassung, ja auch gar kein Recht, diese Sorte von Optimisten durch Mittheilung einer peinlichen Wahrheit aus ihrer Gemüths- ruhe zu reissen. Denjenigen gegenüber, welche keinen Aufschluss verlangen, hat der Arzt zu erwägen, dass dieses Verhalten durchaus nicht immer auf Gleichgiltigkeit des Kranken gegen sein Leiden zu- rückzuführen ist. Mitunter ist es sogar übertriebene Aengstlichkeit, die unbegründete Furcht, etwas Ungünstiges zu vernehmen, was die Kranken abhält, den Arzt um seine Meinung über den vorhandenen Zustand zu fragen. Wenn man nach der ganzen Sachlage erwarten kann, durch eine beruhigende Aufklärung zu nützen, sollte man daher nicht verabsäumen, eine solche dem Patienten zu ertheilen; sie wird in der Regel dankbar auch von demjenigen hingenommen, welcher wegen seines Leidens keine Besorgnisse hegte. Besonders empfiehlt sich eine Aufklärung des Patienten in allen Fällen, in welchen man annehmen kami, dass der Kranke wegen seines Zustandes mehr oder minder beunruhigt ist. Das Schweigen des Arztes kaim hier bei dem Leidenden Muthmassungen wachrufen, welche geeignet sind, dessen Befürchtungen zu steigern. Ferner ist Aufklärung des Patienten bei Leiden von längerer Dauer und schwankendem Verlaufe -sehr rathsam, weil hier durch die Voraussage des Ver- laufes späteren Beunruhigungen vorgebeugt werden kami. Wenn die Aufklärung bei dem Kranken die Wirkung erzielen soll, welche wir beabsichtigen, müssen wir dafür Sorge tragen, den Boden für die Aufnahme derselben zu jjräpariren. Wer da glaubt, einen Kranken, ohne ihn ausreden zu lassen und zu untersuchen, durch die Versicherung, dass sein Zustand nichts zu bedeuten habe, be-
Die Aufkliirung des Kranken.
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ruliigen zu können, wird sich in den meisten Fällen täuschen. Wenn wir mit Rücksicht auf die Beschränktheit unserer Zeit zur Weitschweifigkeit neigenden Kranken auch nicht gestatten können, ihre Leidensgeschichte mit allen Details ab ovo vorzutragen, so müssen wir sie durch unser Examen wenigstens davon überzeugen, dass uns kein für die Beurtheilung ihres Zustandes wichtiger Um- stand unter ihren Antecedentien und ihren augenblicklichen Be- schwerden entgeht. Und ebenso dürfen wir bei wortkargen Patienten die Erhebung der erforderlichen anamnestischen Daten nicht unterlas- sen. Durch sorgfältiges Eingehen auf alle bei einer Krankengeschichte in Betracht kommenden Momente und eine der Art des Falles ent- sprechende Untersuchung verschaffen wir nicht bloss uns für eine Diagnose und Prognose die nöthigen Anhaltspunkte, sondern auch dem Kranken die sehr werthvolle Ueberzeugung, dass unser Urtheil über seinen Zustand auf einer zuverlässigen Basis fusst. Dass der Aufschluss, welchen wir dem Kranken geben, immer dem Verständ- nisse desselben angepasst sein soll, liegt sehr nahe, und doch sehen wir, dass gegen diese Vernunftregel sehr viel gesündigt wird. Was soll es dem Aufklärung über seinen Zustand Wünschenden nützen, wenn wir ihm einen lateinischen oder griechischen Krank- heitsnamen nennen, mit welchem er keine bestimmte Vorstellung verknüpfen kann? Dem Ungebildeten genügt es meist, wenn er über den Sitz seines Leidens und dessen Natur, ob leicht oder ernst, imterrichtet wird. Allein auch dem gebildeten Laien wird sehr häufig durch die Mittheilung der wissenschaftlichen Diagnose seines Falles keine Vorstellung von der Art seines Leidens bei- gebracht, und wir dürfen daher auch bei diesem nie unterlassen, durch passende Erläuterungen Missdeutungen vorzubeugen, wenn wir überhaupt es für zulässig und zweckmässig erachten, ihm unsere Diagnose bekannt zu geben. Die Information des Kranken soll sich jedoch nicht nur auf die Art des Leidens, sondern auch auf die Dauer, den Verlauf und schliesslichen Ausgang des- selben erstrecken. Die Vorhersage der Krankheitsdauer sollte sich, wenn dieselbe einigermassen vorauszusehen ist, nicht allzusehr von der Wirklichkeit entfernen. Zwar berührt es die Kranken, welche mit der Hoffnung sich^ tragen, in wenigen Tagen wieder hergestellt zu sein, in der Regel sehr unangenehm, wenn sie ver-
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Vorliersage der Krankheitsclauer iind des Ausganges.
nehmen, dass sie Wochen und vielleicht Monate sich gedulden müssen, allein sie trösten sich über die längere Dauer ihres Leidens viel leichter, wenn sie hievon a priori schon unterriclitet werden und in derselben nichts Aussergewöhnliches erblicken können, als wenn man in ihnen Hoffnungen genährt hat, welche sich nicht er- füllen können und naturgemäss Enttäuschungen nach sich ziehen müssen. Wenn erhebliche Schwankungen in dem Krankheitsver- laufe zu erwarten sind, so ist es rathsam, auch auf diese den Kranken aufmerksam zu machen. Viele Kranke sind geneigt, an eine Wendung zum Besseren sofort weitgehende Hoffnungen zu knüpfen, um dami bei einem Umschläge nach der ungünstigen Seite allen Muth zu verlieren. Der Arzt muss derartige ent- schieden schädlich wirkende Enttäuschungen möglichst zu ver- hüten trachten und sich bemühen, durch seine Aufklärung den Muth und die Hoffnung des Kranken in allen Phasen des Leidens aufrecht zu erhalten. Bei der Vorhersage des Ausganges haben wir zwischen Lebenserhaltung und Genesung zu imterscheiden. Für die meisten Menschen kommt es bei schwerer Erkrankung, sie mögen dies gestehen oder nicht, in erster Linie darauf an, ob sie Aussicht haben, dem Sensenmann zu entrinnen. Auch der Aermste, dessen Leben nur eine Kette von Entbehrungen und Leiden ist, wünscht sich noch keineswegs aufrichtig eine Befreiung von der Last seines traurigen Daseins. Die Hoffnung auf Erhaltung des Lebens bei dem Zweifelnden zu nähren und zu stärken und bei dem Verzweifelnden, der sie bereits aufgegeben hat, wieder kräftig anzufachen, ist eine der wichtigsten und würdigsten Aufgaben des Arztes. Kann mit Rücksicht auf die religiösen Anschauungen des Kranken oder seiner Angehörigen oder aus anderen triftigen Gründen die Möglichkeit eines ungünstigen Ausganges nicht ganz verhehlt werden, so lässt sich die betreffende Eröffnung zumeist in einer Form geben, dass die Lebenshoffnung des Patienten nicht erschüttert wird. Bei acuten Krankheiten ist zumeist mit der Hoffnung auf Lebenserhaltung auch die auf Genesung ausgesprochen; man darf aber auch in chronischen Fällen, wenn der Kranke keine allzulange Lebensdauer mehr vor sich hat, kein Bedenken tragen, neben der Lebenserhaltung auch die Genesung in Aussicht zu stellen. Anders liegen die Dinge bei unheilbaren chronischen Krank-
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Vorhersage des Ausganges.
beiten, welche ihrer Natur nach allein überhaupt nicht den Tod herbeiführen oder wenigstens eine nicht vorher zu bestimmende Lebensdauer zulassen. Bei solchen Zuständen ist das Hauptge- wicht auf die Lebenserhaltung zu legen. Dem Leidenden daneben das rosige Bild der Genesung vor das geistige Auge zu zaubern, nach dessen Verwirklichung der xVrme dann unter Umständen Jahre lang vergeblich schmachtet, ist keine wahre Humanität, sondern eher eine grausame Unbedachtsamkeit. Wenn wir dem Apoplektiker mit seiner -unheilbaren Hemiplegie, dem gehunfähigen Tabetiker, dem hydropischen Nephritiker und ähnlichen Kranken vollständige Wiederherstellung versprechen, so schädigen wir dieselben nicht nur durch die unvermeidliche Enttäuschung, welche wir ihnen be- reiten, sondern auch dadurch, dass wir ihnen den Glauben an ärztliche Versicherungen nehmen. Allerdings begegnen wir Kranken, welche bei den trostlosesten Zuständen die Hoffnung auf voll- ständige Genesung noch nicht aufgeben. Ich erinnere mich z. B. eines Tabetikers, der, seit Jahren bereits hilflos an den Rollstuhl gefesselt und zum Ueberfluss noch mit Schrumpfniere behaftet, ganz untröstlich sich zeigte, dass ich ihm vollständige Wiederher- stellung nicht in Aussicht stellte. Bei allem Mitleid, welches mir der schwer heimgesuchte Patient einflösste, musste ich es für un- verantwortlich und unrathsam erachten, in demselben so chimä- rische Hoffnungen anzuregen. Es gelang mir übrigens, den Kranken über seine Zukunft zu beruhigen, ohne von meiner ersten Erklär- ung etwas zurückzunehmen. Zu einem Widerrufe der quoad valetu- dinem completam gestellten ungünstigen Prognose aus Mitleid mit dem Kranken darf sich der Arzt meines Erachtens nie herbeilassen ; ein solcher würde schwerlich den beabsichtigten Zweck erreichen, vielleicht eher die Glaubwürdigkeit des Arztes in den Augen des Leidenden in Frage stellen. Man kann in derartigen Fällen die erwünschte Beruhigung des Kranken erreichen, indem man demselben vorstellt, dass die zu erwartende Besserung so weit gehen mag, dass alle erheblicheren Beschwerden beseitigt werden und ein der Heilung sich nähernder oder ihr praktisch gleich be- deutender Zustand erreicht wird.
Im einzelnen Falle ist bei den diagnostischen und prognostischen Aufschlüssen, welche wir dem Kranken ertheilen, dessen körperliche
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Aiifklilrung über die Ursache des Leidens.
C'Onstitution und geistige Individualität neben der Art des vor- liegenden Kranklieitszustandes sorgfältig zu berücksichtigen. Die Keiuitniss, welche dem einen nützt, bringt dem anderen Schaden. Das Vorhandensein einer Lungenentzündung wird man einem jungen kräftigen Manne kaum je verheimlichen müssen. Bei einem Greise oder bei einer sehr entkräfteten Person jüngeren Alters , bei welcher jede depressive gemüthliche Erregung den Verlauf der Krankheit ungünstig beeinflussen kann, haben Avir dagegen im gleichen Falle in der Regel, Avenigstens so lange eine Gefahr vor- liegt, jede Andeutung über die Art der bestehenden Erkrankung zu meiden und etwaige Muthmassungen des Patienten in dieser Richtung zu bekämpfen. Für Herzleidende von ruhiger Gemüths- art ist es gewöhnlich nur von Nutzen, wenn sie Amn ihrer Krank- heit unterrichtet sind. Diese Kenntniss bildet für sie keine Quelle von Beängstigungen, Avohl aber einen nicht zu unterschätzenden Antrieb, den ärztlichen Anordnungen betr. ihrer Lebensweise etc. Folge zu leisten. Sehr ängstliche Individuen Averden dagegen durch die Mittheilung, dass an ihrem Herzen irgend welche organische Veränderungen sich finden, in Sorgen um ihr Leben versetzt, welche auf ihren Zustand sehr ungünstig wirken können ; bei solchen Patienten empfiehlt es sich entschieden, ihnen von dem Bestehen einer organischen Herzaffektion keine Kenntniss zu geben.
Bei einer grossen Anzahl von Kranken ist es wünschenswerth oder sogar erforderlich, dass die von dem Arzte gegebene Information sich auch auf die Ursache ihres Zustandes erstreckt. Wir be- friedigen dadurch nicht nur die in dieser Hinsicht oft sehr leb- hafte Wissbegierde der Patienten, sondern wir erhöhen auch das Vertrauen derselben in unser Urtheil über ihr Leiden und die zur Bekämpfung desselben erforderlichen Mittel. In manchen Fällen können wir dadurch auch unnöthige Sorgen und Selbst- quälereien beseitigen. So sind Patienten, welche sich sogenannter Jugendsünden schuldig Avissen, nicht selten geneigt, noch in späteren Jahren auftretende Uebel auf diese zurückzuführen und sich wegen derselben unbegründete Vorwürfe zu machen. Wir geAvähren diesen Leidenden eine grosse Erleichterung, indem wir ihnen die Irr- thiimlichkeit ihrer Anschauung darlegen. Bei öfters Aviederkehren- den Affektionen Averden von den Patienten mitunter die Schädlich-
Aufkliirung des Kranken in unklaren Fällen.
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Iceiten übersehen oder unterschätzt, welche diese l)edingten, und eine andauernde, vielleicht unheilbare Erkrankung irrthümlich an- genommen. Durch die Darlegung der Ursachen , welche die einzelnen Attaquen herbei führten, sind wir im Stande, solche Leidende von einer schweren Sorge zu befreien.
Die dem Kranken gegebene Aufklärung darf, wenn sie ihren Zweck erfüllen soll, auch der Bestimmtheit nicht ermangeln. Hin und her schwankende, unsichere und dunkle Aeusserungen, Achsel- zucken und' dergl. können dem Kranken kein Vertrauen zu dem Arzte einÜössen und ihn auch nicht über seinen Zustand beruhigen. Auch in den Fällen, in welchen die Sachlage augenblicklich nicht gestattet, eine bestimmte Diagnose zu stellen oder über den weiteren Verlauf der Krankheit ein sicheres Urtheil abzugeben, kanii der Arzt seinen Ausspruch in einer Weise formuliren, welche den lü’anken von unnöthigen Befürchtungen befreit und ihm die Ueber- zeugung verschafft, dass das für seinen Zustand Erforderliche nicht verabsäumt wird. Handelt es sich um Krankheiten , bei welchen der weitere Verlauf oder fortgesetzte ärztliche Beobachtung binnen Kiu’zem die nöthige Aufldärung verschafft, so hat der Arzt keine Ursache, diese Sachlage dem Patienten zu verheimlichen und ein Wissen zu simuliren, das er nicht besitzt ; er darf dabei nur keine Verlegenheit, keine Beunruhigung documentiren. Ergiebt auch längere Beobachtung des Kranken nicht die für eine Diagnose er- forderlichen Anhaltspunkte, so wird der gewissenhafte Praktiker nicht säumen, wenn es die Verhältnisse gestatten, je nach der Art des Falles einen Specialarzt oder Kliniker als Consiliarius bei- zuziehen oder den Patienten an einen solchen zu verweisen. Die Eröffnung, dass zur Aufliellung der Sachlage die Beihilfe eines weiteren Arztes erforderlich oder wünsch enswerth ist, wirkt jeden- falls minder beunruhigend auf den Leidenden als forUv ährendes Schwanken in der Diagnose und unsicheres Herumtappen in der Behandlung. Ist auch der beigezogene Arzt, wie es öfters vor- kommt, nicht in der Lage, in den Fall vollständig Licht zu bringen, insbesonders über den weiteren Verlauf sich bestimmt zu äussern, so darf der Patient unter dieser Sachlage nicht leiden. Eine für den Patienten tröstliche Erklärung lässt sich unter allen Umständen vereinbaren und die Aerzte, welche dieselbe abgeben, brauchen
90 Consilium ziu’ Bestätigung der Diagnose ; Form der Aufklärung.
sich nicht darum zu kümmern, ol) der Ausgang des Falles ihren Ausspruch bestätigt oder nicht. Ihre Pflicht dem Patienten gegen- über haben sie jedenfalls gethan. Die Beiziehung eines Consiliarius erweist sich oft auch vortheilhaft in Fällen, in welchen der be- handelnde Arzt seiner Diagnose vollständig sicher ist, aber die Wahrnehmung macht, dass seine Worte nicht den erforderlichen Eindruck auf den Kranken machen, ihn nicht von quälenden Zweifeln befreien. Die Bestätigung der Diagnose durch den Con- siliarius wirkt hier (von Hypochondern abgesehen) gewöhnlich nicht nur momentan beruhigend; sie hebt und festigt auch das Ver- trauen des Kranken zu seinem Arzte und erweist sich hiedurch von nachhaltigem Nutzen.
Abgesehen von den bereits erwähnten sind noch einige Um- stände zu berücksichtigen. Bei den Aufschlüssen, welche wir Kranken über ihren Zustand ertheilen, sind Weitschweifigkeiten zu meiden. Je kürzer und bündiger die Erklärung des Arztes gefasst ist, um so besser wirkt dieselbe im Allgemeinen. Lange Erörterungen schaden meist mehr als sie nützen. Es empfiehlt sich auch nicht, in bedenklichen Fällen an die Besprechimg mit dem Kranken sofort längere Berathungen mit der Umgebung des- selben anzuschliessen ; wenn solche überhaupt nöthig erscheinen, sollen dieselben ausserhalb der Wohnung des Patienten statthaben.
In der grössten Mehrzahl der Fälle verlangt der Kranke von dem Arzte nicht nur Aufklärung, sondern auch thatsächliche Hilfe. Der Schwerkranke verlangt, dass wir ihn über die Gefahren seines Zustandes hinwegbringen, der Leichtkranke, dessen Zustand ein Eingreifen an sich nicht erheischen würde, wünscht, dass wir den Verlauf seines Leidens abkürzen. Der Prozenttheil derjenigen, welche sich mit der Versicherung vollständig begnügen, dass ihr Leiden ohne jedes Zuthun bei geeignetem Verhalten innerhalb dieser oder jener Zeit sich verlieren werde, ist ein sehr geringer. Auch sehr intelligente Personen glauben z. B. bei einer einfachen Angina auf den Gebrauch eines Gurgelwassers nicht verzichten zu dürfen. Ob wir nun durch die Art des vorhandenen Leidens zu einem Eingreifen genöthigt sind, oder lediglich dem psychischen Zustande des Kranken Rechnung tragen wollen, immer müssen wir berücksichtigen, dass die Verordnungen, welche wir geben, wie die
Rathschliigo für Neulinge in der Praxis.
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Maassiiahmeii, Avelche wir selbst vornehmen, bei dem Kranken auch psychische Wirkungen hervorrufen, und je nach dem Einflüsse auf das Befinden des Leidenden das Vertrauen in den ärztlichen Aus- spruch heben und befestigen oder schwächen. Bei der Auswahl der ersten Mittel, die wir in Anwendung ziehen, ist daher besondere Vorsicht nöthig. Gelingt es, dem Patienten, dem Avir Besserung oder Genesung in Aussicht gestellt haben, sofort oder alsbald Er- leichterung in irgend einer Beziehung zu verschaffen, so wird da- durch in demselben die Hoffnung auf einen günstigen Verlauf seines Leidens wesentlich gestärkt, während ein Missgriff bei der ersten Verordnung diese Hoffnung erheblich herabsetzen und damit den Zustand des Kranken ungünstig beeinflussen kann.
Für den Neuling in der Praxis möchten wir hier einige be- achtenswerthe Rathschläge einschalten. Man schiesse nicht mit Kanonen nach Spatzen und berücksichtige die möglichen Neben- wirkungen der Arzneien. Wer wegen einer geringfügigen Aflfektion Medikamente verordnet, welche Uebelkeit und Erbrechen hervoi’- rufen, wird selten Lob ernten. Weim das vorhandene Leiden die Anwendung von Mitteln erheischt, deren Gebrauch Schmerzen oder sonstige Störungen des Befindens nach sich zieht, so ist der Patient auf diese Umstände vorzubereiten ; man thut auch immer gut, mit einer solchen unangenehmen Therapie einzuschleichen. Auf der anderen Seite ist es eine schlechte Praxis, lediglich des momentanen Erfolges halber Mittel zu gebrauchen, welche entbehrlich sind und nicht ohne ungünstige NachAvirkung bleiben. Einem Schlaflosen Chloral oder Sidfonal zu verschreiben, ist keine Kunst, und die meisten Laien wissen auch, dass diese Mittel ihre Schattenseiten haben und nur vorübergeheiid wirken. Wir befreien daher den Kranken durch derartige Verordnungen, auch Avenn wir mit den- selben einen Erfolg erzielen, nicht auf die Dauer von der Sorge wegen seines Schlafdefizits, Avir fügen vielmehr zu dieser häufig eine neue, die Sorge Avegen der Angewöhnung an das gebrauchte Medikament. Ganz anders wirkt es auf das Gemüth des Patienten, wenn Avir ihm auf diätetischem Wege den vermissten Schlaf ver- schaffen. Der Kranke hat in diesem Falle das Avohlthuende Ge- fühl, dass sein Schlaf nicht durch Nachtheile in anderer Hinsicht erkauft, sondern lediglich die Folge einer Besserung seines Zustandes
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Stützung des ärztlichen Ausspruches durch Anordnungen.
ist. Diese berechtigte Deutung der Wiederkehr des Schlafes er- füllt den Kranken auch mit Hoffnung auf Besserung in anderen Beziehungen.
Sind wir genöthigt Mittel anzuwenden, deren Erfolg zweifelhaft ist, so ist es zumeist besser, diesen Umstand dem Kranken nicht mitzutheilen, weil wir hiedurch das Vertrauen in das Mittel herab- setzen und damit dessen mögliche psychische Wirkung beeinträch- tigen würden. Wir sehen nicht selten, dass Verordnungen, von welchen wir wenig oder nichts erwarten, doch einen entschiedenen Nutzen erzielen und andererseits solche, von welchen wir grosse Dinge erhoffen, uns im Stiche lassen. Schon dieser Umstand be- rechtigt uns, unsere Zweifel dem Kranken vorzuenthalten. Ein weiterer Grund liegt darin, dass viele Patienten eine ausgesprochene und mitunter auch durch Erfahrungen wohl begründete Abneigung haben, mit sich therapeutische Experimente anstellen zu lassen, weil sie fürchten, dass das Versuchsmittel, wemi es nichts nützt, ihnen schaden könnte. Haben wir eine Mehrzahl von Mitteln zur Erreichung eines bestimmten Zieles zur Verfügung, so empfiehlt es sich nicht, dem Leidenden, wenn nicht besondere Umstände dies wünschenswerth machen, die Auswahl zu überlassen; dadurch können bei demselben schädliche Zweifel angeregt und die psychi- sche Wirkung des Mittels geschmälert werden. Wir müssen immer dahin streben, soweit es angeht, bei dem Kranken die Ueberzeugung hervorzurufen, dass das gewählte Mittel das beste, für seinen Zu- stand geeignetste ist.
Da Thatsachen auch für Kranke gewöhnlich bessere Argumente sind als blosse Versicherungen, so müssen nicht nur die speziellen therapeutischen Maassnahmen, sondern überhaupt alle Anordnungen des Arztes, das, was er erlaubt sowohl, als was er verbietet, und die Art seines Verkehrs mit dem Kranken dahin bemessen sein, dass sie mit dem ärztlichen Ausspruche in Einklang stehen und dadurch das Vertrauen des Kranken zu diesem kräftigen. Wenn wir dem Patienten ankündigen, dass sich sein Zustand gebessert hat, so soll diese Auffassung auch praktisch in der Verminderung der Zahl der Besuche , die wir dem Patienten ei'statten , oder der Consultationen, die wir ihm ertheilen, zum Ausdruck kommen. Haben wir es mit Kranken zu thun, welche längere Zeit das Bett oder
Die Bedeutung des Gesunderklärens.
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das Zimmer hüten mussten, so dürfen wir nicht säumen, wenn der Zustand derselben es zulässt, denselben die Erlaubniss zum Ver- lassen des Bettes oder zum Ausgehen zu geben; allzu ängstliche Kranke müssen hiezu sogar aufgefordert werden, wenn die richtige Zeit gekommen ist. Solche Anordnungen tragen sehr wesentlich dazu bei, den Kranken von dem Fortschritte in seinem Befinden zu überzeugen und in demselben den Glauben an die bevorstehende Genesung zu , befestigen. Von grosser Wichtigkeit ist aber auch bei vielen Patienten, dass wir sie, wenn die Fortschritte in ihrem Befinden weit genug gediehen sind, als genesen und gesund er- klären und sie auch dahin bringen, dass sie an ihre Gesundheit glauben. Wir wissen, dass gar manche Krankheiten nach ihrem Ablaufe gewisse andauernde oder nur zeitweilig auftretende Be- schwerden hinterlassen und in vielen Krankheitsfällen nach der Beseitigung der Hauptsymptome geringere Störungen lange Zeit hartnäckig sich erhalten. So lange die Leidenden als Kranke be- handelt werden und sich selbst als solche betrachten, besitzen auch unerhebliche Beschwerden für sie keine untergeordnete Bedeutung ; diese bilden für sie Zeichen des Fortbestandes ilirer Krankheit, und wenn die betreffenden Störungen lange andauern, verlieren sie nicht selten alle Hoffnung auf Wiedererlangung ihrer Gesundheit und damit allen Muth. Dieser seelische Zustand begünstigt hin- wiederum die Fortdauer mancher Beschwerden und trägt auch zur Steigerung derselben bei. Ganz anders gestaltet sich die Sachlage, wenn wir im gleichen Falle den Kranken als gesund erklären und ihn auch dahin bringen, dass er an diesen Ausspruch glaubt. Er misst dann den verbliebenen Störungen keine Wichtigkeit mehr bei, schenkt denselben keine ungebührliche Beachtung und lässt sich durch dieselben in seiner Stimmung nicht beeinflussen ; dieses seelische Verhalten ist der Beseitigung vieler Beschwerden ent- schieden förderlich^). Ganz besonders kann man sich bei Neuras- thenischen und Hysterischen davon überzeugen, wie sehr der feste Glaube, gesund zu sein, das Gewicht mancher restirenden Krank-
1) Wenn ich erkranke, weil ich mir einbilde zu erkranken — sollte ich mich nicht gesund erhalten können dadurch, dass ich mir fest einbilde, es zu ^ Feuchtersieben.
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Geistige Direktion des Kranken.
heitserscheinungen in der Auffassung der Leidenden herabdrückt und dadurch zur wirklichen Gesundung derselben beiträgt.
Mit der Aufklärung des Kranken über sein Leiden und den A'erordnungen, welche wir ihm geben, gewinnen wir unleugbar schon einen erheblichen Einfluss auf dessen Geisteszustand. Wir erfüllen hiemit jedoch nur einen Theil der Aufgaben, welche uns hinsicht- lich der geistigen Direktion des Kranken zufallen. Für einen grossen Theil der Leidenden, insbesonders der Nervenkranken, muss der Arzt geradezu die Kelle des Spiritus rector übernehmen ; seine Fürsorge muss ihr ganzes geistiges Verhalten umfassen und dieses in einer Weise zu lenken suchen, dass durch dasselbe die Heilung oder Besserung gefördert, nicht aber erschwert oder un- möglich gemacht wird. Es genügt hier nicht, wenn wir unser Augenmerk darauf richten, dass den gegebenen therapeutischen Anordnungen beständig Folge geleistet wird und das Vertrauen des Kranken in unseren Ausspruch auch unter den Wechselfällen, mit welchen sein Zustand verknüpft ist, sich erhält; unsere Auf- sicht und Controlle muss sich auf das ganze Thun und Lassen des Patienten, sein Verhalten gegenüber der Aussenwelt, nicht minder aber auch auf das nicht unmittelbar zu Tage tretende Seelenleben, seinen Gemüthszustand und die vorherrschende Richtung seines Denkens erstrecken. Dadurch allein kami der Kranke dahin gebracht werden, dass er die in ihm selbst liegenden Hilfsmittel gegen sein Leiden in vollem Maasse gebraucht und an seiner Ge- sundung ernsthaft mitarbeitet. Zweifellos handelt es sich hiebei um recht schwierige Aufgaben; um denselben gerecht zu werden, bedarf der Arzt neben einer gewissen Lebenserfahrung psycho- logischer Kenntnisse sowie einer grossen Dosis Geduld imd Festig- keit; auch sorgfältiges Eingehen auf die Individualität des Patienten ist unerlässlich. Wer sich selbst nicht beherrschen kann, darf nicht erwarten, dass er eine sichere Herrschaft über den Geist der sich ihm Anvertrauenden erlangt, und wer bei einem Miss- erfolge selbst den Muth verliert, wird auch dem Kranken die Hoff- nung auf Genesung nicht nachhaltig einzuffössen im Stande sein. Ohne Berücksichtigung der geistigen Individualität des Kranken können Missgriffe in der Wahl der Mittel, dei’en wir uns zur Er- reichung unseres Zieles bedienen müssen, nicht vermieden werden.
Geistige Direktion des Kranken.
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Wenn es auch Aerzte giebt, die alle Kranken gleichmässig, z. B. grob, behandeln und dabei nicht schlecht fahren, so dürfen wir deren Gepflogenheit doch nicht als mustergiltig betrachten. Auch ist der Satz wohl zu berücksichtigen: si duo faciunt idem, non est idem. Je nach dem Zwecke, den wir anstreben und der Persön- lichkeit, mit welcher wir zu thun haben, muss sich unser Vorgehen gestalten. Hier sind wir in der Lage, mit liebevollen Worten, geduldigem, frpundlichem Zureden immer auszukommen, dort sind wir mitunter zu energischen Mahnungen, zum Gebrauche der Im- perativform genöthigt. In einem dritten Falle müssen wir gelegent- lich eine noch schärfere Tonart anwenden und können sogar mit- unter von einer derben Zurechtweisung nicht absehen. Gar häufig smd wir genöthigt, unsere Taktik im Laufe der Behandlung zu ändern, da wo wir mit Geduld und freundlichem Zuspruch das Gewünschte offenbar nicht erreichen, straffere Seiten aufzuziehen. Bei dem Allzuängstlichen, bei welchem wiederholte Darlegung der Unbegründetheit seiner Befürchtungen und wohlwollende Mahnungen zur Selbstbeherrschung keine nachhaltige Wirkung äussern, erzielen wir oft diu’ch tüchtiges Ausschelten die gewünschte Beruhigung. Der allzu Wehleidige, welcher jedes Ungemach wie die Pest scheut und durch freundliche Worte von seiner übermässigen Selbstbemitlei- dung nicht abzubringen ist, der in Trägheit und Apathie Versunkene, welcher sich zu keiner Thätigkeit aufraffen will, können oft durch derbe Zurechtweisung und ungeschminkte Kennzeichnung der Er- bärmlichkeit ihres Gebahrens auf bessere Wege geleitet werden. Eines muss dem Kranken, auch wenn wir ihn noch so unsanft be- handeln, immer deutlich zum Bewusstsein gebracht werden, dass es uns nicht darum zu thun ist, unserem Unwillen Luft zu machen, sondern seinem Interesse zu dienen, und dass wir nichts beab- sichtigen als ihm zu nützen. Wir dürfen auch nicht verabsäumen, den Kranken, welche in schwierigen Lagen den Muth nicht ver- loren, welche Schmerzen und anderes schweres Ungemach tapfer ertragen oder auf gewohnte Genüsse beharrlich verzichtet haben, unsere Anerkennung in vollem Maasse auszusprechen, ihnen die hiedurch erzielten Vortheile darzulegen und sie dei'gestalt zum Fortfahren in diesem löblichen Verhalten zu ermuntern.
Einen sehr wichtigen Faktor unter den für die geistige Direk-
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Regulirung der Lebensweise.
tion der Kranken erforderlichen Maassnahmen bildet die Regulirung der Lebensweise. Bei den allzu ängstlichen Patienten, welche über das zu Unternehmende fortwährend in Zweifeln befangen sind und von den harmlosesten Verrichtungen Unheil gewärtigen, beseitigen wir eine Quelle fortwährender Beiinruhigimg , indem wir ihnen genaue und detailirte Vorschriften über ihre ganze Lebensführung, über die Ernährungsweise, die Art und Dauer der Beschäftigung, passende Zerstreuungen etc. etc. geben. Die Regulirimg der Lebens- weise schliesst aber auch noch andere für die psychische Behandlung in den meisten Fällen wichtige Momente in sich: Die Entfernung von Schädlichkeiten, welche in den bisherigen Lebensgewohnheiten des Kranken liegen mögen, und die Anleitung des Kranken zu einer für den Gesammtzustand erspriesslichen Thätigkeit imd zweck- mässigem Verhalten unter wechselnden äusseren Verhältnissen. Welch bedeutende Heilresultate wir durch die Beseitigimg von Schädlich- keiten auf psychischem Gebiete wie geistiger Ueberanstrengung und widriger gemüthlicher Erregimgen allein erzielen können, ist be- kannt. Ein sehr wesentlicher Theil der Erfolge, welche durch Badereisen, Aufenthalt an Luftkurorten und in Anstalten erzielt werden, fällt diesem Heilfaktor zu. Auch die Wegräumimg rein somatischer Schädlichkeiten ist diuxhaus nicht als belanglos für die Psyche und die psychische Behandlung zu erachten. Wenn wii‘ z. B. einem an nervösem Herzklopfen leidenden Patienten das Rauchen und Kaffeetrinken untersagen, beseitigen wir eine Ursache der erwähnten nervösen Störungen und damit eine Quelle von Angstzuständen und hypochondrischen Gedanken. Was wir durch Anleitung zur geeigneten Thätigkeit erreichen kömien, werden wir weiter unten sehen. Ganz besonders bedürfen einer detailii’ten geistigen Direktion und unablässigen Ueberwachung die Kranken mit höheren Graden von Willensschwäche, welche speziell unter den Neurasthenischen und Hysterischen reichlich vertreten sind. Diese Leidenden erheischen auch besonders vorsichtiges und ge- duldiges Vorgehen. Nur durch ganz allmähliches Steigern unserer Anforderungen können wir hier jene Aenderungen der Lebensweise eiTeichen, die wir für den Heilzweck für erforderlich erachten. Dabei dürfen wir uns keineswegs auf das Geben theoretischer Weisungen beschränken, deren Ausführung allzu leicht an der vor-
Beschäftigung der Kranken.
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hanclenen Abulie scheitert. Der Arzt muss hier zum Theil direkt die Kranken zur Folgeleistung gegenüber seinen Anordnungen mit dem nöthigen Nachdruck anhalten, zum Theil durch die Um- gebung oder zuverlässiges Pflegepersonal sich der Folgeleistung ver- sichern.
Die Beschäftigung, insbesonders die berufliche Beschäftigung ist einerseits eine häufige Quelle von Krankheitszuständen, anderer- seits ein wichtiges psychisches Heilmittel und als solches von ein- sichtigen Aerzten schon lange gewürdigt. Wenn Müssiggang als aller Laster Anfang gilt, so ist damit sein depravirender Einfluss noch keineswegs genügend gekennzeichnet ; da der Geist des Menschen einer gewissen Beschäftigung bedarf, so liegt es nahe, dass die Aufmerksamkeit desjenigen, dessen Gedanken weder diu’ch Arbeit, noch durch Zerstreuungen nach aussen gelenkt werden, sich auf den eigenen körperlichen Zustand richtet und diesen ständig in den Vordergrund des Denkens rückt. ,, Woher kommt es“, bemerkt Huf el and, „dass die arbeitende, durch Noth oder Pflicht zur Arbeit getriebene Klasse viel weniger kränkelt als die müssig- gehende? Hauptsächlich daher, dass jene keine Zeit hat, krank zu sein, und also eine Menge Anwandlungen von Krankheiten über- geht, das heisst in der Arbeit sie vergisst und dadurch wirklich überwindet und aufhebt, statt dass der Müssige, den Gefühlen nachgebend und sie pflegend, dadurch oft den Keim zu Krankheiten ausbildet.
Als obersten Grundsatz müssen wir daher hin- stellen, dass jeder Leidende, dessen Zustand eine ge- wisse Thätigkeit gestattet, zu solcher anzuhalten ist. Die Vortheile, welche eine regelmässige Thätigkeit dem hiezu befähigten Leidenden bringt, sind mehrfach. Zunächst wird hie- durch die Aufmerksamkeit des Kranken von seinem Befinden ab- gelenkt, wodurch allein schon die Intensität und Dauer vieler Be- schwerden verringert wird. Besonders wirksam erweist sich die Arbeit in dieser Richtung , wenn sie dem Leidenden sympathisch ist und dessen Interesse in vollem Maasse in Anspruch nimmt. Auch die Befriedigung, welche die Thätigkeit an sich oder das Resultat derselben, die geleistete Arbeit, dem Leidenden gewährt, bildet einen nicht zu unterschätzenden Heilfaktor. Sie trägt dazu
Löwenfeld, Psychotherapio. 7
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Beschäftigung der Kranken.
bei, den Kranken mit seinem Schicksale auszusölmen, die Bedeut- ung seines Leidens in seinen Augen lierab zu drücken und dadurcli eine dem allgemeinen Zustande förderliche Stimmung herbeizu- führen und zu unterhalten. Bei einem grossen d’heile der Kranken kommt auch die Bedeutung der Arbeit für ihre wirthschaftliche Lage sehr in Betracht. Trotz Unfalls- und Krankenversicherung sehen wir auch gegenwärtig noch täglich, dass Arbeiter durch Erkrankung oder Unfälle mit ihren Familien in schlimme Noth gerathen und dieser Zustand auf das vorhandene Leiden in un- günstiger Weise einwirkt. Das gewährte Krankengeld oder die Unfallsrente bleibt ja bekanntlich in der Regel weit hinter dem Verdienste zurück, welchen der Arbeiter als Gesunder erzielt. Je früher Avir den Kranken dazu bringen, dass er seine Beschäftigung wieder aufnimmt, um so früher entreissen wir ihn der bestehenden Nothlage, deren Beseitigung die Genesimg wesentlich fördert. Was für den versicherten Arbeiter gilt, gilt in noch höherem jMaasse für die Menge von nicht versicherten selbständigen Kleingewerbe- treibenden und alle auf den täglichen Verdienst für ihi’en Unter- halt angewiesenen Personen. Ist die regelmässige berufliche oder sonstige Beschäftigung des Kranken nicht mit Schädhchkeiten ver- knüpft, welche der Beseitigung der bestehenden Störungen Hinder- nisse bereiten, so haben wir keine Veranlassung, der Fortsetzung dieser Thätigkeit entgegenzutreten; dieselbe ist nur voiTheilhaft. Allein auch in den Fällen, in Avelchen wir uns der, Ansicht nicht verschliessen können, dass die gewohnte Thätigkeit mancherlei für den Leidenden nachtheilige Einflüsse in sich schliesst, dürfen Avir nicht immer die Unterbrechung derselben verlangen. Durch diese werden bei Un- und Minderbemittelten häufig schAvere materielle Sorgen hervorgerufen, w^elche den Vortheil der Arbeitsentlastung vollständig aufwiegen , selbst übercompensiren können. Bei den Angehörigen der besser situirten Klassen bilden oft Ehrgeiz, leb- haftes Pflichtgefühl oder Avichtige Geschäftsinteressen, bei den Frauen namentlich die Sorge um das Wohl der Kinder mächtige Hindernisse, Avenn der vorhandene Zustand eine Lostrennung von den Geschäften oder der häuslichen Thätigkeit wünschensAverth macht. Des Weiteren kommt in Betracht, dass bei hypochondrisch veranlagten Patienten der Mangel einer regelmässigen, einen grös-
Beschäftigung der Kranken,
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seren Theil der Tageszeit in Ansin’ucli nehmenden Beschäftigung meist dazu führt, dass sie ihre Aufmerksamkeit in erhöhtem Maasse ihrem körperlichen Befinden zuwenden, über die unbedeutendsten Erscheinungen anhaltend grübeln und sich ängstigen und dadurch den Nutzen, welchen die Ruhe ihrem Nervensystem bringt, illusorisch' machen. Im einzelnen Falle haben wir daher immer die Vor- theile, welche die Arbeitsentlastung dem Leidenden gewährt, gegen die etwa daran haftenden Schattenseiten abzuwägen und danach unsere Entscheidung zu treffen.
Wo die berufliche Thätigkeit mangelt oder nur sehr beschränkt geübt werden kann, müssen wir auf eine angemessene anderweitige Beschäftigung Bedacht nehmen, wenn das vorhandene Leiden nicht völlige Ruhe erheischt. Art und Dauer der Beschäftigung, die wir erlauben oder verlangen, müssen sich nach der Art der be- stehenden Erkrankung, dem Kräftezustande des Patienten, dessen Berufstellung, Neigungen und Gewohnheiten richten. Bei Erwäg- ung dieser Umstände ist es meist für den Arzt nicht schwer, für den Patienten geeignete Beschäftigungen zu ermitteln, sehr oft aber für den Patienten schwierig und sogar unmöglich, sich diese ihm nützliche Beschäftigung zu verschaffen. Am meisten Noth hat man in dieser Beziehung mit den Arbeitern, welche zu schweren körperlichen Anstrengungen unfähig, wohl aber zu leichteren Ver- richtungen tauglich sind. Den Betreffenden fällt es meist sehr schwer, eine passende Beschäftigung zu finden und dadurch ge- rathen sie nicht nur in materielle Noth, sondern auch in hypo- chondrische Verstimmung, welche ihren Zustand und damit auch ihre Arbeitsfähigkeit sehr ungünstig beeinflusst.
Den ungebildeten Arbeiter können Avir zu geistiger Beschäf- tigung, die ihm ganz ungewohnt ist, nicht anhalten, von dem Gebildeten dagegen, welcher zu körperlichen Leistungen befähigt ist, können wir soAvohl körperliche als auch geistige Beschäfti- gung verlangen, und unsere Aufgabe ist es, ihm die Anleitung zu einem angemessenen Wechsel ZAvischen beiden Thätigkeitsarten zu gebfeJi,' wenn der Zustand nicht vorwaltend oder ausschliesslich die eine oder andere Beschäftigung rathsam erscheinen lässt. Der Einfluss körperlicher und geistiger Arbeit auf das Nervensystem und die Psyche differirt in mehrfacher Hinsicht, Avas bei der Ver-
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100 Verschiodene Wirkungen geistiger und körperlicher Arbeit.
wertlumg 'derselben in psychotherapeutischer Absicht sehr zu be- rücksichtigen ist. Geistige Arbeit, welche ein völliges Vertiefen gestattet, lenkt den Kranken intensiver von seinem Zustande ab, als körperliche Thätigkeit, welche die Aufmerksamkeit nicht be- ständig in Anspruch nimmt. Geistige Arbeit kann durch die Be- friedigung, welche sie verschafft, günstig auf das Nerven.system wirken, sie ruft aber nicht unmittelbar jenes Wohlbehagen hervor, welches wir durch körperliche Thätigkeit, insbesonders passende Leibesübungen erzielen. Geistige Thätigkeit steigert die Erregbar- keit der psychischen Centren ; dem Zustand der geistigen Ermüdung geht eine längere oder kurz währende Phase der Erregung vorher ^). Uebermässige geistige Arbeit begünstigt die Entwicklung andauern- der erhöhter Keizbarkeit und von Erregungszuständen im Bereiche der psychischen Centren, welche in mannigfachen Störungen sich äussern (Schlafmangel, psychischer Unruhe, erhöhter emotioneller Erregbarkeit, Zwangsvorstellungen etc.) Auf die überreizten psy- chischen Centren wirkt körperliche, dem vorhandenen physischen Kräftezustande angepasste Thätigkeit direkt beruhigend, indem sie die funktionellen Hyperämie der betreffenden cortikalen Regionen beseitigt und die übermässige Entwicklung von Erregungsarbeit in denselben durch stärkeren Verbrauch von Nervenkräften in den motorischen Abschnitten des Nervensystems hintan hält. Syste- matische körperliche Anstrengungen bilden ferner eines der werth- vollsten Mittel zur Erziehung und Kräftigung des Willens und zur Hebung des Selbstvertrauens; sie verschaffen dem Leidenden ein Urtheil über das Maass seiner körperlichen Leistungsfähigkeit, welches einer günstigen Auffassung seines Zustandes eine wesent- liche Stütze bietet. Uebermässige sexuelle Erregbarkeit wird sicherer durch energische Muskelthätigkeit als durch intensive geistige Anspannung herabgedrückt. Zwei französische Autoren, Grimand de Caux und Martin St. Ange, glaubten speziell mathematische Studien als ein wirksames Mittel zur Unterdrückung übermässigen sexuellen Dranges empfehlen zu dürfen. Den gleichen Dienst leistet jedoch sicher jede intensive und nachhaltige Beschäf- tigung mit ernsten geistigen Dingen. Bei manchen Personen werden
1) V. Mosso, Die Ermüdung, p. 236.
Leibosübungen
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jedoch durch geistige Anstrengungen die sexuellen Bedürfnisse nicht unterdrückt, sondei’n gesteigert, wie Mosso ermittelte.
Hinsichtlich der geistigen Arbeit haben wir des Weiteren zu berücksichtigen, dass für Leidende, welche wegen ihres Zustandes ihre Berufsthätigkeit aussetzen müssen, intensive geistige An- strengung gewöhnlich überhaupt nicht rathsam ist und für die geistige Beschäftigung am besten Gebiete gewählt werden, welche eine gewisse Abwechslung gestatten und von der Berufssphäre entfernt liegen. Oft können gewisse Nebenbeschäftigungen, mit welchen der Leidende sich früher befasste und sogenannte Passionen mit Vortheil verwerthet werden (sprachliche oder andere Studien, Sammlerpassionen, Blumenzucht, Photographiren , Vereinsthätig- keit etc.). Bei der körperlichen Beschäftigung hat der Arzt heutzu- tage namentlich bei Sportsübungen der sehr verbreiteten Neigung zum Uebermaass Kechnung zu tragen und darauf hinzuwirken, dass Art und Maass der Thätigkeit den vorhandenen physischen Kräften entspricht. Wo die Verhältnisse es gestatten, sollen die Leibes- übungen, welche mit Aufenthalt in freier Luft und einem gewissen Naturgenusse verknüpft und daher in besonderem Maasse geeignet sind, dem Vergnügen zu dienen, herangezogen werden (Schlittschuh- laufen, Jagen, Bergsteigen, Reiten, Rudern, ausgedehntere Märsche, Radfahren). Gartenarbeit, die sicher in vielen Fällen sehr erspriesslich wäre, ist in den Städten nur Wenigen zugänglich, ebenso auch geeignete gewerbliche Beschäftigung bei nicht dem Handwerker- stand Angehörigen. Mit der einfachsten Leibesübung, dem Spazieren- gehen, dürfen wir uns nur in den Fällen begnügen, in welchen die Kraft des Leidenden keine intensivere Leistung gestattet; die geistige Ablenkung, welche das Spazierengehen gewährt, ist von sehr untergeordneter Bedeutung; der Hypochonder kann auch promenirend seinen selbstquälerischen Gedanken nachhängen. Un- gleich wirksamer sind in dieser Hinsicht die gymnastischen Heb- ungen jeder Art (Schreiber ’sche .Zimmergymnastik, Hantelübungen, Turnen etc.).
Aehnliche Wirkungen auf die Psyche wie die verschiedenen Arten der Beschäftigung äussern die sogenannten Zerstreuungen, welche sich von den Beschäftigungen auch nicht stricte trennen lassen. Sie dienen in erster Linie dazu, die Gedanken des Leidenden
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Zerstreuungen, Lektüre.
von seinem Zustande abzulenken; sie können aber auch durch den geistigen Genuss, welchen sie bereiten, direkt förderlich die Stim- mung beeinflussen und zur Restauration durch Ueberanstreng- ung erschöpfter und überreizter Gehirngebiete beitragen. Diese günstigen Wirkungen sind von zwei Bedingungen abhängig: Der Gegenstand, mit welchem die zerstreuende Thätigkeit sich befasst, muss geeignet sein, die Aufmerksamkeit des Leidenden in An- spruch zu nehmen und fest zu halten — Interesse erregen ; dann muss auch die zerstreuende Thätigkeit in ihrer Art und Dauer der Leistungsfähigkeit des Nervensystems angepasst sein. Das Anhören eines langweiligen Vortrages, der einen dem Lei- denden fern liegenden Gegenstand behandelt, wird dessen Gedanken von seinem Zustande nicht lange ablenken. Eine lebhafte, ge- sellige Unterhaltung von längerer Dauer, welche im einen Falle sich sehr nützlich erweist, kann in einem anderen Falle (bei hochgradiger cerebraler Erschöpfung z. B.) sehr unangenehme Zufälle herbeiführen.
Unter den Zerstreuungsmitteln verdient^ die Lektüre in erster Linie Erwähnung, weil dieselbe bei Kranken jeden Standes ver- wendbar und bei unserem gegenwärtigen Kulturzustande auch fast jedem Patienten in gewissem Maasse zugänglich gemacht werden kann. Der psychotherapeutische Werth der Lektüre ist jedoch seitens der Aerzte bisher noch nicht genügend gewürdigt worden. Wenn Sydenham behauptet, dass die Ankunft eines Hanswurstes in einem Städtchen noch einmal so viel werth sei als die Ankunft von zwanzig mit Medikamenten beladenen Eseln, so wird man ihm nicht unbedingt beipflichten können; allein ein gutes Buch ist jedenfalls für manchen Kranken von grösserem Nutzen als irgend ein Rezept, und viele Aerzte würden sicher, wenn sie mit unserer Litteratur besser bekannt wären. Leidende öfters an den Buchladen statt in die Apotheke verweisen. Dem Gebildeten kann man es in der grossen Mehrzahl der Fälle über- lassen, nach seinem Geschmacke und Verständnisse die Wahl seiner Lektüre zu trefi'en, soweit es sich nicht um medizinische Schriften handelt. Nur wo die Neigung des Patienten sich Büchern zu- wendet, welche durch ihren Inhalt in der einen oder andern Rich- tung einen ungünstigen Einfluss auszuüben vermögen, müssen wir unser Veto einlegen. So eignen sich Romane und Schauspiele
Lektüre.
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mit Darstellungen sehr aufregender Scenen für Kranke mit sehr er- regbaren Nerven durchaus nicht; bei solchen kommt es nicht selten, insbesonders bei abendlicher Lektüre, vor, dass sie die ge- schilderten Greuel nicht aus dem Kopfe bringen, davon träumen und dadurch der erquickenden Wirkung des Schlafes beraubt, verstimmt und aufgeregt werden. Hypochondrische Leidende werden durch dichterische Werke, in welchen Krankheitszustände aus- führlich behandelt sind, zu schädlichen Grübeleien angeregt. In vielen Erzeugnissen der modernen erzählenden und dramatischen Litteratur begegnen wir ferner einer mehr oder minder phantas- tischen Verwerthung der Vererbungs- und Degenerationstheorien; diese Sorte von dichterischen Produkten hat bei Belasteten schon manchen Schaden gestiftet und kann daher bei solchen nicht als Lektüre zugelassen werden. Für sexuell sehr erregbare Individuen, insbesonders solche jugendlichen Alters, ist die Lektüre mancher älterer erzählender Schriften, in welchen das Sexuellsinnliche mit einer die Lüsternheit anregenden Vordringlichkeit und Breite behandelt wird (wie z. B. bei dem von Hauff so treffend charakterisirten Clauren) und eines erheblichen Theiles unserer neueren belletristischen Litteratur, die mit Hecht als ,, pornographisch'' bezeichnet wird, geradezu Gift. Was die Machwerke letzterer Art, die der neueren Zeit entstammen, von den älteren unterscheidet, ist nicht nur der grössere Kealismus oder, um es geradezu zu sagen, die grössere Schamlosigkeit in der Zeichnung von Vorgängen, welche auf sexuellem Gebiete sich bewegen, sondern auch die Heranziehung der sexuellen Perversitäten; die neuere pornographische Litteratur bildet daher eine noch viel bedenklichere geistige Nahrung als die verwandten älteren litterarischen Produkte. Bei Leidenden, deren Gemüthszustand normal ist, kann die wünschenswerthe Zer- streuung durch Lektüre verschiedenster Art, von poetischen Werken ebensowohl als von Schriften historischen, geographischen, politischen oder naturwissenschaftlichen Inhalts, von Tageszeitungen wie von belletristischen Journalen gewonnen werden. Was die poetische Litteratut anbelangt, so sind zwar die Schöpfungen der Klassiker aller Nationen für die Geistesbildung und die Veredelung des Gemdithes der Leser von ungleich grösserer Bedeutung als das Gros der modernen Romane, doch können letztere dem Zwecke
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Lektüre.
der Zerstreuung im gleichen Maasse dienen wie erstere; die grosse Menge namentlich der weiblichen Kranken zieht die Lektüre von Romanen vor, weil sie dem seichten Ideengang derselben leichter folgen können, als dem in höhere Regionen führenden Gedanken- fluge der Klassiker. Dagegen ist, wenn dieser Art von Lektüre nicht im Uebermaasse gehuldigt wird, ärztlich kaum etwas einzu- wenden. Nur bei Leidenden mit Verstimmungszuständen melan- cholischen oder hypochondrischen Charakters müssen wir darauf sehen, dass dieselben sich nicht ausschliesslich mit ernsterer Lektüre befassen, sondern die in der humoristischen Litteratur vorhandenen Heilkräfte möglichst ausgiebig sich zu Nutzen machen. Humoristische Schriften wirken bei den erwähnten Zuständen nicht nur als Ab- lenkungsmittel intensiver, sondern sind auch im Stande, durch den Genuss, welchen sie bereiten, die Stimmung nachhaltig in vortheil- hafter Weise zu beeinflussen. Ich selbst besitze eine kleine humo- ristische Bibliothek, die ich oft schon mit Nutzen bei meinen Patienten verwerthete, und ich glaube, jeder Arzt sollte eine An- zahl solcher Schriften als Bestandtheile seines therapeutischen Armamentariums sich anschaffen. Schade ist es, dass gerade auf humoristischem Gebiete die litterarische Produktion der Neuzeit so wenig Gediegenes zu Tage fördert. Unser Geschmack ist anspruchs- voller als der früherer Generationen, die Werke eines Lichtenberg und Jean Paul mögen unseren Vorfahren manches Vergnügen bereitet haben, wir können uns durch dieselben nicht ohne eine gewisse Ueberwindung hindurch arbeiten, wenn uns nicht gerade das litterarhistorische Interesse zu Hilfe kommt. Dagegen werden die Schriften Fritz Reuter’s, eines Spitzer, Chiavacci, Pötzl, J. Stinde’s Frau Buchholz, Tillier’s Onkel Benjamin, Daudet’s Tartarin von Tarascou, Jerome ’s Idle Thoughts of an idle fellow , auch manche Erzählungen Mark Twain’s und Maupassant’s wohl nur bei wenigen unserer Zeitgenossen ganz ohne erheiternde Wirkung bleiben. In den Erzählungen des letzt- genannten Autors ist der mitunter köstliche Humor leider zum grossen Theile mit einer ansehnlichen Dosis von Unfläthigkeit gemischt, so dass dieselben für Damen und sexuell sehr erregbare Jünglinge keine geeignete Lektüre bilden.
Wir können an dieser Stelle die Frage nicht ganz unberührt
Populär-medizinische Schriften.
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lassen, wie wir uns der heutzutage so sehr verl)reiteten Neigung zum Lesen populär-medizinischer Schriften gegenüber zu verhalten haben. Die Zahl dieser Schriften ist bereits eine enorme und wächst noch täglich; die Aufklärung, welche sie den Leidenden liefern, ist für die grosse Mehrzahl derselben zweifellos von keinem wesentlichen Nutzen, für nicht wenige geradezu schädlich. Besonders nachtheilig macht sich der Einfluss der von Anhängern der so- genannten Naturheilmethode ausgehenden Schriften bemerklich, in welchen neben zum Theil ganz einfältigen pathologischen Theorien Anleitungen zum Selbstkuriren sich finden. Trotz alledem müssen wir darauf verzichten, die Lektüre populär-medizinischer Schriften j)rincipiell zu bekämpfen und zu verpönen; es wäre dies auch nutzlos. Dem in allen Kreisen sich kundgebenden Verlangen nach Aufklärung über medizinische und hygienische Angelegenheiten wird gegenwärtig nicht nur durch die vorgenannten Schriften, sondern auch auf anderem Wege, in der Tagespresse, in belle- tristischen Zeitschriften, in öffentlichen Vorträgen etc. etc. Rech- nung getragen. Wir müssen uns dieser Sachlage gegenüber darauf beschränken, die Lektüre unserer Patienten soweit als möglich zu überwachen und diejenigen unter denselben, welchen das Lesen gewisser populär-medizinischer Arbeiten oder überhaupt von Schriften medizinischen oder verwandten Inhalts nachtheilig werden könnte, vor solcher Lektüre nachdrücklich zu warnen. In erster Linie kommen hier die Hjqiochonder in Betracht, welche bekanntlich sehr häufig eine wahre Leidenschaft haben, was sie von Gedrucktem medizinischen Inhalts nur irgendwie sich verschaffen können, zu studiren. Aus dem Gesichtskreise dieser Leidenden muss jedes Buch entfernt werden, welches in das medizinische Gebiet ein- schlägige oder dasselbe nur berührende Gegenstände behandelt. Bei allen einigermassen ängstlichen Patienten ist die Lektüre von Schriften zu verbieten, in welchen sich Mittheilungen über die Symptome von Krankheiten, deren Verlauf und Ausgang finden. Dagegen können wir solchen als eine sehr schätzbare geistige Medizin" das Lesen des berühmten Aufsatzes Kant’s „Von der Macht des Gemüthes durch den blossen Vorsatz seiner krankhaften Gefühle Meister zu sein“, und Eeuchtersleben’s „Zur Diätetik der Seele“ empfehlen.
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Theaterbesuch, Musiciren.
Was wir soeben von der Lektüre als Zerstreuungsin ittel be- merkten, gilt im Grossen und Ganzen auch vom Theater- und Concertbesuclie. Stücke mit Gi’auen erregenden Scenen, wie Mak- beth, Hamlet, eignen sich für ängstliche, schwachnervige und leicht erregbare Personen durchaus nicht, ebensowenig Schauspiele, in welchen psychische Krankheitszustände eine hervorragende Polle spielen (so Ibsen’s „Gespenster^^, P. Lindau’s „Der Andere“). Bei Verstimmten wird im Allgemeinen Ablenkung und Erheiterung durch Lustspiele, Possen und komische Opern leichter herbeigeführt als durch ernste Dramen und Opern; Tragödien und tragische Opern können die bestehende Depression sogar steigern. Nur für die durch ausgebildetes Musikverständniss zu höheren Kunstgenüssen Befähigten kommt bei Opern der Inhalt der Darstellung weniger in Betracht, weil bei solchen der ästhetische Genuss an dem musi- kalischen Theile der Aulführung den durch den Inhalt derselben bewirkten Eindruck überwiegt. Bei vielen Leidenden kommt die geistige Anstrengung sehr in Betracht, welche das Anhören eines Stückes erheischt, bei Opern und anderen musikalischen Aufführ- ungen auch die Empfindlichkeit der Nerven für Gehörseindrücke. Dramatische Vorstellungen, Avelche mehrere Stunden dauern, Opern, in welchen gewaltige Tonmassen vielfach zur Geltung kommen, wie bei einem grossen Theile der Wagner’schen Musikdramen, und Oratorien mit sehr mächtigen Chören wirken auf die grosse Mehrzahl der nervös Erschöpften in der einen oder anderen Weise ungünstig.
Für Leidende, welche eines Instrumentes kundig sind, bildet das Musiziren unstreitig eine werthvolle Zerstreuung; wir haben nur darauf zu sehen, dass dabei das rechte Maass eingehalten, dem bestehenden Krankheitszustande sowohl hinsichtlich der Dauer als der Art der musikalischen Uebung Kechnung getragen wird. Bei Leidenden, welche sich durch Beschäftigung mit Musik überanstrengt haben und daher eine Disposition zu musikalischen Zwangsvor- stellungen besitzen, wird man am besten von der Zerstreuung durch Musik ganz absehen^). Aehnlich wie mit dem Musiziren verhält
1) Der Heilwertli der Musik wurde früher viel höher taxirt als gegenwärtig. Die ältere medizinische Litteratur weist eine Reihe von Schriften auf, welche sich mit der therapeutischen Verwerthung der Musik bei Krankheiten beschäftigen.
Gesellige Unterhaltung.
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es sich mit der geselligen Unterhaltung. Dem Patienten, welcher solche liebt und sich verschaffen kann, soll diese Zerstreuung nicht ohne dringende Veranlassung entzogen werden. Manche Leidende, deren Zustand eine gewisse Ablenkung und Erheiterung wünschens- werth macht, zeigen jedoch keine Neigung zu geselligem Verkehr. Diese müssen ermuntert werden, aus ihrer Vereinsamung heraus- zutreten und passende Gesellschaft aufzusuchen. Bei sehr vielen Leidenden können wir darauf verzichten, genauere Vorschrift über den Umfang, in welchem sie gesellige Unterhaltung gemessen dürfen, zu geben. Bei allen Schwerkranken und Reconvalescenten von schweren Erkrankungen, bei mit organischen Gehirnleiden und mit Neurosen (insbesonders schlimmeren Formen der Cerebrasthenie) Behafteten dürfen wir dagegen nicht unterlassen, Direktiven be- züglich der Dauer und Art der geselligen Unterhaltung zu geben, wenn Avir solche überhaupt für zulässig erachten. Ein kurzer Be- such einer dem Kranken sympathischen Person, welche ihre Stimme zu beherrschen weiss, kann einen sehr erfreulichen Einfluss äussern, während eine geräuschvolle oder zu lange ausgedehnte Unterhaltung unangenehme Zufälle herbeiführt. Es giebt Menschen, mit Avelchen sozusagen Beruhigung und Heiterkeit in das Krankenzimmer tritt, und andere, welche schon durch ihre Stimme und ihre Gesticulationen die Kranken aufregen. Manchen Leidenden ist es eine Erleichte- rung, wenn sie sich Freunden oder Verwandten gegenüber über ihren Zustand aussprechen können, andere wollen an denselben gar nicht erinnert werden; immer ist darauf zu sehen, dass die Unter- haltung im Krankenzimmer und bei sonstigem Verkehr mit dem Leidenden, wenn es irgendwie thunlich ist, die Aufmerksamkeit desselben von seinem Zustande ablenkt.
Bei Kranken, welchen wir einen gewissen geselligen Verkehr gestatten dürfen, können meist auch die verschiedenen Spiele (Karten, Domino etc.) zu Zerstreuungszwecken Verwerthung Anden. Wir haben nur darauf zu sehen, dass die Dauer des Spieles der geistigen Leistungsfähigkeit des Leidenden entspricht und die Höhe des Einsatzes keinen Anlass zu schädlichen Gemüthserresunaen bildet.
Ein Zerstreuungsmittel, Avelches häuflg in ungeeigneten Fällen und zum Schaden der Leidenden in Anwendung gezogen Avird,
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Reisen, Ausflüge.
sind Reisen. Nur bei einer bescbriinkten Anzahl von Kranken dürfen wir von den zerstreuenden Wirkungen des Reisens Vortbeil erwarten. Am häufigsten nehmen in ihrem Beruf überanstrengte Neurasthenisclie und Melancholische mit und ohne ärztliche Ver- ordnung zu diesem Mittel ihre Zuflucht. Bei Neurasthenischen, deren psychische und geistige Leistungsfähigkeit erheblich reduzirt ist, wird jedoch durch die Anstrengungen und die Unruhe des Reisens und die Fülle und den stetigen Wechsel neuer Eindrücke der Nerv enzustand gewöhnlich verschlimmert; Melancholische anderer- seits finden in dem Umstande, dass ihr Leiden sie unfähig macht, den neuen Eindrücken ein Interesse entgegenzubringen und sich dadurch aus der Verstimmung herauszureissen, nur eine weitere Quelle der peinlichsten seelischen Erregungen. Nur bei leichten und insbesonders bei hypochondrischen Verstimmungszuständen und bei noch nicht lange bestehenden Neurasthenien, bei welchen sich die Erschöpfung w^esentlich auf gewisse funktionelle Gebiete des Gehirns beschränkt und die Leistungsfähigkeit des Nervensystems im Allgemeinen noch keine erhebliche Herabsetzung erfaliren hat, können wir Reisen gestatten oder selbst empfehlen; passende Ge- sellschaft trägt namentlich bei Verstimmungszuständen sehr zu einer günstigen Wirkung des Reisens bei, unpassende kann dessen Erfolg sehr beeinträchtigen^).
Bei kürzeren Bahnausflügen und Fusstouren ist eine Ueber- reizung durch den Wechsel neuer Eindrücke im Allgemeinen kaum zu befürchten. Leidende, wmlche einen lebhaften Sinn für die Reize der Natur haben und deren Zustand Excursionen gestattet, finden in solchen eine äusserst wirksame Zerstreuung und Anreg- ung, welche in vielen Fällen einen nachhaltigen günstigen Einfluss äussert, und auch derjenige, dessen Neigungen mehr materiellen Genüssen zugewendet sind, kann durch Ausflüge dahin gebracht werden, dass er den Herrlichkeiten der Natur gegenüber die Last seines Zustandes weniger empfindet.
1) Reisen können auch auf anderem Wege als durch Zerst|i;euung bei Nervenleiden Nutzen bringen. So kommt bei längeren Seereisen — die von englischen und einzelnen deutschen Aerzten bei inveterirten neurasthenischen Zuständen sehr empfohlen -werden — der Einfluss der Seeluft wesentlich in Betracht; daneben mag auch die geistige Ausspannung und die Monotonie der Umgebung eine gewisse Rolle spielen.
Naturgenüsse. 109
Der Genuss, welchen die Betrachtung der Natur und die Be- schäftigung mit derselben zu bereiten vermag, schliesst für Leidende mit einigermassen empfänglicbem Gemüthe, abgesehen von seiner zerstreuenden Wirkung, noch eine Heilkraft von nicht zu unter- schätzender Bedeutung in sich. Bei Patienten, welche durch ihren Zustand längere Zeit an das Zimmer gefesselt waren oder durch ihren Beruf einen grossen Theil des Tages in enge Bäume gebannt sind, wird mit Recht allgemein darauf gesehen, dass sie möglichst viel im Grünen, aussex’halb des Häuserbereiches oder in Anlagen im Stadtbezirke sich ergehen oder auch Spazierfahrten unternehmen. Neben dem Genüsse der frischen Luft spielen hier die heilsamen Eindrücke, mit welchen die Natur das Gemüth erfüllt, eine wesent- liche Rolle. Wegen des förderlichen Einflusses auf das Gemüth, welchen Naturschönheiten überall ausüben, können wir auch bei der Auswahl von Bädern, Luftkurorten und Anstalten Lage und Umgebung des Ortes nicht ganz ausser Betracht lassen. Die An- sprüche und der Geschmack der Einzelnen in Bezug auf Natur- genüsse sind jedoch sehr verschieden. Für den Städter, dessen Blick beständig durch des Grünes entbehrende Strassen mit hohen Gebäuden eingeengt ist, kann eine Wanderung durch Wiesenge- lände, wobei das Auge über weite, grüne Flächen mit da und dort eingestreuten Ortschaften streift , oder durch einen Wald mit schattig sich dahinziehenden Pfaden ein wahres Labsal bilden. Ganz neue eigenartige Landschaftsbilder und Scenerien, in welchen uns neben der Schönheit auch die Majestät der Natur entgegen- tritt, sind jedoch in besonderem Maasse geeignet, den Menschen aus seinen gewohnten Gedanken heraus zu heben, sein Herz zu erleichtern und sein Sinnen zu erweitern. Das Vergnügen, welches uns der Anblick einer lieblichen Flusslandschaft mit burggekrönten Höhenzügen bereitet, der Zauber, mit welchem uns der tiefblaue, von majestätischen Bergesriesen eingerahmte Gebirgssee gefangen nimmt, das Gefühl des Staunens und der Ehrfurcht, welches in uns bei der Wanderung durch eine Klamm die zum Theil seltsam geformten und himmelanstrebenden Felsmassen und das in unheim- licher Tiefe dahintosende Gewässer, oder am Meerestrande die ungeheuren Wassermassen mit ihrer unaufhörlichen Bewegung, ihrem Wechsel von schaumgekrönten Wellenbergen und Wellen-
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Einfluss der Umgebung, Krankenzimmer.
tliälern erregen, die andachtsvolle Bewunderung, zu welcher uns das Bild hinreisst , das auf einem Bergesgipfel im Alpengebiete vor unserem Auge sich entrollt, vor und um uns die hintereinander sich aufthürmenden , so mannigfach geformten und gegliederten Bergesketten mit ihren zum Theil in ewigem Schnee und Eis prangenden Häuptern , in der Tiefe die in verschiedenartigen Windungen sich dahinziehenden Einschnitte der Thäler mit ihren Flussläufen und mit wie Miniaturgebilde aussehenden Ortschaften und Kirchthürmen, — alles dies kann auf das Fühlen und Denken der meisten Leidenden nicht ohne förderliche Nachwirkung bleiben. „Die Natur“, bemerkt Feuchtersieben, „denkt lauter grosse Gedanken, und die des Menschen, indem er ihnen nachsinnt, lernen sich ausdehnen und werden den ihrigen ähnlich. Das kleine Ich lernt sich als Atom begreifen, und wird doch, mitten im Anschauen der Unendlichkeit, seines Daseins froh, da es die Harmonie des Ganzen gewahr wird“.
Von grösster Bedeutung für die Psyche des Kranken sind die von der Umgebung desselben ausgehenden Einflüsse ; Besserung und Heilung eines Leidenden kann durch dieselben ebensowohl gefördert als erschwert und selbst unmöglich gemacht werden. Unser Augenmerk muss daher diesen Einflüssen stetig zugewendet und unser Bestreben darauf gerichtet sein, sie in einer unseren thera- peutischen Intentionen entsprechenden Weise zu gestalten. Bei Patienten, welche bettlägerig oder an das Zimmer gefesselt sind, ist schon die Beschaffenheit des Raumes, in welchem sie sich vor- herrschend aufhalten müssen, des eigentlichen Krankenzimmers, für die Psyche nicht gleichgiltig. Ein grosses, helles, luftiges Zimmer mit der Aussicht in das Grüne macht jedenfalls auf das Gemüth eines Leidenden einen ungleich angenehmeren, eine gute Stimmung förderlicheren Eindruck als ein enges, dumpfes, dem Lichte wenig zugängliches Gemach, von welchem aus nur die kahlen Mauern gegenüber liegender Gebäulichkeiten zu erblicken sind. Wir dürfen daher nicht zugeben, dass der Kranke in ein solches Zimmer verbannt wird oder sich selbst verbannt, wenn ihm bessere Räumlichkeiten zur Verfügung stehen. Sehr geräusch- volle Lage ist für ein Ki’ankenzimmer im Allgemeinen nicht zu empfehlen; viele Patienten wünschen aber auch nicht zu viel Ruhe
Krankenzimmer, Vorhalten der Pflogepersonen. 111
in ihrer Umgebung, namentlich Kranke, Avelche längere Zeit bett- lägerig waren, haben das Beclürfniss, von ihrem Zimmer aus wieder in das Getriebe der Strasse zu sehen; der Hausarrest, zu welchem sie ihr Zustand verurtheilt, wird ihnen dadurch erträglicher, ihre Absonderung von der Menge gesunder, thätiger Menschen minder fühlbar gemacht. Der Arzt wird immer gut thun, diesem Be- dürfnisse Eechnung zu tragen, wenn der Zustand des Patienten es irgend erlaubt. Auch die Ausstattung des Krankenzimmers (oder Wohnzimmers des Kranken) ist nicht ganz ohne Bedeutung. Helle Vorhänge und helle Tapete, einige Blumenstöcke, an den Wänden ein gewisser Bilderschmuck , grösste Sairberkeit und Ordnung im Zimmer bleiben selten ohne günstige Wirkung auf das Gemüth des Leidenden, und ein Strauss, von einer geliebten oder befreundeten Persönlichkeit gespendet, leistet oft grössere Dienste als ein Glas Medizin.
Das Verhalten, welches wir im Interesse der psychischen Behandlung seitens der näheren Umgebung des Patienten und ins- besonders seitens der Pflegepersonen, sie mögen Familienmitglieder oder Fremde sein, beanspruchen müssen, ist mit wenigen Sätzen festzustellen, die Durchführung der im einzelnen Falle nöthigen Weisungen gestaltet sich jedoch oft sehr schwierig, und mitunter wird dieselbe durch den Charakter oder die Intelligenzstufe der betreffenden Personen oder andere Umstände auch ganz und gar verhindert. Die Umgebung soll dem Kranken vor allem durch ihr eigenes Thun und Lassen keine schädlichen Gemüthserregungen ver- ursachen, sie soll ihm weder durch Vernachlässigung, liebloses oder gar rohes Benehmen, noch durch Uebereifer Aerger oder Kummer bereiten, sie soll ihm nicht durch aufgeregtes, ängstliches Gebühren oder überflüssige und übertriebene Bemitleidung Besorg- nisse einflössen, in ihm nicht durch unpassende Aeusserungen schäd- liche Vorstellungen bez. seines Zustandes oder einzelner bei ihm vor- handener Symptome erwecken, auch schädliche Aufregungen des Kranken von anderer Seite her möglichst hintan zu halten trachten. Sie soll (ferner die ärztlichen Intentionen auch direkt unterstützen, indem sie in dem Kranken das Vertrauen zu seinem Arzte und dessen Verordnungen hebt und festigt, die Hoffnung auf Besserung und Genesung nährt, nachtheilige Vorstellungen bekämpft, und
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Einfluss der woitereu Umgebung, des Milieus.
jede Gelegenheit wahrnimmt, dem Leidenden Freude zu bereiten oder ihn von trüben Gedanken abzulenken, seinen Muth zu beleben und seine Ausdauer zu fördern.
Auch die weitere Umgebung des Leidenden, das Milieu, in welchem derselbe lebt, darf nicht als für seinen Zustand oder die Wirkung bei ihm angewandter Mittel belanglos betrachtet werden. Es giebt Orte, an welchen eine gewisse Suggestivatmosphäre zu Gunsten gewisser Behandlungsmethoden vorhanden ist ; Beispiele in dieser Bichtung bilden Wörishofen bez. der Kneipp’schen Wasser- kur und Nancy bez. der hypnotischen Behandlung. In Bädern, Anstalten und selbst im Wartezimmer der Aerzte erweist sich der Verkehr mit Patienten, welche mit ihrem Kurerfolg sehr zufrieden sind und denselben rühmen, als ein förderlicher suggestiver Faktor, der Umgang mit skeptischen, nöi’gelnden, mit der Behandlung un- zufriedenen Personen dagegen unter Umständen als nachtheiliger Suggestiveinfluss. Nachtheilig wirken auch im Allgemeinen und ganz besonders bei Nervenleiden allzu gedehnte Unterhaltimgen der Patienten über ihren Zustand und gegenseitiges Vorklagen. Der Umgang mit sehr ängstlichen hypochondrischen Personen zieht bei den meisten Kranken ungünstige Folgen nach sich, für manche Nervöse ist er geradezu verderblich. Sehr mit Eecht ist man in den Wasser- und Nerven -Heilanstalten bestrebt, die Patienten davon abzuhalten, dass sie sich bei dem Verkehr unter- einander mit ihren Leiden beschäftigen; doch ist dieses Bemühen aus leicht begreiflichen Gründen von beschränktem Erfolge und der Vorwurf, den man gegen die Anstaltsbehandlung geltend macht, dass dieselbe den Kranken zu sehr Gelegenheit giebt, sich durch die Erzählung ihrer Leidensgeschichten und Vorklagen gegenseitig psychisch zu infiziren und aufzuregen, daher keineswegs ganz un- begründet. Manche sehr suggestible und ängstliche Kranke eignen sich daher auch für Anstaltsbehandlung durchaus nicht. •
Machen wir die Wahrnehmung, dass das Verhalten der LUn- gebung eines Kranken nicht den Anforderungen entspricht, welche wir an dieselbe stellen müssen, dass durch dieselbe der Kranke geschädigt und eine erfolgreiche Behandlung desselben verhindert wird und können wir durch Belehrung und Mahnungen eine wesent- liche Aenderung dieser Sachlage nicht herbeiführen, so müssen
Isolirung des Kranken.
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wir natürlich trachten, diesem Missstande, soweit dies möglich ist, abzuhelfen. Es kann dies dadurch geschehen, dass wir den Ver- kehr des Leidenden mit seiner bisherigen Umgebung (Familienan- gehörigen etc.) gänzlich untersagen, diesen auch keinen Zutritt zu den Krankenräumen gestatten und die Pflege Personen übertragen, welche dem Patienten ganz fremd sind oder wenigstens bisher nicht um ihn waren. Piese Art der Isolirung in der Häuslichkeit findet namentlich bei Schwerkranken Anwendimg, ihre strikte Durch- fühnmg bereitet jedoch oft erhebliche Schwierigkeiten. Bei Kranken, deren Zustand und äussere Verhältnisse eine Entfernung aus der Häuslichkeit gestatten, kommt vorzugsweise eine andere Art der Isolirung, die Abtrennung des Patienten von seiner Umgebung durch Aenderung seines Aufenthaltsortes oder wenigstens seines Logements, in Betracht. Diese Maassnahme kann auch durch andere Umstände als ungeeignetes Verhalten der Umgebung wünschenswerth oder nothwendig gemacht werden. Viele Kranke finden, so lange sie zu Hause weilen, nicht die Ruhe, welche ihr Zustand erheischt; Männer können sich oft mit dem besten Willen den Anstrengungen und Aufregungen ihres Berufes, Frauen den Obliegenheiten ihrer Wirthschaft und der Kinderpflege nicht ge- nügend entziehen. Manche Kranke zeigen, während sie es im Ver- kehre mit Fremden nicht an Selbstbeherrschung imd selbst an Liebenswürdigkeit mangeln lassen, ihren Familienangehörigen gegen- über eine Gereiztheit und Unverträglichkeit, welche zu fortwähren- den Reibereien und Aufregimgen führt ; andere (namentlich psycho- pathisch belastete Hysterische) quälen ihre Angehörigen durch maasslose Ansprüche und gerathen ausser sich, wenn ihre oft bizarren imd thörichten Wünsche nicht befriedigt werden. In allen diesen Fällen liegt die Entfernimg der Patienten aus ihrer Häus- lichkeit sowohl im Interesse derselben als ihrer Angehörigen.
Man betrachtet heutzutage die Isolirung mit Recht als eine Maassnahme, welche für viele Nervenkranke von grösster Be- deutung ist. Bei Neurasthenischen und Hysterischen wollen ihr jedoch manche Beobachter einen unfehlbaren, fast zauberhaften Einfluss zuschreiben. Dieser bekundet sich jedoch in vielen Fällen nicht, kann sich auch nach der Natur der Dinge nicht zeigen. Wir dürfen eben nicht übersehen, dass durch die Versetzung der
Löwenfeld, Psychotherapie. g
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Isolirung des Kiauken.
Kranken in eine neue Umgebung man dieselben nur räumlich, nicht geistig von ihrer Familie abtrennt und die seelischen Quellen ihrer Leiden nicht ohne Weiteres zum Schwinden gebracht werden. Die Sorgen, Kümmernisse und anderen Gemüthsbelastungen, welche in der Lebenslage der Ki-anken, ihren Familienverhältnissen oder Be- ziehungen zu einzelnen Personen und früheren Erlebnissen begründet sind, nehmen dieselben ungeschmälert mit, wohin wir sie auch ver- setzen, und zu diesen schädigenden psychischen Momenten können unter Umständen durch die Entfernung von der Familie neue hinzu- gefügt werden, Sorgen um das Ergehen der zu Hause befindlichen Angehörigen, quälende Sehnsucht nach diesen, Entbehrung eines liebgewordenen Umganges. Auch die materiellen Opfer, welche die Pflege der Kranken ausserhalb ihrer Häuslichkeit erheischt, bilden in vielen Fällen einen sehr zu berücksichtigenden Umstand. Wir haben daher allen Grund, in jedem einzelnen Falle bei der Frage der Isolirung das Pro und Contra in Betracht zu ziehen und, wenn wir die Maassnahme für angezeigt erachten, auch den Modus derselben, der im vorliegenden Falle den angestrebten Zweck am besten erfüllt, sorgfältig zu erwägen.
Wir können die Isolirung in verschiedenen Modifikationen und Abstufungen anwenden. In vielen Fällen handelt es sich nur darum, die Kranken den Schädlichkeiten des häuslichen oder beruflichen Lebens zu entziehen; dies lässt sich durch einen Be- such bei an einem anderen Orte wohnenden Verwandten, eine Reise, einen Land- oder Gebirgsaufenthalt etc. erreichen; voll- ständige Trennung von den Familienmitgliedern ist dabei nicht immer nothwendig, mitunter sogar nicht einmal wünschenswert!! : ängstliche und hypochondrische Kranke bedürfen einer Gesellschaft und sie finden oft eine für sie völlig geeignete unter ihren nächsten Angehörigen. Der Verkehr mit Fremden bedarf in diesen Fällen in der Regel keiner Einschränkung. Mitunter ist neben der Ent- fernung aus der Häuslichkeit noch die vollständige Aufhebung des persönlichen Contakts mit den Familienmitgliedern erforderlich, weil diese sämmtlich mehr oder minder einen ungünstigen Einfluss auf den Kranken ausüben. Der Verkehr mit anderen Personen kann dagegen unbehindert bleiben. In einer weiteren Reihe von Fällen endlich muss auch der Verkehr mit Fremden ausgeschlossen
Isolirung, geistige Ruhe.
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werden. Die Kranken werden in einem Zimmer untergel)racht, üu welchem ausser dem Arzte und der gewählten PHegeperson Niemand Zutritt hat. Diese strenge Art der Isolirung wird ins- besonders bei der Mitchell-Pl ay fair'schen Mastkur und zwar hier in Verbindung mit Bettruhe und anderen Heilfaktoren in Ge- brauch gezogen. Dass dieses Verfahren geeignet ist, bedeutende und sehr heilsame Wirkungen auf die Psyche der Leidenden aus- zuüben, unterliegt keinem Zweifel. Sie werden aus der Umgebung, die mit ihrem Leiden sozusagen verwachsen war, unter ganz neue Verhältnisse, in eine Atmosphäre der Ruhe und Ordnung gebracht; sie können hier weder durch ein Uebermaass von Theilnahme, noch durch Rücksichtslosigkeiten gemüthlich alterirt werden ; auch jene so häufige Form der Selbstquälerei durch den Gedanken, lieben Angehörigen Kummer und Mühe zu bereiten, kommt hier in Wegfall, Klagen und Bedenken gegen die ärztlichen Verord- nungen finden kein Echo, keine Unterstützung mehr bei der Um- gebung; hiedurch wird dem Kranken manche schmerzliche Ge- müthsbewegung erspart und die Fügsamkeit gegenüber den ärzt- lichen Verordnungen wesentlich erleichtert.
Zu dieser absoluten Isolirung besteht, wenn dieselbe auch durchaus nicht selten geübt werden mag, jedoch nur in wenigen Fällen eine ausreichende Veranlassung. Wenn Avir auch alle Ver- wandten des Kranken als gefährliche oder bedenkliche Elemente fern halten müssen, so können wir noch immer ab und zu kurze Besuche von A^erständigen Freunden oder guten Bekannten gestatten; solche sind oft für den Gemüthszustand der Leidenden von sehr vortheilhafter Wirkung. Mit der Isolirung ist ein weiterer wichtiger psychischer Heilfaktor enge verknüpft, die geistige Ruhe; diese lässt eine geAvisse Dosirung, ähnlich Avie die Isolirung zu. Viele Kranke erlangen das Maass geistiger Ruhe, dessen sie bedürfen, schon dadurch, dass sie sich der beruflichen oder gewohnten häus- lichen Beschäftigung enthalten; bei anderen ist dies ungenügend, sie müssen überhaupt auf jede ernstere und anhaltende geistige Beschäftigung verzichten, und bei Krankheitszuständen, in Avelchen die geistige Leistungsfähigkeit hochgradig herabgesetzt ist, gehen die Anforderungen, Avelche wir bez. geistiger Ruhe zu stellen haben, noch viel weiter ; Avir müssen hier auch diejenigen geistigen
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Geistige Ruhe.
Tlultigkeiten , welche man gewöhnlich nicht als Anstrengung be- trachtet und desshalb als Erholungs- und Eerstreuungsmittel be- nützt, einschränken oder ganz untersagen, dabei zum Theil auch für möglichste Abhaltung von Sinnesreizen Sorge tragen. Hiebei dürfen wir jedoch nicht ausser Acht lassen, dass das Maass wirk- licher geistiger Kühe, welches wir durch Isolirung und Verbot von Beschäftigung und Zerstreuungen erzielen, nicht immer das gleiche ist, dass es nicht in unserer Macht steht, Intensität und Art der geistigen Thätigkeit eines Kranken nach Belieben zu ändern. Der Hypochondrische, den wir zu absoluter Unthätigkeit anhalten, kann nicht verhindert werden, sich in Grübeleien über seinen Zustand zu ergehen, die an ihren Kindern hängende Mutter, sich wegen dieser Sorgen zu machen und sich in Sehnsucht nach denselben zu verzehren, der von Schicksalsschlägen Verfolgte, sich über seine Lebensgestaltung den Kopf zu zerbrechen. Die ganz schablonen- mässige Anwendung von Isolirung und Ruhe, wie sie namentlich bei den Mastkuren öfters geschieht, ist daher nicht nur zwecklos, sondern unter Umständen auch schädlich. Das Maass und die Art geistiger Ruhe, die wir im einzelnen Fall auferlegen, muss sich nicht nur nach dem vorhandenen Krankheitszustande, sondern auch nach der Individualität des Patienten richten. Da schädliche Gedanken durch vollständige Unthätigkeit nicht verhindert und nicht gebannt werden, müssen wir, wenn eine Neigung zu solchen sich bemerklich macht, selbst bei schweren Erschöpfungszuständen des Nervensystems gewisse Zerstreuungen, etwas Lektüre, kurze Besuche, Spiele und dergleichen gestatten, während wir in anderen Fällen dieser Art, in welchen eine solche Neigung nicht besteht, diese Concession nicht zu machen brauchen. Sehr wesentlich kommen auch der Thätigkeitstrieb, sowie die geistigen Bedürfnisse und Gewohnheiten der Leidenden in Betracht. Manche Menschen fühlen sich schon unglücklich, wenn sie ihre gewohnte Thätigkeit einschränken müssen, ein Leben ohne jede Beschäftigung erscheint ihnen geradezu unerträglich; andere hinwiederum linden sich ohne Schwierigkeit zum Aufgeben jeder Thätigkeit bereit und die Be- schäftigungslosigkeit verursacht ihnen eher angenehme als bittere Gefühle. Wenn wir den Kranken, welcher in der Beschäftigung sein Lebenselement findet, ohne ganz zwingende Gründe zu voll-
Geistige Ruhe, Eheschliessung.
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ständiger Unthätigkeit veranlassen, so haben wir zu gewärtigen, dass ihm durch die Alteration hierüber vielmehr geschadet wird als durch Zulassung einer beschränkten passenden Thätigkeit. Für den Grossstädter, welcher an den Lärm der Strassen, an grösseren geselligen Verkehr und geräuschvolle Unterhaltung ge- wöhnt ist, mögen sich die Theilnahme an einer längeren Mittags- tafel, das Anhöreu von Konzerten einer Kurkapelle und der Verkehr mit einer grösseren Anzahl von Personen an einem Badeorte nicht als Störungen der für ihn erforderlichen Ruhe, sondern als an- genehme Zerstreuungen geltend machen, während von dem an ruhige Umgebung gewöhnten und der Geselligkeit abholden Leidenden regeres Badeleben und der Zwang zu irgend welchem Verkehr an einem Kurorte als die Ruhe beeinträchtigende Umstände empfunden werden. Letzterer isolirt sich so weit als möglich, um seinem Ruhebedürfnisse zu genügen, ersterer findet in der Isolirung und Ruhe, die ihm z. B. ein langweiliger Badeort aufnöthigt, keinen Vortheil, sondern einen seinen Gemüthszustand ungünstig beein- flussenden Faktor.
Die nachtheiligen Wirkungen, welche die geistige Isolirung in Folge Fehlens passender Gesellschaft oder von Beschäftigungs- mangel bei manchem Leidenden nach sich zieht, können unter Umständen uns veranlassen, die Eheschliessung als psychisches Heilmittel zu empfehlen. Man hat früher, so lange man die Hysterie noch lediglich als eine virginum et viduarum affectio betrachtete, d. h. von geschlechtlicher Nichtbefriedigung ableitete, die Ehe als wichtigstes Heilmittel für diese Erla’ankung angesehen, eine An- schauung, die bezüglich der hysterischen Virgines et viduae noch heute manche Anhänger hat und mitunter auch auf Neurasthenische übertragen wird. Es lässt sich auch nicht in Abrede stellen, dass bei manchen Hysterischen und Neurasthenischen die Verheirathung eine vortheilhafte Veränderung in dem Gesammtbefinden herbei- führt. Diese günstigen Wirkungen lassen sich jedoch nicht lediglich dem geschlechtlichen Verkehr zuschreiben, sie hängen zum grossen Theil von psychischen Einflüssen ab, die im ehelichen Leben zur Geltung kommen; als solche kommen in Betracht: die Annehm- lichkeiten einer geordneten Häuslichkeit, die Ablenkung der Auf- merksamkeit von dem eigenen Zustande zum Theil durch die
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Eheschliessung als psychisches Heilmittel.
häusliclien PHichten und Sorgen, zum Theil durch den geselligen Verkehr der Gatten untereinander, die Befriedigung, die besonders bei Frauen aus dem Bewusstsein entspringt, eine Stütze für das Leben gefunden zu haben, endlich die Freuden, welche Kinder bereiten.
Alle diese Vortheile können jedoch die hysterische Disposition nicht tilgen und liefern daher auch keine Gewähr gegen die Wiederkehr (oder das Fortbestehen) hysterischer Zufälle nach der Verheirathung. Wir müssen uns daher bei Hysterischen darauf beschränken, unseren Rath bezüglich der Zulässigkeit oder Nütz- lichkeit einer Verheirathung im gegebenen Fall zu ertheilen, wenn derselbe verlangt wird, dagegen von direkter Empfehlung der Ehe als Heilmittel absehen. Eine solche erscheint uns nur bei jenen hypochondrischen Neurasthenischen gerechtfertigt, deren Ge- müthszustand offenbar durch geistige Isolirung oder Beschäftigungs- mangel bedingt und unterhalten wird; bei solchen erweist sich die Ehe mit einer verständigen, nicht allzu sinnlich angelegten Person gewöhnlich entschieden vortheilhaft ; bei der ärztlichen Empfehlung ist hier das Hauptgewicht auf die geistige Gemein- schaft mit einer Persönlichkeit zu legen, welche durch Eigenschaften des Gemüthes und Verstandes befähigt ist, auf die geistige Ver- fassung des Patienten einen günstigen Einfluss auszuüben.
B. Besondere psycho-tlierapeutisclie Verfaliren.
I. Psychische Gymnastik.
Unter psychischer Gymnastik im therapeutischen Sinne ver- stehen wir eine Hebung gewisser geistiger Thätigkeiten, welche dahin zielt, die Leistungsfähigkeit der Psyche auf dem betreflenden funktionellen Gebiete zu erhöhen und dadurch die Bekämpfung gewisser krankhafter Erscheinungen durch psychische Einwirkungen zu erleichtern oder zu ermöglichen. In erster Linie kommt hier
1) Bei den Männern kommt gewöhnlich die geistige Isolirung, hei weib- lichen Personen der Mangel einer ausreichenden Beschäftigung und eines eigent- lichen Lebenszweckes als schädigendes Moment in Betracht.
Willensgymnastik.
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in Betracht und zweifellos von grösster therapeutischer Trag- weite ist:
I. Die Willensgymnastik.
Unser Wollen äussert sich, wie wir bereits gesehen haben, im Wesentlichen in zwei Formen, einer anregenden, bahnenden (aktiven) und einer hemmenden regulirenden ; beide Arten der Willensbethätigung können sowohl nach aussen hin, als im Bereiche unserer geistigen Thätigkeiten sich kund geben. Die aktive Seite der Willensthätigkeit wird dadurch geübt, gekräftigt und zu weiterer Entwicklung gebracht, dass wir den Kranken in Situationen bringen, in welchen er gewisse willkürliche Handlungen ausführen, sohin ein gewisses Maass von aktivem Willen aufwenden muss. In erster Linie sind hier systematische Leibesübungen zu verAverthen. Bei Willensschwächen und auch körperlich nicht leistungsfähigen Patienten können wir durch successive Steigerung der Anforderungen in Bezug auf Muskelanstrengung und Dauer der Uebung neben der Kräftigung der Muskeln und neben der Mehrung der Leistungs- fähigkeit der motorischen Centren und Bahnen eine entschiedene Kräftigung des Willens erzielen, namentlich wenn wir darauf achten, dass die verlangten Bewegungen mit Präzision, rasch und mit vollem Kraftaufwande ausgeführt werden. Jede Bewegung erheischt einen ihrer Kraft entsprechenden Willensimpuls; je schAvieriger die Leistung ist, die wir verlangen, und je mehr der Einfluss der Ermüdung sich geltend macht, um so grössere Willensanspannung ist erforder- lich. Neben den Leibesübungen können auch körperliche Be- schäftigungen anderer Art, indem Avir dem Patienten ein seiner Leistungsfähigkeit entsprechendes Pensum geben und dieses succes- sive steigern, mit Vortheil Anwendung finden (Gartenarbeit, Holz- spalten, bei Frauen Beschäftigung im Haushalte, Handarbeiten etc.) ; auch die GeAvöhnung an Frühaufstehen und Easchsichankleiden, an regelmässige tägliche BeAvegung im Freien, an pünktliches Ein- nehmen der Mahlzeiten und Einhaitön der für die Beschäftisuns und Ruhe bestimmten Zeit, überhaupt geordnete Lebensführung ist von nicht zu unterschätzendem Einflüsse. Bei dem Kranken, Avelcher dazu angehalten Avird, seine Willenskraft bei Leibesübungen und anderen Beschäftigungen, sowie zur Durchführung einer streng
120 Willensgyinnastik.
geregelten Lebensweise in energischer Weise in Anspruch zu nehmen, wird das Wollen auch in anderen Richtungen erleichtert und ge- kräftigt ; er sieht durch seine Thätigkeit ein, was er leisten kann, und gewinnt dadurch an Muth, Selbstvertrauen und Entschluss- fähigkeit.
Wenn wir einem unangenehmen oder peinlichen Eindrücke ausgesetzt sind, so zielt die natürliche Reaktion der psychischen (cortikalen) und subcortikalen Centren dahin, den lästigen Reiz zu entfernen oder uns demselben zu entziehen. Aeussere und innere Veranlassungen, Rücksicht auf unser eigenes Interesse oder die Interessen Anderer nöthigen uns jedoch oft, dem unangenehmen Eindrücke Stand zu halten, also die natürliche Reaktion unserer Centren zu hemmen. Auch müssen wir so manche aggressive mo- torische Erregung, welche von unseren Trieben, Wünschen und Bedürfnissen ausgeht, durch unseren Willen niederhalten und unterdrücken. Für die systematische Uebung der ungemein wich- tigen und beständig in Anspruch genommenen hemmenden Willens- funktionen — die Willenshemmungsgymnastik — stehen uns jedoch erheblich weniger Mittel zu Gebote als für die aktive Willensgymnastik, wenn wir im Bereich des mit unseren Anschauungen von Humanität und Schicklichkeit Vereinbaren bleiben wollen. Die Zeit ist vorüber, in welcher körperliche Züch- tigungen als ein zulässiges Medicament bei manchen ICrankheits- zuständen erachtet wurden. Wir sind in der Hauptsache auf die Verwerthung der Hydrotherapie angewiesen. Kalte Abreibungen und Douchen kommen in erster Linie in Betracht, aber auch kühle Halbbäder und Vollbäder können unseren Zwecken dienen. Es ist für viele Personen schon eine Leistung, morgens um 6 Uhr sich dem warmen Bette zu entreissen, noch grösser aber die That. sich unmittelbar aus der Bettwärme kommend mit einem feuchten kalten Laken umhüllen zu lassen. Der erste Eindruck, welchen dieser hervorruft, ist kein angenehmer, der Kranke weiss dies und muss eine gewisse Willenskraft aufwenden, um trotzdem die un- angenehme Procedur über sich ergehen zu lassen. Die Gewöhnung, sich dieser und ähnlichen, in den ersten Momenten der Einwirkung unangenehmen hydriatischen Proceduren zu unterziehen, befähigt den Leidenden, auch unangenehmen Eindrücken anderer Art besser
Willensgymnastik.
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Stand zu halten, erhöht sein Selbstvertrauen, kräftigt sein hem- mendes Willensvermögen überhaupt. In vielen Fällen muss die hemmende Willensthätigkeit zur Bekämpfung krankhafter oder abnorm gesteigerter Affekte herangezogen werden. Der Kranke, welcher ein Spielball seiner Gemüthsbewegungen ist, muss lernen, seinen Willen zu gebrauchen^ um diese im Zaum zu halten, i. e. Selbstbeherrschupg zu üben. Diese Art von Willensgymnastik stellt unleugbar die grössten Anforderungen an den Kranken und er- heischt auch seitens des Arztes viel Geduld und Umsicht. Haben wir es nur mit krankhaft gesteigerter gemüthlicher Erregbarkeit zu thun, einer Neigung bei unbedeutenden Anlässen sich maass- los zu ärgern, zu sorgen, ängstigen oder mit Vorwürfen zu quälen, so müssen mr die Kranken über den Schaden, welchen sie sich auf diesem Wege zufügen, belehren und energisch zur Bethätigung ihres Willens, gegenüber dieser Neigung mahnen. Der Patient, welcher sich dahin gebracht hat, einige Male, wenn auch nur mit Mühe, eine aufsteigende mächtige Zornregung zu unterdrücken, wird später derartige Anwandlungen leichter und immer leichter niederhalten und im Laufe der Zeit seine Zornmüthigkeit zum grössten Theile abstreifen. Ebenso verhält es sich mit der krank- haften Aengstlichkeit und der abnormen Inclination zu anderen Gemüthsbewegungen. Bei der Bekämpfung dieser Neigungen haben wir zwei Umstände besonders im Auge zu behalten. 1. Der Kranke muss dazu angehalten werden, durch den vorhandenen Affekt sich zu keiner Handlung oder Unterlassung, die er nicht auch sonst für gerechtfertigt erachten würde, verleiten zu lassen, überhaupt dem Affekte keinen Einfluss auf sein Thun zu gestatten. Dies er- heischt in der Eegel anfänglich einen sehr bedeutenden Aufwand von Willensenergie, welcher aber mit der Wiederholung mehr imd mehr sich verringert; je grösser der Drang, sich des Affektes in ii’gend einer Weise zu entäussern, um so grösser der moralische Erfolg, welchen die Selbstüberwindung dem Kranken bringt. Die Thatsache, dass dem Willen der Sieg über den Affekt gelang, er- höht bei demselben mächtig das Selb.stbewusstsein und das Ver- trauen in die eigene Willenskraft. 2. Die Hintanhaltung von Affekt- handlungen und die Unterdrückung von Affekten wird dadurch wesentlich erleichtert, dass der Kranke seine Gedanken von dem
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Willensgymnastik
Gegenstände, welcher sein Gemüth erregt, ablenkt und anderem zu- wendet, resp. sich in anderer Richtung beschäftigt. Hiedurch wird offenbar ein Theil der gesteigerten centralen Erregung, welche mit dem Affekte einhergeht, in sozusagen neutrale Bahnen über- gelenkt, es wird das Niveau der centralen Erregung herabgesetzt. Man kann seinen Zorn, seinen Aerger durch Toben, Schimpfreden und dergleichen entladen, seinen Schmerz durch Jammern und Weinen erleichtern; allein auch durch jede die Aufmerksamkeit von dem affekterzeugenden Umstande abziehende geistige oder körperliche Thätigkeit lässt sich Zorn und Aerger kühlen, der Schmerz lindern. Wird es dem Leidenden anfänglich auch schwer,
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sehr schwer, diesen Weg zur Entladung und damit zur Beherrsch- ung seiner Affekte zu wählen, durch Uebung seiner Willensthätigkeit in dieser Richtung wird auch diese Leistung leichter und leichter imd der Gewinn, welcher dadurch erzielt wird, ist in mehrfacher Hin- sicht von grosser Bedeutung. Wir sehen sehr oft, dass Kranke dadurch, dass sie sich ihren Affekten widerstandslos hingehen, nicht nur sich selbst die grössten Unannehmlichkeiten bereiten, sondern auch ihrer Umgebung das Leben erschweren und verbittern, mitunter sogar Leib und Leben derselben gefährden. Eine Neu- rasthenische meiner Beobachtung versuchte im Zorn, die brennende Petroleumlampe nach ihrem Mann zu werfen, glücklicher Weise gelang es dem Manne, dies zu verhindern, eine andere schlägt zu ihrem eigenen grossen Leidwesen ihre Kinder im Zorne blutig, ein neurasthenischer Herr wirft im Zorne nach seiner Frau und seinen Kindern mit allem, was ihm unter die Hände kommt. In allen diesen Fällen handelt es sich durchaus nicht um von Haus aus rohe, zu Gewaltthätigkeiten geneigte, sondern nur um unter dem Einflüsse krankhaft gesteigerter Emotivität stehende Personen. Gegen diese Emotivität kann der Wille mit entschiedenem Erfolge aufgeboten werden. Den von pathologischen Zuständen abhängigen Zwangsaffekten gegenüber besitzt der Wille nicht die Macht, die ihm den normalen oder nur krankhaft gesteigerten, aber äusser- lich motivirten Affekten gegenüber zukommt. Wir dürfen dess- halb jedoch keineswegs auf die Heranziehung der Willens- kraft des Patienten bei der Bekämpfung der Zwangsaffekte verzichten. Systematische Willensgymnastik leistet auch bei die-
Willensgymnastik-
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sen, wie wir an späterer Stelle sehen werden, sehr werthvolle Dienste.
Aehnlich wie den Affekten gegenüber muss die Willensgymnastik auch bei schlimmen und krankhaften Neigungen und Gewohn- heiten (Missbrauch geistiger Getränke, übermässigem Rauchen, Ona- nie, Neigung zu sexuellen Ex.cessen etc.) gehandhabt werden.
Die Willensgymnastik muss sich in vielen Fällen endlich auch auf die Richtung der Vorstellens, die Ablenkung desselben von schädlichen Bahnen, i. e. die richtige Zucht der Gedanken er- strecken. Der Verlauf unseres Vorstellens ist innerhalb gewisser Grenzen unserem Willen unterworfen. Wm können unseren Ge- dankengang auf ein gewisses Ziel durch unseren Willen richten und einem Abschweifen von den nach diesem Ziele führenden Pfaden durch unseren Willen entgegenwirken. Bei Kranken wird häufig das Denken durch Affekte, Stimmungen, Triebe oder üble Gewohn- heiten in ungebührlicher Weise beeinfiusst und vorherrschend in eine Richtung gelenkt, welche wir als nachtheilig für den Gesammt- zustand oder hinsichtlich einzelner vorhandener Symptome erachten müssen. Der Hypochondrische grübelt fortwährend über seinen Zustand und dessen mögliche Weiterentwicklung, der durch Schick- salsschläge traurig Verstimmte ergieht sich oft einem Brüten über die Quellen und Folgen seines Unglückes und quält sich mit nutz- losen Vorwürfen, hei dem an übermässiger geschlechtlicher Erregt- heit Leidenden zeigen die Gedanken beständig eine Neigung, auf das Sexuelle abzuschweifen und sich mit lasciven Gegenständen zu beschäftigen (Gedankenonanie) ^). Bei anderen (namentlich weib- lichen) Leidenden begegnen wir einem Hange zur Träumerei, zum Sichversenken in ein rein phantastisches Gedankenleben; hiedurch werden die Betreffenden nicht nur der Wirklichkeit und ihren Anforderungen entrückt, sondern auch das Auftreten nervöser (hysterischer) Störungen bei denselben begünstigt.
In allen diesen und ähnlichen Fällen müssen wir die Kranken anspornen, alle Kraft ihres Willens aufzubieten, um ihren Gedanken
*) Man beobachtet diese Gedankenunzucht vorzugsweise bei solchen, welche manuelle Masturpation getrieben oder in Venere excedirt haben ; sie kommt jedoch mitunter auch als primäre, von jedem sexuellen Abusus unab- hängige psychische Anomalie vor.
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Intellektuelle Gymnastik.
eine passendere, ihrem pliysischen und psychischen Wohle förder- lichere Richtung zu geben ; doch genügen hiebei blosse Mahnungen gewühnlicli nicht; wir müssen auch Anleitungen zu geistiger oder körperlicher Beschäftigung geben, welche geeignet ist, die Gedanken auf erspriesslichere Wege zu leiten. Auch Zwangsvorstellungen und Autosuggestionen gegenüber ist oft eine gewisse Willensgymnastik erforderlich, auf welche wir bei der Besprechung der speciellen Psychotherapie eingehen werden.
II. Intellektuelle Gymnastik.
Für die Zwecke der psychischen Behandlung muss neben der Willensgymnastik, deren verschiedene Richtungen wir im Vor- stehenden kennen gelernt haben, in einer Reihe von Fällen eine intellektuelle Gymnastik angewandt w'erden.
Kranke, deren geistige Arbeitskraft längere Zeit in Folge ihres Leidens herabgesetzt war und die ihre gewohnte berufliche oder sonstige Thätigkeit wieder aufzunehmen geneigt sind, müssen wir durch systematische Uebungen hiezu befähigen. Wir dürfen nie zugeben, dass ein Beamter, ein Kaufmann, ein Lehrer, der längere Zeit sich jeder geistigen Anstrengung enthalten musste, ohne jede Vorbereitung seine Berufsgeschäfte in vollem Umfange wieder auf- nimmt. Ruhe trägt ja zweifellos dimch ihren restaurirenden Ein- fluss auf das Nervensystem sehr viel zur Hebung gesunkener x\.r- beitskraft bei, Ruhe allein kann dieselbe jedoch nur bis zu einer gewissen Grenze fördern, dann tritt wieder die Uebung in ihr Recht. Wir müssen daher den in Frage stehenden Leidenden ein gewisses Pensum geben, das ihrer momentanen Leistungsfähigkeit entspricht und dieses allmählich steigern, wenn wir sehen, dass die verlangte Leistung ohne Nachtheil prästirt wurde. Anfänglich wird man in den meisten Fällen auf Lektüre sich beschränken müssen, später können je nach den Neigungen und Kenntnissen des Patienten schwierigere Beschäftigungen, wie Sprach- oder Geschichts- studien, berufliche Arbeiten etc. herangezogen werden. Durch diese Trainirung kann der Kranke allmählich so weit gebracht werden, dass er den Anforderungen seines Berufes wfleder in vollem Maasse zu entsprechen im Stande ist.
Suggestionsgymnastik.
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Als „Suggestionsgymnastik“ hat vor einigen .Jahren Ijehmann (Oynhausen) folgendes Verfahren für die Behandlung gelähmter Muskeln be- schrieben: „Ich sitze z. B. vor einem von Hemiplegie getroffenen Patienten, dessen gelähmte rechte Hand in meiner linken ruht. Nun fordere ich den Patienten auf, den gelähmten Daumen, den ich zwischen Zeigefinger und Daumen meiner rechten Hand halte, zu abduziren. Sein zwar fruchtloses Be- mühen kennzeichnet sich deutlich, indem die geforderte Bewegung mit dem linken, gesunden Daumen andeutungsweise vom Patienten — unwillkürlich und imbewusst — ausgefUhrt wird. Der nach rechts eingesetzte Willensreiz des Patienten findet verlegte Bahnen, auf denen er nicht fortlaufen kann. Aber der Reiz, den man sich als Bewegung vorstellen kann, wird, für die beabsich- tigte Richtung gehemmt, nach der wegsamen, analogen Nervenbahn der ge- sunden Körperhälfte weiterschreiten und sich an dem entsprechenden Muskel äussern. Nur schwach, andeutungsweise erfolgt diese Aeusserung, gleichsam auf einem Umweg und indirekt zu Stande gekommen, aber deutlich wahrnehm- bar. Freilich ist dies nicht ausnahmslos, jedoch häufig und in den meisten Fällen wahrzunehmen.
Während nach einigen Sekunden Abwartens diese indirekte Reizäusserung sich vollzieht, bewirke ich mit meinen Fingern die gewollte Abduktion des ge- lähmten Daumens, so gewissermassen, dass es dem Patienten scheint, er habe selbst die Bewegung ausgefühi-t. Nach einer kleinen Pause wiederhole ich diesen selben Vorgang, und zwar mit je einer Pause 2 — 5 mal. Dann geschieht dieselbe Uebung gegenüber dem Extensor, Flexor, Opponens, feimer den Muskeln am Ballen des kleinen Fingers, ebenso gegenüber den anderen kleinen Handmuskeln, den Interossei u. s. w., alsdann gegenüber den Streckern und Beugern der Finger, des Handgelenks, den Pronatoren uud Supinatoren, Flexoren und Extensoren des Vorderarms, der Hebung des Humerus u. s. w. In gleicher Weise übe ich die gelähmten Muskeln der Unterextremität, die Extensoren und Flexoren der Zehen etc., diejenigen an der vorderen und hinteren Fläche des Unterschenkels, sowie dessen Strecker, Beuger und Adduktoren, endlich die Beuger und Strecker des Oberschenkels; die Rollmuskeln desselben werden durch passive Bewegungen in Thätigkeit gesetzt. Die Behandlung der Unter- extremität geschieht, während der Patient im Bette oder auf dem Sopha, theils in Rücken-, theils in Bauchlage sich befindet.
Lehmann glaubt in fünf Fällen von Hemiplegie ohne hochgradige Con- traktur durch dieses Verfahren Erfolge erzielt zu haben. Weitere Mittheilungen liegen darüber nicht vor.
II. Siiggestivbeliandluiig:.
A. Suggestivbehandlung im Wachzustände.
In das Gebiet der Suggestivbehandlung fällt jedes Ver- fahren, welches darauf hinzielt, einen gegebenen krankhaften Zu- stand oder eine einzelne Krankheitserscheinung dadurch zu be- seitigen, dass bei dem Patienten die Vorstellung — Suggestion —
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Suggestivbeliandlung im Wachen.
der Heilung, des Schwindens des betreffenden Zustandes oder Syniptomes hervorgerufen wird. Diese Art von Therapie ist ur- alt und zweifellos in früheren Jahrhunderten in viel grösserem Umfange als in der Jetztzeit geübt worden, allerdings zumeist, ohne dass die Aerzte eine Ahnung von dem wirklichen Sachverhalte hatten. Erst in den letzten Decennien sind wir durch das Studium der hypnotischen Phänomen und die dadurch gewonnene Kenntniss von dem mächtigen Einflüsse, welchen Vorstellungen auf das Ent- stehen und Schwinden von Krankheitserscheinungen äussern, dahin gelangt, diese therapeutische Methode in zielbewusster Weise zu verwerthen und auch einigermassen die Rolle zu würdigen, welche die Suggestion überhaupt in unserer Therapie spielt.
Die Suggestivbehandlung kann sowohl im gewöhnlichen wachen Zustande des Kranken als in einem artificiell erzeugten psychischen Zustande, der Hypnose, vorgenommen werden. Wir werden uns hier zunächst mit der Suggestivbehandlung im Wachen beschäftigen.
Die Vorstellung der Heilung, des Schwindens einer vorhan- denen Krankheitserscheinung kann auf verschiedene Weise bei dem zu Behandelnden erweckt (demselben suggerirt) werden.
a) Durch das blosse Wort, die mündliche Versicherung, dass die betreffende Störung nicht mehr vorhanden ist, oder durch die Ankündigung, dass dieselbe innerhalb einer gewissen Zeit ver- schwinden werde oder müsse, in manchen Fällen auch durch Be- fehle, welche zu einer bis dahin für unmöglich gehaltenen Leist- ung auffordern. Die angeführten psychischen Einwirkungen lassen sich, wenn bei dem Patienten der erforderliche Grad von Gläubig- keit — Suggestibilität — vorhanden ist, insbesonders bei einer Reihe neurasthenischer und hysteiüscher Zufälle mit Erfolg ver- werthen. So ist es mir z. B. öfters gelungen, topophobische Keu- rasthenische , welche längere Zeit schon nicht mehr allein auszu- gehen im Stande waren, durch die energische Versicherung, dass sie überall hin allein gehen könnten, und dass ihnen dabei nicht das Geringste zustossen werde, dahinzubringen, dass sie ohne An- stand wieder allein ausgehen konnten. Es ist mir ferner gelungen, intensiven Schlundkrampf, welcher das Schlucken verhinderte, durch die energische Versicherung : „Sie können schlucken“, hysterischen Trismus durch die Versicherung: „Sie können den i\Iund öffnen“
Suggestivbehandliing im Wachen, Befelilsform der Heilsuggestion. 127
wenigstens zeitweilig zu beseitigen, ebenso fand icli die energische Versicherung : „Sie können“ bei manchen hysterischen Lähmungen und Schwächezuständen (hysterischer Aphonie z. B.) von Nutzen. Durch Zureden lassen sich auch die hysterischen Anfälle z. Th. beeinflussen, wie wir später des Näheren ersehen werden.
Die Ankündigung, dass eine vorhandene Störung alsbald weichen werde, hat begreiflicherweise am meisten Aussichten auf Erfolg bei Symptomen, die gewöhnlich von transitorischem Charakter sind (Schmerzen, Tremor, Zuckungen etc.). Das Schwinden einer seit längerer Zeit bestehenden Krankheitserscheinung für einen bestimmten (näheren oder entfernteren) Termin anzukündigen, ist immer eine sehr unsichere Sache und empfiehlt sich für den ärzt- lichen Praktiker wenig, wenn auch durch diesen modus procedendi in manchen Fällen (namentlich von Charlatanen) unstreitig Heil- resultate herbeigeführt worden sind. Auch die Befehlsform der Heilsuggestion ist bei länger bestehenden Leiden ein sehr unsicheres und riskirtes Vorgehen und darum wohl nur in ganz vereinzelten Fällen rathsam. Zwar ist es öfters gelungen, seit längerer Zeit bettlägerige Hysterische mit Lähmung der Beine dadurch, dass man sie ohne Weiteres aus dem Bette nahm, auf die Füsse stellte und ihnen den Befehl ertheilte, nunmehr zu gehen, von ihrer Lähmung zu befreien. Allein der Versuch, derartige Wunderkuren zu vollbringen, ist, wenn er ohne entsprechende Vorbereitung unternommen wird, nicht viel besser als ein Glückspiel. Auch der Ai’zt von grösster Autorität ist keineswegs sicher, bei dem Patien- ten sofort jenen Grad von Suggestibilität zu finden, welcher seinem Worte Erfolg verschafft. Bleibt die erwartete Wirkung aus, so büsst der Arzt gewöhnlich das Vertrauen des Patienten sogleich ein; hiemit verliert er auch die Möglichkeit, auf anderem Wege dem Patienten sich nützlich zu erweisen. Jedenfalls empfiehlt es sich daher, in derartigen Fällen den Kranken, bei welchem man mit dem Imperativ vergehen will, für die Annahme dieser Art von Heilsuggestion vorher durch geeignete psychische Einwirkungen zu präpariren, wenn auch hiedurch ein Erfolg noch keineswegs ge- sichert wird ').
1) C har cot hemerkte schon, dass man den Arzt nicht genug warnen könne, seihst hei unzweifelhaften psychischen Lähmungen die Rolle eines
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Befehlsform der Heilsuggestion.
Weniger Bedenken erheben sich gegen die Anwendung der Befehlsform der Heilsuggestion bei manchen nicht zu lange be- stehenden Störungen, auf deren Unterdrückung der Wille Einfluss hat, so bei nervösem Husten oder Aufstossen (insbesonders bei jugendlichen Individuen). Der Befehl, aufzuhören, kann hier sofort eine Unterdrückung der vermeintlich unwillkürlichen, in Wirk- lichkeit jedoch dem Willen unterworfenen Bewegungen herbeiführen. Ein Beispiel mag dies erläutern. Vor Jahren wurde ich Nachts um 1 Uhr ungefähr durch Läuten geweckt und war sehr über- rascht, als in meiner Wohnung statt eines Boten, der mich zu irgend einem Kranken rufen sollte, ein Mann erschien, der mich vor Kurzem Avegen leichter dyspeptischer BeschAverden consultirt hatte. Der Ankömmling erklärte mir, dass er nicht umhin könne, mich zu dieser nachtschlafenden Zeit zu stören, „weil er seinen Magen nicht mehr zubringen könne^h Ich errieth aus dieser Be- merkung bereits den Sachverhalt einigermassen, und nachdem eine kurze Beobachtung des Mannes mich von der Richtigkeit meiner Vermuthung überzeugt hatte, rief ich demselben in sehr energischem Tone zu: „Was soll denn dies sein; wollen Sie augenblicklich mit dem Unsinn aufhören Diese Bemerkung wirkte auf den zweifel- los wegen seines Zustandes sehr ängstlichen Mann wie ein kalter Wasserstrahl. Das vermeintlich unwillkürliche, in Wirklichkeit aber willkürliche Luftschlucken und Rülpsen, welches der Mensch fortwährend übte, hörte sofort und zwar zur grossen Ueberraschung des Betreffenden auf. Der Magen war wieder „geschlossen“ und blieb so.
Wenn wir uns fragen, wie dieser Erfolg zu erklären ist, so unterliegt es keinem Zweifel, dass die energisch und quasi diirch Ueberrumpelung in die Psyche des Patienten eingeführte und widerstandslos aufgenommene Vorstellung des Aufhörenmüssens oder Könnens den Drang zu der fraglichen Bewegung hemmte. Eine längere Darlegung des Sachverhaltes hätte wahrscheinlich eine derartige Wirkung nicht gehabt.
Die Heilsuggestion in Befehlsform kann auch sozusagen ä echeance i. e. für eine gewisse Zeit gegeben Averden, Avie folgende
Thaumaturgen zu übernehmen, da der Erfolg eines Befehles abgesehen von dem Bereiche der Hypnose nicht zu berechnen sei.
Imperative Suggestion ä 4ch6ance.
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Beobachtung zeigen wird. Ich behandelte eine Hysterische aus der Provinz, welche in Folge eines Unfalles erkrankt war, einige Zeit mit sehr wechselndem Erfolge; jedes neue Verfahren führte anfangs eine entschiedene Besserung herbei, die sich jedoch alsbald wieder verlor. Da ich die Ueberzeugung hatte, dass lediglich das psychische Verhalten der Patientin, i. e. von Zeit zu Zeit immer wieder- kehrende schädliche Vorstellungen (Zweifel und Befürchtungen wegen der Heilbarkeit ihres Leidens, Erwägungen über die möglichen Folgen desselben für die Zukunft etc.) diese Hartnäckigkeit ihres Zustandes bedingten, so erklärte ich ihr eines Tages, dass sie binnen 14 Tagen gesund werden müsse, und ich sie nach Ablauf dieser Zeit unter allen Umständen nach Hause schicken werde. Diese Er- klärung wirkte ganz wunderbar; das Leiden besserte sich von diesem Tage an ganz stetig, Kückfälle blieben aus, und die Patientin konnte nach Ablauf der angegebenen Zeit, abgesehen von einigen geringen Beschwerden, als gesund entlassen werden; sie ist auch nach den mir zugegangenen Berichten gesund geblieben. Die durch meine Erklärung bei der Patientin energisch geweckte Vor- stellung des Gesundwerdenmüssens hat hier offenbar die Heilung dadurch angebahnt, dass sie alle entgegenstehenden Vorstellungen unterdrückte und das ganze Vorstellen in eine der Gesundung förderliche Bahn lenkte.
Die Beeinflussung durch das Wort (verbale Suggestion) spielt auch, wie wir später sehen werden, eine grosse Rolle bei der in den Glaubens- (oder Gebet-) Heilanstalten der Schweiz, Englands und anderer Länder geübten Behandlung.
Die Beseitigung von Krankheitserscheinungen durch rein ver- bale Heilsuggestion im wachen Zustande setzt einen Grad von Gläubigkeit voraus, welchen wir bei nicht sehr vielen Menschen finden. In der Mehrzahl der Fälle ruft diese Suggestion eine Reilie von Gegenvorstellungen hervor, durch welche deren Annahme und Wirksamkeit verhindert wird. Desshalb sind wir zumeist genöthigt, die Vorstellung der Heilung durch ein associatives Vehikel in den geistigen Organismus des Kranken einzuführen, ein Vehikel, welches das Haften und Unbekämpftbleiben dieser Vorstellung in gewissem Maasse sichert oder Avenigstens erwarten lässt. Es ge- schieht dies, indem wir Mittel in Anwendung ziehen, welche den
Löwen feld , Psyohothorapio. o
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Larvirto Suggestion.
Kranken allgemein als Heilmittel bekannt sind oder im speziellen Falle als solclie betrachtet werden. Das benützte Mittel braucht durch seine chemischen oder physikalischen Eigenschaften keine Wirl vung auf das zu bekämpfende Symptom auszuüben, seine Be- schaffenheit ist überhaupt nebensächlich, sofern es nur geeignet ist, bei dem Kranken die Erwartung einer Heilwirkung hervor- zurufen, resp. die in dieser Richtung gegebene ärztliche Suggestion zu unterstützen (larvirte, maskirte, materielle Suggestion). Es kann daher auch ein zufällig und nicht in therapeutischer Ab- sicht angewandtes Mittel unter Umständen einen Heilerfolg herbei- führen. So erzählt Sobefnheim von einem mit Zungenlähmung behafteten Kranken, dessen Arzt nach vielen vergeblichen Bemüh- ungen, die Lähmung zu beseitigen, ein neues Instrument seiner Erfindung versuchen wollte, zuvor jedoch ein Thermometer in den Mund einführte. Der Kranke glaubte, dass dieses das heilbringende Instrument, sei und war einige Minuten nach der Einführung von seiner Lähmung befreit. Da die grosse Mehrzahl der Menschen an die Heilkraft von Medikamenten glaubt, so liegt es nahe, dass sehr häufig die Heilsuggestion in medikamentöser Form gegeben wird. Die Wirkungen, welche durch Brotpillen, Aqua colorata, Milchzuckerpulver, homöopathische und Mattei’sche Tinkturen und Kügelchen in manchen Fällen erreicht werden, sind bekannt. Ebenso können äusserlich, in Form von Einreibungen, Pflastern, Ueberschlägen etc. angewandte Mittel und subcutane Injektion von Aq. dest. oder indifferenten Lösungen in geeigneten Fällen gute Dienste leisten. Natürlich kommt es auch und zwar nicht selten vor, dass Aerzte in dem Glauben an die physiologische Wirksamkeit eines Mittels dasselbe darreichen, während dasselbe in den be- treffenden Fällen, wenn überhaupt, nur auf suggestivem Wege nützt.
Die Gruppe der physikalischen Heilmittel liefert uns ebenfalls sehr geeignete, oft sogar viel brauchbarere Vehikel für die thera- peutische Suggestion als die Apotheke. Dazu kommt in Betracht, dass viele Gebildete zu den physikalischen Agentien (den sogenannten Naturheilmitteln) mehr Vertrauen haben als zu den pharmazeutischen Präparaten. Die verschiedenen Elektrisationsmethoden, hydria- tische Prozeduren, Mineralquellbäder und Bäder mit verschiedenen Zusätzen, Magnete, Massage, Handgififfe, Suspension können je
Larvirte Suggestion.
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nach den Umständen des Falles, dem zur Verfügung stehenden Heilapparate und 'den Neigungen des Patienten in Gebrauch ge- zogen werden. Besonders ausgedehnte Verwerthung gestattet die Elektricität, weil dieselbe an den verschiedenen Körperstellen in beliebiger Intensität von der Stufe des noch nicht Fühlbaren bis zu sehr schmerzhafter Stärke sich anwenden lässt. Ich möchte jedoch nicht unterlassen, hier vor unnöthiger elektrischer Miss- handlung der Kranken, speziell allzu liberalem Gebrauche des von manchen Beobachtern besonders empfohlenen faradischen Pinsels bei nervösen Störungen zu warnen. Ich habe manche Fälle ge- sehen, in welchen durch sehr schmerzhafte Elektrisirung lediglich geschadet wurde, obwohl die Art des Leidens für eine suggestive elektrische Behandlung ganz geeignet war. Es giebt viele Kranke, welche einen Heilerfolg nur von einer Elektrisation erwarten, die deutliche Empfindungsn bei ihnen hervorruft, dagegen nur wenige, welche a priori ein besonderes Vertrauen zu sehr schmerzhaften Prozeduren haben. Jedenfalls ist aber der Arzt zumeist im Stande, den nur mässige Empfindungen hervorrufenden Prozeduren die gleiche SuggestivAvirkung zu verleihen wie den sehr unangenehmen Applikationen, so dass man thatsächlich zur Verwerthung solcher nur in wenigen Fällen genügenden Grund hat. Die statische Elektricität bietet den besonderen Vortheil, dass sie in einer dem Kranken imponirenden Weise sich an wenden lässt, ohne nennens- werthe Schmerzen zu verursachen.
Zu suggestivem Zwecke können feimer verschiedene Arten der Lokalbehandhmg (Pinselungen des Rachens z. B. bei hyste- rischem Husten, Sondeneinführung bei hysterischem Oesophagus- krampf, Magenausspülungen bei nervösen Magenbeschwerden und insbesonders bei hysterischem Erbrechen^), Gebrauch farbiger Gläser bei hysterischer Achromatopsie ^) , auch Schein-Opera-
1) Bei der Hyperemesis gravidarum, deren hysterische Natur in neuerer Zeit von Kaltenbach, Alt und Keil nachgewiesen wurde, nahmen erstere Beobachter die Magenausspülung vor und suggerirten nach dieser, dass nun- mehr alles Schädliche aus dem Magen entfernt sei und das Erbrechen auf- hören müsse. Diese Suggestion erwies sich auch als wirksam, und die Kranken erholten sich alsbald.
2) In einigen von Förd beobachteten Fällen von Hysterie mit Achrq- matopsie für Violett stellte siöh nach Durchsehen durch ein rothes Glas
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Larvirte Suggestion
tionen dienen. Dass bei der Beseitigung nervöser Beschwerden durch gynäkologische Behandlung geringfügiger Sexualleiden bei Frauen die Suggestion die Hauptrolle spielt, wird heutzutage auch von den Gynäkologen mehr und mehr anerkannt. Nach meinem Dafürhalten sind aber auch die wunderbaren Erfolge, welche manche Aerzte durch Lokalbehandlung der Pars prostat. urethrae durch Einführen medikamentöser Stäbchen oder Einspritzung von adstringirenden Lösungen etc. in dieselbe erzielt haben wollen, zum grössten Theile auf Suggestivwirkung zurückzuführen ^).
Es ist leicht verständlich, dass seitens der Aerzte die Vehikel der Heilsuggestion gewöhnlich dem Arsenal der regulären Therapie entnommen werden. Bei gläubigen (speziell religiös-gläubigen) und zum Mysticimus neigenden Gemüthern können jedoch auch dm’ch reine Phantasieheilmittel, i. e. Mittel, welche an sich keinerlei HeilweiTh besitzen und lediglich auf die Phantasie, zum Theil auch auf die religiösen Vorstellungen des Kranken wirken, Heilresultate herbeigeführt werden. In diese Kategorie gehören: die Amulette, die Perkin’schen Traktoren (kleine Metallplatten), die sogenannten^) Heilmystikartikel, Lourdeswasser, geweihte Gele, Reliquien, die ver- schiedenartigsten Sympathiemittel und allem Anscheine nach auch die von Burq in die Praxis eingeführte „externe Metallotherapie“. Durch alle diese Mittel sind schon Krankheitserscheinungen besei- tigt worden, welche anderen, anscheinend rationellen therapeuti- tischen Einwirkungen getrotzt hatten.
Die Wichtigkeit der larvirten Suggestivtherapie für die all- tägliche ärztliche Praxis veranlasst uns hier noch einige Be- merkungen über dieselbe anzufügen. Je grösser das Vertrauen, welches der Patient dem Arzte entgegenbringt, und je grösser
während mehrerer Minuten die Empfindung füi' Violett wieder ein. Zugleich erfuhr die centrale Sehschärfe eine Besserung, und das Gesichtsfeld zeigte eine Erweiterung.
') Vgl. Löwenfeld, Nervöse Störungen sexuellen Ursprungs, p. 169.
’i) Während der Abfassung dieser Schrift ging mir von einem Leipziger Verleger eine kleine Schrift über Heilmystikartikel und deren Gebrauch zu. Nach derselben soll ein kleiner runder Spiegel in der Hand verborgen getragen (noch besser ein Spiegel in jeder Hand) bei Aengstlichkeit, Schwindel, nervösem Zittern, Trübsinn etc., ein Spiegelwürfel bei allerlei Kopfleideu grosse Dienste leisten. Das Verzeichniss führt eine Anzahl derartiger , Heilartikel“ auf, deren Gebrauch , Heilmystikärzten“ empfohlen wird.
Larvirte Suggestion.
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dessen Gläubigkeit im Allgemeinen ist, um so einfachere Mittel genügen zur Erzielung eines Heilerfolges. So habe ich bei hysteri- schen Kindei’n wiederholt heftige Schmerzanfälle, gegen welche verschiedene Medikamente vergeblich angewendet worden waren, durch kalte Waschungen der betreffenden Theile zu unterdrücken vermocht. Bei Erwachsenen würde man mit einem derartigen Verfahren wohl nür sehr selten reüssiren. Der Arzt, der über- haupt irgend ein Mittel zu suggestivem Zwecke verwendet, darf bei einigermassen verständigen Personen in keiner Weise merken lassen, dass er die Art und Gebrauchsweise desselben für gleich- gütig hält. Je eingehender und präciser die Vorschrift für die Anwendung des gewählten Mittels gestaltet wird, um so bedeu- tendere Suggestivwirkung ist zu erwarten. Der Arzt thut auch immer gut, wenn er darauf achtet, dass die Beschaffenheit des gewählten Mittels und dessen Applikationsweise eine leicht ver- ständliche Beziehung zu dem zu beseitigenden Symptome zeigt, so dass der Patient kein besonderes Sacrificium intel- lectus zu leisten hat, um an eine Heilwirkung zu glauben, vielmehr die Vorstellung der Heilung in ihm durch das Mittel an sich schon, unabhängig von der ärztlichen Suggestion, erweckt wird. Das Tragen eines Amuletts als Mittel gegen Schlaflosigkeit zu empfehlen, dürfte nur bei einer sehr beschränkten Kranken zu riskiren sein und Erfolg haben, während die Darreichung eines indifferenten Pulvers, dessen Inhalt der Patient nicht controlliren kann, auch bei intelligenten Personen den vermissten Schlaf herbeiführen kann. Die hysterische Anurie ist öfters durch Pillen aus Mica panis mit entsprechender Suggestion behoben worden; solche leisten auch bei nervösem Husten, Schmerzen und Krämpfen nicht selten gute Dienste ; bei hysterischen Lähmungen und Anästhesien > wird man dagegen meist mit Pillen viel schwerer zu einem Resultate gelangen als mit Elektrisation und Massage, welche Proceduren örtlich auf den funktionsgestörten Theil einwirken.
Soweit es sich um innerlich zu nehmende Mittel handelt, ist die Verordnung lediglich indifferenter Substanzen für die Zwecke der Suggestivbehandlung nicht immer rathsam und durchführbar. Bekanntlich haben viele Kranke und insbesonders Nervenleidende
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Larvirte Suggestion.
eine Neigung, vom Arzte gewisse Aufschlüsse über die Art der verordneten Mittel zu verlangen und die Recepte zu studiren. Wollte der Arzt hier jede Aufklärung verweigern, so würde er doch nicht verhindern können, dass sich der Patient solche auf anderem Wege (z. B. durch den Apotheker) verschafft. Um etwai- gem Misstrauen bezüglich der Wirksamkeit der gegebenen Verord- nungen vorzuheugen, empfiehlt es sich daher häufig, statt ganz indifferenter Substanzen sehr geringe, selbst ganz minimale Dosen von Mitteln zu verschreiben, welche auf rein chemischem Wege nur in grösserer Alenge die im betreffenden Falle erforderliche Wirkung herbeiführen könnten, oder Mittel, durch welche im besten Falle nur eine Erleichterung, keine Beseitigung der betreffenden Beschwerden ohne Mitwirkung der Suggestion zu erreichen wäre, so bei Schlafmangel V2 — 1 Decigr. Sulfonal oder Trional, einige Esslöffel Bromwasser, wenige Tropfen Baldriantinktur oder Baldrianthee , bei Schmerzen minimale Gaben von Antipyrin, Phenacetin u. dgh, bei Obstipation einige Tropfen Sagradawein oder einen Theelöffel voll Tinct. Rhei. aq., bei Schwächezuständen einige Tropfen von Fellow’s Syrup. Bei dieser Art von Sugge- stionsbehandlung wird die von dem Arzte ausgehende Suggestion durch die Vorstellungen, welche der Patient von der Heilkraft des verordneten Mittels hat, sehr wesentlich unterstützt und das dar- gereichte Mittel kann, soweit dasselbe überhaupt auf somatischem Wege eine Wirkung äussert, nur die intendirte psychische fördern. Ich habe durch Durchlesen vieler mir von Patienten übergebener Recepte von Aerzten, welche dieselben früher behandelten, die Ueberzeugung gewonnen, dass das in Frage stehende Suggestiv- verfahren von den Praktikern häufig ohne Absicht geübt wird. Es werden nämlich sehr oft differente Arzeneistoff’e in ganz unzu- länglichen Dosen verschrieben, die aber zum Theil doch nicht unwirksam bleiben, weil die Suggestion ersetzt, Avas an der Stoff- gabe fehlt.
Dass der larvirten Suggestion, in welcher Form dieselbe auch angewendet werden mag, eine verbale beigefügt wii’d, istklurchaus nicht immer nothwendig, mitunter nicht einmal wünschenswerth. Wenn wir es dem Patienten überlassen, sich selbst die betreffende Suggestion zu geben, seine Phantasie in dieser Richtung frei walten
Hypnose.
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lassen und nur durcli unser Vorgehen die erwünschten Suggestionen ihm nahe legen, so kommt es gelegentlich vor, dass derselbe in seinen Autosuggestionen über das hinausgeht, was wir ihm verbal suggeriren könnten oder würden. So sonderbar die ungünstigen Wirkungen sind, welche manche Patienten in Folge sogenannter Idiosynkrasien, in Wirklichkeit von Autosuggestionen, beim Ge- brauche ganz harmloser Arzeneien und Proceduren an sich be- obachten, ebenso sonderbar und unerwartet sind auch die günstigen Wirkungen, von welchen andere berichten. Namentlich in Bezug auf Appetit, Schlaf und das Allgemeinbefinden äussern die Auto- suggestionen der Patienten mitunter einen förderlichen Einfluss, welchen man nach der Art des angewandten Mittels nicht er- warten kann.
B. Hypnose und hypnotische Suggestivbehandlung.
In der Beurtheilung der Hypnose nach ihrer psychologischen und therapeutischen Seite machen sich noch gegenwärtig annähernd dieselben Meinungsverschiedenheiten geltend wie vor etwa einem Decennium, nachdem man angefangen hatte, sich allgemeiner mit diesem Zustande zu beschäftigen. Die Schule der Salpetriere huldigt noch jetzt wie während des Lebens ihres grossen Meisters der Anschauung, dass die Hypnose lediglich eine Aeusserungsform der Hysterie ist. „L’hypnotisme“, bemerkt Gilles de laTourette (1895), „n’est pas autre chose qu’un paroxysme hysterique, qui est provoque au lieu d’etre spontane eine Anschauung, zu welcher auch in Deutschland manche Beobachter (so insbesonders Strüm- pell) sich bekennen. Die Schule von Nancy auf der anderen Seite vertritt jetzt noch ebenso entschieden wie früher die Ansicht, dass die Hypnose mit der Hysterie nichts zu thun hat, überhaupt keinen krankhaften Zustand darstellt, und dass es sich bei der- selben lediglich um einen eigenartigen, auch bei der grössten Mehr- zahl Gesunder durch gewisse Einwirkungen hervorzurufenden psychischen Zustand handelt, der insbesonders durch erhöhte Suggestibilität charakterisirt ist^). Diese Auflassung wird gegen-
1) Oder auch um eine besondere Art des Schlafes; Forel definirt die Hypnose als den veränderten Seelenzustand des Hypnotisirten , spezieller des suggestiven Schlafes.
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Hypnose und natürlicher Schlaf.
wärtig, man kann sagen von dem Gros derjenigen getheilt, welche sich ernsthaft mit dem Studium der Hypnose oder ihrer therapeu- tischen Verwerthung befassen.
Für denjenigen, welcher ganz unbefangen an die Prüfung der Erscheinungen der Hypnose herantritt, kann es keinem Zweifel unterliegen, dass gewisse Beziehungen zwischen der Hypnose und der Hysterie obwalten^), dass aber trotzdem die Hypnose nicht als pathologischer Zustand sich betrachten lässt. Man muss sonst auch den Traumzustand während des natürlichen Schlafes als krankhaft auffassen, weil auch dieser seine Analoga im Bereiche der Hysterie hat (die Delirperiode der grande attaque und manche Formen des hysterischen Somnambulismus). Auf der anderen Seite ist man neuerdings mit Recht mehr und mehr von der Auf- fassung abgekommen, zu welcher der Gründer der Nancyer Schule sich bekannte, dass die Hypnose im Grunde identisch sei mit dem natürlichen Schlafe und sich von demselben nur durch den Um- stand unterscheide, dass der Hypnotisirte mit seinem Hypnotiseur in Rapport bleibt. Man hat auch die Bezeichnung des in Frage stehenden psychischen Zustandes als Hypnose (von vnvog Schlaf) als unpassend erklärt, doch bisher keinen entsprechenderen Namen dafür gefunden. Der hypnotische Zustand ist allerdings äusserlich dem natürlichen Schlafe sehr ähnlich; er kann auch in diesen übergehen, wenn man den Hypnotisirten sich selbst überlässt, und es ist mir und anderen gelungen, den natürlichen Schlaf in Hypnose überzuführen. Trotz alledem müssen die beiden Zustände als ver- schieden betrachtet werden; sowohl die Bedingungen ihi’es Ein- trittes als die Erscheinungen, welche sie darbieten, weichen in wichtigen Beziehungen von einander ab, was hier allerdings mit Rücksicht auf die Zwecke dieser Arbeit nicht näher dargelegt werden kann. Intelligente Personen, welche von mir hypnotisirt wurden und in der Lage waren, über die Veränderung, welche ihr Geisteszustand während der Hypnose darbot, ein Urtheil ab- zugeben, erklärten mir auf Befragen, dass sie den Zustand, in welchen sie waren, nicht als eigentlichen Schlaf anerkennen fkönn- ten. „Es ist wie ein Bann^^, bemerkte mir eine Patientin und
1) Vergl. Löwenfeld, Pathologie und Therapie der Neui’astbenie und Hysterie, p. 541.
Hypnotisirbarkeit.
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diese Auffassung scheint mir dem Kerne der Sache sehr nahe zu kommen. In der That liandelt es sich in der Hypnose um einen psychischen Zustand, in welchem das geistige Gesiclitsfeld einge- engt, die Willensfähigkeit mehr oder minder herabgesetzt und dementsprechend die Suggestibilität erhöht ist. Will man diesen Zustand als hypnotischen oder suggestiven Schlaf bezeichnen, so lässt sich dagegen nichts einwenden; man darf nur die Verschieden- heit von dem natürlichen Schlafe nicht aus dem Auge verlieren.
Die Fähigkeit, in den hypnotischen Zustand versetzt zu wer- den, — die Hypnotisirbarkeit — ist nach den übereinstimmenden Angaben der Aerzte, die über grössere Erfahrung auf diesem Ge- biete verfügen (Bernheim, Liebault, Eorel, Wetterstrand u. A.) erheblich ■ verbreiteter als man früher annahm. Sie kommt der grossen Mehrzahl, wenigstens 80 — 90°/o der in entsprechen- dem Alter stehenden Personen zu. Dieses Verhältniss ist in den verschiedenen Ländern , aus welchen Berichte vorliegen (Frankreich, Deutschland, Holland, Skandinavien), so ziemlich das gleiche. Um die angegebenen Zahlen zu erreichen, ist je- doch erhebliche Hebung im Hypnotisiren erforderlich^). Sodann sind bei dem angegebenen Prozentverhältnisse auch die leich- testen Grade hypnotischer Beeinflussung eingeschlossen , bei
D Bern heim hält Jeden, der nicht wenigstens 80°/o seiner Patienten einzuschläfem im Stande ist, für ungenügend geübt. Forel und Vogt er- achten die Hypnotisirbarkeit für noch verbreiteter. Forel erklärt: „Es ist jeder geistig gesunde Mensch mehr oder weniger hypnotisirbar ; nur gewisse momentane Zustände der Psyche, d. h. der Grosshirnthätigkeit, sind es, welche die Hypnose verhindern können“; und Vogt glaubt auf Grund seiner Erfah- rungen sogar behaupten zu können, dass bei jedem geistig gesunden Menschen Somnambulismus erzielt werden kann und momentan störende Momente sich mit Geduld immer beseitigen lassen. In der That hat Vogt auch unter 119 Fällen, in welchen er die Hypnotisirung versuchte, keinen refraktären ge- funden, 117 mal erreichte er tiefere Beeinflussung und 99 mal Somnambulismus; zu den Somnambulen gehörten sämmtliche Nervengesunde, an welchen Ver- suche angestellt wurden. Eine Verallgemeinerung dieser Erfahrungen scheint mir jedoch vorerst unzulässig. Dieselben weichen zu sehr von den Beobach- tungen anderer auf hypnotischem Gebiete sehr erfahi'ener Autoren ab. So erwähnt z. B. Lloyd Tuckey, dass er unter 500 Patienten kaum mehr als 50 Somnambule fand, und man kann nicht annehinen, dass diese geringe Zahl lediglich auf Unzulänglichkeit der angewandten Hypnotisirungsmethode zurück- zuführen ist.
138 Hypnotisirbarkeit.
welchen das Individum das Bewusstsein hat, nicht geschlafen zu haben, und höchstens eine gewisse Schläfrigkeit zugiebt. In diesen Fällen ist Simulation möglich und der Nachweis des Nicht- vorhandenseins einer solchen nicht oder wenigstens nicht immer stricte zu liefern. Sicher ist, dass mit öfterer Wiederholung der hypnotisirenden Proceduren die Empfänglichkeit für dieselben häufig wächst und anfänglich ganz refraktäre Personen doch noch schliesslich in einen ausgesprochenen hypnotischen Zustand versetzt werden können. Das Geschlecht scheint auf die Hypnotisirbarkeit keinen wesentlichen Einfluss auszuüben. Das Lebensalter bedingt nur insoferne Unterschiede, als Kinder (mit Ausnahme solcher in den ersten Lebensjahren) und junge Leute im Allgemeinen leichter einzuschläfern und auch in höhere Grade des hypnotischen Schlafes (Somnambulismus) zu versetzen sind als ältere Personen. Was speziell die Hysterischen anbelangt, so finden sich unter diesen allerdings viele, die ausserordentlich leicht zu hypnotisiren und in die tiefsten Schlafzustände zu versetzen sind; allein manche der- selben (sehr aufgeregte, ängstliche Naturen insbesonders) erweisen sich schwer beeinflussbar oder selbst ganz und gar refraktär. Im Allgemeinen darf man wohl sagen, dass Leute ohne grössere gei- stige Kultur, Personen, die nicht viel zu denken pflegen und durch ihre Lebensverhältnisse an einen gewissen passiven Gehorsam ge- wöhnt sind, entschieden leichter sich hypnotisiren lassen als die Angehörigen der höheren Bildungsklassen, weil es diesen schwer fällt, sich kritischer Keflexionen zu enthalten und in den Zustand einfacher geistiger Passivität zu versetzen, welcher für den Ein- tritt der Hypnose erforderlich ist. Der zu Hypnotisirende muss einschlafen wollen oder wenigstens im Allgemeinen den guten Wil- len haben, sich den Einwirkungen seitens des Hypnotiseurs wider- standslos und ganz passiv zu unterwerfen. Die Ueberzeugung, un- empfänglich für hypnotisirende Einflüsse zu sein, ebenso Angst oder Misstrauen bezüglich des Vorzunehmenden oder der Folgen des hypnotischen Zustandes, überhaupt alle gemüthlichen Er reg- ungen, auch allzu intensive Kichtung der Aufmerksamkeit auf das Bevorstehende bilden selbst bei Individuen, die im Allgemei- nen leicht einzuschläfern sind, z. B. bei Kindern, sehr bedeutende, z. Th. selbst unüberwindliche Hindernisse. Andererseits sind Ver-
Technik des Hypiiotisirens. 139
trauen zu dem Hypnotiseur als Persönlichkeit und ein ausge- sprochener Glaube an dessen Fälligkeit zu hypnotisiren (resp. je nach der Vorstellungsweise des Einzuschläfernden der Glaube an eine besondere dem Hypnotiseur innewohnende magnetische Kraft etc.) entschieden förderliche Momente. Die Persönlichkeit des Hypnotiseurs muss daher auch heutzutage noch als ein nicht ganz zu unterschätzender Faktor erklärt werden, wenn wir auch wissen, dass es zur Herbeiführimg der Hypnose durchaus keiner von dem Hypnotiseur ausgehenden magnetischen oder vitalelektri- schen Kraft bedarf, mit deren besonderem Besitze sich die Heil- magnetiseure brüsten — ebenso auch keiner force neurique rayon- nante der modernen französischen Mesmeriker. Ein ruhiges, selbstbewusstes Auftreten, das geeignet ist, dem Einzuschläfernden Vertrauen einzuflössen, erweist sich, für den Erfolg des Hypnoti- sirungsversuches im Allgemeinen, namentlich aber bei Nerven- leidenden, die von mancherlei Bedenken erfüllt sind, von zweifel- loser Bedeutung.
Da es bei der Hypnotisirung sich um Erzielung eines dem natürlichen Schlafe in verschiedenen Beziehungen ähnlichen Zu- standes handelt, müssen auch die äusseren Verhältnisse des zu Hypnotisirenden so gestaltet werden, dass sie das Einschlafen begünstigen odar wenigstens nicht stören. Man lässt daher, nach- dem man den zu hypnotisirenden Patienten über den Vorgang auf- geklärt, ihm jede Aengstlichkeit benommen und auch für die Ent- fernung störender Einwii'kungen von Seiten der Umgebung Sorge getragen hat, denselben in völlig bequemer Lage auf einem Sopha, Fauteuil oder dergleichen Platz nehmen und ermahnt ihn, zunächst nur an das Einschlafen zu denken, resp. ein Wandern seiner Ge- danken nach anderen Richtungen möglichst zu vermeiden. Zur Herbeiführung des hypnotischen Zustandes wurden und werden zum Theil noch jetzt sehr verschiedene Proceduren benützt: An- wendung schwacher, einförmiger Sinnesreize (Fixation eines mehr oder weniger glänzenden oder auch nicht glänzenden ruhenden Gegenstandes, eines rotirenden Spiegels, Horchen bei geschlossenen Augen auf ein eintöniges Geräusch, z. B. das Ticken einer Taschen- uhr, sogenannte mesmerische Striche — Passes der Franzosen — , Einschläferung durch verbale Suggestion u. s. w. Die mesmeri-
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Technik des Hypnotisirens.
sehen Striche werden in verschiedener Weise ausgeführt. Man streicht mit den Handflächen langsam, sanft und immer in gleicher Richtung über einen Theil der Körperoberfläche, insbesondere über das Gesicht hinweg, oder auch nur über die Augengegend, oder man bewegt die Handflächen in gleicher Weise in der Nähe der Korperoberfläche. Bei der Einschläferung durch verbale Suggestion führt man dem zu Hypnotisirenden die Zustandsänderungen beim Einschlafen in möglichst plastischer Weise vor. Die grosse Mehr- zahl der hypnotisirenden Aerzte bedient sich jedoch derzeit einer kombinirten Methode, insbesondere einer Verbindung der Suggestion mit der Fixation; ich habe dieselbe ebenfalls bis vor einiger Zeit vorwaltend angewandt. Man lässt den Kranken einen oder zwei Finger (der Hand des Hypnotiseurs), einen kleinen Hufeisen- magneten oder sonstigen wenig oder nicht glänzenden kleineren Gegenstand derart fixiren, dass eine besondere Anstrengung der Augen nicht statthat, und spricht dabei ungefähr Folgendes: „Sehen Sie jetzt unverwandt meine Finger an und denken Sie dabei nur an den Schlaf. Sodann fährt man fort mit möglichst mono- toner, nicht zu lauter Stimme: „Ihre Augen fangen an zu er- müden, Ihre Lider werden schwer und immer schwerer , Sie blinzeln, Ihre Augen thränen, das Sehen wird undeutlicher, Ihre Lider senken sich mehr und mehr und fallen jetzt (alsbald) ganz zu. Sie sind schon schläfrig und die Neigung zum Schlafen nimmt stetig zu. Ihr Kopf, Ihr ganzer Körper ist müde, in Ihren Armen und Beinen tritt eine bleierne Schwere auf. Sie fühlen nichts mehr. Sie hören nur mehr undeutlich und wie von Ferne. Sie sehen nichts mehr. Die Schläfrigkeit wird stärker. Sie schlafen jetzt ein." Des öfteien ist letzteres auch der Fall. Ja es bedarf mitunter gar nicht dieser weitschweifigen Suggestionen, die Versicherung, dass der Schlaf eintreten wird, genügt, um denselben in wenigen Sekunden herbeizuführen. In zahlreichen anderen Fällen ist dagegen eine mehrfache Wiederholung der erwähnten einschläfernden Suggestionen zur Erzielung eines aus- geprägten, für therapeutiche Zwecke verwerthbaren hypüotischen Zustandes erforderlich, und in nicht wenigen Fällen lässt sich ein solcher bei den ersten Versuchen oder überhaupt nicht her- beiführen.
Technik des Hypnotisirens.
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ßernheim und Forel nehmen an, dass alle die verschiedenen in der Praxis zur Herbeiführung der Hypnose verwendeten Proceduren nur durch den einen Umstand eine hypnogene Wirksamkeit erlangen, dass sie die Vorstellung des Schlafes oder der Hypnose hei dem zu Beeinflussenden erwecken. Nach dieser Annahme ist die Unterscheidung zwischen somatischen und psychischen Einschläferungsmitteln hinfällig; es giebt im Grunde nur ein Mittel, die Hyp- nose zu erzielen, die Suggestion. Moll dagegen nimmt wenigstens für die mesmerischen Striche eine kombinirte psychisch -physische Wirksamkeit an, allerdings mit Uebei-\Viegen des psychischen Moments. Ich muss, wenn ich auch die Bernheim -Forel’sche Auffassung im Grossen und Ganzen für berechtigt erachte, doch mit Moll den mesmerischen Strichen auch eine phy- sische hypnogene Wirkung wenigstens für gewisse Fälle zuerkennen. Es ist mir gelungen, durch mesmerische Striche hysterische Schlafanfälle sowohl als den natürlichen Schlaf in Hypnose überzuführen und zwar, wie ich hier bei- fügen muss, hei Personen, welche vorher nie hypnotisirt worden waren. Ferner haben mir verschiedene Personen, bei welchen ich zum Zwecke der Hypnoti- sirung neben der verbalen Suggestion mesmerische Striche anwandte, erklärt, dass letztere die Schläfrigkeit bei ihnen entschieden steigerten. Allerdings tritt diese Wii'kung durchaus nicht constant ein.. Bechterew schreibt den einförmigen Reizen überhaupt eine direkte hypnotisirende Wirkung zu.
Gelingt es nicht, innerhalb mehrerer Minuten wenigstens eine gewisse Beeinflussung zu erreichen, so empfiehlt es sich, den Ver- such abzubrechen und erst nach einiger Zeit oder am nächsten Tage wieder aufzunehmen.
Die Wirkung der Fixation mit gleichzeitiger Suggestion von Ermüdungserscheinungen seitens der Augen ist bei verschiedenen Personen sehr verschieden. Bei manchen tritt rasches Ermüden der Lider ein, sie schliessen daher die Augen, ohne desshalb im im Uebrigen eine deutliche Beeinflussung zu zeigen. Andere hin- wiederum, namentlich Personen, welche an Anstrengungen der Augen durch ihren Beruf gewöhnt sind, können unbegrenzte Zeit fixiren, ohne dass sich eine Ermüdung der Lider bemerklich macht; das Fixiren ist hier eher ein Hinderniss als ein Förderungsmittel für die Hypnotisirung. Ich habe desshalb in neuerer Zeit in der Mehrzahl der von mir behandeltenFälle ein Verfahren angewendet, welches die Fixation entbehrlich macht und öfters bessere Resul- tate ergiebt als die Einschläferung mit Zuhilfenahme der Fixation. Die zu hypnotisirende Person nimmt auf einem Fauteuil oder Sopha mit geschlossenen Augen Platz und erhält den Auftrag, sich zunächst ruhig zu verhalten und dann während einer Anzahl von Minuten für sich (nicht laut) immerfort von 1—100 ganz langsam
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Toclinik des Hypnotisirens.
ZU zählen; dieses Zählen Avird auch noch eine kurze Zeit (etwa Va Minute) fortgesetzt, nachdem die Schlafsuggerirung begonnen hat, die iin IJebrigen in gewöhnlicher Weise, nur mit Berück- sichtigung des Umstandes, dass die Augen bereits geschlossen sind, geschieht. Bei diesem Verfahren versetzt sich der zu Hypnotisirende selbst in eine geAvisse Schläfrigkeit, Avelche die Wirksamkeit der folgenden Schlafsuggestionen Avesentlich fördert.
Bei Personen, welche sich Aviederholt bei Einschläferungsver- suchen völlig renitent erweisen, kann man mitunter durch gCAvisse Kniffe (z. B. kurzdauernde Galvanisation des Kopfes mit der Ver- sicherung, dass der Strom schlaferzeugend wirkt, Hirt) oder durch medikamentöse Einwirkungen (Inhalation einer geringen Chloroform- menge, Darreichung von Chloral oder Paraldehyd oder Morphium- einspritzung vor dem Versuche) oder auch durch ein suggestives Mittel (Aq. color.), das als Hypnotikum gereicht wird, die Em- pfänglichkeit für einschläfernde Suggestionen vermehren; ich muss jedoch gestehen, dass ich von diesen Maassnahmen im Ganzen nur wenig Erfolg gesehen habe.
Bei aller Uebereinstimmung in den Grundprinzipien weichen doch die Hypnotisirungsmethoden der Hauptvertreter der Suggestionstherapie in nicht unerheblichen Beziehungen von einander ab und variirt daher auch die Art des hypnotischen Zustandes, welchen die Einzelnen erzeugen. Wir müssen uns begnügen, hier anzufügen, wasPorel über seine Methode berichtet: „Man setzt also nach Bernheim’s Verfahren den Patienten auf den Lehnstuhl, lässt sich von ihm einige Sekunden bis eine oder höchstens zwei Minuten in die Augen schauen und erklärt ihm dabei laut und sicher, aber in monotonem Ton, es gehe bei ihm ganz famos, seine Augen seien bereits feucht, seine Lider schwer, er fühle eine angenehme Wärme in den Beinen und Armen. Dann lässt man ihn zwei Finger (Daumen und Zeigefinger) der linken Hand (des Hypnotiseurs) anschauen, die man unmerklich senkt, damit die Lider folgen. Wenn dann bald die Lider von selbst zufallen, hat man gewonnenes Spiel. Wenn nicht, so sagt man; „Schliessen Sie die Augen!“
Hierauf hebt man einen Arm und lehnt ihn an die Wand, erklärt, er sei steif. Am besten erklärt man gleich , es werde die Hand des betreffenden Armes gegen den Kopf hypnotisch angezogen, ganz unwiderstehlich. Geht es nicht, so hilft man etwas dazu, wird sehr bestimmt und intensiv im Suggeriren, suggerirt zugleich Schwinden der Gedanken, Gehorsam der Nerven, Wohlsein, Ruhe, Schlummer. Sobald man merkt, dass eine oder die andere ‘Süggestion zu wirken beginnt, so benutzt und betont man es, lässt unter Umständen den Patienten auch durch Kopfzeichen gleich darüber Auskunft geben. Jede be- jahte Suggestion ist am Anfang ein bedeutendes Activum, das man für weitere Suggestionen benutzen muss. „Sehen Sie! Es wirkt ganz gut. Sie schlummern
Therapeutische Verwertliimg der Hypnose.
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immer besser ein. Ihr Arm wird immer steifer, Sie können ihn nicht mehr hinunterbringen (der Patient versucht es mit etwas Erfolg; man hindert ihn aber daran und erklärt schnell) : Im Gegentheil, wenn Sie ihn herunterbringen wollen, geht er hinauf gegen den Kopf; sehen Sie, ich ziehe ihn immer mehr gegen den Kopf etc. etc.“
Auf die Einzelheiten des hypnotischen Zustandes kann hier nicht näher eingegangen werden. In dieser Beziehung muss ich auf die verschiedenen in den letzten Jahren erschienenen Arbeiten über Hypnotismus, vor allem auf die Werke von Bernheim, Forel und Moll verweisen.
Die therapeutische Verwerthung der Hypnose kann in ver- schiedener Weise geschehen:
a) Durch Herbeiführung des hypnotischen Zustandes allein.
Dass der Hypnose an sich ein gewisser therapeutischer Werth
zukommt, ist zwar von mancher Seite bezweifelt worden, kann jedoch nach meinen Beobachtungen und den hiemit übereinstimmen- den Erfahrungen MoH’s, Ob erstein er ’s, Binswanger’s, Benedict’s^) und Wood’s als feststehend erachtet werden. Es ist ein gewöhnliches Vorkommniss, dass die Hypnose, sofern man nicht besondere Voi’kehrungen dagegen trilft, längere Zeit ein Ge- fühl von Schläfrigkeit oder Müdigkeit hinterlässt. Bei Eeizzu- ständen des Nervensystems äussert sie eine dem natürlichen Schlafe ähnliche, entschieden beruhigende Wirkung; von dieser kann man bei Schlafmangel, manchen Formen von Kopfschmerz, psychischer Unruhe und Angszuständen mit Vortheil Gebrauch machen. Manchen Beobachtern ist es auch gelungen, durch Hypnose drohenden hy- sterischen Anfällen vorzubeugen.
b) Durch Ausnützung der mit dem hypnotischen Zustande verlmüpften erhöhten Empfänglichkeit für Suggestignen, i. e. durch suggestive Einwirkungen auf die vorhandenen Krankheitserschei- nungen. Die Anwendung der Suggestion während des hypnotischen Zustandes zur Beseitigung krankhafter Erscheinungen wurde von
1) Benedict erachtet sogar die Hypnose als das in der Regel Wirksame, die Suggestion in der Hypnose mit seltenen Ausnahmen für werthlos. Benedict steht jedoch mit dieser Anschauung ziemlich isolirt. Lloyd Tuckey anderer- seits glaubt, dass man auch in den Fällen, in welchen die Hypnose allein wirk- sam erscheint, die Heilsuggestion nicht ausschliessen könne, da der Kranke diese sich selbst geben kann.
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Li6baulfc’sche Methode,
Liebault in die ärztliche Praxis eingeführt. Nach der Metliode Liebault’s, die jetzt allgemein Anwendung findet, beginnt man, nachdem der Patient eingeschläfert ist, mit der Wegsuggerirung der Krankheitserscheinungen, d. h. man kündigt dem Patienten in nachdrücklichster Weise das Nicht Vorhandensein oder dem- nächstige Verschwinden der zu beseitigenden Krankheitssymp- tome, der Schmerzen, Krämpfe, Lähmungserscheinungen etc. an. Die suggerirte Vorstellung erweckt in der Hypnose in Folge der mehr oder minder hochgradigen Einschränkung der associativen Thätigkeit und der Verringerung des Willensvermögens keine Ge- genvorstellungen; sie bleibt daher unbeeinflusst von den hemmen- den Kräften, welche im wachen Zustande auf sie einwirken wür- den; durch diesen Umstand wird nicht nur deren Annahme und Fixirung erleichtert, sie gewinnt durch denselben auch an sinnlicher Stärke und an Fähigkeit, hemmende und bahnende Vorgänge in- tracortikal sowohl als nach der Peripherie hin auszulösen und da- durch sich zu realisiren. Die Umsetzung der Suggestion in den entsprechenden Vorgang oder Zustand ist nicht an einen tiefen hypnotischen Schlaf geknüpft. Ich habe wie andere Beobachter ganz frappante Heilerfolge in vielen Fällen erzielt, in welchen nach der Aussage und dem Verhalten der Kranken kein Schlaf, sondern höchstens eine gewisse Schläfrigkeit hervorgerufen wurde *)• Zwar erreicht in vielen Fällen die Suggestibilität im tiefen hypnotischen Schlafe eine Entwickelung, der wir bei leichteren Graden der hyp- notischen Beeinflussung nie (oder fast nie) begegnen. Allein der Grad der Suggestibilität geht mit der Tiefe des hypnotischen Schlafzustandes keineswegs immer parallel. In manchen Fällen besteht bei tiefem Schlafe mit folgender Amnesie nur eine geringe Empfänglichkeit für Suggestionen überhaupt oder wenigstens für gewisse Arten der Suggestion. Dieses Verhalten kann, wie es scheint, durch verschiedene Umstände bedingt werden. In einem Theile der Fälle nähert sich wahrscheinlich der hypnotische Zu-
1) Hirt hat in einem Vortrage, welchen er auf dem medizinischen Con- gresse in Rom hielt, sogar besonders hervorgehoben, dass die Heilresultate der von ihm geübten Suggestivbehandlung „niemals ein wirkliches Hypnoti- siren des Patienten, sondern immer nur eine suggestive Beeinflussimg mit vollständiger Ei’haltung des Bewusstseins erfordert haben.“
Suggestibilitiit in der Hypnose.
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stand sehr dem natürlichen Schlafe, so dass äussere Eindrücke nur schwer zur Perception gelangen und auch nur schwer irgend welche Reaktionen veranlassen. Das Gehix'n befindet sich in einem Zustande funktioneller Hemmung, welcher die Aufnahme oder wenigstens die Weiterverarbeitung der Suggestionen verhindert. Mitunter mag der Mangel der Suggestibilität bei tiefem Schlafe auch davon herrühren, dass die Hypnotisirten zu krank und daher unfähig sind, eine ihnen von aussen kommende Vorstellung fest zu halten und weiter zu entwickeln. „Die • erste Bedingung der Sug- gestion,“ bemerkt Pierre Jan et, „ist eine gewisse Kraft des Geistes, und gewisse Kranke sind njcht mehr suggestibel, weil sie sozusagen sich unter dem Niveau der Suggestion befinden.“ End- lich kommt auch der Umstand in Betracht, dass bei einer erheb- lichen Empfänglichkeit für belanglose oder wenigstens den vorhan- denen Krankheitszustand nicht berührende Suggestionen die Zu- gänglichkeit für therapeutische Suggestionen sehr gering sein kann, weil der Aufnahme und Fixirung dieser durch länger bestehende und in verschiedener Weise gestützte Autosuggestionen des Kran- ken wichtige Hindernisse bereitet werden.
Auf der anderen Seite ist es erklärlich, dass bei Personen, welche schon in ihrem gewöhnlichen, wachen Zustande eine über den Durchschnitt hinausgehende Suggestibilität aufweisen, es nur einer mässigen hypnotischen Beeinflussung, einer gewissen Ein- engung ihres geistigen Horizontes bedarf, um die Empfänglichkeit für Suggestionen überhaupt und damit auch für therapeutische Suggestionen beträchtlich zu steigern.
Die ärztliche Suggestion muss immer dem Verständnisse des Kranken, seiner geistigen Individualität und der speziellen Ge- staltung der zu beseitigenden Krankheitserscheinungen angepasst werden. Schwere, lange bestehende Symptome (Lähmungen z. B.) lassen sich nur schrittweise in Angriff nehmen, von einer Mehr- zahl von Beschwerden immer nur einzelne mit Erfolg bekämpfen; weder in intensiver, noch in extensiver Hinsicht darf zu viel auf einmal angestrebt werden. Die einfache Suggestion durch Worte (Verbalsuggestion) erweist sich auch nicht immer ausreichend; um ihren Einfluss zu verstärken, müssen wir nicht selten Reibungen und Streichungen der leidenden Theile zu Hilfe nehmen. Sind
I.öwenfold, Psychothorapie. JQ
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Dauer der hypnotischen Sitzung; Plrwecken.
Lähmungszustände zu beseitigen, so lässt man in der Hypnose mit den betreffenden Tlieilen Bewegungen ausfübren. Auch die Anwendung der Elektricität und indifferente Arzneien können als Unterstützungsmittel der Suggestion herangezogen werden.
Wie lange man die einzelne hypnotische Sitzung währen lassen soll, hängt im Allgemeinen von den Verhältnissen des Einzelfalles ab. Früber beschränkte man sich meist auf eine Anzahl von Minuten (10 — 15); Wetterstrand zeigte jedoch, dass es v or- theilhaft ist, die Kranken länger schlafen zu lassen. Im Allge- meinen genügt es, wenn man dieselben nach Beendigung der Sug- gestion noch ^l4 — Vä Stunde ruhen lässt. Um den eingeschläferten Kranken zu erwecken, bedarf es zumeist nur der entsprechenden Aufforderung seitens des Hypnotiseurs: „Erwachen Sie“. Wenn dies nicht genügt, lässt sich die Wirkung der Suggestion durch Anblasen des Gesichtes und ähnliche Akte verstärken.
Ein brüskes Erwecken ist jedoch gewöhnlich nicht vortheilhäft und desshalb im Allgemeinen die nöthigenfalls zu wiederholende Suggestion: „Sie werden in Bälde oder sehr bald erwachen“, vor- zuziehen, welche auch gewöhnlich ein Erwachen binnen längstens einigen Minuten zur Folge hat. Mit der Suggestion des baldigen Erwachens müssen immer andere Suggestionen verknüpft werden, durch welche das Fortbestehen gewisser Erscheinungen der hyp- notischen Beeinflussung (Müdigkeit, Schläfrigkeit) nach dem Er- wachen oder Autosuggestionen gewisser Beschwerden als Folgen der Hypnose verhindert werden. Wir sagen also: „Sie werden in Bälde erwachen und nach dem Erwachen sich ganz frei im Kopfe, auch keine Müdigkeit fühlen und (je nach dem Zustande) sich ganz wohl oder wohler als vor der Einschläferung befinden“. Das Er- wachen kann auch spontan kürzere oder längere Zeit nach der Einschläferung oder in Folge zufälliger Einwirkungen (z. B. lauter Geräusche) eintreten.
Werth der hypnotischen Therapie.
Ueber die Erfolge der hypnotischen Suggestivbehandlung liegen sehr zahlreiche Publikationen vor, welche z. Tb. von sehr ange- sehenen und zweifellos competenten Beobachtern herrühren und nur Günstiges berichten. Trotzdem divergiren noch gegenwärtig
Ansichten über den Werth der Hypnotherapie.
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die Ansichten über den Heilwerth und die Verwendbarkeit dieser Methode in den ärztlichen Kreisen in einer Weise wie bezüglich keines anderen therapeutischen Verfahrens. Wenn wir hier auf diese Meinungsverschiedenheiten etwas näher eingehen, so geschieht dies aus dem Grunde, weil der Praktiker in der Kegel nicht in der Lage ist, sich durch die gesammte hier in Betracht kommende Litteratur durchzüar beiten, um sich auf Grund derselben ein Ur- theil zu bilden, und daher die Gefahr sehr nahe liegt, dass derselbe durch zufällig in seine Hand kommende Mittheilungen, namentlich wenn diese von einer ihm autoritativ erscheinenden Seite ausgehen, zu in der einen oder anderen Richtung irrthümlichen Anschauungen verleitet wird. Wenn wir zunächst die Extreme berühren, so haben wir auf der einen Seite die Vertreter der Nancyer Schule strenger Observanz, Avelche die hypnotische Therapie zu einer der grössten medizinischen Errungenschaften unseres Jahrhunderts stempeln und dieselbe als den bei Weitem wichtigsten Zweig der Psychotherapie, als die Psychotherapie par excellence betrachten. Diesen steht die gegenwärtig wohl nicht mehr zahlreiche Gruppe jener gegenüber, welche (wie z. B. Navratil und Richter) der hypno- tischen Suggestivbehandlung keinerlei Vortheile, sondern nur schäd- liche Wirkungen zuschreiben und sie daher ganz und gar ver- werfen. Zwischen diesen beiden Parteien steht eine ansehnliche Zahl von Beobachtern, deren Ansichten z. Th. mehr nach der Seite der Nancyer, z. Th. nach der Seite ihrer extremen Gegner neigen. Manche wollen wegen der vermeintlichen Gefährlichkeit der Hypnose nur eine sehr beschränkte Verwerthung derselben zu- gestehen (so Gilles de la Tourette z. B.), andere halten dieselbe überhaupt für entbehrlich, weil sich nach ihrer Ansicht die Heil- erfolge, welche man vermittelst der Hypnose erzielt, auch auf anderem Wege erreichen lassen (Rosen hach, Strümpell); auch an solchen mangelt es nicht, welche die von Anderen berichteten Heilresultate schlankweg als zum grössten Theil auf Täuschung be- ruhend erklären: „Die Patienten fügen sich der Autorität des Arztes, wagen nicht zu widersprechen und Avenn sie ihn los sein wollen, so sagen sie ihm, sie seien gesund (Benedict)"; auf diese Art, meint der genannte Autor, sind etwa 90 °/o aller in der modernen Litteratur mitgetheilten hypnotischen Heilungen zu Stande
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Ii8 Erkliirung der vorscliiedenen Ansichten über den Werth der Hypnotherapie.
gekommen. Bei alledem scheint sich eine sachgemässere, ruhigere, von Ueberschwänglichkeit ebensowohl als von Gehässigkeit freiere Beurtheilimg der hypnotischen Thei’apie und ihrer Leistungen doch allmählich anzubahnen und namentlich in den Kreisen der Kliniker und Neurologen das Vorurtheil gegen diese Methode mehr und mehr zu weichen. Ich selbst bin anfänglich sehr skeptisch den Anpreisungen der Suggestionisten gegenüber gestanden, je mehr jedoch meine eigenen Erfahrungen auf dem Gebiete der Hypno- therapie anwuchsen, um so mehr gewann ich die Ueberzeugung, dass wir in derselben eine sehr werthvolle Bereicherung unseres Heilschatzes besitzen, wenn ich auch die Begeisterung der Nancyer keineswegs theilen kann; ich habe dieser Anschauung auch schon vor einer Keihe von Jahren anderen Ortes Ausdruck gegeben.
Die oben erwähnte Divergenz der Meinungen könnte an sich höchlichst befremden, sie wird jedoch verständlich, wenn wir be- rücksichtigen, wie die Einzelnen zu ihren Urtheilen gelangten. Für Diejenigen, welche den hypnotischen Zustand als identisch mit einem hysterischen Anfalle erachten, bedeutet Hypnotisiren artificielle Erzeugung von Hysterie; damit ist, wie man leicht begreift, der Stab über das Verfahren gebrochen. Manche Derjenigen, welche sich eine Meinung über die Hypnotherapie ge- statten, begnügen sich damit, diese oder ähnliche Auffassungen (so die Meynert’sche, dass die Hypnose lediglich einen experi- mentell erzeugten Blödsinn darstellt) gedankenlos nachzubeten ; dass diese Auffassung von anderer Seite widerlegt wurde, kommt für sie nicht in Betracht (so bei Navratil, Richter). Das ab- sprechende Verdikt Anderer ist auf die leicht erklärliche Unzu- länglichkeit ihrer eigenen Erfolge zurückzuführen. Es liegt nahe, dass nicht jeder Kliniker und nicht jeder Psychiater die Zeit findet, sich mit der Theorie der Hypnose und der Technik des Hypno- tisirens genügend vertraut zu machen. Diesen Mangel kann na- türlich die sonstige ärztliche Tüchtigkeit und Erfahrung nicht aus- gleichen, und wenn ein so ungenügend ausgerüsteter Arzt Versuche mit hypnotischer Suggestivbehandlung unternimmt oder einen noch weniger qualifizirten Assistenten zu solchen veranlasst, so können wir uns nicht wundern, dass die Resultate z. Th. recht kläglich ausfallen; diese sind jedoch nicht der Methode an sich, sondern
Krklaruug der verschiedenen Ansichten über den Werth der Hypnotherapie. 149
lediglich ihrer fehlerhaften Handhabung, dein Mangel an Sach- kenntniss des dieselbe Praktizirenden zuzuschreiben (so z. B. bei Friedrich). Was weiter die Behauptung betrifft, dass die Erfolge der hypnotischen Suggestivtherapie sich auf anderem Wege erzielen lassen, so ist dieselbe unstichhaltig und lediglich auf ungenügender Erfahrung fussend, wie wir zeigen werden. Noch weniger fundirt und von einer geradezu erstaunlichen Voreingenommenheit zeugend ist die Auffassung Benedict ’s von der grossen Mehrzahl der hypnotherapeutischen Erfolge. Dem hypnotisch Behandelten fällt es im Allgemeinen ebensowenig ein, sich für gesund zu erklären, wenn er es nicht ist, als einem in irgend einer anderen Weise Behandelten; er kann ja wegbleiben, ohne sich für gesund zu er- klären; dass gelegentlich es Vorkommen mag, dass eine Hypnotisirte unter dem Vorwände, gesund zu sein, sich weiterer Behandlung ent- zieht, kann doch nicht im Geringsten berechtigen, ^/lo der hypnotischen Heilresultate auf Schwindel seitens der Patienten zurückzuführen.
Soweit ich die Litteratur übersehen kann, ist kein Autor, welcher jahrelang mit voller Unbefangenheit und Unverdrossenheit die Hypnotherapie klinisch geprüft hat, zu einem absprechenden Urtheil über dieselbe gelangt, und keiner von Denjenigen, welche die Hypnotherapie als verwerflich oder entbehrlich bezeichnen, hat den Nachweis erbracht, dass seine Behauptungen auf ausreichende eigene Erfahrungen sich stützen. Mit allgemeinen RedeAvendungen kann in einer solchen Angelegenheit nichts entschieden werden. Mit der behaupteten Gefährlichkeit der hypnotischen Behandlung werden wir uns an späterer Stelle beschäftigen. Hier wollen Avir zunächst die Frage prüfen, ob die Hypnotherapie den übrigen Formen psy- ohischer Behandlung gegenüber irgend welche Vortheile darbietet, i. e., ob dieselbe nicht Avenigstens in einzelnen Fällen Heilresultate uns liefert, Avelche wir auf anderem Wege nicht zu erreichen ver- mögen. Zur Entscheidung dieser Frage lassen sich natürlich nur Fälle verAverthen, in Avelchen nicht ausschliesslich hypnotische Be- handlung angeAvendet Avurde.
Ich behandle ein Mädchen, Avelches an Zwangsvorstellungen in der Form der ZAveifel- und Grübelsucht leidet. Die ZAveifel beginnen schon Morgens unmittelbar nach dem Aufstehen. Die AusAvahl der Kleidungsstücke Avird hiedurch schon zu einer
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Eigene hypnotherapeutische Erfahrungen.
scliweren Aufgabe und einer Quelle vieler Aufregungen , noch schlimmer gestaltet sich die Sache beim Waschen; wie lange das- selbe auch fortgesetzt werden mag, die Zweifel bezüglich der Sauberkeit der gewaschenen Theile bleiben bestehen; dazu kommen manche andere Zwangsvorstellungen; das Waschen muss in einer gewissen Reihenfolge geschehen, einzelne Theile müssen so, andere wieder anders gewaschen werden. Aehnlich verhält es sich mit dem Kämmen etc. Der Zustand ist, wie leicht begreiflich, für die Patientin höchst peinlich; das Toilettemachen erheischt mitunter mehr als zwei Stunden, und doch ist dies nur ein Theil des Un- gemaches, welches der Patientin durch ihre Zwangsvorstellungen bereitet wird, denn bei jeder Beschäftigung werden durch die Zwangszweifel die gleichen Schwierigkeiten verursacht. Aufl'.lärung der Kranken und systematische Anleitung derselben, immer wieder- holter Appell an ihre Willenskraft bewirkt eine gewisse Erleichte- rung, das Ankleiden und Waschen geht etwas rascher vor sich; aber der Zustand erfährt keine wesentliche Veränderung. Nun wird die Patientin einer hypnotischen Behandlung unterworfen; durch entsprechende Suggestionen gelingt es alsbald, die Zwangs- vorstellungen, welche das Ankleiden etc. so erschweren, zu ver- ringern und schliesslich auch so weit zu beseitigen, dass das Toilette- machen ohne Verzögerung und Qual geschehen kann ; auch die unter Tags bei den verschiedensten Anlässen auftretenden Zweifel und Grübeleien lassen sich nach und nach bis auf ein Minimum reduziren, so dass die Patientin wieder fähig wird, sich in der gewohnten Weise zu beschäftigen.
Ueber ähnliche Erfolge bei Zwangsvorstellungen berichten Hirt, Hecker, Bechterew u. A. Dass sich das, was in den betreffenden Fällen durch hypnotische Suggestion erreicht wurde, auch auf anderem Wege hätte erzielen lassen, hiefür liegt nicht der Schatten eines Be- weises vor’).
1) Inwieweit obige Behauptung etwa mit Rücksicht auf die Freud’sche kathartische Methode eine Einschränkung verdient, hierüber siehe später. Die Autoren, welche bisher die hypnotische Behandlung für entbehrlich erachteten, konnten übrigens die kathartische Methode nicht in Rechnung ziehen, weil ihnen dieselbe noch unbekannt war.
Eigene hypnotherapeutischo Erfahrungen. 151
Nehmen wir einen anderen Fall. Eine Frau in den 50er Jahren leidet seit fast einem Jahre an der als Basophobie bezeich- neten Zwangsangst. Sie kann ohne Begleitung nicht ausgehen und bewegt sich auch in ihrer Wohnung nur an den Wänden und Mö- beln sich anhaltend umher. Reicht man ihr den kleinen Finger, so kann sie so rasch und sicher wie jeder Gesunde gehen, selbst laufen. Fordert man sie dagegen auf, allein eine kleine Strecke zu gehen, so geräth sie nach ein paar Schritten in’s Taumeln und würde ohne Unterstützung hinstürzen. Die Frau wurde schon längere Zeit mit Arzneien behandelt und elektrisirt, ohne jeden Er- folg. Aufklärung über ihren Zustand und ermuthigender Zuspruch erweist sich ohne Nutzen; dagegen gelingt es in sechs hypnotischen Sitzungen, die Patientin völlig und dauernd von ihrer Phobie zu befreien. Sie kommt zu den letzten Sitzungen schon von ihrer entfernten Wohnung ohne Begleitung zu mir.
Ein 20 jähriges Mädchen wirdinach schweren Aufregungen von hysterischen Anfällen heimgesucht, welche täglich auftreten; da- neben besteht eine ganz excessive gemüthliche Reizbarkeit, welche zu Wuthausbrüchen bei den geringfügigsten Anlässen und selbst zu Thätlichkeiten gegen ihre Angehörigen führt. Verkehr mit Fremden desshalb ganz unmöglich. Eine vierwöchentliche Behand- lung mit Bädern, Elektricität, Gebrauch von sedativen Arzneien, daneben der Sachlage entsprechende psychische Beeinflussung (energische Ermahnung zur Selbstbeherrschung etc.) haben nur einen bescheidenen Erfolg ; die Anfälle werden etwas seltener, die gemüthliche Erregbarkeit bleibt fast unverändert. Nunmehr hyp- notische Behandlung in einer kleinen Anzahl von Sitzungen mit dem Resultate, dass die Patientin von dem Tage der ersten Sitzung an nur mehr einen Anfall (und diesen in Folge zufälliger Umstände) hat und die gemüthliche Erregbarkeit sich alsbald der- art verringert, dass die Patientin nach Aussage ihrer Angehörigen eine grössere Sanftmuth zeigt ^ als vor ihrer Erkrankung. Die Patientin blieb geheilt. Der Erfolg bez. der Anfälle hätte hier vielleicht auch auf anderem Wege erzielt werden können, bezüg- lich des psychischen Verhaltens dagegen sicher nicht. — Ein ISjäh- riges Mädchen leidet seit längerer Zeit an schweren hysteroepi- leptischen Anfällen, welche regelmässig zur Zeit der Menses, welche
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Eigene hypnotherapeutisclio Erfahrungen.
sechs Tage währen, sich einstellen. Verschiedene Mittel bleiben erfolglos. Die Kranlce, welche vom Lande ist, kann nur sehr kurze Zeit in Beobachtung bleiben. Sie wird vier Mal hypnotisirt und erhält die Suggestion, dass die Periode nur drei Tage dauern und kein Anfall während derselben mehr eintreten wird; die letzte hypnotische Sitzung fand etwa 16 Tage vor dem voraussichtlichen Termin der nächsten Menstruation statt; in dieser Sitzung erhält die Patientin zugleich den Auftrag, mir nach Ablauf der Men- struation zu berichten, wie es ihr erging. Da die Patientin völlig amnestisch ist, weiss sie in ihrem wachen Zustande von diesem Aufträge nichts. Mehrere Wochen später erhalte ich von der Kranken eine briefliche Mittheilung des Inhalts, dass der Anfall während der letzten Menstruation weg geblieben sei und diese nur drei Tage gedauert habe. Der Erfolg bezüglich der Anfälle hätte auch in diesem Falle vielleicht auf anderem Wege, bezüglich der Menstruation dagegen kaum durch irgend ein anderes psycho- therapeutisches Verfahren sich herbeiführen lassen.
Ein weiterer Fall. Ein Mann in den 30 er Jahren von hysterischer Veranlagung leidet nach einer Venenentzündung an einem Beine, welche eine Anschwellung desselben hinterlassen hat, an Schmerzen an diesem, welche beim Umhergehen sich allmählich bis zum Unerträglichen steigern. Der Patient vei’lässt desshalb sechs Wochen das Zimmer nicht. Verschiedene während dieser Zeit von dem Hausarzte des Patienten angewendete Mittel, welche sämmtlich eine Suggestivwirkung hätten äussern können, beein- flussen den Zustand in keiner Weise (Massage, Einreibung etc.); Patient wird desshalb an mich zu weiterer Behandlung überwiesen. Auch die von mir neben entsprechender psychischer Beeinflussung geübte elektrische Behandlung erzielt keinen erheblichen Fort- schritt ; nun wird der Patient in der Hypnose am Bein elektrisirt, was zur Folge hat, dass derselbe alsbald weite Strecken ohne jeden Schmerz zurücklegen und seine Beschäftigung wieder auf- nehmen kann.
Eine seit vier Jahren verheirathete, etwa 30jährige Frau, leidet in Folge von früher geübter Masturbation an sehr hart- näckigem Vaginismus. Der eheliche Verkehr hat ilir nie etwas An- deres als Qualen bereitet, ^^erschiedene von gynäkologischer Seite
Eigene hypnotlienipeutische Eifahruiigen.
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angewendete Mittel hatten nur eine vorübergehende Erleichterung zur Folge. Die Kranke wird hypnotisirt und ihr Schwinden aller Beschwerden bei dein Verkehre mit ihrem Mann suggerirt. Diese Suggestion realisirt sich auch in vollem Maasse, und der Erfolg ■erweist sich auch als dauernd, doch genügt mir dies nicht. Der sexuelle Verkehr macht der Patientin nunmehr zwar keine Schmer- zen, er bereitet ihr aber auch nicht die geringste Annehmlichkeit, ihr Empfinden ist dabei ganz indifferent. Da ich es für möglich halte, dass das Fehlen jeder sexuellen Befriedigung bei der Frau einen Zusammenhang mit gewissen bei ihr bestehenden Angstzu- •ständen hat (Freud’sche Theorie), so erachte ich es für angezeigt, ihr auch die richtige Befriedigung, den Eintritt der normalen Empfindungen beim Congressus zu suggeriren. Auch diese Sug- gestion realisirt sich, allerdings ohne dass ' bezüglich der Angstzu- stände ein merklicher Erfolg eintritt. Das Kesultat bezüglich des Vaginismus in vorstehendem Falle ist gewiss schon ein sehr beachtens- werthes; dass der Erfolg bezüglich der Herbeiführung der normalen Empfindung beim Congressus auch auf anderem Wege sich hätte erzielen lassen, dürfte dagegen kaum von irgend einer Seite ernst- haft behauptet werden.
Wir ersehen aus dem Angeführten, dass die hypnotische Sug- gestivbehandlung uns unläugbar in einer Reihe von Fällen zu Resultaten verhilft, die wir durch andere uns zu Gebote stehende psychotherapeutische Einwirkungen überhaupt nicht oder wenig- stens nicht in so kurzer Zeit und so bequem erzielen können.
Hieraus darf jedoch keineswegs gefolgert werden, dass die Hypnotherapie in allen Fällen die geeignetst e und erfolgreichste Art psychischer Behandlung bil- det- Sie ist ein Zweig der Psychotherapie, ein sehr Averthvoller und auch durchaus nicht entbehrlicher, aber keineswegs von einer so überragenden Bedeut- ung, dass sie die übrigen uns zu Gebote stehenden Methoden psychischer Behandlung in den Hintergrund drängen oder gar verdrängen könnte.
Zweifellos haben wir in der hypnotischen Suggestion ein Mittel von mächtiger Wirkung auf die Centralorgane des Nerven- systems; wir können durch dieselbe gesteigerte Erregbarkeit herab-
154 Wirkungen clor hypnotischen Suggestion ; Schattenseiten der Hypnotherapie.
setzen, lleizziistände wie auch Funktionshemmungen insbesonders psychischen Ursprungs beseitigen, die vasomotorischen und trophi- schen Funktionen der peripheren Theile und die Thätigkeit der inneren Organe beeinflussen, auf dem Gebiete der Psyche Vor- stellungen aus dem Untergründe der Psyche hervorholen und in diesen zurückdrängen, Stimmungen und Affekte erregen und zum Schwinden bringen. In therapeutischer Hinsicht kommt der Sug- gestion der spezielle Vorzug zu, dass sie es uns ermöglicht, sowohl auf die vom Organe der Psyche, der Hirnrinde, aus bedingten Krankheitserscheinungen, als auch auf Störungen anderen Ur- sprunges, soferne dieselben nur auf psychischem Wege zu beein- flussen sind, isolirt einzuwirken und dieselben isolirt zu beseitigen.
Den Vorzügen, welche die Hypnotherapie unverkennbar auf- weist, stehen jedoch auch erhebliche Schattenseiten gegenüber. Zu- nächst kommt hier die beschränkte Verwerthbarkeit des Verfahrens und die von mir schon lange betonte und nun auch von anderer Seite anerkannte Unsicherheit seiner Wirkungen in Betracht. Wir sahen bereits, dass nicht jede Person zu hypnotisiren ist. Manche Kranke, bei welchen wir uns aus dem einen oder anderen Grunde von der Hypnose gute Dinge versprechen, erweisen sich ganz refraktär oder wenigstens nicht genügend beeinflussbar. Es kann aber auch die Hypnose völlig gelingen, ein Schlafzustand mit wohlausgeprägter Suggestibilität eintreten und dennoch die ange- wandte therapeutische Suggestion ganz wirkungslos bleiben. Häu- figer als die gänzlichen Misserfolge scheinen mir die lediglich tem- porären Erfolge vorzukommen. Der Kranke fühlt sich nach der Hypnose ausgezeichnet, seine Leiden sind geschwunden wie eine Fata Morgana, um jedoch schon am nächsten Morgen, oder in den nächsten Tagen wieder in der alten Stärke sich einzustellen. Nicht selten beobachtet man ferner, dass von einer Mehrzahl von Krank- heitserscheinungen nur einzelne unter der suggestiven Einwirkung weichen, die übrigen dagegen hartnäckig sich erhalten, es können auch während der hypnotischen Behandlung an Stelle der durch Suggestion beseitigten neue Symptome auftreten.
1) Siehe Löwenfeld, Die moderne Behandlung der Nervenschwäche, 2. Aufl., 1889, p. 104.
Schattenseiten der Hypnotherapie,
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Diese Unzulänglichkeit der Hypnotherapie erklärt sich aus der Art des bei derselben wirksamen Agens. Dieses ist eine ^'or- stellung, welche wir dem Kranken während der Hypnose beibrin- gen, suggeriren. Die suggerirte Vorstellung erlangt, wie wir sahen, durch das psychische Verhalten während der Hyj^nose grössere In- tensität, durch welche dieselbe befähigt wird, minder starken krankhaften Vorstellungen gegenüber sich zu behaupten und ihre Wirksamkeit voll zu entfalten oder auch solche Vorstellungen ganz zu verdrängen. Allein nicht in allen Fällen erlangt die suggerirte Vorstellung durch den hypnotischen Zustand jene Intensität, welcher sie zur Niederhaltung der krankhaften Vorstellungen bedürfte; häufig sind diese durch gemüthliche Erregungen, frühere Erleb- nisse, krankhafte Körpergefühle und die ganze Kichtung des Den- kens derart fixirt und verstärkt, dass die von aussen kommende und jeder weiteren Stütze im Vorstellen entbehrende Suggestion ihnen nicht gewachsen ist; wenn überhaupt eine Verdrängung stattfindet, wird dann durch die krankhaften Vorstellungen die Suggestion verdrängt, da auch im Streite der psychischen Elemente die grössere Kraft entscheidet. Nicht selten gelingt es der Sug- gestion zwar temporär die krankhaften Ideen zu überwältigen, dieser Erfolg ist jedoch von keiner Dauer; alsbald erlangen die krankhaften Vorstellungen durch somatisch verursachte Empfind- ungen, Einwirkungen von aussen (Gegensuggestionen Dritter) oder andere Umstände wieder eine Intensität, dass sie die Uebermacht über die Suggestion gewinnen. So kann der Erfolg einer hyp- notischen Suggestion z. B. schon dadurch beseitigt werden, dass in dem Behandelten von dritter Seite Zweifel über Wirksamkeit der hypnotischen Behandlung angeregt werden. Auch darin liegt ein Missstand der hypnotischen Therapie, dass sie den Kranken, sofern er amnestisch ist, über den Weg im Unklaren lässt, auf welchem er zu seiner Besserung oder Heilung kam. Wenn wir auf andere Weise, durch Zuspruch, Appell an den Verstand, An- spornung der Willensenergie, Beschäftigung etc., den Patienten dahin bringen eine Störung (z. B. einen Verstimmungszustand) zu überwinden, kann er diesen Weg immer wieder einschlagen, wenn sich der Zustand von neuem einstellt, wenn wir eine Störung durch hypnotische Behandlung beseitigen, bleibt ihm dagegen der Ein-
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Hypnotisch zu behandelnde Leiden.
blick in den Vorgang, welcher ihn von dersell)en befreite, vor- entlialten, er kann diesen Vorgang auch nicht selbst herbeiführen.
Wir dürfen auch die Vortheile, welche die Hypnose für die Suggestivbehandlung gegenüber dem wachen Zustande bietet, nicht überschätzen. Die Steigerung der Suggestibilität während der Hypnose erleichtert allerdings zweifellos die Annahme der thera- peutischen verbalen Suggestion. Allein diese kann nur kurze Zeit gegeben werden und ist häufig nicht im Stande, die Wiederkehr von Krankheitserscheinungen, gegen welche sie gerichtet war, zu verhindern. Die Suggestivbehandlung im Wachen lässt sich dagegen so einrichten, dass die Suggestion je nach Bedarf jeder- zeit zur Anwendung kommen und namentlich auch auf die ersten Anzeichen des zu bekämpfenden Symptoms einwirken kann. Wir gelangen daher in manchen Fällen, in welchen uns die Hypnose im Stiche lässt, mit der inaskirten Suggestion ohne Hypnose doch noch zum Ziele.
Wenn wir uns nunmehr fragen, bei welchen Krankheitszu- ständen die hypnotische Behandhmg mit Erfolg anzuwenden ist, so ergiebt eine Umschau in der Litteratur, dass die Zahl dieser Affektionen eine ausserordentlich grosse ist. Dem Praktiker ist jedoch hiemit wenig gedient; unläugbar werden von den Hyp- nosespecialisten, von welchen die grösste Mehrzahl der betreffen- den Mittheilungen in der Litteratur herrührt, viele Leiden hyp- notisch behandelt, welche auch auf anderem Wege zu beseitigen sind, einfach aus dem Grunde, weil die Patienten speciell zum Behufe hypnotischer Behandlung sich an sie wenden, ähnlich wie von den Massagespecialisten gar manches Leiden mit Massage kurirt wird, gegen welches andere Aerzte mit anderen Mitteln er- folgreich voi’gehen. Für den Praktiker handelt es sich in erster Linie darum, zu wissen, bei welchen Krankheitszuständen die hyp- notische Behandlung anderen therapeutischen Verfahren gegenüber besondere Vortheile bietet oder wenigstens unter Umständen bieten kann, in zweiter Linie erst, bei welchen Affektionen die Hypno- therajne überhau])t mit irgend welchem Erfolge sich verwenden lässt; es kann dem Arzte, welcher ein Dutzend oder mehr Mittel gegen den Muskelrheumatismus kennt, sehr wenig nützen, wenn er erfährt, dass man bei diesem Leiden auch mit hypnoti-
Hypnotisch zu behandelnde Leiden.
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scher Suggestion etwas ausgerichtet hat; dagegen ist es für ihn von grosser Wichtigkeit, die Leiden zu kennen, bei welchen die Anwendung der Hypnose uns Dienste leistet, welche von anderen Mitteln nicht zu erwarten sind, lieber diesen Punkt sind jedoch die Ansichten derzeit noch sehr getheilt, und selbst die erfahrensten Suggestionstherapeuten stimmen bezüglich der Wirksamkeit der hypnotischen Behandlung bei einzelnen Krankheiten nicht übei’- ein. Forel führt als Zustände, welche der Suggestion am besten zu weichen scheinen, folgende an: „Spontaner Somnambulismus, Schmerzen aller Art, vor Allem Kopfschmerzen, Neuralgien, Ischias, Zahnschmerzen, die nicht auf Abscess beruhen etc. Schlaflosigkeit, ^unktionelle Lähmungen und Contracturen, organische Lähmungen uud Contrakturen (als Palliativmittel), Chlorose (sehr günstig), Menstruationsstörungen (Metrorrhagie wie Amenorrhoe), Appetit- losigkeit und alle nervösen Verdauungsstörungen, Stuhlverstopfung und Diarrhoe (wenn letztere nicht auf Catarrh oder Gährungen beruht), psychische Impotenz, Pollutionen, Onanie, conträre Sexual- empfindung u. dergl. mehr, Alkoholismus und Morphinismus, Rheumatismus muscularis et articularis chronicus, neurasthenische Beschwerden, Stottern, nervöse Sehstörungen, Blepharospasmus, Pavor nocturnus der Kinder, Uebelkeit und Seekrankheit, Erbrechen der Schwangeren, Enuresis nocturna (oft sehr schwierig, des tiefen, normalen Schlafes wegen), Chorea, nervöse Hustenanfälle (auch bei Emphysem) , hysterische Störungen aller Art , in- clusive hysteroepileptische Anfälle, Anästhesie etc., schlechte Ge- wohnheiten aller Art. Nach Wetter Strand auch Epilepsie, Blu- tungen etc.“
Wir sehen, dass unter den angeführten Leiden sich auch solche finden, gegen welche wir eine Reihe anderer bewährter Mittel besitzen: Neuralgie, Ischias, Chlorose, Stuhlverstopfung, chron. Muskelrheumatismus, Chorea. Wir können nicht sagen, dass die hypnotische Behandlung dieser Atfektionen überhaupt unzulässig ist, aber wir müssen dieselbe als jedenfalls in der grössten Mehr- zahl der Fälle unnöthig bezeichnen und glauben, dass deren An- wendung im einzelnen Falle nur durch besondere Umstände sich rechtfertigen lässt; in der That sind auch, wie aus den Mit- theilungen der Leiter der psychotherapeutischen Klinik in Amster-
158 Hypnotiscli zu behandelnde Leiden.
dam, van Rentergliem und Eeden, hervorgellt, die Erfolge der Hypnotherapie bei diesen Zuständen durchaus nicht immer glänzend. Nach dem Berichte dieser Beobachter über die Resultate ihrer hypnotherapeutischen Behandlung während der Jahre 1889 — 1893 wurden erzielt : auffallend günstige Resultate bei Neurasthenie, Schwindel, Cephalalgie und anderen Neuralgien, Anämie und psy- chischer Depression, sowie bei funktionellen Lähmungen und Paresen; weniger günstige, aber doch sehr bemerkenswerthe Re- sultate bei chronischem Alkoholismus, Stottern, Chorea, Hypo- chondrie, nervösem Asthma, habitueller Obstipation, Onanie ; ganz ohne Resultat oder mit keinem nennenswerthen Erfolge wurde die Behandlung angewendet bei Epilepsie, chronischem Gelenks- rheumatismus, Tabes, Schreib- und Klavierspielerkrampf, sowie bei organischen Erkrankungen des Nervensystems und internen Lei- den, insofern es sich hier nicht bloss um Beseitigung begleitender funktioneller Störungen handelte. Die Chorea und die Obstipation rangiren hier an zweiter und der chronische Gelenkrheumatismus an dritter Stelle^).
Die Erfolge, welche durch Hypnotherapie bei Geisteskranken bisher erzielt wurden, sind sehr spärlich, und die Bedeutung, welche diese Methode für die Behandlung der Psychosen erlangt hat, ist dementsprechend eine sehr geringe. Bei leichteren Melancholien und Psychosen auf hysterischer Basis Avurde noch am meisten er- reicht. Die Geisteskranken sind, aaTc von allen competenten Be- obachtern zugegeben Avird, zum grössten Theil überhaupt nicht hypnotisirbar, und bei manchen Formen des Irrseins (z. B. bei Paronoia) erweist sich der Hypnotisirungsversuch sogar schädlich. Meine eigenen hypnotherapeutischen Erfahrungen beziehen sich, abgesehen von der habituellen Obstipation, ausschliesslich auf ner- vöse und psychische Affektionen, insbesondere geAvisse hysterische und neurasthenische Erscheinungen, Angstzustände und ZAvangs- vorstellungen, geAvisse Formen von der Cephalea, sexuelle Reizzu- stände und leichte Melancholien. Dass ich hiebei zum Theil sehr beachtensAverthe, dauernde Resultate erreichte, ist aus dem Vor-
1) Obige Angaben sind einem Referate von Sehren k-Notzings ent- nommen.
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Gefaliren der Hypnose.
bergelienden bereits ersicbtlicb; docb habe icb aucb die Unbe- ständigkeit vieler bypnotberapeutiscber Erfolge zur Genüge kennen gelernt und in mancben Fällen, in -welcben die bypnotiscbe Sug- gestion sieb unzulänglicb erwies, mit der Suggestivbebandlung im Wachen doch noch befriedigende Resultate erhalten.
Gefahren der Hypnose.
Was nun die von verschiedenen Seiten betonten Gefahren und sonstigen Schattenseiten betrifi't, welche mit der Anwendung der Hypnose verknüpft sein sollen, so muss ich zunächst bemerken, dass ich selbst bei einer nunmehr über etwa 8 Jahre sich er- streckenden therapeutischen Verwerthung der Hypnose von der- selben nie nachtheilige Folgen gesehen habe. Die Erfahrungen aller Aerzte in den verschiedenen Kulturländern , welche sich sbit Langem ernsthaft mit der Hypnotherapie beschäftigen, stimmen hiemit völlig überein. Liebault, B ernheim (Nancy), Berillon (Paris), For el (Zürich), Lloyd Tukey (London), vanRenterghem und van Fe den (Amsterdam), Bechterew (Petersburg), v. Krafft- Ebing, Hirt, Moll, v. Schrenk-Notzing und Andere in Deutsch- land und Oesterreich habeb bei vielen Tausenden hypnotisch be- handelter Personen nie einen ernsten Nacbtheil für den geistigen Zustand oder das körperliche Befinden beobachtet. Da sich diese Thatsachen nicht bestreiten und nicht ableugnen lassen, so wäre es endlich an der Zeit, dass man die Anschuldigungen gegen die Hypnotherapie als ein für den Nerven- und Geisteszustand der Behandelten gefährliches Verfahren fallen liesse und sich der An- sicht nicht mehr verschliessen würde, dass die in einer Reihe von Fällen zweifellos beobachteten ungünstigen Wirkungen (Nervosität, Kopfschmerz, Neigung zum Verfallen in Autohypnose, abnorm leichte Hypnotisirbarkeit , andauernde erhöhte Suggestibilität etc.) lediglich auf fehlerhaftes Vorgehen seitens der Hypnotiseure zu- rückzuführen sind. Auch bei der therapeutischen Ver- werthung der Hypnose ist eben der Modus procedendi von g r ö s s t e r W i c h t i g k e i t, und der Umstand, dass durch un- zweckmässige oder fehlerhafte Handhabung des Verfahrens seitens unqualifizirter Aerzte oder Laien geschadet werden kann, dass die Hypnotherapie neben einer Reihe positiver Kenntnisse Vorsicht und
IGO
Gefahren der Hypnose.
Umsiclit erheischt, hann in den Angen nüchtern Denkender sicher keinen (h'und gegen die Anwendung derselben l)ilden.
Mit der Gefährlichkeit der Hypnose verhält es sich nicht anders wie mit der wohl aller wirksamen therapeutischen Agentien. Das Messer, in der Hand des erfahrenen, auf der Höhe seiner Kunst stehenden Chirurgen gewiss ein segensreiches Instrument, kann in der Hand eines ärztlichen Stümpers ein sehr gefährliches Werkzeug werden. Selbst mit an sich viel harmloseren Instru- menten, wie Morphiumspritze und Katheter, kann durch unvor- sichtigen, kunstwidrigen Gebrauch bedeutender Schaden gestiftet werden. Es giebt überhaupt kaum ein wirksames Heilmittel oder Verfahren, durch welches bei unzweckmässiger Anwendung nicht nachtheilige Wii’kungen herbei geführt werden könnten. Bei der Anwendung der Hypnose bei Kranken erheischt eine Menge von Details sorgfältige Berücksichtigung. Schon der Akt der Ein- schläferung erfordert besondere Vorsicht und sorgfältige Anpassung an die Individualität des Kranken. Je grösser die bestehende Er- schöpfung, um so mehr ist nach meinen Erfahrungen die An- wendung einförmiger Sinnesreize für Auge und Ohr zu beschränken. Nach geschehener Einschläferung ist der Kranke andauernd zu überwachen und auch geeignete Vorkehrung zu treffen, dass der- selbe nicht durch einen unvorhergesehen Eindruck, z. B. heftiges Geräusch, plötzlich geweckt wird. Bei Kranken mit hysterischen Krampfanfällen können solche auch während der Einleitung der Hypnose oder des Verlaufes derselben auftreten. Werden die ersten Zeichen des sich entwickelnden Anfalles rechtzeitig beachtet, so gelingt es wohl meist, durch entsprechende Suggestionen den Wnfall hintanzuhalten. Besteht eine hochgradige Disposition zu hysterischen Schlafzuständen, so kann ein solcher eintreten, wenn man die Patientin mit geschlossenen Augen auf einem Sopha oder Fauteuil Platz nehmen lässt, noch bevor irgend etwas mit ihr vor- genommen wurde. Derartige Zufälle bedingen keinen weiteren Schaden, machen die Patientin jedoch wenigstens temporär für die hypnotische Behandlung ungeeignet. Ueble Nachwirkungen der Hypnose (Schläfrigkeit, Müdigkeit, Neigung zum Verfallen in Auto- bypnose etc.) und Störungen des Befindens in Folge von während oder nach der Hypnose auftauchenden Autosuggestionen können zum
Vorbildung für die liypnotherapeutische Praxis.
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Tlieil schon durch beruliigende Aufklärung vor der Einschläferung, zum Theil durch entsprechende Suggestionen während der Hypnose, wie wir bereits gesehen haben, verhindert (desuggerirt) -werden. Selbstverständlich muss auch der Zustand eines jeden Patienten während der hypnotischen Behandlung ständig nach allen Rich- tungen überwacht, und wenn sich irgend welche Anzeichen einer ungünstigen Beeintlussung des Nervensystems ergeben sollten, von weiterer Anwendung der Hypnose Umgang genommen werden.
Bernheim bemerkt am Schlüsse seines Werkes „Neue Studien über Hypnotismus": „Ich glaube übrigens auf den vorstehenden Seiten gezeigt zu haben, dass die suggestive Therapie eine Kunst und eine Wissenschaft ist, welche lange Erfahrungen und tiefe Kenntniss in der Medizin und in der Psychologie erfordert“. Man hat von verschiedenen Seiten vorgeschlagen, dass Aerzte, welche sich mit Hypnotherapie befassen wollen, wenigstens eine Art Cursus bei einem der bekannteren Suggestionsspezialisten durchmachen sollten. Ich halte dies für ganz und gar ungenügend ; ebensowenig als ein Arzt, welcher lediglich allgemeine Praxis be- treibt, durch Theilnahme an einem Feriencurs sich in einen Spezialisten für Augen- oder Ohrenkrankheiten uinzuwandeln ver- mag, ebensowenig kann derselbe durch selbst mehrmonatliche Lehr- zeit bei einem Suggestionstherapeuten sich zu einem solchen aus- bilden. Die hypnotische Behandlung erheischt von dem Arzte neben gründlicher psychologischer Schulung, genauer Kenntniss der hypnotischen Phänomene und vollständiger Vertrautheit mit der Technik des Verfahrens auch eindringendes Verständniss der Krank- heitszustände, welche zu behandeln sind, und da diese vorwaltend dem Gebiete der Nervenkrankheiten angehören, auch neuropatho- logische Ausbildung. Schon aus diesem Grunde kann die Hypno- therapie nicht Gemeingut der Aerzte werden. Dies ist aber auch weder nothwendig, noch wünschenswerth. Nothwendig ist nur, dass jeder Arzt richtige Vorstellungen von dem Wesen des Verfahrens und Kenntniss von den Krankheitszuständen hat, welche sich für diese Behandlung eignen.
Löwenfeld, Psychotherapie.
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Die kathartisclie Methode.
III. Die Dmier-rreud’sche kathartisclie Methode.
Von Breuer und Freud in Wien wurde vor einigen Jahren ein neues hypnotlierapeutisches Verfahren empfohlen, zu welchem dieselben durch die Forschung nach der Aetiologie hysterischer Symptome gelangt waren. Die Autoren fanden verschiedene Symptome, welche früher als sozusagen idiopathische Leistungen der Hysterie betrachtet wurden, in Zusammenhang mit speziellen psychischen Veranlassungen (Traumen), von welchen Erinnerungen blieben, die nach Art eines Fremdkörpers durch eine fortdauernde Wirkling das hysterische Symptom unterhielten. Die betreffenden hysterischen Erscheinungen schwinden nach den Angaben der ge- nannten Beobachter, wenn es in der Hypnose gelingt, den veran- lassenden Vorgang zu voller Helligkeit zu erwecken und damit auch den begleitenden Affekt wachzurufen, und wenn dann der Kranke in möglichst ausführlicher Schilderung des Vorganges seinem Affekte Worte verleiht. Der gleichsam eingeklemmte Affekt muss eine Entladung durch die Rede finden; affektloses Erinnern bleibt fast ohne Wirkung. Doch ist bei tieferer Hypnose zur Be- seitigung der fraglichen Symptome noch eine ärztliche Suggestion erforderlich.
Die Hoffnungen, welche die Wiener Forscher an das ange- führte psychotherapeutische Verfahren für die Heilung hysterischer Zustände knüpften und wohl auch bei anderen erregten, haben sich nicht erfüllt. Die hypnotische Aufdeckung der pathogenen Erinnerungen, welche die Ursache von hysterischen Erscheinungen bilden mochten, scheiterte in einer Reihe von Fällen an dem Um- stande, dass die Betreffenden nicht oder nicht genügend zu hyp- notisiren waren ; auch hat wohl die Ausforschung in der Hypnose nicht immer ganz befriedigende Resultate geliefert. Freud wurde dadurch veranlasst, ein allgemein verwerthbares Verfahren auszii- sinnen, das er nach seiner Mittheilung bereits in einer Anzahl von Fällen von Hysterie und Erkrankung an Zwangsvorstellungen mit Erfolg angewendet hat. Ein Verständniss dieser Methode ist ohne Berücksichtigung der Theorie nicht möglich, zu welcher Freud sich bezüglich der Aetiologie der Neurosen, speziell der Hysterie und der Zwangsneurose (Zwangsvorstellungskrankheit) bekennt. Nach Freud hat jede der grösseren Neurosen ihre specifische
Die kathartische Methode,
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Ursache, welche im sexuellen Leben des Individuums, entweder in einer Störung des gegenwärtigen sexuellen Lebens oder in gewissen Ereignissen des früheren Lebens liegt. Die Schädlich- keiten, welche man bisher als. direkte Ursache der Neurosen an- sah, gemüthliche Erregungen, geistige Ueberanstrengung, acute Krankheiten, Intoxikationen etc., sind für Freud nur concur- rirende oder accessoris che ätiologische Momente, die Erblichkeit ist nur eine Bedingung, eine mächtige und oft unent- behrliche, doch nichts weiter, ohne Hinzutritt der specifischen Ur- sachen bleibt sie unwirksam. Die specifische Aetiologie der Hysterie reduzirt sich auf die Erinnerung an einen vor der Pubertät vor- gefallenen Akt sexuellen Vei’kehrs mit Beizung der Genitalien, durch Missbrauch seitens einer anderen Person (Akt sexueller Pas- sivität). Der sexuelle Vorgang zieht zunächst keine oder nur geringfügige Folgen nach sich, aber die psychische Spur davon erhält sich und wird im Pubertätsalter auf die eine oder andere W eise geweckt. Die Erinnerung wirkt dann, als wenn es sich um ein Ereigniss aus jüngster Zeit handelte; es liegt also die Nach- wirkung eines sexuellen Traumatismus vor. Alle Ereignisse nach der Pubertät, welchen ein Einfluss auf die Entwicklung der Neu- rose und die Gestaltung ihrer Symptome zuzuschreiben ist, sind thatsächlich nur concurrirende Ursachen. Die Neurose der Zwangs- vorstellungen besitzt eine ähnliche specifische Aetiologie: die Er- innerung an einei\ sexuellen Vorgang vor der Pubertät, welcher jedoch nicht wie bei der Hysterie Angst oder Abscheu, sondern Vergnügen verursacht hat; die Zwangsvorstellungen, auf ihren Ur- sprung zurückgeführt, erweisen sich als Vorwürfe, welche sich das Individuum wegen dieses verfrühten sexuellen Genusses macht.
Das Verfahren, dessen sich Freud bedient, um die von ihm als specifische Ursache der Zwangsvorstellungsneurose und der Hysterie angenommenen pathogenen Erinnerungen sowie auch die als Ursache einzelner hysterischer Erscheinungen fungirenden pathogenen Vorstellungen und Affekte, welche nach seiner Auf- fassung durch ein Abwehrbestreben des Ego aus dem Bereich des bewussten Erinnerns verdrängt sind, in das Gedächtniss zurück- zurufen, ist folgendes: Der Patient wird zunächst gefragt, ob er irgend etwas von dem ersten Anlasse des betreffenden Symptomes
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Die katliartische Methode, Drnckprocednr.
weiss. Ob mm die Antwort negativ ausfällt oder der Patient irgend eine dienliche Erinnerung beibringt, in jedem Falle wird in den Patienten gedrungen, sich weiter zu besinnen, wobei dann doch das eine oder andere zum Vorschein kommt: Freud lässt
dann den Kranken sich niederlegen und die Augen schliessen, um sich zu „concentriren“ ; dann wird mit dem Drängen in den Kran- ken fortgesetzt, das zum Auftaueben der einen oder anderen Er- innerung führen mag. Der Faden reisst jedoch gewöhnlich als- bald. Dann wird folgender Kunstgriff zu Hilfe gezogen: „Ich theile dem Kranken mit, dass ich im nächsten Moment einen Druck auf seine Stirne ausüben werde, versichere ihm, dass er während dieses ganzen Druckes eine Erinnerung als Bild vor sieh sehen oder als Einfall in Gedanken haben werde und verpflichte ihn dazu, dieses Bild oder diesen Einfall mir mitzutheilen, was immer das sein möge. Er dürfe es nicht für sich behalten, weil er etwa meine, es sei nicht das Gesuchte, das Richtige, oder weil es ihm zu' unangenehm sei, es zu sagen. Keine Kritik, keine Zu- rückhaltung, weder aus Affekt, noch aus Geringschätzung. Kur so könnten wir das Gesuchte finden, so fänden wir es aber imfehl- bar. Dann drücke ich für ein paar Sekunden auf die Stirne des vor mir liegenden Kranken, lasse sie frei und frage ruhigen Tones, als ob eine Enttäuschung ausgeschlossen wäre: Was haben Sie gesehen? oder: Was ist Ihnen eingefallen?“
Der Druck enthüllt die pathogene Vorstellung gewöhnlich nicht ohne Weiteres; er zeigt vielmehr nur die Richtung an, in welcher dieselbe liegen mag, indem er Vorstellungen zum Auftauchen bringt, deren weitere Verfolgung allmählich zur pathogenen Erin- nerung führt. So oft die Arbeit des Gedächtnisses in das Stocken geräth, wird die Druckprocedur neuerdings angewendet bis das Ziel erreicht, die „Analyse“ völlig abgeschlossen ist, womit dann auch die betreffenden Symptome schwinden sollen.
Die Methode basirt hinsichtlich ihrer Technik auf dem Ver- fahren, dessen sich Bernheim bedient, um die Erinnerung an die Vorgänge während der Hypnose bei anscheinender Amnesie für dieselben zu wecken. Wer nun glauben wollte, dass diese Art von Psychotherapie etwas Einfaches und Leichtes wäre, würde sich einer schlimmen Täuschung hingeben. Freud selbstgestellt, dass
Resultate der kathartischen Methode.
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das Verfahren mühselig und zeitraubend für den Arzt ist und auch ohne grosses iDersönliches Interesse für den Kranken nicht durchführ- bar ist. Ebenso stellt es auch an den Patienten sehr schwere Anfor- derungen. Es erheischt einen gewissen Grad von Intelligenz, volles Zutrauen zum Arzte, grosse Aufmerksamkeit und stete Bereitwilligkeit auch die intimsten und geheimst gehaltenen seelischen Vorgänge rück- haltslos dem Arzte zu offenbaren. Es ist daher leicht begreiflich, dass sich, wie Freud berichtet, ein grosser Theil der Kranken, welche für diese Behandlung geeignet wären, sich derselben entzieht, so bald es ihnen klar wird, um was es sich handelt. Die psychische Leistung, welche von den Kranken beansprucht wird, ist aber auch für dessen Zustand nicht gleichgültig; sie kann je nach der Ge- staltung der Analyse anregend und erleichternd, aber auch auf- regend und erschwerend wirken.
„Bei jedem Stocken der Arbeit, bei jeder drohenden Verwir- rung wächst die psychische Last, die ihn bedrückt, steigert sich seine Unglücksempfindung, seine Leistungsunfähigkeit.“
Und nun die Resultate. Dass Breuer und Freud mit dem Verfahren sehr beachtenswerthe symptomatische Erfolge erzielten, unterliegt keinem Zweifel; allein diese Ei’folge waren nach den Mittheihmgen der Autoren (resp. Freud’s) zum Theil von nicht langer Dauer und standen daher in keinem richtigen Verhält- nisse zu der vom Arzte und P’atienten aufgewendeten Zeit und Mühe. Freud gesteht ferner zu, dass die Methode, da sie die causalen Bedingungen der Hysterie nicht beeinflusst, auch das Ent- stehen neuer Symptome an Stelle der beseitigten nicht verhindern kann, und dass es ihm auch keineswegs gelungen ist, sämmtliche hysterische Symptome, deren Beeinflussung mit der kathartischen Methode er unternommen, zu beseitigen. Er glaubt jedoch, dass dieses Misslingen lediglich durch die persönlichen Umstände der Fälle verursacht wurde und der Methode nicht zur Last gelegt werden kann. Dass diese Annahme eine zu optimistische ist, dar- auf scheint mir ein von Freud behandelter Fall hinzuweisen, welchen ich vor Kurzem kennen gelernt habe. In diesem wurde von Freud vier Monate lang mit der grössten Ausdauer und Con- sequenz die Ausforschung bis zur Erschöpfung des Patienten fort- gesetzt, ohne irgend ein Ergebniss zu liefern. Die von Breuer
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Resultate der katlinrHscben Methode.
lind Freud angegebenen Wirkungen des Verfahrens können aber auch ausbleiben, selbst wenn es gelingt, mittelst desselben das in Vergessenheit geratbene psychische Trauma, welches die Veran- lassung eines hysterischen Symptomes bildet, mit voller Bestimmt- heit aufzudecken. Auf diesen Umstand hat bereits v. Krafft- Ebing aufmerksam gemacht. ,,Aber selbst“, bemerkt der Autor, ,,wenn die psychische Genese des Falles klar zu Tage liegt, sind die wirksamen psychischen Momente (peinliche Erlebnisse, Vor- stellungen) oft so fest wurzelnd, dass selbst die sinnreiche, von Freud und Breuer ersonnene Methode zu ihrer Eliminirung ver- sagt, zumal wenn es nicht gelingt, den Kranken in Zustände von tieferer Hypnose (Somnambulismus) zu versenken.“
In einem von mir im vorigen Jahre beobachteten Falle — 14jähriger Knabe mit seit längerer Zeit bestehenden hysteroepilepti- schen Anfällen — gelang es mir, in der Hypnose den Vorgang, welcher das Auftreten der Anfälle herbeigeführt hatte und zur Zeit der Beobachtung im wachen Zustande der Erinnerung voll- ständig entschwunden war, festzustellen und den Patienten zu einer wahrhaft dramatischen Schilderung desselben zu veranlassen, welche auf die Mitanwesenden einen tiefen Eindruck machte Die An- fälle wurden dadurch jedoch nicht zum Schwinden gebracht.
Ebenso blieb in zwei von mir behandelten Fällen rnit Zwangs- vorstellungen die Eruirung der nach Freud als specifische Ur- sache wirksamen sexuellen Vorgänge ohne jeden Einfluss auf diese psychische Anomalie^). Aus dem Angeführten dürfte erhellen, dass wir gegenAvärtig noch nicht in der Lage sind, über die Dienste, welche uns die kathartische Methode bei der Behandlung hysteri- scher Zustände leisten mag, ein abschliessendes Urtheil zu fällen. Die bezüglich derselben vorliegenden Erfahrungen sind noch viel zu spärlich. Hinsichtlich der Leistungen des Verfahrens bei Zwangs-
1) Es handelte sich um einen scherzweise von einem Fremden unter- nommenen Ueberfall des dahingehenden Knaben, Avelcher dadurch heftig er- schreckt wurde. Auf einen derartigen Vorgang wiesen in dem Falle schon die Hallucinationen und Delirien der Anfälle hin, in Avelchen regelmässig Ver- folgungsscenen wiederkehrten.
2) In einer Anzahl anderer Fälle mit Zwangsvorstellungen musste ich von der Durchführung des Freud’schen Verfahrens absehen, weil dasselbe den Zustand des Patienten zu ungünstig beeinflusste.
Emotionstherapie. 167
Vorstellungen kann icli mich keinen grossen Hoffnungen liingeben, und zwar nicht lediglich in Anbetracht meiner bisherigen Miss- erfolge, sondern auch aus dem Grunde, weil die Zwangsvorstel- lungen nach meinen Ermittlungen jedenfalls in einem grossen Theile der Fälle auf ganz andere Umstände zurückzuführen sind als die von Freud angenommenen. Bei hypnotisirbaren Patienten besitzen wir übrigens in der hypnotischen Suggestion ein viel müheloseres und auch an den Patienten viel weniger Anforderungen stellendes Verfahren, dessen therapeutische Ergebnisse, wie wir sahen, recht befriedigende sein können.
Behandlung durch Erregung von Affekten. Emotions- therapie.
Schon den alten Aerzten entging die Thatsache nicht, dass der Geinüthszustand des Leidenden für den Verlauf einer Er- krankung nicht ohne Bedeutung ist. Cor laetum benefacit morbis; tune enim medicamentum proficit et juvat, dum alacri animo est, qui illud excipit, bemerkt Galenus, und mancher unserer Vor- gänger im 18. Jahrhundert, so insbesonders Tissot, betrachtete das Lachen als ein sehr werthvolles Heilmittel und rühmte dessen günstige Wirkungen bei verschiedenen Leiden^). Indess war auch der Umstand den älteren Aerzten keineswegs unbekannt, dass auch peinliche Affekte bei Krankheiten sich nützlich erweisen können, und sie verstanden es sehr wohl, diese Erfahrung gelegentlich therapeutisch zu verwerthen. So wird berichtet, dass Boerhave den hysterischen Krämpfen bei den Kindern eines Waisenhauses in Harlem dadurch ein Ende machte, dass er die in Zuckungen Verfallenden mit dem Glüheisen bedrohte und ein solches auch in Bereitschaft setzen Hess. Die Anwendung körperlicher Züchtigungen hielten die älteren Aerzte für etwas durchaus Zulässiges ^), und bei
1) Tissot erwähnt unter Anderem: Uebligkeiten , Magenwehe, Bauch- grimmen, welches andern Mitteln widerstand, kann durch Lachen geheilt wer- den, welches zugleich ein Präservativ für Verstopfungen wird.
2) Der dritte Band der deutschen Uehersetzung der Tissot’schen , Ab- handlung von den Nerven und ihren Krankheiten“, 1782 (besorgt von F. A. Weber aus Heilbronn) enthält unter den von dem Uebersetzer herrührenden Zusätzen einen eigenen Abschnitt über „Kuren durch Schläge“.
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Emoüonstherii])ie.
Geisteskranken trug man kein Bedenken, auch manche Torturarten (Entziehung der Nahrung und des Getränkes, in das Wasser stürzen und längere Zeit Untertauchen, Kauterisation mit dem Glüheisen etc.) in (xebrauch zu ziehen. Es bedarf kaum besonderer Darlegung, dass unsere Anschauungen betreffs des im Bereich der psychischen Therapie Zulässigen viel humaner geworden sind. Soweit die Verhältnisse es gestatten, müssen wir auf die Herbei- führung freudiger Erregungen und die Erhaltung einer günstigen Stimmung in jedem Krankheitsfälle bedacht sein. Die Aufklärung, welche wir dem Kranken über seinen jeweiligen Zustand geben und die ganze Art unseres Verkehrs mit demselben kann in dieser Richtung schon sehr viel leisten. Auch bei der Behandlung und der Regulirung der Lebensweise und der Phege müssen wir fort- gesetzt diesem Umstande thunlichst Rechnung tragen und daher gegen die Neigungen und Wünsche der Kranken, von welchen wir Kenntniss haben, soweit das vorliegende Leiden es gestattet, uns entgegenkommend verhalten. Bei Hysterie, Neurasthenie und Ver- stimmungszuständen beobachten wir mitunter im Gefolge von mächtigen freudigen Erregungen ganz merkwürdige Wendungen in dem Befinden der Kranken (plötzliches Schwinden seit Langem be- stehender Schmerzen und motorischer Schwächezustände, von Krampfaffektionen, Magenbeschwerden, Wiederkehr des Appetits, des Schlafes etc.). Der Arzt ist leider nur selten in der Lage, derartige Gemüthsbewegungen durch sein Zuthun bei den Kranken hervorzurufen. Die Erregung peinlicher Affekte — von Furcht, Aerger oder Schrecken — ist auf der anderen Seite nur in einer beschränkten Zahl von Fällen zulässig und rathsam. Wenn wir auch manchen verwöhnten, eigensinnigen, beschränkten und rück- sichtslosen Kranken gegenüber uns der Erkenntniss nicht ver- schliessen können, dass ihnen eine Tracht Schläge sehr nützlich sein würde, auf die Verabreichung dieses Medicamens müssen wir unter allen Umständen verzichten; selbst Kindeim gegenüber soll der Arzt von diesem Prinzip nicht abweichen. Wenn die Hervor- rufung von Furcht oder Angst vor etwas Peinlichem wünschens- werth erscheint, um die Kranken anzuspornen, durch Aufbietung
>) Siehe hierüber Reil, 1. c. p. 189.
Kmotionstherapio, Scheinoperationen.
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ihrer Willenskraft eine Leistung /u vollbringen oder gegen gewisse Kranklieitserscheinungen anzukänipfen, oder um sie von krank- haften Vorstellungen abzulenken, so genügt primär gewöhnlich die Bedrohung mit der Vornahme irgend einer physische oder psychi- sche Schmerzen erregenden Procedur (faradische Pinselung, kalte Begiessungen, Vornahme eines chirurgischen Eingriffes, Entfernung aus der Häuslichkeit und gewohnten Umgebung etc.); diese muss jedoch immer den Charakter einer therapeutischen Maassnahme, nicht einer blossen Züchtigung haben. Ob es rathsam ist, wenn derartige Drohungen sich nutzlos erweisen, zur Ausführung des in Aussicht Gestellten überzugehen, ist eine Sache weiterer Erwägung. Soweit die faradische Pinselung und die Entfernung aus der Häus- lichkeit in Betracht kommen, wird man in vielen Fällen keine grossen Bedenken hegen dürfen. Kosen b ach empfiehlt die An- wendung des Pinsels insbesonders bei Kindern bei krampfartigen Bewegungen, bei nervösem Husten, Luftschlucken, nervösem Er- brechen und hysterischen Lähmungen, und zwar sollen nach seinen Erfahrungen selten mehr als zwei Applikationen nöthig sein. Die Furcht vor dem Schmerze, welchen die Applikation verursacht, Bildet, wie Kosenbach auch annimmt, zweifellos das wirksame Agens bei der Procedur. Nach meinen Beobachtungen leistet die larvirte Suggestion in den in Frage stehenden Fällen häufig die- selben Dienste wie die faradische Furch terregung. Die Bedrohung mit der Vornahme einer lebensgefährlichen Operation, wie die Laparotomie, wegen hysterischer BeschAverden und vollends die scheinbare Vornahme einer solchen in der Absicht, Angst und Schrecken bei der Patientin zu erregen, scheint mir ein sehr be- denkliches und durchaus nicht empfehlenswerthes Vorgehen, wenn damit auch in einzelnen Fällen günstige Resultate erzielt wurden ’). „Les emotions profondes peuvent agir soit en bien soit en mal et nulle sagacite humaine est capable d’en prevoir le resultat“ (Fere). Zu den tief gehenden gemüthlichen Erregungen, deren Wirkungen jeder Berechnung sich entziehen, zählen aber in erster Linie Angst und Schrecken. Wenn man überhaupt Scheinoperationen in psycho-
0 So in neuerer Zeit von Schramm (Dresden) bei Ovarialneuralgien. Schramm gegenüber hat Leopold mit Recht sich gegen die Hervorrufung von Schrecken und Gruseln zu ßehandlungszwecken ausgesprochen.
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Wunder- und Glaubenskuren
therapeutischer Absicht vornehmen will, so darf dies unseres Er- achtens nur in der Weise geschehen, dass der Patientin der Ein- griff als ein absolut sicher wirkendes Mittel gegen die vorhandenen Beschwerden und dabei nicht als mit irgend einer Lebensgefahr verknüpft hingestellt wird. Die Suggestion der Heilung muss da- bei in den Vordergrund gestellt und das Beängstigende des Vor- gehens möglichst reducirt werden. Auch plötzliche kalte Begiessungen, die man insbesonders bei hysterischen Anfällen öfters angewendet hat, können wegen des Schreckens, den sie nothwendig verursachen, ebenso leicht schaden als nützen und dürften daher aus dem ärzt- lichen Armamentarium besser gestrichen werden^).
Wunder-, Glaubens- und Gebet kuren.
Das religiöse Vorstellen des Menschen, sein Glaube an höhere, die menschlichen Geschicke beherrschende Gewalten, hat sich von der grauesten Vorzeit bis zur Stunde als eine Quelle von Heil- kräften bei Krankheitszuständen erwiesen. Der Arzt darf, wie immer auch seine persönliche Anschauung in Glaubensangelegen- heiten sein mag, kein Bedenken tragen, diese Kräfte in geeigneten Fällen zum Besten der sich ihm Anvertrauenden auszunützen. Hat doch kein Geringerer als Charcot erklärt, dass der Arzt jedes Mittel anwenden muss, von welchem sich ein Erfolg erwarten lässt, und er selbst eine Menge Kranker, denen er die Heilkraft des Glaubens nicht einflössen konnte, nach Wallfahrtsorten schickte und die Geheilten nach ihrer Kückkehr untersuchte. Statt mit ungläubigem oder spöttischem Achselzucken über die sogenannten Wunderheilungen hinwegzugehen, wie es vielfach geschieht, müssen wir daher trachten, über die denselben zu Grunde liegenden Vor- gänge Klarheit zu erlangen und das Krankheitsgebiet zu umgrenzen, auf welchem der Glaube seine Wirksamkeit entfaltet.
Wenn wir die Geschichte der Wunder- und Glaubensheilungen von der Gegenwart bis in das Alterthum verfolgen und, was selbst-
1) Dass die Procedur in manchen Fällen sich augenscheinlich nützlich erwiesen hat, kommt nicht in Betracht; auch Prügel haben schon bei hysteri- schen Anfällen sehr gute Dienste geleistet. Amann erwähnt den Fall einer Hysterischen, die durch eine von ihrem Vater applizirte Tracht Prügel von hysterosomnambulen Attaquen kurirt wurde.
Wirkungsbereich der Glaubenskuren
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verständlich ist, die nicht gehörig beglaubigten Berichte ausser Betracht lassen, so stossen wir auf zwei Umstände:
1. Es wurden immer und überall nur Krankheiten geheilt, welche einer Heilung durch geistige (resp. nervöse) Einwirkungen zugänglich sind.
2. Die bei diesen Heilungen wirksamen psychischen Vorgänge sind immer und überall im Wesentlichen die gleichen gewesen, wie mannigfaltig auch die angewandten Proceduren zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten waren und zum Theil noch sind.
Die Heilkraft des Glaubens ist früher und zwar nicht lediglich von Seiten frommer Laien vielfach bedeutend überschätzt worden; die Glaubensheiler unserer Zeit stehen auch gegenwärtig noch nicht an, zu behaupten, dass jede Krankheit durch Glauben ge- heilt werden könne; thatsächlich sind jedoch der thei-apeutischen Wirksamkeit des Glaubens enge Grenzen gezogen, und manche Aerzte sind der Ansicht, dass dieselbe sich auf die hysterischen Leiden beschränke. Sicher ist, dass durch den Glauben nie ein Blasenstein oder eine Krebsgeschwulst beseitigt, oder die Neu- bildung eines zerstörten Auges oder amputirten Fingers herbei- geführt wurde. In der Hauptsache sind es die sogenannten funktionellen Nervenkrankheiten, in deren Bereich die Wunder- und Glaubensheilungen fallen. Bei anderen heilbaren Leiden kann der religiöse Glaube zwar auch günstige Wirkungen äussern, indem er das Gemüth beruhigt und eine hoffnungsvolle Stimmung erzeugt, welche förderlich für die lebenswichtigen Funktionen ist; allein direkte Heilungen durch den Glauben allein werden bei denselben im Allgemeinen nicht beobachtet, und der religiöse Glaube leistet hier zumeist nicht viel mehr als der feste Glaube an das Gesund- werden überhaupt ' oder an die Kunst des Arztes, die Gesundheit wieder herzustellen. Bei den psychischen Vorgängen, durch welche die Wunder- und Glaubensheilungen , zu Stande kommen, sind immer und überall folgende Faktoren betheiligt: a) die Vorstellung der bevorstehenden Heilung, welche sehr lebhaft sein muss ; b) eine daran sich knüpfende hoffnungsfrohe Stimmung, welche sich un- mittelbar vor dem Eintritt der Wunderheilung oft zum Affekte gespanntester, hoffnungsfreudiger Erwartung steigert; c) eine be- sondere Art der Gläubigkeit.
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Psychische Bedingungen der Glaubensheilungen.
Die Vorstellung der Heilung kann das Ergelmiss sehr ver- schiedener psychischer Prozesse sein. Sie kann hervorgehen 1. aus dem Glaxiben, dass das Gebet des Leidenden unmittelbar eine göttliche, auf Beseitigung der Krankheit gerichtete Intervention zur Folge haben wird (oder wenigstens haben kann); 2. aus dem Glauben an die von Gott verliehene Heilkraft einer bestimmten Person (Apostel, Bischöfe, Könige von Frankreich und England etc.) oder dem Glauben an die besondere Gebetskraft einer bestimmten Person (Fürst Hohenlohe, Pastor Blumhardt, Dorothea Trudel u. A.); 3. aus dem Glauben an die Wirksamkeit gewisser Gegenstände, denen durch göttliche Gnade eine wunderthätige Heilkraft zu Theil wurde (Reliquien, Weihwasser, Quelle von Lourdes etc.).
Der erforderliche Gemüthszustand wird durch eine Reihe von Umständen herbeigeführt, welche auch die Intensität der Heil- vorstellung erheblich steigern ; Die Berichte von den an einem be- stimmten Orte (oder durch eine bestimmte Person) zu Stande ge- kommenen Wunderkuren, das Zusammenströmen vieler Kranker an diesem Orte, welche alle von dem gleichen Glauben und der gleichen Erwartung erfüllt sind und durch mutuelle Beeinflussung die bereits bestehende, der Heilung günstige Stimmung erhöhen, der Anblick der Votivgaben in der betreffenden Kirche, welche Zeugniss von den an dem Orte geübten Wundern ablegen, die Theilnahme an den gottesdienstlichen Verrichtungen in der Wall- fahrtskirche und inbrünstiges Gebet in derselben. In Lourdes kommt dann noch der äussere oder innere Gebrauch der Heilquelle hinzu. Indes all dies will nichts fruchten, wenn die richtige Art der Gläubigkeit fehlt. Ich habe im Laufe der Jahre manche (namentlich weibliche) Kranke gesehen, welche in ihren leiblichen Köthen Zuflucht zu Wallfahrten, Bittgängen und Andachten in Kirchen mit im Ruf der Wunder thätigkeit stehenden Muttergottes- bildern ohne Erfolg genommen batten, obwohl bei der Art ihrer Leiden eine Glaul)ensheilung wohl möglich gewesen wäre und die Betreffenden sicher gutgläubige Katholiken waren. Woran liegt dies? Die Gläubigkeit, welche zum Zustandekommen einer Wunder- heilung nöthig ist, deckt sich keineswegs mit der religiösen Gläubig- keit im Allgemeinen. Ein streng gläubiger Christ kann Zweifel hegen, ob sich Gott veranlas.st sehen werde, in seinem Falle ein
Behandlung in Gebetheilanstalten.
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Wunder zu wirken, oder auch der Annahme sich hingeben, dass das Leiden über ihn als gerechte Strafe für begangene Sünden oder zur Läuterung seines Herzens verhängt worden sei. Derartige Vorstellungen sind geeignet, die Wirksamkeit der Heilvorstellungen zu hemmen und dadurch eine Glaubensheilung zu verhindern; es ist auch möglich, dass gewisse pathogene Vorstellungen derart tixirt sind, dass selbst die Macht des Glaubens sie nicht dauernd zu verdrängen im Stande ist. Die richtige Gläubigkeit charakteri- sirt sich demnach als eine Disposition des Vorstellens, durch welche jede der Heilvorstellung entgegentretende Idee, jeder Zweifel an der bevorstehenden Genesung unterdrückt wird; sie involvirt die unerschütterliche Ueberzeugung, dass die göttliche Hilfe un- mittelbar in Folge des eigenen Gebetes oder der Fürsprache der Muttergottes oder bei der Anwendung eines bestimmten Mittels (Lourdes-Wasser etc.) sich zeigen werde. Es ist ohne Weiteres be- greiflich, dass diese Art der Gläubigkeit weit weniger verbreitet ist als die religiöse Gläubigkeit im Allgemeinen.
Das Vorgehen, durch welches in den protestantischen Gebets- oder Glaubensheilanstalten in der Schweiz, England und Nord- amerika und seitens einzelner nicht in Anstalten thätiger Glaubens- heiler manche Kranke von ihren Leiden befreit werden, variirt in mehreren Beziehungen; die psychischen Vorgänge, durch welche die Heilung in diesen Fällen herbeigeführt wird, sind jedoch im Wesentlichen immer dieselben wie bei den Wunderkuren an Wall- fahrtsorten, nur die Art der Anregung dieser Vorgänge ist eine verschiedene. In der Zeller’schen Anstalt in Männedorf werden täglich zweimal Versammlungen abgehalten, in welchen für jeden Insassen der Anstalt gebetet wird. Ausserdem bedient sich Zeller der Handauflegung auf den kranken Körpertheil und der Salbung desselben mit Oel. Das Hauptgewicht legt Zeller auf das Beten. Die ganze Hausordnung und Lebensweise in der An- stalt lind die Berichte von früher erzielten Glaubensheilungen unterstützen jedenfalls die Suggestion der Heilung sehr wesentlich und erzeugen eine hoffnungsvolle Stimmung. In England werden nach der Mittheilung Shofield’s die Glaubensheilungen häuflg bei Gottesdiensten unternommen. Diejenigen, welche geheilt zu wer- den wünschen, müssen vortreten, Diaconissen legen ihnen während
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Plötzliche Glaubenslieilungen ; diaguostische Irrthümer.
des Gebetes die Hände auf, dann salbt ihnen der amtirende Geist- liche das Haupt, Avobei er für jeden Einzelnen besonders betet. Von dem Patienten Avird bei dieser Procedur völlige Hingabe des Leibes, der Seele und des Geistes an Gott verlangt, und Avenn der Erfolg ausbleibt, so Avird dies auf Mangel an Glauben oder Hin- gabe zurückgeführt. EtAvas stürmischer scheint es in den Glau- bensheilungsversammlungen der Heilsarmee zuzugehen. In diesen Avird ebenfalls der Kranke gesalbt und dann ihm von den verein- ten Glaubensheilern mit lauter Stimme zugerufen: „er ist geheilt, er ist geheilt, ich glaube es, ich glaube es“. Der Kranke soll in dieses Jauchzen mit den Worten einstimmen: „Ich bin geheilt, ich bin geheilt.“ Es Avdrd hier also dem Kranken die Vorstellung der Heilung in sehr energischer, bei den übrigen Gebetsheilproce- duren in minder geAvaltsamer, aber immerhin sehr Avirksamer Weise von aussen suggerirt, Avährend bei den Wallfahrten der Kranke sich die Heilvorstellung mehr selbst suggerirt.
Die plötzlichen Heilungen, welche durch die Kraft des Glau- bens zu Stande kommen, betreffen in den einzelnen Krankheits- fällen nur gewisse Symptome. Hysterische Lähmungen, Krämpfe, Sprachstörungen, Amblyopien und Oedeme, auch Schmerzen können ebenso rasch schAvinden als sie auftreten, dagegen bleibt, wie Charcot ermittelte, nach der plötzlichen Beseitigung einer Con- traktur an der befallenen Extremität noch eine Anzahl von Tagen Steigerung der Sehnenrellexe nachAveisbar ; auch hysterische Mus- kelatrophien gleichen sich nur allmählich aus.
Was Avir hier nicht unerwähnt lassen können, ist, dass das Wunder so mancher Glaubensheilungen bei genauerer Untersuchung auf irrthümliche Diagnosen zurückzuführen ist ; derartige Iit- thümer widerfahren nicht lediglich den Düs minorum gentium. Petit berichtet von einem 49jährigen Manne, welcher seit sechs Jahren von Tabessymptomen heimgesucht Avar und dessen Leiden von einer Anzahl hervorragender französischer Aerzte (Charcot, Ball, See, Durand-Eardel u. A.) als Tabes bezeichnet Avurde. Da alle ihm von ärztlicher Seite verordneten Kuren keinen Erfolg hatten, suchte der Kranke in seiner VerzAveiliung Heilung in Lourdes und fand sie auch dort. Er litt eben nicht an Avirklicher Tabes, son- dern an der als hysterische Pseudotabes bezeichneten hysterischen
Diagnostische Irrthümer.
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Affektion. Der amerikanische Arzt F o w 1 e r beobachtete bei einer Anzahl von Hysterischen in der Brust Geschwülste, welche zum Theil über hühnereigross waren. Berühmte Chirurgen hatten bei meh- reren dieser Kranken die Geschwulst als bösartige Neubildung betrachtet und die Amputation der Brust vorgeschlagen; die Tumoren verschwanden jedoch sämmtlich unter psychischer Behand- lung. Ein Fall dieser Art ist mir in lebhafter Erinnerung; bei der betreffenden Patientin hatte sich vielleicht nach einem Falle mit Quetschung der Brust eine über hühnereigrosse verschiebbare Geschwulst in einer Brust entwickelt ; mein als Chirurg gewiss mit Recht sehr gefeierter verstorbener Lehrer Nussbaum, ein Mann von immenser chirurgischer Erfahrung, bezeichnete die Geschwulst als Sarkom und erklärte die Amputation der Brust für unver- meidlich, wobei er mir gegenüber noch bemerkte, dass sein Freund Thier sch in Leipzig bei einem vor Kurzem stattgehabten Besuche ebenfalls für die Nothwendigkeit der Brustamputation bei derar- tigen Neubildungen sich ausgesprochen habe. Zufälliger Weise gestattete mir der i;ngünstige Gesundheitszustand der Patientin nicht, derselben anzurathen, die Operation sofort vornehmen zu lassen; und dies war ihr Glück, denn die Geschwulst verschwand alsbald ohne jedes Zuthun spurlos. Hätte die Patientin eine Wall- fahrt vorher unternommen, so würden viele weit eher geneigt sein, eine Wunderheilung anzunehmen, als einem so erfahrenen Chirur- gen wie Nussbaum einen so schwer wiegenden Irrthum zuzu- trauen. Hiemit möchte ich natürlich keinen Stein auf diesen so hoch verdienten Mami werfen; ich möchte nur andeuten, dass das, was am grünen Aste geschieht, wohl noch viel häufiger am dürren Holze sich ereignen wird.
V. Abschnitt.
Speeielle Psychotherapie.
I. Krankheiten des Nervensystems.
a) Organische (Jeliirn- und Rückenmarkskrankheiten.
A priori liegt die Annahme nahe, und gar manche Aerzte mögen derselben huldigen, dass die Erkrankungen des centralen Nervensystems, welchen grobe anatomische Läsionen zu Grimde liegen, für die psychische Behandlung kein Feld bieten. Diese Annahme ist jedoch, wie wir sogleich zeigen werden, entschieden irrthümlich. Es ist zwar sicher, dass wir durch psychische Ein- wirkimgen weder einen Blut- oder Erweichungsherd im Gehirn be- seitigen, noch degenerirte Strangpartien im Bückenmarke ad inte- grum restituiren können, dass wir überhaupt auf psychischem Wege ebenso wenig als durch irgend ein somatisches Heilverfahren den Ersatz zu Grunde gegangener Nervenzellen und die Wiederver- einigung unterbrochener Leitungsbahuen herbeizuführen vermögen.
Nichtsdestoweniger sind wir auch bei den in Frage stehenden Leiden häufig im Stande , den Patienten durch eine sachgemässe l^sychische Behandlung sehr werthvolle Dienste zu leisten. Die Symptome, mit welchen die organischen Erkrankungen des Gehirns und Rückenmarks einhergehen, sind nicht sämratlich durch den Untergang von Nervenzellen und Fasern bedingt. Neben den eigentlichen Ausfallsymptomen bestehen meist noch Störungen, welche auf geringeren, die Funktion nicht vollständig aufheben-
Psych. Behandlung der organischen Gehirn- u. Rückenmarkskrankheiten. 177
den, sondern lediglich beeinträchtigenden Schädigungen der Nerven- elemente beruhen oder durch Eeizungs- oder Heiumungsvorgänge oder accessorische Cirkulationsanomalien bedingt sind. Zur Aus- gleichung dieser Storungen kann die psychische Behandlung jeden- falls Vieles beitragen. „Le trouble fonctionel“, bemerkt ßernheim, „dans les maladies des centres nerveux depasse souvent le champ de la lesion anatoinique; celle-ci retentit par choc ou irritation dynamique sur les fonctions des zones voisines. Et c’est contre ce dynamisme modifie, independant d’une alteration materielle directe que la psycho-therapeiitique peut etre toute-puissante.“ Wir können auf psychischem Wege centrale Erregungen auslösen, durch welche die Leitungswiderstände wenig veränderter Bahnen überwunden, unter Umständen auch neue Bahnen für die Leitung gewisser Impulse eröffnet, abnorme Keizungs- und Hemmungsvor- gänge aufgehoben und Cirkulationsstörungen beseitigt werden. Die Beobachtung lehrt ferner, dass in vielen Fällen durch psychische Momente organisch bedingte Störungen (z. B. Lähmungen) in ihrer Intensität und Tragweite wesentlich gesteigert werden. So finden wir bei der Untersuchung von Kranken nicht selten, dass die Leistimg einer oder beider Unterextremitäten beim Gehen und Stehen durchaus nicht der Leistung entspricht, welche die Prüfung der Funktionsfähigkeit der einzelnen Muskelgruppen ergiebt, dass Aengstlichkeit und Mangel an Willensenergie oder Scheu vor Schmerzen den Kranken jene Bewegungsfähigkeit, welche die ana- tomische Läsion ihnen gelassen hat, zum grössten Theile raubt. Es unterliegt aber auch keinem Zweifel, dass durch psychische Eintiüsse — Autosuggestionen — ursprünglich organisch fcedingte Funktionsstörungen nach Beseitigimg der organischen Ursache un- begrenzte Zeit sich forterhalten können. Durch die Hinwegräu- mung solcher schädigender psychischer Momente wird es den Kranken ermöglicht, die Leistungen, welche der anatomische Zu- stand ihrer Centralorgane gestattet, in vollem Umfange zu ver- richten. Endlich darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass wir häufig neben den von organischen Veränderungen abhängigen krank- haften Erscheinungen eine Reihe anderer finden, welche Folge eines neurasthenischen Zustandes oder rein psychischen Ursprungs sind (Combination organischer Erkrankungen des Gehirns und
Löwenfeld, Psychotherapie. 12
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Organische Gehirn- und llückenmarkskrankheiten
Rückenmarks mit Neurasthenie und Hysterie.) Unter den psycho- therapeutischen Maassnahmen, Avelche hier in Retracht kommen, kann naturgemäss die Aufklärung des Kranken auf den von der bestehenden anatomischen Läsion abhängigen Complex von Symp- tomen keinen direkten Einfluss ausüben; sie ist jedoch für den Gemüthszustand des Patienten und damit für dessen Allgemein- befinden von grosser Bedeutung. Ob und inwieweit wir bei unseren Aufschlüssen und Versicherungen den wirklichen Sachverhalt offen- baren dürfen oder diesen verschleiern müssen, dies hängt im All- meinen von der Aid des Leidens und der geistigen Individualität des Kranken, mitunter auch von den besonderen Umständen des Falles ab, z. B. der Nothwendigkeit, den Kranken zu bestimmen, dass er sich einer als erforderlich erkannten Therapie unterzieht. Hat der Patient einen Schlaganfall erlitten, so wird man ihm diesen Umstand gewöhnlich nicht verheimlichen können. Dagegen besteht meist kein Anlass, demselben die nächste Ursache des Schlaganfalles, Gehirnblutung oder Erweichung, noch weniger die entferntere Atheromatose , Embolie etc. mitzutheilen. Neigt der Kranke bezüglich seiner Apoplexie einer besonders günstigen Auf- fassung zu, z. B. dass dieselbe nur von einer Congestion herrührt, oder dass es sich bei derselben um einen sogenannten Nervenschlag handelt, so wird man ihn in dieser ihn beruhigenden Ansicht ohne Noth nicht stören, vielmehr ihn in derselben bestärken. In der ersten Zeit nach dem Eintritte einer Apoplexie, so lange der weitere Verlauf nicht zu übersehen ist und es vor allem darauf ankommt, den Kranken zu beruhigen, seine Kräfte zu erhalten, kann durch möglichst günstige Stellung der Prognose nie geschadet, sondern nur genützt werden. Sind dagegen Wocheii und Monate bereits verstrichen, die indirekten Herdsymptome geschwunden und nur die direkten verblieben, haben sich zu der bestehenden Hemi- plegie Contracturen gesellt, so ist es, wie wir bereits bemerkten, eine Grausamkeit gegen den Kranken, in demselben die Hoffnung auf vollständige Genesung, welche sich nie erfüllen kann, anzuregen und zu nähren. Der Vortheil der grösseren temporären Bendiigung, den man durch solches Vorgehen erzielt, wird durch die noth- wendig folgende Enttäuschung mehr als aufgewogen. Was wir hier bezüglich der Apoplektiker bemerkten, gilt in gleicher Weise
Organische Gehirn- und Rückenmarkskrankheiten.
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für alle Kranken mit unlieilbaren Gehirn- oder Rückenmarksleiden. Erregt bei diesen Patienten mitunter auch der Gedanke, dass sie auf vollständiges Gesundwerden verzichten müssen, zunächst sehr bittere Gefühle, so gewöhnen sie sich doch in der Regel allmählich an diesen Gedanken und finden dann auch in der ihnen in Aus- sicht gestellten Besserung jenes Maass von Trost, dessen dieselben zu ihrer Aufrechterhaltung bedürfen. Die Aussichten, welche wir dem Kranken dui’ch unsere Prognose eröffnen, dürfen natürlich nicht durch die Diagnose, die wir ihm mittheilen, geschmälert oder gar aufgehoben werden. In dieser Beziehung ist vor allem zu berücksichtigen, dass organische Rückenmarkskrankheiten noch immer als unheilbare und im Laufe der Zeit zu einem trostlosen Siechthum führende Leiden ziemlich allgemein gelten. Wir können daher z. B. bei Tabetischen schwerlich die Hoffnung auf Besserung nachhaltig anregen, wenn wir denselben über ihren Zustand reinen Wein einschenken; wenn nicht besondere Umstände uns nöthigen, solchen Kranken über die Natur ihres Leidens wahrheitsgemässe, genauere Aufschlüsse zu ertheilen, was sehr selten der Fall ist, empfiehlt es sich entschieden, denselben gegenüber über die allge- meine Bezeichnung „Nervenleiden“ nicht hinaus zu gehen ^). Aehn- lich haben wir es bei Gehirnkranken zu halten. Einem Tumor- kranken z. B. wird man, wenn die Möglichkeit eines operativen Eingriffes nicht vorliegt, jedenfalls besser keine Kenntniss von der Art seines Leidens geben.
Bei einem grossen Theile der hier in Betracht kommenden Kranken, insbesonders den mit unheilbaren Lähmungszuständen Behafteten beschränkt sich das, was ärztlicherseits zu leisten ist,
1) In ähnlichem Sinne hat sich jüngst Erb (Die Therapie der Tabes, Volkm. Samml., Nr. 150, N. F., 1896) geäussert, dessen Mahnungen gewiss allseitig auf Beachtung Anspruch erheben dürfen; „Und da möchte ich noch ein kurzes Wort sagen über die psychische Behandlung der Tabischen, die von hervorragender Wichtigkeit ist; das versteht sich bei dieser Art Leiden von seihst. Ich ermahne Sie, darauf jederzeit Bedacht zu nehmen, den Kranken die Schwere und den Verlauf ihres Leidens thunlichst zu verhüllen, ihr Ver- trauen und ihre Hoffnung stets auf’s Neue zu beleben, durch Ihre nie ermüdende Theilnahme und Fürsorge günstig auf ihre Stimmung zu wirken. Sie werden dadurch manchem Kranken sein schweres Leben erträglicher machen und in diesem Sinne auch der Suggestivtherapie — in jeder erlaubten Form — eine gewisse Bedeutung bei der Tabes zuerkennen.“
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Organische Gehirn- und Rückenmarkskrankheiten.
in der Hauptsache auf die Regelung der Lebensweise und Pdege. Bei den Vorschriften, welche wir zu diesem Behufe geben, haben wir darauf Bedacht zu nehmen, dass von dem Kranken alles fern- gehalten wird, was auf seinen psychischen Zustand ungünstig wirken könnte, Belästigung durch Unruhe in der Umgebung, Lärm, musikalische Uebungen und dergleichen, widrige gemüth- liche Erregungen. Die möglichste Verhütung letzterer erheischt sorgfältiges und liebevolles Eingehen auf die geistige Individualität des Kranken; die Wünsche und Neigungen desselben sollen, soweit sich dies ohne Schaden für denselben machen' lässt, Berücksich- tigung finden; der Kranke muss aber auch gegen unverständige Theilnahmsbezeugungen und unbesonnene Aeusserungen seitens Dritter thunlichst geschützt werden. Passende Zerstreuimgen, unter Umständen auch Beschäftigung können sehr viel dazu bei- tragen, dem Leidenden seinen Zustand erträglich zu machen. Demjenigen, der gerne eine Partie Skat oder Whist spielt, soll daher dieses Vergnügen nicht vorenthalten werden, vorausgesetzt, dass dasselbe ihn nicht geistig zu sehr anstrengt und ihm auch keine Aufregung verursacht. Gelähmte Rückenmarksleidende sind oft noch geschäftlich oder litterarisch thätig, und die verbliebene Fähigkeit, zu arbeiten, gewährt ihnen Trost, söhnt sie in gewissem Maasse mit ihrem traurigen Schicksale aus. Die Beschäftigung beeinflusst auch ihren Zustand nicht in ungünstiger Weise, wenn dabei keine Ueberanstrengung statt hat. Gehirnkranke ertragen dagegen geistige Beschäftigung meist schlecht, namentlich wenn dieselbe mit Verdriesslichkeiten und Sorgen verknüpft ist. Man thut daher im Allgemeinen sehr gut, dieselben von der Theilnahme an Geschäften und auch von Zerstreuungen zurückzuhalten, welche den Geist allzusehr in Anspruch nehmen. Schon längeres Ver- weilen in grösserer Gesellschaft kann denselben nachtheilig werden. Während der besseren Jahreszeit ist auch wegen der vortheilhaften Einwirkung auf den psychischen Zustand dafür Sorge zu tragen, dass der Patient möglichst oft in’s Freie kommt und ihm hiebei Gelegenheit geboten wird, sich den freundlichen Eindrücken der Natur hinzugeben. Der Aufenthalt im Freien ist bei vielen Gelähmten an die Benützung eines Fahrstuhles geknüpft, zu dessen Anschaffung und Gebrauch sich auch Avohlsituirte Patienten oft
Organische Gehirn- und Rückeninarkskrankheiten.
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nur nach längerem Zögern und sehr widerstrebend entschliessen. Die an sich gerechtfertigte Scheu dieser Kranken, ihre Hilflosig- keit aller Welt zu offenbaren, wird leichter überwunden und die traurige Nothwendigkeit ihnen viel annehmbarer gemacht, w^enn man ihnen vorstellt, dass dieser Behelf nur vorübergehend noth- wendig sei, und dass mit dem Gebrauche des Fahrstuhls noch keineswegs die Hoffnung auf Wiedererlangung der Gehfähigkeit aufgegeben werden müsse, vielmehr der hiedurch ermöglichte Luftgenuss bei völliger Schonung zur Wiedererlangung dieser Fähigkeit sehr beitrage.
Zur Besserung und Ausgleichung von Lähmungszuständen sind wir oft in der Lage, durch eine gewisse psychische Gymnastik bei- zutragen. Man kann dieselbe in der Weise vornehmen, dass man den Patienten auffordert, bestimmte Bewegungen möglichst kräftig zu intendiren, ohne sich dabei um den Erfolg zu kümmern, oder das von Lehmann empfohlene Verfahren (vergleiche p. 125) ein- schlagen.
Auch die Suggestivbehandlung kann bei den hier in Betracht kommenden Krankheiten in reichlichem Maasse Anwendung finden, und manche therapeutische Methode, deren Erfolge man physikali- schen Einflüssen zuschrieb und zum Theil noch zuschreibt, ver-
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dankt ihre Wirksamkeit wesentlich dem suggestiven Faktor. In erster Linie eignen sich füi' die Suggestivbehandlung die Er- scheinungen, welche nicht direkt durch die bestehenden organischen Läsionen bedingt sind, Störungen des Allgemeinbefindens, Appetit- und Schlafmangel, Kopfschmerz, Schwindel etc. Aber auch die durch strukturelle Veränderungen derNervencentren herbeigeführten Funktionsstörungen sind in gewissem Maasse dem Suggestionsein- flusse zugänglich, wie wir schon oben andeuteten. Von der ver- balen Suggestion im Wachen wnd man nur selten erheblichen Nutzen sehen. Ungleich mehr erreichen wir gewöhnlich mit der larvirten Suggestion, die je nach der Art der zu beseitigenden Störung und der Individualität des foanken verschieden gestaltet werden muss. Bei Schmerzen erzielen wir oft durch indifferente Pulver, Einreibungen, Umschläge oder ähnliche äussere Applika- tionen Linderung, bei .Schwächezuständen und Lähmungen lassen sich Elektricität und Massage mit Vortheil verwerthen ; bei sen-
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siblen und sensoriellen Anästhesien hat man von der Metallo- therapie, speziell von der Magnetanwendung in einer Anzahl von Fällen auffällige Erfolge gesehen. So berichtet Bernheim über einen Fall, in welchem eine sensitiv-sensorielle, an eine organische (wahrscheinlich durch einen Erweichungsherd bedingte) Hemiplegie von 4jährigem Bestände geknüpfte Hemianästhesie durch Magnet- applikation in einigen Tagen beseitigt wurde; in einem weiteren von Bern heim beobachteten Falle, in welchem es sich ebenfalls um eine cerebrale Herderkrankung, wahrscheinlich einen Erweich- ungsherd handelte, wurde eine seit vier Monaten bestehende, voll- ständige sensitiv-sensorielle Hemianästhesie, welche mit Hemiparese vergesellschaftet war, in 10 Tagen durch Anlegen von Magneten geheilt. Mit der Wiederherstellung der Sensibilität ging hier eine Zunahme der Muskelkraft in den paretischen Extremitäten einher. Noch bemerkenswerther ist der Erfolg der Magnetanwendung in einem dritten von Bernheim beobachteten Falle: „Ein Mann
von 49 Jahren leidet seit 9 Jahren an den Symptomen einer Kleinhirnerkrankung : apoplektischen Anfällen, Hinter hauptssehmerz. Schwanken beim Gang, Schwindelgefühl bei der mindesten Bewegung des Kopfes gegen die Wirbelsäule und an seit zwei Jahren be- stehender sensitiv-sensorieller Hemianästhesie. Ein auf das Gesicht gelegter Magnet beseitigt zuerst den Schwindel und stellt dann die sensitiv-sensorielle Sensibilität wieder her. Dann folgt eine all- mähliche Wiederherstellung der Sensibilität am Rumpfe und an den linksseitigen Extremitäten mit Steigerung der Muskelkraft.“ Die zumeist transitorischen und gewöhnlich nur einzelne Symptome betreffenden Besserungen, welche durch Suspensions- behandlung bei Tabes und anderen chronischen, nicht durch Com- pression bedingten Rückenmarkerla’ankungen erreicht werden, lassen sich nach den Erfahrungen Haushalter’s und Hirt’s kaum auf einen anderen Faktor als auf die Suggestionswirkung des Verfahrens zurückführen. Man scheint diese anfänglich von manchen Autoren energisch bekämpfte Auffassung gegenwärtig ziemlich allgemein adoptirt zu haben; die Suspensionsbehandlung Tabetischer, von welcher man sich einige Zeit sehr viel ver- sprach, wird nur wenig mehr geübt. Auch die beschränkten und vorübergehenden Erfolge so mancher Badekuren bei einzelnen
Organische Gehirn- und Rhckenniarkskrankheiten
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liier in Frage stehenden Leiden dürften in der Hauptsache durch suggestive EinHüsse zu Stande kommen. Jedenfalls macht das Vertrauen, welches man in weiten Kreisen der Heilkraft der JUider bei chronischen Erkrankungen des Nervensystems entgegen- bringt, diese zu einer sehr geeigneten Form der larvirten Sug- gestivbehandlung. Auch von der Hypnose, resp. der hypnotischen Suggestion ist von einer Anzahl von Beobachtern bei organischen Gehirn- und Kückenmarksaffektionen mit günstigem Erfolge Gebrauch gemacht worden. Bern heim erzielte hiedurch beachtenswerthe Resultate bei cerebralen Herderkrankungen (Beseitigung von Con- tracturen, Besserung von Lähmungserscheinungen); in einem als jMyelite diffuse subaigue des cordons anterieurs (?) bezeichneten Falle wurde der Lähmungszustand der Beine beträchtlich gebessert. Bei mehreren Ataktischen gelang es Bernheim durch hypnotische Suggestion temporär lanzinirende Schmerzen, gastrische Krisen und Blasentenesmus zu beseitigen. Bei einem dieser Kranken wurde für eine gewisse Zeit die Gehfähigkeit in sehr auffälliger Weise gebessert ; derselbe, früher unfähig sich aufrecht zu erhalten, vermochte ohne Benützung eines Stockes zu gehen. Ebenso gelang es Bernheim bei mehreren Kranken mit spastischer Spinal- paralyse die Steigerung der Sehnenreflexe und die vorhandenen Contracturen für kürzere oder längere Zeit zu verringern. In einem Falle von multipler Sklerose erhielt sich die Besserung sechs Monate. • Dass der Verlauf der Tabes dorsalis, der multipen Sklerose etc. durch die Suggestion nicht aufzuhalten ist, gesteht Bernheim selbstverständlich zu. Auch Fontan (Toulon) berichtet, dass er bei organischen Gehirn- und Rückenmarksleiden (Gehirn- blutung, Myelitis, Tabes) durch hypnotische Suggestion manchen Kranken Erleichterung zu verschaffen vermochte durch Mehrung der Kraft gelähmter Glieder, Beseitigung von Schmerzen etc. Dieser Autor erklärt, dass bei den von Blutherden abhängigen Hemiplegien ein Erfolg von der Suggestion nur dann zu erwarten ist, wenn weder Hyperästhesie noch Contracturen an den gelähmten Gliedern bestehen. Wenn in solchen Fällen auch ohne Hypnose
1) So z. B. bei lange bestehenden cerebralen Herclerkrankungen, apoplek- tischen und Erweichungsherden.
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Neurasthenie
die Lälmiung sich verlieren kann, so wird sie doch durch Zuhilfe- nahme dieser gewöhnlich viel rascher geheilt als ohne dieselbe. Grossmann erachtet überhaupt die Fälle von Erkrankung des peripheren und centralen Nervensystems und der Muskulatur, die an sich schon die Tendenz haben, zurück zu gehen, als ein ganz besonders dankbares Feld für hypnotische Suggestion. Diese Leiden können zweifellos auch ohne Hypnose einen günstigen Ausgang nehmen, allein man begegnet doch zuweilen, wie Gross- mann mit Recht hervorhebt, Fällen, in welchen die Funktions- störungen sieh nicht entsprechend dem Rückgänge der anatomischen Veränderungen ausgleichen, in welchen Furcht vor Schmerzen, Autosuggestionen und Willensschwäche den Kranken verhindern, wieder die volle Herrschaft über seine Glieder zu erlangen, auch nachdem der pathologische Prozess im Nervensystem im Wesent- lichen abgelaufen ist. In diesen Fällen kann durch sorgfältig bemessene, allmählich mit den Anforderungen steigende Hebungen in der Hypnose, deren Erfolgen durch entsprechende Suggestionen und Hebungen auch im wachen Zustande Dauer verschafft wird, entschieden genützt werden.
b) Neurasthenie.
Die Maassnahmen, welche in der psychischen Therapie der Neurasthenie zur Anwendung kommen, sind zum Theil solche, welche auf den Allgemeinzustand des Nervensystems einzuwirken bestimmt und geeignet sind — Allgemeinbehandlung — , zum Theil solche, welche sich in erster Linie gegen einzelne Krankheitser- scheinungen richten — symptomatische Psychotherapie. Beide Arten der Behandlung lassen sich nicht stricte trennen, sofern das, was günstig auf den Allgemeinzustand wirkt, auch die ein- zelnen Symptome günstig beeinflusst, und umgekehrt die Besserung oder Beseitigung einzelner Symptome wieder vortheilhaft auf den Allgemeinzustand zurückwirkt. In das Gebiet der Allgemeinbe- handlung gehört vor allem die Beseitigung psychischer Schädlich- keiten, welche das bestehende Leiden herbeiführten oder an der Ausbildung und Hnterhaltung desselben betheiligt sind. Im Wesent- lichen handelt es sich hiebei um das Verbot geistiger Heberan- strengung oder geistiger Anstrengung überhaupt und die Fürsorge
Neurasthenie.
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für Fernbaltung nachtheilig wirkender gemüthlicher Erregungen; die Durchführung dieses Erfordernisses • lässt sich häufig nicht ohne Entfernung des Patienten aus seiner gewohnten Umgebung '(Isolirung) erreichen. Dei neurasthenischen Zuständen, welche erst kurze Zeit bestehen, und bei Mangel erblicher Belastung genügt diese negative psychische Behandlung zumeist zur Heilung der bestehenden Störungen und eine Luftveränderung (Landaufenthalt oder nicht sehr ausgedehnte Reise) erweist sich dabei gewöhnlich als förderliches Moment.
Unter den Mitteln, durch welche wir eine positive heilsame Beeinflussung der Ps^yche des Kranken erzielen, figurirt in erster Linie die Aufklärung desselben über sein Leiden. Durch diese werden, wenn sie in der richtigen Weise gegeben wird, die Sorgen und Zweifel des Kranken über die Bedeutung der bei ihm vor- handenen nervösen Störungen und hieinit alles, was seine angst- erfüllte Phantasie zur Verstärkung und Ausbreitung derselben bei- getragen oder direkt an Symptomen produzirt hat, weggeräumt. Die Aufklärung muss sich nicht nur auf die Art und voraussicht- liche Dauer des Leidens, sondern auch auf die Ursachen desselben, soweit diese zu eruiren sind, erstrecken und soll auch Andeutungen über den möglichen Verlauf, das so häufig vorkommende Schwanken des Zustandes auf und abwärts enthalten.
Eine weitere sehr gewichtige Aufgabe der positiven psychischen Behandlung ist die Regulirung der Lebensweise und die geistige Direktion des Leidenden. Durch diese Maassnahmen führen wir nicht nur eine wohlthätige Gemüthsberuhigung herbei, indem wir die zum grös.sten Theil wegen ihres Zustandes ängstlichen Patienten von Sorgen und Zweifeln, ob sie sich nicht diu'ch ihre Lebensweise irgendwie schaden werden, befreien ; wir sind durch dieselben auch in der Lage, das Verhalten des Ki'anken in einer Weise zu gestalten, welche seiner Gesundheit direkt förderlich ist. Die Vor- schriften, welche wir geben, müssen die ganze Lebensführung des Patienten umfassen, die Ernährung, die Art und Dauer der geistigen und körperlichen Beschäftigung und der Zerstreuungen, den Verkehr mit anderen Personen (Verwandten, Freunden, Fremden), die Zeit für Ruhe und Schlaf bei Tag und Nacht. Dabei ist besonderes Augenmerk darauf zu richten, dass der Patient von krankhaften
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Neurasthenie.
oder schädlichen Vorstellungen und Stimmungen abgelenkt, zur Bethätigung seiner Willenskraft consequent ungehalten^) und dadurch sein Selbstvertrauen mehr und mehr gehoben Avird. Die Weisungen, welche man ertheilt, müssen natürlich der .Leistungs- fähigkeit des Patienten , seiner psychischen Individualität und äusseren Stellung angepasst und deren Ausführung, soAveit ajs thunlich, stetig überwacht werden. Bei den AvillensschAvachen, mit hereditärer Neurasthenie Behafteten ist der Arzt oft zu per- sönlichem Eingreifen und unablässigen Mahnungen genöthigt, um den Vollzug seiner Anordnungen durchzusetzen; andere Neurasthe- nische haben im Gegentheil eine Neigung, bei ihren Leistungen über die Schnur zu hauen , aus Ehrgeiz , Pflichtgefühl , Liebe zu anderen oder auch wegen des momentanen Vergnügens, Avelches die Thätigkeit bereitet, sich zuviel zuzutrauen; hier muss der schädliche Eifer gezügelt, der Unbedachtsamkeit durch ernste Ver- mahnung entgegen gewirkt werden.
Von grosser Bedeutung für die Psyche des Leidenden sind auch die Wirkungen der somatischen Heilmittel, welche bei neu- rasthenischen Zuständen so oft Anwendung finden. Jede thera- peutische Procedur, jede arzneiliche Verordnung, welche in irgend einer Beziehung Besserung des Zustandes herbeiführt, wirkt auch psychisch als Heilmittel, sofern dadurch der Leidende in seinem Vertrauen zu dem behandelnden Arzte bestärkt und von wohl- thätiger Hoffnung erfüllt wird. Auf der anderen Seite sind aber Neurasthenische auch sehr geneigt, bei ungünstiger Beeinflussung ihres Befindens durch eine Behandlung sogleich Muth und Ver- trauen zu verlieren. Dies ist namentlich bei Verwerthung der Elektro- und Hydrotherapie zu berücksichtigen, deren Leistungen bei Neurasthenie keineswegs, wie manche glauben, lediglich oder Avesentlich auf Suggestion beruhen. In den Wasserheilanstalten wird häufig durch eine allzu reichliche Anwendung dieser phy- sikalischen Heilmittel (insbesonders hydriatischer Proceduren), durch welche man den Erwartungen der Kranken bezüglich der anstaltlichen Behandlung entsprechen und dieselben beschäftigen
1) Betreffs der hiebei erforderlichen Maassnahmen siehe unter Willens- gymnastik p. 119 u. ff.
Neurasthenie, Hysterie.
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will, entschieden geschadet, während die Menge der täglich zur Anwendung gebrachten hydriatischen und sonstigen physikalischen Mittel (Elektricität, Massage etc.) suggestiv auf den Zustand günstig wirken sollte.
Von den einzelnen Symptomen des Leidens sind manche und zwar sehr wichtige der Suggestivbehandliing in jeder Form wenig oder gar nicht zugänglich. Hieher gehören vor allem die Herab- setzung der- geistigen Arbeitskraft und die Gedächtnissschwäche, von den Störungen auf motorischem Gebiete die verminderte Leistungsfähigkeit der Muskulatur (die neurasthenische Amyos- thenie). Von den Anomalien der psychischen Sphäre erweisen sich dagegen Zwangsvorstellungen, Angstzustände (Phobien) und Gemüthsveratimmungen häufig als lohnende Objekte der Suggestiv- therapie, ebenso auch die verschiedenen neurasthenischen Sensibi- litätsstörungen, Kopf-, Rücken- und Gliederschmerzen; auch bei der nervösen Herzschwäche, der nervösen Dyspepsie • und Entero- pathie und den sexuellen Funktionsstörungen leistet diese Therapie in vielen Fällen gute Dienste. Dagegen sind die Erfolge bei Schlafmangel sehr schwankend; in manchen Fällen zeigen sich sehr rasch günstige Wirkungen, in andern bleibt der gewünschte Erfolg gänzlich aus. In der grossen Mehrzahl der Fälle kommt man mit der Wach -Suggestion in der einen oder anderen Form aus; die Zuhilfenahme der Hypnose erheischen vorwaltend die Zwangsvorstellungen und Phobien, auf deren Behandlung wir an späterer Stelle näher eingehen werden.
c) Hysterie.
Die Hysterie wird gegenwärtig von manchen Aerzten als ein rein psychisches Leiden betrachtet. Zweifellos sind sehr viele hyste- rische Symptome psychischen Ursprungs, und auch jene Aeusser- ungen der Krankheit, für welche sich psychische veranlassende Momente nicht nachweisen lassen, zeigen sich psychischer Beein- flussung mehr oder minder zugänglich. Es begreift sich daher, dass bei der Bekämpfung der Hysterie der psychischen Behand- lung die Hauptrolle zufällt.
Was zunächst die in das Gebiet der Allgemeinbehandlung fallenden Maassnahmen betrifft, so gilt das bei der Behandlung der
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Hystone.
Neurasthenie bez. der Beseitigung ])sychisclier Schädlichkeiten, Aufklärung, Eegulirung der Lebensweise und geistigen Direktion der Kranken Bemerkte in gleicher Weise für die Hysterie. Von manchen Seiten (insbesondere französischen Aerzten) wird das Hauptgewicht bei der psychischen Behandlung der Hysterie auf die Entfernung der Kranken aus ihrer bisherigen Umgebung, die Isolirung, gelegt. Sicher bilden in vielen Fällen die häuslichen Verhältnisse eine Quelle von psychischen Einflüssen, welche ent- schieden nachtheilig auf die Kranken einwirken, das Leiden unter- halten und steigern und eine erfolgreiche Behandlung in der Häuslichkeit erschweren oder auch ganz unmöglich machen. Dess- halb dürfen wir uns jedoch nicht zu einer schablonenmässigen Anwendung der Isolirung verleiten lassen, wie sie z» B. Gilles de la Tourette übt; wir müssen vielmehr in jedem einzelnen Falle sorgfältig prüfen, ob Umstände vorliegen, welche die Ver- setzung der Patientin in eine andere Umgebung nöthig oder wünschenswerth machen, und ob die Vortheile einer etwaigen Isolirung nicht durch daran sich knüpfende Nachtheile aufgewogen werden. Hysterische können durch zwei Extreme in dem Ver- halten ihrer Umgegend geschädigt werden, durch ein Uebermaass von Aufmerksamkeit, Bemitleidung und Nachgiebigkeit ebensowohl als durch Vernachlässigung oder direkt rohe, rücksichtslose Be- handlung. Durch die übermässige Bemitleidung wird in der Kranken die Vorstellung geweckt, dass sie schwer leidend ist. Die damit Hand in Hand gehende übertriebene Beachtung ein- zelner Symptome seitens der Umgebung steigert deren Bedeutung auch in der Meinung der Leidenden und führt zur anhaltenden Fixirung der Aufmerksamkeit auf dieselben und damit zu deren Verschlimmerung oder wenigstens zum Persistiren derselben. Durch die zu \^eit gehende Nachgiebigkeit gegen die Wünsche der Kran- ken, welche die übermässige Bemitleidung gewöhnlich nach sich zieht, wird die Durchführung der ärztlichen Verordnungen häufig verhindert oder wenigstens eingeschränkt. Die lieb- und rück- sichtslose Behandlung ruft auf der anderen Seite bei den Kranken schädliche gemüthliche Erregungen hervor, deren Einfluss auf das Leiden jedes ärztliche Bemühen illusorisch machen kann. Aufgabe des Arztes ist es natürlich in erster Linie, die Umgebung auf die
Hysterie. 189
nachtheiligen Folgen ihres Verhaltens aul'mei’ksam zu machen und auf Aendenmg desselben zu dringen; erst wenn er die Ueber- zeugung gewinnt, dass seinem Verlangen in dieser Richtung nicht entsprochen wird oder auch in Anbetracht der psychischen Be- schalfenheit der Angehörigen nicht entsprochen werden kann, hat er die Fi’age der Isolirung in ErAvägung zu ziehen, und wenn die materiellen Verhältnisse der Kranken dieselbe gestatten, und auch sonst keine Bedenken sich dagegen erheben, diese Maassnahme mit allem Nachdrucke in Vorschlag zu bringen. Auch zwei Extreme in dem Verhalten der Kranken selbst können die Entfernung der- selben aus ihrer Umgebung rathsam machen. Manche Hysterische — gewöhnlich sind es psychopathisch belastete oder degenerirte Individuen — kommen in Folge der übertriebenen Hingabe und Bemitleidung seitens ihrer Angehörigen allmählich dazu, ihre An- forderungen an diese in rücksichtsloser Weise zu steigern und dabei, da ihre Wünsche doch nicht immer erfüllbar sind, sich häufig in schädigende Aufregung zu versetzen. Andere Hysterische, Vertreterinnen des entgegengesetzten Charaktertypus, vernachlässigen ihren Zustand in Folge eines üebei’maasses von Selbstlosigkeit; für diese spielt das eigene Befinden und das eigene Interesse keine Rolle, sie kennen nur die Sorge für das Wohl und die Bequem- lichkeit ihrer Angehörigen und gehen in dieser ganz aufi Die allzu Egoistischen müssen, wenn es irgend möglich ist, isolirt und dabei in eine Umgebung versetzt werden, welche sie zu einer gewissen Selbstbeherrschung zwingt. Bei den Hyperaltruistischen stossen wir dagegen, wenn wir durch Isolirung ihnen zur erwünschten psychi- schen Ruhe verhelfen wollen, öfters auf die Schwierigkeit, dass diese sich diu'ch die Isolirung wegen der seelischen Beschaffenheit der Patientin nicht erzielen lässt. Eine Frau z. B., welche mit übermächtiger Liebe an ihren Kindern hängt, von welchen das eine oder andere besonderer Fürsorge bedarf, nimmt die Sorge um das Ergehen ihrer Lieblinge und die Sehnsucht nach diesen auch in jede neue Umgebung mit. Die Gemüthserregungen, welche die Trennung von der Familie hier nach sich zieht, können die Vortheile, welche diese Maassnahme in Form einer gewissen äusseren Ruhe für die Leidende mit sich bringt, nicht nur völlig ausgleichen, sondern sogar übercompensiren. In derartigen Fällen bildet die
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Hysterie,
Isolirung das grössere von zwei Uebeln, zwischen welchen wir zu wählen haben, wir müssen uns daher zumeist damit begnügen, auf eine Entlastung der Kranken in ihrer Häuslichkeit hinzuwirken.
Bei der Bekämpfung der einzelnen hysterischen Symptome tritt die Suggestivbehandlung in ihr Kecht ; die Hysterie bildet auch die Hauptdomaine dieser Therapie. Schon die einfach ver- bale Suggestion im Wachzustände, die Ankündigung des Schwin- dens einer bestehenden Störung, der Befehl, eine bis dahin für unmöglich gehaltene Leistung auszuführen etc., kann, wie wir an früherer Stelle bereits gesehen haben, eine Heilwirkung hervor- bringen. Insbesonders bei den hysterischen Anfällen lässt sich die verbale Suggestion oft mit Vortheil verwerthen; wir werden auf diesen Punkt noch zurückkommen. In der grossen Mehrzahl der Fälle leistet uns jedoch die larvirte Suggestion gegen die einzelnen hysterischen Erscheinungen entschieden bessere Dienste als die rein verbale Suggestion. Der Erfolg der larvirten Suggestion hängt jedoch, wenigstens in sehr vielen Fällen, wesentlich von der Form ab, in welcher dieselbe angewendet wird; diese darf daher durchaus nicht als etwas Nebensächliches betrachtet werden. An früherer Stelle wurden bereits die verschiedenen Mittel und Pro- ceduren, welche als Vehikel der Heilsuggestion dienen können, angeführt und auch Andeutungen bezüglich der Auswahl des für den einzelnen Fall Geeigneten gegeben. Wir erwähnten dort, dass das gewählte Mittel und dessen Applikationsweise von einer Art sein soll, dass hiedurch allein schon bei dem Patienten die Vor- stellung der Heilung erweckt wird (unabhängig von jeder ärztlichen Suggestion). Daneben kommt jedoch bei der grossen Suggesti- bilität der Hysterischen noch ein Umstand in Beti’acht. Manche Kranke besitzen in Folge zufälliger Umstände — sie haben z. B. von den günstigen Wirkungen eines Mittels in einem ähnlichen Falle gehört — ein besonderes Vertrauen zu einem bestimmten Mittel oder Kurverfalmen, in Folge dessen die betreffende Art der Suggestivbehandlung einen Erfolg erzielt, wälmend andere anscheinend geeignetere Suggestivmittel wirkungslos bleiben. So erwähnt Gilles de la Toure tte, dass eine 18jährige Hysterische zwei Jahre lang vergeblich wegen einer Paraplegie behandelt wurde, als dieselbe zufällig von einer Freundin hörte, dass eine gelähmte Person nach
Hysterie.
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dem Einnehmen gewisser Pillen plötzlich genesen sei. Man ver- sicherte der Kranken, dass man die Zusammensetzung der frag- lichen Pillen ermitteln Avolle, und gab derselben nach einiger Zeit Pillen von angeblich der gleichen Composition, in Wirklichkeit von Mica panis; nach dem Einnehmen der dritten Pille erhob sich die Kranke und ging frei umher ^). Ebenso können aber auch zufällige Umstände es bedingen, dass Kranke gegen bestimmte Mittel ein Misstrauen oder eine Aversion haben, von der Anwendung dieser wird man in der Regel besser absehen. Von grosser Wichtigkeit ist aber auch das Vertrauen der Patientin zu dem behandelnden Arzte; der Glaube an die Kunst des Arztes überträgt sich auch auf die von demselben gegebenen Verordnungen; fehlt dieser Glaube, so bleibt die rein verbale Suggestion des Arztes sowohl als die larvirte Suggestivbehandlung gewöhnlich ohne Erfolg.
An sich sollte man glauben, dass sich durch die hypnotische Suggestion bei Hysterischen ungleich bessere Resultate erzielen lassen als durch die Wachsuggestion. Meine eigene Erfahrung lehrt jedoch, dass dies durchaus nicht immer zutrifft, dass in einer erheblichen Anzahl von Fällen sich die Wachsuggestion der hypnotischen in der Wii’kung überlegen zeigt. Auch Forel erklärt, dass man nach seinen Wahrnehmungen bei Hysterischen dm’ch geschickte Suggestion im Wachen mehr noch als durch förmliche (angekündigte) Hypnose erreicht. In der That sind die thera- peutischen Leistungen der hypnotischen Suggestion bei Hysterischen ausserordentlich schwankend ; während dieselbe uns in einer Reihe von Fällen sehr bedeutende, zum Theil sogar glänzende Dienste leistet, liefert sie uns in anderen Fällen nur Misserfolge oder höchstens temporäre Besserung. In welchen Umständen dies begründet ist, hierüber sind wir derzeit noch keineswegs genügend aufgeklärt; wir sind daher auch nicht in der Lage, a priori immer zu bestimmen, ob ein Fall sich für die hypnotische Behandlung eignet oder nicht. Vor allem scheinen die schwerkranken Hysterischen sich für die hypnotische Behandlung nicht zu quali-
1) Pitres brachte hysterische Lähmungen durch Verabreichung von Pillen von Methylenblau zum Schwinden; diese Pillen sind, da sie den Urin blau färben, sehr geeignet, die Vorstellung einer mächtigen Wirkung auf den ganzen Organismus hervorzurufen.
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Hysterie, hysterische Anfälle.
tiziren; sie. sind in Folge ihres Zustandes zumeist unfähig, die suggerirte Vorstellung festzuhalten und weiter zu verarbeiten. Dann werden auch bei den hypochondrischen Hysterischen nur selten besonders günstige Resultate erzielt. Diese Kranken mögen sehr suggestibel sein, ihre Suggestibilität geht jedoch fast ganz in Autosuggestibilität auf, sie halten ihre Antosuggestionen sehr fest und sind dabei für Fremdsuggestionen sehr wenig zugänglich. Manche Hysterische sind auch, wie wir bereits bemerkten, nicht oder nicht genügend hypnotisirbar. Wegen dieses Umstandes und der Unsicherheit der Leistungen der hypnotischen Suggestion pflege ich im Allgemeinen, bei Hysterischen es zunächst mit der Wach- suggestion in der einen oder anderen Form zu versuchen; andere ziehen in erster Instanz schon die Hypnose heran. Allgemein gütige Vorschriften darüber, welche Art der Suggestivbehandlung in erster Linie überhaupt oder einzelnen Symptomen gegenüber anzuwenden ist, lassen sich nicht geben. Dass man ausser der hypnotischen Suggestion auch die Hypnose ohne Suggestion bei Hysterie symptomatisch gegen einzelne Zufälle verwerthen kann, haben wir bereits erwähnt.
Bezüglich der Anwendung der kathartischen Methode und der Emotionstherapie bei Hysterie sowie der Wunder- und Glaubens- kuren können wir auf unsere Darlegungen an früherer Stelle ver- weisen.
Von den einzelnen Symptomen der Hysterie können wir hier nur drei Gruppen berücksichtigen: Die Anfälle, die Schmerzen und die Schwäche- und Lähmungszustände. Hängt das Auftreten der einzelnen hysterischen Attaquen, wie es sehr häufig der Fall ist, von gemüthlichen Erregungen ab, so ist in erster Linie auf die Fernhaltung dieser (eventuell durch Isolirung der Patientin) hin- zuwirken. Lässt sich vermuthen, dass die Anfälle mit einem pein- lichen Erlebnisse — einem psychischen Trauma — Zusammen- hängen, über welches die Kranke keine Aufklärung geben kann, so ist die kathartische Methode zu versuchen, deren Ergebnisse allerdings nicht immer befriedigend sind, wie wir sahen. Bei Kranken, welche nur an leichteren Anfällen (Anfällen mit geringen motorischen Erscheinungen, leichten Schlafattaquen) leiden, kann der Eintritt solcher öfters durch eine Willensanstrengung verhin-
Hysteriscbo Anfillle.
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(lert werden, zu welcher die Patientin aufzufordern, man nicht verabsäumen darf, ln den übrigen Fällen tritt zunächst die Su"gestivbehandlung in ihr Recht. Die grossartigen Erfolge, welche hier in einzelnen Fällen mit der hypnotischen Suggestivtherapie erzielt werden, dürfen nicht zu dem Glauben verleiten, dass diese Behandlungsmethode immer wirksam sein müsste. Neben den Treffern erscheinen viele Nieten, wie v. Krafft-Ebing vor Kurzem mit Recht betonte, und wir sind daher auch bei den Anfällen keineswegs in der Lage, auf die larvirte Suggestivbehandlung in der einen oder anderen Form zu verzichten. Wenn alle suggestiven Stricke reissen, kann auch noch die Emotionstherapie herange- zogen werden, die jedoch 'nicht zu weit gehen darf, wie wir an früherer Stelle dargelegt haben.
Bei der ärztlichen Intervention während des Anfalles ist vor allem zu berücksichtigen, dass die Hysterischen nicht, wie noch vielfach geglaubt wird, während ihrer Anfälle das Bewusstsein verlieren, ähnlich wie die Epileptischen. In der Regel besteht während der Attaque nur eine mehr oder minder weit gehende Trübung des Bewusstseins, welche das Fortbestehen einer gewissen Suggestibilität durchaus nicht verhindert. Der Arzt hat die Auf- gabe, die Umgebung auf diesen Umstand aufmerksam zu machen und zu veranlassen, dass sie in ihrem Verhalten demselben ent- sprechend Rechnung trägt. Lautes Jammern über das Leiden im Allgemeinen oder den eingetretenen Anfall im Besonderen, ängst- liches und aufgeregtes Gebahren der Angehörigen ist geeignet, die Kranke suggestiv ungünstig zu beeinflussen und dadurch den Anfall zu verschlimmern oder zu verlängern. Die Aeusserungen des Arztes und der Umgebung und deren Verhalten müssen darauf hinzielen, die Kranke zu beruhigen und die Vorstellung bei ihr zu erwecken, dass der Anfall von keiner Bedeutung ist und bald vorüber sein wird. Bernheim versichert, dass es ihm in den meisten Fällen gelingt, durch suggestive Bemerkungen: „Nun ist es zu Ende, der Anfall bricht ab, wachen Sie ,auf“, oder durch entsprechende Aeusserungen an die Umgebung den Anfall sofort oder in einigen Minuten zum Stillstand zu bringen; auch seine Sekundärärzte und die Krankenschwestern seiner Klinik sollen sich des gleichen Ver- fahrens mit Erfolg bedienen. Unsere Hysterischen sind in ihren
Löwrenfold, Psychotherapie. jg
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Hysterische Schmerzen, Lilhmungen.
Anfällen nicht immer der Suggestion in gleichem Maasse fügsam; öfters erzielt man hei denselben nur eine vorübergehende Unter- brechung oder Abschwächung der Attaque; da jedoch auch diese ’ schon eine Erleichterung für die Kranken bildet, so darf man nie auf den Versuch einer suggestiven Beeinflussung und Abkürzung des Anfalles verzichten.
Auch bei den hysterischen Schmerzen kann durch die Um- gebung viel genützt und viel geschadet werden. Lautes Mitjam- mern, übermässige Besorgniss und Geschäftigkeit, um Erleichterung zu verschaffen, wirken suggestiv ungünstig, während beruhigendes Zureden, Ankündigung baldigen Nachlassens und Ablenkung der Aufmerksamkeit recht oft sich nützlich erweisen. Die larvirte Suggestion, mit Geschick und Ausdauer gehandhabt, leistet meist sehr erspriessliche Dienste (elektrotherapeutische Proceduren, Ein- reibungen, Umschläge, Pflaster, Sinapismen, minimale Dosen wirk- samer Arzneien oder indifferente Mittel in Form von Pulvern oder subcutanen Injektionen, Bäder etc.). Bei der Auswahl unter diesen verschiedenen Formen larvirter Suggestivbehandlung dürfen wir das Vertrauen, welches die Leidende zu dem einen oder anderen Mittel hat, nicht ganz unberücksichtigt lassen; für den Erfolg kommt ja nie die Art des Mittels, sondern lediglich der Glaube in Betracht, welchen die Kranke von der Wirksamkeit desselben aus irgend einem Grunde schon hegt oder welcher ihr von dem Arzte eingeflösst wird. Von Wichtigkeit ist es, dass die Umgebung sich ernsthaft bemüht, den Glauben an die Wirksamkeit des Mittels bei der Kranken zu fördern, und jedenfalls keine Zweifel, keine Bedenken bezüglich desselben verlauten lässt.
Gelangen wir mit der larvirten Suggestion allein nicht an’s Ziel, so kann neben oder statt derselben die Hypnose in Anwendung gezogen werden.
•Hysterische Lähmungen lassen sich, wie wir gesehen haben, durch psychische Einwirkungen verschiedener Art plötzlich zum Schwinden bringen. Auf derartige Wunderkuren darf man jedoch in der Kegel nicht rechnen, sondern nur auf allmähliche Beseitigung der Störungen. Die Anwendung der Elektricität bietet in psycho- therapeutischer Hinsicht bei den Lähmungen mehrfache Vortheile. Sie erweckt durch die Erregungen, welche die Hautreizung und
Hysterische Lähmungen.
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die ausgelösten Muskelcontractionen in der cortikalen Korper- gefühlsspliäre herbeifüliren, lebhafte Bewegungsvorstellungen, mit welchen sich die optischen Bilder der wahrgenommenen Glied- bewegungen vergesellschaften; hiezu addirt sich die Vorstellung von der Wirksamkeit der Elektricität als eines bei Lähmungen jeder Art nützlichen Mittels, welche der Arzt, sofern der Patient dieselbe nicht schon an sich besitzt, durch seine Erklärung anregen muss. Da die Massage ebenfalls im Kufe steht, bei Lähmungs- zuständen gute Dienste zu leisten, so lässt sich dieselbe neben der Elektrisirung mit Vortheil verwerthen. In den meisten Fällen sind die hysterischen Gliedlähmungen nicht vollständig. Die Bewegungen, deren Ausführung noch möglich ist, müssen immer geübt werden, wobei darauf zu achten ist , dass der Kraftaufwand bei den Bewegungen allmählich gesteigert wird. Auch durch dieses Ver- fahren wird bei dem Kranken die Vorstellung, dass er den betreffen- den Theil bewegen kann, mehr und mehr angeregf. Bei Schwäche- zuständen und Lähmungen der Beine scheuen die Patienten oft das Stehen und Gehen aus Angst vor dem Fallen. Nimmt man ihnen diese Angst durch energischen Zuspruch und Gehversuche, die man mit entsprechender Unterstützung vornehmen lässt, so ist damit schon ein bedeutender Schritt zur Wiedererlangung der vollen Bewegungsfähigkeit gethan. Anhaltende Bettruhe ist bei Lähmungszuständen, welche nicht mit erheblicher allgemeinen Schwäche verknüpft sind, entschieden zu verwerfen. Sie beein- trächtigt nicht nur die Ernährung der Muskulatur, sondern erhält auch in den Kranken die Vorstellung der Bewegungsunfähigkeit und Hilflosigkeit. Auch die hypnotische Behandlung der hysterischen Lähmungen erheischt in der Regel Geduld und langsames Vor- gehen; Heilungen in einer Sitzung bilden lediglich Ausnahmsvor- kommnisse. Man muss in der Hypnose mit den Patienten Hebungen vornehmen, welche succesive ausgedehnt werden. Auch Massage und Elektrisirung des gelähmten Gliedes kann zur Unterstützung der verbalen Suggestion in der Hypnose herangezogen werden.
d) Angstzustände (Phobien) und ZAvangsvorstellungen.
Bei der psychischen Behandlung der krankhaften Angstzu- stände (Phobien), welche wir so häufig bei Neurasthenischen und
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Pliobien
Hysterischen hnden, haben wir in erster Linie die Intensität des Affektes in Betracht zu ziehen. Wir können hier natürlich nicht auf alle die verschiedenartigen Phobien eingehen, ein Beispiel muss genügen, und als solches mag die am besten bekannte und ver- breitetste Phobie, die bei dem Ueberschreiten von Plätzen und Strassen sich einstellende Angst — die Platzangst, Agoraphobie — dienen. Bei den leichtesten Graden dieser Phobie tritt nur beim Ueberschreiten grösserer freier Plätze eine gewisse Unbehaglich- keit oder Beängstigimg ein, welche das Weitergehen zwar erschwert, aber nicht unmöglich macht. In den mittelschweren Fällen wird das Ueberschreiten grösserer Plätze sehr schwer, nur mit ausser- ordentlicher Willensanstrengung ausführbar und oft ganz immög- lich; die Angst beginnt hier gewöhnlich schon beim Anblicke des weiten , menschenleeren Baumes. Zugleich macht dann auch gewöhnlich das Kreuzen namentlich breiter Strassen und das Ueberschreiten von Brücken grosse Schwierigkeiten. In den schlimmsten Fällen wird dem Kranken das Ausgehen ohne Beglei- tung unmöglich, mitunter ist er auch in Begleitung nicht mehr im Stande, seine Behausung zu verlassen. In allen diesen Fällen müssen die Kranken zunächst über die Art ihres Leidens genügend auf- geklärt werden; oft glauben dieselben, dass das, was sie auf der Strasse oder beim Ueberschreiten von Plätzen etc. befällt, ein rein körperliches Unwohlsein ist, Schwindel, Kopfcongestion, Herz- klopfen, Brustbeklemmung etc., und sie fürchten dann auch gewöhnlich, dass sie beim Weitergehen nach dem Auftreten dieser Erscheinungen von einer Ohnmacht, einem Gehirn- oder Herz- schlag etc. heimgesucht werden könnten. Es muss ihnen daher dargelegt werden, dass das, was sie befällt, nur ein Angstzustand mit seinen Rückwirkungen ist, dass sie beim Weitergehen nichts, absolut nichts zu befürchten haben, dass sie nicht hinstürzen werden und von einem Schlaganfall keine Rede sein kann. Neben der Aufklärung ist bei leichten Angstzuständen meist nur eine Instruktion des Kranken erforderlich, welche dahin gehen muss, dass derselbe gegen die Angstanwandlungen seinen Willen gebrau- chen, unbekümmert um dieselben seinen Weg fortsetzen muss und keinen Umweg einschlagen darf, um das Ueberschreiten eines Platzes oder einer Strasse zu vermeiden. Wenn dies nicht genügen
Phobien.
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sollte, so kann man noch die larvirte Suggestion zu Hilfe nehmen ; man lässt den Patienten vor dem Ausgehen ein indifferentes Mittel nehmen, welchem man die Wirkung zuschreibt, das Auftreten von Beängstigungen auf der Strasse etc. zu verhindern.
Viel schwieriger gestaltet sich die Sachlage zumeist in den mittelschweren und schlimmen Fällen. In diesen gelingt es bei einigermaassen willenskräftigen Patienten noch, dieselben durch energisches Zureden zum Ueberschreiten der Angst erregenden Plätze und Strassen oder zum Alleinausgehen, wenn dieses vorher nur in Begleitung unternommen wurde, zu bewegen. Mitunter hat die ärztliche Suggestion ohne Weiteres die Folge, dass die ver- langte Leistung ohne erhebliche Schwierigkeiten zu Stande gebracht wird ; dann hat man gewonnenes Spiel, es bedarf nur einer Wieder- holung der betreffenden verbalen Suggestionen einige Tage hinter- einander in Verbindung mit einem Hinweise auf die bereits voll- brachten Thaten, und die Sache ist erledigt. In der grossen Mehr- zahl der Fälle jedoch, in welchen der Kranke durch Zureden sich bestimmen lässt, die angsterregenden Plätze, Strassen etc. zu überschreiten, kann dies nur unter grossen Qualen und enormer Willensanstrengung geschehen. Diese Leistung erschöpft den Kranken für längere Zeit und nützt ihm, wie ich mich in einer Keihe von Fällen immer und immer wieder überzeugte, durchaus nichts; mit jedem neuen Versuche stellt sich die Angst in imver- minderter Intensität ein, und ich bin desshalb schon lange davon abgekommen, in diesen Fällen von den Kranken eine Fortsetzung dieser Selbsttortur zu verlangen. Wenn der Kranke durch Auf- klärung über sein Leiden und energischen Zuspruch sich zum Ueberschreiten von Plätzen, Strassen etc. nicht bewegen lässt, oder dieses nur mit sehr erheblichen Schwierigkeiten geschehen kann, empfiehlt sich zunächst eine gewisse psychische Gymnastik, durch welche er allmählich dahin gebracht wird, das ihm anfänglich unmöglich Scheinende oder nur sehr schwer Gelingende ohne Anstand auszuführen. Wir müssen hiebei mit kleinen bescheidenen Anforderungen, sozusagen vom Band her, beginnen. Dem Leidenden wird aufgetragen, zunächst sich in jenen Strassen zu bewegen, welche ihm geringe Schwierigkeiten bereiten, und bei freien Plätzen sich an die Peripherie zu halten. Wenn dies einige Zeit hindurch
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Phobien.
geübt ist, und der Kranke gelernt hat, seinen Willen gegen auf- taiichende Angstanwandlungen mit Erfolg zu gebrauchen, wird er angewiesen, auch das Ueberschreiten schwierigerer (breiterer) Strassen zu versuchen, und erst wenn dies ohne grosse Schwierig- keiten gelingt, an die Durchquerung grösserer freier Plätze zu gehen. Bei Patienten, welche nicht ohne Begleitung auszugehen sich gewöhnt haben, muss die begleitende Person sich zunächst auf der Strasse in geringer Entfernung von dem Patienten halten, diese Entfernung wird allmählich vergrössert, man lässt dann den Patienten kurze Strecken allein gehen oder beschränkt die Beglei- tung auf gewisse, besonders schwierige Wege und schliesslich muss die Begleitung beim Ausgehen ganz wegbleiben.
Eine sehr wirksame Unterstützung erhält diese Gymnastik durch Maassnahmen, welche roborirend auf den allgemeinen Nerven- zustand einwirken, durch heilgymnastische Uebungen, welche das Vertrauen des Kranken zu seiner körperlichen Leistungsfähigkeit heben, und durch larvirte Suggestivbehandlung. Diese kann in ver- schiedener Form geübt werden (Elektricität, indifferente Alittel etc.); die Hauptsache ist hiebei immer, dass dem Kranken die Vor- stellung beigebracht wird, dass das angewendete Mittel das Auf- treten der Angstzustände verhindert. Diese Aufgabe können auch die zur Roborirung der Nerven angewandten physikalischen und diätischen Maassnahmen erfüllen, sofern man an dieselben die Sug- gestion knüpft, dass sie neben ihrer heilsamen Wirkung auf den allgemeinen Nervenzustand auch eine besondere bezüglich der Angst- anwandlungen äussern werden.
Die hypnotische Behandlung der Angstzustände liefert sehr schwankende Resultate; dass man mitunter mit derselben sehr rasch an’s Ziel gelangt, zeigt eine an früherer Stelle angeführte Beobachtung; öfters kommen wir jedoch auch bei längerer Fort- setzung der Behandlung nicht über eine gewisse Bessermig des Zustandes hinaus, die zeitweilig wieder rückgängig werden kann. Dabei können in einzelnen Beziehungen die in der Hypnose ge- gebenen Suggestionen ganz überraschende Wirkungen äussern. Ich veranlasste einen Patienten durch blosses Zm*eden (ohne Hypnose), eine Brücke, die er immer gemieden hatte, zu überschreiten; hiebei wurde er von einem schweren Angstanfalle heimgesucht, der
Zwangsvorstellungen.
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ihn veranlasste, mir zu erklären, dass er um keinen Preis in der Welt sich auf jene Brücke mehr begeben werde. Ich schläfere ihn nach dieser Erklärung ein und suggerire ihm in der Hypnose, dass er am nächsten Tage wieder ein Verlangen bekommen werde, über die fragliche Brücke zu gehen, dass er diesem Verlangen entsprechen und die Brücke ohne jeden Anstand überschreiten werde. Diese Suggestionen realisirten sich auch pünktlich; dabei hatte der Patient keine Ahnung, wie sich bei meinen Nachforsch- ungen herausstellte, dass er unter dem Einflüsse von Suggestionen stand; er glaubte, ganz aus eigenem freien Antriebe den Gang über die Brücke unternommen zu haben. Und doch war der gleiche, wie das Beispiel zeigt, so wohl suggestible Patient durch fortgesetzte hypnotische Suggestion nicht dahin zu bringen, dass er sich über eine gewisse Entfernung von seiner Wohnung hinaus- wagte. Man darf im Allgemeinen auch bei der hypnotischen Be- handlung nicht zu viel auf einmal anstreben, sondern nur schritt- weise mit den Forderungen vorwärts gehen und daneben auf sonstige psychische Behandlung keineswegs verzichten.
Auch bei der Behandlung der Zwangsvorstellungen kommt in erster Linie die. Aufklärung des Kranken in Betracht. Viele mit Zwangsvorstellungen Behaftete leben in der Furcht, dass diese Er- scheinungen die Vorläufer oder wohl schon Anzeichen einer geistigen Störung sein könnten, und es gewährt ilmen daher grosse Be- ruhigung, zu vernehmen, dass diese psychischen Anomalien unge- mein häufig bei Nervösen und Nervenleidenden verkommen, die im Uebrigen geistig völlig intakt sind, dass sie durchaus nicht als Symptome einer geistigen Krankheit zu betrachten sind und auch auf späteres Auftreten einer solchen nicht hinweisen. In anderen Fällen ist es der Inhalt der Zwangsvorstellungen, welcher Auf- klärung und Beruhigung des Kranken nöthig macht, so bei den Zwangsvorstellungen, welche sich auf das eigene geistige und leib- liche Befinden beziehen und bei den mit homi- und suicidalen Impulsen verknüpften Zwangsideen. Bei den Zwangsvorstellungen, irrsinnig zu werden, an Zungenkrebs, Herz- oder Lungenleiden zu laboriren, luetisch angesteckt zu sein (ohne dass eine Infektion vorhergegangen ist) etc. wird der Patient wenigstens sehr häufig von dem Inhalte der Vorstellung geängstigt; er glaubt, irrsinnig
200 Zwangsvorstellungen.
zu werden, hei’zleidend zu sein etc., auch wenn keinerlei Anzeichen ihn zu diesem Glauben veranlassen. Es ist daher für ihn sehr wichtig, zu erfahren, dass seine Befürchtung lediglich als Zwangs- vorstellung sich charakterisii’t , deren Inhalt vielleicht ganz zu- fälliger Natur ist. Besonders unheimlich sind den Leidenden die Zwangsvorstellungen mit Impulsen, fremde Personen oder selbst liebe Angehörige körperlich zu schädigen oder zu tödten, und die Zwangsidee des Selbstmordes. Angst und mitunter selbst Ent- setzen ruft hier nicht nur die Zwangsvorstellung an sich, sondern auch die daran sich knüpfende Erwägung hervor, dass es doch einmal zur Ausführung der Handlung, auf welche der Impuls ge- richtet ist, kommen könnte. In diesen Fällen muss den Patienten dargelegt werden, dass diese Vorstellungen etwas von ihrem Willen und ihrer Moral ganz und gar Unabhängiges bilden und eine Be- fürchtung, dass dieselben zu einer entsprechenden Handlung führen könnten, durchaus nicht gerechtfertigt ist ’).
Die weitere psychische Behandlung richtet sich nach der In- und Extensität des Zwangsdenkens und der Bedeutung, welche dasselbe hiedurch für den Patienten gewonnen hat. Wir sehen, dass nicht nur die Zahl und Andauer der Zwangsvorstellungen in den einzelnen Fällen ausserordentlich variirt, sondern auch eine und dieselbe Zwangsidee in verschiedenen Fällen in sehr ver- schiedener Stärke und Dauer sich geltend macht. Ein Beispiel, welches den Arzt besonders interessiren wird, mag dies erläutern. Bei einem von mir beobachteten Kollegen tritt insbesonders im Gefolge geistiger Ueberanstrengung nach dem Schreiben eines Receptes die Zwangsvorstellung (i. e. der Zwangszweifel) ein, dass er sich geirrt haben könnte; hat er ein gefährliches Medikament verschrieben, so bezieht sich der Zweifel auf die Dosis; handelt es sich um ein mehr indifferentes Medikament, so betrifff der Zweifel die verschriebene Substanz. Liest der Kollege das Recept noch einmal durch, so wird dadurch der Zweifel nicht beseitigt; dieser
1) Dies gilt speziell fm- die homicidalen Zwangsvorstellungen der Neu- rasthenischen. v. Krafft-Ebing hat jüngst erklärt, dass er in der Litteratur keinen Fall auffinden konnte, „bei welchem die blosse im Rahmen einer Neurose bestehende Zwangsvorstellung zu einer homicidalen Handlung ge- führt hätte“.
Zwangsvorstellungen.
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bleibt auch noch bestehen, nachclcni sicli der Kollege von dem Kranken entfernt hat, doch gelingt es demselben durch einen energischen Vorsatz, alsbald seine Aufmerksamkeit anderen Dingen zuzuwenden und dadurch den Zweifel zu verscheuchen.
Bei einem zweiten Kollegen gestaltet sich nach dem Schreiben eines Receptes die Sachlage ähnlich wie bei dem ersten, bis er auf die Strasse gelangt. Hier erreicht der Zweifel und die daran sich knüpfende Beunruhigung jedoch alsbald eine Intensität, dass der Kollege sich veranlasst sieht, unter irgend einem Vorwände zu dem Patienten zurückzukehren und sich das Recept noch einmal geben zu lassen. Dadurch wird eine gewisse Beruhigung herbei- geführt, der Zweifel bleibt j_edoch noch in abgeschwächter Form bestehen, doch gelingt es dem Kollegen, durch Auf bieten seines Willens mehr und mehr seine Gedanken auf andere Gegenstände zu richten, wodurch schliesslich der Zwangszweifel ganz zum Schwinden gebracht wird.
Bei einem dritten Kollegen, welcher mich konsultirte, er- reichten die Zwangszweifel eine solche Gewalt und Dauer, dass er Stunden brauchte, bis es ihm möglich war, ein Recept aus der Hand zu geben, und er in Folge dessen sich genöthigt sah, seine Praxis aufzugeben.
Wir sehen, in dem ersten und zweiten Falle war es dem Patienten möglich, in dem ersten leichter, im zweiten schwerer, die Aufmerksamkeit von der Zwangsvorstellung ab- und anderen Vorstellungen zuzuwenden und dadurch erstere allmählich aus dem Bewusstsein zu verdrängen. Diese Taktik ist in allen leich- teren Fällen von Zwangsvorstellungen entschieden zu empfehlen. Der Patient muss sich mit Aufgebot seiner ganzen Willenskraft bemühen, den Zwangsvorstellungen keine besondere Beachtung zu schenken, sie sozusagen zu ignoriren, d. h. durch Beschäftigung oder Zerstreuungen seine Aufmerksamkeit von denselben abzu- lenken und ihnen keinen Einfluss auf sein Handeln einzuräumen. Dies gestaltet sich anfänglich schwierig, wird aber durch Uebuiig leichter und leichter. Direktes Ankämpfen gegen die Zwangs- gedanken mit logischen Erwägungen ist häufig bei leichteren Fällen möglich, doch im Ganzen von geringerem Nutzen und
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schwieriger als die eben erwähnte Art der Taktik. Treten die Zwangsvorstellungen bei der beruflichen Beschäftigung wie in den oben erwähnten Fällen oder bei anderen bestimmten Gelegenheiten auf, so ist zeitweilige Unterbrechung der Berufsthätigkcit, auch wenn dieselbe mit keiner Ueberanstrengung verknüpft ist, resp. Meidung der in Betracht kommenden Gelegenheiten rathsam. Manche Zwangsvorstellungen schwinden, wenn sie einige Zeit hin- durch durch keine äussere Veranlassung ausgelöst wurden. Bei der Auswahl der Zerstreuungen hat man die Art der vorhandenen Zwangsvorstellungen und die Richtung,^ zu welcher das Zwangs- denken überhaupt inclinirt, sehr wohl zu berücksichtigen. Die Lektüre eines Buches, der Besuch einer Theatervorstellung kann eine Menge neuer Zwangsgedanken anregen oder vorhandene Zwangsgedanken wesentlich verstärken.
In den schlimmeren Fällen sind die Erfolge der nicht sugge- stiven psychischen Behandlung im Ganzen zwar sehr mässig, sie darf aber desshalb doch nicht vernachlässigt werden. Vor allem ist hier, wie auch bei den leichteren Fällen der Affektion, zu be- rücksichtigen, dass geistige Ueberanstrengung und depressive ge- müthliche Erregungen, überhaupt alle Umstände, welche erschöpfend auf das Gehirn wirken oder einen bestehenden Erschöpfungszustand desselben steigern, auch stärkeres Hervortreten der Zwangsvor- stellungen nach sich ziehen, während geistige Ausspannung und Meidung von Aufregungen meist wenigstens für eine gewisse Zeit eine Abnahme der Zwangsvorstellungen bewirken. Die sonstige Behandlung muss sich nach der Art der vorhandenen Zwangs- gedanken richten. Den mit Zwangsskrupeln Behafteten gewährt es schon eine grosse Erleichterung, wenn sie sich dem Arzt gegen- über vollkommen aussprechen, ihr Herz ausschütten können. Der Arzt hat hier die Aufgabe, dem Patienten darzulegen, dass die Bedenken und Vorwürfe, mit welchen er sich quält, nicht begründet sind und auch im vorliegenden Falle bei normalem Nervenzustande nicht vorhanden wären, dass es sich lediglich um Zwangsvorstel- lungen handelt, welche hier zufällig in dieser Form, in anderen Fällen in anderer Form auftreten. Auch das Sichaussprechen anderen Vertrauenspersonen gegenüber, welche den Patienten zu beruhigen verstehen, ist oft von Nutzen. Des Weiteren muss der
Zwangsvorstellungen.
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Patient angelialten werden, durch seine Zwangsskrupel sich nicht zu Handlungen bestimmen zu lassen, welche ihm Ungelegenheiten bereiten oder ihn nur auffällig erscheinen lassen könnten. Bei den an Zweifel- und Grübelsucht Leidenden müssen wir darauf dringen, dass sie die Verrichtungen, bei Avelchen die Zweifel auf- treten, innerhalb einer gewissen Zeit absolviren, bei manchen minder lästigen Zweifeln sich überhaupt nicht aufhalten und in ihrer ganzen Lebensführung vom Aufstehen bis zum Niederlegen eine gewisse , genau vorgescbriebene Ordnung einhalten , durch welche sie ihren Zwangsgedanken gegenüber eine wesentliche Stütze gewinnen. Der Neigung zum Grübeln wird durch leichtere Be- schäftigung, welche jedoch die Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen muss, und passende gesellige Unterhaltung entgegengewirkt. Das Gleiche gilt für einzelne besonders beängstigende und hart- näckige Zwangsvorstellungen (wie die des Selbstmordes, gewisse Zwangsvorwürfe und nosophobische Vorstellungen^). Letzeren gegenüber erweist sich Spotten und Auslachen als ganz und gar ungeeignet, während eine auf Grund einer eingehenden Unter- suchung mit vollem Ernste und Nachdruck abgegebene Erklärung, dass das befürchtete Leiden nicht vorhanden und nicht im Anzuge ist, doch oft nützt.
Die Wachsuggestion lässt sich insbesonders bei einzelnen Zwangsvorstellungen mit Vortheil verwerthen. Die rein verbale Suggestion genügt mitunter schon, wenn der Arzt das unbedingte Vertrauen des Patienten besitzt, so namentlich bei der so häufigen Zwangsvorstellung „des Nichtkönnens“ — nicht essen, nicht schlafen können, irgend etwas nicht ertragen, in einer gewissen Situation nicht aushalten können etc. Diese Zwangsvorstellungen entwickeln sich zumeist im Anschluss an Phobien. Die energische Versicherung des Arztes: „Sie können“, erweist sich bei manchen Kranken als ausreichendes Gegengewicht gegen die Zwangsvorstellung.
ln der Mehrzahl der Fälle ist jedoch die larvirte Suggestion von grösserer Wirksamkeit. Wir verordnen irgend ein indifi’erentes
1) Was die Behandlung der Zwangsvorstellungen mit erheblichen Angst- zuständen anbelangt, so möchte ich bei denselben keineswegs empfehlen, von der Anwendung somatischer Mittel abzusehen; die Opiurabehandlung leistet hier gewöhnlich vorzügliche Dienste.
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Zwangsvorstollungen.
Mittel mit dei’ Anweisung, dasselbe vor dem Essen, Schlafen, dem Besuche des gefürchteten Lokales etc. zu nehmen; um den Patienten von dem Suggestivmittel alsbald wieder unabhängig zu machen, fügt man bei, dass nach mehrmaligem Gebrauche des Mittels das- selbe entbehrlich werden, das Essen, Schlafen etc. ohne weitere Hilfe möglich sein wird. Tliatsächlich bedarf es auch öfters nur einer mehrmaligen Zurückdrängung der Zwangsvorstellung durch die larvirte Suggestion, um den Kranken dauernd von ersterer zu befreien. Allein die larvirte Suggestion siegt keineswegs immer über die Zwangsvorstellung, in manchen Fällen bleibt sie über- haupt unwirksam, in anderen schwankt der Erfolg oder es tritt, nachdem die Ueberwindung der Zwangsvorstellung einige Male ge- lungen ist, der Status quo ante wieder ein. Dann erübrigt noch die Heranziehung der Hypnose.
Die hypnotische Behandlung leistet nicht nur bei einzelnen Zwangsvorstellungen, sondern auch bei den schlimmeren Formen des Zwangsdenkens, wie wir bereits gesehen haben, in einem Theile der Fälle ganz vorzügliche Dienste. Ein Specificum gegen Zwangsvor- stellungen bildet jedoch die hypnotische Suggestion keineswegs. In manchen Fällen erzielen wir hiemit nur sehr bescheidene Erfolge, mitunter auch nicht einmal solche. Hiebei kommt es nach meiner Beobachtung auch vor, dass wir durch die hypnotische Suggestion eine Reihe von Zwangsvorstellungen beseitigen, dass diese jedoch durch neue ersetzt werden. Woran dies liegt, lässt sich gegen- wärtig nicht immer feststellen. Manche Kranke sind allem An- schein nach nicht genügend zu hypnotisiren. Ein tiefer Schlaf- zustand ist jedoch keineswegs zur Erlangung günstiger Resultate hier wie auch bei anderen Affektionen erforderlich. Manche mit Zwangsvorstellungen Behaftete erweisen sich den hyponosigenen Proceduren gegenüber gänzlich refraktär : mitunter bildet das Hindemiss die Zwangsvorstellung des Nichthypnotisirtwerden- könnens; diese kann selbst bei sehr lebhaftem Verlangen nach einer hypnotischen Behandlung bestehen und unüberwindliche Schwierig- keiten bereiten.
Bezüglich der Anwendung der kathartischen Methode bei Zwangsvorstellungen muss auf das an früherer Stelle Bemerkte verwiesen werden.
Traumatische Neurosen
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o) Traumfttisclie Neurosen.
Eine traumatisclie Neurose sui generis existirt nicht, wie ich seiner Zeit nachgewiesen habe^). Bei den Nervenkrankheiten, welche im Gefolge von Unfällen auftreten, handelt es sich zumeist um neurasthenische, hysterische oder hysteroneurasthenische Zustände; für die psychische Behandlung dieser Leiden sind in erster Linie die Grundsätze maassgebend, welche wir im Vorstehenden dargelegt haben ^). Die ökonomischen Verhältnisse der Arbeiter, welche das Gros der Unfallskranken liefern, erheischen jedoch auch in psycho- therapeutischer Hinsicht eingehende Berücksichtigung, wie wir be- reits an mehreren Stellen dieser Schrift gezeigt haben; dies ver- anlasst uns, auch hier den traumatischen Neurosen noch einige Bemerkungen zu widmen.
Da der Arbeiter in der Regel für seinen Unterhalt und den seiner Familie auf seinen täglichen Verdienst angewiesen ist, und dieser von seiner Arbeitsfähigkeit abhängt, so begreift es sich, dass bei demselben nach einem Unfälle, welcher zu irgend einer Verletzung führte, die Sorge sich einstellt, ob die erlittene Körper- schädigung nicht Folgen hinterlassen wird, welche seine Arbeite- und damit seine Erwerbsfähigkeit schmälern oder gar aufheben, ob ihm dann die entsprechende Entschädigung zu Theil werden und wie sich unter diesen Verhältnissen seine Zukunft gestalten wird. Es ist ferner begreiflich, dass bei manchem der Gedanke sich regt, da nunmehr eine Gelegenheit sich bietet, zu einer Einnahme ohne entsprechende Arbeitsleistung zu kommen, aus dem Unfälle Vorth eil zu ziehen, soweit dies möglich ist. Handelt es sich um Verletz- ungen, welche nach ärztlichem Ermessen überhaupt keinen bleiben- den Nachtheil, oder wenigstens keine dauernde Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit nach sich ziehen werden, so ist es daher wichtig, dass dies dem Patienten möglichst frühzeitig nach dem Unfälle mit Bestimmtheit dargelegt wird. Er wird dadurch von der Sorge um seine zukünftige ökonomische Lage befreit, wenn eine solche bei ihm vorhanden war. Er wird dadurch aber auch
1) Löwenfeld, Kritisches und Casuistisches zur Lehre von den so- genannten traumatischen Neurosen. Münch, med. Wochenschr. 1889, Nr. 38 u. ff.
2) p. 184 u. ff.
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Traumatische Neurosen.
abgelialten, dem Gedanken weiter nacbzuhängen , wenn dieser bei ilim sich eingestellt hat, dass er irgend eine Aussicht hat, seinen Unfall unrechtmässiger Weise zur Verbesserung seiner materiellen Lage auszubeuten. Zeigen sich nach der Heilung der Verletzung Beschwerden, so wird man, auch wenn eine objektive Grundlage sich für dieselben nicht nachweisen lässt, in vielen Fällen dem Beschädigten noch eine gewisse Zeit zur Erholung gönnen müssen, während welcher ihm die volle Unfallsrente zuzusprechen ist; dabei muss ihm jedoch bedeutet werden, dass diese Bewillig- ung nur eine vorübergehende ist, dass die Arbeitsfähigkeit sich sicher wieder einstellen und damit auch eine entsprechende Ver- kürzung der Kente und schliesslich auch deren Wegfall eintreten wird, auch darf er darüber nicht im Unklaren gelassen werden, dass das Bestehen gewisser Beschwerden ihn nicht abhalten darf, die Arbeit wieder aufzunehmen und dasselbe auch keinen Grund zur Gewährung einer erheblichen Rente bilden wird. Durch dieses Vorgehen erreichen wir ein Doppeltes. Wir beseitigen bei dem Patienten während der Zeit, während welcher seine Arbeitsfähigkeit noch reduzirt ist oder sein mag, die Sorge um seine materielle Existenz , und verhindern dadurch depressive gemüthliche Erreg- ungen, welche ungünstig auf seinen Zustand wirken würden. Wir gewöhnen ihn aber zugleich an den Gedanken , dass er der An- nehmlichkeit des Nichtsthuns entsagen, die Arbeit wieder auf- nehmen und dabei auch unter Umständen Beschwerden ertragen muss. In manchen Fällen ist es rathsam, den Beschädigten sofort nach Heilung der Verletzung zum Aufsuchen einer Beschäftigung anzuhalten, um dadurch dem Gedanken vorzubeugen, dass der Unfall bleibende nachtheilige Folgen für seine Arbeitsfähigkeit hinterlassen haben könnte. Die Beurtheilung der Beschwerden, welche nach Heilung der äusseren Verletzungen in vielen Fällen verbleiben, bezüglich ihrer Bedeutung für die Erwerbsfähigkeit des Kranken ist durchaus nicht immer eine leichte Sache und daher auch die Art der psychischen Behandlung, welche denselben gegen- über am Platze ist, nicht immer ohne Weiteres vorgezeiclmet. Speziell gilt dies für die Schmerzen, welche in den verletzten Theilen sich in der Ruhe und insbesonders bei der Arbeit geltend machen. Manche Autoren (so Strümpell, A. Bernstein, Wich-
Traumatische Neurosen.
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mann) glauben, dass diese Beschwerden (etwa mit Ausnahme der Kopfschmerzen nach Kopfverletzungen) auf Autosuggestionen — Schmerzhallucinationen — beruhen, welche ihre Quelle in der fortwährenden Beschäftigung des Kranken mit seinem Zustande und der Aufmerksamkeit haben, welche derselbe geringfügigen un- angenehmen Sensationen schenkt. Diese Deutung hat nach meinen- Beobachtungen nur für einen Theil der Fälle eine gewisse Berech- tigung. Bei vielen Unfallskranken werden durch die fortgesetzte Bewegung der verletzten Theile, welche die Arbeit erheischt — ich stimme in diesem Punkte vollständig mit Oppenheim über- ein — Schmerzen verursacht, welche sich mehr und mehr steigern und dadurch die Arbeitsfähigkeit mehr oder minder beeinträch- tigen. Bei Anderen, welche über Schmerzen nicht bloss bei Beweg- ungen der betreffenden Theile, sondern auch in der Ruhe klagen, hängen diese von depressiven gemüthlichen Erregungen ab, welche durch eine augenblickliche Nothlage, Sorgen wegen der künftigen Existenz, der Verzögerung des Entscheides über die zu gewährende Unfallsrente oder die Verweigerung einer solchen verursacht sind. Wir haben an früherer Stelle gesehen, dass bei Veränderungen innerer Organe die Affekterregungen eine Neigung haben, nach diesen hin ihren Weg zu nehmen; das Gleiche gilt für die äusseren Theile, welche Sitz von Verletzungen sind oder waren, und es ist durchaus keine Fabel, dass der seelische Schmerz peinliche Empfin- dungen an der Stelle einer längst vernarbten Wunde hervorruft. Die psychische Behandlung hat natürlich die Quelle der vorhandenen Beschwerden zu herücksichtigen. Gewinnen wir die Anschauung, dass dieselben ganz oder vorherrschend autosuggestiven Ursprungs, oder durch gemüthliche Erregungen bedingt sind, so dürfen wir nicht säumen, dem Kranken darzulegen, dass seine Beschwerden vorübergehender Natur sind und kein Hindemiss für die Wieder- aufnahme der Arbeit bilden, dass ihm diese nicht schaden, sondern nützen wird und dementsprechend ihm auch überhaupt keine oder nur eine geringe Unfallsrente zugebilligt werden könne. Diese Eröffnung genügt wenigstens in einem Theile der Fälle, um die Kranken zum Aufsuchen einer Beschäftigung zu veranlassen. Die Behandlung der bestehenden Beschwerden mit Suggestivmitteln ist dabei natürlich in keiner Weise ausgeschlossen, aus Humanitäts-
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Traumatische Neurosen.
gründen sogar sehr 7ai empfehlen. Kranke, die entschieden un- lautere Absichten hegen, oder welche glauben, dass sie den An- spruch auf eine Rente, welchen sie durch den erlittenen Unfall er- warben, durch Arbeiten gefährden würden, müssen, wie wir schon an früherer Stelle bemerkten, durch Verkürzung (unter Umständen auch durch gänzliche Entziehung) der Rente zu der Ueberzeugung gebracht werden, dass ihr Krankseinwollen nicht die gewünschten materiellen Erfolge hat und daher auch für sie das Gesund- werden eine Nothwendigkeit ist. Sind wir zu der Annahme ge- nöthigt, dass die vorliegenden Beschwerden nicht oder wenigstens nicht vorherrschend psychischen Ursprungs sind, so ist natürlich in erster Linie deren Behandlung durch entsprechende psychische oder somatische Mittel am Platze. Daneben dürfen wir aber auch nicht verabsäumen, die Kranken zum Aufsuchen einer passenden leichteren Beschäftigung anzuhalten. Wenn durch diese auch der Zustand nicht gebessert wird, so wird dadurch doch verhindert, dass der Patient sich allzusehr mit seinem Befinden beschäftigt und allmählich zum ausgeprägten Hypochonder wird. In allen Eällen ist es ferner von grosser Wichtigkeit, dass der definitive Entscheid über die Renteansprüche, welche die Kranken erheben, möglichst bald gefällt wird. So lange dieser Entscheid aussteht, werden diejenigen, deren Ansprüche gerechtfertigt sind, von der oft schweren Sorge um ihr künftiges Auskommen nicht frei, welche ungünstig auf ihren Zustand wirkt. Diejenigen, deren Ansprüche als übertrieben oder überhaupt nicht begründet erachtet werden müssen, finden, so lange der Streit über dieselben schwebt, auf der einen Seite eine Veranlassung, ihre Gedanken fortwährend auf ihr Befinden zu richten und den Glauben an ihr Kranksein und ihre Arbeitsunfähigkeit festzuhalten, auf der anderen Seite eine Abhaltung, sich ernsthaft um Wiedererlangung einer Beschäftigung zu bemühen , wodurch dann wieder ihre materielle Lage ver- schlechtert wird, was ihren Zustand ungünstig beeinflusst.
Einzelne Beobachter — so insbesonders Bernheim, Tatzel — haben durch hypnotische Suggestion bei traumatischen Neu- rosen günstige Erfolge erzielt. In Deutschland hat bisher jedoch die Hypnose in der Therapie der traumatischen Neurose keine nennenswerthe Bedeutung erlangt. Ein Theil der in Betracht
Melancholie.
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kommenden Leidenden erweist sich refraktär oder nur sehr wenig beeintlusshar , manche widerstreben auch direkt der Einschläfer- ung, weil sie auf die erlangte oder in Aussicht stehende Rente nicht verzichten wollen und daher vorziehen, dass an ihrem Zustand vorerst nichts geändert wird.
Allein auch in den Fällen, in welchen die Hypnotisirung ge- lingt, darf man keineswegs immer auf ein günstiges Resultat rechnen. Oppenheim erwähnt, dass er einige Kranke mit trau- matischen Neurosen in Hypnose zu versetzen im Stande war, durch Suggestion sie jedoch von ihrem Leiden nicht zu befreien vermochte. Ich habe in einzelnen Fällen, in welchen der psychische Ursprung der Beschwerden wenigstens höchst wahrscheinlich war, mich ver- geblich bemüht, dieselben durch die hypnotische Suggestion zu beseitigen; vorübergehende Erleichterung war alles, was ich er- reichen konnte^).
f) Melancholie.
Die psychische Therapie der Psychosen, welche Gegenstand anstaltlicher Behandlung sind, liegt ausserhalb des Rahmens dieser Arbeit. Es giebt jedoch Geistesstörungen, welche sehr häufig in der Privatpraxis behandelt werden und nur selten Veranlassung zur Aufnahme in geschlossene Anstalten geben, daher auch hier Berücksichtigung finden müssen; es sind dies die leichteren Formen der Melancholie (Melancholia simplex, Melancholia sine delirio, periodische Melancholie, periodische Depressionszustände, neiu'asthenische Melancholie). Die Psychotherapie erweist sich diesen Zuständen gegenüber, wie ich vorweg bemerken will, durch- aus nicht immer zulänglich, und ich selbst möchte bei denselben auf die Opiumbehandlung in vielen Fällen, namentlich bei stärkerem Hervortreten von Angstzuständen, keineswegs verzichten. Dessen ungeachtet muss den Diensten, welche uns die Psychotherapie bei Melancholie zu leisten im Stande ist, grosse Bedeutung zuerkannt werden. Vor allem muss der Arzt trachten, durch freundlichen, theilnehmenden Zuspruch den Kranken dahin zu bringen, dass er
0 So z. ß. in dem p. 129 erwähnten Falle traumatischer Hysterie. Die Wachsuggestion erwies sich hier, wie wir sahen, entschieden wirksamer als die hypnotische.
Löwonfold, Psychotherapie.
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Melancholie.
ihm volles Vertrauen schenkt und ihm alles offenbart, was ihn bedrückt. Sehr Vieles von dem, was auf seinem Herzen lastet, Sorgen, Kümmernisse, Vorwürfe, die er sich macht, Angstzustände, Selbstmordgedanken hält der Patient oft selbst seinen nächsten Angehörigen gegenüber geheim, der Arzt ist der Erste und Ein- zige, dem er ohne Rückhalt sich offenbaren kann, und die Beichte diesem gegenüber ist für den Kranken, wenn sie sich auch nur unter Widerstreben und Zögern vollzieht, doch gewöhnlich eine entschiedene Erleichterung. An die Aufklärung, welche der Lei- dende dem Arzte über seinen Zustand giebt, muss sich die des Leidenden durch den Arzt anschliessen, wobei oft eine gewisse eindringliche Beredsamkeit sich nothwendig erweist. Manche Melancholische halten sich überhaupt nicht für krank, sondern nur für unglücklich und ihre Verstimmung in bestimmten Ver- hältnissen begründet; andere erkennen zwar ihre Verstimmung als etwas Abnormes oder Ungewöhnliches an, glauben aber, desshalb noch nicht krank zu sein, und wieder andere sehen ihr Hauptleiden in Begleiterscheinungen, so insbesonders in der oft vorhandenen Schlaflosigkeit. Vor allem muss daher, wie immer auch die Auf- fassung des Patienten von seinem Leiden sein mag, demselben dar- gelegt werden, dass bei ihm ein Krankheitszustand vorliegt, durch welchen die vorhandene Stimmung bedingt ist, dass dieser Zustand jedoch heilbar und- nur von beschränkter Dauer ist und mit Beseitigung desselben auch die Lebensfreude wiederkehren und der Gemüthszustand wieder normal werden wird. Des Weiteren muss die Aufklärung und der Zuspruch des Arztes auf die Um- stände eingehen, welche der Patient als Ursache seiner Verstimmung betrachtet. Wir müssen dem Leidenden, welcher mit unbegrün- deten Vorwürfen wegen geschehener, nicht mehr zu ändernder Dinge, mit Sorgen und Aengsten wegen seines Gesundheitszustandes oder seiner Vermögens- oder Geschäftsverhältnisse, wegen seiner Kinder oder anderer Angehöriger oder wegen seines Seelenheiles sich abquält, auseinandersetzen, dass diese Befürchtungen der reellen Grundlage entbehren, krankhafter Natur und lediglich Aus- fluss seiner momentanen Verstimmung^) sind, dass er mit der
1) Diese Darlegung entspricht dem wirklichen Sachverhalte nur in einem Theile der Fälle. Viele von den Vorstellungen, welche die Kranken quälen,
Melancholie.
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Beseitigung dieser auch die Dinge, die ihm gegenwärtig so beängstigend erscheinen, in ganz anderem Lichte betrachten werde. Liegen Verhältnisse vor, die an sich geeignet sind, eine gemüth- liche Alteration herbeizuführen, wie schwere Erkrankung oder Ver- lust von theueren Angehörigen, geschäftliche Calamitäten, so ist darauf hinzuweisen, dass derartige Vorkommnisse hei anderen Personen solche Folgen nicht nach sich ziehen, dass, wenn die Sachlage auch eine gewisse Verstimmung, Kummer oder Sorgen rechtfertigt, die thatsächlich vorhandene gemüthliche Dejjression dennoch krankhafter Natur ist. Mit dieser Aufklärung ist der Hin- weis auf die freundlichen Seiten des Lebens, welches den Patienten umgiebt, und auf die Pflichten seiner Stellung zu verknüpfen. Bei Verheiratheten, welche Kinder besitzen, können wir z. B. die Freuden betonen, welche ihnen von ihren Kindern schon bereitet wurden und noch in Aussicht stehen, und die Pflichten, welche diesen gegenüber zu erfüllen sind. So erleichternd die unmittel- bare Wirkung der Aufklärung und theilnehmenden Zuspruches oft ist, so dürfen wir von dem Einflüsse dieser Momente doch nicht allzuviel erwarten. Wir müssen trachten, auch durch passende Zerstreuung und Beschäftigung das höchst nachtheilige Brüten des Kranken über seinen Zustand zu verhindern und seine Ge- danken auf ein erfreulicheres oder wenigstens neutrales Gebiet zu lenken. Allgemein gütige Vorschriften bezüglich der Auswahl der Beschäftigungen und Zerstreuungen lassen sich nicht geben; man muss den augenblicklichen Kräftezustand des Patienten, die Art der Thätigkeit, welche er gewohnt ist, und seine Neigungen berück- sichtigen. Dabei muss, man oft tastend schrittweise vorwärts gehen und bei Empfehlung von Zerstreuungen grössere Vorsicht üben als bei der von Beschäftigungen. Theilnahme an geräusch- vollen und sehr lange dauernden Amüsements wie Bällen, Ein- ladungen grösseren Styles etc. ist nie rathsam. Besuch von Theatern und Concerten nur in sehr beschränktem Maasse und mit ent-
insbesonders den Skrupeln, Vorwürfen, hypochondrischen und sonstigen Be- fürchtungen, Selbstraordideen, gehöi’en in das Gebiet der Zwangsvorstellungen : mitunter sind diese Zwangsvorstellungen das Primäre, die Verstimmung das Sekundäre; die Aufklärung, welche man dem Kranken giebt, muss unter Um- ständen diesem Sachverhalte Rechnung tragen.
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Melancholie, Schlaflosigkeit.
sprechender Auswahl der Stücke etc. Der Verkehr mit einem kleinen Kreise befreundeter Personen oder nur mit einer einzel- nen besonders sympathischen, verständigen Persönlichkeit ist meist von günstigem Einflüsse.
Die larvirte Suggestionstherapie erweist sich gewöhnlich nur gegen einzelne Symptome, wie Angstzustände, Schlaf- und Appetit- mangel, erspriesslich. Erreichen die Angstzustände eine gewisse Intensität, so möchte ich wegen der Gefahren, welche dieselben mit sich bringen (Suicidium, Gewaltthaten gegen Dritte) Niemand rathen, sich auf die Wirkungen von Suggestivmitteln bezüglich derselben zu verlassen; das Opium wirkt hier meist so sicher, dass man keine Ursache hat, sich auf Mittel von zweifelhaftem Werthe zu beschränken.
Günstige Erfolge von hypnotischer Behandlung leichter Fälle von Melancholie beobachteten Voi sin, de Jong, Wetterstrand, Rin gier u. A. Ich selbst habe in einer Reihe von Fällen die Hypnose versucht, kann von derselben jedoch keine sehr bedeuten- den Resultate berichten. Bei manchen Kranken war die unmit- telbare Wirkung der hypnotischen Suggestionen (vielleicht auch der Einschläferung) eine zweifellos günstige und doch Hess sich durch dieselben eine entschiedene Abkürzung des Krankheitsver- laufes nicht erzielen. Ein Theil der Kranken erwies sich der Hypnose ganz unzugänglich; auch durch Zuhilfenahme von Nar- coticis Hess sich bei denselben keine deutliche Beeinflussung her- beiführen ^).
g) Schlaflosigkeit.
Unter den Ursachen der Schlaflosigkeit spielen bekanntlich psychische Momente eine sehr bedeutende Rolle: geistige Ueber- anstrengungen, widrige gemüthliche Erregungen, der Zwang, den Schlaf zu unterdrücken oder öfters zu unterbrechen, wie er nament- lich mit der Pflege von Kranken sehr häufig verknüpft ist. Wenn durch diese oder andere Umstände (Schmerzen, lästige Pulsationen, Herzklopfen, Ohrensausen etc.) längere Zeit hindurch das Ein-
1) Dass die Melancholischen häufig sich refraktär verhalten, erwähnt schon B e r n h e i m. „Les melancholiques , les hypochoudriaques , certains nevropathes sont souvent rebelles au sommeil hypnotique; ils ne se laissent pas influencer.“
Schlaflosigkeit.
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schlafen (oder das Wiedereinschlafen nach frühzeitigem Erwachen) erheblich erschwert wurde, ist es etwas sehr Gewöhnliches, dass der Leidende sich mit der Befürchtung zu Bette legt, dass er wieder den ersehnten Schlaf nicht oder nicht so bald finden wird ; diese Befürchtung erhält sich sehr häufig mit der Hartnäckigkeit einer Zwangsvorstellung auch Bemühungen gegenüber, psychisch möglichst ruhig und gleichgültig zu bleiben und an nichts zu denken, und verhindert oder verzögert den Eintritt des Schlafes. So kommt es, dass die Schlaflosigkeit in sehr vielen Fällen auch nach Beseitigung der primären Ursachen als eine Störung auto- suggestiven Ursprungs sich forterhält.
Für die psychische Behandlung eignen sich in erster Linie die durch Ueberreizung des Gehirns herbeigeführten nervösen oder neurasthenischen, schliesslich, wie wir eben erwähnten, oft nur mehr autosuggestiven Insomnien. Allein auch bei Insomnien, welche auf andere Ursachen zurückzuführen sind, müssen wir häufig die Hilfsquellen der Psychotherapie zu Rathe ziehen, um den Kranken Erleichterung zu verschaffen und ihrem oft sehr dringlichen Verlangen nach Schlaf erzeugenden Mitteln auf eine unbedenkliche Art Genüge zu leisten.
Auf die Beseitigung der psychischen Schädlichkeiten, welche an der Entstehung der Insomnie betheiligt sind, müssen wir natür- lich in erster Linie unser Augenmerk richten. Liegen geistige Ueberanstrengungen vor, so muss denselben ein Ende gemacht werden; auch Lesen und Musiziren bis in die späte Nacht ist zu verbieten. Was sich bezüglich der gemüthlichen Erregungen thun lässt, wurde bereits an früherer Stelle bemerkt. Als suggestive Narcotica können wir eine Menge von Mitteln verwerthen, welche z. Th. beim Publikum als nervenberuhigend und schlaffördernd gelten, obwohl ihnen an sich von solchen Eigenschaften nichts zu- kommt: Zuckerwasser, Wasser mit Fruchtsaft, Milch, Fleischbrühe vor dem zu Bette gehen oder im Bette genommen, Priesnitz’sche Leibumschläge, ein kalter Umschlag in der Nackengegend, Fuss- bäder, Massage, Brausepulver, etwas Baldrianthee oder Bromwasser, minimale Gaben von anderen sedativen oder narkotischen Medika- menten oder indifferente Pulver, welche als sicher wirkende Narco- tica dargereicht werden.
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Schlaflosigkeit, Epilepsie.
Es können jedoch auch Mittel, welche nicht wie die vorstehend erwähnten vor dem Zubettegehen, sondern unter Tags angewendet Averden, durch ihre Suggestivwirkung den mangelnden Schlaf hei:- beiführen (so hydriatische , elektrische Proceduren etc.). Erzielen wir durch die larvirte Suggestion in der einen oder anderen Form keine genügenden Resultate, so empfiehlt sich Avenigstens bei länger bestehender Schlaflosigkeit die einmalige AnAvendung eines Avirklichen Narkoticums in entsprechender Gabe, um dem Kranken, bei Avelchem die Autosuggestion des Nichtschlafenkönnens sich be- reits entwickelt hat, die Unbegründetheit dieser Vorstellung evident zu machen. Man ist dann in der Folge sehr häufig in der Lage, wieder mit Suggestivmitteln und diätetischen Maassnahmen aus- zukommen und allmählich den Schlaf des Kranken auch von diesen unabhängig zu machen.
Dass die Hypnotherapie auch bei Insomnie sehr beachtens- werthe Erfolge aufzuweisen hat, unterliegt keinem Zweifel; allein die an Schlafmangel Leidenden sind häufig schwer zu hypnotisiren, z. Th. auch ganz refraktär; auch ereignet es sich nicht selten, dass die hypnotische Suggestion nur vorübergehende Besserung des Zu- standes herbeiführt und dann ganz versagt. Im Ganzen will es mir scheinen, dass die Leistungen der Hypnose bei Insomnie von manchen Autoren (so insbesonders von Wetterstrand und Hirsch) überschätzt werden^).
h) Epilepsie, Chorea, lokalisirte Muskelkrämpfe, Stottern.
Die Epilepsie zählt nicht zu den lohnenden Objekten der Psychotherapie. Es lässt sich zwar nicht in Abrede stellen, dass häufig die Anfälle durch psychische Einflüsse zeitweilig erheblich reduzirt oder auch ganz zum Wegbleiben gebracht werden; allein
1) Ich habe hiebei durchaus nicht lediglich meine eigenen Erfahrungen im Auge. Dieser Tage erst besuchte mich ein in W. wohnender Herr, welcher sich wegen Schlaflosigkeit auf meine Empfehlung in die Behandlung eines als Hypnotherapeut wohl bekannten auswärtigen Kollegen begeben hatte. Die hypnotische Behandlung seitens dieses Kollegen hatte in der ersten Woche geringen, in der zweiten Woche keinen, in der dritten Woche einen sehr günstigen und in der vierten Woche wieder keinen Erfolg, und am Schlüsse der hypnotischen Behandlung war der Zustand schlimmer als zuvor. Derartige Fälle werden aber in der Regel nicht veröffentlicht.
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Epilepsie, Choren.
Heilungen der Krankheit durch psychotherapeutische Maassnahmen bilden jedenfalls nur Ausnahmsvorkommnisse. Jeder auf dem Ge- biete der Epilepsie erfahrene Beobachter macht die Wahrnehmung, dass in Fällen, in welchen das Leiden längere Zeit besteht und bereits Verschiedenes ohne nachhaltigen Erfolg gebraucht wurde, irgend ein neues Mittel oder Verfahren, von welchem der Patient grosse Dinge sich erwartet, im Stande ist, die Anfälle für eine gewisse Zeit zu unterdrücken oder gelinder zu machen. Man darf diese Wirkungen in der Mehrzahl der Fälle lediglich auf die Suggestion, welche sich der Kranke giebt oder welche ihm gegeben Avird, zurückführen. Es ist daher auch sehr begreiflich, dass die hypnotische Behandlung ebenfalls öfters Besserungen bei Epilepsie herbeiführt. Für die Heilbarkeit der Krankheit durch die Hypno- therapie trat insbesonders Wetterstrand ein. Dieser Autor em- pfiehlt auch bei Epilepsie die Anwendung eines „künstlich ver- längerten Schlafes", i. e. einer sehr lange ausgedehnten Hypnose; er selbst hat in einzelnen Fällen Patienten sogar mehrere Wochen im Zustand der Hypnose erhalten. Heilungen einzelner Fälle von Epilepsie durch hypnotische Suggestion werden auch von Bern- heim, Berillon, Barwise, Forel u. A. mitgetheilt. Manche dieser „Heilungen" dürften sich nachträglich als nicht von Dauer erweisen und manche durch irrthümliche Diagnose, Verwechslung von Hysteroepilepsie mit Epilepsie erklären. Die Mehrzahl der Suggestionstherapeuten (Bernheim, van Eenterghem und van Eeden, Lloyd Tuckey, Hirsch u. A.) gesteht zu, dass von der Hypnose bei inveterirter Epilepsie nicht viel zu erwarten ist. Selbst Forel, welcher erwähnt, dass er bei Wetterstrand erstaunliche Heilwirkungen bei Epileptikern sah, erklärt, dass er bezüglich der Epilepsie noch immer grosse Keserven machen müsse und glaube, dass nur gewisse Fälle durch Suggestion zu heilen sind.
Ungleich günstiger als bei Epilepsie sind die Resultate der Psychotherapie bei Chorea und zwar nicht bloss bei den verschiedenen Choreaformen, welche in näherer Beziehung zur Hysterie stehen (Chorea electrica, Chorea rhythmica, Chorea saltatoria, Chorea epidemica etc.), sondern auch der Chorea minor etc., in deren Aetiologie neben Infektionen bekanntlich gemüthliche Erregungen eine erhebliche Rolle spielen (insbesonders Schrecken). Handelt es
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Choroa, loknlisirte Muskelkriimpfe.
sich um ganz frische Fälle von Chorea minor infektiösen (ins- besonders rheumatischen) Ursprungs, so wird man kaum Veran- lassung haben, neben der üblichen medikamentösen Behandlung (Antipyrin, Arsen), die auch in gewissem Maasse suggestiv wirkt, irgend ein besonderes psychotherapeutisches Verfahren anzuwenden. Eine Ausnahme bilden nur die Fälle, in welchen diese Arzneien Verdauungsstörungen verursachen. Zieht das Leiden jedoch sich länger als 4 — 6 Wochen hin, ohne einen deutlichen Rückgang zu zeigen, so empfiehlt sich die eine oder andere Form der Suggestiv- behandlung. Ich habe bisher zumeist die larvirte Suggestion in elektrotherapeutischer Form (schwache Galvanisation des Rückens oder der Glieder) mit befriedigendem Erfolge angewendet; in den Fällen, in welchen gemüthliche Erregungen die Ursache des Leidens bilden, ist irgend ein Suggestivverfahren in erster Linie schon am Platze. Eine Anzahl von Beobachtern (Bernheim, Wetter- strand, van Renterghem und van Eeden, Dumontpallier u. A.) sahen von der Hypnose erfreuliche Resultate. Der heredi- tären (Huntington’schen) Chbrea gegenüber ist die Hypnose je- doch machtlos.
Auch bei verschiedenen lokalisirten Muskelkrämpfen und zwar nicht bloss bei solchen hysterischen Ursprungs — Facialiskrampf, Accessoriuskrampf, Krampf in den Extremitätenmuskeln, Myoclonie, Tics etc. — leistet uns mitunter die Psychotherapie sehr wesent- liche Dienste. Ich habe selbst in mehreren Fällen dieser Art von der larvirten Suggestivbehandlung beachtenswerthe Erfolge gesehen, so wiederholt bei Facialiskrampf, bei Tics der Halsmuskeln, in einem Falle von schwerem, seit sieben Jahren bestehendem ein- seitigem Accessoriuskrampf, bei welchem die Franklinisation der Halsgegend eine sehr bedeutende Besserung, für einige Zeit sogar gänzliches Aufhören des Krampfes herbeiführte. Die Suggestiv- wirkung der Procedur zeigte sich hier schon in dem Umstande, dass der Krampf von dem Momente an cessirte, in welchem die statische Spitzenströmung oder die Funkenströme auf die betreffende Halsseite einwirkten. Bei hysterischen Zuckungen und hysterischem Tremor an den oberen Extremitäten habe ich öfters sofortigen Nutzen von der larvirten Suggestivbehandlung vermittelst eines ringförmigen, an der Handgelenksgegend applizirten Streitens
stottern, Sclireibekrampf, Neuralgien.
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Senfpapier oder Blasenpflaster gesehen. Bernlieim, Wetter- strand, Tatzel, Stadelmann u. A. erzielten mit der hypnoti- schen Suggestion in einzelnen Fällen von lokalisirten Spasmen sehr günstige Resultate.
In der Therapie des Stotterns hat sich die hypnotische Suggestion einen hervorragenden Platz errungen. In der grossen Mehrzahl der Fälle ist dieses Leiden, wie es scheint, von einer Autosuggestion, der Vorstellung des Nichtsprechenkönnens, ab- hängig. Dies macht es begreiflich, dass wir in der hypnotischen Suggestion ein gewichtiges Mittel gegen dasselbe besitzen. Wetter- strand beobachtete, dass Stotternde, in Somnambulismus versetzt, sofort fliessend sprechen. Von 48 hypnotisch behandelten Stottern- den wurden durch ihn 15 vollständig geheilt und etwa 20 gebessert; V. Corval, Ringier, Hirt und Tatzel berichten ebenfalls von Heilerfolgen bei Stotterern, die durch Hypnose erzielt wurden. Es fehlt jedoch auch bei der hypnotischen Behandlung des Stotterns nicht an Misserfolgen, wie aus der Statistik Wetter strand’s hervorgeht, auch nicht an Recidiven.
Bei den verschiedenen Beschäftigungsneurosen, speziell beim Schreibekrampf, habe ich bisher durch larvirte Suggestivbehandlung nichts Erwähn enswerthes erreicht; Bern heim und Lloyd Tuckey haben Fälle von Schreibekrampf durch hypnotische Suggestion ge- heilt. Letzterer Autor empfiehlt gleichzeitige Anwendung der Massage.
i) Neuralgien und algische Affektionen. Cephalea.
Auch in der Therapie der Neuralgien gebührt der psychischen Behandlung eine hervorragende Stelle. Man darf dieselbe natürlich nicht auswahllos, ohne Berücksichtigung der ätiologischen Ver- hältnisse zur Anwendung bringen. Wer eine frische rheumatische Ischias sofort psychisch behandeln wollte, dürfte auf i’ationelles Vorgehen keinen Anspruch erheben, auch derjenige nicht, der gegen eine Malarianeuralgie statt mit Chinin mit der Suggestion zu Felde zieht.
Im Einzelfalle müssen wir vor allem trachten, über die ätio- logischen Verhältnisse Klarheit zu gewinnen; wenn eine Indicatio
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Neuralgien.
causalis vorliegt, ist dieser in erster Linie Rechnung zu tragen. Es bleibt trotzdem, auch wenn man der Indicatio morbi nicht lediglich auf psychotherapeutischem Wege genügen will, noch immer für die psychische Behandlung ein weites Feld; diese kann auch in vielen Fällen sich nützlich erweisen, in welchen die Ursache zwar zu ermitteln, aber nicht zu beseitigen ist (z. B. bei den Influenzaneuralgien).
Unter den verschiedenen Neuralgien und algischen Affektionen sind der Psychotherapie nach meinen Erfahrungen folgende in besonderem Maasse zugänglich:
1. Diejenigen, welche sich auf hysterischer, neurasthenischer oder anämischer Basis entwickeln.
2. Diejenigen, welche mit abgelaufenen oder veralteten rheu- matischen Leiden Zusammenhängen.
3. Solche unbekannten Ursprungs, welche aller Wahrschein- lichkeit nach auf zeitweilig Aviederkehrenden oder andauernden Cirkulationsstörungen (vasomotorischen Anomalien) beruhen.
Bezüglich der hysterischen Neuralgien und algischen Aö’ek- tionen kommt für die Psychotherapie in Betracht, dass dieselben nicht immer, wie neuerdings manche Beobachter annehmen, von Autosuggestionen, d.h. Vorstellungen eines bevorstehenden Schmerzes, ausgehen; in einer Reihe von Fällen sind dieselben mehr affektiven Ursprungs; sie werden durch mit schmerzlichen Affekten verknüpfte Ei’innerungen gewisser Erlebnisse, die unterbewusst bleiben, oder durch Vorstellungen, welche mit depressiven 'Affekten' einhergehen, Kümmernisse, Sorgen, Befürchtungen etc. hervorgerufen. Derartige gemüthliche Erregungen wirken auch bei Neuralgien etc., welche von anderen Ursachen herrühren, entschieden ungünstig, ebenso aber auch oft anstrengende geistige Thätigkeit. Bei der Behand- lung der in Frage stehenden Affektionen haben wir daher zunächst dafür Sorge zu tragen, dass dem Patienten schädliche gemüthliche Erregungen möglichst erspart bleiben und die geistige Beschäf- tigung innerhalb gewisser Grenzen sich hält. Mangelt es an Be- schäftigung oder gestattet der Zustand solche überhaupt nicht, so ist durch passende Zerstreuungen darauf hinzuAvirken , dass der Kranke seine Aufmerksamkeit nicht zu viel auf sein Leiden richtet.
Nouralgien.
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Unter den Mitteln, welche uns für die Zwecke der larvirten Suggestivbehandlung hier zur Verfügung stehen, darf die Elektri- cität die erste Stelle beanspruchen. Die Erfolge der Elektro- therapie bei Neuralgien etc. sind bekannt. Dieselben sind aller- dings, wie ich besonders betonen will, durchaus nicht immer durch die suggestiven Einflüsse des Verfahrens bedingt. Ich habe in meiner langjährigen elektrotherapeutischen Praxis gar manchen Fall von Neuralgie behandelt, bei welchem die zunächst angewandte Art der Elektrisirung keine oder nur geringe Resultate erzielte, während eine andere elektrotherapeutische Methode Heilung herbei- führte. Zu einer suggestiven Wirkung war in diesen Fällen das zunächst angewendete Verfahren ebenso geeignet als das an zweiter Stelle verwerthete. Neben den Fällen, in welchen die Elektricität lediglich auf physikalischem Wege Dienste leistet, begegnen wir vielen anderen, in welchen wir im Unklaren bleiben, ob das physikalische oder das psychische Moment oder beide vereinigt uns zu dem Heilresultate verhalten. Die Erfahrungen, welche man bei Anwendung der Elektricität macht, sind mitunter auch höchst merkwürdig; es ist mir vorgekommen, dass Neuralgien, welche eine Reihe von Monaten, ein Jahr und länger bestanden hatten, nach zwei oder drei Sitzungen (auch schon nach einer Sitzung) verschwunden waren; erst vor Kurzem wurde mir von einem hiesigen Kollegen eine Dame mit einer seit etwa vier Jahren bestehenden Meralgie (Neuralgie des Nervus cutaneus femoris ex- ternus) zur Behandlung überwiesen, bei welcher das Leiden be- reits nach zwei elektrischen Sitzungen so gut wie beseitigt war. Die zweifellos physikalische Wirkung der Elektricität bei Neu- ralgien otc. beeinträchtigt natürlich deren Verwerthbarkeit für suggestive Zwecke nicht, sie erhöht dieselbe vielmehr und fordert jedenfalls uns auf, in allen Fällen, in welchen nur die Möglich- keit einer physikalischen Beeinflussung der Neuralgie durch das elektrische Agens vorliegt, in erster Linie dieses in Gebrauch zu ziehen. Den Zwecken der larvirten Suggestivtherapie kami jedoch bei den hier in Betracht kommenden Leiden noch eine Menge anderer Mittel dienen : Magnetapplikationen , hydriatische Proce- duren, Massage, Suspension, Einreibungen, Pflaster, indifferente innerliche Mittel oder minimale Dosen differenter Mittel, subcutane
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Neuralgien.
Injektion indifferenter Lösungen etc.; die Anwendung letzterer Mittel empfiehlt sich namentlich in den Fällen, in welchen der Patient während der einzelnen Schmerzattaquen nach einer Er- leichterung verlangt.
Ob man im Einzelfalle zunächst es mit der larvirten Suggestiv- behandlung versuchen und erst nach erfolgloser Anwendung die- ser zur Hypnose übergehen oder sogleich letztere in Gebrauch ziehen soll, hierüber lassen sich keine allgemein gütigen Regeln aufstellen. Geschmack und Neigungen des einzelnen Arztes sind hier oft ausschlaggebend. Wenn ich die Erfolge, welche Bern- heim bei Neuralgien durch die hypnotische Suggestion erzielte — es handelte sich vorzugsweise um Affektionen, deren Dauer noch nicht einen Monat betrug, also Fälle recenteren Datums — mit den Resultaten vergleiche, welche ich bei elektrotherapeutischer Behandlung im Durchschnitte zu verzeichnen habe, so kann ich nicht finden, dass dieselben den B ernheim’schen irgendwie nach- stehen. Ich möchte sogar behaupten, dass sie diese eher über- treffen. Ich kann daraus nur folgern, dass die Anwendung der Hypnose bei recenteren Neuralgien etc. keinen wesentlichen Vor- theil gegenüber der larvirten Suggestionsbehandlung (oder nicht suggestiver Behandlung) bietet. Dagegen ist die hypnotische Be- handlung zweifellos bei länger bestehenden Alfektionen, welche anderen Arten der Behandlung trotzten, und bei allen inveterirten Fällen, wodurch dieselben auch verursacht sein mögen, gerecht- fertigt. Man darf jedoch auch von der hypnotischen Suggestion nicht allzuviel auf einmal verlangen. Sofortiges gänzliches Ver- schwinden der Schmerzen zu suggeriren, führt meist zu keiner Aenderung des Zustandes. Man muss auch bei der hypnotischen Suggestivbehandlung schrittweise vergehen, zunächst nur Linderung der Schmerzen und grössere Pausen zwischen den Attaquen suggeriren. Man kann auch in der Hypnose zur Unterstützung der Suggestion Elektrisirung oder Massage der leidenden Theile anwenden.
1) Ich habe hier die von Bernheim in „Neue Studien über Hypnotis- mus etc.“ p. 309— *824 mitgetheilten Beobachtungen im Auge.
(Jeplialen, nervöser Husten.
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Unter den verschiedenen Arten der Ceplialea bilden die Kopf- schmerzen der Neurasthenischen und Hysterischen und der so- genannte habituelle Kopfschmerz, dessen Aetiologie sich oft nicht genügend aufklären lässt, lohnende Objekte der Psychotherapie. Wir wollen hiemit jedoch keineswegs sagen, dass bei Behandlung der in Rede stehenden Cephalea- Arten die Psychotherapie in erster Linie heranzuziehen ist. Im Allgemeinen ist es entschieden rath- sam, mit den üblichen somatischen Heilmethoden (Galvanisation, Franklinisation, faradische Massage des Kopfes, Hydrotherapie etc.) gegen das üebel vorzugehen, und erst wenn diese versagen oder nur ungenügende Erfolge liefern, die eine oder andere Art der Suggestivbehandlung vorzunehmen. Von vielen Beobachtern wer- den die Resultate der hypnotischen Suggestion gerühmt; ich selbst habe hiemit in manchen Fällen nur vorübergehende Besserung zu erzielen vermocht. Die larvirte Suggestion kann in sehr ver- schiedener Form mit Nutzen angewendet werden (Umschläge, Waschungen des Kopfes mit spirituösen Flüssigkeiten, sehr schwache elektrische Ströme, innerlich indifferente Mittel etc.), lässt aber auch mitunter im Stich, und es kann dann verkommen, dass, nach- dem sich der Arzt längere Zeit vergeblich abgemüht hat, die Mittel irgend eines Kurpfuschers den Kranken von seinen Kopf- beschAverden befreien.
II. Affektionen des Respirationsapparates.
Unter den Affektionen des Respirationsapparates, Avelche sich für psychische Behandlung eignen, ügurirt der nervöse (hysterische) Husten in erster Linie. Bei demselben handelt es sich zum Theil um ein Hüsteln, das auf ein Kitzelgefühl im Halse zurückgefülirt und den ganzen Tag mehr oder minder fortgesetzt Avird, zum Theil um einen lauten bellenden Husten (sogenannten Schafhusten), Avelcher Avährend der Tageszeit in kürzeren oder längeren Anfällen auftritt oder auch vom Morgen bis in die Nacht ohne längere Unterbrechung andauert. Die Ursachen des nervösen Hustens, Avelche die Behandlung natürlich zu berücksichtigen hat, liegen nicht immer klar zu Tage. In einer Anzahl A'on Fällen Avird
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Nervöser Husten.
derselbe durch gemütliliche Erregungen oder Vorstellungen (psychi- sche Infektion) hervorgerufen. In anderen Fällen bildet, wie Rosenbach hervorgehoben hat und ich mich ebenfalls öfters überzeugen konnte, das veranlassende Moment ein akuter mit Husten verknüpfter Rachen-, Kehlkopf- oder Bronchialkatarrh, nach dessen Ablauf das zur Gewohnheit gewordene Husten fort- gesetzt wird, mitunter so automatisch, dass der Patient von seinem Hüsteln oder Husten nichts weiss und geneigt ist, dasselbe abzu- leugnen. Der Weg, welchen wir bei der psychischen Behandlung einschlagen, muss sich nach der Gestaltung des einzelnen Falles richten. Ist der Hustenreiz massig und andauernd und zeigt sich, dass durch Ablenkung der Aufmerksamkeit von demselben oder Willensanstrengung der Husten unterdrückt werden kann, so em- pfiehlt es sich zunächst, den Kranken über diesen Sachverhalt aufzuklären und ihn energisch aufzufordern, seinen Willen zur Bekämpfung des Hustenreizes zu gebrauchen. Bei Kindern kann man das Aufbieten des Willens noch durch direktes strenges Untersagen des Hustens oder unter Umständen auch durch Be- drohung mit unangenehmen Proceduren und, wenn diese ganz wirkungslos bleibt, durch Vornahme einer solchen Procedur (Be- pinselung des Rachens mit einer bitteren Lösung, farad. Pinselung der Kehlkopfgegend, statische Funkenströme etc.) anregen. Manche Aerzte (so Rosenbach und Treubel) legen auf methodische Lungengymnastik und namentlich methodische Inspirationsübungen grosses Gewicht. ),Man fordere den Kranken auf, recht tief Athem zu holen, den Athem anzuhalten und lasse sich in der Ueber- wachung dieser Form der Lungengymnastik durch die stets ein- tretenden Hustenanfälle nicht irre machen.“ Nachdem der Arzt einige Zeit diese Hebungen persönlich geleitet hat, soll man eine Fortsetzung derselben ohne ärztliche Aufsicht anordnen, bis der Husten gänzlich aufgehört hat. Diese methodische Disciplinirung wirkt jedoch nicht bloss erzieherlich, indem sie den Kranken nöthigt, seinen Willen zur Bekämpfung des Hustenreizes in An- spruch zu nehmen, sondern auch suggestiv nützlich. Tritt der Husten in heftiger Form anfallsweise oder andauernd auf, so dürfen wir nicht säumen, sofort irgend eine Art larvirter Suggestiv- beliandlung zur Erleichterung des Kranken anzuwenden (indifferente
Nervöser Husten.
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Pulver oder minimale Dosen wirksamer Arzneimittel, Galvanisation oder Franklinisation der Halsgegend, Pinselung des Rachens etc.). Diese Therapie bildet auch eine wirksame Unterstützung der gymnastischen Behandlung. Mitunter erweist sich die Versetzung der Kranken unter ganz neue Verhältnisse sehr nützlich. Bei mehreren von mir beobachteten Patientinnen verlor sich der Husten, welcher zu Hause nicht ganz weichen wollte, auf einer Vergnügungs- reise sehr rasch und vollständig ’). Was unter Umständen die Hypnose bei sehr hartnäckigem nervösem Husten leisten kann, lehrt eine von Hirt mitgetheilte interessante Beobachtung: ;,Der Sohn des Geh. Med.-Rathes Prof. Dr. Klapsch litt seit acht Jahren an sehr beschwerlichen Hustenanfällen, welche den 14jährigen Knaben derart schwächten, dass der Schulbesuch und jede geregelte Beschäftigung aufgegeben werden musste; von Nachtruhe war keine Rede, und als der Vater mich Dezember 1890 aufsuchte, erzählte er mir, dass Wochen vergingen, ehe überhaupt Jemand von der Familie zu Bette gehen könnte. Seebäder, Elektricität, Ausbrennen der Nase, alles war vergebens versucht worden, und schliesslich erklärten bedeutende medizinische Autoritäten den Fall für un- heilbar, weil man eine physikalisch nicht zu diagnostizirende ana- tomische Erkrankung der Lunge annehmen müsse. Der Knabe wurde eines Vormittags, in Gegenwart seines Vaters, durch Streichen und Zureden in einen leichten Ermüdungszustand versetzt, und während desselben suggerirte ich ihm, dass sein Kehlkopf und seine Lunge ganz gesund, sein Husten verschwunden und er selbst geheilt sei; er werde die nächste Nacht im Bette zubringen und vortrefflich schlafen. Der Erfolg war geradezu verblüffend. Patient schlief ausgezeichnet, hustete gar nicht mehr und ist bis heute (nach mehr als 4^/2 Jahren) gesund geblieben, ich habe ihn nur
1) Dass schwere operative Eingriffe, wie sie mitunter wegen hartnäckigem hysterischem Husten vorgenommen wurden, auch psychotherapeutisch weniger leisten als eine zielbewusste methodische psychische Behandlung, lehrt die von Treubel mitgetheilte Beobachtung, „dass ein 26 jähriges hysterisches Mädchen, das schon seit fast vier Jahren ein beständiges, lockeres Hüsteln hatte, so dass die Sprache dadurch erschwert und beeinträchtigt war, und das desshalb von Hack in der Nase und im Halse behandelt, von Hegar laparotomirt worden war, durch einfache psychische Behandlung mit Respirationsübungen (nament- lich methodischen tiefen Inspirationsübungen) geheilt wurde“.
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Hysterischer Stimmritzenkrampf, hysterische Aphonie.
ein einziges Mal, nachher ärztlich nie mehr, sondern nur als ge- sunden Menschen im Theater wiedergesehen.“
Ueber die Erfolge psychischer Behandlung beim hysterischen Stimmritzenkrampf, der eine sehr bedrohliche Gestaltung annehmen kann, liegen wenig Erfahrungen vor. T obold empfahl die An- wendung des constanten Stromes, der, wenn überhaupt, jedenfalls nur suggestiv wirken kann. Bei hypnotisirbaren Personen kann man die hypnotische Suggestion zur Verhütung der Anfälle an- wenden. Im Anfalle selbst kann man sich bei längerer Dauer oder bedeutender Intensität des Krampfes in Anbetracht der vorliegen- den oder möglicherweise eintretenden Lebensgefahr nicht mit Suggestivmitteln aufhalten; Chloroform- oder Bromäthilinhalationen, subcutane Injektion von Morphium oder Hyoscin oder sehr starke Hautreize in der Gegend des Kehlkopfes (farad. Pinselung) sind hier am Platze. Ungemein zahlreich und verschiedenartig sind die Mittel, welche zur Beseitigung der hysterischen Stimmband- lähmung (paretischen Form der hysterischen Aphonie, neben welcher auch eine spastische vorkommt) in Gebrauch gezogen wurden: interne oder subcutane Einverleibung verschiedener Arzneimittel, Pulvereinblasung, extra- und intralaryngeale Elektrisirung , Ein- führung des Kehlkopfspiegels und von Sonden, äussere Kehlkopf- massage und Kehlkopfcompression (Oliver), Traktionen der Zunge, Elevation des Zungenbeins (N ä g e 1 i’s Zungenbeingriff), Compression der Ovarien etc. Allen diesen Mitteln kann nur eine suggestive Bedeutung zuerkannt werden ; wenn sie die Heilung der von einer Vorstellung abhängigen Aphonie herbeiführen, so geschieht dies lediglich dadurch, dass sie bei der Kranken die Vorstellung leb- haft anregen, dass sie durch ihre Anwendung ihre Stimme wieder erlangt. In neuerer Zeit werden neben gewissen Suggestivproce- duren (Kehlkopfmassage etc.) vielfach methodische Stimm- und Athemübungen gebraucht, um der Kranken die Ueberzeugung bei- zubringen, dass sie über ihre Stimme verfügt. Diese Lieblingen scheinen mir zum Theil von einer ganz unnöthigen Complicirtheit^).
1) So berichtet T re übel über das von Killian in der Freiburger Uni- versitätspoliklinik geübte Verfahren: „Es wird der Patientin zunächst ruhig und bestimmt erklärt, dass sie, wenn sie alles genau befolge, in wenigen Minuten wieder laut und deutlich wie jeder andere Mensch sprechen könne.
Hysterische Aphonie, neiirasthenisches Asthma.
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Ich habe schon vor einer Reihe von Jahren mich eines sehr einfachen Verfahrens mit Erfolg bedient. Eine Hysterische wurde von einer seit zwei Jahren ununterbrochen bestehenden Aphonie schon am zweiten Tage der Behandlung dadurch befreit, dass ich sie veranlasste, die einzelnen Buchstaben des Alphabets zuerst leise, dann lauter und immer lauter nachzusprechen, ohne von ihrer an- geblichen Unfähigkeit Notiz zu nehmen. Nachdem sie dahin ge- bracht war, die einzelnen vorgesprochenen Buchstaben genügend deutlich zu wiederholen, ging das Sprechen ohne jede weitere Be- mühung vollkommen laut vor sich. Diese Methode hat sich mir auch in anderen Fällen als genügend erwiesen, die nebenhergehende Vornahme irgend einer suggestiv wirkenden Procedur in der Kehl- kopfgegend (Franklinisation , Faradisation etc.) unterstützt die Wirksamkeit des Verfahrens.
Unter den verschiedenen Formen des Asthmas bildet die von Brügelmann als neurasthenisches Asthma bezeichnete und ge- nauer geschilderte ein besonders günstiges Objekt der Psychotherapie. „Unter den unter die Sammelrubrik „Neurasthenisches Asthma“ zu zählenden Fällen“, bemerkt der genannte Autor, „giebt es eine Anzahl, welche nicht durch irgend einen nervösen Erreger inscenkt Av erden, sondern welche spontan entstehen, lediglich durch Wahn-
Es wird an ihre Willenskraft appellirt und gespannteste Aufmerksamkeit für das Folgende verlangt. Während nun Patientin gespiegelt wird, muss sie ab- wechselnd nach Kommando die Luft mit einem seufzerartigen Tone einziehen und alsdann husten. Beim Einziehen der Luft tritt zunächst der verlangte Ton nicht auf, die Stimmbänder werden für einen Augenblick in einer Ent- fernung von etwa 1 — 2 mm von einander gehalten, nähern sich aber im Ver- laufe der Uebung immer mehr und dementsprechend kommt ein immer deut- licherer Ton neben dem Einziehen der Luft zu Stande. Gleichzeitig werden die exspiratorischen Hustenstösse, die anfangs klanglos sind, mehr und mehr von Klang begleitet. Die Taschenbänder nehmen immer weniger Antheil. Der Spiegel bleibt während der Hebungen ruhig liegen, damit man die Be- wegungen im Kehlkopfe genau kontrolliren kann. Sobald im Verlaufe der Uebung die Stimmbänder sich thatsächlich bis auf den für die Phonation nöthigen, haarfeinen Spalt genähert haben, erkennt man auch sofort das Vibriren der freien platten Ränder. Jetzt werden der-Patieutin die Vokale a, e, i, o, u vorgesprochen, die sie deutlich und laut, vielleicht etwas zaghaft, wiederholt, der Spiegel aus dem Munde’entfernt, die Vokale nochmals vorgesprochen, die Patientin aufgefordert, laut nachzusprechen. Sobald sie das vermag, schliessen sich laute Zählübungen und lautes Vorlesen unmittelbar an. Wird sie wieder rückfällig, so beginnt die Behandlung wieder von vorne.“
Löwenfeld, Psychotherapie.
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Neurasthenisches Asthma.
Vorstellungen so drastischer Natur, dass dieselben einen Reiz auf die Athmungscentren etabliren und so den Wahn in die Wirk- lichkeit übersetzen. Es sind das die Fälle, von welchen ich in meiner citirten Arbeit in den therapischen Monatsheften sagte, sie machen sich ihr Asthma selbst. Die Form des Asthmas kann natürlich auch andere Formen kompliziren, sich aus ihnen als Folgezustände entwickeln, kann aber auch, wie gesagt, ebenso wie jeder andere Wahn plötzlich entstehen, z. B. durch das Sehen eines heftigen Anfalles bei anderen Kranken. Die Kranken haben die fixe Idee, nicht athmen zu können, und solange diese Idee sie nicht verlässt, können sie in der That nicht athmen, keuchen voll- ständig und malträtiren ihre Lungen so lange, bis sich ein akuter Bronchialkatarrh entwickelt. Bekanntlich kami man einen solchen bei ganz gesunder Brust durch forcirte Athmung sehr schnell er- zeugen und dann wird der Effekt allemal zur Ursache gestempelt, indem die Kranken allen Belehrungen immer wieder den Katarrh entgegenhalten, als etwas Greifbares Pathologisches. Kommen diese Wahnvorstellungen und in deren Folge der Katarrh recht häufig vor, so hat die kranke Brust gar nicht Zeit, sich von einem Catarrhus acutissimus zu erholen, ehe schon der nächste kommt, und so wird natürlich ein chronischer Katarrh daraus, und damit hat die Suggestion immer grössere Widerstände zu überwinden. Am schlimmsten sind die Fälle, in welchen die Wahnvorstellung sich mit einer bestimmten Zeit verbindet, denn dann kommt allemal eine höchst verderbliche Autosuggestion hinzu, wodurch die Suggestion immer verzweifelter wird. Z. B. Nachmittags um 5 Uhr behauptet der Kranke, seinen Anfall zu bekommen, sobald dann die Zeit herankommt, so denkt er schon an gar nichts anderes, als an seinen Anfall, er richtet sich schon darauf ein, geht in seine Stube, setzt sich in seinen Sessel, nimmt der Ver- ordnung gemäss ein spannendes Buch zur Hand, ist aber mit seinen Gedanken trotzdessen nur bei seinem Asthma.“
Die Behandlung dieser Kranken ist, wie Brügelniann mit Recht hervorhebt, ein schweres Stück Arbeit. Es muss ihnen vor allem dargelegt werden, dass ihr Leiden psychischen Ursprungs ist, dass die Angst vor dem Anfalle das eigentlich auslösende Moment desselben ist und sie daher ihre ganze Willenskraft zur
Neurasthenisclies Asthma,
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Bekämpfung dieser Angst aufzubieten haben ^). Passende Beschäf- tigungen und Zerstreuungen, welche geeignet sind, die Aufmerk- samkeit des Kranken von seinem Zustande abzulenken, sind eben- falls von Wichtigkeit. Des Weiteren können zur Bekämpfuug der Angst vor den Anfällen verschiedene Arten larvirter Suggestiv- behandlung und auch die hypnotische Suggestion herangezogen werden. Brügelmann empfiehlt besonders die Uebung der automatischen Athmung am pneumatischen Apparate. „Da haben sie etwas Greifbares, dessen sich die Autosuggestion sofort be- mächtigt, sie zählen jedesmal die Athemzüge, mit welchen sie einen Kessel Luft bewältigen und da selbstredend die Entleerung eines solchen mit der steigenden Uebung immer besser vor sich geht, so sehen sie darin einen greifbaren Erfolg. Der Avirkliche Erfolg beruht allerdings weniger darauf, dass die Kranken besser athmen lernen — was natürlich ja auch recht begehrenswerth er- scheint, als vielmehr darauf, dass die automatische Athmung weiterhin unbewusst richtiger und normaler von statten geht. Dank der täglichen Uebung, und dadurch rückwirkend sich in dem Be- wusstsein als eine bedeutende Besserung spiegelt ; dies bewirkt aber grössere Beruhigung, Abnahme der Angst und bedeutende Stärkung des Vertrauens.“
Bei dem essentiellen Asthma dagegen dürfen wir von der Psychotherapie keinen wesentlichen Erfolg erwarten. Die hypno-
1) Dass man nicht immer langathmige Erklärungen nöthig hat, sondern mitunter durch derbe Zurechtweisung (ähnlich wie in dem von mir p. 128 an- geführten Falle) rascher an das Ziel gelangt, erhellt aus einem von Brügel- mann mitgetheUten Falle. Derselbe betrifft einen pensionirten Oberst, , welcher sich angewöhnt hatte, laut zu schnaufen, gelegentlich auch solch ähnliche An- fälle, wie geschildert, zur Schau trug und am liebsten fortwährend von seinem Zustand sprach. Ich lud ihn an einem der ersten Abende, welche er in der Anstalt verbrachte, zu einer Whistpartie in mein Privatzimmer ein, da ich ihn so am besten beobachten konnte. Es dauerte nicht lange, so ward er unruhig, er schnaufte laut, der Schweiss trat ihm vor die Stirne, er stand auf und ging schwankend zur Thür über den Hausflur bis zu seiner Zimmerthür. Dort lehnte er, unfähig weiter zu gehen, am Thürpfosten. Soweit hatte ich ihm ruhig zugesehen , nun aber fuhr ich ihn sehr derb an , befahl ihm sich aufs Sopha zu setzen und auf Kommando ruhig zu athmen. Kaum fünf Minuten später war alles vorbei. Er ging von da ab, nachdem er begriffen hatte, dass er den sogenannten Anfall durch den Willen coupiren konnte, in der Selbst- disciplin wacker weiter, hat nie wieder Asthma gehabt“.
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Asthma bei Emphysem, nervöse Herzschwäche.
tisclie Suggestion zeigt sich diesem Leiden gegenüber,, wie Bern- heim erst vor Kurzem hervorgehoben liat, machtlos. Günstiger sind die Resultate bei dem Asthma der Emphysematiker. Bern- beim berichtet über den Fall einer Patientin mit Emphysem, bei welcher alle 14 Tage Anfälle von Asthma auftraten und in der Zwischenzeit Husten, Schlafmangel und Kopfschmerzen be- standen. Durch eine 14tägige hypnotische Behandlung gelang es, diese Beschwerden zu beseitigen, obwohl das Emphysem keine Veränderung erfuhr. In einem von Forel beobachteten Fall von Emphysem mit Asthma und Bronchialkatarrh bei einem 38jährigen Manne schwanden dagegen unter der eingeleiteten Hypnotherapie nicht nur das Asthma und der das Emphysem begleitende Bronchialkatarrh, auch das Emphysem wurde, wie das Zurück- gehen der unteren Lungengrenzen zeigte, erheblich gebessert.
III. Affektionen des Cirkulationsapparates.
Den organischen Herzkrankheiten gegenüber vermag die Psycho- therapie nur wenig. Abgesehen von dem, was durch beruhigende Aufklärung und bei Schwerkranken durch tröstenden Zuspruch zu erreichen ist, darf man im Allgemeinen nicht auf nennenswerthen Erfolg rechnen. Die Resultate, welche einzelne Hypnotherapeuten (so Wetterstrand und Lloyd Tuckey) durch die hypnotische Suggestion erzielten, sind nicht geeignet, zur Anwendung derselben bei Herzkrankheiten sehr aufzumuntern.
Die Neurosen des Herzens und der Gefässe, insbesonders die nervöse (neurasthenische) Herzschwäche mit ihren mannigfachen Beschwerden (Anfälle von Herzklopfen, Tachykardie, neurastheni- sche Angina pectoris, Verlangsamung, Aussetzen und andere Un- regelmässigkeiten der Herzthätigkeit, Gefühle von Schmerz, Druck, Vibriren etc. in der Herzgegend, Angstzustände u. s. w.), bilden dagegen sekr lohnende Objekte der psychischen Behandlung. A or allem haben wir unser Augenmerk auf die Eruirung psychischer Schädlichkeiten zu richten, welche den Zustand verursacht haben und noch unterhalten mögen. Geistige Ueberanstrengungen spielen in der Aetiologie der Herzneurosen eine viel geringere Rolle als
Nervöse Herzschwäche.
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widrige Gemüthserregungen , Angst, Sorgen, Kummer, Aerger. Das Gemüth des Kranken von diesen Affekten direkt zu befreien, vermag der Arzt in der Regel nicht, weil die Beseitigung der Ur- sachen derselben nicht in seiner Macht liegt ; allein durch tröstende Theilnahme, Zuspruch und Betonung der Nothwendigkeit, Selbst- beherrschung im Interesse der Gesundung zu üben, Fürsorge für passende Beschäftigung und Zerstreuung, kann er doch wesentlich zur Abschwächung des Affektes und allmählichen Wiederherstellung einer gewissen Gemüthsruhe beitragen. Von grösster Wichtigkeit ist sodann die richtige Aufklärung des Patienten über die Art seines Leidens. Hat die genaue Untersuchung des Herzens, welche nie verabsäumt werden darf, auch wenn man von der nervösen Natur der geklagten Beschwerden a priori völlig überzeugt ist, ergeben, dass kein organisches Herzleiden vorliegt, so muss dies dem Patienten mit allem Nachdruck kundgegeben werden. Man sagt am besten: „Ihr Herz ist völlig gesund; was sie seitens des- selben Abnormes fühlen, rührt lediglich von den Nerven her.“ Wie der Patient diese beiden Aussprüche sich zusammen reimen will, kann man ihm überlassen ; die Hauptsache für ihn ist immer, dass er von jedem Zweifel, jeder Befürchtung wegen möglichen Bestehens einer organischen Herzerkrankung befreit wird, und dies geschieht durch obige Erklärung ^). Hegt der Arzt selbst Zweifel bezüglich der nervösen (oder rein nervösen) Natur der Affektion, so thut er immer am besten, diese vorerst für sich zu behalten und den gewöhnlich sehr ängstlichen Patienten mit den- selben nicht in Aufregung zu versetzen. Der diagnostische Zweifel kann ihn nicht verhindern, seine Verordnungen derart einzurichten, dass in keinem Falle ein Schaden für den Kranken erwächst.
1) Sehr gebildeten Personen gegenüber, welchen man gewisse physio- logische Kenntnisse Zutrauen kann, mag man Aveitere Aufklärungen über die Störungen der Herzthätigkeit nervösen Ursprungs beifügen. Dass dies etwas zur Erleichterung des Zustandes beitragen wird, darf man jedoch durchaus nicht erwarten. Ich habe eine Anzahl von Kollegen und Medizinstudirenden mit z. Th. schwerer nervöser Herzschwäche beobachtet und behandelt, und ich habe nie finden können, dass diesen Patienten ihr physiologisches und patho- logisches Verständniss irgend, etwas bei ihrem Leiden genützt hätte. Die so beliebte Bezeichnung „Herzneurose“ meidet man im Allgemeinen besser den Patienten gegenüber, weil dieselbe geeignet ist, schädliche Vorstellungen her- vorzurufen.
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Nervöse Herzschwäche.
Rosenbacli empfiehlt bei den vermeintlichen Herzkranken eine Reibe sehr kräftiger Muskeliibungen ausfübren zu lassen, damit man ihnen dann zu ihrer Beruhigung vordemonstriren kann, dass sich Puls und Athmung fast gar nicht geändert haben, keine Ver- färbung des Gesichts aufgetreten ist. Dieses Beruhigungsmittel lässt sich bei Herzneurasthenischen nur in sehr beschränktem Maasse verwerthen. Bei vielen dieser Patienten wird durch ener- gische Bewegungen die Pulsfrequenz erheblich gesteigert und selbst, wenn dies unter gewöhnlichen Verhältnissen nicht der Fall ist, kann es bei der Untersuchung in Folge der durch diese veranlassten gemüthlichen Erregung eintreten. Man darf daher nie dem Patienten vorher ankündigen, dass die Bewegungen seine Herz- thätigkeit nicht oder nicht nennenswerth beeinflussen werden; man kann ihn nur, wenn durch die vorgenommenen Bewegungen der Puls nicht erheblich verändert wurde, auf diesen Umstand zu seiner Beruhigung aufmerksam machen. Mit der Information über die Art des Leidens müssen weitere Aufklärimgen verknüpft werden, deren Berücksichtigung für den Leidenden sehr wichtig ist; es muss demselben dargelegt werden, dass durch die anhal- tende oder häufige Richtung der Aufmerksamkeit auf die Herz- thätigkeit diese in der einen oder anderen Weise verändert, das Herz nervös gemacht wird, dass er desshalb das beliebte öftere Pulszählen ganz unterlassen muss und überhaupt dem Zustande seines Herzens keine weitere Beachtung schenken darf, wenn nicht bestimmte Zufälle dies erheischen.
Sowohl den in Anfallsform auftretenden als den dauernden Erscheinungen der nervösen Herzschwäche gegenüber (Beschleu- nigung, Verlangsamung, Unregelmässigkeit der Herzthätigkeit) kann uns die larvirte Suggestivbehandlung bedeutende Dienste leisten. Unter den elektrotherapeutischen Proceduren steht, wenn es sich um rein psychische Beeinflussung handelt, die Franklinisation der Herzgegend obenan. Lehr hat die günstige Einwirkung der Spitzenströmung (Luftdouche) auf die Pulsbeschaft’enheit bei ver- schiedenen Formen der nervösen Herzschwäche durch Aufnahme sphymographischer Kurven nachgewiesen.
Durch Funkenströme und faradische Pinselung wird die Puls- frequenz öfters noch erheblicher herabgesetzt, bei diesen Appli-
Nervöse Herzschwäche.
231
Kurve 49. Puls 90. Hgdruck 120.
Kurve 50. Puls 84. Hgdruck 140.
Kurve 49 \md 60.
49 = vor
50 — nach
Einfluss der Fi’anklinisation auf die reizbare Form nervöser Herzschwäche. ^
1
I
Franklinisation des Herzens 10 Minuten lang.
Kurve 51. Puls 130. Hg. 160.
Kurve 52. Puls 120. Hg. 140.
Kurve 51 und 52. Einfluss der Franklinisation auf die atonische Form der nei’vösen Herzschwäche.
]• Franklinisation 10 Minuten ').
52 = nach )
1) Vergl. Lehr, Die nervöse Herzschwäche, p. 68 und 69, Wiesbaden,' J. F. Bergmann, 1891.
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Nervöse Herzaffektionen, Magenaftektionen.
kationen handelt es sich jedoch nicht lediglich um psychische, sondern auch um reflektorische Einwirkungen, und bei der Gal- vanisation am Halse ist die Durchströmung des N. vagus die Hauptsache , die psychische Beeinflussung geht nur nebenher. Daneben empfiehlt sich bei besonders ängstlichen Patienten noch der täglich mehrmalige Gebrauch indiflferenter Pulver oder Pillen oder sehr geringer Dosen Baldriantinktur. Derartige Suggestiv- mittel müssen wir auch den Patienten zum Gebrauch bei Anfällen zur Verfügung stellen.
Die Hypnose ist bei den nervösen Herzaffektionen ebenfalls mit Erfolg in Anwendung gezogen worden. Ich selbst habe mich nicht überzeugen können, dass man durch die hypnotische Sug- gestion bei den in Frage stehenden Zuständen nachhaltigere Eesul- tate erzielt als durch die mit Umsicht und Konsequenz gehand- habte larvirte Suggestion und damit einhergehende entsprechende sonstige psychische Behandlung ^).
Das im Vorstehenden Bemerkte gilt auch für die hysterische Angina (resp. Pseudoangina) pectoris. Auch bei der echten durch Sklerose der Koronararterien bedingten Angina pectoris kann die larvirte Suggestion sich nützlich erweisen, wenn die Anfälle von milder Natur sind.
IV. Affektionen des Verdanungsapparates.
Die krankhaften Zustände des Magens liefern für die Psycho- therapie reichliche Angriffspunkte. Es kann uns dies nicht auf- fällig erscheinen, wenn wir berücksichtigen, wie sehr die Funktionen des Magens durch psychische Vorgänge beeinflusst, dass durch solche die motorische und sekretorische Thätigkeit des Magens sowohl gehemmt als angeregt, Erbrechen verursacht und ver- schiedene abnorme, in den Magen lokalisirte Gefühle ausgelöst werden können. Auch die Thätigkeit des Hungercentrums im
') Ich möchte nicht unterlassen, hier ausdrücklich zu bemerken, dass ich die in der Therapie der nervösen Herzschwäche neben der psychischen Be- handlung in Gebrauch stehenden Heilfaktoren z. Th. jedenfalls als keineswegs entbehrlich erachte (speziell Regulirung der Diät, Hydro- und nicht suggestive Elektrotherapie, gymnastische Uebungen).
Magenaffektionen.
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Gehirn und damit das Hungergefühl ist in erheblichem Maasse von psychischen Einflüssen abhängig. Wir wissen, dass heitere Tischgesellschaft und der Anblick wohlziibereiteter Speisen den Appetit anregen, eine Trauernachricht oder ein ekelerregender Eindruck dagegen den vorzüglichsten Appetit verscheuchen kann. Für die psychische Behandlung der organischen Magenaff ektionen kommt ferner der Umstand in Betracht, dass nicht alle bei den- selben vorhandenen Beschwerden von der organischen Veränderung des Magens abhängen. Die klinische Beobachtung lehrt, dass ein Ulcus, ein chronischer Magenkatarrh in dem einen Falle zu sehr vielen, in dem anderen zu sehr wenig Klagen Anlass giebt. Dies hängt nicht nur von der Intensität oder Ansdehnung der anatomischen Läsion ab, sondern auch von dem allgemeinen Nerven- zustande und dem psychischen Verhalten des Patienten; den Ein- fluss des letzteren will ich nur an einem Beispiele darlegen. Ich behandelte eine Dame in den vierziger Jahren, welche seit längerer Zeit an chronischem Magenkatarrh litt. Der konstant reichliche Schleimgehalt des Mageninhalts Hess, abgesehen von anderen Symptomen, hierüber schon keinen Zweifel. Bei dieser Patientin stellten sich einige Zeit hindurch, während sie früher von erheb- lichen Beschwerden frei gewesen war, trotz sorgfältiger Einhaltung der verordneten Diät 1—2 Stunden nach dem Essen erhebliche und mitunter sehr lange andauernde Schmerzen ein, deren Ursache dunkel blieb, bis sich Folgendes herausstellte. Die Patientin war in Folge eines Diätfehlers, der ihr Magenbeschwerden verursacht hatte, wegen ihres Magens sehr ängstlich geworden. Sie setzte sich desshalb schon mit einer gewissen Beunruhigung zu Tische und richtete nach dem Essen ihre Aufmerksamkeit anhaltend auf das Verhalten ihres Magens. Die Gefühle von Druck und Völle, welche unter diesen Umständen alsbald sich einstellten, veranlassten Befürchtungen bevorstehender Schmerzen, und diese Autosuggestionen verfehlten auch ihre Wii'kung nicht. Der erwartete Schmerz trat und zwar in genügender Stärke ein. Nachdem die psychische Genese der Schmerzen aufgedeckt war, hielt es nicht schwer, die- selben zu beseitigen.
Ob wir es mit anatomischen Veränderungen des Magens oder nur mit nervösen Afl'ektionen desselben zu thun haben, immer
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Magenaffektionen.
müssen wir zunächst unser Augenmerk auf die Entfernung psychischer Schädlichkeiten richten, wenn solche in den Lebens- verhältnissen des Patienten sich eruiren lassen. Wenn Trinkkuren an einem Badeorte bei Magenleiden oft entschieden günstiger wirken, als solche am Domizile des Kranken, so hängt dies zum Theil jedenfalls von der geistigen Ausspannung ab, deren sich der Patient bei seinem Aufenthalte an dem Badeorte erfreut. Ganz besonders macht sich der günstige Einfluss der geistigen Entlastung bei den nervösen Magenaffektionen geltend. Bei manchen beruflich überanstrengten Personen genügt eine Erholungsreise oder ein Landaufenthalt, um die Erscheinungen der nervösen Dyspepsie zum Schwinden zu bringen. Auch die Aufklärung, die wir Magen- kranken über ihren Zustand geben, ist nicht von untergeordneter Bedeutung, zumal viele dieser Patienten verstimmt sind und zu einer hypochondrischen Deutung ihrer Beschwerden neigen. Die Gutartigkeit der nervösen Magenaffektionen gestattet es, die mit einer solchen Behafteten ohne Weiteres über ihren Zustand vollständig zu beruhigen. Dadurch allein wird oft schon eine entschiedene Erleichterung herbeigeführt. Man kann die münd- liche Versicherung mitunter auch durch eine Demonstratio ad oculos unterstützen, indem man dem Leidenden durch die Magen- ausspülung zeigt, dass es mit der Leistungsfähigkeit seines Magens nicht so übel bestellt ist, wie er glaubt^). Allein auch bei den organischen Affektionen, welche eine längere Frist zu ihrer Heilung erfordern oder einer vollständigen Beseitigung überhaupt nicht fähig sind (wie Ulcus, Ektasie), darf man beruhigende Ver-
1) Eosenbach empfiehlt die Ausspülung bei Magenkranken, die an der Einbildung leiden, gewisse Speisen nicht essen zu können. Wenn die Be- schwerden, welche nach dem Genüsse einzelner Speisen auftreten, lediglich auf Autosuggestionen beruhen, wird die Magenausspülung immer normale Ver- dauung nachweisen. Bei den nervösen Magenalfektionen, speziell der nervösen Dyspepsie, bestehen jedoch häufig Störungen der sekretorischen und motorischen Funktionen des Magens; wenn man in derartigen Fällen durch Ausspülung dem Kranken die Suggestion beibringen will, dass seine Magenverdauung in Ordnung ist, bedarf das natürlich eines Kniffes; man nimmt z. B. nach einem Probefrühstück die Ausspülung erst nach vier Stunden vor. Bei hysterischem Erbrechen, speziell der Hyperemesis gravidarum, hat man ebenfalls, wie bereits erwähnt wurde, die Magenausspülung zu suggestivem Zwecke in Gebrauch gezogen.
Magenaffektionen.
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Sicherungen durchaus nicht als etwas Nebensächliches für den Kranken erachten. Dass die Diagnose des Magengeschwürs bei nervösen und speziell hysterischen Personen besondere Vorsicht erheischt, sei hier nebenbei erwähnt. Diese Vorsicht ist aus fol- genden Gründen geboten; man kann bei solchen Personen, wie Bernheim gezeigt hat, durch die Untersuchung Symptome suggestiv erzeugen (z. B. einen umschriebenen Druckschmerz in der Magen- gegend), welche im Vereine mit den schon länger bestehenden Beschwerden zu der irrthümlichen Annahme eines Ulcus führen; diese Diagnose kann dann bei den Kranken wieder Autosuggestionen hervorrufen, welche die bestehenden Beschwerden unterhalten und neue bedingen.
Für die Suggestivbehandlung bilden natürlich die nervösen Affektionen des Magens ungleich günstigere Objekte als die organi- schen Erkrankungen. Von den verschiedenen Formen larvirter Sug- gestivtherapie empfehlen sich in erster Linie die Galvanisation und Franklinisation der Magengegend; ersteres Verfahren bietet noch den Vortheil, dass dasselbe in einer Reihe von Fällen allem An- scheine nach nicht lediglich auf psychischem, sondern auch auf physikalischem Wege den Magenzustand günstig beeinflusst. Auch hydriatische Proceduren (Priessnitz’sche Leibumschläge etc.), Massage des Magens und indifferente innere Mittel lassen sich oft mit Vortheil verwerthen. Zur Heranziehung der Hypnose^) ist man im Ganzen selten veranlasst. Ob sich die Heilung eines Ulcus durch Suggestion fördern lässt, steht vorerst dahin; dass die dabei bestehenden Beschwerden in gewissem Maasse der Sug- gestivbehandlung zugänglich sind, kann dagegen nicht bezweifelt werden. Ganz überraschende Dienste kann diese Therapie bei den von Geschwürsnarben herrührenden Zufällen leisten, wie fol- gende Beobachtung zeigt. Vor fünf Jahren trat ein älteres Fräulein in meine Behandlung, welches seit 20 Jahren von Magen- schmerzen nach dem Essen heimgesucht wurde. Die Patientin hatte vor dem Auftreten dieser Schmerzen an Magengeschwüren mit Bluterbrechen gelitten, und etwa ein halbes Jahr, bevor sie
1) Heber günstige Erfolge der hypnotischen Behandlung bei nervösen Magenbeschwerden (nervöser Dyspepsie etc.) berichten insbesonders Bern heim und Wetterstraud.
236 Magemiffektionen, nervöse Enteropathie, Schlingbeschwerden.
in meine Beobachtung kam, wurde sie von Herrn Dr. Custor liier wieder wegen einer höchst bedrohlichen Magenblutung be- handelt. Die Schmerzen nach den Mahlzeiten hatten sich im Laufe der Jahre allmählich vom Magen nach dem Rücken hin und von diesem über den ganzen Körper ausgebreitet, sodass der Zustand der Patientin ein ganz desolater wurde. Extr. Cannab. ind. butyrosum brachte der Kranken nur geringe und vorüber- gehende Erleichterung. Obwohl bei der langen Dauer des Leidens und der Unmöglichkeit, die Ursachen der Schmerzen (die Narben im Magen) zu beseitigen, die Aussichten auf einen Erfolg sehr gering waren, Hess ich mich doch nicht abhalten, einen Versuch mit psychischer Behandlung zu unternehmen und zwar in Form der Franklinisation der Magengegend. Das Resultat übertraf meine Erwartungen bei Weitem. Die Schmerzen, welche 20 Jahre bestanden hatten, wurden vollständig und für lange Zeit beseitigt ; sie kehrten erst nach etwa Jahren zurück und zwar in Folge der Entwickelung einer malignen Neubildung im Darme, welcher die Patientin auch erlag.
Auch gegen die Erscheinungen der nervösen Enteropathie (Flatulenz, Darmhyperästhesie, Enteralgien, Diarrhoe, Obstipation) lässt sich die larvirte Suggestionstherapie und zwar in ähnlicher Form wie bei den nervösen Magenaffektionen verwerthen. Die hypnotische Behandlung der habituellen Obstipation wurde in den letzten Jahren von Forel nachdrücklich empfohlen. Die Erfolge, welche Forel hiemit erzielte, scheinen allerdings sehr günstig gewesen zu sein; nach meinen Erfahrungen kann jedoch die hyp- notische Suggestion auch bei Personen, welche in tiefe Hypnose (Somnambulismus) zu versetzen sind, sich ganz und gar unzuläng- lich zur Regelung des Stuhles erweisen, auch Vogt machte diese Wahrnehmung in einzelnen Fällen. Mit der larvirten Suggestion in Form von Pillen von Mica panis z. B. hat man ebenfalls öfters bei Darmatonie befriedigende Resultate erhalten. Indess glaube ich, dass wir vorerst durch die larvirte Suggestion ebenso wenig als durch die hypnotische die physikalische Behandlung der Obsti- pation entbehrlich machen können.
Bei Hysterischen und Hysteroneurasthenischen wird häutig die Nahrungsaufnahme durch Schlingbeschwerden (Schlundkrampf
Sexuelle Störungen beim Manne.
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zumeist, selten Schlinglähmung) erschwert und zeitweilig auch ganz verhindert. Bei diesen Alfektionen habe ich immer die Elektri- sation (speziell die Franklinisation) der Kehlkopfgegend am Halse wirksam gefunden. Dass in manchen Fällen die rein verbale Suggestion zur Beseitigung der Störung genügt, wurde bereits an früherer Stelle erwähnt.
V. Störungen der sexuellen Funktionen beim Manne.
Unter den Störungen, welche im Bereiche der Sexualfunk- tionen beim Manne verkommen, begegnen wir einer Art der Im- potenz, bei welcher die psychische Behandlung ausschliesslich in Betracht kommt: der sogenannten psychischen Impotenz. Nach meiner Erfahrung lassen sich zwei Unterarten psychischer Impo- tenz unterscheiden, welchen primär wenigstens ganz verschiedene psychische Vorgänge zu Grunde liegen; in der Litteratur wird gewöhnlich nur die eine der beiden Unterarten berücksichtigt. Bei dieser ist das ursächliche psychische Moment die irgend wie entstandene Vorstellung, impotent zu sein, oder die Furcht, dass aus irgend welchen Gründen der Actus misslingen werde ö- Diese Vorstellung oder Furcht hat dann auch wenigstens sehr häufig die Folge, dass es bei Kohabitations versuchen zu keiner oder keiner genügenden Erektion kommt. Der anderen Unterart psychischer Impotenz liegen im Wesentlichen intensive gemüthliche Erregungen und geistige Anstrengungen zu Grunde ; der Geist wird derart von der Sorge wegen gewisser Angelegenheiten erfüllt, dass sexuelle Gedanken nicht recht Boden fassen können. Ich bin mehrfach von jungen Männern zu Rathe gezogen worden, welche sich Jahre lang einer normalen Potenz zweifellos erfreut hatten und im Gefolge von Veränderungen in ihren geschäftlichen Verhältnissen, welche mit erheblichen geistigen Ueberanstrengungen und Auf-
>) Beide psychische Momente sind nicht identisch. Es kann Jemand, welcher sich niclit für impotent hält, dennoch an der Furcht laboiiren, dass er im concreten Falle Fiasko machen werde. Aehnlich wie die Vorstellung des Impotentseins wirken mitunter die Zwangsvorstellung, geschlechtlich nicht normal zu sein, oder gewisse hypochondrische Vorstellungen (dass die Geni- talien zu sehr geschwächt seien etc.).
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Sexuelle Störungen beim Manne
regungen verknüi^ft waren, mit einem Male bei einem Coitusver- suche die Wahrnehmung machten, dass sie unvermögend waren. Wenn sich dieses Fiasko mehrfach wiederholt, so entwickelt sich aus dieser Form der psychischen Impotenz sehr leicht die erste Unterart, sofern sich die Vorstellung des Impotentseins oder die Furcht vor dem Misslingen des Aktes einstellt.
Die erste Kategorie Psychischimpotenter findet sich haupt- sächlich unter den Ehestandskandidaten und jung verheiratheten Ehemännern vertreten. Zum Theile handelt es sich hiebei um Individuen, welche in sexueller Hinsicht eine tadellose Vergan- genheit hinter sich haben und auch nicht mit einer ausgesproche- nen Nervenschwäche behaftet sind, zum grösseren Theile jedoch um Männer, welche nervös oder mit leichteren neurasthenischen Zuständen behaftet und in Bezug auf Potentia virilis von Haus aus nicht sehr kräftig veranlagt sind. Bei manchen dieser rühren die Zweifel und Aengsten wegen der Potenz von bescheidenen Jugendsünden her, deren sie sich schuldig wissen.
Bei den an autosuggestiver Impotenz Leidenden kann schon durch entsprechende sachliche Aufklärung das Uebel gehoben werden. Man muss dem Patienten darlegen, dass bei ihm die wesentlichen Vorbedingungen der Potenz, Erektionsfähigkeit und Spermaproduktion (Pollutionen) gegeben sind, sohin für ihn kein Anlass besteht, an seiner Potenz zu zweifeln. Dabei darf auch nicht verschwiegen werden, dass ängstliche Erregung und auch schon allzugespannte Erwartung bezüglich des Eintrittes der Erektion diese zu verhindern vermag. Genügt diese Darlegung nicht, um den für das Gelingen der Kohabitation erforderlichen Gemüthszustand herbeizuführen, so kann die larvirte Suggestion in Form eines indifferenten oder als Aphrodiciaeum angepriesenen Mittels (Injektion mit Testikelextrakt, Spermin Pöhl) angewandt werden; man hat auch die hypnotische Suggestion mit Erfolg ver- werthet (Bernheim u. A.); ich habe mich bisher nie veranlasst gesehen, in derartigen Fällen eine hypnotische Behandlung einzu- leiten. Auch bei der zweiten Art psychischer Impotenz ist die Aufklärung des Patienten von grosser Bedeutung. Man darf bei demselben die Vorstellung, dass die Potenz verloren gegangen oder auch nur erheblich geschädigt sei, nicht aufkommen lassen.
Sexuelle Störungen beim Manne. 239
Von Coitusversuclien ist, so lange die geschäftlichen Aufregungen und Sorgen andauern, abzurathen. Ob man ausserdem noch irgend eine Form larvirter Suggestivtherapie zur Beruhigung des Patienten anwenden soll, hängt von den Verhältnissen des Falles ab.
Ausser der rein psychischen beobachten wir auch eine psy- chisch-nervöse (oder psychisch-neurasthenische) Form der Impo- tenz. Diese findet sich bei an sexueller Neurasthenie Leidenden, bei welchen die Potenz in Folge ihres Nervenzustandes zwar gelitten hat, aber erst durch psychische Einflüsse, welche sich zu der neurasthenischen sexuellen Schwäche gesellen — Angst vor dem Misslingen des Aktes, übermässige Aufregung bei Kohabitations- versuchen — eine faktische Impotenz herbeigeführt wird. Auch in diesen Fällen kann eine psychische Behandlung, welche darauf hinzielt, dem Patienten wieder Vertrauen in seine Manneskraft zu verschaffen , bedeutende Dienste leisten. Die hypochondrischen Befürchtungen müssen durch Darlegung des wirklichen Sachver- haltes und beruhigenden Zuspruch beseitigt werden. Auch ist darauf Bedacht zu nehmen, dass der Patient sich nicht allzusehr mit seiner sexuellen Leistungsfähigkeit in seinen Gedanken beschäf- tigt. Daneben empfiehlt sich immer die Behandlung der sexuellen Schwäche mit den erforderlichen somatischen Mitteln (Elektro- therapie, Hydrotherapie etc.), welche zugleich suggestiv entschie- den günstig auf den Zustand wirken.
In der Therapie der sexuellen Reizzustände (der erethischen Form der Lendenmarksneurose) — übermässige Libido, Pollutiones nimiae nocturnae mit ihren Uehergängen bis zu Tagespollutionen, Ejaculatio praecox beim sexuellen Verkehr bis zur Impotenz in- folge von Eintritt der Ejaculation vor der Immissio penis und selbst hei Annäherung an weibliche Personen — spielt die Psycho- therapie im Allgemeinen nach meinen Wahrnehmungen keine her- vorragende Rolle, doch dürfen wir dieselbe auch hier nicht ver- nachlässigen. Vor allem ist bei den hier in Betracht kommenden Patienten eine gewisse Gedankendisciplin nothwendig; sie haben alles zu meiden, was irgend geeignet ist, sexuelle Erregung zu verursachen oder auch nur die Gedanken auf das sexuelle Gebiet zu lenken, wie intimeren Verkehr mit Angehörigen des anderen Geschlechtes (bei Verheiratheten Beschränkung der gegenseitigen
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Sexuelle Störungen beim Manne,
Zärtlichkeiten), gewisse Arten der Lektüre, Besuch mancher Schau- spiele, Operetten nnd insbesonders der Varietevorstellungen, Be- trachtung ohsconer Bilder etc. Um das Abschweifen der Gedanken in die Sphäre des Sexuellen zu verhindern, ist ferner eine gewisse Beschäftigung immer erforderlich; intensive geistige Anspannung ist jedoch durchaus nicht in allen Fällen am Platze und erspriess- lich, wie ich schon anderen Ortes erwähnt habe. „Intensive geistige Anspannung bildet kein geeignetes Ableitungsmittel gegen den sexuellen Drang des eingefleischten Masturbanten. Dieselbe er- weist sich zwar bei dem in sexueller Abstinenz Lebenden förder- lich zur Bekämpfung der gelegentlich sich stärker geltend machen- den sexuellen Regungen ; bei den neurasthenischen Masturbanten steigert dieselbe dagegen die bestehende nervöse Erschöpfung und begünstigt hierdurch das Auftreten übermässiger Pollutionen und der Spermatorrhoe“ ^).
Bei übermässiger Libido und Pollutiones nimiae kann die hypnotische Behandlung mit Erfolg verwerthet werden. Ich habe jedoch die Mehrzahl der mit diesen Zuständen Behafteten nicht oder wenigstens nicht genügend hypnotisirbar gefunden.
Unter den an sexuellen Reizzuständen laborirenden Neurastheni- schen bilden eine besondere Crux medicorum jene Pollutionisten, bei welchen die nächtlichen Samenergüsse gewöhnlich eine Ver- schlimmerung des Allgemeinbefindens oder einzelner Symptome nach sich ziehen. Infolge dieses Umstandes richtet sich die Auf- merksamkeit dieser Patienten mehr und mehr auf die Pollutionen, welche als das Grundleiden betrachtet und unter dem Einflüsse einer allmählich sich entwickelnden oder verstärkenden hypochon- drischen oder hypochondrisch-melancholischen Verstimmung in un- günstigster Weise gedeutet werden. Die erfolgreichste psychische Therapie dieser Zustände bilden jene somatischen Mittel, welche auf die Beseitigung der übermässigen Pollutionen hinwirken (Diät, Kühlsonde etc.)^); allein da der heilende Einfluss dieser Mittel sich gewöhnlich nur allmählich zeigt, dürfen wir es nicht unterlassen, auch durch Aufklärung, energischen Zuspruch, Regulirung der
0 Löwenfeld, Nervöse Störungen sexuellen Ursprungs, 1891, p. 147.
2) Vergl. Löwenfeld, Nervöse Störungen sexuellen Ursprungs, p. 157 — 161.
Tripperneurasthenie, conträre Sexualeinpfimlung heim Manne.
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ganzen Lebensweise der übermässigen Beachtung der Pollutionen und der damit zusammenhängenden Verstimmung entgegen zu wirken. Einer ähnlichen psychischen Behandlung bedürfen die so- genannten Tripperneurastheniker, die besser als Urethrahypochonder zu bezeichnen wären, jene mit meist geringer chronischer Urethritis behafteten Neurasthenischen, welche sich in Folge hypochondrischer Veranlagung beständig mit dem Zustande ihrer Harnröhre be- schäftigen, die Absonderung derselben mit Angst überwachen und sich immer wieder neuen Kurversuchen unterziehen, um den oft nur minimalen Ausfluss zu beseitigen. Durch die endlose Fort- setzung der Lokalbehandlung werden diese Patienten in einer stetigen gemüthlichen Beunruhigung erhalten und ihre Aufmerksam- keit anhaltend auf den Zustand ihrer Harnröhre gelenkt, was sowohl für den allgemeinen Nervenzustand als die lokalen Be- schwerden von entschieden nachtheiliger F olge ist. Die sogenannte Tripperneurasthenie ist daher auch, wie ich schon an mehreren Orten bemerkte, häufig „mehr ein ankurirtes Leiden'^, mehr be- dingt durch chronische Misshandlung der Harnröhre durch Lokal- behandlung (und die hiemit einhergehenden Gemüthserregungen), denn unmittelbare Folge der chronischen Urethritis. Alanche dieser Kranken genesen schon, wie auch Fürbringer betont, wenn man die psychisch und somatisch schädigende Lokalbehandlung sistirt. Gegen die örtlichen Beschwerden dieser und anderer Patienten, welche nie an Gonorrhoe gelitten haben (Hyperalgesie, Schmerzen und Parästhesien der Hoden, Samenstränge, Damm- gegend, Harnröhre, Harnbeschwerden — reizbarer Hoden, reiz- bare Prostata, reizbare Blase), erweist sich die larvirte Suggestion in Form der Franklinisation (elektrischen Luftdouche) oder sehr schwacher galvanischer Ströme wenigstens sehr häufig nützlich.
Bei den sexuellen Perversionen, insbesonders bei conträrer Sexualempfindung der Männer (Urningthum), erzielt die hypnotische Behandlung nach den Erfahrungen Bernheim’s, v. Schrenk- Notzing’s u. A. z. Th. sehr befriedigende Resifltate.
LUwenfoliI, Psychotherapie.
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242 Neurotische Affektionen des weiblichen Sexualapparates.
VI. Krankhafte Zustände des weiblichen Sexual- apparates.
Unter den krankhaften Zuständen des weiblichen Sexual- apparates eignen sich für eine psychische Behandlung in erster Linie die neurotischen Affektionen desselben; Pruritus genitalis, Vaginismus, Hysteralgie, Ovarie (Ovarialgie), Genitalerethismus und sexuelle Anästhesie; unter diesen Störungen muss ich den Pruritus wegen seiner Folgen (Schlafmangel, gemüthliche Depression, sexuelle Reizzustände etc.) als die ernsteste und zugleich nach meinen Er- fahrungen als die einer ausschliesslich psychischen Beeinflussung am wenigsten zugängliche Störung betrachten; ich möchte daher Nie- mand empfehlen, bei länger bestehendem Pruritus die somatische causale und sonstige übliche Behandlung zu verabsäumen. Beim Vaginismus leistet die larvirte und die hypnotische Suggestion be- sonders in jenen Fällen sehr erspriessliche Dienste, in welchen Läsionen der Schleimhaut am Scheideneingange und der benach- barten Theile, wie sie durch ungeschickte Cohabitationsversuche mitunter verursacht werden, mangeln; manche Arten der Lokal- behandlung (Anwendung des Magneten in introitu vaginae nach Benedict, Dehnung, Excision des Hymens etc.) dürften ihren Erfolg zumeist dem suggestiven Faktor verdanken. Bei krankhaft gesteigerter sexueller Erregbarkeit (Genitalerethismus mit und ohne pollutionsartige Vorgänge) an sexueller Neurasthenie leidender Frauen und bei sexueller Anästhesie (Mangel des Wollustgefühles bei der Cohabitation) habe ich von der hypnotischen Suggestion in einzelnen Fällen sehr prägnante Erfolge gesehen’). Bei der Hysteralgie und Ovarie können sehr verschiedene Arten larvirter Suggestivtherapie zum Ziele führen (Hautreize, Einreibungen von Salben, Pflaster, elektrotherapeutische Proceduren, Franklinisation in Form von Spitzenströmung oder milden Funkenströmen, Galvani- sation etc.). Man hat aber auch bedenklichere und seihst direkt
1) Vergl. die p. 153 mitgetheilte Beobachtung. In einem bereits anderen Orts mitgetheilten Falle von Genitalerethismus (vergl. Löwenfeld, Nervöse Störungen sexuellen Ursprungs p. 157) genügte wiederholt einmalige Hypnoti- sirung mit entsprechenden Suggestionen, um der Patientin Befreiung von der höchst lästigen sexuellen Erregung und ruhigen Schlaf für Wochen zu verschaffen.
Lagennomalien des Uterus.
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gefährliche Arten psychischer Behandlung, allerdings z. Th. unab- sichtlich geübt, so Scheinoperationen^ wie wir sahen, in der Absicht, bei der Patientin durch Angst vor der Operation eine Art psychi- scher Umstimmung herbeizuführen, in manchen Fällen auch sehr ernste Operationen, so die Uterusexstirpation wegen Hysteralgie (Frank-Köln), die Exstirpation der Ovarien wegen hartnäckiger Ovarialgie. Bezüglich der Anwendung von Scheinoperationen haben wir unsere Ansicht bereits an früherer Stelle dargelegt; was die Vornahme so schwerer und gefährlicher Eingriffe wie der Uterus- und Ovarienexstirpation wegen neurotischer Be- schwerden anbelangt, so können denselben die Erfolge, welche hiemit z. Th. erzielt wurden, noch nicht den Schein einer Berechtigung verleihen. Es ist einfach unverantwortlich, das Leben einer Patientin durch einen operativen Ein- griff auf’s Spiel zu setzen, wenn die vorhandenen Be- schwerden durch eine völlig harmlose Behandlung zu beseitigen sind, wie in den hier in Rede stehenden Fällen.
Die Ansicht, dass bei anatomischen Veränderungen im Bereiche des weiblichen Sexualapparates und insbesonders bei Lageanomalien des Uterus die vorhandenen Beschwerden nicht immer in ursäch- lichem Zusammenhänge mit den lokalen Zuständen stehen, scheint heutzutage in den Kreisen der Gynäkologen mehr und mehr an Boden zu gewinnen. Für die Lageveränderungen der Gebärmutter hat unser Münchener Kollege Theilhaber jüngst nachgewiesen, dass die bei denselben so häufig vorhandenen Beschwerden, ins- besonders die IG'euz- und Leibschmerzen und Blutungen, nicht von denselben, sondern von gleichzeitig vorhandenen anderweitigen Veränderungen der Beckenorgane herrühren oder lediglich neiwösen Ursprungs sind. Des Weiteren hat Theilhaber gezeigt, dass die Erfolge, welche die z. Th. geradezu zweckwidrige gynäkologische Lokalbehandlung (Pessarien, operative Eingriffe) bezüglich der er- wähnten Beschwerden erzielte, jedenfalls z. Th. auf die suggestiven Wirkungen dieser Therapie zurückzuführen sind'). Dass auch die
D Theilhaber bemerkt u, A. : „Zu mir kamen öfters solche Kranke, die von anderer Seite früher jnit Erfolg ortliopildisch behandelt worden waren. Sie gaben an, ihre Gebärmutter müsse wieder umgesunken sein, da sich die
16*
244 Erkrankungen der weibl. Beckenorgane, psych. Beeinflussung der Menses.
hypnotische Suggestion hei Erkrankung der weiblichen Becken- organe mit entschiedenem Vortheil Verwendung finden kann, lehren mehrere von lierzberg (Berlin) mitgetheilte Beobachtungen. Eine von dem genannten Beobachter behandelte 38jährige Frau war seit 16 Jahren unterleibsleidend und hatte bereits eine Reihe von Krankenanstalten aufgesucht. Ihre Beschwerden bestanden haupt- sächlich in heftigen brennenden Schmerzen in der linken Bauch- seite und im Kreuze, so dass freie Bewegungen ausgeschlossen waren. Die Untersuchung ergab verringerte Beweglichkeit des Uterus (von vorne nach hinten), heftige Schmerzen bei Bewegung desselben, Verdickung beider Tuben, Anschwellung und hochgradige Schmerzhaftigkeit des linken Ovariums, etwas Dislokation des rechten Ovariums nach unten mit geringer Schmerzempfindlichkeit desselben. Die übliche gynäkologische Behandlung, absolute Ruhe, Umschläge, Ausspülungen etc., wurden etwa drei Wochen hindurch ohne jeden Erfolg angewendet. Die Patientin wurde nunmehr an Grossmann zur hypnotischen Behandlung überwiesen, „und nach der zehnten Sitzung konnte die Patientin vollständig frei von Schmerzen und mit blühenden Wangen nach Hause zu ihrer Familie zurückkehren.“ Dass die Menstrualblutung durch psychische ^'^or- gänge beeinflusst werden kann, lehren alltägliche Erfahrungen. Wir sehen häufig, dass die Menses im Gefolge gemüthlicher Er- regungen verfrüht auftreten oder auch ausbleiben, und wenn sie be- reits eingetreten waren, plötzlich cessiren. Dass mitunter auch Vor- stellungen des Wachzustandes den Eintritt der Menses hinauszu- schieben vermögen, ergiebt sich aus der Mittheilung, welche Forel von einer Dame erhielt. Diese erzählte, dass ihre Freundinnen durch Umschnüren ihres linken Kleinfingers mit einem rothen Fädchen im Stande wären, den Eintritt der Periode zu verspäten, wenn derselbe am Vorabend eines Balles in Aussicht stehe; das Mittel wirkt nicht bei allen gleich sicher, bei einzelnen aber mit ganz pünktlicher Menstruation mit absoluter Sicherheit. Das Wii’k-
Kreuzschmerzen etc. wieder eingestellt hätten. Meine Untersuchung beslätigte die Richtigkeit der Angaben der Patientinnen. Ich versicherte ihnen jedoch, die Gebärmutter liege ganz normal, gab irgend eine sonstige Verordnung, ohne die Lage des Uterus zu ändern, und siehe da, die angegebenen Beschwerden verschwanden.“
Menstruatioiisanomalieu.
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same bei diesem Verfahren kann nur die Autosuggestion der Be- treffenden sein. Aus dem p. 152 angeführten Falle ersehen wir, dass wir durch die hypnotische Suggestion, auch wenn dieselbe längere Zeit vor dem Eintritt der Menses gegeben wird, auf deren Dauer einwirken können. Liebault, Voisin, Bernheim, Brunnberg u. A. gelang es, Menstruationsanomalien verschiedener Art zu beseitigen (zu häufige Wiederkehr und zu lange Andauer der Menses, übermässige Blutverluste und dysmenorrhoische Be- schwerden bei denselben, zu langes Ausbleiben der Menses und vollständige Amenorrhoe). Gascard und Berillon berichten über den Fall einer 48jährigen, in Folge von Metrorrhagien dem Tode nahen Fx’au, bei welcher durch hypnotische Suggestion der Blutung sofort Einhalt gethan wurde ^). So prägnant die Erfolge der Hypnotherapie bei Menstruationsanomalien in manchen Fällen sind, so dürfen wir doch keineswegs glauben, dass wir hiemit immer an’s Ziel gelangen. Ich habe in mehreren Fällen, in welchen eine Einschränkung der allzu langen Dauer der Menses nothwendig er- schien, die Menstruationszeit durch die hypnotische Suggestion nicht wesentlich zu verringern vermocht; wo sich eine Einwirkung in dieser Beziehung zeigte, handelte es sich immer um Personen, welche in Somnambulismus zu versetzen waren, so dass es mir scheint, dass die Tiefe des hypnotischen Zustandes für die Be- einflussung der Menstruation nicht ohne Belang ist^).
Wetterstrand und Kingier berichten, dass sie den Fluor albus bei anämischen Mädchen durch hypnotische Suggestion be- seitigten. Ihre Beobachtungen sind jedoch für die Wirksamkeit der Suggestion in dieser Richtung nicht hinlänglich beweisend.
vn. Störungen des Harnapparates.
Unter den nervösen Affektionen des Harnapparates ist die hysterische Oligurie und Anurie öfters durch larvirte Suggestion beseitigt worden. Französische Aerzte haben sich sogenannter
1) Wetterstrand erzielte in einem Falle von Gebärmutterkrebs auf die gleiche Weise Cessiren der Blutungen.
2) Gascard erwähnt, dass man bei der hypnotischen Behandlung der Amenorrhoe an die Möglichkeit einer Schwangerschaft und die Herbeiführung eines Abortus durch die Suggestion denken muss.
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Hysterische Anurie, Polyurie, reizbare Blase, Bettnässen.
Blitzpillen bedient, pil. mic. pan., denen die fulminantesten Wirk- ungen zugesclirieben werden. Diese wurden nach gehöriger psychischer Präparation der Kranken verabreicht. Auch die hysterische Polyurie ist der Suggestivbehandhmg sehr zugänglich; man hat gegen diese Afiektion sowohl die hypnotische als die larvirte Suggestion in medikamentöser Form mit Erfolg ange- wendet. Bei einer Kranken Thiroloix’s, welche Kochsalz in dem Glauben nahm, dass es sich um ein sehr intensiv wirkendes Medikament handle, ging die Polyurie von 25 auf 3 Liter zurück. Auch bei der bereits berührten, als „reizbare Blase“ (irritable bladder) bezeichneten, bei Neurasthenischen und Hysterischen sehr häufigen Affektion (vermehrter Drang zum üriniren, Harnzwang, Blasenschmerzen) und bei den hysterischen Lähmungszuständen der Blase leistet die larvirte Suggestion sehr erspriessliche Dienste (insbesondes in Form lokaler Elektrisirung).
Ungemein zahlreich sind die Mittel, welche man bisher gegen das nächtliche Bettnässen angewendet hat: Von innerlichen
Mitteln Narcotica und Sedativa, Strychnin, Ergotin, Adstringentien, ferner diätetische, mechanische Mittel, elektrotherapeutische Pro- ceduren verschiedener Art, chirurgische Eingriffe etc. Dass alle diese verschiedenen Agentien in. einzelnen Fällen sich erspriesslich erweisen, spricht schon dafür, dass ihre Wirkung im Wesentlichen psychischer Natur ist. Die Erfahrungen Liebault’s, Berillon’s, Ringier’s, Wetterstrand’s u. A. lehren auch, dass die Er- folge einer rein psychischen Behandlung durchaus nicht hinter denen der übrigen gebräuchlichen Behandlungsmethoden zurück- stehen; die genannten Autoren haben in einer grossen Zahl von Fällen durch die hypnotische Suggestion Heilung der Enuresis nocturna erzielt. Es ist desshalb jedoch nicht nothwendig, dass wir bei dieser Affektion immer in erster Linie schon die Hypnose heranziehen. In vielen Fällen ist offenbar die larvirte Suggestiv- therapie in der einen oder anderen Form ausreichend. Ich habe mich zumeist des konstanten Stromes bedient. Bei älteren Kindern kann man mit der larvirten Suggestivbehandlung eine erzieherliche Beeinflussung verknüpfen, indem man sie auffordert, Abends vor dem Einschlafen den festen Vorsatz zu fassen, während der Nacht einige Male zum Behufe des Wasserlassens aufzustehen oder
Nächtliches Bettnässen.
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wenigstens bei der leisesten Empfindung von Harndrang das Bett zu verlassen. Manche Aerzte gebrauchen elektrotherapeutische Proceduren, welche Schmerzen oder wenigstens sehr unangenehme Empfindungen hervorrufen ; in diese Kategorie gehört auch das von Seligmüller schon vor Jahren vorgeschlagene, in neuerer Zeit von Köster wieder empfohlene Verfahren {Induktionsstrom, Einführung des Drahtendes der Kathode in die Harnröhre, Anode oberhalb der Symphyse, Strom anschwellend bis zu grosser Inten- sität). Es ist begreiflich, dass derartige Massnahmen neben der Heilsuggestion auch Furcht erregen und diese einen mächtigen Stimulus für den kleinen Patienten bildet, seinen Willen aufzu- bieten, um von der Neigung zum Bettnässen loszukommen.
Der Erfolg der hypnotischen Behandlung ist von der Art der Suggestionen, die man giebt, abhängig. Dass es häufig nicht ge- nügt, wenn man dem Patienten einfach suggerirt, er werde nicht mehr in’s Bett uriniren, wurde schon von verschiedenen Beobachtern erkannt. Wette rstrand empfiehlt , die Suggestion dahin zu formuliren, dass der Patient es fühlt, wenn das Harnbedürfniss eintritt, und dann erwachen wird. Das „Fühlen“ ist besonders zu betonen. Aehnlich lauten die Suggestionen, welche Berillon zunächst giebt. Wenn dieselben nicht ausreichen, so nimmt dieser Autor an, dass das Kind zu fest schläft und suggerirt demselben Schlaflosigkeit in folgender Weise : „Sie werden so sehr wünschen, nicht mehr dn’s Bett zu uriniren, dass dieser feste Vorsatz Sie Abends am Einschlafen hindern wird. Sie werden sich im Bett herumwälzen, ohne zu schlafen, und nur daran denken, aufzustehen und zu uriniren, sobald Sie das Bedürfniss dazu empfinden.“ Der Erfolg ist, dass in vielen Fällen die Patienten thatsächlich nicht schlafen und dadurch dazu kommen, ihre Blase zu überwachen. Wenn dann nach einigen Tagen der Schlaf sich wieder einstellt, macht sich auch während desselben die Gewohnheit, die Blase zu überwachen, geltend. Bei Anderen ist nach Berillon zur Heilung die Suggestion nothwendig, dass sie zu einer bestimmten Stunde während der Nacht erwachen, aufstehen und uriniren werden.
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Alkoholismus, Morphinismus.
VIII. Alkoliolismus, Morpliinismus.
Dass die Heilung der Trunksucht durch Suggestivmittel möglich ist, lehren manche sonderbare Erfahrungen der letzten Jahre. In Preussen wurde ein Kurpfuscher wegen Betrugs processirt, weil er eine werthlose Mischung als unfehlbares Mittel gegen Potus zu hohen Preisen verkauft hatte; allein der Angeschuldigte war im Stande, eine Reihe von Personen beizubringen, welche bezeugten, dass sie durch sein Mittel vom Trünke kurirt worden waren. In Nordamerika machte in den letzten Jahren ein Dr. Keeley Adel von sich reden, welcher in dem Orte Dwight in der Nähe von Chicago eine Trinkerheilanstalt errichtet hatte und Hunderte von Alkoholikern mit Injektionen und innerlicher Darreichung eines Mittels heilte, dessen Hauptbestandtheil „Goldbichlorid“ sein sollte, das jedoch nach dem Ergebnisse chemischer Untersuchungen über- haupt kein Gold enthielt. Der Hauptantheil an diesen Kuren fällt jedenfalls der Suggestion zu. Ob man jedoch die lar- virte Suggestivbehandlung oder die hypnotische gegen den Alko- holismus in Gebrauch ziehen will — sehr günstige Resultate mit letzterer erzielten Wetterstrand, Forel, Lloyd Tuckey, Hirt u. A. — jedenfalls wird diese Therapie am besten in einem Asyl geübt, in welchem der Kranke allen Verführungsgelegenheiten entrückt ist und sein Verhalten ausreichend überwacht werden kann.
Auch dem Morphinismus gegenüber hat sich die hypnotische Suggestion als ein sehr werthvolles Mittel erAviesen; Bernheim, Wetterstrand und Dizard berichten über Erfolge der Hypno- therapie bei Morphinisten, Avelche allseitige Beachtung beanspruchen. Dizard empfiehlt, den Kranken vor Beginn der Morphium- entziehung zu hypnotisiren und ihm Schlaf, Appetit, Ruhe und Abscheu vor dem Morphium zu suggeriren. Wetterstrand legt grosses Gewicht auf Erzielung eines tiefen und langen hypno- tischen Schlafes; letzterer Autor hält die Anstaltspflege für über- flüssig, welche Bernheim und Dizard für unentbehrlich erachten. Dass die hypnotische Behandlung dem Patienten die Leiden der Abstinenzperiode nicht erspart, erhellt aus den mitgeth eilten Beob- achtungen zur Genüge; nach Wetterstrand mildert die Sug-
G eleukkrankheiten.
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gestion dieselben jedoch mehr als irgend eine andere Art der Behandlung.
Ich habe öfters eine Erleichterung der Abstinenzbeschwerden nach längerem Gebrauche geringer Morphiumdosen durch Injektion Yon Lösungen erzielt, welche ich den Kranken als Ersatz für das Morphium präsentirte (z. B. des Cheron’schen artificiellen Serums, des Spermin Pöhl).
IX. Gelenk- und Muskelkranklieiten.
Zu den Leiden, bei welchen wir mit den üblichen somatischen Behandlungsmethoden recht oft Fiasko machen, während die Heil- kräfte der Psyche bei denselben in glänzender Weise sich doku- mentiren können, zählen die chronisch- entzündlichen Gelenk- aft’ektionen, insbesonders der chronische Gelenkrheumatismus. In den verschiedenen Gnadenorten, an welchen gläubige Katholiken in ihren leiblichen Nöthen Hilfe suchen, sind . die Krücken durchaus keine Seltenheit, welche die „Gichtbrüchigen“ dort als Zeichen ihres Dankes für eine Wunderheilung zurückgelassen haben. Gewiss hat auch an den Kurerfolgen mancher vielgerühmter Bäder bei den in Frage stehenden Affektionen die Suggestion keinen unter- geordneten Antheil. In jüngster Zeit ist insbesonders Grossmann warm für die hypnotische Behandlung der Gelenkkrankheiten, namentlich des chronischen Gelenkrheumatismus und der Gicht, eingetreten. Grossmann betont, und zwar gewiss mit Eecht, dass es vor allem darauf ankommt, die Schmerzen bei den Gelenkleiden weg zu suggeriren, weil die Funktionsstörungen weit mehr durch diese als durch die anatomischen Gelenkveränderungen bedingt sind und durch die Beseitigung der Schmerzen auch die Rück- bildung letzterer gefördert wird. Der Erfolg der hypnotischen Suggestion ist in den einzelnen Fällen verschieden, und man darf auch hier nicht allzu viel auf einmal anstreben. In manchen Fällen ist der pathologische Process im Gelenke ganz oder fast ganz ahgelaufen, .und der Schmerz, welcher verblieben ist, nunnehr autosuggestiven Ursprungs (nervöse Nachbilder nach Gross mann). In derartigen Fällen ist es möglich, sofort einen vollständigen und
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Gelenkkrankheiten.
dauernden Erfolg zu erzielen. Da die Schmerzen jedoch nach der ersten hypnotischen Sitzung zumeist nicht ganz ausbleiben, ist es auch rathsam, dies bei der Behandlung zu berücksichtigen und nicht sogleich gänzliches Verschwinden , sondern nur seltenere Wiederkehr und geringere Intensität der Schmerzen und erst nach einer gewissen Zeit vollständiges Aufhören derselben zu suggeriren. Auch die Gelenkanschwellung lässt sich suggestiv beeinflussen, indem man mit der verbalen Suggestion leichte Streichungen des leidenden Gelenkes verbindet, als ob man die Schwellung wegdrücken wolle, oder während der verbalen Beeinflussung einen gewissen Druck auf das Gelenk mit der Hand ausübt u. s. w.
Folgende Beobachtung Grossmann’s mag die therapeutischen Leistungen der hypnotischen Suggestion bei Gelenkkranlcheiten illustriren: „Maler Knötel, einer unserer bekanntesten Illustratoren, hat drei Jahre, bevor er in meine Behandlung (Anfang Sept. 1894) kam, eine periostitische Entzündung des rechten Handgelenks be- kommen, wie er glaubt, in Folge von Ueberanstrengung beim Zeichnen. Er begab sich sofort in ärztliche Behandlung, aber ohne Erfolg. Die von Beginn an furchtbaren Schmerzen wollten nicht weichen. Es kam zu starken Auftreibungen der Knochen, zu so starken Difformitäten, dass er die Hand nicht mehr ge- brauchen konnte, sondern mit der linken Hand malen lernen musste. Alle erdenklichen Heilverfahren Avurden versucht, zuletzt noch durch neun Monate bei Professor Sonnen bürg, der ihn mit immobilisirenden Verbänden behandelte, alles mit durchaus negativem Erfolg.
Bei seiner Aufnahme weist das rechte Handgelenk starke Verbildungen, Knoche'nauftreibungen auf. Druck und passive Be- wegungen, die nur in sehr beschränktem Maasse möglich sind, sind so schmerzhaft, dass Patient, ein starker, robuster Mann, laut aufschreit. Hypnose gelingt leicht. Die Schmerzen werden fortsuggerirt und eine für das Malen ausreichende BeAveglichkeit des Handgelenks suggerirt. Die Suggestion gelingt und thatsäch- lich sind noch in der Hypnose und auch nachher ziemlich aus- giebige aktive und passive BeAvegungen möglich. Patient fertigt sofort einige kleine Federzeichnungen an. Die Besserung nimmt, trotzdem dass die Difformitäten Aveiter bestehen, zu. Nach acht
Muskelrheumatisnius, Chlorose.
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Tagen wird Patient als geheilt entlassen und noch eine Zeit lang mit Präventivsuggestionen in Bezug auf Recidive behandelt. Der Erfolg hat bis heute angehalten. Patient malt mit seiner rechten Hand so gut wie je zuvor. (Mitbeobachtet von Freudenberg, Romberg, Wegner.)“
Vielfach ist von Suggestionstherapeuten auch der akute und chronische Muskelrheumatismus hypnotisch mit günstigem Erfolge behandelt worden. Ich kann diesen Leistungen der Hypno- therapie im Grossen und Ganzen kein GeAvicht beilegen, da uns für die Behandlung der erwähnten Affektionen eine Anzahl zweifel- los sehr wirksamer somatischer Mittel (Elektricität, Hydrotherapie, Massage etc.) zur Verfügung steht und wir, von vereinzelten Aus- nahmsfällen abgesehen, bei denselben keine Veranlassung haben, von der Hypnose Gebrauch zu machen^).
X. Chlorose.
Von einer Reihe von Hypnotherapeuten (Lieb au It, Wetter- strand, Ringier, Forel u. A.) ist die hypnotische Suggestion bei Chlorose in Anwendung gezogen worden. Man hat damit Ver- besserung des Appetits, des Allgemeinbefindens und Aussehens, Beseitigung nervöser Beschwerden etc. erzielt. Diese Resultate sind jedoch nicht von einer Art, dass wir dieselben durch die üblichen somatischen Mittel zumeist nicht ebenfalls erlangen könnten. Ich kann daher vorerst in der x4nwendung der hypnoti- schen Suggestion keine wesentliche Bereicherung der Therapie der Chlorose erblicken. Ringier hält „die (hypnotische) Suggestiv- behandlung und zwar verbunden mit Eisenpräparaten“ für das allein Richtige und Rationelle. Mir erscheint die Anwendung der
1) Auch die hypnotische Behandlung des akuten Gelenkrheumatismus ist empfohlen worden, so insbesonders von Stadel mann und Gross mann. Ersterer Beobachter scheint sich sogar dem Glauben hinzugeben, dass man durch hypnotische Suggestion Recidiven der Erkrankung verhindern kann. Dass sich durch hypnotische Suggestion die Beschwerden beim akuten Gelenk- rheumatismus (Schmerzen, Schlafmangel etc.) mildern oder auch ganz beseitigen lassen, ist wohl nicht zu bezweifeln. Ob ausserdem die Suggestion einen Ein- fluss auf den Verlauf der Erkrankung äussert, ist jedoch sehr fraglich; die vorliegenden Beobachtungen liefern keinen Beweis in dieser Richtung.
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Psychotherapie hei chirurgischen Erkrankungen.
Eisenmittel oder ähnlich wirkender Präparate in Verbindung mit entsprechender Reguli rung der Diät zunächst als das Rationelle, und erst wenn damit keine Besserung des Zustandes herbeizu- führen ist, insbesonders der Appetit sich nicht einstellen will, die Anwendung der Hypnose gerechtfertigt.
XI. Anwendung der Psycliotlierapie in der Chirurgie, bei Augen- und Olirenkranklieiten und in der
Geburtshilfe.
Was wir an früherer Stelle bezüglich der psychischen Be- handlung im weiteren Sinne bemerkten, gilt selbstverständlich für die chirurgischen Erkrankungen in gleichem Maasse wie für das Gebiet der inneren Medizin. Der Chirurg, dessen Hilfe so oft bei schweren und lebensgefährlichen Zuständen in Anspruch genommen wird, hat sicher nicht minder als der Internist Ge- legenheit und Veranlassung, Psychotherapie zu üben durch sein Auftreten, seinen Zuspruch und die Aufklärungen, welche er giebt, den Muth des um sein Leben besorgten, oft schon verzagenden Kranken zu heben und damit seine Lebenskraft und Widerstands- fähigkeit zu erhöhen und bei langwierigen Leiden seine Geduld und Standhaftigkeit zu fördern. Ein amerikanischer Chirurg, Ch. G. Davis, hat vor Kurzem darauf hingewiesen, dass der Patient in den letzten Augenblicken vor einer Operation in beson- derem Maasse für die beruhigende Suggestion empfänglich ist. Wenn man ihm in diesen Momenten den Zweck der Operation darlegt und ihn der Hoffnung versichert, die man bezüglich seiner Genesung hegt, so wirken diese Worte wie ein mächtiges Tonikum auf das Nervensystem und helfen wesentlich, den Kranken auf- recht zu erhalten. Man kann aber auch, bemerkt Davis, in der in der Hypnose die betreffenden Suggestionen geben, dann ist ihre Wirkung noch bedeutender und nachhaltiger.
Die durch die hypnotische Suggestion zu erzeugende Anäs- thesie ist vielfach zur schmerzlosen Vornahme kleinerer chirur- gischer und zahnärztlicher Operationen verwerthet worden und wird in dieser Richtung noch gegenwärtig häufig ausgenützt.
Chirurgische Verwerthung der hypnotischen Anästhesie.
2o3
Einer Reihe von Aerzten ist es jedoch gelungen, auch grössere und länger dauernde Operationen in der Hypnose schmerzlos aus- zuführen. So hat bereits Cloquet 1826 bei einer in Somnam- bulismus versetzten Frau die operative Entfernung des Brust- krebses vorgenommen; die Patientin äusserte keinen Schmerz während der Operation und hatte auch nachträglich keine Erin- nerung von dem ganzen Vorgänge. Guerineau (Poitiers) ampu- tirte 1859 bei einem Manne unter Anwendung der suggestiven Anästhesie -während einer leichten Hypnose (der Kranke hatte vollkommenes Bewusstsein von dem Vorgänge und war nicht amnestisch) den Oberschenkel. Esdaile (Calcutta) führte eine erhebliche Anzahl grösserer Operationen unter Zuhilfenahme der hypnotischen Anästhesie aus. Pozzi, Fort, Wood, Tillaux u. A. berichten ebenfalls über grössere operative Eingriffe, welche unter hypnotischer Anästhesie stattfanden. Es ist begreiflich, dass trotz alledem die Hypnose die Chloroform- und Aethernar- kose keineswegs zu verdrängen vermochte. Nicht alle zu Operi- renden sind hypnotisirbar. Die hypnotische Anästhesie ist auch keineswegs immer so tief und anhaltend, dass bei derselben auf eine ungestörte Durchführung einer längeren Operation zu rechnen wäre; das bei manchen Operationen nöthige absolut ruhige Ver- halten des Patienten wird auch durch die Hypnose nicht erzielt. Als Ersatz der Narkose kann daher die Hypnose nur in Ausnahmsfällen in Betracht kommen; dagegen verdient die hyp- notische (und die Wach-) Suggestion mehr Beachtung und Ver- werthung als Mittel zur Unterstützung und Erleichterung der chemischen Narkose. Wetterstrand bemerkte, dass man schon bei leichter Hypnotisirung geringerer Menge von Chloroform zur Erzielung der erforderlichen Anästhesie bedarf, und Davis fand, dass bei Hypnotisirten die Narkotisirung tiefe Anästhesie in der Hälfte der Zeit, die unter anderen Verhältnissen nöthig ist, herbeiführt. Man hat auch öfters die hypnotische Suggestion zur Erleichterung der Beschwerden von Kranken mit unheilbaren chirurgischen Leiden, z. B. bei Carcinomen, mit Erfolg ange- wendet.
Die Verwerthung der Psychotherapie im Gebiete der Augen- krankheiten beschränkt sich im Wesentlichen auf die nervösen
25i
Nervöse Augenaft'ektioneu.
Augenaft'ektioneii. In erster Linie kommt liier die bei Neurastlieni- sclien und Hysterischen so häufig zu beobachtende nervöse Seh- sch^Yäche (Asthenopie) in Betracht, welche sich bekanntlich haupt- sächlich durch rasches Ermüden und Auftreten von Schmerzen in den Augen bei Anstrengungen derselben, insbesonders bei Nah- arbeiten kundgiebt. Die nervöse Sehschwache bildet oft ein recht hartnäckiges und störendes Leiden, das jedoch psychischer Be- eintlussung nach meinen Wahrnehmungen in hohem Grade zugänglich ist. Zur larvirten Suggestivbehandlung dieser Atfektion können die Galvanisirung der Augen (oder des Kopfes) mit schwachen Strömen oder die Franklinisation derselben (Spitzenströmung), Aufschläge mit indifferenten Lösungen, Brillen etc. Verwerthung finden. Ein besonders dankbares Objekt für die Psychotherapie bildet die hysterische Amaurose. Die Wunderheilungen von Blinden an Wall- fahrtsorten gehören wohl ausschliesslich in diese Kategorie. Dass auch peinliche Gemüthserregungen sich bei diesem Zustande heil- sam erweisen können, lehrt eine von Pitres mitgetheilte Be- obachtung. Dieser Autor wurde zu einem Consilium zu einem 10jährigen Mädchen gebeten, bei welchem seit vier Jahren hysteri- sche Blindheit auf dem linken Auge bestand. Pitres konnte, als er zum Consil kam, nur die Wiederherstellung des Sehvermögens konstatiren. Die Angst vor dem Consil hatte die Kleine von ihrer Amaurose befreit. Es begreift sich bei der psychischen Natur der hysterischen Amaurose, dass sich die verschiedensten Mittel bei derselben schon erfolgreich erwiesen haben: Elektrisirung der Augen, Anlegen von Magneten, Auflegen von Metallplättchen auf dieselben, Waschungen mit Lourdeswasser etc.
Auch bei hysterischen Augenmuskelspasmen imd bei Lid- krämpfen kann uns die larvirte Suggestion in Form von Elektri- sirung, Augendouchen, Aufschlägen etc. sehr entschiedene Dienste leisten ^).
1) Man hat in neuerer Zeit Besserung des Sehvermögens bei an Atrophie nerv. opt. leidenden Rückenmarkskranken unter Suspensionsbehandlung be- obachtet; inwieweit hiebei suggestive Einflüsse betheiligt sind, lässt sich vorerst nicht bestimmen. Delboeuf berichtet über einen Fall von Retinitis und Neuritis opt. auf beiden Augen, in welchem unter h}'pnotischer Behandlung eine ganz auffällige Besserung des Sehvermögens eingetreten sein soll.
Gehöraffektionen, Verwei-thung der hypn. Suggestion in der Geburtshilfe. 255
Von den Gehöraffektionen kommen für die psychische Be- handlung neben der hysterischen Taubheit die nervöse Sclnver- hörigkeit und das Ohrensausen in Betracht. Die hysterische Taub- heit kann, wie ich in einem im vorigen Jahre beobachteten Falle sah, ohne jede therapeutische Einwirkung plötzlich schwinden, sie ist natürlich auch durch Suggestivbehandlung in der einen oder anderen Form (Franklinisation des Ohres, Applikation eines Vesi- cans etc.) zu beseitigen. Das nervöse Ohrensausen und die nervöse Schwerhörigkeit sind öfters durch hypnotische Suggestion gebessert worden. Wetterstrand berichtet über den F all einer 38jährigen Frau, welche seit 6 — 7 Jahren auf einem Ohre nicht mehr hörte imd nach der ersten hypnotischen Behandlung, welche wegen Kopf- schmerzen vorgenommen wurde, auf diesem Ohre wieder hörte.
Auch in der Geburtshilfe hat die hypnotische Anästhesie Ver- werthung gefunden. Eine Reihe von Aerzten (Liebault, Mesnet, Dumontpallier, Wetterstrand, Journee u. A.) haben durch die hypnotische Suggestion bei Entbindungen die Wehenschmerzen beseitigt; der hypnotische Zustand hat hiebei auf die Uterus- contractionen keinen oder nur einen etwas verlangsamenden Einfluss ausgeübt. Aus mehreren Beobachtungen erhellt, dass durch die hypnotische Suggestion der Verlauf der Geburtsthätigkeit be- schleunigt sowohl als verlangsamt, der Eintritt der Wehen in be- stimmten Intervallen erzielt werden kann (Beobachtungen von Fanton, Fraipont und Delboeuf). Liebault erwähnt auch, dass es ihm mehrere Male gelang, durch hypnotische Suggestion einen drohenden Abortus hintanzuhalten.'
XII. Die sogenannte moralisclie Orthopädie.
Wir wollen hier noch einer Verwerthung der hypnotischen Suggestion gedenken, welche in den letzten Jahren zu mannigfachen Erörterungen und Beanstandungen geführt hat. Von einer Reihe von Beobachtern, De Jong, Voisin, Dumontpallier, Bern- heim u. A., insbesonders jedoch von Berillon und Liebault wurde die hypnotische Suggestion zur Beseitigung fehler- und lasterhafter — z. Th. jedenfalls krankhafter — Angewöhnungen
256
Moralische Orthopädie.
imd Neigungen bei Kindern und jungen Individuen angewendet und nachdrücklich empfohlen, so hei unwdderstehliclier Neigung zum Stehlen, Lügen, zur Masturpation , Hang zur Trägheit, Un- reinlichkeit, Grausamkeit, Nägelkauen etc.
Der Erfolg dieses als „moralische Orthopädie" hezeichneten Suggestivverfahrens war in einem Theile der mitgetheilten Fälle offenbar sehr günstig. Mitunter genügten einige hypnotische Sitzungen, um Heilung von der moralischen Perversität herbeizu- führen. Gegen diese Verwerthung der Hypnose zu „pädagogischen Zwecken" ist jedoch von mehreren Seiten Protest erhoben worden, unseres Erachtens ganz mit Unrecht. Soweit es sich um Charakter- fehler eines Kindes handelt, welche den gewöhnlichen pädagogischen Einwirkungen zugänglich sind , wird man die Anwendung der Hypnose allerdings nicht als das richtige Mittel anerkennen können. Bei moralischen Mängeln und Angewöhnungen, welche entschieden pathologischer Natur sind (wie z. B. die Neigung zum Stehlen, zur Grausamkeit bei Kindern moralisch intakter Eltern, unwider- stehlicher Hang zur Onanie etc.) besteht jedoch kein Grund, von der Anwendung der Hypnose abzusehen, wenn die zur Verfügung stehenden erzieherlichen Mittel ohne Erfolg versucht worden sind.
A.
Abreibungen, kalte, psychothera- peutische Verwerthung derselben 120.
Accessoriuskranipf, psychische Be- handlung desselben 216.
Achromatopsie, hysterische Be- handlung derselben 131.
Affekte 27, 28, Beeinflussung der Associationsvorgänge durch dieselben 29, Lange’s Theorie derselben 30, Entladung derselben 48, 49, pathogene und cnrative Wirkungen derselben 46 , Bekämpfung derselben durch Willensgymnastik 121, 122, Behand- lung durch Erregung derselben 167.
Alexander von Tralles 4.
Algische Affektionen, psych. Be- handlung derselben 194, 218 u. f.
Alkoholismus, psychische Veränder- ungen in Folge desselben 71, psychi- Behandlung desselben 123, 248.
Allgemeinbehandlung, psychische 3.
Allgemeinvorstellung 23.
Amaurose, hysterische, psychische Behandlung derselben 254.
Amulette 132, 133.
Anästhesie, hypnotische; chirur- gische Verwerthung derselben 252, 253, geburtshilfliche 255.
— hysterische; psychische Entsteh- ung derselben 32, 42, Behandlung derselben 133.
— sexuelle bei Frauen 153, 242.
Anfälle, hysterische 20, psychische
Behandlung derselben 192 u. f.
Angina pectoris neurasthenica 228.
hysterica 232.
vera 232.
LOwenfeld, Psychothorapio.
Angstzustände, Verknüpfung der- selben mit Vorstellungen 24 — lar- virte45, Behandlung derselben 195 u. f.
Anurie, hysterische, psychische Behandlung derselben 133, 245, 246.
Aphonie, hysterische, s. Stimm- bandlähmung.
Aretaeus 3.
Ascites, Beseitigung desselben durch Schrecken 47.
Asklepiades 3.
Association der Vorstellungen 23, Gesetze derselben 23, 24, Asso- ciation oberbewusster mit unter- bewussten Vorstellungen 25.
Associationscentrum, frontales, psychophysiologische Bedeutung des- selben 36, Erscheinungen bei Er- krankung desselben 36.
Asthenopie, nervöse, s. Sehschwäche.
Asthm a, neur asthenisch es, psych. Behandlung desselben 226, 227.
— essentielles S. 228, — der Emphysem atiker 228.
Aufklärung des Kranken über seinen Zustand 80 — 90.
AufmerksamkeH, willkürliche 34, — unwillkürliche 34, Beziehung der- selben zum Ego 37.
Augenmuskelkrämpfe, hyster. 254.
Ausflüge 108.
Auswahl der ersten Mittel bei Behandlung eines Falles 91.
Auswahl der Mittel, Nothwendig- keit, dieselbe nicht dem Kranken zu überlassen 92.
Autosuggestionen, pathogene W irk- ungen derselben 45, curative Wirk- ungen derselben 133, 135.
17
258
Register.
K.
BaiAvise 215.
Bechterew 141, 150, 159.
Bedroh ungmitpeinlich enMaass- nahmen 169.
Begie ssunge n , kalte, psychothera- peutische Verwerthung derselben 170.
Begriff, concreter 23.
— abstracter 23.
Benedict 23, 143, 147.
Berillon 159, 215, 245, 246, 247, 255.
Bernheim 7, 137, 141, 159, 161, 182,
183, 193, 212, 216, 220, 235, 241, 245.
Beschäftigung, berufliche 98, 99. geistige, als psychotherapeutisches Mittel 42, 100, 101.
— körperliche 100, 101.
Beschwörungen 2, 3.
Bettnässen, nächtliches, psychi- sche Behandlung desselben 246, 247.
Bewusstsein, Beziehung desselben zu den geistigen Vorgängen 13, 14; Grade des Bewusstseins 14; Ober- und Unterbewusstsein 14, 15, 16, 17, 18, 21, 22; Spaltung des Bewusst- seins 18.
Bewusstseinszustände, isolirte 18.
Biancbi 36.
Bildungsstufe des Kranken, Be- deutung derselben für die Psycho- therapie 59.
Binet 17.
B inswanger 143.
Blase, reizbare, psychische Behand- lung derselben 241, 246.
Blindheit, hysterische, s. Amau- rose.
Boerhave 167.
Bra id 5.
Breuer 19, 22, 162.
Brügelmaun 225, 226, 227.
Brunnber g 245.
Byasson 38.
C.
Centralneurone Flechsig’s 23.
C e p h a 1 e a , psychische Behandlung derselben 221.
Charakter des Kranken, Bedeut- ung desselben für die Psychotherapie 63 u. f.
C har cot 7, 8, 19.
Chirurgie, Verwerthung der Psycho- therapie in derselben 252.
Chlorose, hypnotische Behandlung derselben 251, 252.
Chorea (electrica, epidemica, rhythmica, saltatoria) psycliische Behandlung derselben 215.
Chorea hereditaria (Huntington’- sche) 216.
Chorea minor, psychische Behand- lung 216.
Cloquet 253.
Concertbesuch 106.
Consilien 89, 90.
Conversion der Affekterregung 27.
Corval, von 217.
D.
Dämonenwahn 5.
Darmatonie, psychische Behandlung derselben 236.
Darwin senior 51.
Davis, Ch. G. 252.
De Jong 212, 255.
Delboeuf 254, 255.
Dessoir 14, 21.
Desuggeriren 161.
Diagnose, ärztliche Verstösse bezüg- lich Mittheilung derselben an Kranke 80, Kautelen, die bei diagnostischer Aufklärung des Kranken zu beachten sind 82, 84, 85, 88, 89, psychothera- peutische Bedeutung derselben 82, 83.
Dizard 248.
D 0 u c h e n , psychotherapeutische Ver- werthung derselben 120.
Dum outpallier 216, 255.^
E.
Eeden, van 158, 215, 216.
Ego 18, Entwickelung desselben 31, Hauptbestandtheile desselben 31, 32, Spaltung (Vervielfältigung) desselben
Register. 259
17, 18, Beziehung desselben zum Wollen 33, 37.
Elleschliessung als psychisches Heilmittel 117, 118.
Einschliiferungsmetlioden s. Hyp- nose.
Ein z elvorstellung 23.
Elektrizität, suggestive Verwertliung derselben 31.
Emotionstherapie 167.
Emotivität, gesteigerte, Behand- lung derselben durch Willensgym- nastik 121, 122.
Empfindung 22.
Enteropathie, nervöse, psychische Behandlung derselben 236.
Enuresis nocturna s. Bettnässen.
Epilepsie, psychische Behandlung derselben 52, 214, 215.
Erasistratus 3.
Erb 179.
Erinnern 22.
Erinnerungen 22, Sitz derselben 23, Verlust derselben s. Amnesie.
Erwecken aus der Hypnose 146.
Esdaile 253.
Exorcismen 4, 5.
F.
Facialiskrampf, psychische Behand- lung desselben 216.
Fanton 255.
Ferö 17, 38.
Fer r ier 36.
Feuchtersieben 93, 105, 110.
Flechsig 23, 36.
Font an (Toulon) 183.
Forel 9, 135, 137, 141, 142, 157, 191 215, 236, 244.
Fraipont 255.
Freud 19, 162 u. f.
Freude, Einfluss ders. auf das Nerven- system und psychische Vorgänge 50, curative Wirkungen ders 50, 167.
Furcht, curative Wirkungen derselben 51, psychotherapeutische Verwerth- ung derselben 168, 169.
Fusstouren 108.
Ci-
Gal e n US 3, 167.
Gartenarbeit 101.
Gascard 245.
Gassner 5.
Gebetsheilungen 173, 174.
Geburtsthätigkeit, Beeinflussung derselben durch hypnotische Sug- gestion 255.
Gedächtnissbilder, Art der Fixa- tion derselben 22.
Gedächtniss des Oberbewusstseins 18, 22, — des Unterbewusstseins 17.
Gedankenonanie s. Gedankenun- zucht.
Gedankenunzucht 42, 123.
Gefühle 27, sinnliche Gefühle 27, ideale Gefühle 27.
Gegensuggestionen 155.
Gehirnkraukheiten, organische, psychische Behandlung derselben 176 u. f.
Geistesstörungen, Verursachung derselben durch Gemüthsbewegungen 46, 47 ; hypnotische Behandlung der- selben 158.
Geistige Direktion des Kranken 94 u. f.
Geistige Vorgänge, Einfluss der- selben auf die somatischen Lebens- vorgänge 38 ; auf die Entstehung und Heilung von Krankheitszustän- den 39 u. f.
Gelenkkrankheiten, hypnotische Behandlung, derselben 249 u. f. »
Gelenkrheumatismus s. Gelenk- krankheiten.
Gemüth28, Gemüthsbewegung s. Affekt, — ruhe 28, — Stimmung s. Stimmung, — erregbarkeit , erhöhte (Geniüths- schwäche) 28.
Genitalerethismus bei Frauen, psychische Behandlung desselben 242.
Geschichte der Psychotherapie 1 u. f.
Geschlecht, weibliches, psychische Eigenthümlichkeiten desselben 57, 58.
17*
260
Register.
Gesunderklärung, psychotherapeu- tische Bedeutung derselben 93.
Gicht, hypnotische Behandlung der- selben 249.
Gilles de la Tourette 135, 147, 188, 190.
Glaubensheilanstalten, Behand- lung in denselben 173.
Glaubensheilungen 170 u. f.
Greisenalter, psychische Eigenthüm- lichkeiten desselben 56, 57.
Grossmann 184, 249, 250.
Guerine au 253.
Gymnastik, körperliche s. Leibes- übungen.
Gymnastik, psychische 118, Wil- lensgymnastik 119 u. f., intellektuelle Gymnastik 124, Suggestionsgym- nastik 125.
H.
Handauflegen 4, 173.
Haushalter 182.
Hecker, E., 45, 150.
Heilmittel, physikalische, als Suggestivmittel 130.
Heilmystikartikel 132.
Herzberg 244.
Herzkrankheiten, organische, psychische Behandlung derselben 228.
Herzneurosen s. Herzschwäche ner- vöse.
Herzschwäche, nervöse (neurasthe- nische), psychische Behandlung der- selben 228 u. f.
Herzthätigkeit, Beeinflussung der- selben durch den Willen 51, durch Franklinisation bei nervöser Herz- schwäche 231.
Hippokrates 3.
Hirsch 214, 215.
Hirt (Breslau) 142, 144, 150, 182, 217, 223, 248.
Hitzig 36.
Hoden, reizbarer 241.
Honorar, ärztliches, Suggestiv- wirkung desselben 62.
Husten, nervöser (hysterischer), psychische Behandlung desselben 52, 128, 131, 133, 169, 222, 223.
Hydrotherapie, psychotherapeutische Verwerthung derselben 120.
Hypnoide Zustände 19, 57.
Hypnose, Meinungsverschiedenheiten bezüglich derselben 135, Beziehungen derselben zur Hysterie 136, zum natürlichen Schlafe 136, Definition derselben 137 ; Hypnotisirbarkeit 137, 138; Technik des Hypnotisirens 139 bis 142; therapeutische Verwerthung der Hypnose 143, Liöbault’sche Me- thode 144 , Suggestibilität in der Hypnose 144, 145 ; Dauer der hypno- tischen Sitzung 146, Erwecken 146; verschiedene Ansichten über den Werth der Hypnotherapie 147, Er- klärung dieser Meinungsdifferenzen 148, 149, eigene hypnotherapeutische Erfahrungen 150 — 153 ; Wirkungen der hypnotischen Suggestion 154; Schattenseiten der Hypnotherapie 154, 155, 156; Erkrankungen, welche hypnotisch zu behandeln sind 156, 157, 158; Gefahren der Hypnose 159, 160; nöthige Vorbildung für die hypnotherapeutische Praxis 161.
Hypochondrische Denkweise 41.
Hypochondrische, psychische Be- handlung derselben 64, 65, 66, 98, 99, 105, 123.
Hysteralgie 242, 243.
Hysterie, psychische Allgemeinbehand- lung derselben 188, Isolirung der Kranken 188, 189 ; Behandlung durch Suggestion imWachzustande 190, 191 ; durch hypnotische Suggestion 191, 192 ; Behandlung der Anfälle 192, 193; der hysterischen Schmerzen 194, der Lähmungen 194, 195.
I (J).
Ja net, Pierre 17.
Ichbewusstsein s. Ego.
Impotenz, psychische, Unterarten derselben 237, 238, Behandlung der- selben 238.
Register.
2G1
Impotenz, psycliiscli - nervöse,
Behandlung derselben 239.
Infektion, psychische 43.
Insomnie s. Schlaflosigkeit.
Isaak Judaeus 4.
Isolirung dos Kranken, verschie- dene Modifikationen derselben 113, 114, 115; Indikationen und Contrain- dikationen derselben 113, 116; Wirk- ungen derselben 114, 115; bei Neu- rasthenie 185, bei Hysterie 188, 189, 192.
K.
Kant 42.
Kathar tische Methode (Breuer- Freud) 162—167, 192.
Kindesalter, psychische Eigenthüm- lichkeiten desselben 55, 56.
Körper, Art des Zusammenhanges des- selben mit der Seele 12, 13.
Kopfschmerz, habitueller, psychische Behandlung desselben 221.
Kr afft -Ebing, Frhr. v. 159, 193,200.
Krankenzimmer 110, 111.
Kreuzeszeichen 4.
L, .
Lähmungszustände, psychischeBe- handlung derselben 133, 145, 146, 149, 181, 183, 184, 194, 195.
Lebensweise, Regulirung derselben 96.
Lektüre 102 u. f.
Lehr 230.
Leibesübungen als Beschäftigung 101 ; als Mittel der Willensgymnastik 119.
Leopold 169.
Libido, übermässige, psychische Behandlung derselben 240.
Lidkrämpfe 254.
Liöbault 5, 7, 8, 137, 144, 245, 246, 251, 255.
Lloyd Tuckey 137, 143, 215, 217, 228, 248.
Löwenfeld, L. 136, 151, 205, 240, 242.
Lour des Wasser 132, 172.
Magenaffektionen, nervöse, psy- chische Behandlung derselben 234, 235.
Magenausspülung zu suggestivem Zwecke 131, 234.
Magengeschwür 235.
Magenkatarrh, autosuggestive Schmerzen bei demselben 233.
Mage n sch merzen , von Geschwürs- narben herrührend, psychische Be- handlung derselben 235.
Magnete als Mittel der larvirten Sug- gestion 130, 182.
Massage, psychotherapeutische V er- werthung derselben 130, 195.
Melancholie, psychische Beh andlung derselben 209 u. f.
Menstruation, psychische Beeinflus- sung derselben 244.
Menstruationsanomalien, psychi- sche Behandlung derselben 245.
Mesnet 255.
Messmer 5.
Metallotherapie 132, 182.
Milieu s. Umgebung, weitere, des Kranken.
Mitchell-Playfair’sche Mastkur 115.
Moll 141, 143.
Morphinismus, psychische Verän- derungen in Folge desselben 71 ; psychische Behandlung desselben 248.
Mosler 38.
Mosso 38, lOl.
Musik, psychotherapeutische Ver- werthung derselben 3, 106.
Musikübungen als Zerstreuungsmittel 106.
Muskelkrämpfe, lokalisirte, psychi- sche Behandlung derselben 216.
Muskelrheumatismus, hypnotische Behandlung desselben 251.
Myoclonie, psychi.sche Behandlung derselben 216.
N.
Natur ge nüsse, psychotherapeutische Bedeutung derselben 109, 110.
262
Register.
Navratil 147, 148.
Nebenbeschäftigungen, psycho- therapeutischeV er werthung derselben 101.
Neigungen, krankhafte, psychi- sche Behandlung derselben 123, 256.
Neuralgien, psychische Behandlung derselben 217 u. f.
Neurasthenie, psychische Behandlung derselben 184 u. f.
Neurosen, traumatische, psychi- sche Behandlung derselben 60, 61, 99, 205 u. f.
Noctambulismus 21.
N u s s b a u m 35.
O.
Obersteiner 143.
Obstipation, psychische Behandlung derselben 236.
Oele, geweihte 132.
Ohrensausen, nervöses 255.
Oligurie, hysterische 245.
Oppenheim 209.
Orthopädie, moralische 255, 256.
Ovarie (0 varialgie), psychische Be- handlung derselben 242, 243.
P.
Perkin’sche Tractoren 132.
Persönlichkeit, geistige s. Ego.
Persönlichkeit des Arztes, psycho- therapeutischeBedeutung derselben 74.
Pflegepersonen s. Umgebung.
Phantasievorstellen 22,
Phantasievorstellung 23.
Phobien s. Angstzustände.
Pinselung, faradische, psycho- therapeutische Verwerthung der- selben 131, 169.
Pitres 191, 254.
Pollutiones nimiae, Behandlung derselben 240.
Polyurie, hysterische, psychische Behandlung derselben 246.
Preis von Heilmitteln, Suggestiv- wirkung desselben 61.
Princip der Contiguität 24, 43.
— — Aehnlichkeit 24.
Prognose, psychotherapeutische Be- deutung derselben 83, Aufklärung des Kranken betreffs derselben 85, 86, 87.
Prostata, reizbare 241.
Pruritus genitalium 242.
Psyche, Veränderungen derselben in Folge von Erkrankungen 69 u. f.
Psyche des Kranken 54.
Psychische Behandlung im wei- teren Sinne 73 u. f.
Psychopathische Minderwerthig- keiten Koch’s 71, 72.
Psychotherapie, (geschichtliches 1 u. f. ; religiöse (priesterliche, magi- sche) 2 u. f. ; profane 3,4, 7 ; allge- meine 73 — 175; specielle 176 u. f.
R.
Reil 6, 9, 168.
Reisen 108.
Reizzustände, sexuelle beim Manne, Behandlung derselben 239 u. f.
Reliquien 4, 132, 172.
Renterghem, van 158, 215, 216.
Reproduktionsthätigkeit 23.
R espir a tion s apparat, Affektionen desselben, psychische Behandlung derselben 221 u. f.
Richardson 41.
Richter 147, 148.
Rin gier 212, 217, 246, 251.
Rosenbach 147, 169, 222, 234.
Rückenmarkskrankheiten, orga- nische, psychische Behandlung derselben 176 u. f.
Ruhe, geistige', verschiedene Dosir- ung derselben 115, Indikationen und Kontraindikationen derselben 116.
S.
Salbung 4, 173, 174.
Scheinoperationen 131, 169.
Schlaf, hypnotischer s. Hypnose.
Schlaflosigkeit, psy chisclie Behand- lung derselben 212 u. f.
Register.
263
Sclilafzu stände, hysterische, Ein- tritt derselben bei Hypnotisirungs- versuchen 160.
Schlingbeschwerden, nervöse, psychische Behandlung derselben 126, 237.
Schmerz, psychische Entstehung des- selben 43, 49, 207; psychische Be- handlung desselben 44, 127, 134, 152, 157.
Schramm 169.
Schrecken, Hervorrufung hynoider Zustände durch denselben 19, psycho- therapeutisch eVerwerthung desselben 168, 169.
Schrenk-Notz ing, Freiherr von 18, 241.
Schriften, populär-me di zini sehe 105.
Schwerhörigkeit, nervöse 255.
Seele, Art des Zusammenhanges zwi- schen derselben und dem Körper 12, 13.
Sehschwache, nervöse, psychische Behandlung derselben 254.
Selbstbewusstsein 32.
Sexualempfindung, conträre, hypnotische Behandlung derselben 241.
Sexualfunktionen beim Manne, Störungen derselben, psychische Be- handlung derselben 237 u. f.
Sexualleiden bei Frauen, psy- chische Behandlung derselben 244.
Shock, psychischer 19.'
Sinnesreize, einförmige, als Hypnotisirungsmittel 139, 160.
Sobernheim 130.
Somnambulismus, hypnoti scher 21, 137.
Somnambulismus, natür lieber
(pathologischer) 21.
Sonderexistenzen, geistige 18 u. f.
Spermin Pöhl, Suggestivwirkung des- selben 61.
Spiele als Zerstreuungsmittel 107.
Stadelmann 251.
Stimmband lähmung, hysterische, psychische Behandlung derselben 224 u. f.
Stimmritzenkrampf, hysterischer, psychische Behandlung desselben 224.
Stimmung 28.
Stottern, hypnotische Behandlung desselben 217.
Striche, mesmerische, 139.
Strümpell 39, 60, 147.
Suggestibilität 55, 57, 135, 144, 145.
Suggestion s. Suggestivbehandlung.
Suggestionsgymnastik 125.
Suggestivbehandlu ng 125; — im Wachzustände 126; — verbale 126; Befehlsform der Heilsuggestion 127, 128, 129; — larvirte (mas- kirte , materielle) Suggestion 130 ; hypnotische 135 u. f.
Suspension als Mittel der lar-virten Suggestion 130, 182.
Sympathiemittel 132.
T.
Tabes dorsalis, psychische Behand- lung derselben 179, 182, 183.
Tatzel 208, 217.
Taubheit, hysterische, psychi- sche Behandlung derselben 255.
Thätigkeit, intellektuelle, patho- gene Wirkungen derselben 40, 41, Heilwirkungen derselben 42.
Theaterbesuch 106.
Theilhaber 243.
Thiroloix 246.
Tics, psychische Behandlung derselben 216.
Tissot 167.
Tobold 224.
Tod in Folge von Gemütsbeweg- ungen 47.
Townsend, Oberst 51.
Traumvorstellen 19.
Tremor, Untersuchung bezüglich des- selben 79, Suggestivbehandlung des- selben 216.
Treu bei 222, 223, 224.
2G4
Register.
T iM-p pe'rn e u f a s’tJi e n i e 241.
Tluke,.Hack.41,. 51.
Turnen' 101.
U.
üeberanstrengung, geistige, Fol- gen derselben 41.
Uebungen, gymnastische 101.
Ulpian 3.
Umgebung, nähere, Einfluss der- selben auf den Kranken 110, Anfor- derungen , welche an dieselbe zu richten sind 112.
Umgebung, weitere, Einfluss der- selben auf den Kranken 112.
Unfallskranke,s. traumatische Neu- rosen.
Unterhaltung, gesellige 107, 114, 116.
Untersuchung des Kranken 78, 79.
Ursache der Erkrankung, Auf- klärung des Kranken bezüglich der- selben 88.
Uterus, Lage anomal i en desselben, suggestive Behandlung bei denselben 243.
V.
Vaginismus, psychische Behandlung desselben 153, 242.
Verd au ungs app a r at , Affektionen desselben, psychische Behandlung desselben 232 u. f.
V er ge SS en 25, 26.
Verhältnisse, äussere, des Kran- ken, Bedeutung derselben für die Psychotherapie 59, 60, 61, 205.
Verkehr mit Kranken 75, 76, 77.
Verstimmung 28.
Vogt 137.
Voisin 212, 245, 255.
Vorstellen, Abhängigkeit desselben von der Grosshirnrinde 12; unbe- wusstes (latentes) V. 14, Beeinfluss- ung des Ablaufes desselben durch den Willen 35 u. f., 123; durch Stimmungen und Affekte 29.
Vorstellungen, Arten derselben 22, Sitz derselben 23, Association dei’- selben 23; Gesetze der Vorstellungs- association 24; Verdrängung (Dis- junction) derselben 26; Beziehung derselben zu den Gefühlen 27; pa- thogene und curative Wirkungen derselben 40 u. f.
Vorstellungen, einfache 22.
— hypochondrische 41, 43.
W.
Wahrnehmung 22.
Warzen, Beseitigung derselben durch psychische Mittel 44.
Wetterstrand 137, 146, 212, 214, 215, 216, 228, 246, 247, 248, 251 253, 255.
Wilhelm von Saliceto 4.
Wille 32, Willensakte; psychische Ele- mente derselben 33, Wirkungen der- selben 34, 35, Begleiterscheinungen derselben 35; Bedeutung des Stim- lappens für dieselben 36 ; — freiheit 37, — kraft 37; — schwäche 37, 64; pathogene und curative Wirkungen des Willens 51 u. f. , — gymnastik 119 u. f.
Wolfart 21.
Wood 143.
Wunderkuren 5, 170, Wirkungs- bereich derselben 171, psychische Bedingungen derselben 172, 173; diagnostische Irrthümer als Quelle derselben 174, 175.
Wundermittel 2, 3.
Z.
Zauberformeln 2, 3.
Zerstreuungen 101 u. f.
Züchtigungen, körperliche 167, 168.
Zülzer 38
Zustand, erster und zweiter 18 u. f.
Zwangsvorstellungen, Entstehung derselben nach Freud 27 ; Behand- lung derselben 199 u. f.
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