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WREDENS SAMMLIJNG

BAND XVII.

PSYCHIATRIE.

FUR

ARZTE UND STUDIRENDE BEARBEITET

VON

Dr. MED. TH. ZIEHEN,

A. O. PROFESSOR AN DER UNIVERSITAT JENA.

MIT 10 ABBILDUNOEN IN HOLZSCHNITT UND 10 PH YS 1 0 ON 0 M ISCHBN D ARSTELLUNGEN AUF 6 LICHTDRUCKT AFELN.

BERLIN,

VERLAG VON FRIEDRICH WREDEN.

1894.

PSYCHIATRIE.

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ARZTE UND STUiDIRENDE BEARBEITET

VON

Dr. MED. TH. ZIEHEN,

A. O. PROFESSOR AN DBR UNIVERSITAV JENA.

MIT 10 ABBILDUNGEN IN HOLZSCHNITT UND 10 P HY SI O GN O M IS C HEN DARSTELLUNGEN AUF 6 LICH TDRU CK T AF EDN.

BERLIN,

VERLAG VON FRIEDRICH WREDEN.

1894.

Alle Rechte, auch das der Uebersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten.

Druck von Appelhans & Pfenningstorff in Braunschweig.

Holzschnitte von Albert Prohst in Braunschweig.

V o r r e cl e.

In dem nachfolgenden Lehrbucli babe icb versucbt, die Lebren der pbysiologiscben Psycbologie, wie icb sie in meinem Leitfaden der letzteren vorgetragen babe, auf die kliniscbe Psycbiatrie anzuwenden. Von alien mebr oder weniger metapbysiscben Hypotbesen, wie sie leider die Psycbiatrie nocb immer zii sebr beberrscben (Apperception, Willens- vermdgen, Selbstbewusstsein u. s. w.), babe icb vollig abseben zu miissen geglaubt. Die sogenannte Associationspsycbologie reicbt vollig aiis, die Erfabr ungen der kliniscben Psycbiatrie zu erklaren. Gerade aucb in didaktiscber Beziebung bewabrt .sie sicb, wie icb aus Erfabrung sagen kann, durcbaus.

Der allgemeinen Psychopatbologie ist ein verbiiltnissmassig breiter Raum zugewiesen worden, da es bei dem neuen psycbologiscben Stand- punkte selbstverstandlicb in erster Linie darauf ankam, die psycbo- patbiscben Einzelerscbeinungen im Sinne der Associationspsycbologie darzustellen und zu erklaren. Wo irgend angangig, ist an die bekann- teren Tbatsacben der Neuropatbologie angeknupft worden.

Die Eintbeilung der Psycbosen ist von jeber die bedenkbcbste Klippe fiir psycbiatriscbe Lebrbucber gewesen. Dafur spricbt scbon die grosse Zabl der Classificationen, welcbe die psycbiatriscbe Literatur aufweist. Zur Zeit liegen deren etwa 60 vor mu-. Es bedarf offenbar nocb vieler kliniscber Einzelstudien , bis eine definitive Classification moglicb sein wird. Icb babe versucbt, ausscbliesslicb auf Grund des kliniscben Verlaufs die Psycbosen zu classificiren. Die Griinde, wesbalb icb die von vielen Seiten beliebte atiologiscbe Classification nicbt ange- nommen babe, sind im Bucbe selbst angegeben. Jedenfalls glaubte icb den Versucb macben zu miissen, fiir die Eintbeilung der Psycbosen im Wesentlicben nur ein Princip eben jenes kliniscbe aufzustellen.

VI

Vorrede.

Die Abgrenzung cler einzelnen Former) der Geistesstorung schwankt bekanntlich nocb sebr. Scbon in didaktiscbem Interesse babe icb die Zahl der dargestellten Psycbosen moglicbst beschrankt und, wenn an- gangig, Psycbosen, welcbe in ibren Hauptzugen ubereinstimmen, zu

einer Hauptform zusammengefasst.

Der Wicbtigkeit der patbologiscben Pbysiognomik ist durcb beson- dere Kapitel im Text und namentlicb durcb besondere pbysiognomiscbe

Tafeln Kecbnung getragen worden.

Entsprecbend dem Zweck des Bncbes, den Studirenden und den Arzt in die Psycbiatrie einznfubren , sind alle Literaturangaben weg-

geblieben. , .

Mancbe Wiederbolungen sind aus demselben Grunde unvermeidbcb

gewesen, da das Bucb nicbt nnr zum fortlaufenden Studium, sondern

aucb zum Nacbscblagen bestimmt ist und im Interesse des letzteren die

Verweisungen eingescbrankt werden mussten.

Jena, Januar 1894.

Th. Ziehen.

Inhaltstibersicht

Seite

Einleitung

A. Allgemeine Psychologie

I. Allgemeine Symptomatologie

a. Die Storungen der Empfindung

a. Intensitatsstorungen der Empfindung

p. Storungen des Geftililstons der Empfindung

y. Qualitative oder inhaltliche Storungen der Empfindung . . .

1. Secundare Sinnesempfindungen

2. Hallucinationen

3. Illusionen

b. Die Storungen der Vorstellungen oder Erinnerungsbilder ....

a. Storungen in der Vorstellungsbildung

1. Defecte der Vorstellungsbildung

2. Bildung falscber Erinnerungsbilder

p. Storungen der Erbaltimg der Erinnerungsbilder

1. Verlust von Erinnerungsbildern

2. Falscbung von Erinnerungsbildern

c. Die Storungen der intellektuellen Gefiihlstone

1. Krankbafte Depression

2. Krankbafte Exaltation

3. Krankbafte Reizbarkeit

4. Krankbafte Apatbie

5. Krankbafte Veranderlicbkeit der Gefuble

d. Die Storungen der Ideenassociation

Storungen des Wiedererkennens

Storungen des Aufmerkens

Allgemeine Associationsstorungen

a. Krankbafte Bescbleunigung

p. Krankbafte Verlangsamung

y. Storungen des Zusammenbangs ....•••••

Specielle Associationsstorungen

a. Inbaltlicbe Storungen der Urtbeilsassociationen

Wabnideen

Zwangsvorstellungen

p. Defecte der Urtbeilsassociationen

e. Die Storungen des Handelns

a. Handlungen, bedingt durcb Empfindungsstorungen . .

p. Handlungen, bedingt durcb Defecte der Erinnerungsbilder y. Handlungen, bedingt durcb Aftectstorungen . . . .

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7

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VIII

Inhalt.

Seite

S. Haiulhmgen, bedingt (lurch formale Storungen der Ideen-

association I45

1. Beschleunigung der motoriscben Actionen . . . 147

2. Verlangsamung der motorischen Actionen . . . 149

3. Incoharenz der motorischen Actionen 155

e. Handlungen, bedingt durch inhaltliche Storungen der

Ideenassociation 157

1. Wahnhandlungen 158

2. Zwangshandlungen . . . 164

3. Defecthandlungen 166

f. Somatische Begleitsymptome der Psychosen 166

a. Storungen der Motilitat 168

1. Lahmungen 168

2. Motorische Reizerscheinungen 170

3. Storungen im Ablauf der willkiirlichen Bewegungen 172

fi. Storungen der Reflexe und Sehnenphanomene .... 175

y. Sensible und sensorielle Storungen 179

s. Secretorische , trophische, vasomotorische und splanch-

nische Storungen 181

II. Lehre vom allgemeinen Verlauf der Psychosen 193

III. Allgemeine Diagnostik 201

IV. Allgemeine Aetiologie 208

Einzelne atiologische Factoren 211

1. Erblichkeit 211

2. Mechanische Ijasionen des Centralnervensystems .... 220

3. Toxische Einflusse 222

a. Alkohol 222

b. Metallgifte 225

c. Alkaloide 226

4. Physiologische Entwicklungsvorgange 230

a. Pubertat 230

b. Senium 231

5. Kbrperliche Krankheiten 233

a. Acute Krankheiten 233

b. Chronische Krankheiten 234

c. Krankheiten des Nervensystems 238

6. Cerebrale Erschopfung 247

7. Gemuthserschiitterungen 248

8. Imitation 249

V. Allgemeine Prognostik 250

VI. Allgemeine Therapie . 253

1. Diatetische Mittel 257

2. Hydrotherapie 261

3. Electrotherapie 263

4. Medicamentbse Therapie 263

5. Psychische Therapie 266

6. Aetiologische Therapie 268

Specielle Behandlung einiger Einzelsymptome 268

B. Speciel le Psychopathologie

Die Eintheilung der Psychosen 272

Inhalt.

IX

Seite

I. Psychosen ohne Intelligenzdefect 276

A. Einfache Psychosen 276

1. Affective Psychosen 276

a. Manie 276

b. Melancholie 297

c. Neurasthenie 314

2. Intellectuelle Psychosen 335

a. Stupiditat 335

b. Paranoia 341

I. Paranoia hallucinatoria acuta 342

II. Paranoia hallucinatoria chronica 365

III. Paranoia simplex acuta 374

IV. Paranoia simplex chronica 376

c. Geistesstbrung durch Zwangsvorstellungen . . . 387

B. Zusammengesetzte Psychosen 395

a. Secundare hallucinatorische Paranoia 395

b. Postmanische und postmelancholische Stupiditat . 395

c. Postneurastheniscbe hypochondriscbe Melancholie

und Paranoia 395

d. Postmelancholische hypochondriscbe Paranoia . . 396

e. Melancholisch-maniakalisches Irresein 396

f. Katatonie 398

II. Defectpsychosen 399

A. Angeborene Defectpsychosen 399

a. Idiotie 399

b. Imbecillitat 404

c. Debilitat 407

B. Erworbene Defectpsychosen 413

a. Dementia paralytica 413

b. Dementia senilis 441

c. Dementia secundaria nach Herderkrankungen . . 445

d. Dementia secundaria nach functionellen Psychosen 446

e. Dementia epileptica 448

f. Dementia alcoholica 450

Aetiologische Uebersicht tiber die Psychosen 453

Sachregister 457

Einleitung.

Die Psycliiatrie ist die Lehre von den psychischen Krankheiten. Das Organ aller psycliisclien Thatigkeiten ist die Einde des Grosshirns mit ihren Ganglienzellen und den die Ganglienzellen untereinander ver- bindenden Associationsfasern. Psycbiscbe Processe finden nur statt, wenn bestinunte materielle Processe in der Hirnrinde sich abspielen. Man kann daber von einem Parallelismus der psychischen Vorgange und der mateiiellen Vorgange in der Hirnrinde sprechen. Die Verwitterung des Steins, das Wachsen der Pflanze, die Secretion der thierischen Driisen, der Sohlenreflex sind alles materielle Processe theils mit, theils ohne Nervensystem , fiir welche psychische Parallelvorgange nicht existiren. Dagegen lehrt uns die Humphysiologie, dass Gesichtsempfindungen nnr zn Stande kommen, solange die Einde des Occipitallappens des Gross- hirns unversehrt ist. Nimmt man diese bei einem Hunde mit dem Messer oder Gliiheisen weg und erhalt das Thier am Leben, so ist es kiinftig blind. In der Einde des Occipitallappens spielen sich also mate- rielle Processe ab, denen auf psychischem Gebiet die Gesichtsempfindungen parallel gehen. Das Gleiche gilt fiir alle psychischen Phanomene: jedem kommt ein bestimmter materieller Parallelprocess in der Hirnrinde und zwar an ganz bestimmter Stelle zu.

Es giebt materielle Processe im Centralnervensystem, welche ohne psychischen Parallelprocess ablaufen. Hierher gehoren erstens alle Eeflexe und zweitens alle automatischen Acte. Der oben erwahnte Sohlenreflex ist das einfachste Beispiel eines Eeflexes. Einer der com- plicirtesten ist z. B. folgender von Goltz beim Frosch beschriebener Eeflex. Hat man einem Frosch das Grosshirn weggenommen und be- rfihrt nun die Cornea mit einer Staarnadel, so tritt zuerst nur einfacher reflectorischer Lidschluss ein. Wiederholt oder verstarkt man aber die Eeizung, so schlagt das Thier die Nadel mit dem Vorderfuss der gleichen Seite fort. Bei weiterer Steigerung des Eeizes wird Eumpf und Kopf nach der entgegengesetzten Seite gewandt. Schliesslich , bei ofterem

Z i e li e n , Psycliiatrie. 1

2

Einleitung.

unci immer intensiverem Kciz bewegt sich das grosshirnlose Thier vora Platze. Hier begegnen wir complicirten Reflexbewegungen von hochster Zweckmassigkeit und Coordination, und doch febit ein psycbisclier Parallel- vorgang. Dem entspricht denn auch die Thatsache, dass aucb das grosshirnlose Thier solche Bewegungen noch ausfiilirt. Noch complicirter und doch gleichfalls, ohne psychischen Parallelprocess sind die automa.- tischen Acte. Wenn ich einen Frosch so operire, dass ich ihra die Gross- hirnrinde wegnehme, aber den Sehliiigel lasse, und ihn nun wdeder durch Sticbe mit der Staarnadel zum Forthiipfen bringe, so beobachtet man, dass dieser Frosch sogar Hindernissen, die man ihm in den Weg stellt, ausweicht. Der Unterschied gegeniiber den Reflexen liegt auf der Hand. Bei dem Reflex lost ein Reiz eine Bewegung aus, deren weiterer Ablauf unabanderlich ist. Bei dem automatischen Act lost ein Reiz (z. B. die Beriihrung der Staarnadel) eine Bewegung aus, welche in ihrem weiteren Ablauf durch intercurrente neue Reize (z. B. das in den Weg gestellte Hinderniss) modificirt wircl; der weghiipfende Frosch weicht dem Hinderniss aus. Diese Modificirbarkeit durch intercurrente Reize ist fiir die automatischen Acte characteristisch. Auch diese auto- matischen Acte sind ohne psychischen Parallelprocess, und dem entspricht wiederum die Thatsache, dass grosshirnlose Thiere wofern nur der Sehliiigel erhalten ist solche Bewegungen noch ausfiihren.

Bewegungen mit psychischem Parallelprocess bezeichnen wir als Handlungen; zuweilen gebrauchen wir auch die ausfiihrlichere Bezeich- nung „bewusste Haudlung", „willkurliche Handlung^^ oder „Willenshaud- lung^h Die Handlung ist dadurch charakterisirt, dass fiir den Ausfall und Ablauf einer Bewegung nicht nur der anfangliche Reiz und spatere intercurrente Reize, sondern namentlich intercurrirende Vorstellungen d. h. Erinnerungsbilder friiherer Reize entscheidend sind. Ein ein- faches Beispiel ist folgendes. Ein Freund geht an mir voriiber. Dieser optische Reiz lost bei mir eine Griissbewegung aus. Diesen Vorgaug bezeichnet man als Handlung. Die Bewegung wircl hier offenbar nicht allein durch die Reize des Augenblickes bestimmt. Ware die Gestalt nicht diejenige meines Freundes, so wiirde derselbe optische Reiz keine Griissbewegung auslosen, sondern ich wiirde achtlos weiter gehen. Aber es ist mein Freund; derselbe optische Reiz hat schon ofter auf mich gewirkt, und von cliesem vielmaligen friiheren Sehen ist ein Erinnerungs- bilcl zuriickgeblieben. So kommt es, class, wenn ich den Freund jetzt sehe, die Erinnerung in mir auftaucht, dass es mein Freund ist, und dies Auftauchen des Erinnerungsbilcles beclingt es , class geracle die Griissbewegung erfolgt und nicht eine beliebige anclere Bewegung. Das bestimmende Dazwischentreten eines Erinnerungsbilcles charakterisirt die Handlung. Die Handlung ist ein materieller Process, der von psychischen

Einlcitnng.

3

Parallelvorgangeu begleitet ist. Rein materiell betrachtet, stellt sicb der Vorgang so dar: Ein peripberer Reiz Rp (die Gestalt des Freundes) lost eine corticale Erregung Rc (im speciellen Fall eine Erregung der Sebspbare, d. b. der Occipitalrinde) aus. Diese Erregung wird nicbt direct in das motoriscbe Gebiet der Hirnrinde iibertragen, um bier eine beliebige Bewegung auszulosen, sondern zunacbst gelangt die Erregung auf Associationsfasern zu denjenigen Rindenelementen, in welcben die Residuen friiberer abnlicber Rindenerregungen (bei friibereni Seben des Freundes) abgelagert sind. Erst nacbdem diese Elemente in Erregung versetzt worden sind, gelangt die Erregung in die motoriscbe Region und zwar zu ganz bestimmten Elementen derselben, namlicb denjenigen, deren Erregung nun im Muskelapparat die Griissbewegung auslost. Psycbologiscb betracbtet, entspricbt der Rindenerregung Rc die Empfin- dung E (die Gesicbtsempfindung oder das Seben des Freundes). Der Erregung der Rindenelemente , in welcben die Residuen friiberer abn- licber optiscber Reize niedergelegt sind, entspricbt die auftaucbende Erinnerung, dass es mein Freund ist, oder, wie man kiirzer sagen kann, das Erinnerungsbild oder die Vorstellung des Freundes, Dies auf- taucbende Erinnerungsbild bestimmt nun die Bewegung, d. b. icb griisse den Freund. Die Handlung lasst sicb also in folgender Reibe darstellen; Reiz Empfindung Vorstellung Bewegung.

Bei den meisten Handlungen scbiebt sicb zwiscben Empfindung und Bewegung nicbt eine einzige einfacbe Vorstellung ein, sondern zablreicbe und zum Tbeil sebr comj)licirte Vorstellungen. Icb sebe z. B. eine Rose in einem fremden Garten steben. An diesen Reiz und die von ibm ausgeloste Gesicbtsempfindung der Rose scbliessen sicb eine grosse Reibe von Vorstellungen an. So taucbt z. B. die Vorstellung des scbonen Duftes der Rose in mir auf, dann stelle icb mir vor, wie scbon die Rose in meinem Zimmer sicb ausnebmen wiirde, dann, dass sie fremdes Eigentbum ist, dass ibr Pfliicken mb’ Strafe zuzieben kbnnte u. dgl. mebr. Erst nacbdem diese ganze Reibe von Vorstellungen ab- gelaufen ist, erfolgt die Handlung, und zwar, je nacbdem die erstge- nannten Vorstellungen oder die letztgenannten intensive!* sind, pfliicke icb die Rose oder gebe meines Weges weiter. Diese ganze Vorstellungs- reibe, welcbe sicb zwiscben Empfindung und Bewegung einscbiebt, be- zeicbnet man als Ideenassociation. Auf die Empfindung E folgt die Vorstellungsreibe V^ V2 V3 u. s. f. oder die Ideenassociation, und das Resultat derselben ist die Bewegung oder die Handlung s. str., B. Wie sicb scbon aus dem soeben angefiibrten Beispiel ergiebt, tendiren die einzelnen auftaucbenden Vorstellungen oft zu sebr verscbiedenen Bewegungen, z. B. tbeils zum Pfliicken der Rose, tbeils zum Weiter- geben. Die starkeren Vorstellungen siegen, d. b. bestimmen die Hand-

1*

4

Einleitung.

lung. Insofern kann man die Ideenassociation auch als das Spiel oder den Kampf der Motive bezeichnen.

Den materiellen Parallelprocess fiir die ganze Deihe E Vi Vg . . . , B stellt man sich der Einfacbheit wegen zunaclist am besten so vor, dass der Eeiz Rp zunachst eine Empfindungszelle erregt, dass die Erregung dann von dieser der Reihe nach auf mebrere Erinnerungszellen mittelst Associationsfasern iibergebt und scbliesslicb, abermals mittelst einer Asso- ciationsfaser, auf eine motoriscbe Zelle der sog. motorischen Region iiber- tragen wird, um bier die Scblussbewegung auszulosen. Freilich lebrt die pbysiologische Psycbologie, dass in der Regel der Vorgang viel com- plicirter ist: der Empfindung E entspricht ein Erregungsvorgang nicht in einer, sondern in vielen Riudenzellen. Ebenso ist das Auftauchen einer bestimmten Vorstellung fast stets mit einem materiellen Erregungs- vorgang in vielen Riudenzellen verkniipft und endlich erfolgt auch die schliessliche Uebertragung der Erregung in das motoriscbe Gebiet nicbt auf eine einzige Ganglienzelle, sondern auf eiuen ganzen Complex von Zellen. Aucb ist bei dem gegebenen Schema immer im Auge zu be- balten, dass die Annabme, Empfindungs- und Vorstellungsprocesse fanden gerade in den Ganglienzellen statt, zwar viel Wabrscbeinlicbkeit bat, aber nicbt bewiesen ist.

Enter diesen Vorbebalten diirfen wir kiinftig die Reibe E Vi Vg . . . B als das Schema jedes psycbiscben Processes betracbten und einen mate- rielleu Parallelprocess annebmen, welcber von den Empfindungszellen zu den Vorstellungszellen und von diesen zu den motorischen Zellen mittelst der Associationsfasern der Hirnrinde fortscbreitet. Dabei ist zu be- acbten, dass der Erregung der motorischen Zellen selbst, also dem B, ein psycbiscber Parallelprocess nicbt entspricht. Mit der letzten Motiv- vorstellung ist die psycbiscbe Reibe abgescblossen. Dann erfolgt die Uebertragung der Erregung in die motoriscbe Region obne psycbiscben Parallelprocess. Wenn icb z. B. einen gesebenen Gegenstand mit der Hand ergreife , so lebrt die Selbstbeobacbtung uber diesen Vorgang Folgendes. Zuerst tritt die Gesicbtsempfindung des Gegeustandes, E, auf. Dann folgen eine Reibe Vorstellungeu, so z. B. namentlicb zum Schluss die entscbeidende Vorstellung gewisser Annebmlicbkeiten, welcbe den Besitz des Gegeustandes begleiten. Feblen bemmende Vorstellungeu, so erfolgt nun die Uebertragung in das motoriscbe Gebiet und damit die motoriscbe Innervation obne psycbiscben Parallelprocess. Erst nacb- traglicb unterricbtet micb die Bewegungsempfindung , welcbe von der Muskelcontraction durcb Reizung peripberer Nervenendigungen bervor- gerufen wird , davon , dass die Bewegung wirklicb stattgefuudeu bat. Im Leben des Erwacbseneu andert sicb dieser Tbatbestand nur insofern zuweilen, als sicb vor der Bewegung die Bewegungsvorstelluug eiuschiebt.

Einleitung.

5

Bevor ich nach dem Gegenstand greife, schwebt mir einen Augenblick die Vorstellimg dieser Greifbewegung vor oder, wie wir es popular aus- driicken, ;,icb nebme mir die Greifbewegung vor^b Diese Bewegungsvor- stellung ist nicbts anderes als das Erinnerungsbild frliberer Bewegungs- empfindungen. Nur durcb diese letzteren ist mir iiberbaupt die Be- wegung bekannt. Ibnen verdanke icb es, dass icb mir eine Bewegung meines Korpers oder meiner Glieder vorstellen kann, und diese Vorstellung gebt der bewussten Bewegung oft voraus. Die psycbiscbe Beibe wiirde sicb in diesem Falle folgendermaassen darstellen: E, V^, Vg, V3, . . . V^ew, B.

Alles psycbiscbe Gescbeben lasst sicb auf dies Schema zuruckfiibren. Bleibt B (resp. V^ew und B) aus, weil bemmende Vorstelbmgen iiber- wiegen, so reducirt sicb die Ideenassociation auf Empfinden und Nacb- denken. Liegt ausserdem E sebr weit zuriick, so scbeint die Vorstellungs- reibe Vj Vg etc. ganz isolirt dazusteben. Man spricbt dann von ein- facbem Nacbdenken oder Denken. Alles dies sind nur Specialfalle der Ideenassociation, welcbe in unserem Schema entbalten sind. Es ergiebt sicb bieraus, dass nur zwei psycbologiscbe Elemente existiren, namlicb Empfindungen und Vor stellungen. Der einzige Process, der mit beiden arbeitet, ist die Ideenassociation. Das Product der- selben ist die Hand lung. Die sog. Seelenvermogen, welcbe die altere speculative Psycbologie unterscbied, existiren nicbt. Speciell ist die An- nabme eines besonderen Willensvermogens, welches liber der Ideenasso- ciation scbweben und „willkurlicb‘' diese oder jene Bewegung innerviren wiirde, iiberflussig und irreleitend. Ebenso iiberflussig ist aucb die nocb jetzt von Vielen getheilte Annabme einer besonderen Apperception, welcbe ibre „Aufmerksamkeit^' willkiirlicb bald dieser bald jener Vorstellung oder Empfindung zuwenden und so den Gang der Ideenassociation be- stimmen soli. Vielmebr folgen die Vorstellungen aufeinander nacb be- stimmten Gesetzen obne Dazwiscbentritt eines besonderen willkiirlich scbaltenden Seelenvermbgens, und aucb die scbliesslicbe Bewegung ist das notwendige Kesultat dieser Ideenassociation. Endlicb existirt aucb kein besonderes Gefiiblsvermogen , vielmebr ergiebt eine genaue Untersucbung, dass unsere Gefiible der Lust und Unlust niemals isolirt, sondern stets gebunden an Empfindungen und Vorstellungen, d. b. als Eigenschaften der letzteren auftreten.*)

Wir werden daher aucb der Betracbtung der patbologischen psycbi- scben Processe das oben erorterte Schema zu Grunde legen und in jedem Fall zuerst die Storungen der Empfindungen, dann die Stbrungen der Erinnerungsbilder oder Vorstellungen, dann die Storungen der Ideen-

*) Hierbei wie in alien Fragen der normalen Psycbologie verweise icb auf meinen Leitfaden der pbysiologischen Psycbologie. Jena, G. Fischer 1893. 2. Aufl.

6

Einleitung.

association imd schliesslich den Einfluss dieser Storungen auf die Be- wegungen resp. Handlungen des Kranken untersuchen..

Daraiis, das alle die obengenannten Processe, Empfindung, Vor- stellung, Ideenassociation, Handlung in der Hirnrinde sich abspielen, ergiebt sich, dass die Psychiatrie einen Abschnitt und zwar den wich- tigsten der Lehre von den Hirnrindenerkrankungen bildet. Keine Psychose ohne Rindenerkrankung. Die der Psycbose zu Grunde liegende Rindenerkrankung ist meist eine functionelle , d. h. unseren seitherigen Untersuchungsmethoden ist der pathologisch-anatomische Nacbweis der Rindenveranderung bei vielen Psychosen noch nicht ge- lungen. Nur bei einer kleinen Zahl von Psychosen, so z. B. bei der sog. Dementia paralytica oder „Gehirnerweichung“ des Laien lasst sich eine organische Erkrankung der Hirnrinde nachiweisen. Oft ergiebt in diesen Fallen schon der makroskopische Anblick eine Verschmalerung der Rinde, jedenfalls 'weist aber in Uebereinstimmung mit unseren obigen Voraussetzungen die mikroskopische Untersuchung einen ausgedehnten Untergang von Ganglienzellen und Associationsfasern in der Hirn- rinde nach.

Jede Rindenerkrankung bedingt eine gewisse Stbrung des psychi- schen Processes. Diese Storung hat bald den Charakter eines Herd- symptoms, bald deutet sie auf eine diffuse Erkrankung. So kann durch eine Erkrankung der Rinde des Occipitallappens an bestimmter Stelle der ausschliessliche Wegfall aller Gesichtsempfindungen ohne irgend welche andere Stbrung bedingt werdeu. Hier hat die psychische Stbrung den Charakter eines Herdsymptoms. Bei den Psychosen im engeren Sinne ist meist die psychische Stbrung keine so isolirte, vielmehr be- theiligen sich an derselben die Empfindungen und Vorstellungen aller Rindenbezirke. Die meisten Psychosen im engeren Sinne beruhen somit auf sehr ausgebreiteten diffusen Rindenerkrankungen theils organise hen, theils functionellen Charakters.

A. Allgemeine Psychopathologie.

I. Allg*emeine Sjmptomatolog’ie.

a. Die Storungen der Erapfindimg.

Die Emp fin clung ist das erste Glied des psychischen Processes Die normale Empfindung entsteht stets durch einen ausseren Keiz, welcher auf die Endausbreitung irgend eines sensiblen oder sensoriscben Nerven wirkt. In seltenen Fallen lost aucb ein auf die peripbere Nerven- babn wirkender Keiz eine Empfindung aus. So bewirkt z. B. ein Stoss Oder Druck auf den N. ulnaris am Ellenbogen eine eigentbiimliche Empfindung im ganzen Ausbreitungsgebiet des Nerven. Jede Em- pfindung bat 4 Haupteigenscbaften. Die erste ist die Qualitat der Empfindung: die Empfindung des Tones c und des Tones cis, des Rotben und des Siissen etc. sind samtlich mebr oder weniger qualitativ ver- schieden. Ein zweites Merkmal jeder Empfindung ist ibre Intensi- ty t. Icb kann denselben Ton c lauter und leiser boren. Befeucbte icb meine Zunge mit einer immer intensiveren Zuckerlosung, so wacbst die Intensitat der Empfindung, obne class ibre Qualitat sicb andert. Eine dritte Eigenscbaft jeder Empfindung ist ibr G e f ii b 1 s t o n. J ede Em- pfindung ist von einem mebr und weniger starken Lust- oder Unlustgeflibl begleitet. So ist z. B. die Empfindung des Accordes c cis von einem deutlicben Unlustgefiibl oder negativen Gefublston begleitet, wabrend die Empfindung des Accordes c e von einem starken Lustgefuhl oder posi- tiven Gefublston begleitet ist. Endlicb kommen viertens jeder Empfin- dung raumliche Eigenscbaften zu, insofern jede Empfindung an eine bestimmte Stelle des Kaumes projicirt wird. Diese raum- licbe Projection gewinnt eine ganz besondere Bedeutung bei dem Ge- sicbtssinn des Auges und dem Beriibrungssinn der Haut, indem wir die von nebeneinander liegenden Punkten der Haut und der Retina ber- riibrenden Empfindungen in der gleicben raumlicben Anordnung aucb nacb aussen projiciren.*)

*) Pathologische Storungen dieser raumlicben Projection durcb psycbische Erkran- kung sind kaum bekannt. Es wird also von dieser Projection im Folgenden nur bei- laufig gesprocben werden.

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Die StOrungen der Erapfindung.

Die vier soeben aufgefiibrten Eigenschaften der Empfindung pflegt man dadurch zu bezeicbnen, dass man zu E die Indices q, i, a und r binziifiigt. Die Empfindung mit alien ibren Merkmalen wiirde also als Eqiar zu bezeicbnen sein. Wir besprecben zunachst die Intensitats- storimgen der Empfindung.

a. Intensitatsstorungen der Empfindung.

Die Intensitat einer Empfindung hangt bei dem gesunden Menscben in ganz gesetzmassiger Weise von der Intensitat des Reizes ab, welcher die Empfindung bewirkt. Die wichtigsten bier in Betracbt kommenden Gesetze sind folgende;

1. Der Reiz muss eine gewisse Starke baben, urn eben eine Em- pfindung auszulosen oder, mit anderen Worten, es giebt untermerkliche Reize, d. b. Reize, welche zu scbwacb sind, um eine Empfindung aus-

loseu zu konnen. Derjenige Reiz, welcher eben ausreicht eine merkliche Empfindung auszulosen, wird als Reizscbwelle bezeiclinet. Fiir jede Empfindungsqu^itat existirt eine ganz bestimmte Reizscbwelle.

2. Wenn der Reiz liber die Reizscbwelle binaus wacbst, so nimmt die Empfindungsintensitat erst sebr rascb und dann immer langsamer und langsamer zu.

3. Wenn der Reiz eine gewisse Starke, die sogenannte Reiz bo be erreicbt hat, so fiibrt ein weiteres Wacbsen des Reizes keine weitere Steigerung der Empfindungsintensitat berbei, sondern letztere verbleibt auf der Kobe, welcbe der Reizbdbe entsj)racb, steben.

Alle diese Verbiiltnisse stellt die beistehende Figur libersichtlicb dar. Die Reizstarken sind als Abscissen, die Empfindungsiutensitateu als Ordinaten eingetragen. So entspricbt z. B. der Reizstlirke Ox

Die StOrungen der Empfindung.

9

die Empfindungsintensitat xy. Eg ist die Eeizscliwelle, Ei, die Eeizhohe. Die Gesamratheit aller Empfindimgsintensitaten ist durch die Kurve Ej dargestellt.

Den einfachsten Beleg fiir die Eichtigkeit dieser Gesetze gewahrt z. B. die Beobachtung eines starken Scballes, welcbem wir uns aus grosser Entfernung allmahlich annaliern. In weiter Feme horen wir von dem Schall garnichts, obwobl, wie die Physik lehrt, dock Scballwellen in imser Obr eindringen: der Eeiz ist in Edge der grossen Ent- ferniing nocb zu schwacb eine Empfindung auszulosen. Er befindet sicb unterbalb der Eeizscbwelle. Erst, wenn wir uns dem Scball auf eine bestimmte, der Eeizscbwelle entsprecbende Entfernung genabert baben, fangen wir an, den Scball zu boren. Mit der weiteren Annaberung nimmt die Intensitat der Scballempfindung zunacbst sebr rascb, dann aber immer langsamer zu. Sind wir scbliesslicb in grossere Nabe des Scballes angelangt, so tritt ein Augenblick ein, wo wir durcb eine wei- tere Annaberung die Empfindungsintensitat nicht mebr zu steigern ver- mbgen, obwobl die einfacbste pbysikaliscbe Betracbtung lebrt, dass die Eeizstarke aucb jetzt nocb mit jedem Scbritt der Annaberung wacbst. Die Empfindung ist so laut und gellend geworden, dass eine weitere Zu- nabme nicbt mebr stattfindet : die Eeiz b 5 b e ist erreicbt, die Empfindung wacbst nicbt mebr. Man bat auf den verscbiedensten Wegen versucbt, dieses eigentbiimlicbe Verbalten der Empfindungsintensitat bei zunebmen- der Eeizstarke durch eine bestimmte matbematische Formel auszudriicken. Am bekanntesten ist die sog. Fecbner’scbe Formel. Diese lautet:

Ei prop log E

wo Ej die Empfindungsintensitat und E die Eeizstarke bezeicbnet. Alle diese Formeln einscbliesslicb der F ec finer scben erweisen sicb im Ein- zelnen so baufig unzuverlassig, dass sie vorerst fiir die Pafbologie be- deutungslos sind. Die Patbologie unterscbeidet daber einstweilen nur zwei Hauptstbrungen der Empfindung, die Hypastbesien rep. Anastbe- sien und die Hyperastbesien.

Die Hypastbesien.

Als Hypastbesie bezeicbnet man die Herabsetzung der Empfindlicb- keit. Dieselbe aussert sicb darin, dass die Eeizscbwelle sebr bocb liegt und Ei im Verbaltnis zu E sebr scbwacb ist. Ist aucb die bbcbste Eeizstarke nicbt im Stande eine Empfindung auszulosen, so spricbt man von Anastbesie (= Aufbebung der Empfindlicbkeit.)

Die meisten Hypastbesien und Anastbesien, welcbe wir bei Geistes- kranken beobacbten, beruben auf Complicationen der Psycbose. Be- sonders baufige derartige Complicationen sind folgende:

1. Die tactilen Hypastbesien und Anastbesien der Hysterie.

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r>ie StSrungen der Empfindung.

Auf dem Gebiet des Beriihrungssinnes sind dieselben durch ihre eigen- thiimlicbe Lokalisation ausgezeicbnet: entweder namlich beschrankt sich die Hypastbesie auf eine Kbrperhalfte (Hemianastliesie resp. Hemi- hypasthesie) oder tritt sie in plaquesformiger Vertlieilung auf oder endlicli grenzt sie sich auf einzelnen Extremitilten ^manschettenformig^^ ab, Hilufig kommt liierzu auch eine sensoriscbe Hemihypasthesie, na- nientlich eine Hemianopsie zugleich mit concentrischer Einengung der intacten Gesichtsfeldhalften. Ageusie und Anosmie treten bald einseitig, bald doppelseitig auf.

Auch die halbseitigen Hypasthesien der Chorea minor compliciren ab und zu eine Psychose.

2. Die diffusen, aber der anatomischen Ausbreitung bestimmter Nerven entsprechenden tactilen Hypasthesien der multiplen Neuritis. Namentlich nach acuten Infectionskrankheiten , bei Syphilitikern und Alkoholisten, zuweilen auch im Senium tritt die multiple Neuritis zugleich mit einer Psychose auf.

3. Die tactilen Hyp- und Anasthesien der Tabes. Die Tabes ist sehr haufig mit Psychosen complicirt, am haufigsten mit der Dementia paralytica, und fiigt dann ihre Hypasthesien und Anasthesien zu den Symptomen der Psychose hinzu. Ausser den Stbrungen der Beriihrungs- und Temperaturempfindlichkeit kommt hier die Sehstorung durch die tabische Opticusatrophie*) sowie die seltenere Hbrstorung durch tabische Acusticusatrophie in Betracht. Ebenso wie die Tabes fiihrt auch die multiple Sklerose und die mutiple Syphilis des Centralnervensystems ofter zu einer ausgesprochenen Psychose und theilt derselben alsdann ihre schwankenden plaquesweisen Hypasthesien mit.

4. Die sensible!! und sensorischen Ausfallserscheinungen in Folge einer Herderkrankung an irgend einer Stelle des Verlaufs einer sen- siblen oder sensorischen Bahn. Jede Herderkrankung des Gehirns kann gelegentlich z. B. durch Fernwirkung auf das Organ der Psyche, die Hirnrinde eine Psychose hervorgerufen. Letztere erscheint als- dann complicirt mit den sensiblen oder sensorischen Hypasthesien der Herderkrankung.

Alle die soeben aufgefuhrten Hypasthesien und Anasthesien sind mehr beilaufige Complicationen der Psychose als Symptome der Psychose selbst. Ob ausser solchen complicirenden Hypasthesien auch essentielle, durch die Psychose als solche bedingte Hypasthesien vor- kommen ist zweifelhaft. Bei denjenigen Psychosen, welche wie Stupi- ditat, Melancholie und manche Formen des neurasthenischen Irreseins

*) Beilaufig sei an dieser Stelle auch an die Intoxicationsamblyopien erinnert, welche z. B bei Alkoholisten in Folge retrobulbarer Neuritis auftreten.

Die Storungen der Empfindung.

11

nocli am ersten essentielle Hypasthesien erwarten lassen konnten, ist in Folge des kranldiaften Gebahrens der Kranken eine exacte Bestimmimg der Reizscbwelle und Messiing der Empfindungsstarke nicht moglicb. Wenn solcbe Hypastbesien wirklicb existiren sollten, so sind sie dock jedenfalls vorerst diagnostisch bedeutungslos.

Die Hyperasthesien.

Aucb diese sind zunacbst haufig nur die Symptome complicirender Neurosen. So kann z. B. die Hemihyperasthesie*) der Hysterie oder die allgemeine Hyperastbesie einer beginnenden tuberkulosen Meningitis bei einer bysteriscben odei\ meningitiscben Psycbose binziikoinmen In viel engerer Beziebung znr Psycbose selbst stebt die Hyperastbesie der Kranken mit neurastheniscbem Irresein. Von dem Neurastheniker wird ein leicbter Licbtscbein zuweilen schon als blendend empfunden. Er nimmt Geriicbe wabr, welcbe der Gesunde wegen ibrer geringen Starke nicbt wabrnimmt. Hier scbeint in der That die Eeizscbwelle patbologiscb berabgesetzt.

Ausser der Neurastbenie zeigen nocb zablreicbe andere Psycbosen Hyperastbesie sowobl tactile wie optiscbe (Hyperaestbesia retinae) wie acustiscbe (Oxyacoia). Namentlicb jugendlicbe Kranke zeigen ungemein haufig solcbe Hyperasthesien. Ferner sind die Prodromalstadien vieler Psycbosen, so z. B. der Manie, der acuten Paranoiaformen, oft von Hyperasthesien dieses oder jenes Sinnesgebietes begleitet. Aucb die Reconvalescenz (z. B. von der Manie) kann Hyperasthesien zeigen. Fast ausnabmslos ist diese Hyperastbesie an bestimmten Punkten der Korper- oberflacbe bei starkerem Druck besonders ausgesprochen. Man bezeichnet solcbe Punkte als Druckpunkte. Sie entsprecben zum Tbeil bestimmten Nervenstammen , so z. B. der Supraorbital-, Infraorbital- und Mental- punkt, zum Tbeil wissen wir ibre Localisation nocb nicbt sicber zu erklaren; zu letzteren gebort z. B. der Valleix’scbe Punkt fiber dem Jocbbeinfortsatz, der Ibacalpunkt, dessen Druckempfindlicbkeit bei dem weiblicben Geschlecbt falscblicb als Ovarie bezeichnet wird, die Inter- costalpunkte, die Dornfortsatze der Wirbelsaule, deren Druckempfindlicb- keit aucb als Spinalirritation bezeichnet wird,**) die Scbadelnabte, der Mammalpunkt u. s. f. Bei Besprecbung der Hyperalgesien wird auf diese Druckpunkte nocbmals zurfickzukommen sein. Ein werthvolles objec- tives Zeicben der in Rede stebenden Hyperastbesie bietet in vielen Fallen die Steigerung der Hautreflexe.

*) Auch hyperasthetische Plaques kommen bei Hysterie gelegentlich vor.

**) Eine raassige Druckempfindlicbkeit der Dornfortsatze des Interscapularraumes ist iibrigens auch bei vollig gesunden Individuen ab und zu anzutreffen.

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Die Stflrungen der Empfindung.

(3. Storungen des Gefiihlstons der Empfindung.

Unter clem Gefiihlston der Empfindungen versteht man, wie oben erwahnt, das die Empfindung begleitende Lust- oder Unlustgefiihl. Das Lustgefubl wird aucb als positiver, das Unlustgefiihl als negativer Ge- fiililston bezeicbnet. Das Vorzeichen des Gefiihlstons und die Starke desselben bangt zunachst ganz wesentlicb von der Qualitat der Empfindung und somit aucb von der Qualitat des Reizes ab. Der Accord c cis erzeugt eine Empfindung mit starkem negativen Gefiibls- ton Oder, wie wir gewbhnlicb sagen, wir empfinden ibn als Disso- nanz. Der Accord c d erzeugt eine Empfindung mit scbwacherem negativen Gefiiblston. Der Accord c f ist von deutlicbem Lustgefubl,

2.

also positivem Gefiiblston begleitet, der Accord c e von sebr viel star- kerem Lustgefiibl u. s. f. Diese Abbangigkeit des Gefiiblstons der Empfindung von der Empfindungsqualitat ist bei Psycbosen selten ge- stort. Nur gelegentlicb findet man namentlicb bei hysterischen Psycbosen eine Umkebr der Gefiihlstdne, vermdge deren z. B. Disso- nanzen als angenebm, Consonanzen als unangenebm, widrige Geriicbe als angenebm, Woblgeriicbe als unangenebm empfunden werden u. s. f, Man kann diese Storungen als Paralgesien resp. Parbedonien bezeicbnen. Die sog. „Geliiste" in den leicbt psycbopatbiscben Zustanden mancber Graviditiit geboren zum Tbeil bierber. Besonders wicbtig sind aucb die Parbedonien auf dem Gebiet der Sexualempfindung. Sie aussern sicb namentlicb darin, dass nicbt der Umgang mit Personen des anderen Gescblecbts, sondern Umgang mit Personen des gleicben Gescblecbts Sexualempfindungen mit positivem Gefiiblston, also Wollustgefiible ber- vorruft. Man bezeicbnet diese Abnormitat aucb als contrare Sexual- empfindung oder contriires Sexualgefiibl.

Viel bedeutsamer fiir die Psycbopatbologie als diese Abbangigkeit des Gefiiblstons von der Empfindungsqualitat ist die Abbangigkeit

Die Storungeii der Einpfiiulung.

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fles Gefillilstons von der Empfindungsintensitat. Fiir den Geistesge- sunden gilt hier folgendes Gesetz. Jede Empfindung ist bei schwacber Intensitiit (also in der Nabe der Reizscbwelle) mit positivem Gefiiblston verkniipft. Je niebr die Empfindungsintensitat wacbst, desto starker wil’d ziinficbst dieser positive Gefiiblston. Erst wenn die Empfindungs- intensitat eine gewisse Kobe erreicbt bat, welcbe auf der beistebenden Eigur der Empfindungsintensitat iw und der Reizgrbsse Rw entspricbt, tritt ein Wendepunkt in der Affectkurve ein: der positive Gefiiblston nimmt fortgesetzt ab und ist bei der Empfindungsintensitat b und der Reizstarke Ry auf den Wertb Null berabgesunken. Nebmen Reizstarke und Empfindungsintensitat nocb weiter zu, so stellt sicb ein zunebmen- der negative!’ Gefiiblston ein. Auf der beistebenden Eigur sind die positiven Gefiiblstone als Erbebungen fiber die Abscissenacbse, die nega- tiven als Senkungen unter dieselbe eingetragen. Die Kurve des Gefiibls- tons stellt sicb biernacb als eine Linie dar, welcbe bei der Reizscbwelle sicb fiber die Abscissenacbse erbebt, bei R^ ein Maximum erreicbt und dann ziemlicb steil unter die Abscissenacbse abfallt.

Scbon alltaglicbe Erfabrungen bestatigen uns die Ricbtigkeit des eben dargestellten Gesetzes. Uebelriecbende Substanzen werden, wie die Parffimfabrikation zeigt, bei genfigender Verdfinnung zu Woblgerficben, und eine sebr concentrirte Zuckerlosung erzeugt ein ausgesprocbenes Un- lustgeffibl. Dies Gesetz gilt fiir alle Empfindungsqualitaten. Ein zu in- tensives Licbt wirkt „blendend^^, ein fiberlauter Scball wird als „gellend“ empfunden, eine intensivere Berfibrung ist „scbmerzbaft". Wenn wir trotzdem mancbe Qualitaten der Empfindung, z. B. gewisse Gerficbe, im Allgemeinen entweder als angenebm oder als unangenebm bezeicbnen, so erklart sicb dies daraus, dass ffir mancbe Substanzen der Punkt R,y sebr weit von der Reizscbwelle entfernt liegt und somit ffir die meisten lutensitatswertbe der Empfindung der Gefiiblston positiv ist, wahrend ffir andere Substanzen R,y sebr nabe bei Rs liegt und mitbin das Ge- biet der positiven Gefiiblstone sebr eng begrenzt ist.

Die patbologiscben Storungen der Starke des Geffiblstons der Em- pfindungen tbeilt man ein in Hypalgesien und Hyperalgesien, Hyphedo- nien und Hyperbedonien, je nacbdem die negativen oder jiositiven Ge- ffiblstone berabgesetzt oder gesteigert sind.

Hypalgesien.

Als Hypalgesie bezeicbnet man die Herabsetzung der negativen Ge- ffiblstone der Empfindung. Ibr bocbster Grad ist die Analgesie oder Aufhebung der negativen Gefiiblstone der Empfindung. Praktiscbe Be- deutung besitzen nur die Hypalgesien und Analgesien der Berfibrungs-

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Die Storungen der Erapfindung.

empfincllichkeit, also die Herabsetzuugen der sogenannten Schmerzem- pfindlichkeit im engeren Sinne,

Aehnhch wie die Hypasthesien beruhen die Hypalgesicn und Anal- gesien, welcbe wir bei Geistesstorungen treffen, haufig nur auf Compli- cationen der Psycbose. So ist z. B. die balbseitige oder allgemeine Aualgesie bei bysteriscben Psychosen mehr ein Symptom der hyste- riscben Neurose als ein Symptom der Psychose selbst; denn die Anal- gesie besteht bei diesen Kranken aucb vor Ausbrucb und nacb Abklingen der hinzugekommenen Geistesstbrung ganz in derselben Weise. Aehnliches gilt auch z. B. von den tabischen Hypalgesien und Analgesien.

Ein engerer Zusammenhang der Hypalgesie mit der Psycbose selbst besteht namentlich in folgenden Fallen:

1. Bei dem angeborenen Schwachsinn.

2. Bei vielen Fallen des erworbenen Schwachsinns. So ist nament- lich die Aufhebung der Schmerzempfindlichkeit ein sehr friihes, cha- rakteristisches und haufiges Symptom der schon mehrfach erwalmten Dementia paralytica. Man kann bei diesen Kranken oft die intensivsten Hautreize appliciren, z. B. die Nadel bis zum Knopf einstossen, ohne dass der Kranke mehr als eine ,,leichte Beriihrung^^ empfindet.

3. Bei schweren hallucinatorischen Dammerzustanden, d. h. bei eigenthiimlichen anfallsweise auftretenden Zustanden, in welchen eine grosse Zahl von Sinnestiluschungen (Hallucinationen) und zugleich hoch- gradige Unorientirtheit besteht. Am haufigsten sind solche Dammerzu- stande bei Epileptikern und gerade bei diesen sind sie fast stets von einer fast vollstandigen Analgesie der gesammten Korperoberflache be- gleitet.

Hyp eralgesien.

Die oben erwahnte Hyper asthesie verbindet sich sehr haufig auch mit Hyperalgesie, d. h. nicht nur die Intensitat der Empfindung selbst ist in ki-ankhafter Weise gesteigert, sondern auch der negative Gefiihlston krankhaft verstarkt. Das Vorkommen der Hyperalgesie bei Psychosen deckt sich daher auch ungefahr mit demjenigen der Hyper- asthesie. Am haufigsten sind sensible oder sensorische Hyperalgesien bei dem hysterischen und neurasthenischen Irresein sowie bei Psychosen jugendlicher Individuen. Dementsprechend sind die oben erwlihuten Druckpunkte nicht nur auf Druck besonders empfindlich, sondern auch auf Druck direct schmerzhaft, zuweilen in so hohem Grade, dass die Kranken laut aufschreien.

Auch der Hungerschmerz mancher Geisteskranken, welcher zu einem jjathologischen Heisshunger (Bulimie) fiihrt, gehort hierher.

Die Storungen cler Empfindnng.

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Hyphedonien.

Hypliedonie oder krankhafte Herabsetzung der positiven Ge- fublstbne der Empfindnng ist erbeblicli seltener als Hypalgesie. Wo sie auftritt, ist sie fast stets ein Symptom der Psychose selbst. Am grbssten ist ibre Bedeutung auf dem Gebiet der Sexualempfindungen. Hier kommt zuweilen bei gewissen Geistesstorungen eiue vollige Anhedonie vor, indem die sogenannten Wollustgefiible d. li. die positiven Gefiihlstone der Se- xualempfindungen vollig fehlen. Namentlich auf dem Boden schwerer erblicber Belastung entwickelt sicb eine solcbe sexuelle Anhedonie nicht selten. Zuweilen ist sie auch ein Symptom schwerer organischer Er- krankungen des Centralnervensystems, z. B, der Tabes oder der De- mentia paralytica. Auch manche chronische Intoxicationen (Alkohol, Morphium, Cocain) bedingen haufig eine krankhafte sexuelle Anhedonie oder Hyphedonie.

Auch auf dem Gebiet der Hungerempfindungen spielt die Hyphe- donie bei Psychosen oft eine erhebliche Kolle: es kommt zu einer psy- chisch bedingten Appetitlosigkeit oder Anorexie. Letztere kann so er- heblich sein, dass es zu vollstandiger Nahrungsverweigerung kommt.

Hyp erhedo nien.

Krankhafte Steigerungen der positiven Gefiihlstone der Empfindnng bezeichnet man als Hyperhedonien. Am haufigsten sind solche wieder- um auf dem Gebiete der Sexualempfindungen. Die Hyperhedonie aussert sich hier in der Kegel darin, dass unmittelbar nach der sexu- ellen Befriedigung die sexuelle Libido sofort wiederum und zwar haufig noch gesteigert erwacht. Anderweitige reine Hyperhedonien sind selten.

Mit den soeben aufgezahlten Hypalgesien und Hyperal- gesien, Hyphedonien und Hyperhedonien sind die Storungen der Starke des Gefuhlstons der Empfindungen noch nicht er- schopft. Ausser dem Gefiihlston namlich, welcher den Empfindungen selbst ganz unabhangig von den an die Empfindung gekniipften Vor- stellungen zukommt, iibertragen auch die an eine Empfindung gekniipften Vorstellungen ihren Gefiihlston auf die Empfindung. So erregt z. B. oft eine Landschaft trotz geringer Schonheit ihrer Linien und Farben Lust- gefiihle vermoge der Vorstellungen, z. B. der angenehmen Erinnerungen, welche sich an dieselbe kniipfen. Der Vorgang ist hier otfenbar folgender: ich habe an dem betreffenden Ort ein angenehmes Erlebniss gehabt, d. h. Empfindungen mit starken positiven Gefiihlstonen , z. B. einen Freund gefunden. Sowohl von der Oertlichkeit wie von der Begegnung

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Die Storungen der Empfindung.

des Freimdes bleiben Erinnerungsbilder in mir zuriick. Das Erinne- ruugsbild der Landschaft ist zunachst von keinem positiven Gefublston begleitet, sondern nur das Erinnerungsbild des Freundes. Weil aber das Sehen der Landschaft und das Begegnen des Freundes gleich- zeitig stattfand, iibertragt sich der positive Gefiihlston des letzteren auch auf das Erinnerungsbild der Landschaft. Man bezeichnet dies als die Irradiation der Gefiihlstone. Die Folge dieser Irradiation ist, dass, wenn ich die Landschaft zum zweiten 'Mai sehe, diese Gesichtsempfindung der Landschaft von einem deutlichen positiven Ge- fiihlston begleitet ist. Dieser Gefiihlston, welchen die Empfindung nur den mit ihr associirten Vorstellungen verdankt, wird auch als „reflec- tirter oder secuudilrer Gefiihlston der Empfindung" bezeichnet. Diese reflectirten Gefiihlstone spielen in der Psychopathologie eine grosse Rolle. Bei vielen Psychosen tritt namlich ein krankhaftes Ueberwiegen entweder der positiven oder der negativen Gefiihlstone der Vorstellungen auf. So entsteht eine krankhafte traurige Verstimmung oder Depression (z. B. bei der sog. Melancholie) und eine krankhafte heitere Verstim- mung oder Exaltation (z. B. bei der sog. Manie). Die pathologischen Stimmungen im Bereich des Vorstellungslebens theilen sich auch den Gefiihlstonen der Empfindungen riickwirkend mit, und so entstehen reflectu’te secundilre Lust- und Unlustgefiihle der Empfindung. Der Melancholische z. B. fiihlt zwar den Wohlklang der Consonanz noch ebenso wie den Missklang der Dissonanz die primaren Gefiihlstone der Empfindung sind in der Regel gar nicht veriindert , aber der Wohlklang der Consonanz maoht ihm in Folge der allgem einen negativen Gefiihlsbetonung des Vorstellungslebens keine Freude: entweder er ist gleichgiiltig („das Herz ist wie zum Stein geworden" sagt der Kranke) oder er empfindet den Wohlklang sogar schmerzlich. Der Maniakalische andererseits fiihlt die Dissonanz zwar noch als Missklang, den Stich noch als Schmerz, aber die allgemeine positive Gefiihlsbetonung seines Vor- stellens tauscht ihn fiber Missklang und Schmerz hinweg. In sehr charakteristischer Weise erzahlte mir z. B. eine junge Maniakalische mit einem cariosen Zahn lachend von ihren „gottlichen Zahnschmeizen .

Auf diese secundaren Storungen des Geffihlstons der Empfindungen wird wegen ihrer besonderen Wichtigkeit spater bei Besprechung dei Storungen der intellectuellen Gefiihlstone und der Stimmungsanomalien ausffihiiicher zurfickzukommen sein.

y. Qualitative oder inhaltliche Storungen der Empfindung.

Die Qualitat oder der Inhalt einer normalen Empfindung ist dui'cli den peripheren Reiz bestimmt. Auf die periphere Nerveuausbieitung wirkt ein Reiz R und erzeugt in den peripheren Nervenausbreitungen

Die Stijrungen der Empfindimg.

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erne Erregimg, die wir als Ep bezeichnen. Diese Erregung wird ziir Hirnrinde fortgepflanzt imd lost dort eine Erregung Rc aus. Der Er- regung Ec entspriclit die Empfiudung E. Im Allgemeinen ist Ec von dem Rp qualitativ niclit verscbieden, und insofern bietet die Empfindung E ein treues Bild des Reizes R. Nur wenn ein inadilquater Reiz die periphere Nervenausbreitung trifft, weicbt das Rc von dem Rp ab und entspricbt dann aucb E dem R inhaltlicb nicht. So sind z. B. fur den Sebnerv die Aetherscbwingungen des Lichts und fiir den Hornerv die Molekiilschwingungen^ des Scballes der adaquate Reiz. Lassen wir auf den Seb- oder Hornerv einen inadaquaten Reiz wirken, also einen mecbaniscbeu Reiz oder einen elektriscben Reiz, so tritt allerdings aucb eine Licbt- oder Scballempfindung auf. Driicken wir z. B. von der Seite auf unseren Augapfel und zerren dadurcb die Sebnervendigungen der Netzbaut, so seben wir einen bellen Licbtring. Ebenso lost gal- vaniscbe Reizung des Sebnerven eine Licbtempfindung, galvaniscbe des Hornerven eine Klangempfindung aus. Hier entspricbt das Rc offenbar dem Rp nicbt, der mecbaniscbe Reiz resp. der elektriscbe Reiz erfiibrt in der Hirnrinde gemiiss dem Gesetz von der specifiscben Energie der Sinnesnerven eine Umwandlung, derzufolge der mecbaniscbe und elek- triscbe Reiz als Licbt oder Scball empfunden wird. Die Empfindung E tauscbt uns einen Reiz R vor, der garnicbt vorbanden ist. Diese qualitative Falscbung der Empfindung im Sinn des Gesetzes von der specifiscben Energie spielt aucb in patbologiscben Fallen zuweilen eine Rolle. Der mecbaniscbe Druckreiz einer Geschwulst, welcbe die Babn des Olfactorius, Acusticus etc. comprimu’t, kann „subjective^^ Gerucbs- empfindungen oder Gebbrsempfindungen erzeugen. Diese durcb inada- quate Reize ausgelosten subjectiven Empfindungen sind bei dem Geistes- gesunden durcb sebr elementare, einfacbe Bescbaffenbeit ausgezeicbnet: meist bandelt es sicb um einfacbe Licbtblitze oder Glockenlauten etc.

Bei dem Geisteskranken sind die qualitativ en Storungen in dem Ver- baltniss von E und R viel mannigfaltiger und complicirter. Man unter- scbeidet 3 Formen solcber qualitativen Storungen der Empfindung, namlicb

1. Die secundiii’en Sinnesempfindungen: bei diesen lost ein Reiz Pi eine vollig entsprecbende Empfindung E aus, zu dieser Empfindung tritt jedoch eine zweite Empfindung auf einem andereu Sinnesgebiet obue irgend welcben entsprecbenden Reiz biuzu.

2. Die Hallucinationen: R feblt vollig und trotzdem tritt eine Empfindung E auf.

3. Die Illusion en: R ist vorbanden und lost nur eine Empfin- dung auf dem entsprecbenden Sinnesgebiet aus, diese Empfindung aber entspricbt dem ursacblicben Reize R nur tbeilweise, sie ist gegeniiber der normalen Empfindung tran sf or mirt.

Ziehen, I’sychiatrie. 2

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Die StOnuigen dor Empfindung.

Secundare Sinnesempfindungen , Hallucinationen und Illusionen werden aiich uuter dem Sammelnamen ;,Sinnestauschungen^ zu- sammengefasst.

1. Secundare Sinnesempfindungen.

Ira Jalire 1873 berichtete ein junger Philologe naraens Nuss- bauraei ira Wiener arztlichen Verein iiber eigenthiiraliche Selbstbe- obacbtungen. Er und sein alterer Bruder batten seit friibester Jugend die raerkwiirdige Eigenscbaft, dass bei ibnen rait jeder norraalen Ton- empfindung sicb je eine bestimrate Farbenerapfindung verband. Wurde ibra auf dera Harraoniura ein bestimrater Ton angegeben, so gab er fiir denselben Ton stets dieselbe Farbenerapfindung an, obwobl er nicbt einraal die Tone selbst ricbtig wiederzuerkennen verraocbte. Diese Farbenerapfindungen waren ira Kindesalter so lebhaft und iiberrascbend, dass er bei einera Ton oft in laute Bewunderung nicbt fiber diesen, sondern fiber die Scbonbeit der secundar erapfundenen Farbe ausbracb und sicb dadurch Spott seitens seiner Eltern und fibrigen Gescbwister zuzog. Je nacbdera ein Ton auf diesera oder jenera Instrument gespielt wurde, also die Klangfarbe verscbieden war, trat eine bestimrate Nfian- cirung der secundaren Farbenerapfindung auf. Ein Wiener Nervenarzt erklarte dies Verhalten ffir psycbopathisch und raabnte Nussbaumer zur Vorsicht. Diese Besorgniss . erwies sicb als unbegrfindet : Nuss- baumer ist bis zum beutigen Tage gesund geblieben.

Spatere Forscbungen baben gelebrt, dass abnlicbe secundare Sinnes- empfindungen auch sonst gelegentlicb bei geistesgesunden Individuen, baufiger aber bei Geisteskranken auftreten. Allen diesen secundaren Sinnesempfindungen ist gemeinsam, dass ein Reiz ausser der Empfindung auf dem entsprecbenden Sinnesgebiet nocb eine weitere Empfindung auf einera anderen Sinnesgebiet auslost: die letztere, die Secundarempfin- dung, wird gewissermaassen binzuballucinirt. Der normale Menscb kann wobl durcb einen Trompetenton an die Farbe „gelb" oder durcb den Anblick des Feuers an das Gerauscb des Knisterns erinnert werden. In beiden Fallen vermitteln Vorstellungen die Verknfipfungen, und nur das nicbt sinnlicb lebbafte Erinnerungsbild des Gelben oder des Knisterns taucbt in uns auf. Bei den secundaren Sinnesempfindungen bestebt die Abnormitat darin, dass die primare Empfindung direct wieder eine sinnlicb lebbafte Empfindung auslost. Eine Analogie ffir die secundaren Sinnesempfindungen bietet die Irradiation der Scbmerz- empfindung, welcbe z. B. von einera caribsen Zabn ausgebend sicb scbliesslicb fiber die ganze Kopfbalfte ausbreiten kann. Was bier auf dem Gebiet eines Sinnes stattfindet, fiudet bei den secundaren Sinnes- empfindungen von einera Sinnesgebiet auf ein anderes bin statt.

Die Storungen der Empfindung.

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Unter den secundaren Sinnesempfindimgen sind Pliotismen, d, h. secundare Licht- resp. Farbenempfiudungen , am haufigsten. Diese Pliotismen konnen die verschiedensten Primarempfindungen begleiten. Meist werden sie von einer Gehors- oder Berubrnngsempfindung ausge- Ibst, Im Allgemeinen werden belle Photismen durcb hobe Tonempfin- dungen oder durcb scbarfbegrenzte Berubrungsempfindungen (kleine, spitzige Gegenstande) erzeugt. Im ersteren Falle spricbt man von Scballpbotismen, in letzterem von Berubrungspbotismen. Rotbe, gelbe, blaue und braune Farben berrscben vor. Zuweilen ist nicbt die Ton- bo be bestimmend fiir die Farbe der secundaren optiscben Empfindung, sondern jedem Vokal der menscblicben Spracbe ist eine bestimmte Farbenempfindung zugeordnet. *) So gab mir z. B. eine Geisteskranke folgende Farbenassociationen an:

Normale Primarempfindung

a

e

i

0

u

Secundarempfindung (obne entsprecbenden Reiz) gelb weiss blau rotb scbwarz

Die Dipbtbonge erscbienen ibr in Miscbfarben.

Bei einer anderen Kranken loste das Horen gewisser Zablworte Secundarphotismen aus und zwar

die Gebbrsempfindung 3 die Secundarempfindung bellgriin

4 rotb

5 gelb

9 orange.

Fiir die iibrigen Zablen waren die Pbotismen nicbt ganz deutlicb. So Ibste z. B. die Gebbrsempfindung 7 eine aus Dunkelgriin und Rotbbraun gemiscbte Secundarempfindung aus.

Bei derselben Person ist die Qualitat der secundaren Licbt- resp. Farbenempfindung fiir eine bestimmte Primarempfindung stets dieselbe, bei verscbiedenen Personen bingegen oft verscbieden. So baben z. B. andere Personen bei dem Hbren des Vokals o nicbt die Empfindung „rotb“, sondern die Empfindung „gelb^^ etc.

Erbeblicb seltener sind Pbonismen, d. b. secundare Scball- oder Gerauscbempfindungen. Man kann dieselben in Licbtphonismen und Be- rubrungspbonismeu eintbeilen, je nacbdem die Primarempfindung eine optiscbe oder tactile ist. Hobe Pbonismen werden meist durcb belle

*) In Frankreich bezeicbnet man dies sebr cbarakteristiscb als Audition colorde.

2*

20

Dio StOrungen dor Empfindung.

Lichtempfinclungen oder scharfbegrenzte Beriihrungsempfindungen hervor- gerufen. Die meisten Plionismen haben Gerauscliqualitat.

Bie Localisation der secundaren Sinnesempfindung ist meist durch diejenige der Primarempfindung bestimmt. Scliallpliotismen , d. li. durch Tonempfindungen inducu^te Lichtempfindungen, werden also in der Regel in das Horfeld der primaren Schallemplindung, die seltenen Geschmacksphotismen meist an die betreffende Stelle. der Mundhbhle, Geriichsphotismen in die Umgebiing des riechenden Korpers oder in die Nase localisirt. Seltener ist die Projection in das Innere des Kopfes,

Der Gefiihlston der Secimdarempfindung ist von demjenigen der Primarempfindung zuweilen unabhangig: es kann also z. B. der unan- genehme Gefiihlston einer Primarempfindung von einem angenehmen Ge- fiihlston der Secundarempfindung gefolgt sein.

Weitaus in der Mehrzahl der Falle tritt die Secundarempfindung annahernd gleichzeitig mit der Primaremjifindung auf; in seltenen Fallen schiebt sich ein Intervall von einigen Secunden ein.

Das Vorkommen solcher secundaren Sinnesempfindungen bei Ge- sunden ist iiusserst beschrankt. Auch bei Geisteskranken sind sie keineswegs haufig, Mitunter liisst sich bei den mit secundaren Sinnes- empfindungen Behafteten zwar keine Geistesstorung , wohl aber eine Neurose oder neuropathische resp. psychopathische Veranlagung nach- weisen. Man muss mit der Anuahme von secundaren Sinnesempfindungen sowohl bei Geistesgesunden wie bei Geisteskranken sehr vorsichtig sein; denn nur zu oft werden secundare Sinnesempfindungen von Kranken und Gesunden fingiert, urn sich interessant zu machen. Auch werden haufig secundare Sinnesempfindungen mit Vorstellungsassociationen ver- wechselt, d. h. zu der Primarenijilindung tritt nicht eine sinnlich-leb- hafte Emjifindung, sondern lediglich eine Vorstellung (z. B. zum Horen des V ocals e i die Gesichts vorstellung des W e i s s e n oder zum Horen einer Trompete die Vorstellung des Gelben).

Wo sich bei Geistesgesunden secundare Sinnesempfindungen finden, kann man nicht selten feststellen, dass mehrere Familienglieder von denselben befallen sind. Erheblichere diagnostische Bedeutung haben die secundaren Sinnesempfindungen fiir die Psychiatric bis jetzt nicht.

2. Hallueinationen.

Eine Hallucination ist eine Sinnesempfindung ohne iiiisseren Reiz. R fehlt vollstilndig und doch tritt ein Rc und dementsprechend ein E, eine Empfindung auf. Der Hallucinant sieht Gestalten am klaren, wolkenlosen Himmel und hbrt Laute bei absolute!' Stille etc.

a. Qualitat der Hallueinationen. Hallueinationen treten auf

Die Storungen cler Empfindung.

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alien Sinnesgebieten anf imd zeigen auf jeclem clerselben gewisse Be- sonderbeiten.

Die Gesicbtshallucinationen oder Visionen kommen in den mannigfaltigsten Formen vor. Die einfacbsten besteben in deni Seben von Funken, Licbtern, Flammen- oder Licbtscbein, Fiiden, Nebeln nnd Scbatten. Die complicirtesten stellen ganze Landscbaften nnd Personen init alien Details dar. Bald sind sie vollig farblos, ,,scbemen- oder silbouettenbaft", wie gebildete Kranke sicb aiisdriicken, bald zeigen sie so namentlicb bei Alkobolisten nnd Epileptikern die lebbaftesten nnd grellsten Farben. Ancb die Bestimmtbeit der Umrisse scbwankt im Einzelnen sebr. Bald erscbeinen sie mebr flacbenbaft, „als Gemalde", bald ebenso plastiscb wie die wirklicben Dinge. Die Zabl der balln- cinatoriscb gesebenen Objecte wecbselt sebr. Znweilen erfiillt ein Ge- wimmel von Gestalten (z. B. Tbieren) das ganze Gesicbtsfeld , so namentlicb bei alkobolistiscben Psycbosen. In anderen Fallen, speciell bei bysteriscben Psycbosen, tritt eine Menge von Gestalten ansscbliesslicb in einer Halfte des Gesicbtsfeldes anf, meist gerade in deijenigen, welcbe einem bemianopiscben Defect entspricbt. Oefter nocb erscbeinen die ballncinatoriscben Gestalten mebr vereinzelt. Diese einzelnen balln- cinatoriscben Gestalten baben znweilen „Kiesengrosse^^, z. B. bei epilep- tiscben Psycbosen. In anderen Fallen stellen die Visionen „Miniatnr- bilder^^ dar. Am banfigsten baben sie natiirlicbe Grosse. Bald er- scbeinen sie dicbt vor den Angen des Hallncinanten, bald in weitester Entfernnng. Die wirklicben Gegenstande werden von den Visionen bald vollig verdeckt, bald „scbeinen sie dnrcb die visioniiren Bildnngen dnrcb^^ In seltenen Fallen beobacbtet man, dass die Hallucination die Ver- dopplnng oder Vervielfacbnng eines wirklicben Objectes darstellt (balln- cinatoriscbe Diplopie nnd Polyopie).

Die Gebor sballncinatione n oder Akoasmen in ihrer elemen- tarsten Form besteben in allerband Geriinscben, Sansen, Ziscben, Klingen, Donnern, Fliistern, Lanten etc. Die complicirteren Akoasmen besteben ans Worten. Bald bort sie der Hallncinant im natiirlicben Ton, bald bocb bald tief. Oft nnterscbeidet er nacb der Klangfarbe der Stimme verscbiedene zn ibm redeude Personen. Ancb nnterscbeidet er Weiber-, Manner- nnd Kinderstimmen. Bald bort er einzelne Worte, wie z. B. Hiilfernfe, bald ganze Satze nnd selbst Keden nnd Gespracbe. Bald sind die Akoasmen gellend lant, banfiger leise nnd selbst, wie die Kranken sicb ansdrucken, „fast nnborbar leise". Fordert man den Kranken anf, mit seiner Stimme die ballncinatoriscben Stimmen nacbznabmen, so er- klart derselbe nicbt selten, das sei ibm nicbt moglicb: die Stimmen batten einen „ganz nbernatiirlicben Klang". In anderen Fallen gleicben die ballncinatoriscben Stimmen bis anf alle Einzelbeiten wirklicben

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Die Stdrungen der Empfindung.

Stiiiiineii, und vermag der Hallucinant sie mit mehr oder weniger Ge- schick nachzuahmen. Gelegentlich werden statt gesprochener Worte auch Melodien ohiie Worte und selbst ganze Orchesterstiicke gelidrt. Bald werden die Akoasmen in weite Entfernung verlegt, bald bebauptet der Kranke, die Stimme schreie oder fliistere ibm unmittelbar in das Ohr. Selten giebt der Kranke ausdriicklich an, er bore die Stimmen auf einem Obr, meist bort er sie durcbaiis symmetriscb auf beiden Obren.

Gescbmacksballucinationen im strengen Sinne des Wortes sind isolirt sebr selten. Die pbysiologiscbe Psycbologie lebrt namlicb, dass nur 4 Gescbmacksqualitaten, Bitter, Siiss, Salzig, Sauer, existiren und dass der sog. Gescbmack vieler Speisen darauf berubt, dass im binteren Tbeil der Mundboble Speisetbeilcben verdamj)fen und so in die Nasenboble gelangen, wo sie Gerucbsempfindungen ausldsen. In der Psycbopatbologie pflegt man diese Gerucbsempfindungen, welcbe die Ge- schmacksempfindungen s. str. begleiten, mit zu den Gescbmacksempfin- dungen in weiterem Sinne zu recbnen. Die enge Verscbmelzung, welcbe zwiscben diesen Gerucbsempfindungen und den eigentlicben Gescbmacks- empfindungen stattfindet, rechtfertigt die Zurecbnung und erklart auch, dass in Krankheitsfallen die entsprecbenden Hallucinationen gemeinbin ver- bunden auftreten. Solche Gescbmacksballucinationen in weiterem Sinne sind sebr baufig. Die Kranken geben an, dass sie plotzlich einen Gescbmack nacb Koth oder Blut etc. in der Mundboble empfanden u. dergl. m.

Isolirte Gerucb shall ucinationen sind sebr baufig. Geriicbe nacb Pecb, Scbwefel, Bauch, Kotb, Scbweiss, Chloroform und anderer- seits nacb Bosen und anderen Blumen treten in grosserer oder geringerer Intensitat auf.

Beriibrungsballucinationen (baptische Hallucinationen) kom- men auf der ganzen Hautoberfiacbe vor. Nicbt selten werden auch die Beriibrungsempfindungen in das Innere des Korpers (Scbleimbaute etc.) verlegt. Bald empfindet der Kranke einen plotzlicben Scblag oder Stick oder einen Kuss oder eine unsicbtbare Umarinung, bald empfindet er auf der ganzen Korperoberflacbe ein Netz von Spinneweben oder elek- triscbe Scblage oder das Herumlaufen unsichtbarer Tbiere oder „Zwerge“. Die Mannigfaltigkeit dieser baptischen Hallucinationen ist ungemein gross und mit dieser Aufzahlung in keiner Weise erscbopft. Ein Kranker mit Verfolgungswabn empfand, wie auf seinen Spaziergiingen eine un- sicbtbar vor ibm bergebende Person fortwahrend mit ibrer Ferse auf seine Fussspitze trat. Derselbe fiiblte dfter auf seiner Mundscbleimbaut, wie ein klebriger Brei auf dieselbe gescbmiert wurde. Andere Kranke fiihlen, wie menscbliche Kbrper (namentlicb von Kindern und Personen des anderen Gescblecbtes, oft auch von Tbieren) zu ibnen in ibr Bett gelegt werden. „Icb bin ganz eingebettet in warines Fleiscb^ erzablte

Die Stfirungen cler Empfinclung.

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mir ein Hallucinant. Ueberhaupt tritt zu cler ballucinatoriscben Be- riihrungsempfinclimg nicht selten aiicli eine hallucinatorische Warme- oder Kalteempfindiing hinzu. Eine besondere Bedeutung beansprucben aucb die Beruhrungsballucinationen auf sexuellem Gebiet. Es kommt bier zu vollstandigen Cobabitationsballucinationen, d. b. es treten alle die zablreicben die Cohabitation begleitenden haptiscben Empfindnngen

oft einschliesslicb der begleitenden Gefiihlstone ballucinatorisch

auf. Der mittelalterlicbe Hexenglaube spracb bei solchen Kranken von Succubus und Incubus, inclem er die unsichtbare Cohabitation vom Teufel ausgeben Hess. Aucb allerband Misshandlungen der Genitalien werden oft ballucinatoriscb empfunden.

Den Berubrungsballucinationen nabe verwandt sind aucb die ball u- cinatoriscben Organempfindungen. Geisteskranke klagen oft uber die eigenthumbcbsten Empfindungen in diesem oder jenem Korper- organ, so namentbcb uber eigentblimbcbe Verlagerungen, Bewegungen und Umgestaltungen der Eingeweide, obne class aucb die peinbcbste Untersucbung irgendwelcbe peripbere Keizquelle aufzuweisen vermocbte. Bei Besprecbung der illusionaren Organempfindungen wird bierauf zuriickzukommen sein.

Bewegungsballucinationen sind ballucinirte Bewegungsem- pfindungen. Die Empfindung der passiven und activen Bewegung unseres Korpers oder eines Korpertbeils ist sebr zusammengesetzt, wabrscbein- bcb entstammt sie vorwiegend der Gelenksensibbtat. Wie jecle an- dere Empfinclung konnen aucb cliese passiven Bewegungsempfinclungen ballucinatorisch, cl. b. obne ausseren Keiz auftreten. So geben mancbe Kranke an, class sie plotzbcb sicb in die Luft geboben fiiblen oder plotz- bcb die Empfinclung baben, als clrebe sicb ihr Kopf nacb recbts oder links. Weiter unten wird zu erortern sein, welcben eigenthiimbchen Ein- fluss diese hallucinirten Bewegungsempfindungen auf die Bewegungen soldier Kranken baben. Zuweilen kommen solcbe Bewegungsballucina- tionen aucb auf clem Gebiet cler Spracbmuskulatur vor. Durcb die Con- traction unserer Lippen-, Zungen-, Gaumen- und Keblkopfmuskeln beim Sprecben werden, wie durcb andere Bewegungen, gleichfalls sensible Nerven- encligungen gereizt und so Bewegungsempfindungen erzeugt. Aucb cliese Sprecbbewegungsempfinclungen werden gelegentbcb ballucinirt. Der Kranke bat dann die Empfinclung, „als ob er ein bestimmtes Wort ausspracbe^^ Zusammengesetzte Hallucinationen. Mitunter besclirankt sicb die jeweibge Hallucination auf ein Sinnesgebiet, oft jeclocb ver- einigen sicb Hallucinationen mebrerer Sinnesgebiete zur Vortauscbung eines realen Objectes. So kommt es allerclings vor, class die visionaren Gestalten stumm sind und bocbstens die Lippen lautlos bewegen, und class die Stimmen unsicbtbar bleiben. Etwa ebenso oft aber vereinigen

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Die Storiingen der Empfindung.

sicli Vision unci Akoasma, cl. li. die visionare Gestalt spriclit hdrbar zu dein Kranken, die Stimnie „erscheint^^ ilim. Ja zuweilen kommt noch eine tactile Hallucination hiuzu: der Kranke fiihlt, wie die zu ihrn re- clencle, seinen Augen sichtbare Gestalt ibn aiicb anfasst. Geracle solcbe zusainmengesetzten Hallucinationen sincl von der Wirklicbkeit fiir den Kranken kaum mebr zu unterscheiclen. Sebr baufig verkniipfen sicb aucb die Bewegungsballucinationen niit anderen Hallucinationen, namentlicb mit tactilen: der Kranke fiiblt nicbt nur, wie sein Kopf unwillkurlich be- wegt wil'd, sonclern er fiiblt aucb die Beriibrung der Hand, welclie diese Bewegung vermeintlicb an ibm ausfiibrt. Die Zabl clieser combinii’ten Hallucinationen ist ausserorclentlicb gross. Hiiufig lasst sicb im Verlauf einer Psycbose beobacbten, wie allmablicb ein Sinnesgebiet nacb clem anderen binzutritt, urn sicb bei clem Aufbau solcber zusammengesetzten Hallucinationen zu betbeiligen. Monate lang fiiblt die Kranke z. B. zunacbst nur den Dolcbstich an einer bestimmten Korperstelle, spater

siebt sie aucb die den Dolcbsticb ausfiibrende feincllicb sicb iiber sie beugende Gestalt unci scbliesslicb bort sie aucb ibre Drobworte.

b. Gefiiblston der Hallucinationen. Wie die normalen Empfinclungen babeu aucb die ballucinatoriscben Empfinclungen ibre Ge- fiiblstone, meist sincl die Gefiiblstone der Hallucinationen sogar besonclers stark. Hallucinationen gleicbgiiltigen Inbalts sincl verbaltnissmassig selten.

c. Localisation der Hallucinationen. Scbon bei Besprecbung der Qualitat der Hallucinationen wurcle erwabnt, class die ballucinato-

riscbe Empfindung vom Kranken bald in seine unmittelbare Nabe bald in grossere Entferuung projicirt wircl. Diese raumlicbe Projection findet nacb ganz clenselben Gesetzen statt, wie cliejenige der normalen Em- pfinclungen. Begleitencle Bewegungsvorstelluugen liegen ibr zu Gruncle. Im allgemeiuen pflegeu die Hallucinationen clann, wenn sie im Verlauf der Krankbeit zu scbwinclen begiuuen, nicbt nur seltener unci leiser zu werclen, sonclern aucb in grossere Entfernung projicirt zu werden. Bei Scbielenclen werden die ballucinatoriscben Objecte zuweilen cloppelt ge- seben. Zuweilen treten aucb bestimmte visionare Gestalten immer an einer bestimmten Stelle des Gesicbtsfelcles auf. Aucb bei Akoasmen be- obachtet man zuweilen abnlicbes: so bort z. B. ein Kranker stets eine freundlicbe Stimme in sein recbtes, eine feincllicbe in sein linkes Obr sprecben. Bewegt der Ilallucinant seine Augen, ocler clrebt er den Kopf, so folgen die visiontiren Objecte baufig seiuem Blick. Bei Kranken mit Nystagmus kommt mitunter ein fortwabrencles Hiu- unci Herscbwanken der ballucinatoriscben Gestalten vor. Die Localisation von Geborsballu- cinationen wircl clurcb Kopfdrebungen meist nicbt beeinflusst.

In mancben Fallen werclen die Hallucinationen aucb in das Innere des eigenen Korpers verlegt. So kannte icb einen Kranken, der im

Dio Storungen dor Empfindung.

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Innern seines Brustkorbes, mitnnter auch im Innern seines Kopfes com- plicirte Visionen (Baume mit Tenfelsgesichtern) zu baben angab. Viel baufiger ist classelbe bei Geborsballucinationen. Der Kranke bort die Stimme oft im Kopfe oder in der Brustboble oder im Leib sprecben, sogar in einzelne Finger verlegt der Kranke zuweilen seine Akoasmen. Mitnnter sind ancb anderweitige Reize nnd mit diesen verkniipfte Vor- stellnngen flir die Localisation der Hallucinationen maassgebend. So ist der Geborsballucinant gern geneigt, seine Stimme in den Scbornstein, Ventilationslocber etc. zii verlegen. Diese Localisation ist meist eine se- cundare. Anfangs ist die Localisation solcber Akoasmen eine ganz an- dere oder unbestimmt gewesen ; weil aber der Hallncinant den Sprecber nicbt siebt nnd docb deutlicb bort, bildet er sicb die Vorstellung, der- selbe sei z. B. im Ventilationsscbacbt verborgen. Diese Vorstellung be- stimmt nun die Localisation aller folgenden Akoasmen. Aucb sensible Reize kbnnen gelegentlicb flir die Localisation von Akoasmen direct maassgebend sein: so kommt es vor, dass Kranke die Stimmen an der- jenigen Partbie des Abdomens boren, welcbe Sitz neuralgiscber oder anderweitiger Scbmerzen ist.

d. Entstebungsbedingungen. Scbliesst der Gesicbtsballuci- nant seine Augen, so findet man baufig, dass die Visionen kurzere oder langere Zeit verscbwinden. Umgekebrt giebt es Kranke, bei welcben der Augenscbluss notbwendige Vorbedingung flir das Auftreten von Visi- onen ist. Ebenso wirkt der Verscbluss der Obren bei dem einen Hallu- cinanten steigernd, bei dem anderen abscbwacbend auf die Akoasmen. In vielen Eallen ist der Abscbluss ausserer Reize iiberbaupt obne Einfluss. Hiermit bangt aucb die weitere Beobacbtung zusammen, dass mancbe Gebors-Hallucinanten in der Stille der Nacbt oder der Einzelbaft be- sonders lebbaft balluciniren, wabrend andere leise wirklicbe Gerauscbe boren miissen, damit neben diesen nocb Akoasmen auftreten.*) Ebenso treten die Visionen bei dem einen Kranken vorwiegend im objectleeren Gesicbtsfeld (im Dunkel, am leeren Himmel etc.), bei dem anderen vor- wiegend mitten unter zablreicben wirklicben Objecten auf.

Gleicbzeitige Einwirkung wirklicber Reize auf andere Sinnesgebiete scbwacbt baufig die Hallucinationen momentan ab. So kann ein plotz- liches Gerauscb eine Vision und ein interessantes Bild ein Akoasma momentan verdriingen. Sebr viel seltener ist es, dass umgekebrt ein wirklicber Reiz auf einem andern Sinnesgebiet notbwendig ist, um die

*) Man bezeichnet solche Hallucinationen auch ala functionelle Hallucinationen. Von den Illusionen sind dieselben dadurcb unterschieden, dass bei der Illusion das wirklicbe Gerauscb selbst zu der Geborstauscbung wird, also in ihr aufgebt, wabrend bei der functionellen Hallucination neben und ausser dem wirklicben Gerauscb, zu-. weilen sogar an einer anderen Stelle des Kaumes, das Akoasma gohort wird,

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Die Stfirungen der Empfindung.

Hallucination liervorzurufen. So batte eine Kranke regelmassig unci ausschliesslich claim, wenn sie ein Messer ocler eine Scheere sab, die faktile Hallucination, class in ibre Finger gescbnitten wercle. Diese Beriibrungs- tauscbung war bei ibr so lebbaft, class sie sinnlos auf die Person, welcbe die Scbeere ocler das Messer in der Hand bielt, einscblug. Das Be- wusstsein, class es sicb uni eine Tauscbung handle, feblte ibr vollkommen. Man bat diese Hallucinationen aucb als Reflexballucinationen bezeicbnet. Von den secundaren Sinnesempfindungen unterscbeiclen sicb clieselben dadurcb, class sicb zwiscben die normale Primarempfindung unci die Hallucination nocb eine Vorstellung, z. B. in clem mitgetbeilten Fall die Vorstellung des Scbneidens, einscbiebt.

Von grossem Einfluss auf das Zustandekominen der Hallucinationen ist bei vielen Kranken aucb die sog. Aufmerksamkeit. Viele Kranke bbren Stimmen, sobald sie binborcben, sei es, class der Arzt sie dazu aufforclert, sei es, dass sie selbst von den Stimmen etwas erfabren wollen. Andere seben Gestalten, sobald sie den Blick auf einen be- stimmten Raumpunkt beften. Die Anspannung des Accommoclations- apparates des Auges unci des Obres lost bier die Sinnestauscbung aus. Hierauf berubt es, dass viele Kranke, wie man es auszudriicken pflegt, „willkiirlicb'^ balluciniren konnen.

Grosse Wicbtigkeit in diagnostischer und prognostiscber Beziebung bat encllicb die Frage, •side weit die Hallucinationen dem augenblicklicben Vorstellungsinbalt des Kranken entsprechen. Keine Hallucination des Kranken ist eine vollige Neuscbopfung. Die Kranken balluciniren nur, was sie friiber einmal empfunclen baben und was also in Gestalt von Erinnerungsbilclern ocler Vorstellungen in ibrer Hirnrinde vorbanden ist. Freilicb kommt es oft genug vor, class die Kranken Gesicbter seben, die ibnen ganz unbekannt sincl, und Silbencombinationen boren, die ibnen friiber nie vorgekommen sincl unci cleren Sinn ibnen selbst ratbselbaft ist. Aber aucb in diesen Fallen ist die Hallucination keine vollige Neu- schopfung, sie bat nur neue Combinationen partieller Erinnerungsbilcler friiberer Empfinclungen gescbaflfen. Die combinatoriscbe Tbiitigkeit, clurcb welcbe wir aus Brucbstiicken von Erinnerungsbilclern neu zusammen- gesetzte Vorstellungen bilden, bezeicbnen wir bei clem Gesunden als Pbantasie. Bei dem Gesunden ist die Pbantasie nicbt sinnlicb lebbaft: unsere Pbantasievorstellungen bleiben eben Vorstellungen. Bei clem Hallii- cinanten erlangen sie sinnlicbe Lebbaftigkeit ocler, mit ancleren Worten, werden sie zu Empfinclungen. Ebenso wie die Pbantasievorstellungen des Gesunden keine volligen Neuscbopfungen, sonclern nur neue Combi- nationen alter Erinnerungsbilcler sincl, so sincl aucb die Hallucinationen trotz ibrer gelegentlicben Fremclartigkeit in letzter Linie stets auf Er- innerungsbilder wirklicber Empfindungen zuruckzufubren. Hiermit bangt

Die St5rangen der Empflnclung.

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es auch zusammen, class bei cleu Blindgeborenen niemals Visionen, bei den Tanbgeborenen niemals Akoasnien anftreten, wabrend er- w or bene Blindheit und Tanbheit Hallucinationen keineswegs ausscbliesst.

Unser Gebirn enthalt zabllose Vorstellnngen oder Erinnerungsbilder. Die meisten derselben sind latent cl. h. im Augenblick lecliglicli als ina- terielle Spuren obne psychiscben Parallelprocess in meiner Hirnrinde vorbanden, imd nnr einige wenige sind im Angenblick actuell vorbanden, namlicb cliejenigen, an welcbe icb wie wir es popular ausdrilcken im Augenblick gerade denke. Man kann nun mit Vortbeil die Hallnci- nationen eintbeilen in solcbe, welcbe clem jeweiligen augenblicklicben Be- wusstseinsinbalt, also den actne lien Vorstellnngen, inbaltlicb entspiecben, und solcbe, welcbe zu dem augenblicklicben Bewusstseinsinbalt gar keine Beziebung baben, sonclern vielmebr aus latenten, z. Tb. balbvergessenen Erinnerungsbilclern, sei es in alten Combinationen, sei es in neuen Combi- uationen bervorgeben. Wir bezeicbnen die ersteren als vermittelte oder begleitencle Hallucinationen, die letzteren als nnvermittelte Hallucinationen. Die vermittelten Hallucinationen sind meist weniger sinnlicb lebbaft, namentlicb weniger bunt nnd scbarf begrenzt, resp. laut nnd cleutlicb als 'die unvermittelten. Entsprecbend dem steten Wecbsel des Bewusstseinsinbalts sind sie sebr veranclerlicb, wabrend die unvermittelten Hallucinationen oft durcb grosse Bestancligkeit sicb ans- zeicbnen. Die vermittelten Visionen deutet der Kranke gern dabin, class „all sein Denken alsbalcl in Scene gesetzt wercle^^ Die vermittelten Akoasmen bezeicbnet er oft geradezu als eiu „Nacbsprecben^^ oder „Laut- werclen'' seiner Geclanken. Aucb von „Mitklingen“ sprecben die Kranken zuweilen. Gerade diese vermittelten Akoasmen werden besonclers baufig in der eben angegebenen Weise in das Innere des eigenen Korpers, nament- licb des eigenen Kopfes verlegt. Die Klangfarbe der Akoasmen ist in cliesen Fallen meist sebr unbestimmt, ziiweilen entspricbt sie derjenigen der eigenen Stimme des Kranken, seltener entspricbt sie einer fremden Stimme.

Haufig stellen die vermittelten Hallucinationen keine einfacbe Wieder- bolung der augenblicklicben Vorstellnngen des Kranken clar, sondern sie steben nnr in nnverkennbarer Beziebung zu cleu letzteren. Namentlicb gilt dies von den Akoasmen. Die Stimmen macben Randglossen zu den Gedanken des Kranken. Ein Patient verglicb sie geradezu mit dem Cbor der griecbiscben Tragbdie. In vielen kommt es zu vollstancligem Frage- und Antwortspiel zwischen dem Kranken und seinen Stimmen. Dabei ist der Kranke zuweilen liber das Treffende der ballucinirten Be- merkungen erstaunt. So kenne icb einen Kranken, der regelmassig Italieniscb trieb; wenn er sicb Vocabeln abborte, so kam es zuweilen vor, class er ein Wort nicbt wusste oder falsch sagte, und die Stimme ibm das ricbtige Wort zurief.

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Die Storungen der Empfindung.

Bei Kranken mit vermittelten Hallucinationen lassen sich haufig auch neue Hallucinationen durcli Suggestion (oline Hypnose) liervorrufen resp. vorhandene Hallucinationen inhaltlich beeinflussen. Es geniigt zu- weilen, dass man solclien Kranken einen bestimmten Gegenstand zeigt oder nennt und so die den Gegenstand entsprechende Vorstellung her- vorruft: die durcli Suggestion angeregte Vorstellung lost alsbald Halluci- nationen, welche zu dem betreffenden Gegenstand in Beziehung stelien, aus. Hierber gehort auch die sog. „willkurliche^^ Erzeugung einer bestimmten Hallucination durch lebhaftes Denken an die entsprechende Vorstellung.

Handelt es sich um Kranke mit Wahnvorstellungen, so gestalten sich etwaige vermittelte Hallucinationen mit besonderer Vorliebe im Sinne dieser Wahnvorstellung,

Die unvermittelten Hallucinationen sind dem Kranken selbst haufig iiberraschend. Die abliegendsten Erinnerungsbilder aus friiher Kindheit konnen plotzlich Hallucinationen auslosen. Die Seltsamkeit in der Combination partieller Erinnerungsbilder zu scheinbaren Neuschdpfungen versetzt den Kranken mitunter geradezu in Erstaunen fiber seinen un- geahnten Phantasiereichthum. Bei vielen Kranken kommen fibrigens vermittelte und unvermittelte Hallucinationen neben einander vor. Auch existiren fliessende Uebergange zwischen beiden.

e. Einfluss der Hallucinationen auf den Ablauf der I deen association. Die wichtigste Frage ist hier, ob die Hallucina- tion von dem Hallucinanten als wirkliche Empfindung acceptirt wird Oder nicht. Es sind in dieser Hinsicht 3 Falle zu unterscheiden.

1. Der Hallucinaut nimmt ffir seine Hallucination einen ausseren Reiz an, gerade so als ob sie eine normale Empfindung ware.*)

2. Der Hallucinant unterscheidet seine Hallucinationen zwar von den gewohnlichen, durch aussere Reize hervorgerufenen Empfindungeu, misst ihnen aber doch entscheidende Bedeutung zu und wird in seinen Schlfissen und Handlungen von denselben beeinflusst. Der Hallucinant fasst die Hallucination in diesem Fall gern als gottliche Offenbarung auf.

3. Der Hallucinant ist sich der subjectiven Entstehung seiner Hallucinationen bewusst und zwar erkennt er in ihnen dann meist richtig die Erzeugnisse einer krankhaft erregten Phantasie, zuweilen ffihrt er sie auch auf Vergiftungen zurfick, welche seine vermeintlichen Feinde bei ihm versucht haben.

Das sub 1 und 2 angeffihrte Verhalten ist am haufigsten bei solchen Hallucinationen, welche auf mehreren Sinnesgebieten gleichzeitig auf- treten. Beschranken sich die Hallucinationen auf ein einziges Sinnes- gebiet, so hangt es von ihrer Intensitat, ihrer Haufigkeit, ihrer Be-

*) Dabei ist nicht ausgeschlossen, dass der Kranke die Hallucination als ein „Gaukelwerk“ oder „Theater“ auffasst, welches ihm „vorgemacht wird“.

Die Storungen der Empfindung.

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zielmng zu den actuellen Vorstellungen ab, ob der Hallucinant der Tauschnng iinterliegt oder nicht. Wenu Halliicinationen jahrelang be- steben, so ist es, auch bei Beschrankung anf ein Sinnesgebiet, Regel, dass der Kranke schliesslich die Kritik verliert und an die Realitat seiner Halliicinationen glaubt.

Ist der Hallucinant von der Realitat seiner Hallucinationen liberzeugt, so ist der Einfluss der letzteren anf sein Denken und Handeln fast stets ein iibermacbtiger. An sich ware es ja durcbaus nicbt noth- wendig, dass der Hallucinant z. B. einer Stimme, welcbe ibm zu essen verbietet, auch wenn er dieselbe flir wirklich halt inehr glaubt und gehorcht als dem Hunger und dem Arzt, welch er ihn zum Essen auffordert, und doch lehrt eine tausendfache Erfahrung, dass der Kranke in der Regel der Stimme folgt und abstinirt, d. h. nichts isst. Die Hallu- cination erweist sich als einflussreicher als alle normalen Empfindungen und verniinftigen Ueberlegungen und Zureden. Aus dem Vorstellungs- leben entspringt die Hallucination und die Ideenassociation verleugnet ihren eignen Abkommling in der Regel nicht.

Der Einfluss der Hallucinationen auf den weiteren Vorstellungsab- lauf ist in formaler Beziehung sehr verschieden. Bald wirken die Hallucinationen hemmend, bald beschleunigend auf denselben. Im ersteren Fall spricht man von secundarer hallucinatorischer Denkhemmung (hallucinatorischem Stupor), im letzteren von secun- darer hallucinatorischer Ideenflucht. Bei einformigen schreck- haften oder religios - ekstatischen Hallucinationen liberwiegt meist die Hemmung, wahrend massenhafte heitere Hallucination im Allgemeinen ofter zu Ideenflucht flihren. Doch ist im einzelnen Fall oft schwer zu ergriinden, weshalb die vorhandenen Hallucinationen gerade Hemmung Oder im anderen Fall gerade Beschleunigung des Yorstellungsablaufes bedingen. Wenn sich die Hallucinationen sehr haufen und zugleich untereinander des Zusammenhangs entbehren, so wu’ken sie auch storend auf den Zusammenhang des Vorstellungsablaufs und bedingen eine vol- lige Verwirrtheit der Ideenassociation, welche sich namentlich in ver- wirrten Reden aussert und uns spater als secundare hallucinatorische Incoharenz eingehender beschaftigen wird. Der Kranke ist eben nicht mehr im Stande die zahlreichen zusammenhangslosen Vorstellungen, welche die massenhaften und unter sich disparaten Hallucinationen an- regen, zu einer geordneten Vorstellungsreihe zusammenzufiigen. Mit dieser hallucinatorischen Incoharenz verbindet sich in der Regel auch secundare d. h. durch Hallucinationen bedingte Unorientirtheit. Das hallucinatorische Erscheinen weit wegwohnender Personen und entfernter Landschaften stort seine zeitliche und raumliche Orientirung: er glaubt in andrer Zeit und an anderem Orte zu leben.

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Die StOrungen cler Empfindung.

Endlich beclingt die Hallucination haufig direct i n h a 1 1 1 i c h e btorungen des Denkens, d. h. Wahnideen. Eine Stimine ruft z. Ik deni Kranken direct zii: ^,Du bist Cliristus^', und fortan ist der Kranke fest von seiner Messiaswiirde iiberzeugt: er ist durcli seine Hallucination zu einer Grossenidee gekommen. Diese secundaren bal lucinatorischen Wabnvorstellungen werden spater noch ausfiihrlicher zu besprecben sein.

Aehnlich gestalten sich auch die Handlungen des Hallucinanten je nacli dem lulialt der Hallucination unendlicli verscbieden. Zunacbst malt sich die Hallucination im Gesichtsausdruck des Kranken. Das ge- spannte Hinliorchen oder plotzliche Aufhorchen des Einen verriith die Anwesenheit von Akoasmen. Der Gesicbtshallucinant starrt meist in das Deere, sein Blick wandert bin und her, ohne dass ein merklicher Gegen- stand sich bewegt. Oft beobachtet man auch ganz charakteristische Ab- wehrbewegungen, durch welche der Hallucinant unangenehme Halluci- nationen abzuwehren sucht. Der Visional- schliesst die Augen und wendet den Kopf ab, der Gehorshallucinant halt sich die Ohren zu oder ver- kriecht sich unter die Decke oder stopft Watte in die Ohren und in die Schliissellbcher. Der Geschmackshallucinant speit aus oder riihrt die ihm vorgesetzten Speisen garnicht an. Der Geruchshallucinant halt sich die Nase zu oder er schlagt plotzlich ein Fenster ein, um durch frische Luft sich von dem hallucinatorischen Qualm und Dunst zu be- freien etc. Veriveigert der Kranke Auskunft, so kann man haufig erst nachtraglich, d. h. nach Genesung des Kranken, diese Abwehrbewegungen richtig deuten lernen. So kannte ich einen Kranken, der fortwahrend niit seinem Kopf die eigenthiimlichsten drehenden Bewegungen ausfiihrte. Wahrend des Krankheitsverlaufes war eine Auskunft fiber die Motive zu dieser Bewegung nicht zu erhalten. Genesen gab der Kranke an, dass er fortwahrend einen Galgen fiber sich gesehen und eine Schlinge um seinen Hals geffihlt habe und durch die Kopf bewegung den Hals aus der Schlinge zu ziehen versucht habe. Ganz besonders bedeutend ist auch der Einfluss der hallucinirten Bewegungsempfindungen auf die Be- wegungen des Kranken. Eine hallucinatorische Bewegungsempfindung kann in doppelter Weise wirken: entweder versucht der Hallucinant durch eine gegensinnige oder, wie wir sagen wollen, compensatorische Bewegung, die vermeintliche, hallucinirte Bewegung wieder auszugleichen, oder die hallucinirte Bewegungsempfindung veranlasst ihn die vermeintliche, hallu- cinirte Bewegung auch wirklich auszuffihren. Hat z. B. der Kranke die Hallucination, dass sein Kopf plotzlich nach rechts gedreht werde, so wird er entweder durch eine energische daiiernde oder auch bfter ruckweise wiederholte Links drehung des Kopfes die vermeintliche Rechtsdrehung zu compensiren suchen, oder die hallucinirte Bewegungsempfindung wird umgekehrt gerade Veranlassung zu einer Rechtsdrehung des Kopfes.

Die StOrungen tier Empfindung.

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Warum in dem eineu Fall cliese, in clem anclern jene motorisclie Reaction stattfindet, liisst sich oft garniclit nachweisen. Man bezeiclinet diese eigen- thlimliclien Bewegungen auch als „balliicinatorisclie Zwangsbewegungen". Einen Specialfall derselben stellt das „balliicinatoriscbe Zwangssprecben'' dar: bier veranlassen die oben erwabnten ballncinirten Bewegungsem- pfindungen im Gebiet der Spracbmuskulatur den Kranken zum Aus- sprecben der Worte, deren zugeborige Muskelcontractionen der Kranke zu empfinden glaubt. In anderen Fallen sucbt der Kranke dnrcb be- stimmte Stellungen den ballncinirten Bewegungen entgegenzuwirken : man bezeiclinet dieselben als ballucinatoriscbe Zwangsstellungen. Da die Hallucinationen, welcbe solcbe Zwangsbewegungen und Zwangsstellungen veranlassen, oft stunden- und tagelang sicb in namlicber Weise wieder- bolen, so wiederbolen solcbe Kranke aucb ibre Zwangsbewegungen oft stunden- oder tagelang und verbarren fortwabrend in gewissen Zwangs- stellungen. Solcbe stereotypen ballucinatoriscben Zwangsbewegungen und Zwangsstellungen bezeicbnet man aucb als katatoniscbe.

Abgeseben von den bis jetzt betracbteten Bewegungen des Auf- merkens und Abwehrens losen die Hallucinationen aucb zablreicbe com- plicirtere Handlungen aus. Am einflussreicbsten sind in dieser Hinsicbt die sog. imperativen Hallucinationen, d. b. Stimmen, welcbe dem Kranken diese oder jene Handlung befeblen. Der eine kniet auf Befebl der Stimme nieder, der andere steckt ein Hans an, ein dritter verstlimmelt sich selbst u. s. f. In anderen Fallen liben die Hallucinationen eine motoriscbe Hemmung aus. So verbarren Kranke z. B. wocbenlang in regungsloser Riickenlage, weil eine Stimme ibnen den Tod drobt, sobald sie sicb regen. Icb kannte eine Kranke, welcbe iiber einen Monat lang den ganzen Tag regungslos auf einem Fleck stand: der Speicbel floss ibr aus den offenen Mundwinkeln, Urin imd Kotb Hess sie unter sicb geben. Spater wurde festgestellt, class sie rings zu ibren Flissen Ab- griinde sab und desbalb sicb nicbt von der Stelle riibrte. Ausser scbreck- baften Visionen konnen aucb gelegentlicb pracbtige Visionen (namentlich religiosen Inbalts) zu motoriscber Hemmung fiibren. So beobacbtet man Kranke, welcbe den Himmel often, Gott umgeben von den Engeln und Cbristus am Kreuz seben und in diesen Anblick versunken tagelang kein Glied riibren. Man bezeicbnet solcbe Hallucinationen als fascinirencle. Sind die Hallucinationen zablreich, sebr wecbselnd und von starken, namentlich positiven Gefiiblstonen begleitet, so iiberwiegt meist der be- scbleunigende Einfluss auf die motoriscben Innervationen : es kommt zu der sog. ballucinatoriscben Agitation, welcbe sicb baufig zu aus- gesprocbener Tobsucbt steigert.

f. Tbeorie des Sitzes und der Entstebung der Hallu- cinationen. Die pbysiologiscbe Psycbologie lebrt, class alle Empfln-

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Die Storungen der Empfindung.

clungen in cler Hirnrinde stattfinden , d. h, in dieser ibre inaterielleu Parallelvorgange haben, die Gesichtsempfindungen in der Sehsphare des Occipitallappens, die Geborsempfindungen in der Horspbare des Tem- porallappens u. s. f. Wir miissen daber annebmen , dass aucli die patliologiscben Emjrfindungen , die Hallncinationen, ebenda ibren Sitz haben, die Visionen in der Sehspbare, die Akoasmen in der Horspbare ii. s. f, Alle Hallncinationen sind also, was ibre Localisation anlangt, cortical.*) Eine andere Frage ist, wo her die hallucinatorischen Er- regungen stammen. Scbon aus friiberen Auseinandersetzungen ergiebt sicb, dass die Hallncinationen ibren Ursprnng in erster Linie ans nnseren Erinnernngsbildern oder Vorstellnngen nebmen. Der Anscbanlicbkeit wegen legen wir wieder das bypothetiscbe Schema zn Grnnde, welches wir in

3.

der Einleitnng anfstellten (vgl. Fig. 3). Normaler Weise erzengt ein Reiz R in der corticalen Empfindnngszelle E eine Empfindnng, nnd von dieser Empfindnng bleibt in der Erinnernngszelle V ein Erinnernngsbild oder eine Vorstellnng znriick. Normaler Weise nimmt also die Erregnng stets den Weg REV. Bei der Hallucination kebrt sicb dieser Verlanf nm. Das in V niedergelegte Erinnernngsbild, die Vorstellnng, versetzt E in Erregnng nnd erzengt bier die zngebbrige Empfindnng, d. b. da ein R feblt eine Hallncination. Dabei ist das Erinnernngsbild in V bald ein latentes, bald ein actnelles, d. b. bald liegt der Hallncina- tion eine Vorstellnng zn Grnnde, die im Angenblicke gar nicbt in nnserem Bewnsstseinsinbalt enthalten ist, bald eine Vorstellnng, an die wir im Angenblick gerade wirklicb denken. Wir nnterscbieden biernacb scbon oben nnvermittelte nnd vermittelte Hallncinationen. In Hinblick anf nnsere Fignr kann man geradezn von einem abnormen centri- fugal en Verlanf der Erregnng von den Erinnernngszellen zn den Empfindnngszellen sprecben. Hierin liegt der wesentlicbe patbologiscbe Vorgang bei jeder Hallncination. Bei vielen Hallncinationen kommt jedoch noch ein zweites Moment binzn. Es lasst sicb namlicb oft nacbweisen, dass R, also ein anf die Empfindnngszellen wirkender Reiz, nicbt vollstiindig feblt. So scbeint ja z. B. fiir die Visionen des Alko- bolisten, der allentbalben Bienen in seiner Stnbe nmberfliegen siebt, zn- niicbst R vollig zn feblen. Ein ansserer Reiz in dem gewobnlicben Sinne feblt in der That ancb, bingegen lebrt genanere Untersncbnng, dass anf dem Weg vom Sinnesorgan bis zn der Hirnrinde Reize docb

*) Die altere Theorie Schroecler van der Kollcfi, Meynerts n. a. nalmi an, dass die Hallncinationen infracortical (in den Vierhiigeln etc.) auftreten.

Die Stoningen der Enipfindung.

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vorlianden siud. Namentlich im Sinnesorgan selbst finden sich solche Reize recht liiiufig: hierher gelioren z. B. die Glaskorpertriibimgen des Aiiges iind die chrouiscli-eutziindlichen Processe des Mittelobrs. Solche eutoptische uud entotische Reize werden ausserhalb der Psychose als solche empfimden, d. h. die Glaskorpertriibungen als Mouches volantes, die Reizvorgauge ia der Paiikenhohle nach dein Gesetz voii der specifischen Euergie als einfache subjective Gerausche, Sausen, Kliugeu etc. Sobald eine Psychose ausbricht, werden aus diesen Mouches volantes umherschwirrende Bienen , aus den einfachen Ge- rauschen hallucinatorische Worte. Der Nachweis, dass in vielen Fallen den Hallucinationen solche entotische und eutoptische Reize zu Grunde liegen, liegt darin, dass sich im Krankheitsverlauf der allmahhche Uebergang der einfachen subjectiven Gerausche in Stimmen etc. und spater bei Abnahme der Krankheit die Rlickbildung der Stimmen zu Gerauschen verfolgen lasst. Auch sind Falle bekannt, in welchen die Beseitiguug eiues Paukenhohlenkatarrhs das Verschwinden der Hallu- cinationen zur Folge hatte. Fndlich erklaren sich so auch die einseitigen Hallucinationen, welche man gelegentlich beobachtet: es handelt sich hier um Kranke, welche ihre Stimmen nur auf einem Ohr horen und ihre Visionen nur auf einem Auge sehen;*) einer genauen Untersuchung gelingt es hier meist, periphere Erkrankungen in demjenigen Ohr resp. Auge nachzuweisen , welches Sitz der Hallucinationen ist. Aehnliches hat man auch auf alien anderen Siunesgebieten nachzuweisen vermocht. Zuweilen ist die Reizquelle auch nicht im Sinnesorgan, sondern centraler zu suchen. So liefert Atrophie des Sehnerven, Gehoruerven uud Riech- nerven, weit entfernt Hallucinationen auszuschliessen, geradezu mitunter das nothwendige Reizmaterial fiir die Entstehung von Hallucinationen. Auch bei multipler Neuritis hat man Aehnliches beobachtet.

Je'mehr man sich daran gewohnt, bei jedem Hallucinanten genau die peripheren Sinuesorgane zu untersuchen, um so ofter gelingt es, periphere Reizquellen fiir die Hallucinationen zu entdecken. Plait man sich streng an die anfanglich gegebene Definition der Hallucination, wonach absolutes Fehlen jvcdes Reizes gefordert wird, so waren offenbar alle die eben betrachteten Falle, insofern bei denselben ein Reiz doch nachzuweisen ist, den spater zu besprechenden Illusionen zuzurechnen. Aus praktischen Grilnden thut man dies nicht. Wollte man die Defi- nition streng aufrecht erhalteu, so miisste man bei der Schwierigkeit des Nachweises einer Erkraukung der peripheren Sinuesorgane bei Geisteskranken in sehr vielen Fallen die Entscheidung, ob Hallu-

*) Die Einseitigkeit lasst sich namentlich dann hequem nachweisen, wenn mit , dem Schluss des einen Auges (namlich des erkrankten) die Hallucinationen schwinden, wahrend Schluss des anderen Auges sie unbeeinflusst lasst.

Ziehen, Psychiatrie. 3

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Dio Stfirungen dor Erapfindung.

cination oder Illusion, in suspense lassen und auf jede Bezeichnung verzicliten. Man hat sich daher gewohnt, alle obigen Falle noch zu den Hallucinationen zu rechnen und dementsprecliend in der Definition der letzteren nur die Abwesenlieit ausserer Beize zu fordern. In der kiinftigen Darlegung soli das Wort Hallucination^^ stets in diesem weiteren Sinne gebrauebt werden. Man muss sicb dabei nur gegen- wiirtig balten, dass von den Hallucinationen in diesem weiteren Sinn ein grosser Tbeil durcb inner balb der Kdrperoberflacbe gelegene Reize gespeist vdrd. Man kann dies im Hinblick auf das oben gegebene Schema aucb folgendermaassen ausdriicken: bei jeder Hallucination ver- setzt ein krankbafter Erregungsprocess in den Erinnerungszellen die Empfindungszellen in Erregung und erzeugt so die Hallucination; er- leicbtert wird in vielen Fallen diese centrifugale Erregung der Empfin- dungszellen, wenn diese sicb sebon so wie so durcb centripetale Reize (entoptisebe, entotisebe) in einem gewissen Erregungszustand befinden.

g. Diagnose der Hallucinationen. Der gewobnlicbste An- lass fiir den Arzt, bei einem Kranken eine Hallucination anzunebmen, ist der, dass der Kranke fiber eine Sinnesempfindung , fiir welcbe aller Wabrscbeinlicbkeit nach jeder aussere Reiz gefehlt bat, beriebtet. Diese Anuabme bedarf jedocb stets einer genauen Prfifung. Es kann namlicb falscblicb eine Hallucination angenommen werden in Folge der nacb- stebenden Verwecbslungen:

1 . mit wirklicben Empfindungen : das Sebimpfwort , welches der Kranke gebort zu baben angiebt, der Seblag, den er geffiblt zu baben angiebt, ist wirklich gefallen;

2. mit Traumen: der Kranke verwecbselt ab und zu die Erlebnisse des Scblafes mit denen des Wacbens;

3. mit Illusionen : es ist tbatsachlicb gesproeben worden , ein R war vorbanden, aber der Kranke bat die Worte anders gebort,' als sie gesproeben wurden, er bat das E transformirt ;

4. mit sog. wahnbaften Auslegungen: der Kranke bat ein that- sachlicb vorhandenes R richtig d. b. obne Transformation empfunden, aber an diese normale Empfindung ganz falsche Vorstellungen gekniipft. *)

Ueber die Natur dieser versebiedenen Verwecbslungen giebt z. B. folgender Fall Auskunft. Eine Kranke beriebtet dem Arzt, sie babe in der letzten Nacbt ibre Kinder sebreien boren. Auf diese Aeusserung

*) Eine 5. seltenere Verwechslung, namlich mit den sog. Erinnerungstauschungen, wird weiter imten bei den Storungen des Denkens Erwabnnng finden. In gericht- lichen Fallen kommt weiterbin ab und zu aucb die Simulation von Hallucinationen in Frage. Aucb kommt endlich gelegentlich in Betracbt, dass gewisse Kranke Hallu- cinationen simuliren, um sich interessant zu machen oder, wie mir eine Kranke sagte, dom Arzt etwas „vorzumacben“.

Dio StiSrungen dor Empiindiing.

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liin sofort eine Hallucination anzimeliinen ware ganz falsch. Vielraelir wil’d man sicli zunachst vergewissern, ob nicht die Kinder der Frau wirklicb nebeuan gescbrieen liaben. Wir nehmen an, dass dies auszu- scliliessen ist. Nun wird man feststellen, ob die Kranke nicht zu der Zeit, wo sie die Stimmen gehort haben will, vielleicht geschlafen hat und dem Arzt als Empfindung im Wachen berichtet, was sie thatsachlich getraumt hat. Ist auch dies auszuschliessen, so wird man feststellen miissen, ob zu der fraglichen Zeit nicht vielleicht irgend ein anderer Larin (ein R) war, den die Kranke in entstellter Weise als Geschrei ihrer Kinder empfunden hat (— Illusion). Endlich ist zugleich die Moglichkeit zu beriicksichtigen , dass sogar wirklich Kindergeschrei in der Nacht horbar war, also die Empfindung der Kranken sogar dem ausseren Reiz vollig entsprach, und dass die Kranke das Geschrei nur falschlich als dasjenige ihrer Kinder, welche thatsachlich abwesend sind, deutete (= wahnhafte Auslegung). Erst wenn man alle diese Moglich- keiten durch Verhor der Angehdrigen resp. des Wartepersonals und Befragen der Kranken selbst ausgeschlossen hat, ist man berechtigt, eine Hallucination anzunehmen. Namentlich in dem gerauschvolleren Leben einer Anstalt soil man mit der vorschnellen Annahme von Hallucinationen vorsichtig sein.

Mindestens ebenso gross, wenn nicht grosser ist andererseits die Gefahr, Hallucinationen zu iibersehen. In dieser Hinsicht kommt speciell in Betracht , dass viele hallucinirende Geisteskranke dissi- muliren d. h. in dem Bewusstsein, dass die Hallucinationen krank- haft sind oder bfter in dem Bewusstsein, dass die Hallucinationen fiir krankhaft gehalten werden kbnnten, in Abrede stellen zu hallu- ciniren. In solchen Fallen ist der Arzt auf Schliisse aus dem Gesichts- ausdruck und den Handlungen der Kranken angewiesen (s. o.). Die- selben Schwierigkeiten liegen vor bei Kranken, welche so verwirrt sind, dass sie liber ihre inneren Vorgange keine klare Auskunft geben konnen. Bei dissimulationsverdachtigen Kranken ist es oft auch zweck- massig, die Kranken zu Niederschriften aufzufordern und bei Mitkranken iiber etwaige Aeusserungen sich zu erkundigen. Dem Papier und an- deren Kranken vertrauen Dissimulirende ihre Hallucinationen oft lieber an als dem Arzt und dem Warter.

h. Das Vorkommen der Hallucinationen. Bei dem Geistes- gesunden, d. h. ohne irgendwelche andere psychopathische Symptome kommen Hallucinationen sehr selten vor. Meist ist die Hallucination die Theilerscheinung einer Psychose und auch in den seltenen Fallen, wo anderweitige psychische Krankheitserscheinungen fehlen, ist sie stets als krankhaft anzusehen. In den Beispielen, welche man flir das Vor- kommen von Hallucinationen bei grossen Mannern der Geschichte an-

3*

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Die SWrungen der Empfiiidung.

fiilirt, liauclelt es sicli zumeist urn Illusionen, Zielit man alle der- artige Fiille als nicht liierher gehorig ab, so bleibt nur ein Fall iibrig, in welcbem Hallucinationen mitunter als einziges Krankheitssymptom auftreten: es ist dies das Auftreten von Hallucinationen bei psychopatbisch- belasteten, aber selbst sonst nicbt psycbopatliisclien Individuen nach scbweren korpeidicben oder geistigen Ueberanstrengungen sowie bei heftigen Affecten. Namentlicb im Kindesalter kann man ab und zu unter solchen Umstanden unzweifelhafte Hallucinationen obne jede andere Krankbeitserscbeinung beobacliten.

Besonders sind aucb die sog. bypnagogiscben Hallucinationen zu erwalinen, welche bei gescblossenen Augen aucb bei dem Gesunden ziemlich baufig namentlicb vor dem Einscblafen auftreten. Meist bandelt es sicb um verscbwommene farblose Gesicbter, seltener um ganze Figuren und Landscbaften. Bei der Entstebung derselben ist unzweifel- baft das sog. Eigenlicbt der Ketina betbeiligt.

Unendlicb viel baufiger treten die Hallucinationen zusammen mit andern psycbopatbiscben Erscbeinungen auf und zwar sind es ganz be- stimmte atiologiscbe Momente, welcbe besonders baufig neben andereu psycbopatbiscben Symptomen Hallucinationen zeitigen. Am wicbtigsten sind unter diesen:

1. Die Intoxicationen und zwar namentlicb, aber nicbt aus- scbliesslicb die acuten Intoxicationen. So ist es bekannt, dass Opium, Belladonna, Datura, Hyoscyamus,' Hascbiscb und ibre Alcaloide besonders baufig Hallucinationen erzeugen, speciell bei psycbopatbiscb veranlagteu Individuen. Regelmassig findet man in diesen Fallen aucb Stdrungeu der Ideenassociation. Der Alcohol fiibrt namentlicb bei cbroniscbem Missbraucb zu Hallucinationen und zwar bald zu vereinzelten (sensuum fallacia ebriosa) nacb eiuem besonders starken Alcobolexcess, bald zu ge- bauften und langer anbaltenden bei plotzlicber Entziebung des gewobnten Alcobolquantums. Unter den Metallgiften ist es namentlicb das Blei, Welches bei cbroniscbem Missbraucb ofter Hallucinationen bervorruft.

2. Fieberzustande. Aucb bei diesen kommt psycbopatbiscbe Veranlagung meist als pradisponirendes Moment hinzu. In vielen Fallen scbeint der die Hallucinationen (die sog. Fieberdelbien) erzeugende Factor weniger die Temperatursteigerung selbst als die infectidse Vergiftung zu sein. Wenigstens sind diese Fieberdelirien bei den fieberbaften Infec- tion s krankheiten weitaus am haufigsten.

3. Ernabrungstor ungen, wie sie nacb scbwerem Blutverlust (z. B. bei Entbindungen), bei Inanition etc. auftreten. Socbe kacbektiscben Hallucinationen beobachtet man namentlicb aucb nacb fieberbaften Er- krankungen als Folgenerscbeinung der von langerem Fieber bervorge- rufenen Ernabrungsstdrung (Empyem, Tuberkulose u. a. m.).

Die Sterungeii der Empfiiidimg.

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4. Calorisclie Scliadlichkeiten.

5. Eiuige Neurosen, so Hysterie, Chorea iind namentlich Epilepsie. Bei letzterer findet man Hallucinationen haufig auch als Aiirasymptom , d. h. dem Krampfanfall geht eine Hallucination un- mittelbar voraus. Die epileptischen Hallucinationen sind meist durch schreckhaften oder religiosen Inhalt und duich grosse Lebhaftigkeit (hunte Gestalten, laute Stimmen) ausgezeichnet. Treten bei Epilepti- schen Oder Hysterischen die Hallucinationen wahrend langerer Zeit auf, so beobachtet man oft, dass die aufeinander folgenden Hallucinationen nach Art eines Traumes ein zusammenhangendes hallucinatorisches Er- lebniss darstellen; man spricht in solchem Fall von hallucinatorischen Dammerzustanden.

Sieht man von diesen atiologischen Momenten ab und geht man mm von dem psychopathischen klinischen Bild der Psychose aus, so ergiebt sich, dass manche Psychosen Hallucinationen zu ihren Hauptsymptomen zahlen, so namentlich die sog. hallucinatorischeForm der Paranoia, wahrend andere Psychosen, wie Manie und Melancholie, mehr ausnahmsweise Hallucinationen zeigen. Endlich giebt es Psychosen wie die Dementia paralytica und Dementia senilis, die sehr haufig Hallucinationen zeigen, ohne dass man doch dieselben als charakteristisches Symptom der Psychose bezeichnen konnte. Acute und chronische Psychosen zeigen Hallucinationen ganz gleichmassig, nur pflegen im Allgemeinen Visionen bei acuten Psychosen haufiger zu sein, als bei chronischen Psychosen.

3. Illusionen.

Bei der Illusion*) ist der oben gegebenen Definition entsprechend stets ein ausserer Reiz R vorhanden. Das Krankhafte besteht darin, dass die Empfindung E diesem ausseren Reiz nur theilweise entspricht. E ist transformirt oder wie man auch sagen kann, der Kranke hallucinirt etwas in die normale Empfindung hinein. So sieht der Kranke z. B. ein Portrait, welches wirklich vorhanden ist, dabei sieht er aber, wie das Bild ihm die Zunge herausstreckt, oder ein anderer Kranker hort aus dem Knarren der Rader eines thatsachlich vorliberfahrenden Wagens Schimpf- worte heraus. Die pathologische Transformation der Empfindung, das Hin- einhalluciniren oder Hinzuhalluciniren, liegt in beiden Fallen auf der Hand,

Die Gesichtsillusionen zeigen bald eine Transformation der Form bald der Farbe. Nicht selten sind auch Form- und Farbenempfindung verandert. Mitunter erscheinen dem Kranken nur solche Gegenstande verandert, deren undeutliche Umrisse eine illusionare Transformation

*) Weil das Wort „Illusion“ noch eine populare Nebenbedeutung hat, hat Kabl- baum fur die Illusion im psychiatrischen Sinne das Wort Pareidolie vorgescblagen,

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Die StOrungen der Erapfindung.

begiinstigen, Dalier die Haufigkeit von Illusionen im Halbdunkel oder im Scliein eines flackernden , bewegliclie Scbatten werfenden Lichtes. Audi die thatsadilidie Aelinliclikeit eines wirklidien Gegenstandes mit einem friiber gesebenen kann dazu fiiliren, dass ersterer in der Em- pfindung des Ivranken so transformirt wird, dass aus der Aehnlidikeit eine Gleidilieit wird. In anderen Fallen erscheinen den Kranken alle Gegenstande trotz sdiarfster Umrisse iind ganz iinabbangig von zufalligen Aebnlichkeiten verandert. Besonders hiiiifig sehen die Kranken die Ge- siditer der Personen ibrer Umgebung in andere verwandelt oder entstellt (bobniscbe Grimassen, Leicbenblasse etc.). Diese Illusionen sind zuweilen sell!’ bartniickig, zuweilen wecbseln sie fortwabrend. In scbweren Fallen ist das ganze Gesicbtsfeld illusionar entstellt. Allentbalben sind die Umrisse der wirklicben Gegenstande zu allerband Figuren verzerrt. Dabei ist oft eine scbarfe Grenze zwiscben illusionarer Transformation und ballucinatoriscber Zutbat nicbt zu zieben.

Eine besondere Gattung der Gesicbtsillusionen ist dadurcb ausge- zeicbnet, dass die Objecte im Baum dem Patienten samtlicb oder tbeil- weise erbeblicb vergrossert oder verkleinert erscbeinen. Namentlicb bei Epileptikern beobacbtet man ofter solcbe Gesicbtsillusionen. Dabei ist jedocb in Betracbt zu zieben, dass das Verzerrtseben, Grosserseben und Kleinerseben, wenn es sicb auf alle Objecte des Gesicbtsfeldes be- ziebt, sebr baufig aucb auf opbtbalmologiscben Erkrankungen berubt. So wissen wir, dass Verzerrtseben bei Astigmatismus und Netzbauter- krankungen vorkommt (Metamorpbopsie), dass Grosserseben (Makropsie) zu den Symptomen des Accommodationskrampfes, *) Kleinerseben (Mi- kropsie) zu denjenigen der Accommodationsparese gebort. Nur wenn solcbe Ursacben auszuscbliessen sind, darf man eine Illusion im eigent- licben Sinne annebmen. Ueber das Zustandekommen der illusionaren Makropsie und Mikropsie wissen wir nocb wenig. Es ist wabrscbeinlicb, dass bei denselben patbologiscb-gefalscbte Associationen der Empfindung mit Bewegungsvorstelbmgen eine Rolle spielen und die Entstellung der Empfindung bedingen. In seltenen Fallen kommt es aucb vor, dass die Gesicbtsillusion in einer bestimmten Verfarbung des Gesicbtsfeldes bestebt. Hierber gebort das Gelbseben im Santoninrauscb. Da dies jedocb eine Folgeerscbeinung der durcb die Intoxication bervorgerufenen Violettblindbeit ist, so wird man besser nicbt von einer Illusion im engeren Sinne reden. Aucb die sog. Erytbropsie (Rotbseben) ist selteu eine Illusion im engeren Sinn. Meist berubt dieselbe auf einer Ermii- dung der Retina fiir die kurzwelligen Strablen der violetten Seite des Spectrums (so z. B. die Erytbropsie nacb Staaroperationen).

*) Bei Epileptikern ist seiches nicht selten.

Die Storungen der Empfindung.

Die Geliorsillusionen bestelien meist darin, dass aiis irgend- welclien imarticulirten Geraiisclien Worte oder aucli Melodien lieraus- geliort werden. Selir oft glauben die Kranken iliren eigenen Namen zu versteben, noch ofter Scbimpfworte, seltener Scbmeiclielreden. Ungemein haufig werden aucb statt wirldich gesprocbener Worte andere mebr Oder weniger abnlicbe geliort. Diese letzteren Gebbrsillusionen gehen fliessend in das sog. Missversteben iiber. Mitimter ersclieint den Kranken ancb nur die Klangfarbe der von ibrer Umgebimg gesprocbenen Worte verandert; sie gelangen dann leicbt zu der Vorstelbmg, ibre Umgebimg sprecbe aus irgendwelcben Griinden mit verstellter Stimme.

Die Gerucbs- und Gescbmacksillnsionen sind in iiber- wiegender Zabl unangenebmen Inbalts. In eineni gewissen Stadium dei Santoninvergiftung kann aucb der Gesunde eine sebr klare Gescbmacks- illusion beobacbten; bringt man namlicb etwas destillirtes Wasser auf die Zunge, so verwandelt sicb der fade Gescbmack desselben in einen inten- siv bitteren. Dem Geisteskranken scbmecken die Speisen nacb Bbit, Bratenduft verwandelt sicb in Uringerucb etc.

Die B eriibrungsillusionen spielen bei Geisteskranken wabr- scbeinlicb eine viel grossere Kobe als die Berlibrungsballucinationen, ibre Feststelbmg begegnet jedocb oft grossen Scbwierigkeiten, welcbe spater erortert werden sollen. Ein sebr reines Beispiel einer Beriibrungs- illusion bot z. B. eine Kranke, welcbe bei dem Druck einer auf ibi- liegenden Bettdecke (und nur dann) alle Empfindungen einer stattba- henden Cobabitation batte. Aucb der sandige, erdige Gescbmack iiber welcben viele Kranke bei dem Essen klagen, ist viel baufiger eine Beriibrungsillusion als eine Gescbmacksillusion.

Den Beriibrungsillusionen steben die illusionaren Organem- p find ungen sebr nabe. Scbwacbe Reize, welcbe bei dem Gesunden Empfindungen iiberbaupt nicbt auslosen oder nur ganz unbestimmte Empfindungen des Druckes etc. bervorrufen, werden zu complicu'ten Empfindungen ausgestaltet resp. transformirt. Statt einfacber Darmbe- wegungen empfinden z. B. weiblicbe Kranke mit der grossten Deutlicbkeit Kindsbewegungen und glauben auf Grund dieser Illusion gravid zu sein. Hierber geboren aucb die eigenartigen Illusionen, vermoge deren der ganze Korper oder einzelne Tbeile resp. Organe desselben als vergrossert oder verkleinert empfunden werden. Namentlicb bei epileptiscbem Irre- sein sowie bei Dementia paralytica beobacbtet man derartige Vergrosse- rungs- und Verkleinerungsempfindungen. Dieselben sind wabrscbeinlicb abnlicb zu erldaren wie die oben erwabnten analogen Gesicbts- illusionen.

Bewegungsillusionen, d. b. illusionar gefalscbte Bewegungs- empfindungen sind selten. Dieselben besteben darin, dass die Kranken

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Die SWruiigen der Etnpfindung.

Bewegungen, welclie sie selbst ausfiihren, anders empfinden, als sie that- saclilich von statten gelien.

Entsteliungsbedingiingen der Illiisionen. Aucb die Illusionen stebeu bald in Beziehung zn den augenblicklichen Vorstellungen des Kranken, bald nicbt, oder, mit anderen Worten; die Illusion vollzieht sicli bald im Sinne actueller bald im Sinne latenter Vorstellungen. Man kann danach auch die Illusionen in vermittelte und unvermittelte eintbeilen, Der Kranke, welcber plbtzlicb, wiibrend seine Gedanken mit ganz anderen Dingen bescbaftigt sind, die Falten seines Betttucbs sicli zu einem Marmorkopf gestalten siebt, bat eine ;,unvermittelte Illusion". Die Kranke, welche, von Verfolgungswabn beberrscht, bei dem Vorubergeben an einer Menscbengruppe denkt, jetzt werde ibr Boses nacbgeredet, und nun aus dein Gefliister Scbimpfworte berausbort, bat eine „vermittelte Illusion". Im Ganzen sind die vermittelten Illusionen baufiger als die unvermittelten.

Die Tbeorie der Illusionen deckt sicb mit derjenigen der Hallu- cinationen. Aucb bei den Illusionen bandelt es sicb um eine patbo- logiscbe riickwirkende Beeinflussung der Empfindungszellen durcb die Vorstellungszellen. Der Unterscbied gegeniiber der Hallucination bestebt nur darin, dass bei der Illusion stets in den Empfindungszellen eine durcb einen ausseren Reiz entstandene normale Erregung vorliegt, welcbe erst durcb den Einfluss der patbologiscb wirksamen Vorstellungszellen eine Transformation erfabrt.

Die Diagnose der Illusionen ist oft sebr scbwierig, nament- licb die Enter scbeidung von den Hallucinationen einerseits und von dan oben erwabnten wabnbaften Auslegungen andrerseits ist oft kaum durcli- fiibrbar. Was erstere Unterscbeidung anbelangt, so kommt oftenbar alles darauf an, ob ein R vorbanden ist oder nicbt. Nun wurde scbon oben erwilbnt, dass fur viele Hallucinationen R nicbt vollig feblt, viel- mebr ein R im peripberen Sinnesapparat oder im Verlauf der Sinnes- nervenbabn docb existirt. Aber aucb abgeseben biervon begegnet die Feststellung, ob ein ausserer Reiz vorbanden gewesen, oft grossen Scbwierigkeiten. Scbon auf dem Gebiet des Gesicbts und Gebors ist nacbtraglicb mitunter nicbt zu entscbeiden, ob nicbt ein leicbter Scbatten oder ein leises Gerauscb der Sinnestauscbung zu Grunde gelegen und somit eine Illusion vorgelegen bat. Ganz unmoglicb ist dies bei vielen Gescbmacks- und Beriibrungstauscbungen. Der Zungenbelag, welcber bei acuten Psycbosen so ungemein baufig vorkommt, ist gewiss in vielen Fallen von Gescbmackstauscbungen als der auslbsende „aussere Reiz" zu betracbten. Ein leicbter Luftzug geniigt zuweilen, eine Beriibrungs- tauscbung (z. B. die Illusion eines Scblages) bervorzurufen. Die Gefabr, den illusionaren Cbarakter in solcben Fallen zu uberseben, liegt sebr nabe, Dasselbe gilt aucb von den Organempfindungen. Hier ist

Die StOrungen cler Empfindung.

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kaum je mit Sicherlieit ausziiscliliessen, class ein „aiisserer Reiz"*) die Nervenendigungen als bez. Korperorgans getroffen bat.

Ebenso schwer resp. immoglicb ist in vielen Fallen die Unterscbeidung zwischen Illusion nnd wahnbafter Auslegung, also die Feststellung, ob eine Transformation der Empfindung oder eine unricbtige Auffassung einer normalen Empfindung stattgebabt bat. Namentlicb auf dem Ge- biet der Gescbmacks-, Gerucbs- und Beriibrungsempfindungen **) macbt sicb diese Unsicberbeit geltend. Wenn z. B. eine Kranke angiebt, dem tbatsacblicb raucbenden Ofen entsteige ein Gerucb nacb gebratenem Menscbenfleiscb, so ist scbwer zu entscbeiden, ob der raucbige Gerucb des Ofens sicb fur die Kranke wirklicb in den Gerucb gebratenen Fleiscbes verwandelt bat und mitbin eine Illusion vorliegt, oder ob die Kranke den raucbigen Gerucb so empfindet, wie er tbatsacblicb ist und nur jene krankbafte Vorstellung daran kniipft, ob also eine illusionare Auslegung vorliegt. Sebr baufig trifft jedenfalls eine leicbte illusionare Transformation der Empfindung mit einer wabnbaften Auslegung oder Urtbeilstauscbung zusammen. So ist scbon in dem eben gegebenen Beispiel aucb wenn die Auffassung des raucbigen Gerucbes als Bratengerucbes auf Transformation der Empfindung berubt die Deutung, es riecbe nacb gebratenem Menscbenfleiscb, jedenfalls ledig- licb Zutbat des krankbaften Vor ste Hungs lebens. Dasselbe gilt z. B. von der baufigen Aeusserung geisteskranker Personen, die Speisen scbmeckten nacb Gift. Ob dabei aucb eine Transformation der Empfin- dung, also eine ecbte Illusion mit im Spiele ist, ist oft garnicht zu entscbeiden; class eine Urtbeilstauscbung jedenfalls vorliegt, gebt aus cler Deutung cler Speise als Gift unzweifelbaft bervor. Illusion und wabnbafte Auslegung treffen zusammen z. B. aucb in den Fallen, wo die Kranken ein eng anscbliessendes Halstucb oder eine Hand, die sie erdrosseln will, empfinclen. Besonders Nacbts sind derartige Berlibrungs- illusionen in unmittelbarer Verkniipfung mit wabnbafter Auslegung sebr baufig. Meist lasst sicb bier sogar nacbweisen, dass die Transformation der Empfindung unter dem Einfluss cler wabnbaften Auslegung statt- findet. Man bezeicbnet diese Falle vermittelter Illusionen mit gleicb- zeitiger wabnbafter Auslegung aucb ganz allgemein als „illusionare Auslegungen". Dieselben stellen also combinirte Empfindungs- und Vorstellungstauscbungen dar.

Eine specielle Bedeutung und Haufigkeit baben solcbe illusionare Anslegungen auf clem Gebiete cler Organempfinclungen. Hier ist der

*) AeusBerer Reiz ist hier jeder Reiz, der ausserhalb der Sinnesnervenbahn und etwaiger specieller Sinneswei'kzeuge liegt.

**) Es beruht dies offenbar auf unserer unvollkommenen sprachlichen Unter- scheidung der Qualitaten auf diesen Sinnesgebieten.

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Die Storungen der Empfindung.

tliatsacliliclie Reiz zimachst meist selir unbestimmt und gering, die Transformation der Empfindung gestaltet sicli sclion bestimmter, endlicli die wabnliafte Anslegiing iiberrascbt durcb ibre minutiose Detailmalerei. So ist die Kranke Esquirols, des beriibmten franzbsisclien Psychiaters zu Anfang dieses Jahrbunderts , bekannt, welcbe in ibrem Leibe die Abbaltnng ganzer Concilien spiirte: die Section ergab ein Carcinom. Andere Kranke bescbreiben ausfiibrlicb , wie kleine Feinde in ibrem Magen ein Pumpwerk eingerichtet baben oder complicii’te Zapfvor- richtiingen ibr Herzbliit aussaugen oder unsicbtbare Feinde „in ibrem Gebirn viviseciren^' oder vermeintlicbe „Zwillinge allerband Trapez- iibungen an der Nabelscbnur innerbalb der Gebarmutter machen^.

Auf dem Gebiet des Gesichts- imd Gehorssinnes ist die Unter- scbeidnng zwiscben Illusion imd wahnbafter Auslegung meist leicbter. Wenn ein scbwacbsinniger Kranker glitzernde Kiesel fiir Diamanten er- klart, so ist dies unzweifelbaft meist eine durcb den Schwachsinn be- dingte wabnbafte Auslegung und keine Illusion. Desgleicben bandelt es sich nur um wabnbafte Auslegung, wenn ein Kranker den Donner eines Gewitters als Salutscliiisse, welcbe Kanonen zu seinen Ehren ab- geben, auffasst. Es lasst sicb bier durcb Befragen leicbt feststellen, dass eine Transformation der Empfindung selbst vollig fehlt. Halt man z. B. dem letztaufgefiibrten Kranken entgegen, der Schall klinge dock ganz wie der Donner eines Gewitters, so giebt der Kranke dies obne weiteres zu und liefert damit .also den Beweis fiir die Unversebrtbeit seiner Empfindung; meist fiigt er direct binzu: trotzdem „wisse^^ er, dass es Salutschiisse seien. Wer eine ecbte Illusion bat, beruft sicb nicht auf sein „Wissen^^, sondern auf sein gefalscbtes Empfindeu selbst.

Das V 0 r k 0 m m e n von Illusionen ist erbeblicb ausgebreiteter als dasjenige der Ilallucinationen. Zunacbst sind Illusionen aucb bei dem Geistesgesunden , d. b. obne anderweitige psycbopatbiscbe Symptome nicht selten. So boren maucbe Gesunde aus dem Rasseln der Eisen- babnrader Melodien beraus und seben in den Wolken oder Scbatten oder im Nebel Gestalten. Zwei Momente sind es, welcbe das Auftreteu solcber pbysiologiscben Illusionen begiinstigen : Die Unbestimmtbeit des wu-klicben Sinnesreizes und das Vorbandensein lebbafter Affekte. Unter den letzteren ist der Affekt der Erwartung, der boffenden wie der fiu-cbtenden, am frucbtbarsten in der Erzeugung von Illusionen. Darauf bezieben sicb aucb die Scbiller’scben Verse;

Hor’ ich das Pfortchen nicht gehen?

Hat nicht der Riegel geklirrt?

Nein, es war des Windes Wehen,

Der durch diese Pappeln schwirrt.

Die StOrungen der Empfindung.

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Offenbar ist es bier das iibermachtige Dominiren einer Vorstellung (z. B. in dem angefiibrten Gedicht die Vorstellung der Geliebten), welches die Transformation der Empfindung begiinstigt. Daher sind aucli die meisten pbysiologischen Illusionen vermittelte. Unvermittelte Illusionen kommen bei dem Gesunden fast ausschliesslich nur dann vor, wenn der aussere Reiz sehr ausgesprochene Aehnlichkeit mit einem latenten Erinnnerungsbild bat, die Illusion also insofern sehr nahe liegt. Auch ist es in diesen Fallen sehr oft fraglich, ob selbst diese geringe Transformation der Empfindung wirklich stattgefunden hat oder nicht vielmehr eine Urtheilstauschung vor sich gegangen ist. So kann der Stumpf eines Baumes uns gelegentlich als Menschengestalt erscheinen, auch wenn unsere Gedanken mit vollig anderen Bingen beschaftigt sind, wofern die Aehnlichkeit z. B. in der Dammerung in der That sehr gross ist. Dabei ist es aber garnicht sicher, dass unsere Empfin- dung wirklich eine Transformation erfahren hat: meist ist in diesen Fallen vielmehr der Reiz so unbestimmt und die Aehnlichkeit mit einem Menschen so gross, dass wir das Hirnrindenbild des Baumstumpfes trotz seiner volligen Uebereinstimmung mit dem Reiz falschlich als Mensch deuten.

Diese pbysiologischen Illusionen andern meist an der Far be der Gesichtsreize nichts, auf dem Gebiet des Gehorssinns kommt es selten zur illusionaren Transformation in Worte. Bei psychopathisch belasteten Individuen kommen jedoch auch solche weitergehende Illusionen mitunter ohne anderweitige manifesto psychopathische Symptome vor. Speciell begiinstigen weiterhin korperliche und geistige Uebermiidung sowie lilngeres Hungern das Auftreten isolu’ter Illusionen. Auch unmittelbar vor dem Einschlafen und unmittelbar nach dem Erwachen kommen bei Geistesgesunden gelegentlich Illusionen vor. Individuelle Verschieden- heiten kommen sehr in Betracht, speciell die Verschiedenheiten in der Entwicklung der sog. Phantasie; Individuen mit sehr lebhaften Erinne- rungsbildern werden ceteris paribus ihre Empfindungen leichter im Sinne ihrer Erinnerungsbilder transformiren. So erklart es sich, dass von Kiinstlern und Dichtern so zahlreiche Illusionen berichtet werden.

Enter den Psychosen selbst neigen einige ganz besonders zu Illu- sionen, so namentlich wiederum die sog. hallucinatorische Form der Paranoia. Von keiner Psychose sind sie ganz ausgeschlossen. Im Allge- meinen sind sie bei den acuten Psychosen haufiger als bei den chronischen. Auch als Aurasymptom epileptischer Krampfanfalle beobachtet man zu- weilen eine oder mehrere Illusionen: der Kranke sieht z. B. unmittelbar vor dem Anfall alle Gesichter seiner Umgebung verzerrt oder blutroth etc. Auch vor, nach und im Verlauf hysterischer Anfalle kommen neben Hallucinationen nicht selten Illusionen vor.

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Die StOrungen der Vorstollungen oder Erinnerungsbilder.

b. Die Storimgeu der Vorstellimgeii oder Erinnerungsbilder.

V 0 r b e m e r k u n g e n.

Der materielle Erregimgsprocess Rc in der Hirnrinde, welclier durch den Reiz R hervorgeriifen war und dem auf psychischem Gebiet die Empfindimg E entspracb, verschwindet, sobald R verscliwindet, niclit voll- standig, sondern in den Elementen der Hirnrinde bleibt eine materielle Veranderung zuriick, eine Spur der stattgebabten Erregiing, welcbe wir als Ri bezeicbinen. Jede Empfindung oder richtiger jedes Rc binterlasst ein solclies Ri. Niir dadurcb wird es uns moglich, einen Gegenstand, den wir einmal geselien baben, bei einem zweiten Seben wiederzuerkennen, oder, wenn wir ibn nicbt wiederseben, ibn uns vorzustellen. Man bezeicbnet das Ri, Welches nacb jeder Empfindung zuriickbleibt, auch als latentes Erinnerungsbild oder als latente Vorstellung, Es entspricbt namlicb der bleibenden materiellen Veranderung Ri zunacbst keinerlei psycbiscber Parallelvorgang. Die zabllosen R]’s, welcbe unsere zabllosen Empfin- dungen binterlassen, sind lediglicb als materielle Dispositionen in der Hirnrinde vorbanden. Diese Ri’s macben es mir nur moglicb, gegebenen Falles diese oder jene Vorstellung zu reproduciren, oder, mit anderen Worten, micb dieser oder jener Empfindung zu erinnern, aber den Ri’s selbst entsprecben diese Vorstellungen nocb nicbt. Vielmebr werden diese lediglicb materiellen, latenten Erinnerungsbilder nur danu psycbiscb lebendig oder, anders ausgedriickt, die bez. scblummernden Vorstellungen taucben nur dann wirklicb in uns auf, wenn entweder ein gleicbes oder abnlicbes Reizobject wieder eine gleicbe oder abnlicbe Empfindung aus- Ibst oder unsere Ideenassociation die erforderlicbe Anregung liefert. Habe icb z. B. einen bestimmten Menscben auf dem Markt geseben, so entspricbt dieser Gesicbtsempfindung der materielle Rindenprocess Rc und von diesem Process bleibt eine Veranderung Ri zuriick. Diesem Ri ent- spricbt psycbiscb nicbts: mebrere Page denke icb an den Betreftenden nicbt mebr. Davon, dass mittlerweile eine Spur meines Gesicbtseindruckes, ein R], in mir zuruckgeblieben ist, merke icb gar nicbts. Dies vollziebt sicb ganz unbewusst oder, wie wir sagen, latent. Erst wenn icb ibn wiedersebe, oder wenn meine Ideenassociation micb an den Gang fiber den Markt denken lasst, taucbt das Erinnerungsbild jenes Menscben wieder in mir auf. Damit also zu Ri ein psycbiscber Parallelprocess binzutritt, ist es notbwendig, dass entweder durcb eine Wiederbolung des Reizes oder durcb einen Anstoss der Ideenassociation Ri nocb in bestimmter Weise modificirt wird. Ri muss, sagen wm, in Rv verwandelt werden, damit aus der latenten, nur potentia vorbandenen Vorstellung

Die Storungen der Vorstcllungen oder Eriimcrungs Wider.

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eine actu vorhandeue wird. Von imsern zahllosen latenten Erinnerungs- bildern sind in jedeni Augenblick niir einige wenige actuell lebendig, nanilicli diejenigen, deren Ki durch aussere Reize oder diircb den Gang unsrer Ideenassociation gerade in Ry verwandelt worden ist.

Ueber die niibere Besebaffenbeit des Ri wissen wir nocli garnichts. Am einfaebsten stellt man sicb das Ri als eine bestimmte Verlagerung in bestimmter Weise zusammengesetzter Molekiile in den Ganglienzellen der Hirnrinde vor und zwar ist es wabrscbeinlicb, dass die Veranderung Ri niebt in denselben Zellen znriickbleibt, in welchen der urspriinglicbe Erregungsprocess Rc stattgefunden batte. Aiisgebend von dieser Hypo- tbese bezeiebnet man die Zellen, in welcben Rc stattfindet, als Empfin- dungszellen, und die Zellen, in welcben Ri znriickbleibt und unter den angegebenen Umstanden zu Ry wird, als Erinnerungs- oder Vorstelbmgs- zellen. Den folgenden Erbrterungen soil der Anscbaulicbkeit und Kiirze wegen stets diese Hypotbese zu Grunde gelegt werden. Es ist aber im Auge zu bebalten, dass alle folgenden Erorterungen von dieser Hypo- tbese unabbiingig sind und obne Scbwierigkeiten einer anderen Hypo- tbese, also z. B. etwa derjenigen, dass Empfindung und Erinnerung an ebendieselben Rindenelemente gebunden seien, angepasst werden konnten.

Wir baben soeben eine ganz einfacbe Empfindung und das zugeborige Erinnerungsbild betraebtet. Die meisten sinnlicb wabrnebmbaren Gegen- stande rufen niebt eine einfacbe Empfindung, sondern einen Complex von Empfindungen auf den versebiedensten Sinnesgebieten bervor. So lost die Rose niebt allein eine Gesiebtsempfindung und ein Erinnerungs- bild derselben, die Gesicbtsvorstellung, aus, sondern der Duft lost aucb eine Geruebsempfindung und die weicben Blatter eine Beriibrungs- empfindung aus, und aucb von diesen Empfindungen bleiben Erinnerungs- bilder, also eine Gerucbsvorstellung und eine Beriibrungsvorstellung zuriick. Es werden also von der Rose mindestens drei Erinnerungsbilder niedergelegt, ebenso viele Erinnerungsbilder, als dieselbe Sinnesorgane erregt. Nun liegt die Rieebspbare weit ab von der Sebspbare, und ebenso die Eiiblspbare. Also werden in drei weit auseinandergelegenen Ganglienzellen an ganz versebiedenen Hirnrindenstellen latente Vor- stellungen niedergelegt. Die folgende Skizze stellt eine Grossbirnbemi- spbare in groben Umrissen dar. Bei S liege die Sebspbare, bei F die Eiiblspbare, *) bei H die Hbrspbare, bei R die Rieebspbare. Von der Rose sind drei Partialvorstellungen zuruckgeblieben in a, b und c. Die Ganglienzelle a stebt durcb Associationsfasern sowobl mit b wie mit c in Verbindung und ebenso aucb b und c unter sicb. Nun sind a, b und c oft gleicbzeitig erregt worden, d, b. sebr oft saben, fiiblten und

*) Die genauere Lage der FUhlsphare ist bekaimtlicb noch niebt sicher festgestellt.

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Die StOrungen der Vorstellungen oder Erinnerungsbilder.

rochen wir ein unci dieselbe Rose unci legten also gleichzeitig in den Zellen a, b und c die entsprecbenden Erinnerungsbilder nieder; die Folge dieser haufigen gleicbzeitigen Erregung ist, dass, wenn eines der drei Erinnerungsbilder, z. B. a, erregt wird, stets aucli b und c miterregt werden. Wenn icb an Gestalt und Farbe der Rose denke (a), so fallt inir aucb ihr Duft und die Weicbheit ihrer Blatter ein (c und b). Es werden also von einein sinnlichen Gegenstand Partial vorstellungen in ver- scbiedenen Hirntbeilen niedergelegt ; diese Partialvorstellungen steben in associative!’ Verb indung; daber werden beim Auftaucben der einen Partial- vorstellung durcb Association die anderen wacbgerufen. Die Gesammtbeit der associativ verknilpften Partialvorstellungen bildet die Vorstellung des

4.

Gegenstandes. Die Vorstellung Rose ist also nicbts Einfacbes, sondern etwas Zusammengesetztes, dessen Einbeit lediglicb auf der gegenseitigen associativen Verkniipfung der Tbeile berubt. Aber eine weitere Einbeit fur diese zusammengesetzten Sinnesvorstelbmgen ist uus in der Spracbe gegeben. Die Vorstellungen, wie wir sic bis jetzt kennen lernten, sind von der Spracbe ganz unabbangig, sie kommen wabrscheinlicb aucb den Tbieren zu. Nun benennt der Menscb aucb seine Vorstellungen: icn begleite die oben bescbriebene zusammengesetzte Vorstellung init dem Aussprecben des Wortes „Rose“, cl. b. mit einer eigentbumlicben Com- bination von Keblkopf", Lippen-, Zungen- und Gaumenbewegungen, deren Resultat fur einen Dritten ist, dass er micb das Wort „Rose“ aus- sprecben bdrt. Die Hirnpatbologie lebrt, dass die Zerstbrung des

Dio StOrungen dor Vorstellnngen odor Erinnerungsbilder.

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Fusses, cl. li. cles liintersten Drittels der linken untersten Stirnwindung (bei d) eiuen daueruden Ausfall dieser Spreclibewegungen , die sogen. motorische Apbasie zur Folge bat. Wir miissen daber annebmen, class an dieser Stelle cliejenigen Ganglienzellen gelegen sincl, aus welcben die beim Sprecben inner virten motoriscben Fasern fur die Keblkopf-, Lippen-, Gaumen- und Zungenmuskeln entspringen. Man kann daber den Fuss der linken untersten Stirnwindung direct als motoriscbes Spracbcentrum bezeicbnen. Dies Spracbcentrum stebt nun durcb Associationsbabnen in associativer Verkntipfung mit clenjenigen Rindengebieten, in welcben die Partialvorstellungen der sinnlicben Gegenstiinde niedergelegt sind. Also sincl, wie aucb die beistebencle Zeicbnung angiebt, die . Ganglien- zellen a, b, c, in welcben die Erinnerungsbilder des Duftes, der Farbe und Form der Rose*) niedergelegt sind, nicbt nur untereinancler durcb Babnen verkniipft, sonclern im Stirnbirn liegt aucb eine Ganglienzelle resp. ein Ganglienzellencomplex cl, in welcbem die complicirte motoriscbe Innervation fur das Aussprecben des Wortes „Rose^^ entstebt. Es gilt nun beziiglicb cles motoriscben Elements cl dasselbe, was beziiglicb der Partialvorstellungen a, b, c untereinancler gait. Sobalcl a, b ocler c auf- taucbt, fallt uns cl, das Wort fur das Gesebene, Gerocbene oder Ge- fiiblte ein.

Ausser cl lebrt uns die Hirnpbysiologie nocb anclere spracblicbe Elemente in der Gesamtvorstellung „Rose" kennen. Wir boren das Wort „Rose^^ unzablige Male aussprecben. Von dieser Geborsempfin- clung bleibt ein akustiscbes Erinnerungsbilcl , die Spracbborvorstellung cles Wortes „Rose", e zurlick. Der Sitz dieser Klangbilcler der Spracbe ist im binteren Abscbnitt der linken obersten Scblafenwindung gelegen. Wil'd cliese Stelle durcb einen Krankbeitsbeercl zerstort, so bestebt das Symptom der sensoriscben Apbasie: cl. b. der Kranke bbrt wobl alle zu ibm gesprocbenen Worte, seine Geborsempfinclungen sind intact, aber alle zu ibm gesprocbenen Worte klingen ibm fremcl, er erkennt sie nicbt wiecler und verstebt sie nicbt, weil ibm eben die Horvorstel- lungen der Spracbe verloren gegangen sincl. Bei clem gebildeten Menscben kommen weiterbin nocb die optiscben Spracbvorstellungen , die Er- innerungsbilcler der Gesicbtsempfinclungen der gelesenen Worte, sowie die Scbreibbewegungen bei clem Nieclerscbreiben der Worte binzu. Erstere sind im linken Gyrus angularis bei f niedergelegt, letztere geben vom Fuss der linken mittleren Stu’nwin clung (bei g) aus.

Zusammenfassend konnen wir somit sagen: die VorsteUung Rose bestebt aus 3 Partialvorstellungen, welcbe ebenso vielen qualitativ ver-

*) Bei einem auch auf unsor Gehor oder unsorn Geschmack wirkendcn Gegen- stand kamen selbstverstandlick nock zwei weitero Partialvorstellungen kinzu.

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Die Storungen der Vorstelliragen oder ErinnernngsLilder,

scliiedenen von der Rose ausgelosten Sinnesempfindungen entsprechen ; liierzu kommen ausserdem die 2 resp. 4 sprachliclien Coniponenteu (2 motorische, eine akustische und eine optische), welche zur einiieit- lichen Ziisammenfassimg der sinnlichen Partialvorstellungen beitragen. Den Gesaintcomplex der sinnlichen Partialvorstellungen einscliliesslicli der sprachliclien Componenten bezeichnet man auch als den concreten oder sinnlichen Begriff der Rose.

Die ersten einfachsten concreten Begriffe sind die speciellsten. Zu- nachst wird der concrete Begriff einer ganz bestimmten einzelnen Rose erworheu. Spater sehe ich immer mehr ahnliche Einzelrosen, und diese Haufigkeit des constanten Zusammentreffens einer bestimmten Farbe, Form etc. auf wecbselndem Hintergrund geniigt den allgemeinen con- creten Begriff der ,,Rose liberhaupP^ in meiner Hirnrinde niederzulegen. Fine viel grossere Induction ist erforderlicb, urn den weit allgemeineren Begriff der Pflanze in meiner Hirnrinde niederzulegen und mit Spracli- vorstellungen zu verbinden. Die meisten dieser allgemeineren concreten Begriffe entsteben in folgender Weise. Die Frfahrung deponirt zabl- reicbe concrete, aus Partialvorstellungen zusammengesetzte Finzelbegiiffe in meiner Hirnrinde, z. B. die der Tulpe, der Rose, des Eicbbaumes u. s. f. Bei aller Verscbiedenbeit werden die Partialvorstellungen dieser Einzelbegriffe gewisse Aebnlicbkeiten besitzen und daher auf Grund der Associationsgesetze untereinander in associative Verbindung treten. So haben alle z. B. die grtiue Farbe der Blatter gemein. Wabrend also die Partialvorstellungen der Rose untereinander einen sebr eng vei- bundenen Complex bilden, welchem das Wort „Rose^' associirt ist, bildet die Summe der concreten Begriffe der Rose, der Tulpe und zabl- loser anderer Pflanzen einen weiteren , aber aucli loseren Complex, welchem sich das Wort Pflanze associirt. Wenn also der Begriff Pflanze in uns auftaucht, so taucht erstens die Wortvorstellung des gesprocheneu und gehorten Wortes Pflanze" auf, und zweitens gerathen dabei die zahllosen Partialvorstellungen aller einzelnen Pflanzen in leise Miter- regung, sie „schwingen mit", wie man es haufig auch bezeichnet hat. Je allgemeiner also ein concrete!’ Begriff ist, um so complexer ist ei, um so mehr lose associativ verkniipfte Finzelvorstellungeu schwiugen beim Auftauchen desselben mit, und eine scheinbare Finlieit wird nur durch die alien diesen Finzelvorstellungeu associate sprachliche Conipo- nente gegeben. Daher kommt es, dass, wenn wir „Pflanze denizen und, vom Worte absehend, den Inhalt des Begriffs scharfer fixiren wollen, uns sofort bestimmte einzelne Pflanzen mehr oder weniger deutlich vor Augen treten. Dies sind eben jene mitschwingenden Finzelvorstellungen, und zwar vor alien diejenigen, welche uns am liauflgsteu begegnet sind und welche daher am starksten mitschwingeu. Dem Denken eines

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Dio Storungen tier Vorstellungen odor Erinnerungsbilder.

allgemeinen sinnlichen Begriffs entspricht also in noch viel hoherem Grade als deni Denken eines speciellen sinnlichen Begriffs ein iiber fast die ganze Grosshirnrinde ausgebreiteter physiologischer Process. Hieraus ergiebt sich aiicli, dass der spracbliclien Componente, der motorischen nnd akustischen, gerade fiir die allgeineineren Begriffe eine bohere Be- deutung zukoinmt als fiir die speciellen, indem die losen Vorstellungs- complexe der ersteren in der That obne das gemeinscbaftliche Band der Wortvorstellung aiiseinanderfallen wiirden. Sehr beweisend fiir diese Darlegung ist aiicb die Art nnd Weise, wie wir allgemeine concrete Begriffe erwerben. Als Kindern wird uns unzablige Male beim Sehen einer Rose, einer Tiilpe, einer Eiche das Wort „Pflanze^^ vorgesprochen, nnd wii- sprechen es nach: so bildet sich eine motorische nnd akustische Sprachcomponente in Association niit zablreichen concreten Einzelvoi- stellungen, die nnter sich bei aller Verscbiedenbeit eine gewisse Aebnlicbkeit liaben. Das Gesammtsystein dieser Associationen bildet den allgemeinen concreten Begriff Pflanze.

In ganz analoger Weise entsteben aucb die Beziebungsbegiiffe. Betracbten wir z. B. den Begriff der Aebnlicbkeit Unzablige Male wird dem Kind bei dem Seben zweier abnbcber Gegenstande das Wort „abnbcb^^ vorgesprochen, sagen wir z. B. ziierst in Bezug auf zwei abn- iicbe Spielsacben. Das Wort „ahnbcb" bedeutet ihm zunacbst nur jene „zwei bestimmten abnbcben Spielsacben^^ Aber weiterbin wird ihm das Wort „abnbcb“ ofter vorgesprochen: aucb zwei abnbcbe Baume, zwei abnbcbe Hauser werden dem Kind als abnbcb bezeichnet , odei , mit anderen Worten, das Wort abnbcb tritt bei dem Kind in associative Verknupfung mit zabllosen Paaren abnbcber concreter Erinneiungsbildei. Bei dem Aussprecben oder Horen des Wortes „abnbcb“ scbwingen immer mebr nnd immer verscbiedenere derartige Paare abnbcber Erinneriings- bilder mit. Das Endresultat ist, dass die Worterregung, die motorische wie die akustische, ihren besonderen Inbalt (Spielsacben, Baume u. s. w.) ganz verloren bat und ibre Cbarakteristik nur daraus emjifangt, dass eben alle jene Erinnerungsbilder einander paarweise abnbcb sind. So entstebt der Beziebungsbegriff der Aebnlicbkeit.

Je allgem einer und je abstracter die Begriffe sind, um so complexer sind sie, d. b. um so mebr Parti alvorstellungen sind im ganzen Gebiet der Hirnrinde mit der Worterregung verknupft. Begriffe wie „icb , „Vaterland^ „Gott^ „Recbt", „Unrecbt% „Dankbarkeit^^ sind im bbcb- sten Maasse zusammengesetzt. Das Wort leistet bier etwa dasselbe wie in der Algebra ein Bucbstabe, z. B. cp, den wir statt eines sebr com- pbcirten algebraiscben Ausdrucks einfiihren. Das Wort ist nicbt der Inbalt, der Inbalt jener Begriffe besteht ausscbbessbcb in den mit- scbwingenden zabllosen Partialvorstellungen. Das Wort ist nur eine

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Ziohen, Psychiatrie.

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Die StOrungen dcr Vorstellungen oder Erinne rungsbilder.

beqiieme Zusammenfassimg imd Abkiirzung, welcbe den Gebraucli des Begriffes in der Ideenassociation ungemein erleicbtert. So kornmt es, dass z. B. Aphasisclie zwar keinen einzigen Begriff wirklich einbiissen, aber docb in der Eegel rait ihren Begriff en, wenigstens mit den com- plicirteren, etwas schwerfalliger bantiren als Gesunde.

An jeder Vorstellung untersclieiden wir vier Haupteigenschaften, nilmlicb

1. Den lubalt oder die Bedeutung: so haben z. B. die Vorstellungen „Donner“ und „Pflanze^^ einen ganz verscbiedenen Inbalt. In diesen Inbalt der Vorstellung geben alle Eigenscbaften der zu Grunde liegenden Empfindungen mit Ausnalime des Gefiiblstons ein. So ist der Inbalt der Vorstellung Donner durcb die Klangfarbe (Qualitat), den lauten Scball (Intensitiit) und die Dauer der einzelnen Empfindungen des Donners bestimmt, die icb friiber gehabt babe.

2. Die Scbarfe oder Deutlicbkeit : das Erinnerungsbild entspricbt der zu Grunde liegenden Empfindung in wecbselndem Grade. Wenn icb eine Empfindung nur wenige Male gebabt babe oder seit ibrem letzten Auftreten lange Zeit verstricben ist, so blasst das Erinnerungs- bild ab, d. b. es entspricbt der zu Grunde liegenden Empfindung immer weniger genau und scbliesslicb so wenig, dass es „vergessen“ ist. So babe icb z. B. von einer Kbododendronbliitbe eine weit weniger scbarfe oder deutlicbe Vorstellung als von einer Eosenblutbe.

3. Den Gefublston: die Vorstellung des einen Menscben ist von einem angenebmen, diejenige eines anderen von einem unangenebmen Gefublston begleitet.

4. Die Energie oder die Intensitat: je nacb der Starke des Im- pulses, welcben eine Ganglienzelle mit der Disposition Ei von der Ideen- association empfangt und durcb welcben Ei in Ey verwandelt wird, ist die Intensitat der Vorstellung sebr verscbieden. Wenn icb mir ein friiber gesebenes Gemalde jetzt in das Gedacbtniss zuriickrufe, so stelle icb mir gewisse Figuren des Gemaldes nicbt nur scbarfer, soudern aucb intensiver vor als andere.

Die patbologiscben Stdrungen der Erinnerungsbilder oder Vor- stellungen tbeilen wir ein in:

a. Storungen in der Bildung der Vorstellungen.

p. Stdrungen in der Erbaltung der Vorstellungen.

Diesen beiden Gruppen entsprecben zugleicb die inbaltlicben Stdrungen und die Stdrungen der Scbarfe der Vorstellungen. Die Stdrungen der Gefiiblstdne der Vorstellungen werden in einem besonderen Kapitel besprocben werden. Die Stdrungen der Energie der Vorstellungen gebdren bereits zu den Stdrungen der Ideenassociation selbst.

Die Stiirungen der Vorstellungcn ocler Erinnerimgsbilder,

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a. Storungen in der Vorstellungsbildung.

1. Defeete der Vorstellungsbildung.

Die Zalil cler inhaltlicli verschiedenen Vorstellungen bezw. Begriffe, welche im Ganzen in der Hirnrinde niedergelegt sind, scliwankt ausser- ordeutlicli. Es giebt z. B. Volkerscbaften in Afrika, welcbe ans den zahllosen Farbenempfindimgen , welche die umgebende Natnr in jedem Menschen erregt, nur zwei concrete Vorstellungen gebildet liaben, namlich roth und schwarz: wenigstens geht dies daraus hervor, dass denselben sprachliche Bezeichnungen fiir andere Farbenqualitaten vollig fehlen. Ebenso existiren polynesische Stamme, deren Zahlbegriffe und Zahl- bezeichnungen nur bis 5 reichen: alles, was grosser als 5 ist, wird als „unendlicli gross^^ mit einem Worte bezeichnet. Auch innerhalb der civilisirten Volker schwankt bei den Einzelnen die Zahl der inhaltlich verschiedenen Erinnerimgsbilder je nach Begabung und Bildung in hoch- stem Maasse. Der eine hat eben noch den Begriff des „Productes^^ er- worben, der andere weiss von „Quadratwurzeln^^, fiir einen dritten endet die Reihe der algebraischen Begrilfe erst mit den hochsten ,,elliptischen Functionen^h

Die Bildung inhaltlich verschiedener Erinnerimgsbilder kann nun auch durch Krankheit eine Einschrankung erfahren haben, d. h. es giebt Individuen, welche in Edge einer krankhaften Hirnentwickhmg nicht dieselbe Zahl von Begrilfen zu erwerben vermochten wie ihre unter gleichen socialen Bedingungen lebende Umgebung. Man bezeichnet solcheKranke als Angeboren-Schwachsinnige und unterscheidet je nach dem Grade des angeborenen Schwachsinns Idioten, Imbecille und Debile. Bei dem Idioten ist die Zahl der Erinnerungsbilder iiiisserst klein : nicht einmal von den Personen und Gegenstanden, welche ihn stets umgeben, legt er Erinnerungsbilder nieder, welche ihm z. B. das Wiedererkennen derselben ermoglichten. Nur von dem Essen und vielleicht vom strahlen- den Licht und von seinen Kleidern und seinem Korper bildet er sich einige unbestimmte Vorstellungen, und auch diese ohne sprachliche Componenten. Das Lacheln im Gesicht des Idioten scheint zu beweisen, dass er die leuchtende Elamme, welche man ihm entgegenhiilt, wieder- erkennt, aber weder weiss er selbst sie zu benennen noch versteht er die Benennung, welche andere ihr geben. Bei dem Imbecillen sind zahlreiche concrete Begriffe zur Entwicklung gelangt und werden vom Kranken richtig bezeichnet. So verfiigt er fast stets liber sichere Er- innerungsbilder von den ihn umgebenden Personen und Gegenstanden. Die Farbenbegriffe sind meist noch etwas liickenhaft, namentlich die Vorstellungen „griin“, „blau“,- ;,grau" sind oft mangelhaft getrennt.

52 Die Storungen der Vorstellungen Oder Erinnerungsbilder.

Die Zahlbegriffe reiclien hochstens bis 10. Die Erinnerungsbilder der landesiiblicben Geldmiinzen sind meist vorbanden. Beziebungsbegriffe und abstractere Begriffe feblen in der Regel vollkomnien. Bei dem Debilen sind aucb Beziebungsbegriffe und abstracte Begriffe zur Aus- bildung gekommen. Der Debile weiss, was „gleicb'^ und was ^abnlicb^^ bedeutet, er spricbt von Ursacbe und Wirkung und fiibrt Gott und Vaterland und Recbt und Unrecbt im Munde. Der Defect der Begriffs- bildung tritt bier erst zu Tage, wenn man den Kranken nacb der Be- deutung dieser complicirteren und abstracteren Begriffe fragt. Dann ergiebt sicb, dass die Partialvorstellungen, welcbe diesen Worten erst Inbalt und Bedeutung geben, garnicbt oder sebr sparlicb entwickelt sind. Man muss sicb also biiten, aus dem Vorbandensein des Wortes auf das Vorbandensein des Begriffes zu scbliessen. Gcrade bei dem angeborenen Scbwacbsinn leicbteren Grades stellen sicb gern Worte ein, wo Begriffe, d. b. inbaltgebeude Partialvorstellungen feblen.

2. Bildung falseher Erinnerungsbilder.

Falscbe Erinnerungsbilder, d. b. Erinnerungsbilder, welcbe den Objecten nicbt entsprecben, kommen dann zu Stande, wenn die Empfin- dungen, aus welcben die Erinnerungsbilder bervorgegangen sind, patbo- logiscbe waren. So binterlassen die Illusion, die Hallucination, die byper- und die bypastbetiscbe Empfindung Erinnerungsbilder, welcbe entweder qualitativ oder intensiv der Wirklicbkeit nicbt entsprecben. Der Vor- gang der Vorstellungsbildung selbst ist bier offenbar nicbt gestort, die Vorstellungen sind bier nur desbalb falscb, weil sie aus patbologiscb verandertem Empfindungsmaterial gewonnen sind. Es kommen aber bei Geisteskranken aucb primare Falscbungen der Erinnerungsbilder vor, d. b. obwobl im Empfindungsleben keinerlei Storungen vorliegen, bilden sicb unricbtige Erinnerungsbilder, also Erinnerungsbilder, die weder den stattgebabten Empfindungen nocb den Objecten entsprecben. Da diese Falscbungen der Erinnerungsbilder fast ausnabmslos nicbt scbon im Augenblick des Niederlegens des Erinnerungsbildes stattfinden, sondern an fruber niedergelegten Erinnerungsbildern vor sicb geben, werden dieselben unter den Storungen der Erbaltung der Erinnerungs- bilder besprocben.

p. Storungen der Erhaltung der Erinnerungsbilder.

1. Verlust von Erinnerungsbildern.

Wie alle Elemente und Gewebe des Kdrpers unterliegen aucb die Ganglienzellen der Hirnrinde dem Einfluss des Stoffwecbsels, und dieser

Die StOrungen der Vorstellimgen oder Erinnerungsbilder.

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Einfluss bewirkt, class die Disposion Ki allmahlicli verwisclit wircl. Auf psychischem Gebiet aussert sich dies darin, class das Erinnerunpbild, wenn die zAigelibrige Empfindimg sich nicht wiederholt, allmahlicli an Scharfe verliert imd somit der zu Grimde liegenden Empfindung bezw. clem zugehorigen Object nicht mehr entspricht. Schliesslich kann Ri so vollig verwischt sein, class wir das bez. Erinnerungsbild iiberhaupt nicht mehr reprocluciren konnen: „wir haben es vergessen". Diese physio- logische Zerstonmg der Erinnerungsbilder ist stets eine sehr langsame; unter pathologischen Verhaltnissen ist diese Zerstbrung oft enorm be- schleimigt. Bald ist dieselbe auf ein einziges Sinnesgebiet beschrankt, bald handelt es sich urn einen diffusen Verlust von Erinnerungsbildern, an welchem sich alle Sinnesspharen mehr oder weniger gleichmassig be- theiligen. Der isolirte Verlust der optischen Erinnerungsbilder wircl als Seelenblindheit bezeichnet. Der Seelenblincle sieht noch alles, seine Gesichtsempfindung en sincl intact, aber er erkennt nicht wieder, was er sieht, weil er seine Gesichtsvorstellungen verloren hat. Den Lbffel, welchen er vor sich sieht, starrt er als einen unbekannten Gegenstand an ; erst wenn er ihn betastet, erkennt er ihn wieder. Wircl clem Seelenblinclen gesagt, er solle versuchen, sich die Strassen seines Wohnortes im Geiste vorzustellen, so erklart er sich hierzu absolut un- fahig. Er hat seine „optische Phantasie" eingebiisst. Dementsprechend sincl auch aus seinen Traumen alle optischen Elemente verschwunclen. Diese Seelenblindheit cleutet stets auf eine Heerclerkrankung der Rincle der lateralen Convexitat im Gebiete der Occipitalwinclungen bin. Eine specielle Form der Seelenblindheit ist die Alexie, cl. h. die Unfahigkeit Gedrucktes oder Geschriebenes zu verstehen. Dieselbe beruht auf clem Verlust der optischen Buchstabenbikler unci ist das Heerdsymptom cles Gyrus angu- laris sinister. Der isolirte Verlust der akustischen Erinnerungs- bilder wird als Seelentaubheit bezeichnet. Der Seelentaube hort alles, aber er erkennt die Gerausche unci Klange, welche er hbrt, nicht wieder. Am haufigsten ist die specielle Form der Seelentaubheit, welche man als Worttaubheit oder sensorische Aphasie bezeichnet. Hier sincl speciell die akustischen Erinnerungsbilder der Worte verloren gegangen. Der Kranke hort die Worte, versteht sie aber nicht mehr. Diese sen- sorische Aphasie beruht auf einer Heerclerkrankung cles mittleren Ab- schnitts der linken obersten Schlafenwinclung. Der isolirte Verlust der tactilen Erinnerungsbilder erzeugt die Seelengefiihllosig- keit. Die Kranken fiihlen jede Beriihrung, erkennen aber die Gegen- stancle clurch Befiihlen nicht mehr. Es ist wahrscheinlich , dass die tactilen Erinnerungsbilder ebenso wie die Lagevorstelhmgen im oberen Scheitellappchen niedergelegt sincl. Encllich konnen auch die Be- wegungsvorstellungen, d. h. die Erinnerungsbilder unserer Bewegungs-

54 StOrungen der Vorstellungen oder Erinnerungsbilder.

empfinclungen isolirt zu Grimde gehen. Ueber den corticalen Sitz dieser Stbrungen besteht nocb keine Sicherheit. *)

Aus dieser Zusammenstellung ergiebt sicb bereits, dass diese isolirten Defecte der Erinnerungsbilder einer einzigen Sinnessphare fiir die Psychiatrie weniger Bedeutung besitzen. Denn dieselben beruhen auf circiimscripten Heerderkrankungen, wabrend die Psycbosen auf diffusen Erkrankungen der Hirnrinde beruhen. Indes ist es nicht selten, dass zu einer Heerderkrankung des Gebirns in Folge der von ihr ausgehenden Fernwirkungen eine Psychose binzutritt. So kann z. B. ein Erweichungs- beerd im Cuneus als Ausfallssymptom Seelenblindbeit und zugleicb in Folge einer vorilbergebenden die gesammte Hirnrinde in Mitleidenscbaft ziebenden Eernwirkung eine voriibergebende Psycbose erzeugen. Anderer- seits kommt es vor, dass der diffuse iiber die ganze Hirnrinde ausge- breitete Krankbeitsprocess, welcber die Psycbose bedingt, in einem be- stimmten Tbeil der Hirnrinde ganz besonders iiberwiegt und so einen isolirten Defect der Erinnerungsbilder einer bestimmten Sinnesspbare vortauscbt. So existirt z. B. eine Psycbose, die auf einem anatomiscb nacbweisbaren Untergang der specifiscben Elemente im ganzen Bereicb der Hirnrinde berubt. Bei dieser sog. Dementia paralytica ist nament- licb im Beginn die Rindenerkrankung zuweilen in einem Rindenabscbnitt, z. B. in der obersten linken Scblafenwindung so vorzugsweise localisirt, dass iiber dem Verlust der akustiscben Erinnerungsbilder der Spracbe, also iiber der Worttaubheit, die leicbten Defecte auf dem Gebiete der Erinnerungsbilder anderer Sinnesspbilren leicht iiberseben werden.

Erbeblicb wicbtiger fiir die Psycbiatrie ist der diffuse Verlust der Erinnerungsbilder. Ein Verlust der concreten Begriffe, der Beziebungs- begriffe sowie aller allgemeinen Begriffe kann offenbar iiberbaupt nur durcb eine diffuse Rindenerkrankung zu Stande kommen, da diese Begriffe aus Partialvorstellungen besteben, welcbe iiber die ganze Hirn- rinde zerstreut liegen. Der diffuse Verlust von Erinnerungsbildern be- trifft vorzugsweise und zuerst gerade die zusammengesetzteren und all- gemeineren Vorstellungscomplexe oder Begriffe. Derselbe ist cbarakte- ristiscb fiir den sog. envorbenen Scbwacbsinn in seinen verscbiedenen Formen (Dementia paralytica, secundaria, senilis, epileptica, alcobolica u. s. w.). In der iibergrossen Mebrzabl der Falle ist er progressiv. Scbliess- licb geben diesen Kranken aucb die einfacbsten concreten Begriffe ver- loren. Ganz besonders rascb pflegen die Kranken aucb diejenigen Er- innerungsbilder einzubiissen , welcbe sie erst vor kurzer Zeit, speciell also nacb Beginn ibres Leidens erworben baben. Erst nacb und nacb

*) Viele Autoren lassen alle willkurlichen Bewegungen aus diesen Bewegungs- vorstellungen hcrvorgehen.

Die Sterungen der Vorstellungen oder Erinnerungsbilder.

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werden anch die Erinnerungsbilder, welche clem Kranken aus langst vergaugener Zeit uoch ziir Verfiigung stelien, von dem Krankbeits- process ergriffeu. Dies allmablicbe Fortschreiten der Einbusse der Er- inuerungsbilder von der Jiingstvergangenheit zur Langstvergangenbeit wird von Ribot als das Gesetz des riickscbreitenden Erinnerungsverlustes (Loi de la regression) bezeicbnet. Dasselbe erklart sicb offenbar daraus, class diejenigen Erinnerungsbilder der Langstvergangenbeit, z. B. der Jugend, welcbe ilberbaupt im mittleren Alter nocb erbalten zu sein pflegen und deren Verlust allein als krankbaft in Betracbt kommen kann, im Laufe des Lebeus clurcb baufige Reprodiictionen so sebr eingepragt und befestigt worden sind, class sie dem Krankbeitsprocess stilrkeren Widerstand leisten. Fiir das geringe Haften der nacb. Beginn der Psycbose er- Avorbenen Erinnerungsbilder kommt speziell nocb in Betracbt, class die Ganglienzellen mit clem Einsetzen der Krankbeit durcb ibre patbo- logiscben, zum Tbeil unter clem Mikroskop post mortem nacbweisbaren Veranclerungen scbon die A uf nab me der Erinnerungsbilder in mangel- bafter und unvollkommener Weise vollzieben.

Was eben liber den Verlust einfacber und zusammengesetzter Er- innerungsbilcler gesagt wurcle, gilt nun gauz in clerselben Weise aucb fill’ gauze Reiben von Eriunerungsbilclern. Ein Erlebniss binterlasst uicbt ein einziges Erinnerungsbilcl, sonderu eine cbronologiscb geordnete Reibe einzelner tbeils einfacb^’ tbeils zusammengesetzter Erinnerungs- bilcler. Aucb solcbe cbronologiscb geordnete Reiben geben bei dem er- worbenen Scbwacbsinn verloren: der Kranke vergisst seine Erlebnisse und zwar wieclerum zuerst diejenigen der jiiugsten Vergangenbeit. Encllicb legen wir viele Erinnerungsbilder in ganz bestimmten associativen Verknlipfungen niecler. *) So lernen wir, class 7x8 = 56, class die Hauptstadt von Frankreicb Paris ist, class 1 Tbaler 3 Mark entspricbt etc. Haufig geben nun die einzelnen Erinnerungsbilder zwar nicbt ver- loren, wobl aber ibre associativen Verknlipfungen. Aucb dieser Verlust der associativen Verknlipfungen kommt zuweilen ganz isolu’t, cl. b. be- scbrankt auf eine einzige Associationsbabn vor. Plierber gebort z. B. die scbon erwabnte „optiscbe Apbasie^b Kranke mit optiscber Apbasie erkennen alle Gegenstancle (sind also nicbt seelenblind), fiuclen aber fiir die ibnen gezeigten Gegenstancle die spracblicbe Bezeicbnung nicbt. Erst wenn sie den Gegenstand nicbt nur seben, sonclern aucb betasten dlirfen, finclen sie das Wort fiir den Gegenstand sofort. Hier sind die einzelnen Er- innerungsbilder erbalten, aber die associative Verknlipfung zwiscben den optiscben Erinnerungsbilclern des Hinterbauptlappens und clem moto-

*) Strong genommcn beruht auch die chronologische Ordnung der einzelnen Erinnerungen eines Erlebnisses auf solcben associativen Verknupfungen.

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Die Sttirimgen der Vorstellungen oder Erinnerungsbilder.

rischen Sprachcentrum ist durch eine Heerderkrankung zerstdrt. Sehr viel liaufiger ist ein iiber die ganzc Hirnrinde ausgebreiteter diffuser Untergang der associativen Verkniipfiingen. Derselbe ist, ebenso wie der Untergang der Erinnerungsbilder selbst , charakteristiscb fiir alle Formen des erworbenen Schwachsinns. Den Folgeerscbeinungen dieses Untergangs der associativen Verkniipfungen werden wir spiiter bei Be- sprecbung der Storungen der Ideenassociation nocli bfters wieder begegnen.

Eine ganz besondere Form des Verlustes einer cbronologiscb zu- sammengehorigen Reihe von Erinnerungsbildern resp. der zugehorigen associativen Verkniipfungen stellt die sog. Amnesie dar. Dieselbe ist dadurcb ausgezeichnet, dass lediglich alle oder fast alle einem ganz be- stimmten, auch anderweitige Krankbeitssymptome aufweisenden Zeitraum angehdrigen Erlebnisse vergessen sind. Mitunter lasst sicb genau fest- stellen, von welcber Stunde und Minute an und bis zu welcber Stunde und Minute der Krankheitszustand , fiir den Amnesie bestebt, gedauert bat. Man bezeicbnet solcbe Krankbeitszustande mit nacbfolgender Amnesie aucb kurz als Dammerzustande (oder weniger zweckmassig aucb als Zustiinde der Bewusstseinsstorung oder Bewusstlosigkeit). Ist die Am- nesie keine totale, so spricbt man von „summari sober Erinnerung" Oder ^partiellem Erinnerungsdefect'^ Diese Amnesie berubt wabr- scbeinlicb, ebenso wie die analoge fiir Tiiiiume, darauf, dass associative Verknupfungen derjenigen Empfindungen und Vorstellungen, welcbe wiibrend des Diimmerzustandes auftreten, mit denjenigen des normalen Zustandes vor und nacb jenem Zeitraum aus irgend einem Grunde unter- bleiben oder verloren geben. In seltenen Fallen findet man, dass bei Wiederbolung des Diimmerzustandes wabrend des neuen Diimmerzustandes die Erinnerung fiir die Erlebnisse des ersten wiederkebrt ; man bezeicbnet dies als „alternirendes Bewusstsein", Dammerzustande mit nacbfolgender Amnesie finden sicb namentlicb bei Epilepsie, Hysterie, Intoxicationen, nacb Kopfverletzungen und als sogen. „transitoriscbes Irresein"; aucb die Zustande der Scblaftrunkenbeit , des Scblafwacbens und Scblafwan- delns, sowie der Hypnose gebbren bierber.

2. Falschung von Erinnerungsbildern.

Die Erinnerungsbilder unserer Hirnrinde steben untereinander in ausgiebigster associativer Verkniipfung. So kommt es, dass unter dem Einfluss der Ideenassociation die Gruppirung und associative Verkniipfung der Erinnerungsbilder in krankbafter Weise veriindert werden kann (Erin- nerungsentstellungen), oder Erinnerungsbilder, deren zu Grunde liegende Empfindungen nicbt einmal in annabernd entsprecbender Verkniipfung je aufgetreten sind, associativ verkniipft werden (Erinnerungstauscbungen).

Storungen der intellectuellen Geftlhlstdne oder AfFectstdrungen.

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Beide Storungen betreffen ausschliesslich die Erlebnisse des Kranken selbst. Die Hysteriscbe macbt aiis dem Besuch des Arztes einen Stuprum- versiich (Erinnerungsentstelliing), der Paralytiker erfindet obne jeden tliat- sacblicben Inbalt Jagden nnd Abenteuer, die er mit alien Einzelheiten er- lebt baben will (Erinnerimgstauscliung). Da diese Falschungen der Er- innerungsbilder stets bereits Storungen der Ideenassociation voranssetzen, werden dieselben ansfiibrlicher erst unter diesen besprocben werden.

c. Storungen der intellectuellen Oefiihlstdne oder

AfFectstorungen.

Sowobl den Empfindungen wie ihren Erinnerungsbildern, den Vor- stellungen, kommt ein Gefiihlston zu. Die Gefiiblstone der Empfindungen werden als sensorielle Gefiiblstone, die Gefiiblstone der Vorstellimgen als intellectuelle Gefiiblstone bezeicbnet. Znnacbst kommen nnr den Empfindungen Gefiiblstone zu, und die Vorstellimgen bekommen ibre Gefiiblstone einfacb von den zu Grunde liegenden Empfindungen. Die pathologiscben Storungen der Gefiiblstone der Empfindungen sind bei der Lebre von den Empfindungsstbrungcn bereits erortert worden. Die Gefiiblstone von Vorstellimgen, deren Empfindungen von krankbaft veranderten Gefiiblstonen begleitet waren, iiberkommen selbstverstandlicb von den Empfindungen aucb diese krankbaft veranderten Gefiibls- tone. Der Kranke, welcher an contraren Sexualempfindungen leidet, begleitet nicbt nur seine Empfindungen mit pathologiscben Gefiibls- tonen, sondern aucb sein Vorstellungsleben zeigt die entsprecbende Veranderung der Gefiiblstone: aucb in der Pbantasie sind die Be- ziebungen zum eigenen Gescblecbt bei diesen Kranken mit krankbaften Lustgefiiblen verkniipft. Es wiirde sonacb scbeinen, als sei eine besondere Besprecbung der intellectuellen Gefiiblstone ganz iiberfliissig. Dem ist jedocb nicbt so. Die intellectuellen Gefiiblstone erfabren bei dem Menscben eine fiir das gesunde und kranke Geistesleben hbcbst be- deutsame Weiterentwicklung. Es kommt namlicb ein friiber bereits gestreiftes Gesetz zur Geltung, welcbes folgendermaassen lautet: Hat von zwei gleicbzeitigen Vorstellungen Vi und Vg V^, weil es von einer mit stark positivem, resp. negativem Gefiiblston bebafteten Empfin- dung El stammt, einen intensiv positiven resp. negativen Gefiiblston, bingegen V2, weil es von einer gleicbgiiltigen Empfindung Eg stammt, keinen oder nur einen schwacben Gefiiblston, so iibertragt sicb der starke Gefiiblston von Vj auf Vg. Man bezeicbnet diese Uebertragung als Irradiation der Gefiiblstone. Besonders stark ist diese Irradiation bei solcben Vorstellungen, welcbe gleicbzeitig niedergelegt wurden oder,

58

StCrungen der intellectuellen GefdhlstOne oder Affectstdrungen.

anclers ausgedriickt , deren zugeliorige Empfindungen gleiclizeitig auf- getreten sind. Wenn ich an einem beliebigen Orte einen Unfall z. B. eine Verletznng erlitten babe, so ist kiinftig niclit nur die Erinnerung an diese Verletznng von einem Unlustgefiilil begleitet, sondern baufig ist mir ancb die Erinnerung an den Ort selbst verleidet, d. b. eben- falls mit einem Unlustgefiibl verkniipft. Die genauere Analyse des psycbologiscben Vorganges ergiebt Folgendes: Eine bestimmte Oertlicbkeit erregt in iins die Empfindung Eo, gleicbzeitig baben wk bei der Ver- letzung die Berubrungsempfindung Et. Eo ist von keinem oder sebr scbwacbem Gefliblston begleitet. Et ist scbmerzhaft, also von intensiv negativem Gefliblston begleitet. Von Eo bleibt das Erinnerungsbild Vo, von Et das Erinnerungsbild Vt zuriick. Vo und Vt als gleicbzeitig niedergelegte Vorstellungen steben untereinander in associative!' Ver- kniipfung. Vo entbebrt zunacbst des Gefiiblstons, Vt iiberkommt den intensiv negativen Gefliblston von Et. Das Irradiationsgesetz aussert sicb nun im vorliegenden Fall darin, dass Vt seinen Gefliblston in voller oder abgescbwacbter Intensitat auf das associativ mit ibm ver- knlipfte Vo iibertragt. Die Folge biervon ist, dass kiinftig aucb die Erinnerung des Ortes, obwobl dessen Empfindung nie von negativem Gefliblston begleitet war, von Unlustgefiibl begleitet ist. Der Geflibls- ton von Et bat sicb bier direct auf Vt und indirect aucb auf Vo iiber- tragen. Aber die Uebertragung gebt nocb weiter. Wenn icb die Oert- licbkeit wiedersebe, also Eo ' sicb wiederbolt, so ist dies Eo baufig von Unlustgefiibl begleitet. Es bat also weiterbin Vo seinen Vt resp. Et entlebnten Gefliblston auf das zweite Eo libertragen. Die Empfindung bat mitbin bier ibren Gefliblston der Vorstellung entlebnt. Man be- zeicbnet diese Gefliblstone der Empfindung, welcbe derselben nicbt ur- spriinglicb zukomnien, sondern den Vorstellungen entlebnt sind, als reflectirte Gefliblstone. Neben der Irradiation der Gefliblstone ist diese Reflexion der Gefliblstone die wicbtigste Erscbeinung unseres Ge- fliblslebens.

Die wicbtigste Consequenz des Irradiations- und Reflexionsgesetzes ist folgende: wenn icb in einer gewissen Zeiteinbeit eine oder einige wenige Empfindungen oder Vorstellungen mit gleicbsinnigem starkem Gefliblston babe, so werden .die vielen anderen in derselben Zeiteinbeit auftretenden Empfindungen und Vorstellungen, welcbe zunacbst von keinem oder scbwacbem Gefiiblston begleitet sind, sammtlicb durcb den Gefiiblston jener einen Vorstellung (oder Empfindung) gefarbt. So kommt es, dass sebr baufig innerbalb einer gewissen Zeiteinbeit unsere Em- pfindungen und Vorstellungen eine Gleicbartigkeit der Gefliblstone zeigen. Begrifflicb fassen wir dann den Durcbscbnitt dieser gleicbartigen Ge- fiiblstone der innerbalb einer Zeiteinbeit vorbandenen Empfindungen und

StOmngen der intellectuellen Gefiihlstdne oder Affectstdrungen. 59

Vorstelluugen iiuter clem Wort Stimmung" zusammen. Unsere Stimmimg ist somit nicht ein unabliaugiger, selbstancliger psychischer Process, sondern die Abstraction aus den gleicliartigen Gefliblstonen der Vorstellimgen und Empfindungen innerbalb eines bestimmten Zeitab- scbnittes. Treten innerbalb eines solcben mebrere Vorstellimgen (oder Empfindungen) mit starkem, aber entgegengesetztem Gefublston auf, so bat es gar keinen Sinn, von einer einbeitlicben Gemiitbsstimmimg zu reden.

Die Gefiiblstbne und Stimmimgen beeinflussen in bobem Maass die Ideenassociation und das Endglied derselben, die Handlung. Insofern die Gefiible beide beeinflussen, bezeicbnet man sie aucb als Affecte. Der Einfluss der Affecte auf den formalen Ablauf der Ideenassociation bangt fast ausscbliesslicb von ibren Vorzeicben ab, Traurige oder de- pressive Affecte (mit negativem Vorzeicben) verlangsamen den Vor- stellungsablauf, beitere oder exaltirte Affecte (mit positivem Vorzeicben) bescbleunigen ibn. Ganz dasselbe gilt im Allgemeinen aucb von dem Ein- fluss auf die Handlungen. Depressive Affecte fiibren langsam und spiir- bcb zu Handlungen, exaltirte Affecte rascb und ausgiebig.

Nicbt alle Gefiiblstbne sind qualitativ identiscb und nur nacb In- tensitat und Vorzeicben verscbieden. Speciell die intellectuellen Gefiibls- tbne der complicirteren Vorstellimgen zeigen zabllose qualitative Niiancir ungen. Scbon das Lustgefiibl, welcbes die Scballempfindung des Duraccords c e— g begleitet, ist von dem Lustgefiibl, welcbes die Scballempfindung des Mollaccords c es g begleitet, nicbt nur inteusiv, sondern aucb qualitativ verscbieden. Viel verscbiedenartiger nocb sind die Gefiiblstbne, welcbe imsere complexen Vorstellimgen begleiten. Hire bbcbste Differenzirung und Mannigfaltigkeit erreicben diese Gefiiblstbne da, wo sie etbiscbe Vorstellimgen begleiten. Die complexen Vorstellimgen Vaterland, Familie, Nacbster, Ebre, Kecbt, Gesetz etc. sind bei dem normalen Menscben von specifiscben Gefiiblstbnen begleitet, welcbe man aucb direct als etbiscbe Gefiible^^ bezeicbnet. Dieselben sind die Hesultanten zablreicber Irradiationen, welcbe die einzelne Vorstellung von alien associativ mit ibr verkniipften Vorstellungen erfabrt. Bei dem einzelnen Individuum sind diese etbiscben Gefiiblstbne zu verscbiedeuen Zeiten in der Hegel ziemlicb constant: ibre Summe macbt im Wesent- licben das aus, was man als den Cbarakter des Individuums be- zeicbnet. Plaufig driickt man jedocb aucb mit dem Wort „Cbarakter‘^ ganz allgemein das Ueberwiegen gewisser Gefiiblstbne und Stimmimgen bei einem Individuum aus.

Die wicbtigsten krankbaften Stbrungen des Gefiiblslebens sind abgeseben von den friiber bereits besprocbenen Stbrungen der primaren (d. b. nicbt-reflectirten) Gefiiblstbne der ' Empfindung folgende:

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Storungen der intellectuellen Geftihlstfine Oder AffectstOrungen.

1. Krankhafte Depression,

2. Krankhafte Exaltation,

3. Krankhafte Keizbarkeit,

4. Krankhafte Apathie,

5. Krankhafte Labilitiit cler Gefiihlstbne resp. Stimmungen.

1. Krankhafte Depression (Dysthymie).

Wie hei jeder Gefiihlsstorung ist auch bei der pathologischen De- pression d. h. bei dem krankhaften Ueberwiegen negativer Gefiihlstone streng zwischen primaren und secundaren Gefiihlsstbrungen zu unter- scheiden.

Die secundare Depression ist, motivirt durch das thatsach- liche Vorhandensein von Empfindungen oder Vorstellungen mit nega- tivem Gefiihlston. Die unangenehmen Empfindungen, welche eine secundare Depression veranlassen, konnen entweder wirklichen Reizen entsprechen (so z. B. bei Neuralgie) oder auf der friiher besprochenen Hyperalgesie beruhen oder endlich hallucinatorischen Ursprungs sein. In alien drei Fallen ist das Gefiihlsleben selbst nicht primar gestort. Der Hallucinant, der die schrecklichsten Drohworte hort und dariiber verstimmt ist, ist krank, insofern er hallucinirt; die secundare allge- meine Verstimmung fiber diese Hallucinationen ist kein ueues Krank- heitssymptom, sondern eine normale, nach den Gesetzen der Irradiation durchaus selbstverstandliche Reaction auf die Hallucinationen. Ganz dasselbe gilt auch von der allgemeinen secundaren Depression, welche Vorstellungen unangenehmen Inhalts begleitet. Der Paranoiker, welcher sich verfolgt wahnt und dariiber verstimmt ist, ist krank, insofern er eine Wahnvorstellung hat; die durch die Wahnvorstellung hervorgerufene allgemeine Depression ist durch den Inhalt der Wahnvorstellung vbllig ausreichend motivirt.

Anders die primare Depression. Bei dieser fehlen motivirende Empfindungen und Vorstellungen vollstandig oder, wenn solche Em- pfindungen und Vorstellungen vorhanden sind, so steht doch die Schwere und Dauer der allgemeinen Depression in gar keinem Verhiiltniss zu der Geringffigigkeit des negativen Geffihlstons der thatsachlich vorhan- denen Empfindungen und Vorstellungen. Letzteres ist z. B. der Fall, wenn eine Frau in Folge des Todes eines Kindes monatelang so sehr trauert, dass sie alle Arbeiten vernachlassigt, die Nahruugsaufnahme verweigert, unmotivirte Angstanfalle hat, sich in sinnlosen Selbstanlilagen ergeht u. dgl. Hier ist ja thatsachlich eine traurige Empfindung oder viel- mehr ein trauriger Empfindungscomplex, niimlich das Erlebniss des Todes des Kindes vorhanden, und es ware nach dem Irradiationsgesetz ganz

Storungen cler intellectuellcn Gefiihlstono oder Affectstdrungen. 61

verstandlich , wenn langere Zeit eine allgemeine Depression bestancle. Aber in clem augefiibrten Fall iibersteigen die Irradiationen weit die normalen Grenzen. Auch in solcbeu Fallen sprecben wir von einer primaren Depression. In vielen Fallen feblt eine ursacbliche deprimi- rende Enipfindung oder Vorstellung iiberhaiipt ganz. Die Depression bricbt aus heiterem Himmel herein.

Die allgemeine primare Depression stellt sicb in vielen Fallen ein- facb als eine immotivirte Traurigkeit dar. Vergangenbeit und Zukunft stellt sick cler Kranke in clem triibsten Licbte vor und aucb die Em- pfinclungen cler Gegenwart erbalten reflectirte negative Gefiiblstone. Der Kranke empfinclet alles scbmerzlich. Allerdings empfindet er den Cclur- Accord nocb als Consonanz: die primaren sensoriellen Gefiibls- tbne sincl nocb erbalten, aber er freut sicb nicbt uber den Woblklang: die Eeflexion cler patbologiscben negativen Gefublstone cler Vorstel- bingen wirkt auf die Empfinclungen zuruck. Die Kranken seben alles Grau in Grau. Die Froblicbkeit ibrer Umgebung stimmt sie doppelt. traurig.

In vielen Fallen kommt zu clieser allgemeinen Traurigkeit eim wef- terer Afifect binzu, die Angst. Die Angst tritt bald obne irgendwelcbe begleitenclen korperlicben Empfinclungen auf, bald ist sie mit den mannig- faltigsten Sensationen vergesellscbaftet. Im Allgemeinen ist letzteres. baufiger. Speciell ist die Angst sebr baufig mit einem qualvollen Oppressionsgefubl in cler Herzgegend verknupft. Man bezeicbnet dies© Form cler Angst als Pracordialangst. In anderen Fallen geben die Kranken an, dass es aus der Herzgegend „wie ein beisser Strom zum Kopf binaufziebe^b Mancbe Kranken klagen aucb fiber ein die Angst begleitencles Constrictionsgeffibl im Halse oder fiber ein Wallen und Klopfen im Abdomen. Endlicb klagen viele Ifranke lecliglicb fiber eine Empfindung der Unrube, welcbe bald im ganzen Korper, bald in den Beinen, bald in den Armen besonders baufig auftritt. Entsprecbend dem Sitz clieser Empfinclungen localisiren nun aucb die Kranken ibre Angst. Aucb die einfacbe Depression wircl zuweilen localisu’t; so klagte eine Kranke fiber ein „nagencles Kummergeffihl in der Magen- gegencUb Daber sprecben die einen direct von Herzensangst, andere von Brustangst, wieder andere, bei clenen qualvolle Begleitempfinclungen im Abdomen oder Kopf auftreten, von Unterleibsangst oder Kopfangst. Zuweilen wircl aucb die Localisation cler Angst durcb zufallig coexisti- rende Sensationen oder Scbmerzen bestimmt, welcbe scbon lange vor dem Auftreten cler Angst bestanden baben. In den Fallen, wo Begleitem- pfindungen ganz feblen, aussern die Kranken entwecler, die Angst ;,sitze fiberalF^ oder „es sei nur eine Seelenangst", oder endlicb

ver-

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StOrungen der intellectuellen GefuhlstOne oder Affectstorungcn.

legeii sie aucli man kann sagen faute de mieux ihre Angst trotz Abwesenheit entsprecliender Begleitempfindungen in den Kopf.

Ueber das Verliiiltniss der Angst zu den erwabnten Begleitempfindun- gen ist \fiel gestritten worden. Man ist oft so weit gegangen, dass man jene Begleitempfindungen direct als die Ursacbe jeder Angst bezeicbnet bat, und bezeicbnete z. B. speciell die Pracordialangst direct als eine vasomotoriscbe Neurose des Herzens. Diese Auffassung scbeitert scbon an der Tbatsacbe , dass die Begleitempfindungen zuweilen aucb bei lieftiger Angst ganz felilen konnen. Die Angst ist vielmebr zuniichst und in erster Linie, wie alle normalen und alle patbologischen Affecte, corticalen Ursprungs. Defter und intensiver als andere Affecte iibt die Angst einen Einfluss auf die quergestreifte und glatte Muskulatur des Korpers. Dieser aussert sicli zunacbst in den sogenannten Angst- bewegungen, dem angstlichen Reiben der Hande und Hinundherfabren der Beine. Der Kranke empfindet diese Bewegungen wie alle anderen Bewegungen : so entstebt die Begleitempfindung allgemeiner Unrube, welcbe oben erwabnt wurde. Andererseits veriindert die Angst baufig die Respiration : in der Angst atbmet der Kranke rascber, aber dies rasche Atlimen wird bfter durcb eine lange Pause und uacbfolgendes tiefes saccadirtes Aufatbmen unterbrocben. So entstelien die Begleit- empfindungen der „Brustangst‘fi Nocb wichtiger ist endlicb der Einfluss der Angst auf die Circulation. Die periphereu Arterien erfabren eine stiirkere Contraction, die Herztliatigkeit wird beschleunigt, unregelmassig und weniger ausgiebig. So kommt es zu dem „Angstscbauer“ und der „Herzunrube^^, fiber welcbe viele Kranke klagen. Es ist ferner nicbt unwabrscbeinlicb, dass der Arterienkrampf, welcber die peripberen Ar- terien betrifft, sicb aucb auf die Kranzarterien des Herzens erstreckt. Da wir nun aus dem kliniscben Bild der Angina pectoris resp. Steno- cardie wissen, dass ein solcber arterieller Gefasskrampf, sei es der peripberen Arterien, sei es speciell der Coronararterien, aucb obne Psycbose qualvolle Empfindungen in der Herzgegend bediugt, deren Geffiblston direct als Angst bezeicbnet werden kann, so liegt auf der Hand, dass gerade die vasomotoriscbe Wirkung der Angst im bocbsten Maass geeignet ist erstens rfickwirkend die Angst zu verstarken und zweitens die Localisation der Angst in die Herzgegend zu veranlasseu. So entstebt das kliniscbe Bild der Pracordialangst. Bei Besprecbuug der Ausdrucksbewegungen wird auf die korperlicben Erscbeinungen der Pracordialangst zurfickgekommen werden. Hier sei nur nocb bemerkt, dass in seltenen Fallen aucb Scbmerz mit der Pracordialangst sicb ver- knfipft. Zuweilen strablt derselbe sogar in die linke Scbulter und den linken Arm aus. In dieseu Fallen kann man geradezu von einer die Psycbose begleitenden Stenocardie sprecben.

Storungen der intellectuellcn Gefiihlstdne odor Affcctstdrungen.

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Die Angst in jecler Form tritt bald continuirlich bald an- fallsweise auf. Ancli ein reinittirender Typus (anfallsweise Verstarkungen) wil'd biinfig beobacbtet.

Die Folgeerscheinungen der primaren Depression imd Angst iiussern sicli beziiglicb der Ideenassociation in der spater ausfiihrlich zn besprecbenden Denkhemniung, d. h. in einer krankhaften Verlang- samung des Vorstellungsablaufs. Es dauert oft Minuten, bis solcbe Kranke das einfacbste Kecbenexempel aiis dem Einmaleins ricbtig rechnen. Mitunter erscbeint diese Denkbemmung ancli als coordinirtes, der De- pression parallel gehendes Begleitsyinptom. Auf motoriscbem Gebiet also beziiglicb der Handlungen bedingt die Depression eine ganz analoge Hemmung, welcbe man als „motorische Hemmung oder Ge- biindenheit^^ bezeichnet. Dieselbe aussert sich bald in einer volbgen Resolution der gesammten Korpermusculatur, bald in einer gleicb- miissigen Spannung der Korpermuskeln. In letzterem Fall spriclit man von „katatonischen^^ Zustiinden oder „Attonitat^^ Bei Besprechung der Handlungen wird auf diese motorischen Symptome ausfiibrliclier zuriick- gekommen werden miissen. Die Angst kann dieselben motoriscben Secnndarsymptome bervorrufen wie die Depression, also gleicbfalls mo- toriscbe Hemmung entweder in Form einer volbgen Resolution oder in Form katatonischer Spannungen. Sehr baufig beobacbtet man jedocb aucb, dass die Angst die motoriscben Innervationen in einer gewissen Ricbtung verstilrkt und bescbleunigt : die Kranken ringen die Hiinde, zupfen an den Fingerbeeren, wecbseln die Lage resp. Stellung der Beine fortwabrend oder laufen rube- und planlos bin und her. Man bezeichnet diese Folgebewegungen der Angst aucb direct als Angstbewegungen und den ganzen Zustand als iingstlicbe Agitation. Wesbalb die Angst in dem einen Fall motorische Hemmung und im anderen Agitation bedingt, ist nocb nicbt aufgeklart. In nicbt wenigen Fallen wecbselt aucb der Einfluss der Angst auf die Bewegungen: Hemmung und Agi- tation losen sich gegenseitig ab. Man darf daber aucb der Hemmung solcber Kranken nie trauen: dieselbe kann sich plotzbcb losen und scliwerer Agitation mit jaben Selbstmordversucben Platz macben.

Ausser dem eben erwahnten Einfluss auf den Ablauf der Ideenasso- ciation und die Bewegungen aussert die Depression und Angst baufig aucb einen Einfluss auf den Inbalt der Ideenassociation , indem sie Wahnvorstellungen hervorruft. Der Kranke sucbt eine Erklarung fiir seine Angst, und als willkommene Erklarungsversucbe bieten sich ibm die Wahnvorstellungen der Versiindigung, der Verarmung, des Unbeilbar- krankseins (seltener der Verfolgung) dar. Selbstverstandbcli handelt es sich bier nicbt um ein absicbtbcbes Erklaren, sondern die Stimmungs- anomabe beeinflusst die Urtheilsassociationen der Kranken in ibrem

(54 Stor ungen der intellectuellen Gefiihlstone oder AfTectstorungen.

Sinne. Bei Besprechung des Kleinheitswalins wird spater auf diese secundaren Walinvorstellungen ausfiilirlich eingegangen werden. Haufig bezeiclmet man dieselben direct als Angstvorstellungen. In selteneren Fallen konimt es aucli zu secundaren Hallucinationen ent- sprecbenden Inhalts.

Das Yerhilltniss einer bestehenden Depression bezw. Angst zu gleich- zeitigen Walinvorstellungen kann sonach ein doppeltes sein. Entweder ist die Depression bezw. Angst das Primare und die Wabnvorstellungen sind secundare Erklarungsversuche derselben, oder die Walinvorstellungen sind primar und erzeugen in Folge ibres Inhalts secundare Depression oder Angst.

Das Vorkommen primarer Depression ist ausserst ausgedehnt. Namentlich intercurrente Zustande prirnarer Depression mit oder ohne Angst finden sich gelegentlich bei jeder Psychose. Sehr haufig sind Zustande primarer Depression (meist ohne Angst) auch im Prodromal- stadium vieler Psychosen, z. B. der Manie. Ein langeres Stadium ausgesprochener primarer Depression findet sich ungemein haufig im Verlauf der Dementia paralytica, desgl. zuweilen im Verlauf der Dementia senilis. Eine primare Depression, deren Intensitiit und Irra- diation in der oben geschilderten Weise in keinem Verhaltniss zu den thatsachlichen Beschwerden steht, findet sich namentlich bei der hypo- chondrischen Form der Nervositiit. Auch finden sich bei der Neu- rasthenic anfallsweise Angstaffecte sehr haufig. Endlich existirt eine Psychose, fiir welche primare Depression mit oder ohne Angst das Cardinalsymptom ausmacht: es ist dies die Melancholic. Hier ist die Stimmungsanomalie das friiheste und constanteste Symptom, welches das ganze klinische Bild dauernd beherrscht.

2. Krankhafte Exaltation (Hyperthymie).

Auch das pathologische Ueberwiegen positiver Gefiihlstone, die heitere Verstimmung oder Exaltation tritt bald primar, bald secundar auf. Die secundare Exaltation beruht auf Wahnvorstellungen oder Sinnestauschungen entsprechenden Inhalts. Die primare tritt motivlos- auf. Der Verlauf der primaren Exaltation ist durchweg ein continuir- licher, doch kommen Exacerbationen dfter vor. Begleitempfindungen spielen hier nicht eine so einflussreiche Rolle wie bei der primaren Depression und bei der primaren Angst. Die Veranderung dei Respi- ration und des Pulses hat selten etwas Charakteristisches. In lolge des Fehlens von Begleitempfindungen kommt es auch sehr selten zu einer bestimmten Localisation der Exaltation. liochstens bekommt man gelegentlich von den Kranken zu horcn, „sie hatten eine Unruhe und

Storungen der intellectuellen Gefiihlstdne oder Affectstdrungen.

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ein Prickeln in alien Gliedern", eine Aeusserung, welche im Folgendeu sofort ikre Erklarung finden wird.

Der Einfluss der Exaltation auf die Ideenassociation aussert sick in der sog. Ideenfluclit, h. d. in einer krankhaften Beschleunigung des Vor- stellungsablaufs. Sprachlicli kommt es dalier zu der sog. Logorrkoe, d. li. einem hastigen, fortwakrenden Sprecken. Andere Corollarsymp- tome der Ideenfluckt, wie die Vorliebe fiir Reime, Assonanzen und Wortspiele , die Steigerung der Aufmerksamkeit fiir alle Sinnesein- driicke, das Springende des Denkens (die sog. secundare Incokarenz) werden kei Bespreckimg der Storungen der Ideenassociation ausfiikr- lick gesckildert werden.

Der Einfluss auf die Bewegungen und Handlungen der Kranken entsprickt ganz dem Einfluss auf die Ideenassociation. Die Uebertra- gungen der Rindenerregungen in das motoriscke Gebiet sind besckleunigt und vermekrt. Es bestekt die sog. kypertkymiscke Agitation. Ikrer Intensitiit nack sckwankt dieselbe zwiscken den leicktesten Graden der Uebergesckaftigkeit und den sckwersten Zustanden der Toksuckt.

Auck secundare Waknvorstellungen erzeugt die primare Exaltation ganz ekenso wie die primare Depression und Angst, und zwar sind es bier Waknvorstellungen im Sinn eines gekokenen Selbstgefiikls, also Grossenideen im weiteren Sinne des Wortes, auf welcke der Kranke in Folge seiner Exaltation verfallt. Meist sind diese secundaren kypertky- miscken Grossenideen entspreckend der zugleick bestekenden Ideen- fluckt sekr weckselnd und fliichtig. Auf die Stimmung der Kranken iibt dies gekobene Selbstgefiikl oft eine sekr bemerkenswertke Riick- wirkung aus. Es verleitet namlick die Kranken zu allerkand An- spriicken und Anmaassungen , welcke in der Umgebung auf Wider- stand stossen. Die Gefiiklsreaction , mit welcker nun der exaltirte

Kranke auf den Widerstand der Umgebung antwortet, ist der Zorn. So kommt es, dass Zornaffecte sick mit der keiteren Stimmung fast ekenso kaufig verkniipfen wie Angstaffecte mit der traurigen Verstim- mung. Dabei ist der psyckologiscke Zusammenkang in beiden Fallen ein wesentlick versckiedener. Mit der Neigung zu Zornaftecten kangt sckliesslick auck der aggressive Ckarakter der exaltirten Kranken, welcker speciell in den kokeren Graden der Exaltation selten zu feklen pflegt, eng zusammen.

Das Vorkommen der secundaren Exaltation ist erklarlicker Weise ganz durck das Vorkommen der ursacklicken primaren keiteren Waknideen und Hallucinationen bestimmt. Primare Exaltation flndet sick intercurrent gelegentlick bei jeder Psyckose. Im Verlaufe der Dementia paralytica flndet sick ungemein kauflg vor, seltener nack dem oben erwaknten depressiven Stadium ein Stadium leickter primarer

Ziehen, Psychialrie. 5

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Stfirungen der intellectuellen GefUhlstOne oder AffectstOrungen.

Exaltation (hyperthymisches Stadium). Ein Zustand primarer Exal- tation scliliesst sicli weiterhin in der Reconvalescenz oft an solche Psycliosen an, welclie wahrend ilires Verlaufes vorzugsweise depressive Stimmung darboten, also namentlich an die Melancbolie. Man be- zeicbnet diese die Reconvalescenz begleitende primare Exaltation als reactive Hyperthymie. Endlicb bildet die primare Exaltation analog dem Verbaltniss der primaren Depression zur Melancbolie das Cardinalsymptom einer bestimmten Psychose, namlicb der Manie.

Nicbt selten beobachtet man, dass Phasen primarer Exaltation und Pbasen primarer Depression ganz regelmassig abwecbseln. Es folgt dann also z. B. auf ein primares Depressionsstadium ein ausgesprochenes Stadium primarer Exaltation, dessen Intensitat iiber diejenige einer leicbten reactiven Hyperthymie weit binausgebt. Nach kiirzerer oder langerer Rube folgt wiederum ein Stadium primarer Depression, dem sicb wiederum ein Stadium primarer Exaltation [anscbliesst. Dieser Cyclus wiederbolt sicb nun unzablige Male. In selteneren Fallen bildet das Exaltationsstadium die erste, das Depressionsstadium die zweite Phase eines jeden Cyclus. Ganz allgemein bezeicbnet man Psycbosen, welcbe in solcben Cyclen verlaufen, als circulare Psycbosen.

3. Krankhafte Reizbarkeit.

Man bezeicbnet als krankhafte Reizbarkeit die specielle Tendenz zu den Affecten des Zorns und des Aergers. Das Patbologiscbe der Affectanomalie liegt darin, dass Zornaffecte zu leicht, d. b. scbon bei minimalen Anlassen, in abnormer Intensitat und mit abnormer Nacbhaltigkeit (als lange anbaltender Aerger) auftreten. Der Zorn ist ein entscbiedenes Unlustgefiibl , also ein negativer Affect, aber seine specielle Farbung bezw. sein Inbalt unterscheiden ibn total von dem Typus der negativen Affecte, der Trauer oder Depression, vde wir sie oben betracbteten. Gewiss liegt bei dem Zorn auch eine scbmerzlicbe Empfindung des eigenen Korpers vor ; der Scblag z. B., den icb empfange, erbittert micb, aber die weiteren Irradiationen dieses Unlustgefubls be- treffen nicbt das Icb, sondern den Gegenstand oder die Person, auf welcbe wir unsere scbmerzlicbe Empfindung, z. B. den Scblag, zui’iick- fiibren. Der Zorn kebrt sicb wider den Scblagenden. In den scbwer- sten Fallen vergreift sicb der Zornige in Folge immer weiterer Irradia- tionen aucb an der leblosen Umgebung, er zertrummert Gegenstand e Oder greift Unscbuldige an, aber nur sehr selten wendet er sicb gegen sicb selbst. Das ;,Icb" bleibt von den Irradiationen des Unlustaftects im stricten Gegensatz zu der oben besprocbenen Depression fast vollig verscbont. Das Selbstgefuhl ist meist geboben. Der Zorn ist der An griffs affect xax’ e^oxrjv.

St5rungGn dor intollGctuollGii GofiililstdnG odor -Affectstoruii^Gn. 07

Die Begleitempfindungen des Zorns spielen psychologiscli keine er- Iiebliche Rolle. Wir wissen nocli nicht einmal genau, wie der Zorn Respiration und Circulation beeinflusst. Erstere zeigt wahrend des Zornaffects meist grosse Unregelmassigkeiten; speciell iiberwiegen, bevor die Entladung des Zorns in explosiven Handlungen stattfindet, protra- bu'te, leicbt abgesetzte Inspirationen und Exspirationen. Die peripheren Arterien sind anf der Hohe des Zornaffects meist eng contrabirt. Das Gesicbt des Zornigen ist daher entgegen der gewobnlicben Ansicht blass. Nur im Anfang des Zornanfalls und am Scbluss desselben beobacbtet man eine erbebliche Gefasserweiterung, speciell Congestionen zum Kopf. Die Pulswelle ist meist niedrig. Alle diese Veranderungen baben nur geringe Riickwirkung auf die psycbologiscbe Farbung des Affects. Es kommt daber aucb selten zu einer Localisation des Zorn- affects in eine bestimmte Korpergegend.

Der Einfluss des Zorns auf die Ideenassociation aussert sich meist in einer anfanglicben Verlangsamung des Vorstellungsablaufs, auf welcbe bei weiterem Anwacbsen des Zorns plotzbch eine explosive Beschleunigung des Vorstellungsablaufs folgen kann. Ganz abnlich, aber in viel be- deutsamerer Weise werden die Handlungen beeinflusst. Der Zorn zeigt nicbt wie die beitere Erregung von Anfang an gesteigerte motorische Entladungen, sondern zunacbst eine motorische Hemmung, und erst wenn eine Summation der motoriscben Erregung bis zu einer gewissen Kobe stattgefunden hat, erfolgen mit explosiver Heftigkeit jabe, be- scbleunigte motorische Actionen. Das Gesammtbild derselben wil’d als die Tobsucbt des Zorns bezeicbnet. Cbarakteristiscb fiir die Zorn- handlungen ist die Abkiirzung des Spiels der Motive. Die Empfindungs- erregung setzt sich obne Dazwiscbentreten von Vorstellungen in die motorische Erregung um. Jede Ueberlegung fallt fort. Speciell bleiben bemmende Vorstellungen ganz aus. Riicksichtslos, aucb mit Bezug auf das Wobl der eigenen Person, erfolgen die motoriscben Entladungen. Dabei ist die Energie der Bewegungen zuweilen maasslos gesteigert. Aucb bat man oft von einer Incoordination der Zornbewegungen ge- sprocben. Dies ist ricbtig, insofern der coordinirende und regulirende Einfluss von Vorstellungen auf ein Minimum reducirt ist; eine wirklicbe Ataxie, aucb eine corticale, im gewobnlicben Sinne kommt nicbt vor. Man spricbt daber besser von einer Incobarenz der Zornbandlungen.*) Sebr baufig aussert sicb diese Incobarenz ubrigens aucb in dem Vor- stellungsablauf. Auf der Kobe des Zorns taucben oft nur ganz abortiv einzelne Vorstellungen, deren associatives Band kaum zu erkennen ist, auf. Hiermit bangt es aucb, wie bei Besprecbung der Amnesie naber

*) So erklarGn sich auch die lallende Sprache des Zornigen und seine Anakoluthe in der Satzbildung.

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68 Stfirungen der intellectuellen GefUhlstOne oder Affectstdrungen.

zu erlaiitern sein wird, zusammen, dass der Kranke fiir die Motive seiner Zornhandlimgen und niclit selten auch fiir die Zornhandlungen selbst eine liickenliafte Erinnerung hat.

V 0 r k 0 m ra e n der krankhaften Reizbarkeit. Das gelegentliche Hinzutreten pathologischer Zornmiithigkeit zu der heiteren Verstimmung wurde schon oben erwahnt und erklart. Ganz abzusehen ist bier auch von den schweren secundaren Zornafl'ecten , welche auf Grund von Wahnvorstellungen und Sinnestauschungen entsprechenden Inhalts auf- treten. Das Pathologische liegt in diesen Fallen in den primaren Wahn- ideen und Sinnestauschungen, nicht in dem Zornaffect. Primare Zornaffecte finden sich am haufigsten bei folgenden Psychosen:

1. dem angeborenen Schwachsinn;

2. den epileptischen Psychosen, namentlich der erworbenen epilepti- schen Demenz;

3. bei anderen Formen des erworbenen Schwachsinns ;

4. dem neurasthenischen Irresein.

Die schwersten Zornaffecte findet man bei der Epilepsie. Man hat daher geradezu von einem Furor epilepticus gesprochen. Die krank- hafte Zornmiithigkeit der Neurasthenie aussert sich ofter in der ab- normen Nachhaltigkeit der Zornaffecte („der neurasthenische Aerger“) als in der Heftigkeit des einzelnen Affects.

Sehr haufig ist krankhafte Reizbarkeit auch in den Initial- resp. Prodromalstadien vieler Psychosen. So begegnet man derselben oft unter den Vorlaufersymptomen der Dementia paralytica, der Paranoia etc. Endlich ist auch in der Reconvalescenz mancher acuter Psychoseu krank- hafte Reizbarkeit nicht selten. Sie verbindet sich hier oft mit einer eigenthiimlichen Weinerlichkeit. Diese weinerliche Zornmiithigkeit findet sich z. B. auch in der Reconvalescenz solcher Manien, welche auf der Hbhe neben der heiteren Verstimmung gar keine oder nur geringfiigige Zornaffecte gezeigt hatten.

4. Krankhafte Apathie.

Das pathologische Fehlen intellectueller Gefiihlstone und der zuge- hbrigen reflectirten sensoriellen Gefiihlstone tritt bald allgemein auf bald beschrankt auf ganz bestimmte Vorstellungs- und Empfindungs- gebiete.

Die allgem eine Apathie entspricht noch am meistem dem, was man popular als Apathie bezeichnet. Alle intellectuellen und reflectirten Gefiihlstone sind gleichmassig herabgesetzt oder aufgehoben. Am ausge- sprochensten findet sich eine derartige Apathie bei manchen Fallen der Melancholie. Die Kranken geben ausdriicklich an , sie kounten fiber

Storungen der intellectuellen Gefiihlstdne oder AffectstOrungen. 69

niclits mehr froh und iiber nictits mehr traurig sein, sie fiircliteten und liofften, liebten und hassten nicbt mehr, sie fiililten statt des Herzens eiiien gefiibllosen Stein in der Brust. Der einzige Affect, der bei diesen Kranken zuweilen nocb erhalten bleibt, ist das scbmerzliche „Gefiibl eben dieser Gefiibllosigkeit^^, wie gebildete Kranke es direct selbst aus- driicken. Alles sonstige Affectleben ist erlosdien. Ab und zu kommt diese generelle Apatbie aucb bei dem neurastheniscben Irresein sowie bei der Stupiditat vor. So klagen manche Neurastheniker, ibr Idealismus und ihre Begeisterungsfahigkeit seien dahin, die Freude an der Natur, die Liebe zu ibren Angeborigen, das Interesse am Beruf seien ibnen verloren gegangen. Bei der gelegentlicben Apatbie der Stupiditat feblt meist aucb das Depressionsgefiibl iiber die Gefiiblskalte.

Mit der Annabme allgemeiner Apatbie muss man im Allgemeinen sebr vorsicbtig sein. Die Tbeilnabmlosigkeit vieler Geisteskranken an den Vorgangen in ihrer Umgebuug ist nur in einer Minderzabl von Fallen durcb allgemeine Apatbie bedingt. Haufiger ist die Tbeilnabmlosigkeit nur eine ausserlicbe, indem der Kranke entweder willkiirlicb z. B. auf Grand von Wabnideen oder Sinnestauscbungen alle Affectausserungen unterdruckt oder durcb motoriscbe Hemmung an Affectausserungen ver- bindert wird.

Circumscripte Defecte der intellectuellen (und reflectirten) Gefiiblstone sind am baufigsten bei dem Scbwacbsinn. Bei dem ange- borenen Scbwacbsinn kommt es iiberbaupt nicbt zur Entwicklung ge- wisser intellectueller Gefiiblstone, bei dem erworbenen geben gewisse intellectuelle Gefiiblstone allmablicb verloren. Bei den scbwersten Formen des angeborenen Scbwacbsinns bescbrankt sicb das ganze Gefiiblsleben iiberbaupt auf einige sensorielle Gefublstbne (Freude an der Sattigung, am glanzenden Licbt, am flackernden Feuer und sexuelle Befriedigung), und ganz dasselbe finden wir in den scbwersten Endstadien des er- worbenen Scbwacbsinns. In diesen extremsten Fallen konnte man eventuell aucb von allgemeiner Apatbie reden. Viel baufiger ist der Defect, der angeborene wie der erworbene, ein circumscripter. Bei dem angeborenen Scbwacbsinn mittleren Grades sind Zorn, Neid, Hass, Liebe, Dankbarkeit, Hoffnung, Furcbt u. s. w. oft wobl entwickelt, aber die sog. geistigen Interessen kommen nicbt zur Entfaltung. Die sorgfaltigste Erziebung vermag bei dem Kranken, der gebildeten Kreisen entstammt, nicbt das Interesse fur Kunst oder Wissenscbaft, bei dem Landmann nicbt das Interesse an seinen Berufsgescbaften zu erwecken. Endlicb existiren leicbtere Formen des angeborenen Scbwacbsinns, bei welcben der Ge- fiiblsdefect sicb auf die sog. etbiscben bezw. altruistiscben Gefiiblstone bescbrankt. Bei diesen Kranken sind die egoistiscben Gefiible sogar erbeblicb gesteigert, aber die Gefiiblstone, welcbe die etbiscben Vor-

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StOrungen der intellectuellen GefdhlstOne oder Affectstdrungen.

stellungen begleiten, sincl verkiimmert. Es wurcle friiher erwahnt, dass bei den leichten Graden des angeborenen Scbwacbsinns oft nicht einmal die ethiscben Vorstellungen als solche gebildet werden; der Kranke lernt wobl die Worte: gut, bose, Kecht, Uurecht u. dgl. aussprechen, aber er verbindet keinen adaquaten Sinn mit denselben. In den allerleichte- sten Graden des angeborenen Scbwacbsinns sind sogar diese Vorstellungen als solcbe in annabernd normaler Weise zur Ausbildung gelangt, aber die normale Gefllblsbetonung ist ausgeblieben. Der Kranke weiss wobl, was „bose" und was „gut" bedeutet, aber der negative Gefiiblston, der bei dem Gesunden sicb mit der ersteren Vorstellung, und der positive, der sicb mit der letzteren verkniipft, feblt ibm. Da nun der Einfluss einer Vorstellung im Spiel der Motive ganz wesentlicb von der Intensitat ibres Gefiiblstons abbangig ist, so baben. bei diesen Kranken etbiscbe Begriffe so gut wie gar keinen Einfluss auf die Handlungen. So kommt es, dass unmoraliscbe oder verbrecberiscbe Handlungen bei ibnen sicb fortgesetzt baufen. Man bat diese Form des Scbwacbsinns daber aucb geradezu als „moraliscbes Irresein^^ bezeicbnen wollen.

Bei dem erworbenen Scbwacbsinn sind es andrerseits wieder diese etbiscben Gefliblstbne, welcbe dem Patienten zuerst verloren geben. Er verliert das Gefiibl fiir Scbicklicbkeit und Anstand. In seinen Aeusse- rungen und Handlungen wird er tactlos und cyniscb. Namentlicb leidet aucb das sexuelle Scbamgefiibl scbon friib. Die Wabrbeitsliebe gebt ver- loren. Namentlicb fiir die alkobolistiscbe Demenz ist die zunebmende Unwabrbaftigkeit bezeicbnend. Die Begeisterungsfabigkeit fiir das Scbone und Gute erliscbt. Die Gefiiblsunterscbeidung zwiscben Eecbt und Unrecbt wird unsicber. Aucb bei dem erworbenen Scbwacbsinn sind die etbiscben Begriffe als solcbe oft nocb lange erbalten, aber ein- flusslos geworden, well ibre Gefiiblstone zu Grunde gegangen sind. An die Stelle des Mitleids tritt die Schadenfreude, an die Stelle der Mit- freude der Neid. Selbstverstandlicb giebt es zabllose gesunde Individuen, welcbe zu Schadenfreude und Neid zeitlebens neigen. Es ist also nicbt die nackte Tbatsache als solcbe, welcbe bei den erwabnten Kranken auffallt, vielmebr nur die Cbarakterver an derung. Fiir beginnende Krankbeit beweisend sind diese Gefiiblsdefecte nur, wenn sicb nacbweisen lasst, dass die untersucbte Person friiher anders geartet war und erst seit einer bestimmten Epocbe jene Verrobung wabrnebmen liisst. Im weiteren Verlauf des erworbenen Scbwacbsinns kbnnen diese Gefiibls- defecte fortgesetzt zunebmen. Aucb das Interesse an Beruf, Familie und Besitz kann untergeben und es kann scbliesslich zu jener oben er- wabnten allgemeinen Apatbie kommen , bei welcber das Gefiiblsleben auf einige wenige sensorielle Gefiiblstone eingeengt ist.

Ausser bei dem Scbwacbsinn kommt ein ciixumscripter Defect

Storungen der intellectuellen Gefuhlstdne oder Affectstdrungen. 71

der Gefiililstdne der complicirteren Vorstellungen auch bei manchen chronisclien Psycbosen olme Intelligenzdefect vor. So tritt nament- lich bei chroniscben Kranken mit Wahnvorstellungen oder Zwangs- vorstellungen haufig eine solcbe Einengimg des Horizonts der geistigen Interessen ein. Man bat diesen Zustand auch als Pseudodemenz (Magnan) bezeicbnet. Hier liegt keinerlei Intelligenzdefect vor, viel- mebr ist bier der Gefublsdefect eine Folge der einseitigen, ausscbliess- licben Beberrscbung der Ideenassociation diircb einige wenige patbo- logiscbe Vorstellungen. Jabrelang kommen andere Vorstellungsreiben letzteren gegenliber nicbt auf, das Interesse an den krankbaften Vor- stellungen iiberwiegt so sebr, dass andere complicirtere Interessen er- stickt werden. Mangels jeder Keproduction der zugeborigen Vorstel- bmgen nebmen letztere langsam ab. Bei diesen Kranken leidet weniger das Gefubl fiir Anstand und Sitte, Kecbt und Unrecbt, sondern es verkummern namentlicb die socialen imd altruistiscben Gefiible sowie die Interessen an Kimst, Wissenscbaft, Politik u. s. w. Das Denken der Kranken wird durcbaus egocentriscb, ibr Handeln durcbaus egoistiscb. Aucb bei cbroniscber Neurastbenie kommt es nicbt selten zu diesen Gefliblsdefecten. Selbst bei einfacben cbroniscben korperlicben Krank- beiten (obne ausgesprocbene Psycbose) sowie im Senium kann die ein- seitige Bescbaftigimg mit den korperlicben Leiden bezw. den korper- licben Gebrecben ganz abnlicbe Defecte bedingen. Im Senium ist geradezu eine massige Einengung der intellectuellen Gefiible in dieser Ricbtung nocb als pbysiologiscb anzuseben.

5. Krankbafte Veranderlichkeit der Gefiilile reap. Stimmungen.

Die intellectuellen und reflectirten Gefiiblstone des Geistesgesunden baben eine gewisse Bebarrlicbkeit. Auf Grund bestimmter Irradiationen resp. Reflexionen entstanden, bleiben sie besteben, bis im Lauf langerer Zeit neue Sinnesempfindungen die alten associativen Verknupfungen und damit aucb die fruberen Irradiationen zu Gunsten anderer Constellationen verscboben baben. Bei Geisteskranken sind die Gefiiblstone und ibre Resultanten, die Stimmungen, oft viel labiler. Ein Scberzwort, gescbickt oder ungescbickt gewablt, kann geniigen, mancben Kranken, der eben nocb iiber Vergiftung oder Freibeitsberaubung weint und zurnt, in die beiterste Stimmung zu versetzen. Der Gesunde lacbelt wobl gelegent- licb aucb unter Tbranen, diesem weinenden Lacbeln des Gesunden liegt jedocb ein entsprecbend gemiscbter Vorstellungsinbalt zu Grunde. Bei jenen Geisteskranken berubt die Labilitat der Stimmung bingegen darauf, dass der tram-ige Vorstellungskreis des ersten Augenblicks im nacbsten Augenblicke scbon dem Bewusstsein des Kranken verscbwunden

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StOrungen der intellectuellen Geflihlstone oder Aflfectstorungen.

ist. Dcimit luingt es zusammen, class cliese pathologische Labilitat der Stimmungen gaiiz vorzugsweise bei geistigen Scbwachezustanden, also vergesellscbaftet mit Intelligenzdefect vorkommt. Die Lockerung der associativen Verknlipfungen , welche fiir den Intelligenzdefect meist cbarakteristiscli ist, hat zur Folge, class auch die irradiirten Gefiihls- tdne nicbt fest baften. Daber kann eine neue Empfindungs- oder Vor- stellungsreibe, wie z. B. in dem eben erwabnten Falle das Scberzwort cles Arztes, scbon binnen eines Augenblicks neue Irradiationen der Gefiiblstone bedingen und cladurcb einen Stimmungsumscblag berbei- fubren. Speciell ist cliese Stimmungslabilitat fiir Dementia paralytica ungemein cbarakteristiscli.

Mit dieser Labilitat der Stimmung, welche soeben gekennzeicbnet worden ist und als primare bezeichnet werclen kann, ist die secundare labile Stimmung nicbt zu verwecbseln, welche ungemein haufig in Folge einer patbologiscb - gesteigerten Unbestandigkeit und Zusammenbangs- losigkeit des Vorstellungs- oder Empfinclungsinbalts auftritt. Das Krank- hafte liegt im letzteren Falle gar nicbt auf dem Gebiet der Afifecte. Wenn z. B. bei einem Kranken, wie das ofter vorkommt, Hallucina- tionen traurigen und heiteren Inbalts im buntesten, regellosesten Wecbsel auftreten, so ist der Stimmungswecbsel als solcber clurcb den Wecbsel cles Empfindungsinbalts vdllig ausreicbend motivirt. Oder, wenn Wabn- vorstellungen des entgegengesetzten Inbalts aufeinander folgen (z. B. bei der Paranoia simplex acuta) oder sog. „Einfalle'^ traurigen und heiteren Inbalts sicb jagen (z. B. bei der ideenflucbtigen Form der Paranoia und namentlich bei bysteriscben Psychosen*), so findet wieclerum die labile Stimmung ibre ausreicbende Erklarung in dem jaben Wecbsel cles Vorstellungsinbalts. Diese secundare Labilitat der Stimmung hat so- nacb cliagnostisch keine erbeblicbere Bedeutung.

Die soeben besprocbenen Veranclerlichkeiten der Stimmung waren cladurcb charakterisirt, class ein Minimum neuer Empfinclungen clurcb Anregung neuer Vorstellungen geniigt, die Stimmung umzuformen. An- clere patbologiscb jabe Stimmungsanderungen treten auf, obne class iiberhaupt der Empfinclungsinbalt sicb in irgend bemerkbarer Weise andert , vielmebr sind dieselben auf plotzlicbe kleine Scbwankungen cles Vorstellungsinbalts zm’uckzufiibren. Eine Kranke ist z. B. im heiteren Gespracb begriffen, plotzlicb taucbt ibr ein vereinzeltes, fiir den Augenblick ganz bedeutungsloses unangenebmes Erinnerungs- bild auf und dies geniigt die gauze Stimmungslage umzukebren. Aucb

*) Hier speciell oft mit einem eigenartig theatraliscben Anstrich. Bei der hypochondrischen Form der Neurasthenie ist der Nachlass gewisser hypochondrischer Empfindungen und Vorstellungen oft geniigend, um einen jahen Stimmungsumschwung in positiver Richtung herbeizufiihren.

StSrungen der intellectuellen GefdhlstOne oder Afifectstdrungen.

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die reflectirten Gefiihlstone der Empfindimg wecliseln plotzlich. An die Stelle exaltirter Liebesversicherungen treten Worte des Hasses. Die Beschaftigimg, welclie die Kranke eben nocli riibmte, flosst ibr plotz- licb Widerwillen ein. Sehr baufig deckt sicb diese Anomalie mit dem, was man im gewolmlicben Leben als Launenbaftigkeit bezeichnet. Patbologiscbe Steigerungen dieser Launenbaftigkeit sind namentlicb fiir die Hysterie cbarakteristiscb. Bei dieser Psycboneurose geniigen sogar ofter Verschiebungen innerbalb der latenten Erinnerungsbilder, also corticale Erregungsscbwankungen der Ei’s in den Erinnerungs- zellen, welcbe die psychiscbe Scbwelle nicht uberscbreiten d, b. dem Individuum nicbt zum Bewusstsein kommen, jahe Stimmungsanderungen bervorzurufen. Man kann diese Form der Stimmimgslabibtat , welcbe durcb leicbte Scbwankimgen des Vorstellungsinbalts bedingt ist, wegen ibrer ganz uberwuegenden Haufigkeit bei Hysterie, ancb direct als die „bysteriscbe Stimmungslabibtat^^ bezeicbnen.

Die Zabl der patbologiscben Stimmimgsveranderungen ist mit den 5 soeben aufgezablten und bescbriebenen in keiner Weise erscbopft. Zwiscben denselben kommen die mannigfacbsten Uebergange und Combi- nationen vor. Die Zornmutbigkeit des Epileptikers verbindet sicb mit dem etbiscben Gefiiblsdefect der epileptiscben Demenz u. s. f. Die angeflibrten Storungen sind nur die typiscbsten und baufigsten und daber fur die Diagnostik am bedeutsamsten. Bei Besprecbung der einzelnen Psycbosen in der speciellen Patbologie werden nocb viele eigentbiimbcbe patbologiscbe Veranderungen der Stimmung und des Cbarakters zur Spracbe kommen mussen,

Viel seltener als die allgemeinen oder wenigstens auf ganze Vorstel- lungsgruppen sicb erstreckenden Anomaben des Gefiiblstons sind isobrte auf eine einzige Vorstellung bescbrankte Anomaben des Gefiibls- tons. Der baufigste Fall soldier isobrten Anomaben des intellectuellen und reflectirten Gefiiblstons findet sicb bei den sog. Intensions- psycbosen. L. Meyer erzablt z. B. folgenden Fall. Ein neuro- patbiscb veranlagter Jurist gbtt auf einer Erbolungsreise in der Scbweiz auf einem gepflasterten Saumpfade eines Alpenpasses aus und ver- staucbte sicb den Fuss. Dabei fiiblte er einen Drang binzufallen und musste sicb auf den Fiibrer stiitzen. Als er nacb Wiederberstellung seines Fusses denselben, ubrigens ganz gefabrlosen Weg wieder zuriick- legte, fiiblte er eine solcbe Unsicberbeit, dass er sicb wieder auf den Fiibrer stiitzen musste. Seitdem iiberfallt ibn dieselbe Angst und Un- sicberbeit, sobald er in seiner Heimatbstadt einen gepflasterten Platz oder eine breite gepflasterte Strasse zu uberscbreiten bat.

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Stfirungen der Ideenassociation.

Die psycliopathologische Genese dieser Angst ist offenbar folgende. Die an sich gleichgiiltige Gesichtsempfindung des Pflasters des Saum- wegs imd die nnangenehme Empfindung der Verstaucbung fanden gleich- zeitig statt. Die von beiden Empfindungen zuriickbleibenden Erinne- rungsbilder steben daber in associativer Verkniipfung, und nacb dem Gesetz der Irradiation iibertragt sich der negative Gefiihlston der Vor- stellung der Verstaucbung aucb auf das Erinnerungsbild des gepflasterten Pfades. Weiterbin empfangt aucb die spater sicb wiederbolende Em- pfindung desselben gepflasterten Pfades vermbge der friiber besprochenen Reflexion einen negativen Gefiiblston. Als daber der Kranke auf der Riickkebr den Weg wieder passirt, wiederbolt sicb das Angstgefiibl. So weit bleibt der ganze Process der Uebertragung der Gefiiblstbne bei dem Kranken im Wesentlicben nocb innerbalb pbysiologiscber Grenzen. Aber die Irradiation und Reflexion gebt bei ibm weiter. Der negative Gefiiblston iibertragt sicb auf die Vorstellung und die optiscbe Empfindnng jedes von dem Kranken zu iiberscbreitenden ge- pflasterten Platzes und Weges. Die Erinnerung an den friiber stattgebabten Unfall braucbt in solcben Fallen kiinftig gar nicbt mebr aufzutaucben. Die Vorstellung der Ueberscbreitung eines gepflasterten Platzes mit der zugebbrigen optiscben Empflndung ist an sicb direct von einem negativen Gefiiblston, einem Angstgefiibl begleitet, und letz- teres ist so macbtig, dass der Kranke weite Umwege macbt, um sicb die Ueberscbreitung eines gepflasterten Platzes zu ersparen.*) Offenbar bandelt es sicb bier um eine Ausdebnung und Verallgemeinerung der Irradiation und Reflexion fiir ein einzelnes bestimmtes Erinnerungs- bild, welcbe liber die normalen Grenzen weit binausgebt. Viele patbo- logische Idiosynkrasien, Antipatbien und Sympatbien erklaren sicb in analoger Weise. Im Allgem einen tendiren die negativen Gefiiblstbne viel mebr zu solcben isolirten patbologiscben Irradiationen als die positiven.

Einige andere gelegentlicb nocb vorkommende Anomalien isolirter Irradiation und Reflexion der Gefiiblstbne sind zu selten, als dass sie bier eine besondere Besprecbung verdienten. Aucb sind dieselben Er- klarungsprincipien fiir alle diese Stbrungen in ganz analoger Weise an- zuwenden.

d. Storungen der Ideenassociation.

Die Ideenassociation stellt sicb als eine fortlaufende Reibe E Vj Vg V3 V4 . . . . B dar. Sie beginnt mit der Empflndung und endet

*) Hierher gehoren auch viele Falle der spater zu erwahnendeii Platzangst. Pathologische Irradiation von Gefuhlstdnen ist eine ziemlich haufige Ursache der- selben, doch giebt es nocb zahlreicbe andere Entstebungsweisen.

St6ritngen der Ideenassociation.

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mit der Bewegung. Dabei ist nicht ausgeschlossen, dass wabrend des Ablaiifs der Vorstellimgsreiben, also intercurrent noch weitere Empfin- dimgeu auftreten. Dem successiven Auftreten der Vorstellungen Vg u. s. f. entspricbt aiif materiellem Gebiet die mehrfacb erwabnte Ver- wandlung der Ri’s in Rv’s. Die materiellen Residuen frliber Empfindungs- erregungen werden durcb den in der Hirnrinde fortscbreitenden Asso- ciationsprocess in der Art verwandelt, dass ein psycbiscber Parallel- process, eben die Vorstellung, zn ibnen hinzutritt. Dieser Verwand- lungsact wird anch als Weckung oder Reproduction bezeicbnet. Man denkt sich, dass die Vorstellungen virtuell oder latent aucb schon die Ri’s, die materiellen Residuen friiberer Empfindungserregungen, beglei- teten, und dass der Process der Ideenassociation sie aus ibrer Latenz weckt oder, wie man sich aucb ausdriickt, liber die psycbisclie Scbwelle, d. i. die Scbwelle des Bewusstseins bebt.

Der Weg des Associationsprocesses in der Hirnrinde oder psychologiscb gesprocben die Auswahl und Reibenfolge der Vor- stellungen in der Ideenassociation ist durch ganz feste Gesetze bestimmt, Diese Gesetze sind folgende,

Erstens: auf eine Empfindung E folgt diejenige Vorstellung als Vi, deren zu Grunde liegende Empfindung Ef die grosste Aebnlichkeit mit E bat. Man nennt dies Princip das Princip der Aebnlicbkeitsasso- ciationen. Wenn icb eine Person wiedersebe (E), welcbe icb friiber be- reits einmal geseben babe (Ef) und welcbe damals in mb’ ein optiscbes Erinnerungsbild Ri binterlassen bat, so taucbt zuerst das Erinnerungs- bild des friiberen Sebens in mb auf: d. b. Ri, das latente Erinnerungs- bild, wbd in Rv verwandelt und dementsprecbend tritt V^ auf. Oder icb sebe eine rosenabnlicbe Blume: dasjenige latente Erinnerungsbbd, dessen zu Grunde liegende Empfindung die grosste Aebnlicbkeit mit der jetzigen Empfindung bat, ist die Vorstellung der Rose. Daber ist die erste Vorstellung, welcbe bei dem Seben der rosenabnlicben Blume in mb auftaucbt, diejenige der Rose oder: wie wb es gewbbnlicb aus- driicken, die neue Blume „erinnert" micb an eine Rose. Bestebt zwiscben E und Vj resp. dem Ef, von dem Vi stammt, Gleicbbeit, so findet das sog. Wiedererkennen statt. Unsere Ideenassociation be- ginnt also zuweilen, nicbt stets mit einem Wiedererkennen.*)

Zweitens: Die weitere Vorstellungsfolge Vg, V3, V4 u. s. f. wbd bauptsacblicb durcb das Princip der Gleicbzeitigkeitsassociation bestimmt. Dies Princip lautet: Jede Vorstellung ruft als ibre Nacbfolgerin stets

*) Streng genommen enthalt jedes Wiedererkennen bereits ein Urtheil, indem die neue Empfindung ausdrticklich als der friiberen Empfindimg gleich erkannt wird, Vgl. Ziehen, Leitfaden, Vorl. 10.

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Stttrungen der Ideenassociation.

eine associativ ver wan cite Vorstellung hervor; associativ verwandt .1 sind aber solcbe Vorstellungen, die entweder selbst oder deren zu Grunde liegende Empfindungen oft gleicbzeitig aufgetreten sind. So babe ich z. B. oft gleicbzeitig eine Rose geseben und an ibr gerochen. In Folge dessen besteht eine enge associative Verwandtschaft zwischen der Vor- - stellung des Rosenduftes und der Vorstellung der Rosenforin, und in 1 Folge dieser associativen Verwandtschaft fallt mir der Duft der Rose ein, wenn ich an die Form der Rose denke, und umgekehrt, oder mit anderen Worten, die Gesichtsvorstellung der Rose Vi ruft als ibre Nach- folgerin Vg die Duftvorstellung der Rose hervor. Die physiologische ^ i Erklarung fiir dies Princip der Gleicbzeitigkeitsassociation liegt auf der , ; Hand: bei clem ofteren gleichzeitigen Auftreten von V, und V2 (resp. 1 Rvi und R^a) ist die Verbinclungsbahn der beiden Rinclenelemente G, | und Gg, in welchen Ryi und Ryg sich abspielen, jedes Mai miterregt I worclen und claher besonders leitungsfabig, oder, wie man auch sagt, 1 ausgescbliffen worden. Die Folge dieses Ausschleifens ist, class eine 1 Rindenerregung, welcbe in G, aufgetreten ist, unter den zabllosen Faser- wegen, welcbe sicb ibr zur weiteren Fortpflanzung offnen, gerade den |C nacb G2 fiibrenden als die Babn des geringsten Leitungswiderstancles I wablt und claber gerade Rij in Rv2 verwandelt und clamit Y-, iiber die | psycbiscbe Scbwelle bebt. Das eben angefiibrte Beispiel war insofern i besonders clurcbsicbtig, als es sicb um die Association zweier einfacber p. Vorstellungen bandelte. Thatsacblicb sind nun aber unsere meisten I Vorstellungen nicbt einfacb, sondern bocbst zusammengesetzt. Wir if saben ja aucb, dass clementsprecbend die meisten Vorstellungen nicbt ; an ein Rinclenelement gebunden sind, sondern an viele iiber die ganze | Hu’nrincle zerstreute Elemente. Demgemass vollziebt sicb aucb die i Gleicbzeitigkeitsassociation meist nicbt zwiscben zwei einfacben Vor- i : stellungen V^ und Vg, sondern zwiscben den zablreicben in V, und V2 \ entbaltenen Tbeil vorstellungen resp. Tbeilerregungen. Auch fiir diese complexen Vorstellungen gilt das Gesetz der Gleicbzeitigkeitsassociation. i Dabei erbebt sicb die Frage: welcbe von den vieleu mit V, oder seinen I Tbeilvorstellungen associativ verknupften Vorstellungen wird nun that- | sacblicb auf Vj folgen und die Stelle V2 besetzen, oder anders gefragt: warum folgt auf Vi in dem einen Fall die Vorstellung a, in dem anderen i b u. s. f. ? Warum scbliesst sich an das Erinnerungsbilcl eines Freuncles I. einmal die Vorstellung einer Landscbaft, die wir mit ibm geseben, ein I. ander Mai die Vorstellung der Stadt, in der er jetzt weilt, ein drittes | Mai vielleicbt die Vorstellung des Amts, das er bekleiclet u. s. w. ? Es findet gewissermaassen ein Wettbewerb zahlreicher Vorstellungen a, b, I c, d u. s. f. um die Stelle V2 statt. Was giebt nun die Entscbeidung I zu Gunsten beute dieser, morgen jener Vorstellung? Man konnte sicb I

StSrungen der Ideenassociation.

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denken, class einfacli der Grad der associativen Verwandtscliaft ent- sclieideiid ware. Ware dieser Factor allein maassgebend, so wiirde auf eiue Vorstellung V, stets diejenige Vorstellung als Vg folgen, welche am hiiufigsten imd zwar speciell neiierdings am haufigsten gleichzeitig mit V, aufgetreten ist. Aber ausser der associativen Verwandtscbaft wirken nocli andere Factoren auf den Verlauf der Ideenassociation ein, so komnit namentlicb der Gefiiblston der um die Stelle Vg sicb gewisser- maassen bewerbenden Vorstellungen in Betracht. Vorstellungen, welcbe von lebbafteren Gefiihlstoneu, sie seien jDositiv oder negativ, begleitet siud, haben grossere Chancen in dem Wettbewerb der Ideenassociation aus El’s Rv’s zu werden und damit aus ibrer Latenz berauszutreten. Denken wir z. B. an eine Stadt, in welcber wir friiber gewesen sind,

so erinnert nns die Wortvorstellung des Namens der Stadt in der iiber- . grossen Mebrzahl der Falle zuerst an das Angenebme imd Unangenehme, das wii- dort erlebt haben. Wir wenden nns denjenigen Vorstellungen zu, welcbe nns die interessantesten sind, oder, anders aiisgedriickt, alle von erbeblicheren Gefiiblstonen begleiteten Erinnerungsbilder taucben zuerst auf. Scbon durcb das Zusammenwirken dieser beiden Factoren, der associativen Verwandtscbaft zu Vj und des Gefliblstons, ist unserer I Ideenassociation bei aller eindeutigen Bestimmtbeit eine breite Variabilitat . gesicbert. Aber es kommt nocb ein dritter Factor hinzu, den man als die Constellation der latenten Erinnerungsbilder bezeicbnen kann. Seien a, b, c, d, e fiinf latente Vorstellungen, die vor allem vermoge naber associative!’ Verwandtscbaft zu V, und vermoge starken Gefiiblstones als Nacbfolgerinnen von Vi in Betracht kommen. Die Rindenelemente, in denen die entsprecbenden Ri’s niedergelegt siud, sind durcb Associa- :tionsbabnen verkuiipft. Wir haben nun anzunebmen, class durcb cliese Associationsbabnen die Efs, die latenten Vorstellungen, sicb gegenseitig beeinflussen , und zwar bald im Sinne einer gegenseitigen Hemmung,

' bald im Sinne einer gegenseitigen Anregung. Diese gegeuseitige Hem- mung und Anregung unter den Vorstellungen a, b, c, d, e bat zur Folge, class eine vorzugsweise von Hemmungen getroffene Vorstellung trotz nacbster associative!’ Verwandtscbaft zu V^ und lebbaftesten Gefiihls- tones im Wettbewerb der Vorstellungen unterliegt, wahrend eine andere in diesen beiden Punkten vielleicbt sogar ungiinstiger gestellte Vor- 'Stellung vermoge der Abwesenbeit solcher Hemmungen und begiinstigt von Auregungen siegt, d. b. als V2 auf die Anfangsvorstellung V^ folgt. lEs ist also die Vorstellungsfolge V.2, V3, V4 u. s. f. durcb drei Momente bestimmt :

1. Den Grad der associativen Verwandtscbaft zur voraus- -gebenden Vorstellung.

2. Den Gefublston.

78

StOrungen der Ideenassociation.

3. Die Constellation. E

Nur so erklart sicli die unerschopfliclie Variabilitat unseres Gedankeu- il ablauts.

Bei dem gesunden Menscben beschrankt sicli die Ideenassociation in der Hegel nicht auf eine nacb den eben angefiihrten Gesetzen vor i sich geliende Keihenbildung der Vorstellungen. Auf einer hoheren Stufe reiht die Ideenassociation die Vorstellungen nicht einfach aneinander, sondern sie verbindet die successiven Vorstellungen zu Urtbeilen und Schliissen. In dem Urtheil „die Bose ist scbbn“ sind nicbt drei Vor- i stellungen discret aneinander gereiht, sondern die Vorstellungen „Rose“ ; „ist^^ „scbon‘^ steben untereinander in durcbgangiger Beziebung. Wir ' bezeicbnen diese Form der Ideenassociation als Urtbeilsassociation. ! Das normale Denken vollziebt sicb ganz vorwiegend in solcben Urtbeils- associationen.

Die normale. Ideenassociation bat eine bestimmte Gescb\Ndndigkeit, 1 welcbe bei den verscbiedenen Individuen und zu verscbiedenen Zeitenl bei demselben Individuum nur innerbalb verbaltnissmassig enger Grenzen scbwankt. Erbeblicbere Veranderungen der Associationsgescbwiudigkeit treten ein, sobald die Stimmung des Individuums wecbselt. Fiir die Psycbopatbologie ist folgendes Gesetz am wicbtigsten: Positive Ge- fiiblstone bescbleunigen, negative verlangsamen den Vor- stellungsablauf.

Die patbologiscben Storungen der Ideenassociation sind einzu- tbeilen in

Allgemeine Associationsstorungen

a. Krankbafte Bescbleunigung der Ideenassociation (Ideenflucbt). p. Krankbafte Verlangsamung der Ideenassociation (Denk- bemmung).

y. Stdrung des Zusammenbangs der Ideenassociation (Inco- barenz).

Specielle Associationsstorungen der Urtbeilsbildung

a. Falscbungen der Urtbeilsassociationen (Wabnideen und Zwangsvorstellungen) .

p. Defecte der Urtbeilsassociationen (Urtbeilsscbwacbe).

Dazu kommen nocb die speciellen Storungen, welcbe den ersten Act, mit welcbem die Ideenassociation iiberbaupt beginnt, das Wieder- erkennen und das Aufmerken, befallen. Wir beginnen die Be- sprecbung der Storungen der Ideenassociationen mit den Storungen des Wiedererkennens.

StOrungen der Ideenassociation.

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Storungen des Wiedererkennens.

Das Wiedererkennen kestelit darin, dass eine Empfindung E nacli dem Princip der Aehnlichkeitsassociationen eine Vorstellung V hervor- ruft, welche das Erinnerungsbild friiherer ahnlicher oder gleicher Empfindungen ist.

Das Wiedererkennen ist aufgehoben resp. gestort in folgenden Fallen:

1. Durcb Verlust der erforderliclien Erinnerimgsbilder ;

2. in Folge allgemeiner bocbgradiger Verlangsamung der corti- calen Associationen ;

3. in Folge von Incobarenz der Ideenassociation.

1. Die Storung des Wiedererkennens durcb den Verlust von Er- innerungsbildern kann sicb auf ein einziges Sinnesgebiet bescbranken. So kann z. B. der Verlust der optiscben Erinnerungsbilder die isolirte Aufbebung des optiscben Wiedererkennens zur Folge baben: die Krankeu seben nocb, erkennen aber nicbt wieder, was sie seben. Man bezeicb- net diese specielle Storung des Wiedererkennens als Seelenblindbeit. Von dieser sowie von den analogen Zustanden der Seelentaubbeit etc. ist fruber bereits ausfiibrlicb die Rede gewesen. Aucb die allgemeinen, d. b. alle Sinnesgebiete betreffenden Storungen des Wiedererkennens, welcbe durcb den dififusen Verlust oder die mangelbafte Bildung der sinnlicben Erinnerungsbilder bedingt sind, wurden bereits erwabnt. Sie sind fiir den angeborenen und den erworbenen Scbwacbsinn cbarak- teristiscb. Dabei ist es keineswegs notbwendig, dass ein bestimmtes zusammengesetztes Erinnerungsbild bis auf die letzte Spur zu Grunde- gebt, '\uelmebr bandelt es sicb oft nur um eine patbologiscbe Ver- blassung desselben.

2. Bei den bbberen Graden der Denkbemmung, d. b. der Verlang- samung der Ideenassociation, ist aucb das Wiedererkennen regelmassig verlangsamt und erscbwert. In den bocbsten Graden bleibt es vollig, aus. Die Sinnesempfindung ist also in solcben Fallen vollig normal undi aucb das zugeborige Erinnerungsbild gut erbalten, aber die Erregung der Erinnerungszellen von den Sinneszellen aus gebt so langsam von statten, dass es gar nicbt oder nur spat zu dem Act des Wieder- erkennens kommt.

3. Wenn die Ideenassociation uberbaupt ibren Zusammenbang ver- loren bat, so spricbt man von Dissociation oder Incobarenz (Verwirrt- beit). Als Tbeilerscbeinung der allgemeinen Incobarenz findet man regelmassig aucb eine Storung des Wiedererkennens. Solcbe Kranke verwechseln die Personen ibrer Umgebung ebenso wie die einfacbsten Gegenstande. Debnt sicb diese allgemeine Verkennung aucb auf Auf-

80

Stfirungen der Ideenassociation.

entlialtsort uud Datum aus , so entsteht das wiclitige Symptom der Unorientiertlieit. Man konnte oft glauben, dass solche Personen- verweclislungeu durcli Hallucinationen oder wenigstens durch Illusionen bedingt seiii miissen. Dies ist unricbtig. Hallucinationen und Illusionen konnen vollig fehlen. Ebenso liegt oft die irrthumliche Annahme nahe, man babe es mit einem Parapbasischen zu tbun, weil der Kranke die ibm vorgelegten Gegenstiinde falsch bezeicbnet. Dabei ist jedoch eine Parapbasie im gewobnlicben Sinne nicbt vorbanden. Der Kranke be- zeicbnet die Gegenstande falscb, weil seine SinnesemjDfindungen in Folge der allgemeinen Incobarenz aucb auf spracblicben Gebiet falscbe Asso- ciationen auslosen. Will man diese Storung in der Bezeicbnung der Gegenstande in das iiblicbe Schema der apbasiscben Storungen ein- fiigen, so batte man sie als transcorticale Parapbasie zu bezeicbnen. Eine solcbe transcorticale Parapbasie und aucb Apbasie kann zuweilen aucb durcb Heerderkrankungen hervorgerufen werden und pflegt sicb dann auf die Empfindungen eines bestimmten Sinnesgebietes zu be- scbranken. So bezeicbnet man als optiscbe Apbasie einen Zustand, in welcbem der Kranke Gegenstande, welcbe er siebt, nicbt ricbtig oder garnicbt zu benennen vermag ; sobald er den gesebenen Gegenstand aucb betasten darf, fallt ibm das ricbtige Wort ein. Eine solcbe isolirte oj)tiscbe transcorticale Apbasie bezw. Parapbasie berubt auf einer Heerd- erkrankung, welcbe die grosse Associationsbabn zwiscbeu der occipitalen Sebspbare und den Spracbcentren des Scblafen- und Stirnlappens ganz oder tbeilweise unterbricbt. Die allgem eine transcorticale Parapbasie, welcbe in dem oben angegebenen Sinn eine Tbeilerscbeinung der allge meinen Incobarenz ist, berubt wie diese letztere in der iiberwiegenden Mebrzabl der Falle auf einer diffusen functionellen Associationsstorung der Hirnrinde.

Das Symptom des Verkennens von Gegenstanden oder Personen ist jedenfalls ein ungemein vieldeutiges und bedarf stets einer genauen Analyse. Die verscbiedenen Moglicbkeiten, welcbe fiir die letztere in Betracbt kommen, sollen an einem bestimmten Beispiel von Personen- verwecbslung dargelegt werden. Eine Kranke begriisst den Arzt als ibren Ebemann. Diese Personenverwecbslung kann beruben:

1. auf einer unvermittelten Illusion; d. b. die Kranke siebt im fraglicben Augenblick tbatsacblicb die Ziige des Arztes so verandert, dass sie denen ibres Gatten gleicben;

2. auf einer illusionaren Auslegung oder vermittelten Illusion: die Kranke siebt die Ziige des Arztes ebenso verandert, aber diese Trans- formation der Empfindung ist unter dem Einfluss einer bestimmten Wabnidee zu Stande gekommen; die Kranke wabnt, der Arzt sei ibr Ebemann, und dieser Wabn bestimmt die Illusion;

Storiingen cler Ideenassociation.

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3. auf einer Walmvorstellung ohne Illusion: die Kranke sielit den Arzt so, wie er tliatsachlicli aussieht, und trotzdem*) erldart sie den- selben flir iliren Gatten. Dabei kann diese Wahnvorstellung in der verschiedensten Weise entstanden sein. Die tbatsacblicbe Unabnlicbkeit wil'd in solcben Fallen von der Kranken ignorirt oder durch allerband Hj^potbesen zu erklaren versucbt ; so giebt die Kranke an, ihr Ehemann niiisse sicli wohl verkleidet haben oder verwandelt worden sein u. dgl. m. Ziiweilen sagt die Kranke aucb direct, die Unabnlicbkeit sei ibr ratbsel- baft, aber an -der Identitiit konne sie nicbt zweifeln ;

4. auf allgemeiner Incohilrenz: Die Personenverwecbslung ist bier nur die Tbeilerscbeinung der allgemeinen Dissociation. Dementsprecbend wecbselt sie von Minute zu Minute, wabrend die unter 1--3 aufgefiibrten Persouenverwecbslungen stabiler zu sein pflegen;

5. auf Undeutlicbkeit der in Frage kommenden Erinnerungsbilder : Das Erinnerungsbild des Gatten bat bei der Kranken so sebr an Deut- licbkeit oder Scbarfe eingebusst, dass es in der Ideenassociation, speciell bei dem Wiedererkennen falscb angewandt wird. Diese Form der Personenverwecbslung ist bei dem Scbwacbsinn am baufigsten.

Endlicb ist zu berucksicbtigen, dass viele Kranke, wie sie bei ein- dringlicbem Fragen nacbtraglicb selbst zugestehen, „Tbeater spielen^^, d. b. trotz besseren Wissens ibrer Umgebung falscbe Namen beilegen. Namentlicb bei der beiteren Exaltation des Maniakaliscben ist dies recbt baufig. Gelegentlicb kommt es jedocb aucb obne Affectanomalie auf Grund plotzlicber Einfillle oder auf Grund imperativer Stimmen („tbu’, als ware es der und derP^) vor. Aucb wird man selbstverstiindlicb stets erwagen mussen, ob die Sebscbarfe intact ist. Die Personen- verkennungen mancber Alkobolisten beruben z. B. nicbt auf Illusionen oder Associationsstorungen, sondern auf Sebstorungen infracorticalen Ursprungs, sei es im Bereicb der Opticusbabn, sei es im Auge selbst.

Eine eigenartige Stoning des Wiedererkennens wird als „identi- ficirende Erinnerungstauscbung^^ bezeichnet. Der Kranke glaubt falscblicb die Situation, in welcber er sicb jetzt befindet, mit alien Details bereits fruber einmal erlebt zu baben. So erzablt ein cbroniscber Alkobolist kurz nacb seiner Aufnabme, er babe vor 6 Jabren bereits eine ganz analoge Einlieferung in dieselbe Anstalt erlebt, er sei damals in demselben Zimmer untergebracbt , von demselben Arzt untersucbt worden und mit denselben Kranken zusammengewesen. Aucb weiterbin blieb er fest bei dieser Bebauptung, die jeder tbatsacblicben Unterlage

*) Dass stets auch an die Moglichkeit einer wirklichen Aehnlichkeit gedacht werden muss, ist selbstverstandlicb. Seltener kommt es vor, dass eine Kranke ihre Angehorigen auf Grund von Wabnvorstellungen, bei Abwesenheit von Illusionen, nicbt als solche erkennt.

Ziehen, Psychiatric.

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StOrungen der Ideonassociation.

entbehrte, stehen. Audi bei clem gesunden Menschen, namentlicb in der Jugeiid, kommen soldie ideutificirende Erinnerungstauschungen ge- legentlicli in Zustanden scbwerer korperlicher oder geistiger Erschbpfung vor. So erzablt z. B. Anjel, class er nach langem Umberwanclern in einer Bilclergallerie scliliesslich bei clem Betreten eines noch nicht be- sucliten Saales den imvviclersteblicben Eindruck gebabt babe, dass ibm alle clort aufgebiingten Gemalde scbon bekannt seien. Am haufigsten sincl cliese Stonmgen cles Wieclererkennens bei der Paranoia und zwar speciell bei der Paranoia auf alkoholistischer Basis sowie iJei epileptisclien Psycbosen. Mitunter besteht die Tauscbung auch clarin, dass der Kranke angiebt, die Situation, in welcber er sich befinclet, sei ibm friiber scbon einmal erzablt' worclen oder in einem Bucbe vorgekommen.

Mit clieser identificirenclen Erinnerungstauscbung baben die viel baufigeren Angaben mancber Kranken, namentlicb vieler Alkobolisten im Delirium tremens, class sie iiberall von Bekannten umgeben seien, garnicbts zu tbun. Die letzteren Personenverwecbslungen beruben viel- mebr fast stets auf wirklicbeu Blusionen oder Wabnvorstelluugen oder Incobarenz oder encllicb uncleutlicben Sinneswabrnebmungen.

Stor ungen cles Aufmerkens.

Die ZabI der Reize, welclie in einem gegebenen Augenblick gleicb- zeitig auf unsere Sinnesflacben einwirken und Empfinclungen erzeugen, ist meist sebr gross. Am augenscbeinlicbsten tritt dies auf clem Gebiet cles Gesicbtssinns zu Page. Unser Gesicbtsfelcl stellt eine grosse Summe zablreicber einzelner Gesicbtsempfinduugen clar. Von cliesen letzteren zieben nur einige wenige, meist nur eine einzige unsere Aufmerksamkeit auf sicb. Dieses Aufmerken auf eine von vielen gleicbzeitigen Empfin- cluugen ist nicbt etwa als eine ganz ueue, gebeimnissvolle Seeleutbiltig- keit aufzufassen, sonclern becleutet einfacb nur, class von den vielen Empfinclungen nur eine Vorstellungen enveckt und clamit bestimmend auf den Gang unserer Icleenassociation einwirkt. Dies Aufmerken ist aucli in keiner Weise in clem gewobnlicben Siune willkiirlicb, sonclern ganz bestimmte Factoren entscheiclen fiber die Ricbtung unserer Auf- merksamkeit, cl. b. also clarfiber, welcbe von den vielen gleicbzeitigen Empfinclungen den Vorstelluugsablauf bestimmt. Solcber Factoren existiren vier. Erstens ist die Intensitat der um die Aufmerksamkeit concurrirenclen Empfindungen von wesentlicber Bedeutung. Ein be- sonders bell-leucbtencler Gegenstand im Gesicbtsfeld wircl uns gewobn- licb besonclers auffallen und unsere Aufmerksamkeit auf sicb zieben. Zweitens kommt die Uebereinstimmung mit einem latenten Erinnerungs- bilcl in Frage. Die Gegenstiliide in der Peripherie cles Gesicbtsfelds rufen Gesicbtsempfinclungen von geringer Deutlicbkeit bervor; claber ist

Storungen der IdeenasBociatioii.

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die Uebereinstimmimg mit den zugeliorigen Erinneruugsbildern gering und ill Folge desseu ist iinsere Aiifmerksamkeit in der Kegel nur auf die in der Mitte des Gesichtsfelds gelegenen, auf der Macula lutea ab- gebildeten, deutlicben Objecte gerichtet. Ein drittes Moment ist der Gefiihlston der Empfindungen. Solcbe mit starkem Gefiiblston erregen die Aiifmerksamkeit leichter als solcbe mit scbwacbem. So kann ein leiser Accord inmitten zablreicber lauterer Gerausche unsere Aufmerk- samkeit fesseln. Als vierter Factor kommt endlicb die Constellation der latenten Vorstellungen in Betracbt. Icb gebe z. B. spazieren: dabei werden fortwiibrend zabllose Gesicbtsempfindungen in mm erweckt. Je nacbdem nun z. B. die Vorstellung mir etwa begegnender Spazierganger bei mb’ leicbt erweckbar vorbanden ist oder wegen Ueberwiegens anderer Gedanken vollig gebemmt wird, wird die Gesicbtsempfindung eines be- gegnenden Ereundes oder Fremden meine Aufmerksamkeit erregen und meine weiteren Vorstellungen und eventuell aucb Bewegungen bestimmen, Oder icb werde zerstreut und acbtlos an dem Begegnenden voriibergeben und z. B. der Gesicbtsempfindung der Landscbaft, welcber meine latente Vorstellungsconstellation vielleicbt giinstiger ist, meine Aufmerksamkeit zuwenden. Die Gesicbtsempfindung des Ereundes kann unter Umstanden nocb so scbarf und intensiv und nocb so gefiiblsstark sein: in Folge einer ungunstigen Constellation der latenten Vorstellungen oder, anders ausgedriickt, in Folge der geringen Energie der latenten Vorstellung des Ereundes iiberwiegen andere Empfindungen und bestimmen den Ablauf meiner Vorstellungen. Speciell bei dem sog. „Sucben‘^ und der „gespannten Erwartung^^ spielt diese Constellation die Hauptrolle.

Die wicbtigsten ki’ankbaften Storungen der Aufmerksamkeit sind:

1. Die Herabsetzung der Aufmerksamkeit (Aprosexie). Dieselbe aussert sicb darin, dass keine von den vielen gleicbzeitigen Empfindungen des jeweiligen Augenblicks Vorstellungen in normaler Intensitat und Menge erweckt. Am sinnenfalligsten aussert sicb diese Aprosexie darin, dass der Kranke Fragen, welcbe man ibm vorlegt, nicbt beantwortet und Aufforderungen, welcbe man an ibn ricbtet, nicbt nacbkommt:*) er beacbtet dieselben uberbaupt nicbt, sie regen keine Vorstellungen und daber aucb keine Bewegungen an. Am baufigsten ist diese Aprosexie bei der allgemeinen Denkbemmung. Wie alle Associationsacte ist aucb das Aufmerken bei dieser so verlangsamt, dass es vollig zu feblen scbeint. Aucb Kranke, welcbe ganz unter dem Ein- fluss einer einzigen sinnlicb lebbaften, gefiiblsstarken Hallucination oder einer ubermacbtigen, von starken Gefiiblstonen begleiteten Wabnvorstellung

*) Dio Gehorsempfindung einer Frage oder Aufforderung ist bei dem Geistes- gesunden im Wcttstreit dor Empfindungen um die Aufmerksamkeit fast stets die obsiegende.

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SWrungen der Ideonassociation.

stehcn, zeigen eine Ajjrosexie fiir die norraalen Einj)findungen. Es er- kliirt sich dies nach dem Obigen eben einfach daraus, dass die vier die l Aufuierksamkeit bestimmenden Factoren fiir die Hallucination bezw. i Wabnvorstellimg giinstiger liegen als fiir irgend eine der wirklicben, d. b. der normalen Empfindungen. Ungemein hilufig ist endlich eine i erliebliche Aprosexie bei vielen Schwachsinnigen. Die Ursache der | Aprosexie ist bier offenbar darin zu siichen, dass die Zahl der verfiigbaren Erinnerungsbilder und der abgestimmten Associationsbabnen zu gering ist. 2. Die Steigerung der Aufuierksamkeit (Hyperprosexie). Dieselbe tritt selten in dem Sinne auf, dass eine Empfindung in ab- normem Umfang, d. b. also einseitig zu lange und zu intensiv den Vor- stellungsablauf bestimmt. Vielmebr bestebt dieselbe meist darin, dass zu viele Empfindungen Vorstellungen erwecken, d. b. die Aufmerksam- keit auf sicb zieben. Wabrend normaler 'Weise eine Empfindung siegt und fiir langere Zeit den Vorstellungsablauf bestimmt, ist bei der in ; Rede stebenden Storung die Aufuierksamkeit zersplittert : Im ersten Augenblick ziebt diese Em]ifindung die Aufmerksamkeit auf sicb, im niicbsten 'Augenblick bereits eine andere. Selbst ganz scbwacbe Empfin- dungen erregen die Aufmerksamkeit. Es kommt in Edge dessen bei solcben Kranken zu keiner vollstandigen, einbeitlicben Vorstellungsreibe: neue Empfindungen erregen stets Vorstellungen, welcbe die von der ersten Empfindung angeregte Vorstellungsreibe unterbrecben. Ricbtet man an solcbe Kranke eine Frage, so antworten sie zuuacbst der Frage entsprecheud. Aber sie baben den antwortenden Satz nocb nicbt be- | endet, so ziebt eine beliebige andere Gebors- oder Gesicbtsemiifindung ibre Aufmerksamkeit ab. Sie lioren z. B. ein beliebiges Gerauscb oder ij ilir Blick fiillt auf irgend ein Detail der Umgebung, sei es die Ubrkette des Arztes oder eine zufallige Bewegung desselben, und sofort ist die f Frage vergessen und oft mitten im Satz unterbricbt sicb der Kranke, i| um fiber die Kette oder die Bewegung irgend eine Bemerkung zu macben. i Die Aufmerksamkeit jagt von Empfindung zu Empfindung, obne je an einer einzelnen langer zu baften.

Diese Hyperprosexie ist am baufigsten eine Tbeilerscbeinung der i allgemeinen Bescbleunigung der Ideenassociation oder der Ideenflucbt. i Bei dieser jageu sicb die Vorstellungen. Dementsprecbeud wecbselt die Constellation fortwabrend und damit wird es uumoglicb, dass eine Empfindung langere Zeit den Vorstellungsablauf bestimmt. Die erbobte Erregbarkeit der latenten Erinnerungsbilder, welcbe der Ideenflucbt zu Grunde liegt, kommt aucb scbwacben Empfindungen zu statten. Kleinig- keiten, welcbe bei dem Gesunden nie die Aufmerksamkeit zu erregen vermbgen, werden fabig Vorstellungen zu erregen uiid die Aufmerksam- keit von starken Empfindungen abzuzieben.

Allgemeine AssociationssWrungen.

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Uuabhangig von irgendwelcher Beschleunigung cler Ideenassociation kommt eine patliologisclie Zersplitterung der Aufmerksamkeit zuweilen bei Nenrasthenie vor. Die Kranken klagen, dass ihre Aufmerksamkeit fortwiibrend abgezogen werde imd so ibr Denken sich ^verzettele^b Zu irgendwelcher Concentration sind solche Kranke zuweilen ganz unfahig.

Endlich zeigt der Schwachsinn auch diese Hyperprosexie nicbt selten, namentlicb in seinen mittelschweren und leichteren angeborenen Formen. Die Hyperprosexie des Schwachsinnigen gleicht durchaus der physiologisclien Hyperprosexie mancher Kinder. Eine Fixirung der Auf- merksamkeit gelingt bei dem Schwachsinnigen ebenso wie bei dem Kinde oft kaum. Wahrend aber letzteres durch Uebung seine Aufmerksamkeit allmahlich concentrire.n lernt, ist die Hyperprosexie des ersteren in der Regel unheilbar.

Ausser der Aprosexie und Hyperprosexie kommt eine Storung der Aufmerksamkeit vor, welche eine Theilerscheinung der allgemeinen In- coharenz ist. Bei dieser liegt die Storung nicht darin, dass die Empfin- dungen in zu geringem oder zu grossem Umfang Vorstellungen anregen, sondern das Krankhafte liegt darin, dass die Empfindungen Vorstellungen auslosen, welche in keinem Zusammenhang zu ihnen stehen. An die Gesichtsempfindung einer goldenen Kette reihen solche Kranke, auch wenn sie die Kette dauernd fixiren, Vorstellungen an, die zu der Kette in gar keiner Beziehung stehen. Da diese Storung des Aufmerkens gan5: niit der allgemeinen Associationsstorung der Incohiirenz zusammenfallt, wil’d sie erst im Folgenden besprochen werden.

Allo’emeiiie Associationsstorunoen.

a. Krankhafte Beschleunigung der Ideenassociation

(Ideenflucht).

Eine absolut scharfe Grenze zwischen normaler Geschwindigkeit und krankhaft gesteigerter Geschwindigkeit der Ideenassociation existirt nicht. Auch der Gesunde denkt in der Erregung, namentlich in der heiteren Erregung rascher. Da auch psychophysische Messungen uns hier im Stiche lassen und zudem bei Geisteskranken bislang un- liberwindlichen Schwierigkeiten begegnen, so ist der Arzt bei Beur- theilung der Geschwindigkeit der Ideenassociation eines Kranken mehr Oder weniger auf eine Schatzung angewiesen. Die hoheren Grade der Beschleunigung des Vorstellungsablaufs bezeichnet man als Ideen- flucht, die leichteren als Ideenfliichtigkeit. Regelmassig betrifft die Be-

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Allgemeine AssociationssWrungen.

schleiinigimg der Ideenassociation nicht nur die Aufeinanderfolge der Vorstelliingen Vj, Vg, V3 etc. untereinander, sondern auch die Anreihung

der ersten Vorstellung (V,) an die Empfindung (E) sowie die Ueber- tragung der corticalen Erregung in die motorisclie Region. Diese beiden Tlieilerscheinungen oder Corollarsymptome der Ideenflucht bezeiclinet man als Hyperprosexie nnd motorisclie Agitation (Bewegungs- drang). Fine Tlieilerscbeinung der letzteren ist wiederum das rascbe Gesticuliren nnd das rascbe Sprechen dieser Kranken. Letzteres wird speciell als Logorrhoe bezeicbnet.

Worauf die allgemeine Associationsbeschleunigung beruht, lasst sicb nicht mit Sicherheit angeben. Man konnte zunachst daran denken, dass der Leitungswiderstand in den Associationsfasern, welche von den Empfindungszellen zu den Vorstellungszellen fiihren, welche die Vor- stelhingszellen untereinander verkniipfen und schliesslich von den Vor- stellungszellen zu den Ursprungszellen der Pyramidenbahn leiten, ver- mindert sei. Dies ist jedoch kaum die einzige oder auch nur die wesentliche Grundlage der Ideenflucht. Wahrscheinlicher ist, dass die Reproduction der Vorstellungen selbst, also die Verwandlung der Rds in Rv’s beschleunigt ist. Die latenten Erinnerungsbilder sind wahr- scheinlich leichter reproducirbar. Es bedarf eines geringeren associativen Impulses, um sie aus ihrer Latenz zu erwecken, oder, anders ausgedriickt, sie iiber die psychische Schwelle zu heben, und diese Weckung oder Hebung vollzieht sich rascher als bei dem Gesunden. So wird es ver- stiindlich, dass bei dem Ideenfliichtigen auch schwache Empfinduugen in raschestem Wechsel Vorstellungen anregen (Hyperprosexie), dass die Vorstellungen selbst sich so iiberaus rasch folgen (Ideenflucht s. str.) und dass endlich die Uebertragungen in das motorisclie Gebiet in ge- steigerter Zahl und mit gesteigerter Geschwindigkeit erfolgen (moto- rische Agitation). Iliermit stimmen auch die Angaben der Kranken liber ihren Zustand iiberein. Die meisten geben direct an, sie fiihlten „ihr Denken in wunderbarer Weise erleichtert", „alles falle ihnen viel leichter ein^^, „ihre Glieder seien viel beweglicher geworden".

Die Ideenflucht ist zunachst ausschliesslich eihe formale Stoning des Denkens, welche den Inhalt des Denkens nicht beeinflusst. Sobald dieselbe indes hohere Grade erreicht , pflegt sich fast stets auch eiue Verilnderung des Denkiuhalts eiuzustellen. Complicirtere Vor- stellungen und Vorstellungscomplexe werden nicht mehr oder nur spiir- lich reproducirt. Concrete BegrifPe, namentlich in unmittelbarer An- kniipfung an actuelle Empfindungen, iiberwiegen mehr und mehr. Der innere Zusammenhang der aufeinander folgenden Vorstellungen lockert sich. Die Vorstellungen folgen aufeinander auf Grimd einer ganz zu- falligen Klangahnlichkeit der sie bezeichnenden Worte. Namentlich

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Allgemeine AssociationsstOrungen.

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Eeime mid Assonanzen bestimmen oft deu Vorstellungsablauf. Nimmt die Ideenflucht nocb weiter zu, so werden Zwischenvorstellungen fort- wabrend iiberspvungen. Die Kranben kommen vom Himdertsten in das Tansendste. Der verbindende Faden liisst sicb oft kaum mebr aiiffinden. Schliesslicli werden die Vorstell ungen obne Satzverbindung aneinander gereibt: es komint nicht mebr zu Urtbeilsassociationen. In rasender File folgen einzelne discrete Vorstellungen auf einander, bald obne jeglicbe erkennbare Beziebung untereinander, bald auf Grund zufalliger Wortabnlicbkeit. *) Bei geistig bocb Yeranlagten Individuen wecbseln die Vorstellungen fortwabrend, bei wenig veranlagten werden dieselben Vorstellungen fortwabrend wiederbolt. Speciell letztere Form der Ideenflucbt, welcbe sicb in dem rascben Plappern zusammenbangs- loser Worte aussert, wird aucb als Verbigeration bezeicbnet. Die Gesammtbeit der eben bescbriebenen Veranderungen, welcbe sicb secun- dar in den boberen Graden der Ideenflucbt einstellen, stellt das Bild der secundaren Incobiirenz dar, welcbe spater nocb ausfiibrlicber besprocben werden wird.

Man unterscbeidet 2 Hauptformen der Ideenflucbt, die primare Ideenflucbt und die secuudare Ideenflucbt. Als primixr wird diejenige Ideenflucbt bezeicbnet, welcbe nicbt auf ein anderweitiges psycbopatbo- logiscbes Symptom zuriickgefiibrt werden kann. Wenu ein Kranker gebaufte rascbwecbselnde Hallucinationen bat und entsprecbend diesem rascben Wecbsel der Hallucinationen rascb denkt und spricbt, so ist eine solcbe Ideenflucbt secundar: sie lasst sicb eben auf die rascb wecbselnden Hallucinationen zwanglos zurlickfiibren. Das Krankbafte liegt bier in den Hallucinationen, nicbt in der Ideenflucbt; letztere ist vielmebr nur die natiirlicbe, pbysiologiscbe Consequenz der ersteren. Ausser Hallucinationen konnen gelegentlicb aucb gebaufte Wabnideen zu secundarer Ideenflucbt fiibren, und endlicb fiibren aucb vereinzelte Hallucinationen und Wabnideen, wofern sie von starken positiven oder aucb negativen Gefiiblstonen begleitet sind, oft zu secundarer Ideenflucbt; so kann ein ballucinatoriscb gebortes Scbimpfwort oder der Zorn iiber eine wabnbafte Verfolgung zu voriibergebender secundarer Ideenflucbt und Logorrboe fiibren. Aucb diese secundare Ideenflucbt stellt kein neues Krankbeitssymptom dar, sie entspricbt durcbaus der durcb die Hallucination und Wabnidee bervorgerufenen affectiven Erregung.

Primare Ideenflucbt findet sicb weitaus am baufigsten vergesell- scbaftet mit der frliber besprocbenen beiteren Verstimmung. Beide geboren

*) Ein Beispiel incoharenter hochgradiger Ideenflacht ist z. B. folgende Asso- ciationsreihe : „20. September Septuagesima 20. Jahrbuiidert das kommt davon, wenn man die Zeit nicbt im Kopfe hat 7 X 8 macbt? Grossmacht Machte (Magde?) Dienstleute“ etc.

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Allgemeine Associationsstorungen,

fast unzertrennlicli zusammen, ebenso wie Denkbemmung und traurige Verstimmung. Ueber das gegenseitige Verhaltniss der Ideenflucht und \ der beiteren Verstimmung ist viel gestritten worden. Bald hat man die Ideenflucht als das Primarsymptom bezeichnet und angenommen, die I heitere Verstimmung erklare sich aus dem Gefiihl der Erleichterung der | Vorstellungsablaufs , bald hat man die heitere Verstimmung als das Primarsymptom auffassen wollen und auf den oben erwahnten psycho- logiscben Satz hingewiesen, dass positive Gefiihlstone auch bei dem Gesunden den Vorstellungsablauf beschleunigen. Bei der letzteren An- nahme wiirde eine primare Ideenflucht iiberhaupt aus der allgemeinen Psychopathologie fast ganz auszuweisen sein. Eine unbefangene Be- obachtung derjenigen Kranken, welche beide Symptome Ideenflucht und Exaltation gleichzeitig darbieten, lehrt, dass meist beide Symptome durchaus coordinirt sind. Gebildete Kranke geben wahrend ihrer Krankheit und auch nach ihrer Genesung retrospectiv oft ganz unzweideutig an, beides Ideenflucht und Exaltation habe sich gleichzeitig eingestellt. Im Folgenden wird diese Auffassung denn auch stets zu Grunde gelegt werden und demnach sowohl die Ideenflucht wie die Exaltation in alien diesen Fallen als prim ares Symptom aufgefasst werden. Dabei muss bei dem jetzigen Stand unsrer Kenutnisse die Frage offen bleiben, worauf die Haufigkeit des gemeinschaftlichen Vor- kommens von Ideenflucht und heiterer Verstimmung beruht. Wir konnen einstweilen nur sagen, dass diejenigen atiologischen Krankheitsmomente, welche die Reproducirbarkeit' der Vorstellungen erhbhen und so zur Ideenflucht fiihreu, auch ein Ueberwiegen der positiven Gefiiblstone und damit eine pathologische Exaltation bedingen.

Abgesehen von der oben beschriebenen primaren Ideenflucht, welche sich mit heiterer Verstimmung vergesellschaftet, kommt ab und zu jedoch erheblich seltener primare Ideenflucht auch ohne Afiectstbrung, speciell ohne heitere Verstimmung vor. So namentlich bei der Nervositat oder Neurasthenie. Solche Kranke klagen dem Arzt geradezu, dass ihr Denken sich in qualvollster Weise iiberhaste. Bald sind es Reminis- cenzen, die in fliegender Eile stundenlang dem Kranken durch den Kopf schwirren („Reminiscenzenflucht^^), bald sind es hausliche Angelegenheiten Oder Tagesfragen, gleichgiiltige oder interessante, an welche die Ideen- flucht ankniipft. Der Kranke empfindet die Beschleimigung der Ideen- association hier stets als einen qualvollen Zwang, welchem er vergeblich zu widerstehen versucht.

Allgeraeine AssociationsstSrungen.

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p. Krankhafte Verlangsamung der Ideenassociation.

(D enkhemmung) .

Ebenso wie die Beschleunigiing der Ideenassociation beschrankt sich auch die Verlangsamung der Ideenassociation nicbt auf die Aneinander- reibung der Vorstellungen nnter sich, sondern betrifft auch die An- kniipfung der ersten Vorstellung an die Empfindung (von V^ an E) nnd die Schlussiibertragung der corticalen Erregung in die motorische Eegion. Hieraus resnltiren zwei Theil- oder Corollarsymptome der Denkhemmnng, welche man als Aprosexie and als motorische Hemmung bezeichnet. Von der die Denkhemmnng begleitenden Aprosexie ist bereits ausfiihrlich die Kede gewesen. Sie hiingt eng mit der gleich- falls bereits erwahnten Erschwerung nnd Verlangsamung des Wieder- erkennens zusammen, welche bei keiner erheblicheren Denkhemmnng fehlt. Die motorische Hemmung aussert sich vor Allem in der Ver- laugsamung resp. Aufhebung der sog. willklirlichen Bewegungen. In schwereren Fallen vermag der Kranke nicht einmal die einfachsten Be- wegungen, zu denen er aufgefordert wil'd, auszufiihren. Soil er einen vorgehaltenen Gegenstand ergreifen, so hebt er den Arm muhsam ebeu von der Bettdecke ab und lasst ihn dann wieder sinken oder fiihi’t ihu laugsam, unter bfteren Pausen in unverhaltnissmassig langer Zeit zu dem Gegenstand bin. Die Sprache ist verlangsamt, oft leicht saccadirt. Muhsam sucht der Kranke die Worte. Die Phonation ist besonders stark gehemmt : der Kranke fliistert oder haucht die Worte kaum vernehmlich. In den schwersten Fallen beschrankt sich das Sprechen auf unverstandliche abortive Mundbewegungen oder kommt es zu volligem Mutismus (Stumm- heit durch Hemmung). Zuweilen aussert sich die motorische Hemmung auch darin, dass der Kranke eine gewisse Bewegung fortwahrend in monotonster Weise wiederholt, also z. B. stundenlang ein und dieselbe Schlagbewegung mit dem Arm ausfiihrt und ein und dasselbe Wort oder einen und denselben Satz wiederholt (= stereotype Bewegungen). Die allgemeine Kbrpermusculatur zeigt abgesehen von der Verlang- samung resp. Aufliebuug der Willkiirbewegungen ein zwiefaches Ver- halten. Bald besteht eine vollige Erschlaffung aller Korpermuskeln (= motorische Hemmung mit Resolution), bald besteht eine allgemeine, zuweilen sehr intensive Sj)annung aller Muskeln (= katatonische Hemmung). Im ersteren Falle begegnen passive Bewegungen keinem Widerstand: der erhobene Arm fallt schlaff wie der eines Todten, ledig- lich der Schwerkraft folgend, auf die Unterlage zuriick. Im letzteren Fall begegnet der Versuch zu passiven Bewegungen einem mehr oder weniger grossen Widerstand. Zuweilen ist die passive Beweglichkeit

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Allgemeine Associationsstorungon.

chirch die katatonische Spannung fast ganz aufgehoben. Da die Span- nung bald in dieseu, bald in jenen Muskeln iiberwiegt, so ist der Korper bald in dieser, bald in jener Stellimg fixirt. Der Kopf nimmt besonders baufig eine dem Emprostbotonus entsprecbeude Stellung ein ; bei liett- lagerigen Kranken ist er daber von dem Kopfkissen abgeboben iind wird stunden- und selbst tagelang im Scbweben gebalten. Seltener wird er dem Opisthotonus der tuberculosen Meningitis entsprecbend tief in die Kissen gebobrt. Die Zabnreiben werden oft so energiscb aufein- ander gepresst, dass dem Unerfabrenen ein Trismus vorgetauscbt wird. Die Stirn ist bald in senkrecbte, bald in wagerecbte Runzeln gelegt, die Augen sind bald weit aufgerissen, bald fest zugekniffen, die Augenaxen meist parallel geradeaus gericbtet. Die Extremitaten befinden sicb fast ebenso oft in katatoniscber Flexionsstellung wie in katatoniscber Exten- sionsstellung. Es bedarf oft grosser Vorsicbt, um die Verwecbslung mit Contracturen , sowobl organiscb bedingten wie bysteriscben , zu ver- meiden. Ausser Resolution und katatoniscber Spannung (Attonitat) findet sicb zuweilen als Tbeilerscbeinung der allgemeinen Associations- bemmung aucb die sog. Flexibilitas cerea (s. u.)

Die ganze Trias der eben aufgefiibrten Symptome, Aprosexie -f Denkbemmung motoriscbe Hemmung, wird aucb als Stupor*) be- zeicbnet. Kranke in solcbem Zustand nennt man stupor os. Je nacb der Aeusserungsweise der motoriscben Hemmung unterscbeidet man daber aucb einen Stupor mit Resolution und einen katatoniscben Stupor.

Wie die Ideenflucbt ist ' aucb die Denkbemmung und der sie ein- scbliessende Stupor bald secundar, bald primar.

Secundare Denkbemmung (bezw. secundarer Stupor) ist am biiufigsten durcb Ilallucinationen bedingt und zwar durcb Hallu- cinationen beiingstigenden oder fascinirenden oder imperativen Inbalts. So kannte icb eine Kranke, welcbe wochenlang regungslos auf einem Fleck stand: dieselbe spracb kein Wort, reagirte weder auf Nadelsticbe noch auf Anruf, genoss spontan keine Nabrung, Hess Kotb und Urin unter sicb. Der Speicbel floss ibr aus den Mundwinkeln auf das Kleid nieder. Als sicb spater der Stupor loste, gab sie an, sie babe ringsum statt des Zimmerbodens drobende Abgriinde geseben und sicb desbalb nicbt zu riibren gewagt und aucb ibr Denken sei durcb die scbrecklicbe Vision „vollig gebunden und gebannt gewesen". In diesem Ealle Avar also der Stupor secundar durcb eine beiingstigende Hallucination resp. Illusion- bedingt. Andere Kranke sehen den Himmel offen, bbren Engel-

*) Wie viele Termini der Psychiatrie, ist anch der Terminus Stupor von den verschiedenen Autoren in der verscbiedensten Bedeutung angewandt Avorden. Wir brauchen diese Bezeicbnung ausscbliesslicb fur den durcb die oben aufgefiibrten 3 Symptome cbarakterisirten Krankbeitszustand.

Allgem eine AssociationsstOrungen .

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cliore Oder die gottliche Stirame mid sind durcli solclie fascinirende Hallucinatiouen wie gebannt. Besonders bei Epilepsie mid aiich bei Hysterie konimt diese Form des secundaren Stupors haufig vor. In einer dritteu Reibe von Fallen ist eine imperative Hallucination als Ursaclie des Stupors nachzuweisen : der Kranke librt z. B. geradezu eine Stimnie, welclie ihm zuruft, er diirfe sicli nicbt rlibren oder er sei des Todes, und diese Stimme bat so viel Macbt liber ibn, dass sein Vorstellungsablauf und sein Bewegen und Handeln vollig gebemmt ist. Endlich ist aucb zu beriicksicbtigen, dass eine auf das motoriscbe Ge- biet bescbrankte Hemmung in der friiber erlauterten Art und Weise durch Bewegungshallucinationen vorgetauscbt werden kann. Aebnlicb ■vvie Hallucinationen konnen endlicb aucb Wabnvorstellungen analogen Inbalts zuweilen einen secundaren Stupor erzeugen. Alle diese Forinen des secundaren Stupors bat man aucb treffend als Pseudostupor bezeicbnet und unterscbeidet namentlicb einen ballucinatoriscben und einen wabn- baften Pseudostup or. In der Regel ist der Pseudostupor ein kata-

toniscber; Resolution ist sebr selten.

Der prim are Stupor (bezw. die prim are Denkbemmung) kommt baufig obne jede concomitirende Affectstorung vor. In dieser Beziebung verbalt sicb also die Denkbemmung anders als die Ideen- flucbt, deren Seltenbeit obne concomitirende Affectstorungen oben ber- vorgeboben wurde. Namentlicb alle diejenigen Psycbosen, in deren Aetiologie geistige Erscbopfung und Ueberanstrengung eine Rolle spielen, zeigen baufig dauernd oder intercurrent stuporbse /ustande in den vei- scbiedensten Graden. In den leicbtesten Fallen z. B. einer auf dem Boden cerebraler Erscbopfung entstandenen Nervositiit iiussert sicb die Denkbemmung nur darin, dass der Kranke geistige Arbeiten etwas langsamer bewaltigt. Zuweilen arbeitet er anfangs mit normaler Ge- scbwindigkeit , aber nacb imverbaltnissmassig kurzer Zeit ermiidet er d. b. es stellt sicb eben jene Denkbemmung ein, welcbe bei dem Gesunden erst nacb viel langerer Arbeitszeit sicb einzustellen pflegt. In den scbwersten Graden erscbeint das Denken geradezu aufgeboben. Hocli- gebildete Kranke’ vermogen ein einfacbes Beispiel aus dem Einmaleins nicbt mebr zu recbnen und geben ibre eigenen Personalien falscb an.*)

*) Speciell die complicirteren Vorstellungscomplexe pflegeu bei dieser Denk- bemmung am intensivsten betroffen zu sein, wabrend einfacbere Vorstellungen nocb leidlich reproducirt werden konnen. Dies filbrt in mancben Fallen dazu, dass die Kranken ein eigentbiimlich kindiscbes und albernes Gebabren zeigen. Plappernd wiederbolcn sie immer dieselben Phrasen oder trillern dieselben Melodien. Wabrend complicirtere Handlungen vollig gebemmt sind, konnen einfacbere Bewegungen nocb ausgiebig stattfinden: statt einer vdlligen Kesolutioii oder katatoniseben Spannung findet man daber in solchen Fallen, dass die Kranken wenigstens stundenweise wie Kinder spielen und tandcln.

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Allgemeine Associationsstflrungen.

Dass es sich in solchen Fallen, welche namentlich bei der sog. Stupiditat vorkommen, niclit um einen Verlust der Erinnerungsbilder, sondern lediglicb mn eine Heminung, d. b. eine Verlangsamung und Erschwerung der Reproduction handelt, geht daraus bervor, dass oft voriibergebend wenn namlicli die Hemmung gelegentlicb nachlasst der Kranke dieselben Fragen ricbtig beantwortet, ferner daraus, dass bei sebr langem Zuwarten zuweilen dock scbliesslich eine ricbtige Antwort auch in den /eiten schwerster Hemmung erbalten werden kann, und endlicb daraus, dass, falls Genesung eintritt, der Kranke nicbt etwa alle seine friiheren Kenntnisse durcli neues Lernen etwa wie ein Kind wieder er- werben muss, sondern mit dem allmalilicben oder jdotzlicben Nacblass der Hemmung ohne Weiteres wieder in den Besitz seines friiheren Wissens eintritt. Dabei ist jedoch zu beriicksichtigen, dass bei sebr langer Dauer stuporoser Zustande scbliesslich in Folge Mangels jeg- licber Uebung und Reproduction auch der Besitzstand an Erinnerungs- bildern leiden kann. Es tritt dann eben allmablicb zu der Denk- benimung ein wirklicber Verlust von Erinnerungsbildern, ein sog. secundarer Intelligenz def e ct (secundare Demenz) binzu. Aus dem scbeinbaren Scbwacbsinn wird ein wirklicber.

Ausser dieser uncomplicirten primiiren Denkbemmung existirt eine mit Depression vergesellscbaftete Denkbemmung, welche in fast alien Punkten das Gegenbild der oben besprocbenen primaren mit Exaltation vergesellscbafteten Ideenflucbt darstellt. Man hat auch bier sich vielfacb gestritten, ob bei dieser Combination die Depression oder die Denk- bemmung das primare Symptom sei. Letztere Annabme ist scbon des- balb sofort zu verwerfen, weil wir, wie oben erwabnt, Denkbemmung sebr oft auch ohne gemiitblicbe Depression finden. Aber auch die erstere Annabme, wonacb die Depression die zureicbende und einzige Ursacbe der Denkbemmung ist, ist wenigstens fiir viele Falle nicbt stich- baltig. Dass im Allgemeinen negative Gefiihlstone den Vorstellungsab- lauf bei dem Gesunden ebenso wie bei dem Kranken erscbweren und verlangsamen, ist allerdiugs ricbtig, und in vielen Fallen, wo Denk- bemmung und Depression coexistiren , mag dies zur Erkliirung der Denkbemmung ausreicben und somit die Denkbemmung als secundar, durcb die Depression bedingt, aufzufassen sein. In vielen anderen Fallen geben beide Symptome durcbaus parallel. Mancbe Kranke geben sogar geradezu an, dass die Denkbemmung nocb vor der Depression vorbanden gewesen sei. Dann sind also beide Symptome als primar und coor- dinirt aufzufassen. Im Folgenden wird im Allgemeinen diese Auffassung, wonacb die mit Depression vergesellscbaftete Denkbemmung nocb als primare aufzufassen ist, festgebalten werden.

Unter den verscbiedenen depressiven Affecten verbindet sich weit-

Allgemoine Associationsstoriingen.

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aiis am liaufigsten die Angst mit Denkhemmiing. Die Denkhemmung kann bei dieser fast ebenso holie Grade erreiclien wie bei der oben- erwabnten Stupiditiit. Es giebt Kranke, z. B. Melancbolische, welche auf der Holie der Angst zu der Multiplication 7x8 melirerer Minuten bediirfen, und die Namen ihrer Kinder nur miihsam oder garnicht aiifzalilen konnen. Man bezeichnet diese Denkhemmung baufig aucli speciell als Scbwerbesinnlicbkeit. Das motorisclie Gebahren dieser Kranken zeigt grosse Verscbiedenheit. Zuweilen findet man vollige Re- solution, so bei der hiernach benannten Melancholia pas si v a. Haufiger sind katatonisclie Spannungszustande: die Kranken erscbeinen wie „an- gedonnert^^, so bei der sog. Melancholia attonita. Endlich kann sehr haufig die motorische Hemmung vollstandig verdeckt werden durch die friiher besprochenen Ausdrucksbewegungen der Angst, also namentlich das Jammern, das Zupfen an den Fingerbeeren, das Ringen der Hande, das Wiegen des Oberkorpers, das ruhelose Stossen der Beine, das angst- volle Umherlaufen. Die Melancholie, welche fiir alle diese Zustande das reichste Beohachtungsgebiet darstellt, zeigt gerade diese Combination von Denkhemmung, Angst und Angstbewegungeji (neben sonstiger moto- rischer Hemmung) ausserst haufig. Man bezeichnet diejenige Form der Melancholie, wo dies Verhalten dauernd vorherrscht, geradezu als agitirte Melancholie (Melancholia agitata).

Wahrend die Erkennung der Ideenflucht keinerlei Schwierigkeiten darbietet, ist die Diagnose der Denkhemmung oft sehr schwierig. Die Thatsache, dass ein Kranker Fragen langsam oder garnicht beant- wortet, ist stets mehrdeutig. Es kann eine secundare Denkhemmung hedingt durch Hallucinationen oder Wahnvorstellungen , es kann eine prirnare Denkhemmung ohne Affectstorung (wie bei der Stupiditat), es kann eine mit trauriger Verstimmung und Angst vergesellschafte resp. von ihr abhangige Denkhemmung vorliegen und es kann sich endlich vor allem uberhaupt um keine Denkhemmung, sondern um einen wirk- lichen Intelligenz defect (also Schwachsinn) handeln. Als unterscheidende Merkmale kommen folgende in Betracht:

Die Denkhemmung ist grossen Schwankungen unterworfen ; selbst in den schwersten Fallen kommen gelegentlich Augenblicke oder Stunden, in welchen die Hemmung nachlasst und dementsprechend der Kranke auftallig richtig antwortet. Solcbe vorubergehcnde Schwankungen zeigt der Schwachsinn niemals: er ist entweder stabil oder progressiv.

Die Denkhemmung betrifit die einzelnen Vorstellungscomplexe oft in sehr ungleichmassiger Weise. Einzelne ganz einfache Fragen bleiben unbean twortet und andrerseits verrathen einzelne Antworten ein auf- fillliges Maass von Urtheilskraft. Der wirkliche Intelligenzdefect ist in

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Allgemeine Associationsstfirungen.

cler Regel ein ganz allgemeiner: es lianclelt sich meist uni eine zieirilicli gleichraiissige Reduction des ganzen geistigen Besitzstandes.

Die Denkhemmung betrifft vorzugsweise die einzelnen Vorstellungen und Voi'stellungscomplexe, weniger die Urtheilsassociationen der Vor- stellungeii. So schwer es diesen Kranken fallt, einzelne Vorstellungen und Hire Verkniipfung zu reproduciren, so correct sind dock die Urtheils- associationeii selbst, sobald iiberhaupt einmal trotz der Heinmung die Vorstellungen reproducirt worden sind. Der Scliwachsinn aussert sich ini Gegentlieil ganz vorwiegend aucb in den Urtheilsverbindungen der Vorstellungen. Damit liangt es zusammen, dass der Kranke init Denk- hemuiung iiberhaupt ofter garnicht als falscli antwortet und bei langem Zuwarten schliesslich die Antwort richtig findet, walirend der Schwach- sinnige ofter falscli als garnicht antwortet und in der Regel auch bei geduldigstem Zuwarten die richtige Antwort niclit trilft.

Endlich ist die Denkhemmung fast ausnahmslos auch mit moto- rischer Hemmung verkniipft. Speciell aussert sich dies fast stets in sehr sinnenfalliger Weise in deni Sprechen des Kranken. Miihsam und langsam kommen die Worte iiber die Lippen Bei deni Schwachsinn fehlt die motorische Heinmung meist ganz: das rasche Sprechen der Kranken contrastirt oft in auffalliger Weise mit ihrem langsam en Denken.

So werthvoll diese Kriterien im Allgemeinen sind, so reichen sie dock im Einzelfall zuweilen zm einer sicheren Entscheidung, ob Hemmung Oder Defect vorliege, niclit aus. Namentlich bei einer einmaligen Unter- suchung kann man mit der Diagnose, ob Hemmung oder Defect, niclit vorsiclitig genug sein. Vollends ist es nicht selten ganz unmoglich zu entsclieiden , ob bezw. wann eine liingere Zeit bestehende Denk- liemmung in dem oben aiigeflibrten Sinn zu einem secundaren Defect gefiihrt hat.

Hat man den Intelligenzdefect ausgesclilossen, so bleibt die weitere Frage zu entsclieiden, welche Form der Denkhemmung vorliegt. Der friiher beschriebene charakteristische Habitus des Hallucinauten verriith den hallucinatoriscben Stupor resp. die hallucinatorische Denkhemmung, der traurige oder iingstliche Gesichtsausdruck die mit Depression ver- kniipfte Denkhemmung. Bei der primaren Denkliemmung ohne Affect- anomalie, wie sie bei der Nervositiit, der Stupiditat und der stuporoseii Paranoia vorkommt , filllt der leere oder kindische Gesichtsausdruck auf. In leicliteren Fallen fiihrt aucli das directe Befragen zum Ziel. Dabei ist, wie aus den fruheren Ausfulirungen sich ergiebt, namentlich auf Hallucinationen, Walinideen und Angst zu priifen. Kranke, welche an uncomplicirter, primarer Denkliemmung leiden, geben wenigstens

Allgemeine AssociationsstOrungen.

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ill clen leicliten iind mittelscliweren Fallen oft direct an, sie „hatten eine solche Leere im Kopf".*)

y. Storungen des Zusammenhangs des Vorstellungsablaufs (Incoharenz oder Dissociation).

Bei dem Geistesgesunden folgt auf eine Vorstellung stets eine solche Vorstellung Vg, welche zu V^ in einer engen associativen Verwandt- schaft steht. Bei vielen Geisteskranken andert sich dies, Auf eine Vor- stellung Vj folgt eine Vorstellung Vo, welche zu V^ in gar keiner er- kennbaren Beziehung steht. Wo diese Anomalie durchgangig auftritt, spricht man von Dissociation oder Incoharenz der Ideenassociation. Ein einfaches Beispiel fiir solche Dissociation ist folgendes: ich frage eine Kranke nach der jetzigen Jahreszahl, und sie antwortet mir darauf ^,blau^^ Die Vorstellung ^,blau“ hat gar keine erkennbare Beziehung zu der Vorstellung „der jetzigen JahreszahF', welche ich durch meine Frage angeregt babe,

Auch die Incoharenz der Ideenassociation betrifft nicht nur die Ver- kniipfung der Vorstellungen untereinander, sondern auch die Anknupfung der ersten Vorstellung an die Empfindung und die Uebertragung der corticalen Erregung in das motorische Gebiet des Gr'osshirns. In ersterer Beziehung kommt es zu der bereits friiher besprochenen Storung des Wiedererkennens. Die Kranken verkennen alle Gegenstande und Personen ihrer Uingebung. Die einfachsten Objecte werden falsch be- zeichnet (Pseudoparaphasie) und falsch gebraucht (Parapraxie). Der Arzt wil’d bald fiir diesen, bald fiir jenen gehalten. Alle diese Ver- kennungen wechseln Minute fiir Minute. Dabei bestehen keinerlei Illu- sionen oder Hallucinationen. Gegenstande und Personen werden in normaler Weise empfunden, nur die associative Verarbeitung der Empfin- dungen (der gesehenen Personen, der gehorten Fragen etc.) ist eine pa- thologische. Statt derjenigen Vorstellungen, welche sich bei dem nor- malen Menschen associativ an eine Empfindung anreihen und so das Wiedererkennen und iiberhaupt die Orientirung ermoglichen, werden bei diesen Kranken entsprechend der allgemeinen Incoharenz ganz ungehorige Vorstellungen angereiht. So kommt es auch, dass die Kranken auf die einfachsten Fragen fiber ihre Personalien, das heutige Datum, ihren Aufenthaltsort, ihre letzten Erlebnisse falsch antworten. Diese Theil-

*) Nebenbei sei bier erwahnt, class auch bei organischen Psycbosen gelegentlicb neben den Ausfallserscheinungen der Intelligenz Hemmungen auftreten konnen. So fuhrt z. B. die Steigerung des Hirndrucks bei Hirntumoren fast ausnahmslos zu intercurrenten Zustanden von Dciikbemmung.

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Allgemoine Associationsstorungen.

ersclieinung der allgemeinen Incoliarenz wird speciell alsUnorientirt- 1 he it*) hezeiclinet. ]

Ganz regelmassig aussert sich die Incoharenz der Association auch !■ in den Bewegungen der Kranken. Dieselben entsprechen weder den yn vorliegenden Empfindungen noch den vorausgelienden Vorstellungen. Die Kranken greifen haufig fehl. Handarbeiten misslingen ihnen. Der Gang kann geradezu Ataxie vortauschen. In den leichteren Fallen be- scbrankt sich die Storung auf ein planloses Urnlierwandern. Die succes- siven Bewegungen des Kranken entbehren des inneren Zusainmenbangs. Zielvorstellungen, welcbe eine grossere Reibe von Bewegungen zu einer i complicirten Handlung vereinigen, treten nicbt auf. In den schwersten Graden kommt es zu ganz sinnlosen Bewegungen, die Kranken greifen in die Luft, werfen sich riicksichtslos umher (Jactationen), verzerren ii das Gesicht. Auch in der einzelnen B'ewegung ist kein Zweck raehr erkennbar. Haufig wird das Bild der Chorea vorgetauscht, und friiher .1 hat man solche Falle geradezu als „Chorea magna" beschrieben. 7

Am augenscheinlichsten tritt die allgemeine Incoharenz in dem 1 Mienenspiel, dem Sprechen und Schreiben der Kranken hervor. Das Mienenspiel passt nicht zu dem Inhalt der jeweiligen Vorstellungen und j- Empfindungen des Kranken. Zu den schreckhaftesten Vorstellungen I kann sich z. B. ein lachendes Verzerren des Gesichtes gesellen. Man I; hezeiclinet diese Storung der mimischen Innervation als Paramimie. = Die transcorticale allgemeine Parajihasie oder Pseudoparapbasie, ; welcbe im Gefolge der allgemeinen Incoharenz auftritt, ist bereits mehr- fach erwahnt worden. Die Kranken bezeichnen die Gegenstande, welcbe sie sehen, fiihlen etc. falsch und auch bei dem Spontansprechen (ohne 1^ Anlebnung an Empfindungen) versprechen sie sich oft. Eine Verwechs- lung dieser dissociativen Paraphasie mit der durch Heerderkrankungen bediugten Paraphasie lasst sich nur vermeiden, indem man feststellt, ob die paraphasische Storung die Theilerscheinung einer allgemeinen Incoharenz ist oder nicht.

Ueberhaupt spiegelt die Sprache die verschiedenen Grade der In- coharenz des Vorstellungsablaufs am treuesten wieder. In den leich- testen Graden ist lediglich der Zusammenhang der Satze untereinander

*) Aeltere und auch viele neuere Psychiater fiibren diese Unorientii'theit auf eine sog. Bewusstseinsstdrung oder Storung des Selhstbewusstseins zuriick. T. Diese Einfuhrung eines neuen Seelenvermdgens („Selbstbewusstsein“) ist ganz un- gerecbtfertigt. Die Unorientirtheit beruht lediglich auf einer Associationsstdrung und erklart sich ohne Zuhiilfenahme einer neuen Seelenthatigkeit. Die Bezeich- ^ nung „Bewusstseinsstdrung“ ist schon deshalb unzweckmassig , weil der Vorgang 1. der Orientirung in keinem hdheren Grade bewusst ist, als jeder psychische Vorgang ! iiberhaupt.

Allgemeine AssociationsstSrungen.

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gestort. In den scliweren Graclen leidet auch der Zusammenhang der Worte innerhalb des Satzes. Die Kranken brechen mitten im Satz ab Oder fallen aiis der Construction (Agrammatismus s. Akatapbasie). Scbliesslicb werden die Vorstellungen iiberbaupt nicbt mebr zu Urtbeilen verkniipft, imd spracblicb aussert sicb dies darin, dass die Worte nicbt mebr zu Satzen verbunden werden: Wort wird an Wort obne erkenn- baren Zusammenbang , bald langsam, bald rascb angereibt. Haufig kebren dabei dieselben Worte in rascber Folge immer wieder und es entstebt dann das bereits friiber erwabnte Symptom der Verbigeration. In den scbwersten Fallen endlicb leidet aucb der Zusammenbang der Silben und Bucbstaben innerbalb des Wortes. Die Kranken brechen mitten im Wort ab oder combiniren Tbeile verscbiedener Worte zu eineni Wort; baufig kommt es zu volligen Wortneubildungen. Selbst die Articulation der Bucbstaben kann scbliesslicb leiden.

Ebenso wie die Spracbe ist auch die Scbrift durcb die Incoharenz des Kranken verandert. Aucb im Schreiben stellen sicb Anakolutbe ein, Worte und Silben werden ausgelassen, unpassende schieben sicb dafiir ein, die Scbriftziige tauscben geradezu Ataxie vor.

Der Gesammtzustand, welcber durcb die Trias der jetzt aufgefiibrten Symptome: Unorientirtbeit, Incoharenz des Vorstellungs- ablaufs und motorise be Incoharenz ebarakterisirt ist, wird aucb als Verwirrtbeit bezeiebnet. Dabei ist jedocb im Auge zu bebalten, dass es sicb nicbt etwa um 3 disparate Symptome handelt, sondern urn Tbeilerscheinungen eines und desselben Grundsymptoms, namlicb der allgemeinen Incoharenz der Ideenassociation oder der Dissociation. Im Folgenden wird daber oft der Ausdruck Incoharenz ganz gleichbedeutend mit dera Ausdruck Verwirrtbeit gebrauebt werden.

Man untersebeidet eine primare und eine secundare Incoharenz.

Die primare Incoharenz tritt autochthon, unabbangig von irgend welcben anderen psyebopatbiseben Symptomen auf. Sie ist das dominirende Cardinalsymptom einer bestimmten Psyebose, der sog. incoharenten Form der Paranoia. .

Die secundare Incoharenz ist eine Folgeerscbeinung bestimmter anderer psyebopathiseber Symptome. Dieselbe kann bedingt sein durcb

1. boebgradige Ideenflucht: wenn die Bescbleunigung des Vorstellungsablaufs sicb mebr und mebr steigert, so werden mebr und mebr Zwiscbenvorstellungen iibersprungen und damit stellt sicb eine zunehmende secundare Incoharenz ein (ideenfliicbtige Incoharenz).

2. Haufung disparater Wabnideen oder Hallucinationen: wenn inbaltlich sebr versebiedene Wabnideen oder Hallucinationen in grosser Zabl auftreten, so werden so versebiedene, z. Tb. unvereinbare

Ziehen, Psychiatrie. 7

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Allgemeine AssociationsstOrungen.

II

Vorstellungsreihen angeregt, dass gleichfalls eine secundare Incoharenz entstelit (walmbafte and haliucinatorisclie lucoliarenz). Die Association als solclie ist liier normal, aber sie arbeitet init einem pathologisch veriinderten Vorstellungs- und Empfindungsinaterial, dessen Bewaltigung sie nicht gewacbsen ist.

3. Starke Affectsteige rungen: namentlich Angst- und Zorn- 5

affecte bedingen gelegentlicb auch bei dem Gesunden, haufiger bei dem l Kranken eine secundare Incoharenz. .

4. Intelligenzdefect: das Denken des Scbwachsinnigen wird ! incoharent, tbeils weil es ihm an associativen Verkniipfungen fehlt, I tbeils weil Vorstellungen, welche Verbindungsglieder darstellen konnten, nicht vorhanden sind (Incoharenz des Schwachsinns).

Die diagnostische Unterscheidung der soeben aufgefiihrten Formen der Incoharenz begegnet bfter grossen Schwierigkeiten.

Die secundare ideeufliichtige Incoharenz liegt nicht etwa liberall da vor, wo ein Kranker rasch und zugleich zusammenhangslos spricht. Es kommt namlich nicht selten vor, dass zu einer primaren Incoharenz eine primare Ideenflucht hinzutritt, Viehnehr ist ein sicherer Nachweis , dass es sich in einem gegebenen Fall um eine secundare ideenfliichtige, d. h. aus Ideenflucht hervorgegangene Incoharenz handelt, stets aus der Anamnese zu fiihren : diese muss ergeben, dass im Be- ginn der Krankheit nur Beschleunigung des Vorstellungsablaufs ohne Incoharenz bestand und dass erst allmahlich parallel der Steigerung der Ideenfiucbt eine zunehmende Incoharenz sich eingestellt hat.

Die secundare hallucinatorische, wahnhafte und affective Incoharenz ist meist an dem Gesichtsausdruck der Kranken und an dem Inhalt der zusammenhangslosen Vorstellungsreihen zu erkennen.

Am schwierigsten gestaltet sich die Unterscheidung der primaren Incoharenz von der Incoharenz des Schwachsinns. Eine sichere Ent- scheidung ist zuweilen kaum moglich. Am werthvollsten sind im Ganzen noch folgende Merkmale:

1. Die motorische Incoharenz ist in der Regel bei der primaren Incoharenz viel ausgesprochener als bei der Incoharenz des Schwach- sinns. Speciell sind paraphasische Storungen und auch Parapraxie bei letzterer selten.

2. Sehr bezeichnend sind oft zusammenhangende Urtheilsassocia- tionen, welche gelegentlich in klareren Momenten inmitten der inco- harenten Vorstellungsreihen auftreten: bei dem Schwachsinn tragen diese Urtheilsverbindungen das deutliche Geprage des Intelligenzdefects, wahrend man bei der primaren Incoharenz oft iiber die logische Schiirfe soldier gelegentlichen Urtheilsassociationen tiberrascht ist.

Specielle Associationsstorungen.

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3. Die incoharenten Vorstellungsreihen cles Scliwachsimiigen sind luonotoner: dieselben Worte and Vorstellungen kehren immer wieder. Dem gegeniiber ist die primare Incobarenz viel productiver, es kommt nicbt zur Ausbildung eines bestiimnten Typus, die dauernde, vollige Regellosigkeit ist cbarakteristiscb.

Dabei ist stets auch zu erwagen, dass ebenso, wie die Denkhemmung, aiich die primare Incobarenz scbliesslicb bei langer Dauer zu secun- diirem Intelligenzdefect (sekundarer Scbwacbsinn) fiihren kann.

Specielle Associationsstoruug*en.

a. Inhaltliclie Storungen der Urtheilsassociationen (Wahnideen und Zwangsvorstellungen).

Der Geistesgesunde verbindet seine Vorstellungen zu Urtbeilen. Diese Urtbeilsverbindungen entsprecben im Allgemeinen den Verbindungen, in welcben die den verkniipften Vorstellungen entsprecbenden Empfindungen thatsacblicb vorgekommen sind, und somit aucb den tbatsacblicben Verbindungen der Objecte resp. ibrer Eigenscbaften in der Aussenwelt, Das Urtbeil: „Die Rose ist rotb^^ entbalt zwei Vorstellungen „Rose“ und ;,rotb^^, welcbe in einer Urtbeilsassociation verkniipft sind. Diese Verknupfung berubt darauf, dass die zugeborigen Empfindungen oft ge- meinsam aufgetreten sind: icb babe oft rotbe Rosen geseben. Wir nennen das Urtbeil ricbtig, insofern es einer tbatsacblicben Empfin- dungsverbindung und somit aucb den wirklicben Verbiiltnissen der Aussen- welt entspricbt. Aucb die Ricbtigkeit unserer abstractesten Urtbeile berubt in letzter Linie darauf, dass die den im Urtbeil entbaltenen Vorstellungen zu Grunde liegenden Empfindungen coexistirt haben.

Die Ideenassociation wird von dem Princip der Aebnlicbkeit und Gleicbzeitigkeit beberrscbt. Beide Principien sind wohl im Allgemeinen geeignet zu richtigen Urtbeilsassociationen zu fubren, beide entbalten jedocb aucb scbon in ibrem ganzen Wesen die Gefabr des Irrtbums. Die Aebnlicbkeit wird mit Gleicbbeit, die oft ere Gleicbzeitigkeit mit ausnabmsloser Gleicbzeitigkeit verwecbselt. Ein Kind bat eine einer Rose abnelnde Georgine geseben und bildet das Urtbeil: ,, diese Blume (naralicb die Georgine) ist eine Rose". Oder icb werde gefragt: wie bliibt die Rose in jenem Garten, und icb antworte, obne sie geseben zu baben, mit dem Urtbeil „sie bliibt rotb". Dabei setze icb micb dem Irrtbum aus. Es giebt weissbliibende Rosen, und die Rose in jenem Garten bliibt weiss. Icb babe oft den Empfindungscomplex ;,Rose" (Form, Duft) zusammen mit der Empfindung rotb gebabt und

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Speciello AssociationsstOrungen.

cliese oftere Gleichzeitigkeit fiihrt raich zu dem im Specialfall falschen H; Urtheil: die Rose bluht rotli. So entstelien die Ir rthiimer,*) d. h. ^ Urtheilsassociationen , die den Thatsachen des Empfindungslebens und | damit den Thatsacben der Aussenwelt nicht entsprechen. ^

Dem Irrtbum ist auch der Geistesgesunde ausgesetzt, aber bei dem j Geistesgesunden sind dem Irrtbum bestimmte Grenzen gesteckt. Das ] Kind iiberzeugt sich durcb wiederholtes Seben, dass die Georgine trotz der Aebnlicbkeit von der Rose verscliieden ist, und ich tiberzeuge mich : durcb den Augenscbein, dass die specielle Rose in jenem Garten weiss | bliibt. So werden irrtbiimlicbe Vorstellungen nacbtraglicb corrigirt. j Das Vorstellungsleben stebt unter der fortwabrenden Controle der j Empfindungen und wird bierdurcb vor einem erbeblicberen langeren Ab - weicben von den tbatsacblicben Verbilltnissen der Aussenwelt bewabrt. Gewiss giebt es aucb Irrtbumer (Vorurtbeile, Recbtbaberei, Aberglauben) bei dem Geistesgesunden, welcbe mit grosser Hartnackigkeit jeder Cor- ' rectur durcb die Erfabrung widerstreben. Die Hartnackigkeit solcber IrrHiiimer des Gesunden erklart sicb jedocb in ganz naturlicher Weise i aus den Umstanden des einzelnen Falles. Michael Koblbas, der ein i Mai tbatsacblicb Unrecbt erlitten bat und nun sicb von der ganzen i Welt gekrankt glaubt und zablreicbe Unscbuldige opfert, zeigt das i Prototyp eines solcben bartniickigen Irrtbums. Tausend Erfabrungen li sollten ibn belebren, dass er sein Urtbeil uber die Ungerecbtigkeit J seiner Umgebung in irriger Weise verallgemeinert bat, trotzdem I bleibt er bei seinem Irrtbum. Der Gefublston der Vorstellung des ibm ein Mai tbatsacblicb widerfabrenen Unrecbts ist zu macbtig. Den spateren Erfabrungen stebt diese eine friibere Erfabrung gegen- iiber und gestattet denselben nicbt, eine Correctur an dem Urtbeil vor- zunebmen. In vielen Fallen von Aberglauben ist es die Autoritat irgend einer Personlicbkeit oder Gottes, welcbe gegentbeiligen , aufklarenden Erfabrungen keinen Einfluss auf das Urtbeilen einraumt. Wabrend in den ebengenannten Fallen eine bervorragende Gefiiblsbetonung die Hart- nackigkeit des Irrtbums erklart, ist es in anderen Fallen lediglich die Macht der Gewohnheit, die Enge der associative!! Verknupfung, welcbe die Correctur des irrigen Urtbeils verbindert. |

Dies der pbysiologiscbe Irrtbum. Der patbologiscbe | Irrtbum, die Wabnidee bat mit dem pbysiologiscben Irrtbum ge- I mein, dass ibre Vorstellungsverkniipfung den Tbatsacben der Aussen- | welt nicbt entspricbt. Sie unterscbeidet sicb von dem Irrtbum des I Geistesgesunden durcb folgende Hauptpunkte: I

*) Weiter entstehen Irrthtimer auch dadurch, dass unsere Empfindungen den 1 Reizen der Aussenwelt oft nicht genau entsprechen.

Specielle Associationsst6rungen.

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1. Die Wahnidee stiitzt sich anf ein ganz unzureichendes , oft illusionar gefalsclites oder direct liallucinatorisches Empfindungsmaterial.

2. Die Correctur der walinhaften Urtheilsassociationen durch neue Empfindungen bleibt vbllig aus, obne dass dies Ausbleiben jeglicber Correctur in der oben fur den pbysiologischen Irrtbum auseinander- gesetzten Weise sicb erklaren lasst; vielmebr beeinflusst umgekebrt

3. die Wahnidee das Empfindungsleben, indem die Empfindungen nicht nur im Sinn der Wabnideen gedeutet, sondern scbliesslicb auch im Sinn einer Illusion transformirt werden. Weiterbin kann die Wahn- idee sogar Empfindungen aus sich heraus erzeugen, d. h. mit andern Worten zu entsprechenden Hallucinationen fiihren.

Wie sich aus dieser Darlegung sofort ergiebt, ist die Grenze zwischen dem pbysiologischen Irrthum und der Wahnidee keine scharfe. Zwischen der pbysiologischen Rechthaberei des Processkramers und dem Verfol- gungswahn des Querulanten, zwischen dem pbysiologischen Diinkel und der Grbssenidee, zwischen der pbysiologischen Eifersucht und dem patho- logischen Eifersuchtswahn existiren die fliessendsten Uebergange. So leicht die Entscheidung, ob krankhafte Urtheilsassociationen vorliegen oder nicht, in den ausgesprochenen Fallen ist, so schwierig und selbst unmoghch kann sie in halbentwickelten Zustanden geistiger Veranderung werden.

Die Wahnidee ist nur eine Form des pathologischen Irrthums. Fine zweite Form ist die Zwangsvorstellung. Wahrend bei der Wahnidee corrigirende Urtheilsassociationen gar nicht oder nur als ganz vorubergehende Zweifel auftreten, treten bei der Zwangsvorstellung be- richtigende Urtheilsassociationen in iiberlegener Zahl auf. Der Kranke ist daher von der Unrichtigkeit und Krankhaftigkeit seiner unrichtigen Vorstellungen vollig iiberzeugt, wird dieselben aber trotzdem nicht los. Daher auch die Bezeichnung Zwangsvorstellung. Im Allgemeinen sind Wabnideen viel haufiger als Zwangsvorstellungen und sollen daher auch an erster Stelle besprochen werden.

W ahnideen.

Die Definition der Wahnidee ist bereits oben gegeben worden. Die Entstehung der Wabnideen ist eine sehr verschiedene. Man hat folgende Entstehungsweisen zu unterscheiden :

1. Die Wahnidee taucht ganz primar,*) haufig im Anschluss an eine ganz normale Empfindung auf. So geht z. B. ein jugendlicher Kranker durch die Ahnengallerie des Residenzschlosses in seiner Heimath-

*) Die Franzosen bezeichnen seiche Wahn vorstellungen zweckmassig als Delire d’embl^e.

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Specielle AssociationsstOrungen.

stadt. Vor dem Bild eines Fursten taucht pldtzlich trotz Mangels jeder Aelinlichkeit und ohne jeden vorbereitenden Gedanken die Wahnvorstellung in ihm aiif: der Fiirst, der auf dem Gemalde darge- stellt ist, ist dein Vater. Seitdem ist er von dieser Wahnvorstellung nicbt wieder frei geworden, Sie ist ihm unumstbssliche Gewissheit. Seit dem ersten Auftaucbien ist niemals der leiseste Zweifel in ihm rege geworden.

2. Die Wahnidee ist logisch aus anderen Wahnideen er- schlossen. So hat z. B. der eben erwahnte Kranke sofort aus seiner primaren Wahnidee weiter geschlossen, dass sein wirklicher Vater nur sein Pflegevater, er selbst ein untergeschobenes Kind sei und dass feindliche Personen am Hofe ihn seinen fiirstlichen Eltern gestohlen und zii niedrigen Leuten gebracht hiitten. Hier hat sich also aus einer primaren Grbssenidee durch logische Schliisse und phantastisches Weiter- Ausdenken eine Verfolgungsidee entwickelt. Noch viel haufiger ist das umgekehrte Verhalten; zuerst tritt eine primare Verfolgungsidee auf, und an diese kniipft der Kranke weiterhin durch mehr oder weniger logische Schlussfolgerungen Grossenideen an. Der Kranke glaubt sich von alien Seiten angefeindet; er kann sich dies nur dadurch erklaren, dass er seiner Persbnlichkeit eine grossere Bedeutung zumisst, als sie seiner socialen Stellung und iiberhaupt den wirklichen Verhaltnissen entspricht. Ein Kranker citirte mir geradezu das Goethe’sche Wort: „Die Hunde bellen, das ist mir ein Beweis, dass ich reite^^ In der iiberwiegenden Mehrzahl der Falle kommt es zu dieser Weiter ent wick- lung der Verfolgungsideen zu Grossenideen. Dabei ist diese Weiterent- wicklung jedoch durchaus nicbt stets das Product eines bewussten logi- schen Schlussprocesses. Haufig reiht sich die Grbssenidee an die Ver- folgungsidee an, ohne dass der Kranke sich des logischen Zusammen- hangs bewusst wird. Nicht seiten bringen ihn erst die Fragen des Arztes („Wie kommen Sie zu dieser Selbstiiberschatzung?^^) zum Bewusst- sein des Zusammenhangs beider. Man bezeichnet alle derartigen Wahn- vorstellungen, durch welche andere primare Wahnvorstellungen weiter ausgebaut und erganzt werden, als complementare Wahnideen.

3. Die Wahnidee ist auf Grund von Hallucinationen entstanden (hallucinatorische Wahnideen). So sagt z. B. eine Stimme dem Kranken: „Du sollst sterben, im Essen ist Gift^^, und auf Grund dieser Hallucination bildet der Kranke die Wahnvorstellung, in seinen Speisen sei wirklich Gift. Dabei ist zu beachten, dass haufig auch das umge- kehrte Verhiiltniss vorkommt, d. h. dass zuerst eine primare Vergiftungs- idee auftritt und spater secundiir im Sinne derselben Hallucinationen auftreten. Im Grunde genommen muss man sogar zugeben, dass selbst in den Fallen, wo die Hallucination der bewussten Wahnvorstellung

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vorausgelit, die latente Disposition fiir letztere eben scbon bei der spe- ciellen Gestaltung der Hallucination mitgewirkt hat. Am klarsten tritt dies bei den friiher erwiihnten illusionaren Aiislegungen hervor. Halliicinato- rische Falschung der wirklichen Empfindungen (d. h. eben Illusion) und Wahnvorstellung sind bier oft geradezu gleicbzeitig. Ein leises an sich unverstandliches Gefllister wird zu verstandlichen Schimpfworten trans- formirt unter dem Einfluss der gleicbzeitig auftaucbenden oder unmittel- bar vorher aufgetaucbten Wahnvorstellung, dass die fliisternden Men- schen mich scbimpfen oder verspotten konnten. Die Eeibenfolge ist also bier: normale Empfindung (Gefluster), dann primare Wahnvorstellung („ich werde verspottet^^) und mit letzterer fast gleicbzeitig die Illusion, d. b. die Transformation des Gefliisters in bestimmte Scbimpfworte.

4. Die Wabnidee ist aus einem Traum in das wache Leben bin- iibergenommen. Geisteskranke unterscheiden Traum und Wirklicbkeit oft nicbt. Ein Traumeiiebniss wird bald unmittelbar nach dem Er- wacben bald einige Stunden oder Tage und selbst Wochen spater mit den Ereignissen des wachen Lebens verwecbselt und fiibrt nun ganz in derselben Weise, wie unter 3 die Hallucination, zu einer Wahnvorstellung. So traumte z. B. ein Kranker, er babe Nacbts ein Duell mit einem Mitkranken gebabt, und ist seitdem fest davon iiberzeugt, dass er wirk- licb mit diesem Kranken gefocbten bat und dieser Kranke sein Tod- feind ist.*)

5. Die Wabnidee ist das Secundarsymptom einer Affectstbrung, oder, wie man baufig sagt, ein Erklarungsversucb einer Affectstbrung. So treten Grbssenideen z. B. als Folgeerscbeinung der beiteren Ver- stimmung auf. Dieser Zusammenhang ist keineswegs so zu denken, als zbge in den meisten Fallen der Kranke den bewussten Scbluss: Icb bin so beiter und fiible micb so glucklicb, also muss icb etwas Besonderes (Kaiser etc.) sein. Vielmebr entspricbt nur der Gang der Ideenasso- ciation der Stimmungslage. Wie alle Vorstellungen und Empfindungen, so sind namentlicb aucb die des eigenen Icb in krankbafter Weise mit gesteigerten Lustgefiihlen verkniipft, und daber werden nun aucb aus- scbliessbcb oder fast ausscbliesslicb dementsprecbende Vorstellungen mit dem Icb verkniipft. Umgekebrt treten auf dem Boden der Depression die Wabnvorstellungen der Versundigung, der Verarmung, der kbrper-

*) Ein franzosischer Psycholog berichtet iiber ein interessantes Beispiel, welches auch fiir den Gesunden einen Einfluss des Traumlebens auf die Association des wachen Lebens beweist. Er war gewohnt, fast taglich einem Herrn zu begegnen, dessen Namen er kannte, den er aber niemals grusste. Eines Pages fiel ihm auf, dass er bei der Begegnung den Herrn griisst. Er besann sich und stellte fest, dass er in der vergangenen Nacht von einem sehr vertrauten Gesprach mit dem be- treifenden Herrn getraumt hatte.

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Specielle AssociationsstOrungen.

lichen Krankheit unci zuweilen auch der Verfolgung auf. Namentlich die | Angst fiihrt ungemein oft zu solchen secundilren Wahnvorstellungen. ^ Der psychopathologische Verlauf liisst sich hier geradezu in die logische || Reihe bringen: ich babe Angst, also babe icb ein scblecbtes Gewissen, S also babe ich ein Verbrecben begangen. Nun martert der Kranke sich | ab, bis ibm irgend eine barmlose Handlung oder ein kleines Vergeben, oft aus langstvergangener Zeit, einfallt. Dies wird nun zu einem scbweren Verbrecben ausgedeutet und aufgebauscbt. In anderen Fallen lautet ' die Scblussreibe : Ich bin so traurig, also muss icb korperlicb elend sein, folglich babe icb ein scbweres kdrperlicbes Leiden. Nun unter- sucbt der Kranke seinen ganzen Korper und deutet eine leicbte Ver- farbung der Zunge als Zungenkrebs oder einen harmlosen Auswurf als Symptom einer fortscbreitenden Pbtbise. Audi bier ist es meist nur die Analyse des Arztes, welche den psychopatbologiscben Vorgang in die Form eines solchen Scblussverfahrens bringt. Dem Kranken selbst ? kommt dieser logische Zusammenbang fast niemals zum Bewusstsein, bdcbstens nacbtraglicb kann ibn das eingehende Fragen des Arztes oder ! spater die Genesung auf eine Vermutbung dieses Zusammenbangs i bringen. Die Gesammtheit aller dieser aus Affectstorungen entsprin- I genden Wahnideen bezeichnet man als affective Wahnvorstellungen.

Die Unterscheidung dieser 5 in ibrer Entstebung verscbiedenen f Formen der Wabnidee ist diagnostiscb und prognostiscb von der grossten j, Tragweite, wie weiter unten ausfiibrlicb zu erortern sein wu*d. Dem- gegeniiber ist der Inbalt der Wabnvorstellung erst von secundarer Be- deutung. Hinsicbtlicb dieses Inbalts der Wahnideen fallt nun zunacbst auf, class alle Wahnvorstellungen sich fast ausnabmslos auf das Icb des Kranken bezieben. Ganz objective Wahnvorstellungen, die in gar keiner Beziehung zu dem Kranken steben, sind sebr selten. Selbst wenn eine Kranke die Berge, welche die Anstalt umgeben, auf Grund ibrer beite- ren Verstimmung fiir die Riviera erklart oder eine Mitkranke fiir die Grossfiirstin bait, so scbleicbt sich in solcbe scheinbar ganz objective wabnbafte Verkennungen fast stets der Gedanke ein, dass diese Ver- wandlungen in bestimmter Beziehung zu dem Icb des Kranken steben. Weitaus baufiger ist das Icb direct das Subject der Wabnvorstellung. Ausser dem Bezug auf das Icb ist fur die meisten Wabnvorstelbmgen aucb die starke Gefiiblsbetonung charakteristiscb ; es banclelt sich s e b r selten um gleichgultige Yorstellungen. Die Icb- Wahnvorstellungen [ tbeilt man je nacb ibrem speciellen Inbalt entsprechend den beiden Hauptricbtungen unseres Affectlebens in megalomaniscbe und mikro- manische ein (Grbssenwabn und Kleinbeitswabn). I

Der Grbssenwabn aussert sich bald in einfacber allgemeiner I Selbstiiberscbatzung, bald in bestimmt formulu’ten einzelnenVorsteU ungen. i

Specielle AssociationsstOrungen.

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In den einfachsten Fallen bezieht sicli cler Grossenwahn auf die korper- liclie Gesundheit, Sckonheit imd Leistungsfahigkeit oder auf die geistige Gesnndheit und Begabung. Der Kranke glaubt ewig zu leben. Er prablt mit seiner Muskelkraft und seiner Potenz. Er beliauptet, sein Blick und seine Stimme reicbe viele Meilen weit. Er halt sick fiir ein Genie oder fiir ein berufenes Werkzeug Gottes. So entstehen Propheten, Erfinder und Eeformatoren. In anderen Fallen betrifft die Selbstiiber- scbatzung vorzugsweise friihere Erlebnisse und Leistungen sowie die sociale Stellung. Der Kranke bat zabllose Keisen (bis auf andere Planeten) gemacbt, grosse Jagden mitgemacbt, Scblachten gescblagen etc. Ein anderer nennt sicb unermesslich reicb, prablt mit der Scbonbeit seiner Frau, der Zabl seiner Kinder, seinem politiscben Einfluss und allerband Titeln und glaubt sicb von bocbstebenden Personen (Furstinnen) geliebt; baufig fiibrt aucb der Kranke seine Abstammung auf Fiirsten zuruck, er ist ein untergescbobenes Flirstenkind, seine „sogenannten Eltern^^ sind seine Pflegeeltern. Bald schreibt er ein „von^^ vor seinen Namen, bald bebauptet er Feldmarscball, Kaiser, Cbristus oder Gott oder gar „Obergott^^ zu sein („Gottnomenclatur^Q. Mcbt selten uber- tragt sicb der Grossenwabn des Kranken aucb auf seine Umgebung. Alles erscbeint ibm wunderbar verscbont und unendlicb viel bedeutsamer als fruber. Aucb in seiner Umgebung vermutbet er verkleidete Fursten. Die Zelle wird ibm zum Palastzimmer, das aufgelesene Glimmersteincben zum Diamanten, die Eisse im Strobbut zu den „Zacken eines Diadems^''.

Je nacb Stand, Begabung etc. wecbselt der lubalt dieser Grossen- ideen ausserordentlicb. Am wicbtigsten fiir die diagnostiscbe Ver- wertbung des Grossenwabns ist die eigentbiimlicbe Farbung des In- balts, welcbe die Grossenideen durcb einen gleicbzeitigen Intelbgenz- defect erfabren. Man bezeicbnet solcbe Grossenideen aucb kurz als ;,scbwacbsinnige Grossenideen". Namentlicb im Exaltationsstadium der Paralyse sind dieselben sebr baufig. Der Scbwacbsinn verratb sicb bauptsacblicb durcb die Maasslosigkeit der Grossenvorstelbmgen bei diirftiger psycbologiscber Motivirung. Wenn demand auf Grund einer Gebbrstauscbung glaubt, ein Scbatz von Millionen sei irgendwo fiir ibn verborgen, so entbalt die Hallucination wenigstens nocb eine Motivirung dieser Grossenvorstellung und ist letztere daber nicbt scbwacbsinnig. Wenn demand unter einer Volksmenge stebt und den Gruss des vor- iiberreitenden Kaisers speciell auf sicb beziebt und sicb desbalb fiir den Sobn des Kaisers bait, so liegt wiederum wenigstens eine Motivirung vor, und aucb diese Grossenidee kann nicbt als scbwacbsinnig bezeicbnet werden. Wenn bingegen ein Kranker lediglich auf Grund krankbafter beiterer Verstimmung Kiesel fiir Diamanten und sicb fiir den Obergott bait, wenn er nocb dazu den scbneidenden Widersprucb zwiscben seiner

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Speciello Associationsstorungen.

Lage imd den Grossenideen nicht bemerkt und durch Suggestivfragen y| (Sie besitzen doch nocb mebr wie zwei Millionen? etc.) sicb zu beliebigen ] Steigerungen seiner Grossenideen hinreissen lasst, so handelt es sicb um I schwachsinnige Grossenideen. [

Der Kleinheit swabn verkniipft mit dem Ich allerband Vor- j stellimgen, welcbe mit Unlustgefiiblen verkniipft sind. Die wichtigsten , dieser Vorstellungen sind: 1

1. Der Versiindigungswahn.

2. Der Krankheitswabn (hypocbondriscber Wahn).

3. Der Verarmungswabn.

4. Der Verfolgungswabn.

Andere Formen des Kleinbeitswabns sind seltener. Der Wabn i

b ass lie b oder entstellt zn sein findet sicb gelegentlich neben hypo- «i chondriseben Wabnideen und Versundigungsvorstellungen, ab und zu aucb ! combinirt mit Verfolgungswabn (,,man bat durcb Gifte meinen Kbrper : entstellt, damit icb Niemandem mebr gefallen kann^^). Der Ver-

siindigungswahn ist meist affectiven Ursprungs, d. b. also ein Er- p klarungsversucb der primaren Depression und Angst (s. o.). Sebr viel | seltener ist er primar oder ballucinatoriscb. |

Zu dem Versundigungswabn tritt zuweilen eine eigenartige Form t des complementaren Grossenwabns binzu: um seine jetzige Scblecbtig- keit und Nicbtigkeit in nocb grelleres Licbt zu setzen und die Tiefe seines Falles zu steigern, spriebt der Kranke in ganz libertreibender Weise, also im Sinne eines Grossenwabns, von seiner Unscbuld und seinem Gluck in der Vergangenbeit. So erzablte ein Melancboliscber, der sicb sonst stets in den typisebsten Selbstanklagen erging, eines Tages: „Icb war der beilige Geist. Hatte icb meine Allmacbt benutzt, waren wir jetzt alle glucklicb. So bin icb verfluebt. Icb babe den beiligen Geist getodtet. Die ganze Welt ist durcb micb in Ungluck und Entsetzen^^ Man bezeiebnet diese Form der complementaren Grossen- idee, welcbe sicb zu dem Versundigungswabn binzugesellen kann, als I contra stir end e Grossenidee.

Der by poebo ndr isebe Wabn oder Kranbeit swabn beziebt sicb zuweilen auf die geistige Gesundbeit: die Kranken klagen, dass ibr Gebirn zerstbrt und ibre Denkfabigkeit zu Grunde geriebtet sei, obwobl dieses Urtbeil in den Tbatsacben und aucb in den Empfindungen der Kranken keine oder wenigstens keine ausreicbende Begrundung findet. Viel baufiger nocb wabnen die Kranken eine bestimmte unbeilbare korperlicbe Krankbeit zu baben. Syphilis, „Gebirnerweicbung“, „Riicken- marksdarre^^, „Scbwindsucht“, Krebs werden am baufigsten vom Kranken angenommen. Fiir den speciellen Inbalt dieser bypoebondriseben Wabn- I

Specielle Associationsstdrungen.

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vorstellungen ist oft ein Ziifall entscheidend : der Kranke hat gerade einen Fall tddtlich verlaufener Syphilis vor Kurzem erlebt oder be- richten horen imd dank dieser Constellation nimmt sein Krankheitswahn die specielle Form der Syphilidophobie an. Oder der Kranke bat zu- fallig gerade einen harmlosen Broncbialkatarrb and geratb so speciell anf den Wabn tuberkulds zu sein. Mitunter beziebt sicb der Krank- beitswabn anch nicbt anf ein bestimmtes Leiden, sondern anf den ver- meintlicben Ausfall einer bestimmten Function. So tritt z. B. der Wabn sexueller Impotenz (bei Masturbanten), der Wabn nicbt geben und steben zu konnen, nicbt sprecben zu kbnnen anf. Wegen der spater zu erwabnenden Klickwirkung gerade dieser Wabnvorstellungen auf die beziiglicben Functionen baben dieselben besondere Wicbtigkeit. Endlicb tritt der bypocbondriscbe Wabn nocb in einer besonderen Form auf, welcbe man aucb als den mikr omaniscben Wabn im engeren oder wortlicben Sinn bezeicbnet bat. Die Kranken bebaupten namlicb, sie batten dieses oder jenes Organ verloren, sie batten keine Lunge, keinen Magen mebr etc., in ibren Adern fliesse Spulwasser, das Blut sei weg, der After sei verscblossen, der Schlund verwacbsen, der ganze Kbrper auf Millimetergrbsse reducirt. Am haufigsten kommen diese eigenartigen bypocbondriscben Wabnvorstellungen im depressiven Stadium der Dementia paralytica vor.

Eng verwandt mit den bypocbondriscben Wabnvorstellungen ist der Schwangerscbaftswabn, wie er bald bei verbeiratbeten, bald bei ledigen weiblicben Individuen gelegentlicb auftritt. Bald bandelt es sicb dabei nur um einen dem krankbaften Uebermutb oder dem Bestreben sicb interessant zu macben entsprungenen Scberz, bald griindet er sicb auf die Selbstanklage straflicben sexuellen Verkebrs. Endlicb wird in vielen Fallen die Wabnidee oder ballucinatorische Empfindung der Cohabitation (z. B. des Stuprums) von der Pbantasie der Kranken weiter fortgebildet zu dem in Rede stebenden Schwangerscbaftswabn. Dabei wirken baufig illusionar transformirte Abdominalempfindungen mit. Aucb bei Mannern bat man in seltenen Fallen solcben Schwangerscbaftswabn beobacbtet.

Die Entstebung der ilbrigen bypocbondriscben Wabnvorstellungen ist sebr verscbieden. Viele entsteben als Erklarungsversucbe der De- pression und Angst, ahnlicb wie die meisten Versiindigungsvorstellungen, und nur der specielle Inbalt wird durcb zufallige wirklicbe Empfin- dungen beeinflusst. In vielen anderen Fallen tritt die bypocbondriscbe Wabnvorstellung ganz primar auf, meist angelebnt an irgend eine tbat- sacbliche (nicbt ballucinatorische) Empfindung. Der Kranke empfindet ein leicbtes Stecben fiber dem Schlfisselbein und knfipft hieran direct obne Dazwiscbentreten oder Mitwirkung irgend welcber Depression oder Angst die Wabnvorstellung, Lungenscbwindsucbt zu baben.

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Specielle Associationsstdrungen.

Erst secundar fiilirt diese Wahnvorstellung nun zu einer bei ge- gebenen Prilmissen durchaus pbysiologischen Depression und Todes- angst. Namentlicli die sog. Organempfindungen, welcbe unsere Einge- weidenerven uns zufiibren, sind gerade wegen ihrer Unbestimmtheit zu hypochondrischen Ausdeutungen sehr geeignet. Noch baufiger als an normale Empfindungen sind es die krankliaften Empfindungen der sog. Nervositat oder Neurastbenie, an welcbe die bypocbondriscben Wabn- vorstellungen ankniipfen. So kann die Empfindung des Kopfdrucks, uber welcbe zabllose Neurastbeniker klagen, zu der primaren*) Wabn- vorstellung fiibren, unter den Scbadelknocben sitze ein Gescbwur oder im Gebirn sei eine Gescbwulst. Man nennt alle diejenigen Symptome irgend welcber korperlicber Krankbeit es sei ein Herpes -Blascben auf der Gians penis oder ein neurastbeniscbes Symptom , an welcbe der Kranke bypocbondriscbe Wabnvorstellungen kniipft, bypocbondriscbe Anknupfungssymptome. Der Herpes praeputiabs ist z. B. das An- kniipfungssymptom fiir die bypocbondriscbe Vorstellung des Sypbilido- pboben, der Kopfdruck das Anknupfungssymptom fiir die bypocbon- driscbe Wabnvorstellung eines Hirnabscesses.

Sebr viel seltener als die affective und primare Entstebung ist eine ballucinatoriscbe Entstebung bypocbondriscber Wabnvorstellungen. Nur die Hallucinationen auf dem Gebiet der Berubrungsempfindungen und namentlicb der Organempfindungen geben baufiger zu bypocbondriscben Walmideen Anlass. So fiiblt ein Kranker eigentbiimlicbe Bewegungen im binteren Tbeil seiner Scbadelboble und kniipft an diese Organ- ballucinationen die bypocbondriscbe Vorstellung, sein Kleinbirn sei zer- stort. Praktiscb lassen sicb diese ballucinatoriscben Krankbeitswabn-

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vorstellungen ubrigens gar nicbt von den an krankbafte wirklicbe Organ- empfindungen angelebnten primaren Krankbeitswabnvorstellungen, welcbe soeben erortert wurden, trennen; denn wu’ sind nicbt im Stande zu sagen, ob z. B. jene eigentbiimlicbe Empfindung, welcbe unser Kranker in seine Scbadelboble verlegt , scblecbtbin Hallucination oder eine neurastbeniscbe, nicbt in der Hirnrinde, sondern in der Peripherie wirk- licb ausgeloste Empfindung**) oder endlicb ein Mittelding zwiscben beiden, eine illusionar-transformirte neurastbeniscbe Empfindung, d. b. also eine Illusion ist.

Die Entstebung bypocbondriscber Wabnvorstellungen aus Traumen

*) Man nennt auch diese Wahnvorstellungen noch primar, weil kein psycho- r pathisches, sondern ein korperliches Symptom (der Kopfdruck) die Wahnvorstellung hervorruft.

**) Dabei wird also die Annahme zu Grunde gelegt, dass die krankhaften Sen- | sationen der Neurastbenie eben keine Hallucinationen sind, sondern peripher aus- geldst werden.

Specielle AssociationsstOrungen.

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oder durcli logisclie Schliisse aiis anderen Walinideen ist so selten, dass sie hier libergangen werden kann.

Der Verarmiingswalin ist meist ahnlicli wie der Versiindigungs- walin affectiveu Ursprungs. Haufig kommen beide nebeneinander vor. So sagte eiue Kranke aiif der Holie der Angst: entweder sterbe icli als Bettlerin auf der Landstrasse oder als Verbrecherin im Zuchthaus.

Die vierte Form des Kleinlieitswahns ist der Verfolgungswahn. Derselbe untersclieidet sich von den drei erstgenannten ganz wesentlicli dadurch, dass fiir die tbatsachliclien oder vermeintlicken Beschwerden des Icb feindlicbe Personen als Urheber angenommen werden. Der Kranke mit Versiindigungswahn, Verarmungswabn und Krankkeitswabn entwickelt seine Wabnvorstellungen, als ob andere Mensclien niclit existirten. Der Verfolgungswahn betrifft gerade die Beziehungen des Kranken zu den Personen seiner Umgebung. Die Entstehiingsweise des Verfolgungswahns ist sehr mannigfach. Sehr haufig tritt er pri- mar, angelehnt an wirkliche Empfindungen auf. So kann die natiir- liche Mudigkeitsempfindimg, welche eine Kranke nach einem Glas Bier fiihlt, zur Entwicklimg der Verfolgungsidee fiihren, das Bier sei ver- giftet gewesen, Feinde hatten sie betauben wollen, um irgend welches Verhrechen an ihr zu begehen oder man babe sie aus der Feme ;^magnetisirt oder hypnotisirt". Ungemein haufig ist die Entstehung aus Hallucinationen oder Blusionen. Hallucinatorische Schimpf- und Droh- worte sind besonders fruchtbar in der Erzeugung von Verfolgungs- ideen. Auch Traume geben nicht selten Anlass zu Verfolgungsideen. Sehr selten tritt ein Verfolgungswahn affectiven Ursprungs auf. Die Erklarungsversuche der Depression und Angst ignoriren in der Regel die umgebenden Personen zunachst vollig und beschriinken sich auf das Ich des Kranken. Sehr viel haufiger ist die complement are Ver- folgungsidee. Der Verfolgungswahn, welcher im Anschluss an Grossen- wahn auftritt, wurde oben schon erwiilint. Sehr haufig schliesst sich ein complementarer Verfolgungswahn auch an hypochondrische Wahn- vorstellungen und zwar namentlich gerade an primare hypochondrische Wahnvorstellungen an. Der Kranke, der zunachst allerhand hypo- chondrische Vorstellungen sich gebildet hat, verfallt schliesslich dem Causalitatsbedurfniss, welches jedem Menschen innewohnt: er sucht nach einer Ursache seiner vermeintlichen Leiden und findet sie schliesslich in irgend welchen Beeinflussungen (z. B. Vergiftung) durch eine feindliche Umgebung. Auch der Versiindigungswahn kann zu Verfolgungsideen complementaren Charakters fiihren: der Kranke, der sich imaginarer Verhrechen zeiht, glaubt, dass seine Umgebung ihn verachtlich ansieht, dass man ihm scheu ausweicht, dass Hascher ihm auf der Ferse sind. Der Gedankengang dieses secundaren Verfolgungswahns ist also von

no

Specielle Association sstOrun gen.

clem des primaren total verschieden. Letzterer lautet: >,man verfolgt j mich, aber ich bin unschuldig'^, wahrend ersterer lautet: „icb babe ein Verbrechen begangen, desbalb verfolgt man micb, und icb babe diese Verfolgung und die drobende Strafe verdient".

Der Inbalt des Verfolgungswabns wecbselt im Einzelnen ausser- i ordentlicb, Er kann sicb auf ein ganz unbestimmtes ^GefiibF des : Unbeimlicben oder der Beeinflussung oder der Beeintracb- tigung oder aucb der Beacbtung bescbranken. In vielen Fallen nimmt er bestimmtere Gestalt an. Bald beziebt er sicb auf die sociale i Stellung und das Eigentbum des Kranken. Der Kranke glaubt sicb veracbtet, klagt seine Frau obne Grund der Untreue an (Eifersucbts- wabn), wabnt sicb bestoblen, bebauptet, seine Kleider wiirclen beimlicb von anderen getragen und ruinirt u. dgl. Bald beziebt sicb der Ver- folgungswabn vorwiegend auf den Korper des Kranken. Er bebauptet, dass man durcb giftige Diinste oder Beimengungen zu den Speisen ; seine korperlicbe Gesundbeit irgendwie beeintracbtige. Die nervose Un- .. rube des eigenen Korpers wird auf unsicbtbare elektriscbe Mascbinen, j die Mattigkeit auf magnetiscbe Einfliisse zuriickgefiibrt. Pollutionen f sollen von den Macbinationen unsicbtbarer Feinde berriibren, welcbe ibm den „Samen abzieben^^, um ibn impotent zu macben oder iiber- baupt korperlicb zu scbwacben. Bleiben die Pollutionen langere Zeit aus, so scbleicbt sicb die Wabnvorstellung ein, kiinstlicbe Impotenz sei bereits durcb irgendwelcbe „Quacksalberei^^ bervorgerufen worden. Die Verfolgungsvorstellung einer gewaltsamen Bedrobung des Lebens oder der sexuellen Ebre (Stuprum) scbliesst sicb bier weiter an. Fine andere Variante des Verfolgungswabnes gebt dabin, dass der Kranke eine tbat- sacblicb vorbandene patbologiscbe Hemmung des Denkens oder krank- bafte anderweitige Gedanken und Begungen , deren Abnormitiit er selbst fublt, auf die Beeinflussung durcb Feinde zuriickfiibrt. Solcbe Kranke klagen, dass man ibnen ibre Gedanken steble und ibnen falscbe unterscbiebe.

Als Urbeber der wabnbaften Verfolgung bezeicbnet der Kranke bald bestimmte Personen seiner Umgebung, bald nimmt er unsicbtbare un- bestimmte Gegner an. Als letztere erscbeinen besonders baufig die Freimaurer, die Jesuiten, die Anarcbisten u. s. w. In der Regel gelangt der Kranke scbliesslicb zu der Ueberzeugung, dass ein grosses Complott gegen ibn bestebt. Sein Verfolgungswabn ziebt immer weitere Kreise. Scbliesslicb ist der Kranke der Mittelpunkt eines weitverzweigten Ge- triebes. Jedes Tagesereigniss stebt in Beziebung zu seiner Person. Diese egocentriscbe Gestaltung des Verfolgungswabnes tritt meist um so scbarfer bervor, je cbroniscber und langsamer seine Entwickluug sicb vollziebt.

Specielle Associationsstfirungen.

Ill

Bei der Besprechung des Grossenwahnes wurde oben bemerkt, dass derselbe gelegentlich aucli auf die Umgebung iibertragen wird. Bei dem Kleinheitswahn kommt dies erbeblicli seltener vor. So hort man z. B. in seltenen Fallen Kranke mit Versiindigungswahn nebenbei aucb aussern: ^jDurch mich ist Gott aus der Welt gekommen, durcb micb sind alle Menscben schleclit geworden^^ „Alles ist verddet und verarmt^^ ausserte dieselbe Kranke ofter. Aucb der Krankheitswabn kann in dieser Weise nacb aussen projicirt werden: „Alle Menscben seben so krank aus'^, bdrt man zuweilen aussern. Ueberbaupt ist der Wabn, dass anderen Men- scben, speciell den eigenen Angeborigen ein Ungliick, sei es Verarmung Oder Krankbeit oder Verfolgung, zugestossen sei, unter den nacb aussen projicirten Kleinbeitswabnvorstellungen nocb die baufigste. Meist berubt er direct auf Hallucinationen entsprecbenden Inbalts.

Fine ganz eigenartige objective Weiterbildung und Verallgemeine- rung erfabrt der Kleinbeitswabn in dem sog. „allgemeinen Verneinungs- wabn^^ (Delire de negation generalise franzosiscber Autoren). Derselbe knupft meist an Versundigungsideen an: der Kranke findet seine Scbuld so scbwer, dass er sicb mit dem Teufel identificirt. Er scbliesst weiter, dass er diese Scbuld nur in einer unendlicben Zeit abblissen kann und wabnt sicb daber unsterblicb. Damit kann sicb der weitere Gedanke associativ verkniipfen, dass aucb sein Korper im Kaum ebenso wie in der Zeit unendlicb sei (Delme d’enormite).*) Die librige Welt, entwickelt der Kranke seinen Wabn weiter, existirt nicbtmebr, alle anderen Menscben sind nur Scbatten, selbst Gott existirt nicbt mebr. „Alle Menscben sind verbungert, die Welt ist ausgestorben, die Sonne ist fort'^, sagte eine andere Kranke. In mancben Fallen, so namentlicb aucb bei der senilen Demenz, gebt der allge- meine Verneinungswabn von bypocbondriscben Wabnvorstellungen aus: der Kranke behauptet zunacbst, er babe keinen Magen oder keine Leber Oder keine Lunge mebr. Daran scbliesst sicb einerseits der Wabn unsterblicb zu sein und andererseits gleicbzeitig trotz des offenbaren Widersprucbs der Wabn : icb existire gar nicbt mebr. Weiterbin wird dann wie in dem zuerst bescbriebenen Fall aucb die Existenz der Mit- menscben, der Welt und selbst Gott geleugnet.

Art des Auftretens und weitere Scbicksale der Wabn- idee. Viele Wabnideen treten ganz plotzlicb auf, bald im Anschluss an eine Hallucination, bald im Anschluss an eine normale Empfindung, zuweilen aucb vollig frei als sogenannte Einfalle. Andere entwickeln

*) Eine haufigere Variante dieser Gedankenkette geht aiich dahin, dass der Kranke unendliche Massen Koth zu entleeren und in denselben die ganze Welt zu erstickeu wahnt.

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Specielle Associationsstfirungen.

sich schleichend aus den unbestimmtesten Vermutliungen zu immer be- stimmteren Umrissen. Das weitere Schicksal ist je nach der Ent- stebungsweise sebr verscbieden. Enter den affectiven Wabnideen sind die hyper thymischen, d. h. die aus einer primaren beiteren Verstimmung entsprungenen durch grosse Fliicbtigkeit und raschen Wecbsel ausge- zeicbnet. Die Bestandigkeit der ballucinatorischen Wahnurtheile hangt ganz und gar von der Bestandigkeit der zu Grunde liegenden Sinnes- tauscbungen ab. Wechseln jene rasch, so kommt es meist nicbt zu einer Fixirung der hallucinatoriscbeu Wabnideen. Die- primaren Wabnideen zeichnen sicb meist durcb scbleicbende Entwicklung und Neigung zur Fixirung aus. Nur bei einer einzigen uberdies ziemlicb seltenen Psycbose, der acuten einfachen Paranoia, iindet man ein massenbaftes Auftreten sebr wecbselnder, zum Tbeil widersprecbender, jedenfalls sebr fliicbtiger primarer Wahnvorstellungen. In alien anderen Fallen sind die primaren Wabnideen durcb grosse Stabilitat ausgezeicbnet und geben daber eine sebr ungunstige Prognose.

Mit der Fixirung der Wabnvorstellungen ist sebr baufig ein zweiter Vorgang verknupft, welcben man als System at isirung der Wabn- ideen bezeicbnet. Diese bestebt darin, dass der Kranke zu seinen ein- zelnen Wabnideen complementare Wabnideen zufugt, welcbe einen logi- scben Zusammenhang mit den ursprunglicben Wabnvorstellungen zeigen. Mitunter bestebt die Systematisirung aucb lediglicb in einem pbanta- stiscben Ausbauen und Ausscbmiicken der ursprunglicben Wahnvor- stellimgen. Letzteres liegt z. B. vor, wenn ein Kranker zunacbst die primare Wabnidee concipirt, er sei ein untergescbobenes Kind, und diese dann weiterbin zuweilen im Verlauf von Jabren dabin aus- scbmuckt, dass er auf einem anderen Planeten geboren, von dort ge- stoblen und zu seinen „sogenannten^^ irdiscben Eltern gebracbt worden sei. Bei dieser Ausscbmiickung werden oft aucb Erlebnisse, welcbe weit vor dem Beginn der Erkrankung liegen, im Sinne der jetzigen Wabn- ideen aus- und umgedeutet. Die retr ospectiven Auslegungen tauscben daber oft eine erbeblicb langere Krankheitsdauer vor, als sie den Tbatsacben entspricht. Je nacb Pbantasie, Bildung, logiscber Be- gabung und socialer Stellung fallt dieser Ausbau natiirlicb sebr ver- schieden aus. Die systematiscbe Entwicklung complementarer Wabn- vorstellungen ist bereits oben mebrfacb beriibrt worden. Am baufigsten ist die Erganzung des Verfolgungswabns durcb einen secuudaren Grossen- wabn. Seltener treten zuerst Grossenideen auf und fubren spater zu complementaren Verfolgungsideen. Der Versiindigungswabn bleibt in den meisten Fallen isolirt; die gelegentlicbe Weiter entwicklung zu Ver- folgungswabn oder contrastirendem Grossenwabn oder allgemeiuem \ er- neinungswahn wurde scbon erwabnt. Prognostiscb sebr bedeutsam ist

Specielle Associationsstoningen.

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die Tendeuz der h3^pocliondrischen Wahnvorstellungen sich zu coraple- mentiiren Verfolgungsideen weiter zu entwickelu.

Diese systematisirten Walinvoi’stellungen oder Walinsysteme dauern meist so lange als das Leben der Kranken. Sie sind es, welche der Laie als „fixe Ideen" xax’ bezeichnet. Eine genauere Beob-

aclitiing lehrt freilicb, dass im Laufe der Jahre auch diese systemati- sirteii Wahnvorstellungen leichte Verscbiebungen und Abiinderungen er- fahren.

Vorbedingung fiir jede Systematisirung von Wahnvorstellungen ist eine gewisse Hohe der geistigen Entwicklung. Schwachsinnige con- cipiren wohl auch Wahnvorstellungen, aber ihr Intelligenzdefect hindert meist jede Systematisirung derselben. Bei dem Vollsinnigen*) ist man oft erstaunt, wie er die scheinbaren Widerspriiche seiner Wabnideen unter sich und mit der Wirklichkeit durch scharfsinnige Hypothesen auszu- gleichen oder zu beseitigen versuclit. Der Schwachsinnige bemerkt diese Widerspriiche gar nicht oder steht ihnen rathlos gegeniiher.

Das gerade Gegentheil zu den systematisirten Wahnideen (z. B. einer Paranoia completa) stellen die ahrupten und incoharenten Einfalle anderer Kranken dar. So reiht z. B. ein Kranker in einem Athem folgende Urtheile aneinander: „Das Weltall wird fest schwarz ist weiss ich hahe 9 Hauser in Constantinopel in Japan gehaut ich hahe vor 9 Millionen Jahren die Welt geschaffen^h Eine solche Inco- harenz der Wahnideen kommt keineswegs ausschliesslich hei Schwach- sinnigen, sondern auch bei Vollsinnigen zumal auf dem Boden schwerer erblicher Belastung meist vergesellschaftet mit einem leichteren Grad allgemeiner Incoharenz des Vorstelhmgsablaufs vor.

Zeitliche Beziehungen der Wahnvorstellungen. Bisher war im Wesentlichen nur von solchen Wahnvorstellungen die E,ede, welche inhaltlich sich direct auf die Gegenwart heziehen. Nicht selten treten jedoch auch Wahnvorstellungen auf, welche nur auf die Zukunft Oder die Vergangenheit sich beziehen. Die auf die Zukunft sich be- ziehenden Wahnvorstellungen sind ohne Weiteres verstandlich. Der Kranke, der an Grossenwahn leidet, iiberschatzt nicht nur sein augen- hlickliches Ich, sondern auch seine kiinftigen Leistungen und Geschicke. lEr ergeht sich in grossen Pliinen, welche seine Fahigkeiten und seine soCiale Stellung weit iiherschreiten. Er plant Geschaftsvergrosserungen, weite lleisen, kostspielige Bauten, reiche Heirathen u. dgl. mehr. Der : Krankheitswahn ergeht sich in wahnhaften Todeshefiirchtungen ; all- nachtlich ruft cTer Kranke seine Familie zusammen, um sein Testament

*) Vollsinnig bedeutet nicht geistesgesund , sondern nicht-schwachsinnig, d. b- ohne Intelligenzdefect. '

Ziehen, Psychiatrie.

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Specielle Associationsstorungen.

zu maclien. Ich kenne einen Kranken, der auf Grand seiner hypo- cliondrisclien Vorstellungen sicli bereits mehrfach als Leiche aufljahren Hess. Audi der Wabn, in eine'r naheren oder ferneren Zukunft werde den Angeborigen ein Ungliidc zustossen, geliort bierber.

Praktiscb weit wicbtiger und von den friiber besprocbenen Wabn- ideen weit verscbiedener sind mancbe auf die Vergangenbeit be- ziiglicben Wabnvorstellungen. Es kominen namlicb bier namentlicb fol- gende beide Formen retrospectiver Wabnvorstellungen in Betracbt;

1. Die Erinnerungsentstellungen. Es bandelt sicb bei diesen um wabnbafte Entstellungen wirklicber Erlebnisse der Vergangenbeit. Am baufigsten finden sie sicb bei den bysteriscben Psycbosen und dein Scbwacbsinn und zwar speciell bei den leicbteren Formen des letzteren. Wenn eine Hysteriscbe irgend einen Vorgang, z. B. den Besucb eines Arztes, erlebt bat, so scbmuckt ibre Pbantasie nacbber in einer mebr oder weniger bewussten Weise diesen Vorgang z. B. dabin aus, dass der Arzt einen Stuprumversucb gemacbt babe. Bald kann die Kranke Wirk- licbkeit und Pbantasie nicbt mebr unterscbeiden und, soil sie den Vor- gang spater wiedererzablen, so reproducirt sie ibn bona fide in ganz entstellter Weise. Dabei ist die Kranke bereit, jedes Detail ibrer ent- stellten Erzablung zu bescbworen. Audi das Liigen mancber Scbwacb- sinnigen berubt zuweilen auf einer solcben unbewussten oder vom Kranken spater vergessenen Entstellung der Erinnerungsbilder durcb die Pbantasie. Bei dem Scbwacbsinn komnit binzu , dass aucb eine merklicbe Ge- dacbtnissscbwacbe bestebt und dass scbon desbalb die Reproductions- treue mangelbaft ist.

2. Erinne rung stauscbun gen. Sie unterscbeiden sicb von den Erinnerungsentstellungen in abnlicber Weise wie die Hallucinationen von den Illusionen. Wiibrend den Erinnerungsentstellungen wirklicbe Erlebnisse zu Grunde liegen, welcbe nur in der Reproduction verandert werden, liegen den Erinnerungstauscbungen iiberbaupt gar keine wirk- licben Erlebnisse (aucb keine Traume oder Hallucinationen) zu Grunde. Dieselben sind vollig freie Erfindungen der krankbaft erregten Pban- tasie, welcbe vom Kranken optima fide als wirklicbe Erlebnisse bericbtet werden. Den Hauptformen, welcbe wir bei den Wabnideen iiberbaupt unterscbieden, begegnen wir bier wieder. Wir kennen namlicb;

a) Erinnerungstauscbungen in Folge von Affectsto- r ungen. Der Maniakaliscbe fabelt in seiner beiteren Exaltation deifi Arzte allerband grosse Tbaten, die er ausgefiibrt, und grosse Erleb- nisse, die er durcbgemacbt baben will, vor. Der Melancbolikei eifindet in dm- Angst zuweilen Verbrecben, die er begangen baben will, und scbildert die Ausfiibrung niit alien Details. Beides ist iibrigens selten als Erinnerungstauscbung im eigentlicben Sinne zu betiacbten. Dei

Specielle Associationsstorungen.

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Maniakiis ist sich meist der Unwirldichkeit seiner Miinchhausiaden be- wusst, und bei beui Melauclioliker liaudelt es sicli meist um Ausdeutungen und Eriunerungs entstell ungen wirklicber Erlebnisse. Die Erinnerungs- tauscbimgen der progressiven Paralyse im maniakaliscben Stadium ge- lioreu zum Theil gleichfalls hierher.

b) Eriuneruugstauschungen im Zusammenhang mit auderen auf die Gegenwart sich beziehenden Wahnvor- stellungen. Eine Walinvorstellung wird mit angeblichen Erlebnissen in der Vergangenheit motivirt und ausgeschmiickt. Diese Form der Erinneruugstauschung ist bei der progressiVen Paralyse und bei der chronischen Paranoia (namentlich bei der originaren Form derselben) besonders haufig. Der Paranoiker ist auf einem anderen Planeten ge- boren. Er beschreibt mit alien Details „aus seiner eigen en Erinnerung^^, wie er als Kind geraubt wurde. Er hat auf zahlreichen Universitaten studirt und in vergangenen Jahrhunderten gelebt. Er giebt detaillirte Mordversuche an, die schon in friiher Kindheit gegen ihn unternommeu worden sind. Haufig ist in diesen Erinnerungstauschungen sehr wohl noch ein gewisses System zu erkennen. Der Paralytiker ist in seinen Erinnerungstauschungen viel zusammenhaugsloser. Er beschreibt Jagden, auf denen er Adler von 15,000 Decillionen Centner Gewicht^' geschossen hat, er hat unzahlige Schlachten geschlagen, in seinem Urin die ganze Welt ersauft, den Satan gefressen u. dgl. Auch bei dem Altersblodsinn finden sich oft ahnliche zusammenhangslose und maasslose Grossenideen. Durch vorsichtige Suggestivfragen kann man auch den Paranoiker zu weiterer Ausschmiickung seiner Erinnerungstauschungen und Bildung neuer Erinnerungstauschungen veranlassen. Der Paralytiker lasst sich meist sofort jede beliebige neue Erinneruugstauschung einreden. Die Erinnerungstauschungen des Paralytikers sind ausserordentlich wechselnd, diejenigen des Paranoikers pflegen constanter zu sein. Bei den ersteren wirken meist Affectanomalien mit, bei den letzteren sind solche bedeu- tungslos.

c) Erinnerungstauschungen ohne erkennbaren Zusam- menhang mit anderen Wahnvorstellungen oder Affect- anomalien. Dieselben treten meist ganz unvermittelt auf. Der Kranke behauptet mit grosster Bestimmtheit, dies oder jenes vor einigen Stimden, Tagen oder Wochen erlebt zu haben. Er ist von der Kealitat des ver- meintlichen Erlebnisses so fest iiberzeugt, wie ein anderer Kranker von der Realitat einer Hallucination oder der Gesunde von der Realitat eines wirklichen Erlebnisses. Dabei lasst sich der exacte Nachweis er- bringen, dass eine irgendwie entsprechende Hallucination oder ein ent- sprechendes Erlebniss nie stattgefunden hat. Es haftet diesen Erinue- rungstauschungen geradezu noch eine gewisse sinnliche Lebhaftigkeit

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iSpecielle Associationsstorungen.

an. Man bezeiclinet sie daher auch als Er inner ungshallucina- tionen. Durcli Suggestion diese Erinnerungshallucinationen irgendwie zu modificiren, ist ganz unmdglich. Der Inhalt dieser Erinnerungs- tauscliungen ist mitunter ein ganz gleicligiltiger. So behauptet der Kranke, vor einigen Stunden mit dem Arzte diesen oder jenen Besucli gemacht und dieses oder jenes Gesprach gefiilirt zu haljen. In anderen Fallen ist der Inhalt der Erinnerungstauschungen durch gleichzeitige Wahnideen gefarbt oder mitbedingt: so erzahlt ein Kranker mit alien Details, wie er gestern als Feldherr auf den nahegelegenen Bergen eine Schlacht geliefert habe. Jiuf die offenkundige Unmoglichkeit aufmerk- sam gemacht, stutzt er einen Augenblick, kehrt aber im nachsten Augenblick wieder dazu zuriick oder behauptet in seltenen Fallen man miisse ihn vergiftet haben, dass er solche Einbildungen bekommen habe, „jetzt miisse er aber daran glauben^^ Am haufigsten sind diese Erinnerungstauschungen bei der progressiven Paralyse und bei der acuten Paranoia. Bei letzterer kommen sie oft zugleich mit dem Symptom der Ideenflucht oder demjenigen der „Einfalle“ vor. Zuweilen setzen sie sich noch bis in die Reconvalescenz lange fort und erregen dann das grosste Befremden bei dem Kranken selbst.

Einfluss der Wahnvorstellungen der Kranken auf ihre Em p find ungen. Wahnvorstellungen konnen in grosser Zahl ein

gauzes Menschenleben hindurch bestehen, ohue dass je die Empfindungen des Kranken qualitativ in irgend einer Weise beeiutlusst werden. Die normalen werden allerdiugs falsch, uamlich im Sinne der Walmvor- stellungen, ausgelegt, aber bleiben selbst dabei unverandert. In einer grosseren Zahl von Fallen gewinnt die Wahnvorstellung auch Einfluss auf das Empfindungsleben. Die Empflndungen werden im Sinne der Wahnvorstellungen transformirt. So kommt es zu den friiher be- sprochenen illusionaren Auslegungen. Der Kranke deutet ein that- sachlich stattfindendes Gesprach seiner Nachbaren nicht nur als Schmieden eines Complotts, sondern er hbrt aus demselbeu auch eutsprechende Drohworte her aus. Auch unvermittelte Illusioneu, welche zwar nicht dem augenblick lie hen Vorstellungskreis des Patienten entsprecheu, aber doch zu den ihn sonst erfiillenden Wahnvorstellungen in Be- ziehung stehen, kommen weiterhin hinzu. In einer grossen Zahl von Fallen kommt es zu echten IPallucinatiouen. Der Einfluss des krauk- haften Vorstellungslebens auf die Empfindungszelleu hat damit seine Hohe erreicht. Die Wahnvorstellung erzeugt ohne Mitwirkuug liusserer Reize krankhafte Empfindungen, welche ihrerseits zur Befestiguug und zum Ausbau der Wahnvorstellungen heitragen.

Eine specielle Bedeutung erlangt diese Riickwirkung der Wahnvor- stellungen auf das Empfindungsleben bei dem hypochondrischen Krank-

Specielle Associationsstorungen.

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heitswahn. Es kommt hier oft zii einem vollstandigen Zirkel: Zunachst liegt eine iieurastlieuische Parasthesie, das Ankniipfungssymptom, vor. Au diese kniipft der Kranke eine hypochondrisclie Wahnidee, welche er weiter ausbaut. Im Sinne dieser Wahnidee wird nun die Parasthesie modificirt und verstarkt, welche nun ihrerseits zur Fixirung und zum Ausbau der Wahnidee beitragt. Besonders wichtig ist, dass sich diese Riickwirkung auch auf die Motilitiit erstrecken kann. Die Wahnidee einer Lahmung kann zu einer Lahmung fiihren. Bei der Hypochondrie werden diese „psychischen Lahmimgen^^ noch ausfiihrlich besprochen werden.

Einfluss der Wahnvorstellungen auf die Bewegungen und Handl ungen. Als ein Hauptmerkmal der Wahnidee gegeniiber der Zwangsvorstellung wurde oben angegeben, dass dem Kranken fiir die Wahnidee Krankheitsbewusstsein fehlt oder, anders ausgedriickt, dass berichtigende Urtheilsassociationen ganz oder fast ganz fehlen. Dies schliesst nicht aus, dass wenigstens gelegentlich dem Kranken unbe- stimmte Zweifel auftauchen. Es gilt dies namentlich von den aus Hallucinationen oder aus Traumen hervorgegangenen Wahnideen. Hier kann man beobachten, dass der Kranke stundenweise zweifelt, ob die Hallucinationen Wirklichkeit und somit seine Wahnvorstellungen be- griindet sind. In noch hoherem Maass gilt dies von vielen hyper- thymischen, d. h. aus pathologischer Exaltation hervorgegangenen Wahn- vorstelhmgen. Bei dieser ist es, wofern kein Intelligenzdefect besteht, geradezu Hegel, dass der Arzt durch energisches Anfahren und Auf- forderung zur Selbstbesinnung den Kranken zu momentanem Aufgeben seiner Wahnideen bringen, also den berichtigenden Urtbeilsassociationen das Uebergewicht verschaffen kann. Bei den depressiven Wahnvor- stellungen gelingt dies weit seltener. Vollends kritiklos stehen die Kranken fast ausnahmslos den primaren und complementaren Wahnvor- stellungen gegeniiber. Die Periode des Zweifels ist, wenn iiberhaupt vorhanden, fast stets sehr kurz. Die ganze Personlichkeit erscheint mit der primaren Wahnidee umgewandelt. Kritik und Krankheitsbewusstsein schweigen bald vbllig. Damit hiingt es zum Theil zusammen, dass gerade diese Wahnvorstellungen in der Regel unheilbar sind, also der Psychose eine ganz ungiinstige Prognose aufdriicken. Zuweilen beob- ■achtet man auch ein eigenthiimlich verschobenes Krankheitsbewusstsein bei diesen Patienten. Fiir manche ihrer Wahnvorstellungen, die zu handgreiflich der Wirklichkeit und der Logik widersprechen, giebt der Kranke die Unrichtigkeit zu, kniipft aber daran sofort die weitere Wahnvorstellung , dass seine Verfolger ihm durch „heimliche Ein- spritzungen von Gift‘d oder durch „Besprechen" oder durch „Suggestion" solclie „widersinnigen Gedanken beibrachten". In der grossen Mehrzahl

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der Falle stehen die Kranken diesen Wahnvorstellungen ganz einwand- los gegeniiber.

Der Einfluss der Wahnvorstellungeii auf die Handlungen hangt in erster Linie von deni Girad des Krankheitsbewusstseins ab. In zweiter Linie kommen die Affecte, welcbe die Wabnidee begleiten, in Betracht. Je lebliafter diese sind, um so rascber und ausgiebiger setzen sich ceteris paribus die Wahnvorstellungen in Handlungen um. Endlich ist sebr wesentlich, ob die Wahnvorstellungen acut in grosser Zabl auf- treten oder allmahlich in das Denken des Kranken sich einscbleichen. In letzterem Fall, welcher gei’ade fiir viele primare Wahnvorstellungen zutrifft, gewinnen oft hemmende Vorstellungen Zeit, eine Beeinfliissung des Handelns durch die Wahnvorstellungen zu verhiiten. Diese Kranken lernen sich zu beherrschen und oft auch ihre krankhaften Vorstellungen zu dissiniuliren, d. h. zu verbergen. So konnen solche Kranke jahrelang fiir geistesgesund gelten, bis bei einer besonderen Constellation plotzlicb einmal die Selbstbeherrschung versagt und der Kranke fast explosiv in erregten Worten und Handlungen seine Wahnideen kundgiebt.

Eine besondere Wichtigkeit haben diejenigen Handlungen, welcbe unter dem Einfluss plotzlicb auftauchender Wahnvorstellungen oder Einfalle (s. o.) zu Stande kommen. So kann in einem Kranken plotz- lich der Einfall auftauchen , er sei Soldat , und alsbald macht er militarische Bewegungen, oder plotzlicb fallt ihm ein, sein Kaffee sei vergiftet, und jahlings begeht er eine schwere Gewaltthat gegen die Person, welche ihm denselben gebracht bat. Man bezeichnet diese auf Grund plotzlicb aufschiessender Vorstellungen zu Stande kommenden Handlungen auch als impulsive Handlungen. Es giebt Kranke, deren Bewegungen Stunden und Tage lang sich aus lauter incoharenten derartigen Handlungen zusammensetzen.

Diagnose der Wahnideen. Nicht jede irrig erscheinende Be- hauptung einer im Verdacht der Geistesstorung stehenden Person ist eine Wabnidee, vielmehr ist stets auch an folgende Moglichkeit zu denken :

1. Die Bebauptung, so wahnhaft sie scheint, berubt doch auf Thatsachen und ist sonach richtig. In jedem einzelnen Fall, selbst weun die Bebauptung ganz exorbitant scheint, hat der Arzt die Pflicht, nach- zuforscben, ob und wieweit nicht derselbeu vielleicnt doch Thatsachen zu ' Grunde liegen. Specielle Vorsicht ist selbstverstiindlich in solcben Fallen geboten, wo der Arzt den Ivi-anken nicht selbst zu befragen Gelegenheit hat, sondern auf Bericbte von Personen, deren Unparteilichkeit zweifel- haft ist, angewiesen ist.

2. Die Bebauptung kann irrig sein nnd ist doch nicht wahnhaft, oder mit auderen Worten, es konnen Thatsachen vorliegen, welche zwar

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7,um Beweise der fraglichen Behauptung durchaus nicht ausreichen, ims iiber ausreiclieud erklaren, dass die betreffende Person zu der beziig- licben Beliauptung gekommen ist. Audi der Geistesgesunde verfallt in zablreiche Irrthiinier, zii weldien ilm einerseits die Thatsachen selbst, andererseits Yorsdinelle, liidcenhafte Associationen, Affectsteigerungen und scbliesslich gewisse Charaktereigenschaften verfiihren. Speciell die letz- teren, wie Mistrauen, Dlinkel etc., kdnnen gelegentlicb zu Vorstellungen und Urtbeilen fiihren, die inhaltlidi sich fast vollig mit Verfolgungsideen resp. Grossenideen decken. Der Arzt hat daher stets die Pflicht, neben denr Inhalt der fraglichen VVahnvorstellung und neben ihrer Begriindung in den Thatsachen der Aussenwelt auch ihre psychologische Ent- stehung festzustellen.

Schhesslich wird der Arzt stets auch zu beriicksichtigen haben, dass die Grenzen zwischen Irrthum und Wahnvorstellung ebenso wie iiberhaupt zwischen geistiger Gesundheit und Geisteskrankheit keine scharfen sind. Der Arzt kann daher in die Lage komraen, erklaren zu miissen, dass eine Beantwortung der Frage, ob eine bestimmte Urtheils- association wahnhaft sei oder nicht, unangiingig sei, dass somit ein Grenzfall zwischen Irrthum und Wahnvorstellung vorliege. Verlangt das Gesetz, welches scharfe Grenzlinien zu ziehen gezwungen ist, in solchen Fallen doch eine bestimmte Entscheidung, so ist dem subjectiven Ermessen des Arztes ein weiter Spielraum gelassen.

Fast noch grosser ist oft die Gefahr, eine Wahnidee zu iiber sehen. Dies ist namentlich in folgenden Fallen zu fiii’chten:

1. Der Kranke dissimulirt, d. h. er verheimlicht seine Wahn- vorstellungen. So ist namentlich bei den chronischen Paranoikern mit complementaren oder primaren Grossenideen Dissimulation haufig. In Ermangelung miindlicher Aeusserungen ist man hier sehr haufig auf Schliisse aus dem ganzen Gebahren der Kranken angewiesen. Das suffisante Gesicht, die hochmiithige Kopfhaltung, der majestiitische Schritt, die Fernhaltung von den „plebejischen Mitkranken" , die gewahlte Toilette, die Beanspruchung besserer Verpflegung, die verschnorkelte Schrift, der gewahlte oder geschraubte Stil in gewohnlichen Briefen lassen oft zuerst an verheimlichte Grossenideen denken. Haufig verriith sich dann bei liingerer Beobachtung der Kranke einmal in einem ge- legentlichen Affectausbruch oder er schiebt einmal in seinen Namen (Machdeleid statt Machleid) oder vor seinen Namen ein „von" ein u. dgl. Der Verfolgungswahn aussert sich zuv/eilen nur darin, dass der Kranke sich von seiner Umgebung ganz zuriickzieht, harmlose Aeusserungen auf sich hezieht u. dgl. m. Viele dieser Kranken wechseln fortwahrend ihre Wohnung und selbst ihren Wohnort, um ihren vermeintlichen Ver- folgern zu entgehen. Andere beschriinken sich darauf, taglich in anderen

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Specielle Associationsstdrungen.

Restaurants zii essen. Mauclie bringen die seltsamsten Scliutzvorrich- timgen vor Fenstern und Tliuren an, urn die Eindringlinge fernzuhalten. So verrathen sicb viele Kranke, welclie auf Befragen sich jahrelang niclit zu einem Gestiindniss ihrer Wahnvorstellungen lierbeilassen.

2. Der Kranke liat fiir seine Bebauptungen gewisse objective Grund- lagen, und dock sind die Bebauptungen als Wabnvorstellungen zu be- zeicbnen. So bebauptet ein Kranker, ein barmloser Racbenkatarrh sei sypbibtiscb, und die Anamnese ergiebt in der That, dass fruher eine sypbilitiscbe Infection wirklicb stattgefunden hat. Es liegt nahe, in einem solcbem Fall anzunebmen, dass ein Irrtbum, welcher sich aus der Besorgniss des Kranken in ausreicbender Weise erklart, vorliegt und keine Wabnvorstellung. An sicb ist aucb in der That eine solche Be- bauptung nocb nicbt obne Weiteres als wabnbaft zu bezeichnen. Erst wenn der Kranke trotz der gegentbeiligen Versicberungen aller Aerzte und trotz Ausbleibens aller weiteren ibm bekannten sypbilitiscben Er- scbeinungen mit einer ibm sonst nicbt eigenen Hartniickigkeit bei seiner Bebauptung bleibt und immer mebr harmlose Erscbeinungen an seinem Korper im Sinne seiner falscben Vorstellung deutet, darf. man von einer Wabnvorstellung sprecben: dann aber mit Recbt; denn nicbt der Inhalt und der zu Grunde liegende Tbatbestand ist allein entscbeidend fiir die Diagnose Wabnidee, sondern namentlicb das Verbalten der fraglicben Vorstellung gegenliber neuen Empfindungen und neuen Vorstellungen. Es kann also sebi wobl ein Sypbilitiscber eine wabnhafte Sypbilisfurcbt baben oder allgemein: eine Wabnidee braucbt nicbt immer jeder tbat- sachlichen Unterlage vollig zu entbehren, sie kann an Tbatsacben „an- kniipfen" und docb pathologiscb die voile Dignitat einer Wabnidee besitzen.

Z wan gs vorstellungen.

Die Zwangsvorstellung ist eine unricbtige Vorstellungsverbindung, welcbe trotz iiberwiegender bericbtigender Urtbeilsassociationen sicb dem Kranken immer wieder aufdrangt. So wird z. B. ein Kranker fort- wabrend von dem unricbtigen Gedanken gequalt, an seinen Hiindeu bafte Scbmutz. Er bericbtigt diesen Gedanken selbst, er weiss, dass er unricbtig und grundlos ist, und trotz dieses Ueberwiegens der bericb- tigenden Vorstellungsverbiudungen wird er den unricbtigen Gedanken nicbt los. Daber aucb die Bezeicbnung Zwangsvorstellung. Wir miissen voraussetzen, dass die Vorstellungsverbindung, welcbe den Inbalt der Zwangsvorstellung ausmacbt, durcb irgendwelcbe patbologiscbe Um- stande, z. B. eine abnorme Constellation (s. o.), eine abnorme Inten- sitat Oder Energie erlangt bat und daber immer wiederkebrt. Alle

Specielle Associationsstorungon .

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Zwaugsvorstellimgeu siud fast ausnalmislos von intensiv negativen Ge- fiililstouen begleitet. Die Kranken empfiuden den Zwang , dem sie luiterliegen, als eine Qual. Viele sprechen direct von den „Storungen^S welclie sicli in ihr gesundes Denken sclieinbar unvermittelt hinein- driingen.

Zwangsvorstellungen treten nicbt nur in der Urtheilsform auf, sondern auch in Gestalt einzelner Erinnerimgsbilder. Auch der Ge- sunde ist gelegentlich solchen Zwangsvorstellungen unterworfen. So kann das optiscbe Erinnerungsbild eines schreck lichen Erlebnisses oder das akustiscbe einer einschmeichelnden Melodie sich stunden- imd tagelang aufzwangen. In noch hoherem Maasse findet dies bei ge- wissen Psychosen statt. Wahrend bei dem Gesunden solche Vorkomm- nisse sich auf Erinnerimgsbilder beschranken, welche von sehr lebhaften Gefiihlstonen begleitet sind, nehmen bei dem Kranken auch ganz gleich- giiltige „triviale'^ Erinnerimgsbilder den Charakter einer Zwangsvor- stellung an. Namentlich bei der sog. Neurasthenie ist dies oft eines der quiilendsten Symptome. Die akustischen Zwangsvorstellungen dieser Kategorie bestehen zuweilen aus ganz sinn- und zusammenhangslos an- einandergereihten Worten und Satzen. So klagte z, B. eine Neura- sthenische, dass sich ihr stundenlang folgende Wortklangbilder auf- drangten: „Letztes Jahr 6 Monate weniger sei doch unvollstiindig ruhig ein weiss und blaugetupftes Kleid ich finde den Stein so beschiidigt, dass man eben schwer Dieselbe bezeichnete diese sinn- losen Vorstellungen, denen keinerlei thatsachliche Beziehung zu Grunde lag, selbst als „Zwangsdenken'h Von den friiher im Kapitel der Wahnideen beschriebenen Einfallen unterscheiden sich diese „abge- rissenen Zwangsvorstellungen dadurch, dass der Kranke keinen Augen- blick unter der Herrschaft dieser Vorstellungen in dem Sinne steht, dass er ihnen irgendwelchen Glauben oder irgendwelches Gewicht bei- masse. Er ist vielmehr trostlos iiber diese „sinnlosen Zwischengedanken", die ihm jede concentrirte und zusammenhangende geistige Thatigkeit unmbglich machen, Besonders haufig sind es Zahlenreihen und Eigen- namen (Personennamen, geographische Worter etc.), welche in der be- schriebenen Weise als Zwangsvorstellungen in immerfort sich wieder- holenden Reihen auftreten. Die franzosischen Psychiater reden in alien diesen Fallen in sehr bezeichnender Weise von der*,, Obsession par un mot“ (= Wortbesessenheit).

Eine weit grossere Bedeutung kommt denjenigen Zwangsvor- stellungen zu, welche in die Urtheilsform gekleidet sind und somit direct zu den Wahnvorstellimgen in Parallele gesetzt werden konnen. Diese Zwangsvorstellungen im engeren Sinne entwickeln sich fast stets chronisch, meist auf dem Boden einer angeborenen oder erworbenen

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Specielle AssociationsstSrungen.

neuro- unci psychopathisclien Constitution. Mit clieser chronischen Ent- wicklung liiingt auch ihre ungemeine Hartniickigkeit zusammen. Vo llige Heilungen von solchen Zwangsvorstellungen sind selten.

Ihre Entsteliungsweise ist sehr verschieden. Viele kniipfen direct an einen Sinneseindruck an. So sieht z. B. ein Kranker ein abgebranntes, von einem Auderen oder auch von ihm selbst weggewor- fenes Streichholz liegen. Alsbald steigt der Gedanke in ihm auf: ^Das Streichholz konnte noch nicht ganz erloschen sein und einen gefahr- lichen Brand verursachen". Dieser Gedanke ist zunachst noch ein ganz physiologischer, wie ihn auch eine vollig normale Ideenassociation im Anschluss an die beziigliche Empfindung bilden konnte und oft genug auch bildet. Nun iiberzeugt sich der Kranke, class das Streichhdlzchen thatsachlich vollig abgebrannt und somit unschadlich ist. Der Gesuncle wiircle sich mit einer solchen einmaligen, event, auch zweimaligen Con- trole zufrieclen geben und beruhigt weiter gehen. Der Kranke sieht zwar auch ein, dass er sich nun zufrieclen geben s o 1 1 1 e und beruhigt weiter gehen konnte : seine gesunden berichtigenclen Urtheilsassocia- tionen iiberwiegen, er weiss, class sein Gedanke, das Streichholz kbnne doch noch brennen und einen Brand erregen, unrichtig und grundlos ist, aber trotzclem zwangt sich ihm der Gedanke, die Zwangsvor- s tel lung, immer wiecler auf: das Streichholz kbunte doch noch brennen und doch zu einem Brand Anlass geben. Diesen Gedanken wircl er nun, so oft er sich auch von seiner thatsachlichen Unrichtigkeit durch neues Nachsehen iiberzeugt, so sehr er auch die Unrichtigkeit seiner Befiirchtung sich selbst vorhillt, nicht wiecler los. Trotz besseren Wissens misstraut er seinen Empfinclungen und will sich immer wieder iiberzeugen. Nun kommt ein neues Moment hinzu. Bis jetzt konnte dies ganze Geclaukenspiel sich fast affectlos abspielen. Jetzt kommt die Angst hinzu: „wenn clu nicht nachsiehst, so entsteht ein Brand". Diese Angst kann die typischen Merkmale einer Pracorclialangst an sich tragen. In ancleren Fallen verlauft sie rein psychisch, cl. h. ohne alle korperlichen Begleitempfindungen. Dieser Gefiihlston der Angst, welcher zu der Zwangsvorstellung hinzutritt, ist von grosster Becleut- samkeit. Es giebt jetzt fiii- den Kranken nur ein Mittel, die qualvolle Angst und die Zwangsvorstellung los zu werden: er muss sich immer wieder iiberzeugen,* dass das Streichholz chen thatsachlich verglommen ist. Es giebt Kranke, welche eine ganze Nacht hindurch bis zur absoluten korperlichen Erschopfung immer wieder nachsehen, immer wiecler zweifeln und immer wieder zu clem Streichholz zuriickkehren. Die Zwangsvorstellung fiihrt zur Zwangshancllung. Trotz cles Ueberwiegens der berichtigenden Urtheilsassociationen gewiunt also die Zwangsvorstellung einen dominirenclen einseitigen Einfluss auf das

Specie! le Association sstSrun gen .

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Haudelu der Krankeu. Spater entwickelt sich die Zwangsvorstellung oft in der Riclitung weiter, dass sie von der speciellen Sinnesempfindung, an welche sie zuerst ankniipfte, unabhiingig wird. Der Kranke brauclit spater gar kein Streicbbblzchen mebr zu selien, die Zwangsvorstellung niinmt den Inbalt an : es konnte irgendwo ein Streicbholzchen, das noch glimmt, liegen geblieben sein imd zu einem Brand fiihren. Der Kranke sucht nun allenthalben, ob nicbt irgendwo ein Streichholz liegen ge- blieben ist. In seltenen Fallen gelit die Entwicklung sogar noch einen Schritt weiter: der Kranke liallucinirt im Sinne seiner Zwangsvorstellung. So kannte ich einen Kranken, der die eben bescbriebene Entwicklung durcbgemaclit batte und scbliesslicb auf der Strasse allenthalben einen Feuerschein zu sehen glaubte. Die Zwangsvorstellung des Brandes batte bier also bereits Einfluss auf die Einpfindungszellen gewonnen. Der Kranke war, wie von der Unricbtigkeit seiner Zwangsvorstellung selbst, so aucb von der Irrealitat der unter ibrem Einfluss entstandenen Hallu- cination resp. Illusion vollig uberzeugt, und trotzdem stand sein Handeln haufig vollstiindig unter dem Einfluss seiner „Feuerscbeinigkeit“, wie er den ganzen Zustand zu bezeicbnen pflegte.

Die eben bescbriebene Entstebung der Zwangsvorstellung in An- kniipfung an eine wirklicbe Empfindung ist weitaus am baufigsten. *) Der Inbalt dieser an Empfindungen anknupfenden Zwangs- vorstellungen iSt iin Einzelnen sebr mannigfaltig. Weiter unten sowie in der speciellen Patbologie werclen diese einzelnen Formen genauer be- sprocben werden. Die Entstebungsweise ist allenthalben eine analoge.

Bei vielen Zwangsvorstellungen koinmt zu der Objectempflndung als auslosendes Moment eine Korperempflndung des Kranken binzu. Ein Kranker sieht von einer steilen Hobe binunter. Zuweilen geniigt diese optiscbe Empfindung, die ZwangSYorstellung auszulosen: „du musst dicb bier binuntersturzen^^ In anderen Fallen kommt das Scbwindel- gefiibl des eigenen Korpers, welches ja aucb den Gesunden am Rand eines steilen Absturzes befallen kann, als unterstutzendes Moment binzu. Aucb in diesem Fall kann die Zwangsvorstellung so macbtig werden, dass der Kranke seine Angehorigen bittet, ibn festzubalten oder fort- zufiihren, weil er sonst seiner Zwangsvorstellung nacbgeben und sicb binunterstlirzen werde.

In einer anderen Gruppe von Fallen wirken bei der Entstebung der Zwangsvorstellung von An fang an Angstaffecte mit. Gleicbzeitig mit der Zwangsvorstellung tritt ein beftiges Angstgefubl auf, welches meist

*) Bei dieser associativen Ankiuipfung spielen haufig auch Irradiationen und Refiexionen der Gefuhlstdne im Sinne der friiher erwahnten Intentionspsychosen eine wichtige Rolle.

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Specielle Associationsstorungen.

von einei im Abdomen odor in der Herzgegend beginnenden und zum Koj)f aufsteigenden Empfindung der Oppression und Warme, zuweilen auch von allgemeinem Zittern begleitet ist. Der Verlauf ist also z. B. fol- geuder: der Kranke will iiber einen breiten Platz gehen. Im Augen- blick, wo er den Platz vor sicli sielit, taucht ihm die Vorstellung auf, der Platz sei ungeheuer gross und er kbnne nicht iiber den Platz hin- iiberkommen, und zugleich iiberfallt ihn ein furchtbares Angstgefiihl init ausgesprocbenen Pracordialsensationen. Bei der Entstebung der Zwangsvorstellungen, welcbe wir oben an erster Stelle besprachen, spielte die Angst nui eine secundare Rolle : der Inbalt der Zwangsvorstellung bedingte eine secundare Angst. Bei der Entstebung der Zwangsvor- stellung, welcbe wir jetzt bescbrieben baberi, stebt der Angstaffect durcbaus coordinirt neben der Zwangsvorstellung. Er tritt gewsser- maassen direct als ibr Gefublston auf.

In einer dritten Gruppe von Fallen gebt der Angstaffect der Zwangs- vorstellung voran. Letztere entstebt, wie man aucb sagen kann, auf dem Boden der ersteren. Oft erscbeint die Zwangsvorstellung geradezu als nacbtraglicber Erklarungsversucb der Angst, abnlicb wie dies friiber fiir eine bestimmte Gruppe der Wabnvorstellungen erlautert worden ist. So giebt es Kranke, die nur in Augstanfallen Zwangsvorstellungen haben. Im Ganzen ist diese Entstebung seltener.

Den seitber besprocbenen Entstebungsweisen war die Ankniipfung an eine normale Sinnesempfindung gemeinsam ; verscbieden war nur die Rolle, welcbe die Angst bei dem Zustandekommen der Zwangsvorstellung spielte. In einer weiteren Reibe von Fallen entstebt die Zwangsvorstellung obne jede Anlebnung an eine Sinnesempfindung. So kannte icb einen jugendlicben Kranken, dem sich fortwabrend obscone Vorstellungen gauz widersinnigen Inbalts beziiglicb der Person Gottes aufdrangten. So konnte er z. B. den Gedanken nicbt loswerden: „Gott masturbirt mit einem Elepbanten". Er war emport, dass er auf solcbe Gedanken kommen konne, und war aucb von der Sinnlosigkeit dieser Vorstellung durcbaus iiberzeugt , vermocbte diese Zwangsvorstellung aber nicbt wieder los zu werden. Aucb bei diesen von Sinnesempfindungen ganz unabbaugig aufscbiessenden Zwangsvorstellungen wirken * Angstaffecte bald mit bald nicht. So feblten z. B. in dem soeben erwiibnten Falle Angstaffecte vollstandig. In anderen Fallen spielen Angstaffecte eine dominirende Rolle. So kommt z. B. einer Kranken in ibren Angst- anfallen ofter der Gedanke, „sie babe in sexuellen Beziebungen zu Jesus Christus gestanden^^ Die Angst ging bier der Zwangsvorstellung stets voraus. Von der thatsacblicben Unricbtigkeit der Vorstellung war die Kranke stets iiberzeugt. Sie warf sicb nicbt etwa im Sinn der friiher besprocbenen Wabnvorstellungen der Angst sexuellen Verkebr

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mit Cliristus vor, soncleru der Gedanke zwaugte sick ilir trotz besseren Wissens in der Angst immer wieder auf. Was sie sich vorwarf, war hdcbstens dies, dass sie iiberbaupt auf solcbe sinnlosen iind scblecbten Gedanken kommen konne. Im Allgemeineu ist diese Entstehungs- weise der Zwangsvorstellungen obue Anlebnung an Empfindungen sei es mit sei es obue Angst erbeblicb seltener.

Der In bait der Zwangsvorstellungen ist fast ebenso mannicbfacb wie derjeuige der Wabnvorstellungen. Die Beziebung auf das Icb feblt sebr selten. Fast ausnabmslos ist der Inbalt ein ganz trivialer oder ansgesprocbeu unangenebmer. Angenebme Zwangsvorstellungen etwa im Sinne einer Grdssenidee sind ausserordentlicb selten. Speciell fiir die an eine bestimmte Empfindung angelebnten Zwangsvorstellungen bat man eine grosse Zabl specieller Bezeicbnungen je nacb dem be- sonderen Inbalt aufgestellt. So bezeicbnet man als Claustropbobie die von Angst begleitete Zwangsvorstellung, welcbe von der optiscben Empfin- dung eines gescblossenen Raumes (Theater, Eisenbabncoupe etc.) aus- gelost wird. Dabei ist im Eiuzelnen der Inbalt einer solcben Zwangs- vorstelbmg des Claustropboben nocb weiterbin sebr variabel. Bei dem einen Kranken ist es der Gedanke, ein Feuer konne ausbrecben uud der Ausweg versperrt sein, bei dem anderen ist es der Gedanke, eine plotzlicbe Notbdurft konne ibn liberkommen nnd er sei nicbt in der Lage, dieselbe zu befriedigen. Gemeinsam ist alien diesen claustro- pboben Zwangsvorstellungen der Gedanke, der Ausweg aus eiuem ge- scblossenen Raume sei iinmbglicb nnd daber der Aiifeutbalt darin mit Gefabr verkniipft. Als Aicbmopbobie bezeicbnet man die Zwaugs- vorstelbmg, welcbe an die optiscbe Empfindung eines spitzen Gegen- standes ankniipft nnd in dem Gedanken gipfelt, der bez. spitze Gegenstand konne irgendwie dem Kranken selbst oder seiner Umgebuug scbaden (z. B. eine Nadel konne in das Essen geratben nnd verscbluckt werden). Der Mysopbobe wird von der Zwangsvorstellung beberrscbt, an seinem Kbrper oder an den Gegenstiinden seiner Umgebung bafte Scbmutz. Stundenlang wascbt er sicb daber immer wieder nnd ent- weder biirstet nnd putzt er obne Aufboren alle Gegenstande seiner Um- gebung, oder er vermeidet angstlicb jede Beriibrung mit irgend einem Gegenstand, aus Furcbt sicb zu bescbmutzen.*) Der Agorapbobie oder Platzaugst wurde bereits oben gedacbt. Anderer einzelner Zwaugsvor- stellungen wird spater bei Besprecbung des „Irreseins aus Zwangsvor- stellungen" zu gedenken sein.

Nicbt selten treten die Zwangsvorstellungen aucb in Frageform auf. Meist ganz plotzlicb scbiesst dem Kranken beim Anblick eines

*) Ddlire du toucher der franzosischen Autoren.

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Specielle Associationsstor ungen.

einfuclien Gegeustandes der Gedanke auf: wunim ist derselbe so be- ; schaffen, wie er ist, uud uicht anders? warum lieisst er so, wie er heisst, und nicht anders? warum liat z. lb der Tisch 4 Ecken, warum siud die Blatter griin u. s. w. Eiue unwiderstehliche Angst treibt den [ Kranken imnier wicder zu diesem Fragen und Griibeln zuriick. Das un- riclitige Urtheil, welches dieser sog. Griibelsucht *) dunkel zu Grunde liegt, besteht darin, dass fiir das Viereckigsein des Tisches, die griine Farbe der Blatter u. s. w. eine besondere bedeutsame Ursache vorausgesetzt wird. Dabei ist der Kranke sich liber die Irrthiimlichkeit dieser Voraus- setzung vdllig klar, er argert sich selbst liber die Sinnlosigkeit und Trivialitat der sich ihm in monotonster Weise aufdrangenden Fragen, und doch wird er dieselben nicht los. Die allgemeinen Kriterien jeder Zwangsvorstellung linden sich also auch hier, das Besondere dieser Zwangsvorstellungen ist nur die Frageform. Die Anknlipfung an eine Empfindung kann auch hier fehlen. So giebt es z. B. Kranke, welchen sich fortwahrend die trivialsten metaphysischen Fragen („was ist nichts? wann ist die Welt erschaffen worden?'' u. s. w.) aufdrangen. **)

Sehr charakteristisch ist fiir die meisten Zwangsvorstellungen die Neigung zu stereotypen Wiederholungen. Mit der grossten Mouotonie kann Jahrzehnte lang eine und dieselbe Zwangsvorstellung den Kranken qulilen. Wechselvoller kann der Inbalt der oben erwlihnten einzelnen Zwangsvorstellungen (ohne Urtheilsform) sein.

Einfluss der Zwangsvorstellungen auf die Beweguugen bezw. Handlungen. Es ist schon hervorgehoben worden, dass die Zwangsvorstellung trotz des sie begleitenden Krankheitsbewusstseins auf (las Handeln des Kranken einen liberwiegenden Einfluss auslibt. Sie ver- dankt denselben theils ihrer abnorinen Intensitat, theils ihrer steteu Wiederkehr, theils eudlich nameutlich dem begleitenden Augstgefllhl. Die Zwangsvorstellung selbst ist dem Kranken qualvoll, und doch treibt ihn seine Angst, im Sinne der Zwangsvorstellungen zu handeln. Die Angst llisst ihm keine Ruhe, bis er nachgegeben hat. In diesem Sinne kann sogar zuweilen das Nachgeben mit einem eigenartigen Geflihl fast wolllistiger Befriedigung verknlipft sein. Die Zwangsvorstellung fllhrt zur Zwangshandlung. In vielen Fallen enthalt die Zwangsvor- stellung bereits ein motorisches Element. Die Zwangsvorstellung kann geradezu in der immer wiederkehrenden , abnorm inten- siven Vorstellung bestehen, eine bestimmte Bewegung oder Hand-

*) Folie de doute der franzosischen Autoren.

**) Eine Fragesucht, d. h. ein Ueberwiegen der Associationen in Frageform, kommt auch obne Krankheitsbewusstsein, also einer Wabnidee vergleichbar, gelegent- lich vor, so namentlich in den Erregungszustanden des angeborenen und erworbenen Schwachsinns (z. B. der Dementia paralytica).

Specielle Associationsstorungen.

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luug ausfiiliren zu miissen. Der Kranke hat z. B. die qualende Vor- stelliiug, er raiisse eineu bestimmten Gegenstand beriihren, sonst geschehe ein Uugliick. Er ist sich des Widersinuigen und Krankhaften dieser Vorstellung vollig bewusst, er weiss, dass er den Gegenstand nicht beriihren muss, dass die Unterlassung der Beriihrung kein Un- gliick nach sich ziehen kann, und doch siegt die Zwangsvorstellung : er beriihrt den beziiglichen Gegenstand immer wieder. In diesem Falle und in vielen ahnlichen liegt die motorische Tendenz der Zwangsvor- stellung auf der Hand. Es kann sogar zuweilen auch noch die Vor- stellung, im Falle der Unterlassung der Bewegung geschehe ein Un- gliick, fehlen: dann beschrankt sich die Zwangsvorstellung einfach auf die unmotivirte, auch einer Scheinmotivirung entbehrende Vorstellung, eine bestimmte Handlung oder Bewegung ausfiihren zu miissen. Bei manchen Kranken ist die Zwangshandlung das gerade Gegentheil dessen, was sie im Augenblick zu thun beabsichtigten. Bei jedem Versuch eine beabsichtigte Bewegung auszufiihren tritt die Zwangsvorstellung auf, die entgegengesetzte Bewegung ausfiihren zu miissen.

Je nach dem Inhalt der Zwangsvorstellung ist uatiirlich die re- sultirende Zwangshandlung sehr verschieden. Am leichtesteu ist die motorische Entladung derjenigen Zwangsvorstellungen zu iibersehen, welche nicht in Urtheilsform, sondern in Gestalt e in z einer Erinuerungs- bilder sich dem Kranken aufdrangen. Wenn dem Kranken sich Wort- klangbilder oder Erinnerungsbilder von Melodien aufdrangen, so fiihlt er meist zugleich auch den Drang oder Zwang, die beziiglichen Worte auszusprechen oder die Melodie mitzusummen. Zu dem Zwangs- denken kommt das Zwangsreden hiuzu. Nicht selten iibersieht dabei der Kranke das Zwangsdenkeu selbst vollstandig iiber dem Zwangs- reden und berichtet dem Arzt nur, dass ihm immer unwillkiirlich Worte auf die Zunge kameu. Dann scheint die Zwangsvorstellung ganz auf das motorische Gebiet der Sprache beschrankt. Doch ist es aus manchen Griinden wahrscheinlich, dass auch in diesen Fallen wenigstens das akustische Wortbild miterregt wird. In einer ganz eigenthiimlichen Vergesellschaftung tritt uns dies Zwangssprechen und zwar speciell das Zwangssprechen obsconer Worte*) bei der sog. Maladie des tics ent- gegen: es besteht hier gleichzeitig sog. Echolalie, d. h. eine Neigung zum unwillkiirlichen Nachsprechen gehorter Worte, sowie eine Neigung zu unwillkiirlichen coordinirten Bewegungen der Gesichtsmuskeln (Grimassiren).

Erheblich complicirter gestalten sich die motorischen Effecte der- jenigen Zwangsvorstellungen, welche in Urtheilsform auftreten. Die

*) Die sog. Koprolalie.

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Spocielle Associationsstorungen .

BeeinHussung cles Ilandelns wurde oben bereits in mebreren Beispielen hervorgehoben und der psychologische Mechanismus dieser Zwangs- baiidlungen dargelegt. Viele Zwangsvorstellungen haben geradezu ver- suclienden, imperativeu oder prohibitivon Inbalt. Andere haben vor- zugsweise einen heinmenden Einfluss, Der Kranke mit Platzangst meidet alle freien Platze. Aiis Angst vor der Platzangst wagt er sich schliess- licli oft kaum mehr aus seiner Wohnung beraus. Ein anderer Kranker wil’d von der Zwangsvorstellung beherrsclit, er iniisse alle Personennamen, die er sielit oder hort, sich merken; er verbringt seinen ganzen Tag damit, dass er alle ihm aufstosseuden und friiher aufgestossenen Namen von beliebigen Personen auf Zettelchen schreibt und auswendig lernt. Iin ersteren Fall ist der Einfluss der Zwangsvorstellung vorwiegend prohibitiv, im letzteren vorwiegend imperativ.

Wenn der Kranke der motorischen Versuchung der Zwangsvorstellung nachgegeben hat, so pflegt momentan die Zwangsvorstellung und die sie begleitende Angst nachzulassen. Sobald er sich jedoch wieder zu anderer Thatigkeit wenden will, erhebt sich die Zwangsvorstellung und mit ihr die Angst wieder. Haufig misstrauen die Kranken der Realitat ihrer eigenen Handlungen und Empfindungen. Sie haben z. B. eben eine Thiir verschlossen, aber sofort quixlt sie der Gedanke : habe ich die Thiir auch wirklich verschlossen oder den Gashahn auch wirklich vollig umgedreht und dergl. mehr.

Schon oben wurde erwillint, dass in selteneren Fallen die Zwangs- vorstellungen auch zu hallucinatorischen oder illusionaren Tiluschungen fiihreu konnen. Eine andere Wirkung mancher Zwangsvorstellungen besteht in einer motorischen Lahmung, welche ganz der durch hypo- chondrische Wahnvorstellungen bedingten Lahmung (s. o.) entspricht. So kommt es vor, dass der Agoraphobe, welcher trotz seiner Zwangs- vorstellung sich auf einen freien Platz wagt, plotzlich solchen Schwindel und solche Scliwache in den Beinen fiihlt, dass er sich nicht mehr auf- recht zu erhalten vermag : eine psychisch bedingte Ataxie oder Paraparese ist eingetreten, oder, mit anderen Worten, die Vorstellung nicht gehen zu konnen hat, obvvohl der Kranke sie fiir uurichtig hiUt, doch seine Motilitiit beeinflusst.

In manchen Fallen liisst sich sogar ein Einfluss der Zwangsvor- stellung auf die glatte Musculatur des Korpers nachweisen. Die Zwangs- vorstellung „errothen zu iniisseiP^ fiihrt z. B. meist secundar zu eiiiem wirklichen Errothen. Ein Lehrer, der von der Zwangsvorstellung be- herrscht wurde, eine plotzliche Nothdurft kcinne ihn ankommen, sobald er in der Kirche oder im Schulzimmer oder in der Gemeinderathssitzung sich befande, also kurz in einem Augenblick, avo er nicht sofort ab- kommen und einen etwaigen Stuhldrang befriedigen kann, In bite regel-

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milssig, wenn er trotz seiner Angst sich an seiche Orte wagte, ausge- sprochenen Stiililclrang und wurde hiinfig thatsiichlich von heftigen Diarrlioen befallen, welclie bei anderen Gelegenbeiten nie auftraten und aucb bald nacb dem Verlassen des bez. Platzes aufborten.

Vorkoininen nnd Diagnose der Zwangsvorstellungen. Vereinzelte Zwangsvorstellungen finden sicb aucb bei dem Gesundeu. Der Hartnackigkeit , mit welcber ziiweilen einschmeicbelnde Melodien und scbrecklicbe Bilder sicb dem Gesunden aufdrangen, wurde obeu bereits gedacbt. Ganz gesunde Individuen konnen mitunter den Ge- danken nicbt loswerden, unter ibrem Bett namentlicb in fremdem Hause babe sicb demand versteckt, und misstrauen ihren eigenen Empfindungen, insofern sie sicb mit einmaligem Nacbseben unter dem Bett nicbt begniigen, sondern „um ihrer Rube willen^^ trotz des Ein- sprucbs ibres Verstandes das Nacbseben drei-, viermal wiederboleu. Wie uberall sind aucb bier die Grenzen zwiscben geistiger Gesundbeit und geistiger Krankheit keine scbarfen.

Ausgesprocbene Zwangsvorstellungen kommen namentlicb bei folgenden Krankbeiten vor:

1. Neurastbenie;

2. Melancbolie und

3. namentlicb bei dem „Irresein aus Zwaugsvorstelbmgeu^b

Bei letzterem spielen die Zwangsvorstellungen die Rolle des domi-

nireuden Hauptsymptoms. Bei der Melancbolie finden sie sicb nebeu den typiscb-melancboliscben W a b n vorstellungen der Selbstanklage. Das neurastbeniscbe Irreseiu verbindet sicb fast in einem Drittel aller Falle mit mebr oder weniger deutlicb ausgepragten Zwangsvorstellungen irgend- welcber Art. Endlicb ist zu erwahnen, dass gelegentlicb Zwaugsvor- stelluugen und speciell aucb impulsive Zwangsbandlungen bei erblicb belasteten Individuen plotzlicb isolirt auftreten, um dann lange Zeit wieder vollig auszubleiben. Gerade diese Falle sind durcb ibren un- widersteblicbeu Einfiuss auf das Flandelu, die obsession irresistible^^ aus- gezeicbnet. In selteneren Fallen beobachtet man Zwangsvorstellungen als Vorlaufersymptome schwerer organischer Hirnerkrankuugen, so nament- licb der Dementia i^aralytica.

Sebr auffallig ist, wie selteu sich aus Zwangsvorstellungen wirklicbe AA abnvorstellungen entwickeln. So sebr die meisten Kranken, welcbe an Zwangsvorstellungen leiden, furcbten geisteskrank zu werden, so selten verwirklicht sich diese Befurcbtuug. Die Wabnidee berubt stets auf einer scbweren allgemeineren Denkstorung, die Zwangsvorstelluug ist in der That nur eine parti el le Denkstorung. Aucb das gleicb- zeitige Vorkommen von Zwangsvorstellungen und Wahnideen bei ein und demselbeu Individuum ist selten,

Zielien, Psycbiatrie.

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130 Specielle Associationsstorungen.

pie Erkeunung von Zwangsvorstellungen bietet oft grosse bchwierigkeit. /unachst iiliersieht man dieselben. selir haufig, weil die Kranken dissimulii’en. Die Furcht geisteskrank zu scheinen macht die meisten Kranken mit Zwangsvorstellungen ungemein sclieu und zui iickbaltend , selbst deni Arzt gegeniiber. Auch gelingt es ilinen ofters, in Gegenwart Fremder voriibergehend den Einfluss der Zwangs- vorstellungen auf ihr Handeln abzuwehren. Der Arzt ist gerade in diesen Fallen oft auf eine Befragung der xiugeborigeu angewiesen.

Verwechselt kann die Zwangsvorstellung werden mit der lYahn- vorstellung. Zwar scbeint in dem mangelnden Krankheitsbewusstsein der letzteren ein leiclites Unterscheidungsmerkmal gegeben, aber dieses versagt ab und zu. Audi der Kranke mit Wabnvorstellungen bat zu- weilen ein gewisses Krankheitsbewusstsein. Er schwankt, ob er die primar auftauchenden oder von Hallucinationen ihm suggerirten Wahn- vorstellungen acceptiren soil oder nicht. Diesem Kampf gegen die Walinidee begegnen wir in unzahligen Fallen. Das Zweifeln des Kranken spricht durchaus nicht gegen das Bestehen wu’klicher Wahn- vorstellungen. Ein Kranker, der gegeniiber seinen unrichtigen Urtheils- associationen z we if e It, hat keine Zwangsvorstellung. Fiii’ diese ist es gerade charakteristisch, dass der Kranke keinenAugenblick zweifelt, sondern stets ohne weitere Ueberlegung die vollige Unrichtigkeit seiner Vorstellung zugiebt. Er fiihlt selbst durchaus klar, dass die Zwaugs- vorstellung sich als ein fremdes, krankhaftes Element in sein Denken eingedrangt hat. Selbst bei' ungebildeten Kranken ist man haufig iiber- rascht, wie klar dieselben dies Krankheitsbewusstsein festhalten und iiiissern, so sehr sie auch in ilireni Handeln von denselben Zwangs- vorstellungen beherrscht werden. „Ich iiiuss^', aussern alle diese Kranken auf Vorhalt dem Arzt gegeniiber. Nun kommt es ja allerdings vor, dass auch Kranke mit Wahnvorstellungen gelegentlich aussern: „man macht mir diese oder jene absonderlichen Gedanken“ oder „man giebt mir dies oder jenes in die Gedanken, man zwingt iiiich, dieses oder jenes zu denken". Aber diese Kranken weisen solche Gedanken, wenn sie dieselben auch als aufgezwungen bezeichneu, nicht a limine ab; sie zweifeln, und meist endet der Zweifel nach langeni Kampf schliesslich doch mit einer Niederlage, d. h. mit einer Anerkennung der wahnhaften Gedanken. Der Zweifel verriith uns auch in diesen Fallen, dass keine Zwangsvorstellung, sondern eine aufkeimende Wahnidee vorliegt. Auch kommt uns meist ein weiteres Merkmal zu Hiilfe. Diejenigen Kranken, welche ihre Wahnvorstellungen zunachst noch als ein fremdes, aufge- zwungenes Element Hires Denkens betrachten, kniipfen meist hieran so- fort wieder eine ueue Wahuvorstellung, insofern sie behaupten, Persouen ihrer Umgebung hiitten durch irgendwelche Einfiiisse, Gift oder Mague-

Specielle Associationsstoriingen.

131

tismus orler gelieimnissvolle Gedankeniibertragiing irgenclwelcher Art, eben diese imricbtigen oder absonderlichen Vorstellungen in ihneii er- regt. Indem sie also die eine Wahnidee zum Theil corrigiren, bilden sie eine iieiie ebenso wabnhafte Vorstellung (den „Wabn der Zwangs- vorstellnng"). Bei der echten Zwangsvorstellung ist dies niemals der Fall. Hier bezeicbnet der Kranke den Zwang, dem er unterliegt, fast ausnabinslos selbst als einen krankbaften.

Besonders scliwer kann gelegentlich die Unterscbeidung einer Zwangs- vorstellung von einer bypochondrischen Wahnvorstellung werden, da beide unter ganz ahnlichen Umstanden aiiftreten und zu ganz ahnlichen motoriscben Folgeerscbeinungen fiibren konnen. So kann z. B. der ganze Symptomencomplex der oben erwabnten Agoraphobie oder Platz- angst gelegentlich aucli in Abhangigkeit von einer bypochondrischen Wahnvorstellung auftreten, d. h. den Kranken befallt bei dem Anblick eines grosseren Platzes, den er liberschreiten soil, plotzlich entweder ohne oder haufiger mit Angst die Wahnvorstellung: Du kannst den Platz nicht liberschreiten, deine Beine werden versagen, der Schlag rlihrt dich u. dgl. m. Dabei zweifelt jedoch der Kranke an der Kichtigkeit dieser bypochondrischen Wahn vorstellungen keinen Augenblick, wahrend der Kranke, dessen Agoraphobie auf Zwangsvorstellung beruht, die absolute Unrichtigkeit und Grundlosigkeit der sich ihm aufdrangenden Vorstellungen keinen Augenblick in Frage zieht. Der motorische Effect hingegen kann in beiden Fallen ganz derselbe seiu. Auch der Kranke mit der bypochondrischen Wahnvorstellung versucht vergebens iiber den Platz zu kommen und macht oft weite Umwege, um solche Platze zu vermeiden. Auch bei ihm kann die unrichtige Vorstellung sogar ge- legentlich zu einer psychischen Lahmung fiihren: d. h. es kann dahin kommen, dass der Kranke schwankt oder wirklich zusammenbricht oder auch keinen Fuss mehr vorwarts zu setzen vermag und wie festgebannt stehen bleiben muss.

Auch die Unterscbeidung mancher Zwangsvorstellungen *) von den friiher erwabnten incoharenten Einfallen wahnhaften bezw. ganz sinn- losen Inhalts kann zuweilen Schwierigkeit machen. Auch hier ist ent- scheidend, ob der Kranke die abgerissen sich ihm aufdrangenden Ge- danken bezw. einzelnen Vorstellungen von Anfang an und durchaus als seinem gesunden Denken widersprechend und aufgezwungen betrachtet oder ob sein Denken in diesen Einfallen aufgeht, diese somit als be- rechtigter und integrirender Theil des ersteren anerkannt werden. Im ersteren Fall liegt eine Zwangsvorstellung, bezw. Zwangsdenken, im letzteren ein wahnhafter Einfall bezw. eine Wahnidee vor. Uebrigens

*) Namentlich jener seltenen Zwangsvorstellungen, welche inhaltlich wechseln und ott auf einzelne Erinnerungsbilder ohne Urtheilsverbindung sich beschranken.

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132

Specielle Associationsstorungen.

kommeu zwisclieu diesen einzelnen Zwangsvorstellungen und diesen wahri- liafteu Einfalleu weit ofter Uebergangc vor als zwischen den complicirten Zwangsvorstellungen (in Urtheilsform) und den complicirten Walui- vorstellungen. '

Defecte der Urtlieilsassociationen (Urtlieilsschwache).

Jedes Urtheil ist das Ergebniss des Zusammcnwirkens einer grossen Zalil einzelner Associationen. Schon bei dem Urtheil: „Die Rose blUht roth“ betheiligen sich zahllose einzelne Erinnerungsbilder mit zabllosen associativen Verkniipfungen. Der Inhalt des Urtheils ist von der Con- stellation aller dieser Erinnerungsbilder und ihrer associativen Ver- knilpfungen abhangig. Die Richtigkeit des Urtheils leidet, sobald die fiir das Urtheil in Betracht kommenden Erinnerungsbilder und deren associative Verkniipfungen eine erheblichere Veranderung erleiden. Bei der Wahnvorstellung und bei der Zwangsvorstellung wird die Unrichtig- keit der Urtheile dadurch bedingt, dass einzelne associative Verkniipfungen und einzelne Erinnerungsbilder einen abnormen Einfluss auf die Ideen- association gewinnen und letztere der Controle und der Re^dsion durch die Empfindungen entziehen. Unrich tige Urtheile konnen jedoch auch da- durch zu Stande kommen, dass einzelne Erinnerungsbilder und einzelne associative Verkniipfungen feblen, entweder weil sie nie gebildet Oder weil sie im Verlauf einer Psychose zerstort worden sind. Es ist friiher erwahnt worden, dass man diesen Mangel an Erinnerungsbildern und associativen Verkniipfungen er sei augeboren oder erworben auch als I ntelligenz defect oder Schwachsinn bezeichnet und dementsprechend einen angeborenen und einen erworbenen Intelligeuz- defect oder Schwachsinn unterscheidet. Dieser Intelligenzdefect iiiissert sich nicht nur in dem Mangel an einzelnen Erinnerungsbildern und associativen Verkniipfungen, sondern regehniissig auch in unrichtigen Urtheilen, welche eben durch den Mangel an Erinnerungsbildern und associativen Verkniipfungen bedingt werden. Dies zweite Symptom des Schwachsinns bezeichnet man auch kurz als Urtheilsschwiiche. Armuth an V orstellungen und assoc'iativen Verkniipfungen sowie Urtheilsschwache machen das Wesen des Intelli- genzdefectes,. des erworbenen wie des angeborenen Schwach- sinns a us. Die Urtheilsschwache hat mit der Wahnidee die sachliche Unrichtigkeit der Urtheile gemein, aber beide unterscheiden sich in der Eutstehung: das unrichtige Urtheil des Intelligenzdefects kommt durch Defecte der Erinnerungsbilder und associativen Verkniipfungen zu Stande, dasjenige der Wahnidee durch einseitiges Ueberwiegen einzelner Erinnerungsbilder und associative!’ Verkniipfungen.

Specielle AssociationsstOrungen.

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Die Urtheilsscliwache, die angeborene wie die erworbene, kommt in den verscliiedensten Graden vor, von der leichtesten Kritildosigkeit bis zur Yolligen Urtlieilslosigkeit. Erstere ist bedingt durcb das Felden eiuiger weniger complicirter Vorstellungen imd ' Associationen, letztere beruht auf einem Feblen der einfacbsten nnd alltaglicbsten Vorstellungen imd Associationen. Am sinnenfalligsten zeigt sicli diese Urtbeilsschwacbe bei dem erworbenen Schwacbsinn, weil bier der Vergleicb mit den frilheren normalen Urtbeilsleistiingen moglicb ist. Bei dem Gelebrten, welclier in irgend eine Form des erworbenen Schwacbsinns verfallen ist, fiillt auf, dass seine wissenscbaftliclien Arbeiten zusebends gedanken- armer werden: handgreifliche Widerspriiche und nabeliegende Ein- wande werden iiberseben, weil eben gewisse Vorstellungen und Associa- tionen ausbleiben. Der Kaufmann versieht sich in seinen Speculationen und Einkaufen; wichtige Factoren bleiben bei seinen Ueberlegungen unbeacbtet und die wirklicb beacbteten Factoren kommen nicht in dem richtigen Starkeverhiiltniss zur Geltung. Der Handwerker versieht sich in seinen Arbeitsplanen : wenn der Tiscbler die einzelnen Theile zu dem Schrank, den er herstellen soli, fertiggestellt hat und nun zusammen- setzen will, so ergiebt sich, dass die Theile nicht zu einander passen; er hat sich irgendwie verrechnet und daher das unrichtige Ergebniss. Ebenso wie in dem Berufsleben, aussert sich die Urtheilsschwache in dem taglichen Verkehr. Der Kranke vermag selbst einfachere Situa- tionen nicht mehr durch seine Ueberlegung zu beherrschen. Allent- halben iibersieht er wichtige Punkte und Beziehungen. In den schwersten Graden des Schwachsinns misslingen die einfachsten Urtheilsassociationen. Das Urtheil: „Die Rose hat gezahnte Blatter" kommt trotz seiner Ein- fachheit (es kommen nur 2 Erinnerungsbilder und deren eine associa- tive Verkniipfung in Frage) nicht mehr richtig zu Stande. Die Begriffe Oder uoch ofter die associative Verkniipfung ist verloren gegaugen. Die complicirteren Urtheile, welche ein sehr verwickeltes z. Tb. unter der psychischen Schwelle sich abspielendes Einwirken zahlreicher latenter Erinnerungsbilder voraussetzen , unterbleiben ganz. Grobe Verstosse gegen die Logik haufen sich. Schliesslich schwindet mit der letzten associativen Verkniipfung auch die letzte Urtheilsassociation : der Kranke bringt kein Urtheil mehr zu Stande und ausserlich giebt sich dies darin kund, dass er Siitze nicht mehr zu bilden vermag. Es werden die wenigen Erinnerungsbilder, welche noch erhalten geblieben siud, zu- sammenhanglos an einander gereiht. Die Urtheilsschwache fiihrt somit in ihren schwersten Graden gleichfalls zu der sog. IncohiLrenz, welche wir friiher bereits als Folgeerscheinung schwerer Ideenflucht oder ge- hiiufter Hallucinationen und als primare Associationsstorung kenneu lernten. Diese Incoharenz des Schwachsinns resp. der Urtheils-

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Specielle Associationsstorungen .

scliwiiclie ist von cler Incoharenz der Ideenfluclit, der hallucinatorischen lucohiirenz und der priniaren Incoharenz oder Dissociation vdllig zu trennen. Die Incoharenz des Scliwachsinns beruht auf dem Nicht- vorhandensein bezw. dem Verlust einzelner Erinnerungsbilder und asso- ciativer Verkniipfungen , die Incoharenz der Ideenflucht hingegen auf dem im Gefolge der abnormen Beschleunigung der Ideenassociation ein- tretenden Auslassen verbindender Zwischenvorstelluugen, die hallucina- torische Incoharenz auf dem massenhaften Einstiirmen disparater Sinnes- eindriicke und endlich die primare Incoharenz oder Dissociation auf einer allgemeinen formalen Storung im Ablauf der Ideenassociation (ohne inhaltlichen Defect).

Pathologisch-anatomische Grundlage. Wahrend die Wahn- vorstellungen und Zwangsvorstellungen ausnahmslos auf functionellen Veranderungen der Hirnriude und ihrer Associationsbahnen beruhen, beruht die Urtheilsschwache meist auf organischen Lasionen. Bei dem angeborenen Schwachsinn sind die Associationsfasern und Ganglienzellen der Hirnrinde nicht in normaler Zahl zur Entwicklung gelangt oder durch einen in den ersten Lebensjahren resp. intrauterin aufgetretenen Krankheitsprocess (diffuse secundare Skier ose nach infautilen Gehirn- hamorrhagien, Thrombosen u. dgl.) schon friih wieder in erheblicher Zahl zu Grunde gegangen. Bei dem erworbenen Schwachsinn weist das Mikroskop schwere Veranderungen sowohl in den Ganglienzellen der Hirnrinde wie namentlich an den Associationsfasern nach, die theils innerhalb der Hirnrinde, theils auf der Grenze von Hirnriude und Mark- lager in der sog. Markleiste verlaufen.

Verlauf der Urtheilsschwache. Wahn- und Zwaugsvorstel- lungen sind in vielen Fallen heilbar, d. h. das einseitige Ueberwiegen gewisser einzelner Vorstellungen und Associationsverkniipfungen bildet sich oft allmahlich zuriick. In noch hoherem Maass gilt dies von den friiher besprochenen formalen oder allgemeinen Storungen der Ideenassociation, also der Ideenflucht, Denkhemmung und Dissociation. Die Urtheils- schwache ist hingegen fast ausnahmslos unheilbar und im Gauzen daher stets ein ominoses Symptom ganz ebenso wie der Defect an Vor- stellungen und Associationen, auf welchen sie beruht. Allerdings vermag eine arztlich geleitete Erziehung bei dem Congenital-Schwachsiuuigeu bei Aufwendung grosser Miihe schliesslich die Zahl der Vorstellungen und Associationen etwas zu vergrossern und damit auch die Urtheils- schwache etwas zu bessern, aber diese Resultate bleiben stets sehr diirftig. Die Hirnrindenentwicklung dieser Individuen ermoglicht die Bildung complexerer Vorstellungen und Associationen nicht. Dadurch unterscheidet sich der Angeboren-Schwachsinnige von dem mangelhaft Erzogeueu; ersterer ist trotz aller erziehlicher Versuche begriffs- und

Specielle Associationsstorungen .

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associationsarm imd clalier urtlieilsscliwach, letzterer ist wegen Mangels an Erzieliung begriffs- unci associationsarm und urtheilsschwacb. Noch ungiinstiger ist die Prognose des erworbenen Scliwachsinns, sowohl der Begriffs- und Associationsverarmung wie der daraus sicli ergebenden Urtbeilsscbwache. In der Regel ist dieser Process ein fortschreitender, welclier in der friiher bescbriebenen gesetzmassigen Reihenfolge Erinne- rungsbild auf Erinnerungsbild, associative Verkniipfung auf associative Verkniipfung zerstort und so scbliesslich zu einer volligen Urtbeilslosig- keit fiilirt. Alle Versucbe des Arztes, dies Fortscbreiten zu hemmen Oder die verlorenen Erinnerungsbilder und Associationen z. B. durcli Unterricbt clem Kranken wieclerzugeben, sind fast stets erfolglos. Der Kranke ist nicbt melir fiibig in irgencl erbeblicherem Umfang neue Vor- stellungen und Associationen zu erwerben und so sein Urtbeil wiecler zu scbarfeu, und wenn es gelingt, einzelne Associationen und Vor- stellungen v^deder neu einzupragen, so sind geracle cliese neuerworbenen Associationen und Vorstellimgen, wie friiber erortert, binneu kiirzester Frist wieder dem Untergang verfallen (Ribot’scbes Gesetz). Dies unauf- haltsame und unwieclerbringliche Verarmen des intellectuellen Besitz- standes erklart sicb genugsam daraus, class der gauze Process auf einer organiscben Grundlage, clem Untergang von Ganglienzellen und Associationsfasern, beruht.

Die Erkennung der Urtbeilschwache ist oft mit grossen Schwierig- keiten verkniipft. Zunacbst ist die Abgr euz ung der krankbaften an- geborenen Urtbeilsscbwache von einer n’ocb im Bereicb des Nor- malen liegenclen Bescbranktbeit des Urtbeils oft sebr scbwierig. Erne scharfe Grenze giebt es iiberbaupt zwiscben beiclen nicbt. Es er- giebt sicb dies obne Weiteres aus clem, was friiber iiber die ffiessenclen Uebergange zwiscben krankbaften Defecten der Begriffsbilcluug und der nocb im Bereicb des Normalen gelegenen Einscbrankung der Begriffs- bilclung gesagt wurcle. Jecleufalls ist zum Beweis der patbologiscben Natur einer angeborenen Urtbeilsscbwacbe stets erforderbcb nacbzu- weisen, class trotz zweckentsprecbender Erziebungsversucbe die Bilclung von Begriffen und Associationen im normalen Umfang und die Reifung der Urtheilskraft zu der durcbscbnittlicben Kobe der Um- gebung ausgeblieben ist.

Bei der erworbenen Urtbeilsscbwacbe liegt in vielen Fallen die Verwecbslung mit „Denkbemmung'^ oder mit „Incoharenz^' sebr nabe. Differentialcliagnostisch kommen bier alle Merkmale in Betracbt, welcbe fruber bei Besprechung der Denkbemmnung und der Incobarenz er- wahnt wurden. Am wichtigsten sind fiir die Urtbeilsassociationen fol- gende Punkte;

1. Der Kranke mit Hemmung urtbeilt langsam oder garnicbt, der

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Storungen des Ilandelns.

Krauke mit primarer Incoharen. fugt in seinem Urtheil ganz unzu- samraengehorige Vorstelliingen zusammen, tier Schwachsinnige urtlieilt falsch: die Vorstelliingen, welclie er in seinem Urtheil verkniipft, gehoren in gewissem Sinne zusammen, aber bei ibrer Verkniipfung sind erbeb- licbe einschlagige Vorstellungen (Einwande u. dgl.) iiberseben worden. Nur in den scbwersten Graden des erworbenen Schwachsinns kommt es, wie oben erwahnt, zu einer Zusammenhangslosigkeit der Urtheilsasso- ciationen, welcbe ganz derjenigen der primaren Incobarenz entspricbt. Der Unterscbied lasst sicb auch folgendermaassen veranscbaulicben : der Kranke mit Denkbemmung spinnt seine Ideenassbciation sebr langsam iind mit vielen Pausen weiter, der Kranke mit Dissociation verliert

den Faden fortwabrend, der Kranke mit Urtbeilsscbwacbe kniipft die Faden falscb.

2. Der Kranke mit Hemmimg und derjenige mit Incobarenz be- antwortet gerade aucb ganz einfacbe Fragen garnicbt oder sebr lang- sam resp. mit ganz unzusammenbangenden Urtbeilen, und andrerseits gelingt ibm gelegentlicb dank einem vorubergehenden Nacblass der Heramung lesp. Incobarenz die Beantwortung sebr scbwieriger Fragen. Der Kranke mit Urtbeilsscbwacbe beantwortet gleicbmassig zu alien Zeiten sammtliche Fragen um so unricbtiger, je complicirter sie sind.

3. Die Affecte, welcbe die Hemmung begleiten, sind depressiver Natur ; in anderen Fallen ist die Hemmung mit Apatbie vergesellscbaftet. Bei der Incobarenz fallt die Regellosigkeit der Affecte auf. Die Ur- tbeilsscbwache ist durcb den ungeniigend motivirten, kritiklosen Ueber- gang von Weinerlicbkeit zu alberner Ileiterkeit und umgekelu-t, ausge- zeicbnet.

4. Die Denkbemmung aussert sicb aucb in den Handlungen: alle Be- wegungen sind gebemmt, d. b. entweder verlangsamt oder aufgeboben. Die Handlungen resp. Bewegungen des Kranken mit Dissociation fallen durcb ihre vbllige Regel- und Zusammenbangslosigkeit auf. Die ein- zelnen Bewegungen und Handlungen des Urtbeilsschwacben sind aller- dings durcb Motive verkniipft, aber diese Motive sind unvollstiindig und unzureicbend : es verrath sicb in ibnen der Intelligenzdefect. .v

Auf die speciellen Schwierigkeiten , welcben diese wicbtige Diffe- rentialdiagnose zwischeu Denkbemmung, Dissociation und Urtbeils- scbwacbe bei den einzelnen Krankbeitsformen begegnet, wird im sjie- ciellen Tbeil zuriickzukommen sein.

e. Storungen des Handelns.

Unsere Handlungen sind die notbwcndigen Consequenzen der Ideen- association. In die Ideenassociation tritt eine gewisse Zabl von Fmpfin-

Stornngen cles Handelns.

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diingeii uud Erinuerungsbildern (oder Vorstellimgen) ein und aus deren Zusammenwirken resultirt ohne Dazwischentreten irgend einer neuen Seelentliatigkeit die Handlimg. Ein besonderes Willens- vermbgen existirt nicht. Daher kennt die Psycbopathologie auch keine eigenen Will ens stornngen. Die Handlungen der Geisteskranken sind nur insofern gestort, als in der der Handlung vorausgebenden Ideenassociation patliologiscbe Elemente vorlianden waren. Die anf- fiillige Handlung eines Geisteskranken ist daber stets nicbt einfacli als solcbe zu registriren, sondern muss stets analysirt werden, d. h. auf Stbrungen der Empfindungen oder der Gefiihlstone oder der Vorstel- lungen oder der Thatigkeit der vorausgegangenen Ideenassociation selbst zuriickgefiibrt werden.

Die krankbaften Handlungen lassen sicb somit auf Grund ihrer verschiedenen Entstebungsweise eintheilen in:

a. Handlungen bedingt durch Empfindungsstorungen ;

[3. Handlungen bedingt durch Stornngen in der Bildung oder Erhaltung der Erinnerungsbilder ; y. Handlungen bedingt durch Affectstorungen ;

§. Handlungen bedingt durch Stbrungen der Ideenassociation.

Dieselben sollen im Folgenden der Beihe nach besprochen werden. \ orauszuschicken ist nur, dass man Zustande vermehrter und gesteigerter motorischer Action im Allgemeinen als mo to rise he Agitation, und Zustande verminderter und herabgesetzter motorischer Action im Allgemeinen als motorischen Stupor bezeichnet.

a. Handlungen bedingt durch Empfindungsstorungen.

Enter den Empfindungsstorungen kommen namentlich die Hallu- cinationen und Illusionen in Betracht. Der Einfluss derselben auf das Handeln ist frliher bereits ausfubrlich besprochen worden. In weitaus den meisten Fallen hat die Hallucination bezw. Illusion fiir den Kranken durchaus die Dignitat einer normalen Empfindung, und wo sich etwa Hallucination und normale Empfindung widersj^rechen, iiberwiegt der Einfluss der Hallucination auf das Handeln. Ganz ebenso sind in der Regel auch die hemmendeu V orstell ungen, welche im Verlauf der Ideenassociation auftauchen und dem Einfluss der Hallucination auf das Handeln entgegentreten, machtlos. Die Sinnestauschung siegt und be- stimmt das Handeln. Dieser Einfluss ist um so erlieblicher, je massen- hafter die Hallucinationen auftreten und namentlich je rascher sie sich baiifen. Hallucinationen, welche allmahlich im Laufe von Wochen und 'Monaten sich hauten, unterliegen, wenn auch keiner Correctur, so doch hiiuflg einer gewissen Beherrschung durch normale hemmende Vox--

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StSrungen des Handelns.

stelluugeu: der Kranke zweifelt nicht an der Realitat der Sinnes- tauschuugen, aber er vermag ibren Einfluss auf sein Handeln wenigstens einzuscliranken. Wo hingegen Siunestauschungeu in rascbern Anstieg sich liaufen und auf den Kranken einstiirmen, versagt die Selbst- beberrschung meist sebr rascb.

Bei jabrelangem Besteben von Sinnestauscbungen findet man nicbt selten, dass allmaldicb ibr Einfluss auf die Handlungeu wieder nacblasst. Cbroniscbe Hallueinanten lernen mitunter ibre Hallucinationen trotz ibres gebauften Auftretens ignoriren. Sie sind nacb wie vor von der Realitat derselben liberzeugt, vermogen aber den Einfluss derselben auf ibr Bewegen und Handeln zu unterdrlicken. Namentlicb bei langjabrigen Anstaltsinsassen kommt es unter der fortgesetzten Einwrkung der An- staltsdisciplin oft scbliesslicb zu dieser motoriscben Actionstragbeit gegen- iiber den Hallucinationen. Die Kranken reagiren hochstens noch durch einige stereotype Scbimpfwbrter auf die sie belastigenden Stimmen und verricbteii dabei ibre Haus- und Feldarbeit gleicbmassig weiter.

Eine allgemeine Bescbreibung des ballucinatoriscben, d. b. des durcb Hallucinationen bedingten Handelns zu geben ist scblecbterdings unmbg- licb. Dasselbe ist ebenso wecbselnd und mannigfaltig wie der Inbalt der Hallucinationen selbst. Praktiscb wicbtig ist namentlicb eine Eigen- scbaft, welcbe dem ballucinatoriscben Handeln meist zukommt: es ist dies seine Unberecbenbarkeit. Eine plotzlicbe unvermittelte Hallucination kann zu eiuer unerwarteteu Gewalttbatigkeit des Kranken gegen sicb oder seine Umgebung flihren. Hallueinanten bediirfen daber im All- gemeinen stets genauer Ueberwacbung.

Von dem bemmenden, bescbleunigenden und verwirrenden Einfluss, welchen die Hallucinationen je nacb ibrem Inbalt auf das Handeln baben, wird unten zu spreeben sein.

p. Handlungen bedingt durch Defecte der Erinnerungsbilder.

Eine Handlung kann dadurch zu einer patbologiscben werden, dass Vorstellungen, welcbe bei dem gesuuden Menseben stets vorbanden sind und das Handeln beeinflussen, feblen, sei es, dass sie iiberbaupt niemals gebildet warden (angeborener Scbwacbsiun), sei es, dass sie im \ erlauf einer Psyebose verloren gegangen sind (erworbener Scbwacbsinn). ^\ir wollen solcbe Handlungen ganz allgemein als „Defectbandlungen“ bezeiebnen. Diese Defectbaudlungen sind dadurcb ausgezeicbnet, dass sie patbologiscb-einfacb sind. Das Handeln des Scbwacbsinnigeu wird fast aussebliesslieb durcb seine actuellen Empfindungen und einige wenige concrete Begriffe bestimrat, wiibrend bei dem Gesunden abstracte Be- griffe in complicirter Weise in das Spiel der Motive eingreifen. Das

Stdrimgen dos Handelns.

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Handeln kanu clabei docli hochst schlau und listig sein: eine Straf- handlung kann z. B. den ausseren Umstanden vorziiglicli angepasst sein und doch kann die Defecthandlung eines Schwachsinnigen vorliegen, indem abstracte Begriffe bei ihrem Zustandekommen fehlten. Die Be- wegungen und Handlungen eines Thieres, welches seiner Beute nachgeht Oder vor deni Jager flielit, sind in diesem Sinne gleichfalls schlau, in- sofern alle actuellen Einpfindungen in sehr zweckentsprechender Weise die Bewegungen beeinflussen. Die Handlung des Schwachsinnigen und diese Handlung des Thieres haben gemeinsam, dass coniplicirtere, ab- stractere Begriffe im Spiel der Motive nicht auftreten, weil sie iiberhaupt nicht vorhanden sind. Der Schwachsinnige sieht z. B. eine Uhr liegen und nimmt sie an sich. Ein solcher Diebstahl eines Schwachsinnigen beruht in vielen Fallen darauf, dass der Schwachsinnige den complicir- teren Begriff „Eigenthum'^ nicht gebildet oder eingebiisst hat. Er er- kennt die Uhr als solche: die einfachen concreten Begriffe sind ihm erhalten gebheben; nur der abstracte Begriff des Eigenthums, die Unter- scheidung zwischen Mein und Dein fehlt ihm, und weil diese com- plicirtere Vorstellung in das Spiel der Ideenassociation nicht eingreift, kommt die krankhafte Handlung, der Diebstahl, zu Stande.

y. Handlungen bedingt durch Affectstorungen.

Der wichtigste Satz, welcher flir die Einwirkung der Affecte auf die Handlungen in Betracht kommt, lautet : Positive Geftihlstone be- fordern und beschleunigen das Handeln, negative hemmen und verlang- samen das Handeln. Am klarsten tritt dies bei der einfachen Depression oder traurigen Verstimmung und bei der einfachen Exaltation oder heiteren Verstimmung hervor. Der Depression geht motorische Hemmung, der Exaltation motorische Erregung parallel. Diese motorische Hemmung der Drepression ist nur .eine Theilerscheinung der allgemeinen Triigheit der corticalen Associationen, welche wir oben als Stupor kennen lernten, und ebenso ist die motorische Erregung nur eine Theilerschei- nung der allgemeinen Beschleunigung der corticalen Associationen, welche wir oben als Agitation kennen lernten. Diese formalen Sto- rungen des Handelns durch pathologische Affecte werden unten aus- fiihrlicher zu besprechen sein, da die Anomalien des Handelns bier auf eine allgemeine Associationsstorung zuriickzufiihren sind; meist bleibt es geradezu unentschieden, ob der Affect (Depression bezw. Exaltation) die motorische Hemmung bezw. Erregung auslost oder letztere der Affectstorung coordinirt sind. An dieser Stelle ist nur noch hervorzu- heben, dass lediglich die einfache Depression und die einf ache Exalta- tation in so einfacher Weise das Handeln beeinflussen. Sobald zu

140

StOrungen des Handelns.

ersterer *der Angst affect unci zu letzterer der Zornaffect hinzutritt, wird der Einfliiss ein viel complicirterer. Die Angst wirkt allerdings zuiuiclist und in erster Linie auch hemmend auf die corticalen Associa- ' tionen imd somit auch auf das Handeln, aber mit der zunehmenden Angst stellt sich auch lulufig die Vorstellung der Flucht ein: der Kranke sucht sich um jedeu Preis seiner Angst zu erledigen. Der Kranke findet im Angstaffect keine lluhe. Er wandert Tag und Nacht umher und jammert Tage und Wochen lang. Man bezeichnet dies als ilie motorische Agitation der Angst. Oft kommt es zu sinnlosen Flucht- versuchen. Uugemein haufig versucht der Kranke durch Selhstmord seine Qual zu beeuden. Eine scheinbar vollige motorische Hemraung eines geiingstigten Kranken kann plotzlicb von einem rascben Selbst- mordversucb unterbrocben werden. In anderen Fallen entladt sich die Angst in Gewaltthaten gegen die Umgebung, so namentlich in plotz- licher Brandstiftung oder auch in Todtung der eigenen Kinder. Andere Kranke versuchen durch Ahioholexcesse ihre Angst zu betauben. Auch excessive Onanie wird namentlich bei weiblichen Kranken in Zu- standen heftigster Angst beobachtet.

Die Wirkung der Apathie auf das Handeln ist sehr verschieden, je nachdem es sich um ein generelles oder um ein partielles Fehlen der Gefiihlstone handelt. Sind alle Gefiihlstone gleichmassig ausgeblieben bezw. verloren gegangen, so ist das Handeln auf ein Minimum reducirt. Handlungen kommen, wie die normale Psychologie lehrt, nur dann zu Stande, wenn Bevvegungsvorstellungen mit positiveu Gefiihlstonen vor- handen sind. Bei der Depression bleiben Handlungen deshalb aus, weil in Folge der allgemeinen Irradiation negativer Gefiihlstone alle oder fast alle Bewegungsvorstellungen von negativen Gefiihlstonen be- gleitet sind, bei der allgemeinen Apathie bleiben sie aus, weil alle oder fast alle Bewegungsvorstellungen iiberhaupt jedes Gefiiblstons ent- bebren. Man kann die Bewegungstragbeit der Apathie, da sie sich fast stets auch mit einer allgemeinen Associationstriigbeit verkniipft, auch als a p a t b i s c b e n motoriscben Stupor bezeicbnen.

Ganz anders wirkt das partielle Fehlen der Gefiihlstone, wde wu* es in typischer Form bei dem angeborenen und erworbenen Scbwacb- sinn finden. Hier sind speciell die Gefiihlstone der complicirteren, d. b. der abstracteren Begriffe nicbt zur Ausbildung gelangt (angeborener Scbwacbsinn) oder verloren gegangen (erworbener Schwacbsinn). Fiir die Handlungen der Kranken kommt am moisten das Fehlen der Gefiihlstone der ethiscben Begriffe in Betracbt. Wo diese fehlen, ist das Handeln ganz auf egoistiscbe Interesseu eiugeengt und Strafhandlungen Thiir und Thor geoffnet. Oben wurde das Beispiel eines Kranken angefiibrt, welcber eine Ubr stieblt, weil ibm der Begriff

Storungen des Handelns.

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des Eigen thiims iiberhaupt fehlt: es kommt ihm gar niclit zum Bewusst- sein, dass er an fremdem Eigenthum sicli vergreift. Es giebt andere Kranke, welcbe man ebenfalls zii den Scliwacbsinnigen recbnet, welcbe den Begriff des ,,Mein imd Dein^^ sehr wobl besitzen, aber diesen Eigentbumsbegriff mit keinem der normalen Gefliblstone begleiten. So geht diesen Kranken z. B. das Gefiihl der Acbtung vor fremdem Eigen- thum vollig ab, und dieser Defect der complicirten ethischen oder, wie man auch sageu konnte, altruistischen oder socialen Gefiiblstone fiihrt ganz ebenso zum Diebstahl wie der Defect der beziiglichen Begriffe selbst. Diese ludividuen wissen wobl, dass sie sich an fremdem Eigen- thum vergreifen, aber sie fiihlen nicht und konnen nicht fiihlen, dass dies Unrecht ist. Hieraus erhellt auch, wodurch sich diese Individuen yon dem geistesgesunden Verbrecher unterscheiden. Der letztere stiehlt, obwohl er weiss, dass er sich an fremdem Eigenthum vergreift, und obwohl er fiihlt, dass dies Unrecht ist.

Des Einflusses der pathologischen Zornmiithigkeit auf das Handeln wurde schon friiher gelegentlich gedacht. Der Zornige ist zunachst wie gebunden: sprachlos und bewegungslos starrt er uin sich. Auf diese anfangliche Hemmung erfolgt dann eine urn so jiihere, geradezu explo- sive motorische Entladung. Die schwersten Gewaltthatigkeiten gegen die Umgebung Ibsen plotzlich die anfangliche Hemmung ab. Diese motorische Agitation des Zorns kann sich schliesslich auch gegen leblose Gegen- stande richten und in blindem Zerstbren aussern.

Die pathologische Labilitat der Stimmung bedingt eine ganz aualoge Labilitat der Handlungsweise. Der Kranke geht mitunter binnen wenigen Minuten auf ein Scherzwort des Arztes bin aus huitem Jammern in ein iibermuthig lustiges Gebahren liber. Auch die L a u n e n - haftigkeit der Stimmung, welcbe friiher geschildert wurde, fiihrt in ganz analoger, leicht verstandlicher Weise zu entsprechenden Schwankungen des Handelns des Kranken.

Einen ganz speciellen charakteristischen Einfluss haben endlicli alle Affecteund namentlich die pathologischen Aifecte auf die Gesticulation, das Mienenspiel und die Sprechweise, kurz auf die sogenannten Ausdrucks- bewegungen. Speciell das Mieneuspiel oder der Gesichtsausdruck des Geisteskranken bietet oft die wichtigsten diagnostischen Anhaltspunkte, so namentlich in alien denjenigen Fallen, wo die Kranken sich sprach- lich fast garnicht aussern. Da jedem Affect und jeder Aifectstbrung i eine ganz bestimmte Gesticulation, ein bestimmter Gesichtsausdruck und ' eine bestimmte Sprechweise zukommt, so gewahrt das Studium der Aus- drucksbewegungen dem Erfahrenen einen ungemein sicheren Einblick in die psychischen Vorgiinge des Kranken und giebt die besten Fingerzeige,

! in welcher Richtung Fragen an den Kranken zu stellen sind. Im Fol-

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genflen sollen die Ausdrucksbewegungen der wiclitigsten Affecte kurz aufgefiihrt werden.

1. Ausdrucksbewegungen der Depression. Die Gesticu- lation der einfachen Depression ist auf ein Minimum reducirt. Die Musculatur des Kumpfes und der Extremitaten Imfindet sich meist in volliger Resolution. Die Arme liiingen sclilaff an der Seite lierunter, die Hilnde sind oft schlaff auf dem Scboosse gefaltet. Der Kopf folgt der Schwere: sitzt der Kranke, so ist er auf die Brust berabge- sunken; liegt er, so rubt er schwer auf den Kissen. Alles Mienenspiel ist erloschen. Die Augen sind gesenkt. Hire Achsen convergiren meist ziemlich stark. Der Unterkiefer bangt schlaff herab. Die Mundwinkel sind durch den Musculus triangularis menti (depressor anguli oris) ab- warts gezogen. Die Augeuspalteu sind etwas verengert durch Contrac- tion des M. orbicularis oculi. Im Ganzen sind die Augenbrauen daher etwas nach unten verschoben. Nur ihre medialen Enden sind meist stark in die Kobe gezogen. Es berubt dies darauf, dass an der all- gemeinen Contraction des M. orbicularis oculi sich aucb diejenigen seiuer Fasern betbeiligen, welcbe in medialer Ricbtung aus dem Ver- band des Ringmuskels austreten und sich mit den Urspriingen des M. frontalis verflechten, und dass zugleicb der M. frontalis in seinen mittleren Abscbnitten stark contrahirt ist. Man bezeicbnet die eben erwabnten Fasern des Orbicularmuskels aucb als M. corrugator super- cilii. Die Wirkung des Corrugator gebt dahin, die Haut der Nasen- wurzel in senkrecbte Falten zu legen und das mediale Ende der Augen- braue der Nasenwurzel zu nabern. Die gleicbzeitige Contraction des M. frontalis legt die Stirn in senkrecbte Falten. Dabei wird die Augen- braue im Ganzen nicbt aufwarts gezogen, da die Contraction des Orbi- cularis oculi, wie erwabnt, entgegenwirkt und sogar eine leichte \er- scbiebung nacb abwarts bedingt. Nur das mediale Ende der Augenbraue vermag in Folge des abweicbenden Verlaufs der Corrugatorfasern des Orbicularis dem Zug des M. frontalis nacb oben zu folgen. So entstebt die fiir den Gesicbtsausdruck der Depression cbarakteristiscbe aufwarts gericbtete Abbiegung der Augenbrauen an ibren medialen Enden. Mitunter ist die Contraction des Musculus frontalis auf die medialen Bundel bescbrankt; dann erscheint die iibrige Stirn ungefurcbt, und nur in der Stirnmitte sieht man iiber den seukrecbten von der Nasenwurzel aufsteigenden Runzeln 4 5 borizontale burcben. In auderen Fallen ist er in seiner ganzen Breite contrahirt : dann durcbzieben borizontale leicbt gescbwungene Furcben die ganze Stirn. In der Mittellinie sind dieselben oft unterbrocben und gewdbnlicb biegen ihre medialen Enden bier nach unten etwas ab.

Die Augen sind meist tbraueulos. Vbele soldier Krauken klagen

Storungen des Handelns.

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o'eradezu, class sie niclit weinen konnten. Die Secretion cler Thranen- driisen ist in vielen Fallen geradezu patliologisch lierabgesetzt. Die Augen ersclieinen dalier eigentliiimlicli glanzlos.

Auf diese Storungen der Driisensecretion, sowie auf die Storungen der Respiration und Circulation wire! an anderer Stelle zuriickzu- kommen sein.

Die Sprecliweise der Depression ist ebenfalls meist sebr ebarakte- ristisch veraudert. Die Kranken sind stuinm oder sprechen unbdrbar leise. Die Phonation ist so abgescbwacbt, class ein Kehlkopfleiden vor- getauscht werden kaun. Zwiseben den einzelnen Worten und zuweilen aucb zwiseben den einzelnen Silben macben die Kranken lange Pausen. Zuweilen kommt es nur zu abortiven lautlosen Lippenbeweguugen. Wenn eine Kranke laut jammert, so deutet dies stets darauf, dass nocb mebr vorliegt als eine einfacbe Depression.

2. Ausdrucksbewegungen der Angst. In der Angst, ist die gesainmte Korpermusculatur mebr oder weniger gespannt. Diese Span- nung kann eine ganz gleicbmassige sein: die Kranken sitzen, liegen oder steben dann Page und Monate ganz regungslos. Haufiger treten in der gespannten Korpermusculatur die Gesticulationen der Angst, die sogenannten Angstbewegungen auf: die Beine werden bald angezogen, bald gestreckt. Der Leib ist oft tief eingezogen. Der Oberkorper wircl bald in frontaler, bald in sagittaler Ricbtiing bin- und bergewiegt. Die Arme sind meist in alien Gelenken gebeligt. Seltener sind die Hiinde starr gefaltet. Oefter ringen die Kranke die Hande oder zupfen an den Fingerbeeren. Viele nagen aucb in ibrer Angst an den Fiugern und Nageln. Andere zerkratzen sicb am ganzen Korper (ohne Pariistbe- sien). Die Mannicbfaltigkeit dieser Angstbewegungen der Hande ist ausser- ordentlicb gross. Im Gesiebt fallen die weit aufgerisseuen Augen auf. Die Bulbi treten weit vor. Die Stirn ist tief borizontal gefurebt; an cler Nasenwurzel vermisst man selten einige senkreebte Furcben. Die meclialen Enclen cler Augenbrauen sind nacb oben, die Mundwinkel nacb unten gezogen abnlicb wie bei cler einfacben Depression. Der Kopf ist baufig leiebt riickwarts gebogen. Die Nasenlocber sind meist er- weitert, die Nasenflugel geboben. Die Atbmung ist ausserst unregel- massig: rasebe oberflacblicbe Atbemziige werden ab und zu von volligem Atbemstillstand oder einem tiefen langgezogenen Aufatbmen nnterbroeben. Die Spracbe ist abgesetzt, mitnuter fast skandirencl. In den Fallen, wo aucb bez. cler iibrigen Korpermusculatur cler einfacb bemmende Einfluss der Angst vorberrsebt, also einfacbe Spannung cler Korper- muskeln obne Agitation bestebt, pflegt aucb die Spracbe vollig gebemmt zu sein: cler Kranke antwortet gar niebt oder mit abortiven Lippen- bewegungen. Wo cler agitirende Einfluss cler Angst vorberrsebt, kommt

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Storungen des Handelns.

es zu stundenlangem, meist selir monotouem Jammern. Zu Thranen koramt es aucli bei der Angst in der Kegel niclit. Ab und zu fallt in dem Jammern ein leiclit singender Tonfall auf. In der liochsten Angst folgen die mit explosiver Gewalt die Hemmung durcbbrechenden spracli- lichen Aeusserungen sehr rascb aufeinander und werden scbreiend laut.

Bisher war nur von solclien Angstzustiinden die Rede, bei welchen der Kranke wenigstens liegen oder sitzen zu bleiben vermag. Bei den lieftigeren Formen der agitirten Angst irrt der Kranke ruhelos umber, Stundenlang lauft er bald an’s Fenster, bald kniet-er nieder, bald driingt er zur Thiir. Dabei reisst er sich die Haare aus, wiiblt die Betten auf, verstellt die Mobel u. dgl. mehr. Diese complicirteren Ausdrucks- bewegungen der Angst geben ganz fliessend in die Angstbandlungen (sinnlose Flucbt, Selbstmord, Gewalttbat gegen die Umgebung, z. B. Brandstiftung u. s. w.) iiber, welcbe oben bereits erwabnt warden.

3. Aus d ruck shew eg ungen der Heiterkeit. Der Heitere ist in Bewegung. Er gestikulirt lebbaft. Die Stirn ist glatt. Der M. orbicularis oculi ist namentlicb in seinem unteren Abscbnitt stark contrabirt, sodass die Haut auf der Scblilfe in Falten gelegt ist, welcbe strablenformig vom lateralen Augenwinkel divergiren. Die medialen Enden der Augenbrauen weicben eber etwas nacb unten ab. Der reicb- licberen Thranensecretion verdanken die Augen ibren Glanz. Die Mund- winkel sind lateral- und aufwarts verzogen, die Nasolabialfalten vertieft, die Waugen starker vorgewolbt. In Folge der Hebung der Oberlippe wil’d zuweilen die obere Zabnreibe etwas entblosst. Das gauze Gesicbt bekommt so einen lacbelnden Ausdruck. Oft kommt dazu ein wirk- 1 idles Lacben d. b. eine Reibe kurzer kloniscber Zwercbfellcontractionen im Anscbluss an eine tiefe Inspiration. Die Sprecbweise der beitcren Exaltation ist ebenfalls eine ganz typiscbe. Die Worte fliegen rascb (Logorrboe) ; oft lliessen gewablte Ausdriicke oder Reime mit unter. Die Interpunktionen werden oft garnicbt durcb entsprecbende Pausen markirt.

4. Aus d rue ksbeweg ungen des Zorns. Dieselben sind niebt so constant wie diejenigen der Depression, der Angst und der Exal- tation. In der Regel ist die gesammte Kbrpermusculatur gespannt. Die Zabne sind fest aufeinander gescblossen. Zuweilen kommt es zu Zabneknirseben. Ober- und Unterlippe wird oft leiebt zuruckgezogen, so dass die Zilbne entblosst werden. Auf der Stirn berrseben senk- reebte Falten in der Gegend der Nasenwurzel vor. Der Orbi- cularis oculi wird namentlicb in seinem oberen Tbeile contrabiert. Der Kopf wird bald zuriickgeworfen , bald aucb stark vorgebeugt. Die Anne sind meist in alien Gelenken gebeugt, die Hande biiubg zur Faust geballt. Die ganze Stellung vernibt die Bereitsebatt zum .Angriil,

Sf6rnngen”cles Handelns.

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In clen scliwersten Graden des Zorns kommt es entweder zu wirldichen Angrilfen, also zu den oben erwalinten Zornliandlungen des Zerstorens, welclie man aucli als Tobsiicbt bezeiclinet, oder es kommt zu einer krampfartigen Steigerung der Ausdrucksbewegungen des Zorns, der Kranke wirft sicb zu Boden, schlagt, tritt und beisst riicksiclitslos um sicli und stbsst gellende unarticulirte Scbreie aus. Man bezeichnet der- artige „Anfalle^^ gesteigerter Ausdrucksbewegungen auch als Affect- krisen. Die Erinnerung der Kranken fiir solche Afiectkrisen ist oft nacbtraglicb sebr liickenbaft oder auch ganz aufgehoben.

5. Fiir die Apathie ist die vbllige Eesolution sammtlicher Korper- muskeln einschliesslich der Muskeln des Gesichts charakteristisch. Die Wangen scheinen schlaff herunter zu hangen. Die Haltung von Kopf und Gliedern ist wesentlich durch die Schwerkraft bestimmt. Der Rumpf erscbeint zusammengesunken. Der Mund ist oft halb geoffnet, da der Unterkiefer schlaff herabhangt. Das Herabhangen der oberen Eider kann geradezu eine Ptosis vortauschen. Am liebsten lie gen die Kranken. In vielen Fallen ist der Kranke zunachst von einem Schlafen- den kaum zu unterscheiden. Erst, indem man vorsichtig die oberen Augenlider emporhebt, lasst sich unterscheiden, ob Schlaf oder die schlafife Haltung der Apathie vorliegt. Bei dem Schlafenden sind die Pupillen stark verengt und erweitern sich, sobald bei dem Oeffnen des Auges der Kranke erwacht. Bei dem Scheinschlaf des Apathischen findet man die Pupillen meist mittelweit und beobachtet eine deutliche Verengerung, *) sobald bei dem Oeffnen des Auges Licht in dasselbe fallt.

6. Bei der Labilitat der Affecte beobachtet man ab und zu, dass der Gesichtsausdruck den Schwankungen der Affecte nicht mit gleicher Geschwindigkeit zu folgen vermag. Es kommt dabei zu einem eigenartigen gemischten Gesichtsausdruck, den man als Lachweinen bezeichnet. Oefter entspricht iibrigens diesem sog. Lachweinen auch eine thatsachliche Coexistenz heiterer und trauriger Vorstellungen.

0. Handlungen, bedingt durch Storungen der Ideenassociation.

Weitaus am wichtigsten ist der Einfluss der allgem einen oder formal en Storungen der Ideenassociation, also der Beschleunigung, Verlangsamung und Incoharenz der Association auf die Bewegungen bezw. das Handeln. Die Uebertragung der corticalen Erregung aus den Gebieten der Empfindungs- und Vorstellungselemente in die motorische I Region ist nur eine Theilerscheinung, nur das Schlussglied des ganzen Associationsvorgangs und folgt denselben Gesetzen und zeigt dieselben Storungen wie die ganze iibrige Ideenassociation.

*) Bei dem ScUafenden, den man weckt, tritt diese auf die Belichtung zurllck- :Zuflihrende Verengerung erst nach der anfanglichen Erweiterung ein.

Ziehen, Psychiatrie. -in

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Storungen des Handelns.

1. Beschleunigung dor motorischen Actionen.

Die Besclileimigung der motorischen Actionen ist eine Theiler- I sclieinung der allgeineinen Beschleunigung der corticalen Association t und sonach ein coordinirtes Symptom oder Corollarsymptom der friiher I besprochenen Ideenducht. Wie diese heruht sie wahrscheinlich weniger I auf einer Steigerung der Leituugsfahigkeit der in Betracht kommenden I Associationsbahnen als auf einer Steigerung der Erregbarkeit der in ^ Betracht kommenden Zellen selbst. Man bezeicbnet die Beschleunigung der motorischen Entladungen auch kurz als ,,motorische Agitation^ oder auch als „krankhaften Bewegungsdrang", In den leichtesten Graden aussert sich derselbe in einer abnormen Gesprachigkeit und einem ge- steigerten Mienenspiel. In den hoheren Graden kommt es zu einem ununterhrochenen, oft enorm raschen Sprechen, welches man als Logorrhoe i bezeicbnet. Die Stimme wird oft schre'ieud laut. An Stelle der ein- fachen Steigerung des Mienenspiels tritt oft ein excessives Grimassiren , (namentlich bei jugendlicben Kranken). Ebenso ist die Gesticulation ab- norm gesteigert. Die Kranken fabreu, wiibrend sie sprechen, rubelos mit den Armen umber. Nocb ausgesprocbener als auf dem Gebiet dieser Ausdrucksbewegungen zeigt sich der Einfluss der allgemeinen ; Beschleunigung der corticalen Associationen auf dem Gebiet der sog. willkurlicbeu Beweguugen. Die Kranken konnen nicbt still sitzen. i Immer wieder springen sie auf und wandern umber. Der Scbritt nimmt oft eiuen leicbt biipfenden, tiinzelnden Cbarakter an, namentlich bei weib- i lichen Individuen. Ausserbalb der Anstalt streifen die Kranken tage- ' king umber. Mitunter kommt es zu ausgesprocbener Vagabundage. Die Kranken sind ubergescbaftig\ Sie beginneu tausenderlei Arbeiten mit |i grossem Uebereifer und patbologiscber Hast, um eine jede nacb kurzer ! Zeit wieder liegen zu lasseu. Ein willkommenes keld fiir den Bewegungs- i drang der Kranken namentlich weiblicber Individuen bictet auch die Toilette. Die Kranken nesteln viel in ibrem Haar, drei-, viermal a taglicb wecbseln sie die Frisur, fortwabrend zieben sie sich an und aus. |

Die scbwersten Grade der motorischen Agitation bezeicbnet man t auch als Tobsucbt. Aebnlicb wie die Ideenflucbt in ibren bocbsten f Graden zu der friiher bescbriebenen secuudaren lucobarenz fiilirt, so i verlieren auch die Beweguugen der Kranken scbliesslicb ibren Zu- I sammenbang sowobl unter sich, wie mit den gleicbzeitigen und voraus- f gegangenen Vorstellungen. Es kommt zu unarticulirtem Scbieieu und j sinnlosem Grimassenscbneiden. Die Kranken laufeu ziellos umber, I scbiessen Purzelbiiume, springen in die Luft, tanzen, wiilzen und werfen I sich auf dem Boden biu und her. Weiter iiussert sich der patbologiscbe j excessive Bewegungsdrang darin, dass die Kranken sich eutkleiden, ibie I

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Kleider zerreissen, die Betteii ausriiumen, Mdbel zertriimmerii, an den Thiiren poltern n. dgl. inelir. Im Verkelir init anderen Personen werden die Kranken jetzt sehr leiclit liandgreiflicli und selbst aggressiv. Eiu kleiuer Keiz geniigt, urn eine scbwere Gewalttbat bervorzurufen.

Man imtersclieidet ganz entsprecbend der Eintheilung der Be- scbleunignng der I d e e n association folgende Formen der Bescbleu- nignng der motorisclien Actionen:

1. Den prim Lire n Bewegungsdrang ; derselbe entspricbt der pri- miiren Ideenflncbt imd kommt fast stets zusammen, init ihr vor. Nur bei organiscben Riudenerkrankungen (Dementia paralytica etc.) findet man, wabrsclieiulich entsprecbend der vorwiegenden Localisation des als Reiz wirkenden Krankbeitsprocesses in der motoriscben Region, of ter aucb Agitation o b n e entsprecbende Rleenflucbt. Er ist dadurcb definirt, dass er Tbeilerscbeinung einer allgemeinen Bescbleunigung der corticalen Associationen ist, welcbe auf andere psycbopatbiscbe Symptome nicbt zuriickgeflibrt werden kann. Zuni p rim are n Bewegungsdrang recbnet man aucb den Bewegungsdrang, welcber vergesellscbaftet mit beitrer Verstimmung und in einer gewissen Abbiingigkeit von derselben bei vielen Psycbosen (Manie, ideenfllicbtige Form der Paranoia, Exaltations- stadium der Dementia paralytica) vorkommt.

2. Den secundilren Bewegungsdrang. Dieser kann seinerseits die Folge sein:

a. gebaufter Hallucinationen (ballucinatoriscbe Agitation), seltener gebaufter Wabnvorstellimgen,

b. gesteigerter Affect e (affective Agitation). Es Avurde scbon mebrmals erwabnt, dass die Affecte mit positivem Vorzeicben im Allge- meinen die corticalen Associationen und somit aucb die motoriscben Entladungen bescbleunigen , vermebren und steigern. Besonders gilt dies von der einfacben Exaltation. Allerdings wurde scbon oben ber- vorgeboben, dass die motoriscbe Agitation, Avelcbe Avir so oft neben einer ausgesprocbenen primaren Exaltation finden, in vielen Fallen auf Grund des ganzen Krankbeitsverlaufs nicbt einfacb als Secundarsymptom auf die Exaltation zuruckgefiibrt werden kann, sondern der Exaltation coordinirt ist und somit ebenfalls als prim ares Krankheitssymptom angeseben Averden muss. In anderen Fallen ist unzAveifelbaft die motoriscbe Agitation eine directe Fol g eerscbeinung der beiteren Ver- stimmung : sie entstebt im Gefolge der letzteren, nimmt parallel mit der- selben zu und ab und scbwindet zugleicb mit ibr. Aucb Zorn und Angst konnen, Avie die frliberen Erbrterungen ergeben, gelegentlicb zu motorischer Agitation Anlass geben. Docb bandelt es sich bei diesen Affecten nicbt um eine all gem eine Bescbleunigung der motoriscben Entladungen, sondern um eigenartig gemiscbte Beeinflussungen des

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Stornngen des llandelns.

llandelns. Bei tier Angst findet man neben den Angstbewegungen und Angstbandlungen, deren Schnelligkeit und Lebhaftigkeit oft eine allge- meine motorische Agitation vortauschen kann, im Uebrigen die der Angst zukommende motorische Hemmung. Ebenso ist bei dem Zorn die schliessliche Entladung bez. ihrer Schnelligkeit und Intensitat von den Entladungen der einfachen allgemeinen motorischen Agitation, wie wir dieselben oben beschrieben haben, oft kaum verschieden; aber aus der Hemmung, welche der explosiven Entladung des Zorns vorangeht, und aus der eigenartigen Resolution, welche ihr nachfolgt, lasst sich leicht erkennen, class die einfache allgemeine Beschleunigung der motorischen Actionen, welche wir jetzt im Auge haben, nicht vorliegt.

Die Unterscheidung der primaren und secundaren Agitation ist nur auf Grund genauer Beobachtung moglich. Man wire! sich bei jedem motorisch erregten Kranken vor allem , zunachst die Frage vorlegen miissen:

a. Bestehen Hallucinationen und Wahnideen?

b; Bestehen Affectstbrungen ?

und wenn these Fragen zu bejahen sind, wird man sich weiter fragen; Erklart sich die zur Zeit bestehende motorische Agitation in ausreichen- der Weise aus den bestehenden Hallucinationen, Wahnideen oder Affect- storungen? Dabei ist namentlich das Stilrkeverhaltniss der Agitation einerseits und der Hallucinationen, Wahnideen bezw. Affectanomalien andrerseits in Riicksicht zu ziehen. Auch die Reihenfolge der Ent- wicklung der Symptome ist zu beachten. Ergiebt sich, class die nach- gewiesenen Hallucinationen, Wahnvorstellungen resp. Affectanomalien nicht zur Erklarung der clerzeit bestehenden motorischen Agitation aus- reichen, so ist letztere als ganz oder theilweise primar anzusehen. Dabei ist im Auge zu behalten, dass Exaltation und Agitation oft in hohem Grade parallel gehen und doch coordinirt sein kbnnen. Man wil'd bier also trotz grosser und entsprechencler Intensitat der Affect- storung die Agitation sehr oft als primar bezeichnen miissen. Reichen die Hallucinationen und Wahnvorstellungen bezw. die Affectstbrungen zur Erklarung tier bestehenden Agitation aus, so ist letztere als secundiir anzusehen: der Kranke ist „hallucinatorisch erregt" oder „affectiv er- regt^% aber nicht primar motorisch erregt. Die weitere Frage, ob hallucinatorische, wahnhafte oder affective motorische Erregung vorliegt, bietet gemeinhin keine neuen Schwierigkeiten. Hiiufig erweist sich auch, dass die secuncllire motorische Erregung gemischt ist: die Hallucinationen wirken erregend auf das Handeln tier Kranken, insofern sie ihrem Inhalt entsprechend von lebhaften Affecten begleitet sind oder zahlreiche Wahn- vorstellungen anregen.

Storungen des Handelns.

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2. Verlangsamung der motorisohen Actionen.

Die Verlangsamung der motorisclien Actionen ist eine Theilerschei- nung der allgemeinen Verlangsamung der corticalen Associationen und sonach ein Corollarsymptom der friilier besproclienen Denkhemmung. Den Gesammtzustand corticaler Hemmung, welcker sich aus der moto- rischen Hemmung, der Denkhemmung und der friiher erwahnten Apro- sexie zusammensetzt, bezeichnet man auch als Stupor. In den leich- testen Graden aussert sich derselbe in einer gewissen Schwerfalligkeit und Langsamkeit der Bewegungen. Es dauert nicht nur langer, bis der Kranke eine Frage oder einen Befehl (z. B. eine Bewegung auszufuhren) richtig auffasst (==■ Aprosexie und Denkhemmung), sondern die Worte der Antwort werden auch langsamer, oft wie abgesetzt gesprochen und die befohlenen Bewegungen langsamer, wie zbgernd, ausgefiihrt. Mienen- spiel und Gesticulation unterbleiben fast ganz. In dem Handeln des taglichen Lebens erscheinen die Kranken willensschwach und unschliissig (Abulie), oft geradezu rathlos. Die Denkhemmung erschwert schon das Zustandekommen eines Entschlusses im hochsten Maass, aber selbst wenn der Kranke diese gliicklich iiberwunden hat, kommt er in Folge der motorischen Hemmung kaum iiber die ersten Anfange der Ausfuh- rung seines Entschlusses hinaus.

In seinen hoheren Graden weist der motorische Stupor zwei ver- schiedene Formen auf, deren Unterscheidung praktisch zweckmassig ist, wenn auch Uebergangsformen ofter beobachtet werden. Entweder namlich aussert sich die motorische Hemmung in einer volligen Resolution der Korpermusculatur oder in einer gleichmassigen sog. katatonischen Spannung derselben, welche man auch als Attonitiit bezeichnet. Endlich beobachtet man zuweilen als Ausdruck der motorischen Hemmung auch die Einschrankung der willkiirlichen Bewegungen auf einige wenige stunden-, tage- und monatelang stereotyp sich fortwahrend wieder- holende Bewegungen. Man bezeichnet solche Bewegungen auch als katatonische. Alle 3 Formen der motorischen Hemmung sollen im Folgenden getrennt besprochen werden.

Die Resolution kann solche Grade erreichen, dass der Kranke monatelang kein Glied riihrt. Der Unterkiefer hangt meist schlaff herab. Passive Bewegungen der Extremitaten stossen auf keinen Wider- stand. Erhebt man den Arm und lasst ihn wieder los, so fallt er schwer, wie leblos, auf die Unterlage zuriick. Die Augen sind meist geschlossen, doch begegnet die Hebung des oberen Lids keinem Wider- stand: auch der Levator palpebrae ist an der allgemeinen Resolution betheiligt. Mitunter unterbricht die Nahrungsaufnahme vorlibergehend die Resolution, d. h. der Kranke isst wenigstens spontan. In anderen

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Stfirungen des Ilandelns.

Fallen Icommt es zu Abstinenz : der Kranke sitzt nicht anfreclit, und wenn man ilm stiitzt und ihm eine Fliissigkeit einflosst, lasst er dieselbe aus den Mimdwinkeln wieder ausfliessen. Auch Koth und Urin lassen viele Kranke unter sich. Sie waseben und kiimmen sich nicht selbst. Audi Starke Schmerzreize losen oft kaum ein Blinzeln aus.

Die einfache katatonische Spannuug fixirt den Rumpf und die Extremitiiten des Kranken, je naebdem diese oder jene Muskel- gruppe besonders stark contrabirt ist, in den versebiedensteu Stellungen. Raid berrsebt der Flexionstypus, bald der Extensionstypus vor, bald sind Flexionen und Extensionen, Pronationen und Supinationen und Rota- tionen in sebr complicirter Weise gemisebt, so dass die eigentblimlicb- sten bizarren Stellungen entsteben. So ist z. B. auf Fig. 4 (Tafel am Scbluss des Buebes) eine solcbe katatonisebe Stellung abgebildet, welcbe die Kranke monatelang fast ununterbroeben beibebielt. Die Augen sind bald fest gescblossen, bald oifen und dann entweder mit den Axen parallel gestellt oder auch auf einen Punkt in’s Deere, seltener auf ein wirklicbes Object gerichtet. Die Kiefer sind oft fest aufeinander ge- presst. Alle passiven Bewegungen stossen auf erheblicben Widerstand. Meist bat man bei dem Versuch, eine passive Bewegung auszufiibren, direct das Gefubl, dass die Spannung der Musculatur um so grosser wird, je mebr Kraft man aufwendet, die Lage und Stellung der Glieder zu verandern. Hat man sebliesslieb docb gewaltsam eine passive Bewegung durcbgesetzt und lasst nun los, so kebren die Glieder bald ruckweise, bald langsamer in ihre urspriinglicbe Stellung zuriick. Aucb bier kommt es oft zu Abstinenz, Einnassen und Kotbverunreinigung. Schmerzreize, z. B. tiefe Nadelstiche, losen meist hoebstens ein momentanes Z^viukern der Augenlider aus. Selbst auf lauten Anruf reagiren die Kranken nicht, gesebweige denn auf gewobnlicbes Fragen. Es bestebt also ebenso wie bei der Resolution „Mutismus^^

Nabe verwandt mit der einfacben katatoniseben Spannung ist die sog. Flexibilitas cere a. Aucb bier nimmt der Korper des Kranken eine gewisse Dauerstellung ein, die Spannung der Korpermusculatur ist eine sebr unerbeblicbe. Passive Bewegungen begegnen keinem grosseren Widerstand als die Hand des Kiinstlers, der Thon oder Wacbs zu Figuren knetet. Hat man durcb passive Bewegung den Gliedern des Kranken eine neue Stellung gegeben, so verbarren dieselben nun in dieser neuen Stellung so lange, bis eine neue passive Bewegung vorgenommeu wird Oder Ermudung eintritt. Letzteres pflegt zuweileii selbst bei unbe- quemer, die Muskelkriifte in bohem Maasse in Ansprucb nebmender Stellung erst nach 3—4 Stunden einzutreten. Zeiebnet man die myo- grapbisebe Curve eines in soldier Sebwebe befindlicben Armes auf eiuer rotirendeu Trommel auf, so fallt oft die Abwesenbeit aller erbeblicbereu

StOriingen des Ilandelns.

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Zitterbewegungen auf. Gegeniiber Siraulatiousversuchen llisst sich diese Tliatsaclie oft mit Erfolg verwerthen. Nicht verwechselt werden darf die ebeii bescliriebenc Flexibilitas cerea mit der katatonischen Stellung mancber Kranken, welche willkiirlich, d. li. auf Grimd bestimmter Vor- stelluugen, den passiven Bewegimgen laugsam nacbgeben iind willkiirlich die durcli die passive Bewegung herbeigefiihrte Haltimg beibehalten. ilan erkennt diese ,,Pseudoflexibilitas cerea^' meist leicht daran, dass die Kranken die passive Bewegung nicht einfach initmachen, sondern in Folge des willkiirlichen Mitinnervirens der passiven Bewegung etwas vorauseilen nnd zuweilen auch dieselbe etwas modificiren.

Die stereotypen oder katatonischen Bewegungen bestehen, soweit sie auf motorische Hemmung zm’uckzufiihren sind, bald in ein- fachem Wiegen des Bumpfes (in frontaler oder sagittaler Ebene) oder in fortwiilirenden Drehungen des Kopfes oder Bumpfes. Mituuter kommt es zu stundenlangem Kreisdrehen oder auch zu stundenlangen Beitbahn- bewegungen. Dieselben sind mit den friiher erwahnten Angstbewegungen oder mit den spiiter zu erwahuenden Zwangsbeweguugen, welchen sie in hohem Maasse ahneln und zu welchen fliessende Uebergange existiren, nicht zu verwechseln. Dass diesen Wiege- und Drehbewegungen wirklich Hemmungen zu Grunde liegeu, ergiebt sich daraus, dass auch bei Nach- lass der stereotypen Bewegungen anderweitige willkiirliche Bewegungen garnicht oder nur ausserst langsam vollzogen werden.

Hinsichtlich der Genese unterscheidet man folgende Formen der motorischen Hemmung :

1. Die primare motorische Hemmung (Hemmung s. str.). Dieselbe entspricht der primaren Denkhemniung und kommt fast stets zusammen mit ihr vor. Sie ist die Theilerscheinung einer allgemeinen Verlangsamung der corticalen Associationen, welche auf andere psycho- pathische Symptome nicht zurlickgefiihrt werden kann. Oft tritt sie vergesellschaftet und coordinirt mit Depression und Angst auf (so z. B. bei der Melancholie, bei der stuporosen Form der Paranoia, im Depressions- stadium der Dementia paralytica). Da sich meist die Hemmung nicht ausreichend als einfache Folgeerscheinung der Depression und Angst erklaren lasst , viehnehr zwischen beiden eine eigenartige Wechsel- beziehung besteht, rechnet man diese Hemmung noch zur primaren Hemmung. -- Die primare Hemmung aussert sich meist in einfacher Besolution oder sehr einfachen katatonischen Spannungszustanden ; zuweilen findet sich Flexibilitas cerea.

2. Die secundare motorische Hemmung (unechte Hemmung, Pseud os tup or). Diese kann die Folge seiu

a. bestimmter Hallucinationen, so uanientlich imperativer Akoasmen eine Stiuime ruft dem Kranken zu: riihre dich nicht

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Storungen des Ilandolns.

ferner fascinirender Hallucinationen - der Pdick des Kranken wird durch liimndisclie Visioneu gefesselt , desgl. gewisser sclireckhafter Hallucinationen der Kranke sielit aufgethiirmte, sturzdrohende i\la- scliinen oder jalie Abgriinde um sicli , endlich namcntlich aucli ge- wisser Bewegungshallucinationen der Kranke sucht vermeintliclie, liallucinatoriscli empfundene Bewegiingen durcli Einnehmen bestiinmter Stellungen zii compensiren.

b. bestinimter W a bn v or stellungen. So kann die Wahnvor- stellung: „wenn icb mich riibre, muss icb sterben^^ oder „wenn ich mich riihre, kommen 1000 Seelen um ibre bimmliscbe Seligkeit^^ und abnlicbes zu einer ausgesprocbenen secundaren motoriscben Gebundenbeit aucb obne Eingreifen irgend einer Hallucination fiibren.

c. bestimmter Affect e. Es wurde scbon mebrfacb bervorge- boben, dass Affecte mit negativen Vorzeicben und zwar speciell die ein- facbe Depression und die Angst im Allgemeinen die corticalen Associa- tionen verlangsamen, vermindern und abscbwiicben. Aucb wurde bereits erwiibnt, dass die Angst ausser motoriscber Hemmung zuweilen aucb motoriscbe Agitation bervorrufen kann. Dabei wurde jedocb aucb betont, dass in vielen Fallen die motoriscbe Hemmung nicbt einfacb abbangig ist von der Affectstorung, sondern ibr bis zu einem gewissen Grade coordinirt ist, und dass man in solcben Fallen die motoriscbe Hemmung nocb als primar auffasst. Aucb die Hemmung, welcbe der Zorn voi- der explosiven Entladung zeigt, fand bereits Erwabnung.

d. des angeborenen und erworbenen Scbwacbsinns. Der Defect an Erinnerungsbildern und associativen Verknupfungen bedingt bei dem Scbwacbsinnigen nicbt nur eine patbologiscbe Langsamkeit der Ueberlegung, sondern aucb eine patbologiscbe Langsamkeit des Handelns.

Die Unterscbeidung der primaren und secundaren motoriscben Hemmung erfolgt nacb ganz denselben Principien wie die Unterscbeidung zwiscben primarer und secundarer Agitation. Im Besonderen ist nocb zu bemerken, dass diejenige Hemmung, welcbe sicb in Kesolution aussert, fast stets entweder primar oder affectiven Ursprungs ist, und zwar bandelt es sicb in letzterem Falle meist um einfacbe Depression, nicbt um Angst. Die Hemmung der Angst ist meist katatoniscb. Die ballucinatoriscbe Hemmung aussert sicb zuweilen aucb in einfacben katatoniscben Spannungen, ofter jedocb in sebr complicirten „katato- niscben Attituden", wie sie aucb z. B. die obenerwabnte Figur dar- stellt. Praktiscb ist von grosster Bedeutung, dass sowobl die secundare Hemmung der Angst wie die secundare ballucinatoriscbe Hemmung ganz plotzlicb und mitunter nur fiir einige Minuten oder Stuuden von Erregungsanfallen unterbrocben werden konnen. Namentbcb auf plotz- licbe Suicidversucbe und plotzlicbe Gewalttbiitigkeiten muss man bei

Sterungen des Handelns.

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dieseu pseudostuporoseu Zustanden stets gefasst sein. Diese plotzlichen Agitationsziistande liefern zugleich den besten Beweis, dass diese secun- dilren Hemmnngen nicht echte primare allgemeine Hemmungen sind, sondern auf dem einseitigen Dominiren bestimmter pathologiscber Affecte, Empfindimgen oder Wahnvorstelliingen beruben: eine leichte Verscbiebimg dieser Primarstorungen geniigt, die motorische Hemmung zu losen bezw. aiicb in ibr Gegentbeil, in Agitation zu verwandeln.

Pseud oflexi bilitas cerea deutet fast stets auf eine durcb Wabnvorstellungen oder Hallucinationen erzeugte secundare Hemmung. Eclite Flexibi litas cerea ist bei primarer Hemmung haufiger.

Differentialdiognostiscb kommt namentlicb aucli die Unter- scbeidung der Kesolution von dem natiirlicben Scblaf, dem beabsicb- tigten Scbeinscblaf vieler Kranken und endlich dem bysterischen und epileptiscben Scblaf sowie von den Zustanden volliger Bewusstlosigkeit in Betracbt. Die Miosis des naturlicben Scblafs wurde als Unter- scbeidungsmerkmal bereits oben genannt. Im beabsicbtigten Scbein- scblaf verratben sicb die Kranken meist durcb ein leicbtes Blinzeln, eine leicbte Unregelmassigkeit der Kespiration oder ein leicbtes Mit- innervu’en bei passiven Bewegungen. Bei dem bysteriscben Scblaf vermag genauere Beobacbtung fast stets einzelne convulsiviscbe Contractionen zu entdecken. So sind namentlicb die Kaumuskeln, aucb wenn die ganze sonstige Korpermusculatur vollig erscblafft ist, fast stets stark contrabirt. Die Dauer des bysteriscben Scblafanfalls libersteigt selten 48 Stunden. Sebr baufig liefert die Unterbrecbung durcb einen typiscben bysteriscben Krampfanfall oder aucb durcb einfacbe kloniscbe Krampfe voUige diagnostiscbe Klarbeit. Meist gelingt es aucb im bysteriscben Scblafe trotz sonstiger Keactionslosigkeit auf Scbmerzreize einen oder den anderen Punkt (an der Wirbelsaule, unter den Klavikeln, in der Iliacalgegend etc.) zu finden, welcber intensiv druckempfindlicb ist: zuweilen lost Druck auf eine solcbe Stelle sogar einen bysteriscben Anfall aus („bysterogene Zone^^). Bei der einfacben Resolution erleidet die allgemeine Keactionslosigkeit fast niemals solcbe Ausnabmen. Ecbter epileptiscber Scblaf ist sebr selten. Die scblafabnlicben Zustande, welcbe bei Epileptiscben oft vorkommen, sind in der Regel wirklicb stuporbse Zustande im Sinne der oben angegebenen Definition. Endlicb ist die Verwechslung der Resolution mit Zustanden der Bewusstlosigkeit, wie solcbe z. B. bei organiscben Hirnerkrankungen und Meningitis ge- legentlicb vorkommen, durcb eine genaue korperlicbe Untersucbung zu vermeiden.

Die Differentialdiagnose zwiscben der katatoniscben Hemmung und mancben anderweitigen Zustanden allgemeiner oder sebr verbreiteter Muskelcontractionen bietet erbeblicb mebr Scbwierigkeiten. Zunacbst

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SWrungen des Handelns.

wilre auch hier die Verweclislung mit liysterischem Sclilaf moglich, da letzterer niclit nnr in der oben erwiilinten schlaffen Form, sondern auch in der Form eines sehr ausgebreiteten tonischen Krampfes auf'tritt. Audi Flexibilitas cerea (Katalepsie) wird gelegentlicb im hysterischen Schlaf- anfall beobaditet. Differentialdiagnostisch ist man abgeseben von anamnestiscben Erbebungen namentlich auf das Aufsuchen hystero- gener Zonen angewiesen. Beziiglich der Feststellung bysterischer Ante- cedentien oder Symptome ist jedocb besonders zu erwiiliuen, dass bei der Hysterie neben den in Rede stehenden .ecbten Scblafanfallen auch typiscbe Stnporzustande mit katatonischer Spannung vorkommen. Zwiscben diesen hysterischen Stuporzustanden und den hysterischen Scblafzustanden existiren fliessende Uebergange, so dass die in Rede stebende Differentialdiagnose oft gegenstandslos wird. Viel belangreicher ist die Unterscbeiduug der katatoniscben Zustande von den allgemeinen Contracture n, wie sie gelegentlicb bei organise ben Erkrankungen des Centralnervensystems beobaebtet werden. Eolgende Gesiebtspunkte kommen bierbei in Betracbt:*) die organiscb bedingten Contracturen losen sicb im Scblaf gar niebt oder wenigstens niebt vollstaudig, die katatoniscben Spannungen Ibsen sicb im Scblaf vollstaudig. Die orga- niscb bedingten Contracturen balten stets einen sebr einfacben Typus (Elexionstypus, Extensionstypus u. s. w.) ein, wiilirend selbst die einfaebsten katatoniscben Stellungen eine complicirtere Combination nnd Auswabl von Muskelcontractionen aufweisen. Audi giebt eine genaue korperlicbe Untersuebung weitere Anbaltspunkte, ob eine orgauisebe Lasion vorliegt oder niebt. Nur darf man daraus, dass uberbaupt Symptome einer organiseben Erkrankung des Centralnervensystems vorliegen , niebt sofort sebliessen, dass bestebende tonisebe Muskelcontractionen Contrac- turen seieu. Es giebt namlicb Psyebosen, welcbe auf einer organiseben Erkrankung des Centralnervensystems beruben, wie z. B. die Dementia paralytica, Dementia senilis etc., und bald ecbte stuporbse Zustande in katatonischer Form, bald Contracturen zeigen. Man wird also docb stets gezwuugen sein, aus der Bescbalfenbeit, dem Verbalten und der Combination der Muskelcontractionen selbst die Entsebeidung, ob Con- tractur oder katatonisebe Spannung, herziileiten.

*) In manclien Fallen genugt natiirlicli einfach die Aufforderung, Bewegnngen aiiszufuhren, urn Klarbeit zu schaffen : der Kranke mit Contractur maebt dann sichtlicb Versuebe, die aufgetragene Bewegung anszufubren, und iiussert sicb dabin, dass er niebt kdnne, wabrend die Katatoniscben sebweigen und niebt einmal cinen Versucb macben, die Bewegung auszufiibren. In vielen Fallen versagt diese Probe, da Kranke mit Contractur baufig zugleicb psyebiseb krank sind und aus irgend eineiu krank- baften Motiv Befeblen niebt geborcben und sicb spraebUeb niebt aussern, imd da ge- legentlicb aucb Katatonisebe sicb zu bewegen versueben und durch Lispcln odor Mienenspiel zu versteben geben, es sei ibnen unmdglicb.

Storungen des Handelns.

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3. Incoharenz der motor ischen Aetionen.

Die Incoluireuz der motorisclien Aetionen ist eine Theilerselieiuimg der allgemeinen Dissociation, d. li. der allgenieinen Incoharenz der corti- calen Associationen imd sonach ein Corollarsymptom der friiher besproche- uen Incoharenz des Vorstelhmgsablaufs. Man bezeichnet den daraus resul- tirenden Gesammtzustand auch kurz als „Verwirrtheit^h Die Hand- lungen des gesunden Menschen erfolgen in strenger Abhangigkeit von seinen vorausgegangenen resp. gegenwartigen Empfindungen und Vor- stellungen, nnd die aufeinander folgenden Einzelhandlungen stehen ver- nioge gemeinsamer Abhangigkeit von gewissen dominirenden Empfin- dungen und Vorstellungen auch untereinander in erkennbarem Zusam- menhang.*) Diese hochste Coordination, welche den psychisch moti- virten Handlungen des Geistesgesunden zukommt, ist bei vielen Geistes- krankheiten gestort, und eben diese Stoning wird als motorische Inco- harenz bezeichnet. In ihren leichtesten Graden verrath sich dieselbe darin , dass die zusammengesetzten Handlungen der Kranken eigen- thiimlich planlos ausfallen. Auf ihren Spaziergangen irren die Kranken plan- und ziellos umher. Ihr Wandern steht nicht in Einklang mit den Motiven und Zielen, welche ihnen zunachst vorschwebten. Im Hause wenden sie sich von einer Beschaftigung zur andern. Auf dem Gesicht malt sich eine zunehmende Rathlosigkeit. In den hoheren Graden der Inco- harenz erscheint auch die einzelne Handlung fiir sich betrachtet sinn- los, insofern sie nicht in normalem Zusammenhang mit dem Empfindungs- und Vorstellungsleben steht. Da der Kranke an seine Sinnesempfin- dungen ganz falsche Vorstellungen kniipft und , selbst w e n n er rich- tige Vorstellungen ankniipft, doch falsche, d. h. in gar keiner Beziehung zu den Vorstellungen stehende Bewegungen ausfiihrt, so kommt es zu der sog. Parapraxie. Der Kranke gebraucht die einfachsten Gegen- stande falsch: er urinirt in seinen Pantoffel, versucht die Milch mit der Gabel zu essen, kaut Fliissigkeit im Munde, beisst in den eigenen Finger statt in den Bissen, welchen der Finger halt u. s. f. Auch sprachlich werden die Gegenstande falsch bezeichnet. So kommt es zu Paraphasie und Paragraphic. Schliesslich ist auch die Coordination d. h. der associative Verband innerhalb der einzelnen Bewegungen gestort. Der Gang der Kranken wird taumelnd ; sie konnen die gerade Linie nicht mehr einhalten. Bei ihren Armbewegungen greifen sie haufig fehl. Kurzum es kann das Bild einer ausgesprochenen Ataxie (einschliesslich des sog. Pto mb er g ’schen Schwankens) oder auch eine Chorea vorge-

*) Man kann dies auch so formuliren: die Handlungen des Geistesgesunden haben Motive, Plan und Ziel.

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Storungen des Handelns.

tauscht werclen. Die Silben werden nicht mehr richtig zum Wort, die Worter nicht mehr richtig zum Satz zusammengefiigt. Die Kranken versclireiben sich fortwahrend. Auch die mimischen Ausdrucksbewegungen werden in Mitleidenschaft gezogen. Der Gesichtsausdruck entspricht dem Affect nicht mehr. Es kommt zu einem sinnlosen Grimassiren. Die Kranken lachen und jammern ohne Zusammenhang mit Empfin- dungen oder Vorstellnngen von entsprechender Gefiihlsbetonung, ja sogar haufig in directem Widerspruch mit den sprachlich geausserten Empfin- dungen und Vorstellungen. Man bezeichnet diese Theilerscheinung der allgemeinen motorischen Incoharenz auch als Paramimie.

Besonders deutlicli springt dies ganze Bild in die Augen, wenn, wie dies haufig der Fall ist, zu der Zusammenhangslosigkeit der moto- rischen Actionen noch eine pathologische Beschleunigung derselben hin- zukommt oder umgekehrt jene zu dieser. Diesen gemischten Zustand bezeichnet man als incoharente Agitation. Sinnlose Spriinge wech- seln mit riicksichtslosem Hinundherwalzen und ziellosem Hinundherlaufen. Die Kranken greifen in die Luft, schlagen um sich, verschranken die Arme in regellosem Wechsel. Man bezeichnet diese excessiven inco- harenten Bewegungen auch als Jactationen (friiher auch zuweilen als „Chorea magna^^). Mit schreiender Stimme und in raschem Tempo werden zusammenhangslos einzelne Worte, z. T. selbstgemachte sinnlose Silbenzusammenstellungen aneinander gereiht (Verbigeration). Zu dem Grimassiren kommt Zahneknirschen hinzu. Nicht selten beobachtet man auch Fieberbewegungen und bezeichnet in solchen Fallen den ganzen Zustand (Incoharenz + Agitation -f- Temperatm’steigerung) als „Deli- rium*) acutum^^

Man unterscheidet folgende Formen der motorischen Incoharenz;

1. Die prim are motorische Incoharenz. Dieselbe lasst sich eben- so wie die analoge primare Incoharenz des Vorstellungsablaufs auf kein anderweitiges psychopathisches Symptom zuriickfiihren. Sie findet sich am haufigsten bei der sog. incoharenten Form der Paranoia und bei dem epileptischen Irresein sowie gelegentlich bei der Dementia para- lytica**) und senilis.

*) Der Ausdruck „Delirium“ (ddlire) ist in der Psychiatrie in sehr verschiedenen Bedeutungen angewendet worden und wird daher besser vermieden. Meist bezeichnet man als Delirium einen Zustand der Unorientirtheit und Incoharenz mit nachfolgender Amnesie.

**) Dass hier die Incoharenz zuweilen primar und nicht stets auf Schwachsinn, d. h. also auf den definitiven Verlust von Erinnerungsbildern und associativen Ver- knupfungen zuriickzufuhren ist, geht daraus hervor, dass eine solcbe Incoharenz oft nur 6—12 Stunden anhalt, und dann der Status quo ante in jcder Beziehung wiederkehrt;

Stfirungen cles Handelns.

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2. Die se cun cl are motorische Incoharenz. Diese ist eutwecler die Folge von

a. Hallucinationen oder Walinideen, welclie in raschem Anstieg massenhaft auf den Kranken einstlirmen. Jede Hallucination und jede Wahnidee tendirt eine bestiminte Handlung auszulosen. Haufen sicli nun disparate Hallucinationen oder Walinideen in kurzer Frist an, so miissen selbstverstandlicli die motorisclien Actionen ibren Zu- saminenhang vollig verlieren. Die motorischen Associationen als solche siud bier nicbt krankbaft verandert, sondern das Empfindungsmaterial und Vorstellungsmaterial, welcbes sie auslbst, ist patbologiscb, und nur desbalb fallen die Handlungen patbologiscb aus;

oder b) von bocbgradiger Bescbleunigung der corticalen Associationen. Wie die Ideenflucbt zu secundarer Incobilrenz des Vorstellungsablaufs fiibrt, so fiibrt bocbgradige Agitation zu secundarer motoriscber Incobarenz. Am baufigsten wird diese Agitation init secun- darer motoriscber Incobarenz bei der Manie und im Exaltationstadium der Dementia paralytica sowie bei der ideenfliicbtigen Form der Para- noia beobacbtet;

oder c) von mancben Affectstor ungen. So wissen wir nament- licb, dass Angst und Zorn baufig nicbt nur den Vorstellungsablauf, sondern aucb die Uebertragungen in das motoriscbe Gebiet des Zusam- menbangs berauben;

oder endlicb d) von Scbwacbsinn. Aucb der Scbwacbsinnige der Scbwacbsinn sei erworben oder angeboren bandelt oft motivlos, planlos und ziellos. Die Ursacbe ist bier in dem angeborenen Feblen oder in dem Verlust von Erinnerungsbildern und associativen Ver- kniipfungen zu sucben. Diese Form der motoriscben Incobarenz findet ibi’e Besprecbung daber an anderer Stelle.

Beziiglicb der Unterscbeidung der eben aufgefiibrten Formen der motoriscben Incobarenz von einander kann in jeder Beziebung auf das verwiesen werden, was friiber iiber die Diagnose der Incobarenz des Vorstellungsablaufs gesagt worden ist.

An die patbologiscben Handlungen, welcbe durcb allgemeine oder formale Stbrungen der Ideenassociationen zu Stande kommen, sind nunmebr diejenigen anzureiben, welcbe durcb specielle oder inbalt- licbe Stbrung der Ideenassociation, also durcb Wabnvorstellungen, Zwangsvorstellungen und Urtbeilsscbwacbe zu Stande kommen. Begreif- licber Weise ist die Mannigfaltigkeit dieser patbologiscben Handlungen, der Wabnbandlungen, Zwangsbandlungen und Defectbandlungen, unend-

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Storungen des Handelns.

lich gross. Es konnen dalier iin Folgeiulen nur einige allgemeine Ge- siclitspimkte besproclieii werden.

1. Wahnhandlungen.

Der Einfluss der Wahnvorstellungen auf die Ilaudlungen ist friilier bereits besproclien worden. Je nacb dcm Inbalte der Wabnvorstelluiig fallen die Wahnhandlungen natiirlich sehr verschiedeu aus. Der Grbssen- wahn malt sich schon in dem Gesichtsausdruck des Kranken: der Mund ist meist fest geschlossen, die Augeu sehen bald hoch iiber die Kbpfe der andereu Meuschen hinweg, bald sind die Augenaxeu leicht sowie die Augenlider stark gesenkt. In letzterem Ealle ist stets zugleich der Kopf in den Nacken zuriickgebogen. *) Bald sclnvebt ein suftisantes, bald ein verachtliches oder geheimnissvolles Lacheln um die Lippen. Die Streckmnskeln des Piiickeus sind contrahirt, so dass der Korper hoch aufgerichtet erscheint. Der Schritt ist abgeinessen, eher langsam. Die Schrift ist oft verschnorkelt. Haufig fiuden sich grosse Anfaugsbuch- stabeu. Der Kranke driickt sich gewiihlt aus; oft verschmaht er den ihm friiher gewohnten Dialekt und spricht hochdeutsch. Dabei streut er gern Eremdwbrter ein. Mitunter spricht er direct in einer fremden Sprache. Mitunter geniigen ihm anch die fremden Sprachen niclit und er schafft sich eine eigene Sprache. Ueberhaupt zeigt das ganze Ge- bahren des Kranken das Streben nach Apartem und nach Absonderuug. Frisur und Toilette sind in dieser Beziehung besonders verratherisch. Je nach Stand und Intelligenz briugt der Kranke in beideu sein Selbst- bcwusstsein ziim Ausdruck. Die Kranken sind unsocial: sie wollen mit ihren plebejischen Mitkranken nichts zu thun haben. Das weitere Ge- bahreu des Kranken hiingt im Einzelneu ganz von der speciellen Rich- tuug und dem speciellen luhalt des Grossenwahus ab. Der Messias predigt, der General commandirt, die fiirstliche Geliebte kokettirt am Feuster u. s. w. Haufig verletzt der Kranke auf Grund seiner vermeiut- licheu Auspriiche die Rechte der ihn umgebenden Personen. So kann es zu Diebstahlen, Majestatsbeleidigungen u. dgl. kommen. Selbst schwere Gewaltthatigkeiten (Attentate n. ahnl.) sind nicht ausgeschlossen. Gewalt- acte gegen die eigene Person sind selteuer. Doch hat man \ersnche zur Selbstkreuzigung bei Kranken, welche sich den Messiastitel beilegten, beobachtet. Erotische Grossenideen fiihreu haufig zur Masturbation. Anch Urinsalben, Uriutrinken und Koprophagie (Kothesseu) kann anf

*) 1st zugleich mit clcr Senkung der Augenaxen und der Augenlider der Kopf auf die Brust gesenkt, so driickt das Gesicht Demuth oder Schuldbewusstsein aus. Meist ist auch bei diesen depressiven Affecten die Senkung der Augenaxen eine erheblichere.

Storungen des Handelns.

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Grosseiiideeii uud zwar namentlich auf sclmaclisinnigen Grossenideen be- ruhen : der Kranke beliaiiptet, sein Urin babe lieilkraftige Eigenschaften, sei ^jCliampagner^', sein Kotb sei „ein ideales NabrungsmitteE^ u, s. w. Bei Besprecliung der Paranoia in der speciellen Pathologie werden zahl- reiche Varianten dieser Walmvorstellimgen und der sicli aus ilinen er- gebenden Wahnhandlungen nocb anzufiibren sein.

Unter den verscbiedenen Formen des Kleinbeitswahns ist der Einflnss des Versundigungswalins auf das Handeln praktiscb be- sonders wiclitig, insofern er ungemein oft zu Selbstmordversnchen fiilirt. In vielen Fallen ist allerdiugs der Selbstmordversucb bier direct aiif die Angst zuriickzufubren, als deren Erklarungsversucb, wie friiber erortert, der Versiindigimgswabn auftritt. In andereu Fallen ist jedocb der Versiindigimgswabn eiii unentbebrlicbes Zwiscbenglied. Die Kranken geben nacb eiuem missbmgenen Selbstmordversucb direct an, sie batten geglanbt und glaubten nocb, nur durcb den Tod ibre scbwere Scbuld bussen zu konnen.*) Andere Kranke begnugen sicb mit Selbstverstiimmelungen. Der Kranke, der sicb sexuelle Vergebungen vorwirft, verstummelt seine Genitalien u. s. f. Sebr baufig fiibrt der Versundigungswabu aucb zur Nabrungsverweigerung: der Kranke bebauptet, er sei nicbt wertb zu essen, er sei zu scblecbt. Ebenso fiibrt aucb der Verarmung swabn zur Abstinenz: der Kranke bebauptet, er diirfe nicbt essen, er konne das tbeure Essen nicbt bezableu. Aucb Gewalttbaten gegen die Uni- gebuug konnen aus Versundigungswabu bervorgeben. Ganz abgesebeu von dem Kindermord, den Brandstiftungen, welcbe wu’ friiber als Augst- handbingen aufiibrteu und welcbe den Versiindiguugsideen mebr coordi- uirt sind, begebt der Kranke oft scbwere Strafliaudlungen mit der Motivirung: da man ibm alle Mittel, sicb selbst fiir die scbwere Scbuld zu strafen, eutziebe und seine Scbuld in Abrede stelle, miisse er ein Verbrecben begeben, welcbes aucb der Arzt als solcbes anerkenneu musse, um so endlicb die verdieute Strafe zu finden.

Der bypocbondriscbe Wabn oder Krankbeitswabn beeinflusst das Handeln gleicbfalls ini bocbsten Maasse. Entsprecbend der Einenguug der Interessen auf die Zustande des eigenen Korpers veruacblassigt der Kranken iiber der Beobacbtung seines Korpers alle anderen Pflicbten. Es giebt Kranke, die tiiglicb einen vollstiindigen kbrperlicben Status prasens bei sicb aufuebmen. Icb kenne einen Hypocbonder, der krebskrank zu sein wiibnt, welcber taglicb die Kunzeln seiner Fingerbeeren mit der Loupe untersucbt in der Erwartung, beginnende Krebsgescbwulste oder

*) Dabei ist bemerkenswertb, dass solcbe Kranke oft nacb einem misslungenen Suicidversiicb sicb nun diesen als „Scbuld“ vorwerfen. Die Wabnbandlung wird zum Gegenstand einer neuen Versundigungsidee.

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Storungen des Handelns.

KrebsgescliwUre zu finden. Zu dieser abnorm gesteigerten Selbstbeob- achtuug tritt nun eine abnorm gesteigerte Fursorge fiir den eigenen Kbrper. Immer neue Aerzte werden consultirt, allerhand medicinisclie Bucher durchstudirt, allenthalben Erkundigungen eingezogen. Der eine verlasst sein Bett nicht, weil er vom Aufstehen einen Herzschlag er- wartet oder seinem Korper nicht die Kraft zutraut aufzustehen. So kommt es zu der sogenannten Atreinie oder Bettsucht.*) Kin anderer lebt Monate und Jahre lang im Dunkelzimmer, weil er von dem Licht des Tages Erblindung seiner vermeintlich staarkranken Augen erwartet. Ein dritter hiillt sich in zahllose Decken und Tiicher, lasst Monate lang kein Wasser an seinen Korper kommen und umgiebt sich init Warmsteinen, weil er lungenleidend zu sein glaubt und eine todtliche Erkaltung fiirchtet. Ein vierter schleicht auf der Strasse angstlich

langst der Hauser hin, indem er sich an den Mauern festhiilt: er fiirchtet jeden Augenblick einen Schlaganfall. Das ganze Han- deln geht in einem engen kbrperlichen Egoismus auf. Dazu kommt noch der friiher bereits gestreifte lahmende Einfluss der hypochon- drischen Vorstellungen auf die motorischen Functionen. Der Hj^m- chonder, welcher anfangs absichtlich d. h. auf Grrund hypochondrischer Motivvorstellungen das Gehen vermeidet und immer mehr in dem Ge- danken aufgeht, er konne nicht mehr gehen, vermag entweder allmahlich oder plotzlich eines Tages in der That nicht mehr zu gehen, auch wenn er den Versuch macht, d. h. also wenn er seine hypochondrische Wahnvorstellung iiberwindet< Es ist zu einer „hypochondrischen Lah- mung" gekommen. Diese Lahmungen siud meist dadurch ausgezeichuet, dass sie nicht eine bestimmte Extremitat und auch nicht eine bestimmte Muskelgruppe betreffen, sondern eine bestimmte complicirtere Bewegung. So ist in dem eben angefiihrten Falle einer hypochondrischen Geh- lahmung (Abasie) die Bewegungsfahigkeit der Beine im Liegen vollig erhalten , nur die eine co mplicirte Bewegung des Gehens ist dem Kranken in Folge seiner hypochondrischen Wahnvorstellung abhanden gekommen. Dies geht zuweilen so weit, dass solche Kranke mit Abasie noch sehr gut laufen , auch Treppen hinauf- und heruntergehen und sogar riickwarts gehen konnen, nur das gewohnliche Vorwartsgehen auf ebener Erde versagt ihnen ; sie bleiben, wenn sie den Versuch macheu, hilflos auf einem Fleck stehen und ruder n vergebens mit den Armen und bewegen den Rumpf hin und her: die Fiisse bleiben wie fest- gebannt am Boden kleben. Andere Kranke haben eine hypochon-

*) Gelegentlich kommt Atremie auch dadurch zu Stande, dass thatsachlich schwere Storungen der llerzinnervation eintreten, sobald der Kranke die Euckenlage aufgiebt und sich aufrichtet.

Stoi'ungen des Haudelns.

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drische Stelilalmiiing (Astasie). Audi liypodioudrisdie Spredilalimungen koniineu vor. Dieselben beschranken sicli zuweileu aiif einzelne Con- sonanten. So kannte idi eiuen Patieuten, der kein r auszuspredieu vermodite, uud eine Patientin, welcbe eiue bypochondrisdie Labmung fiir z liatte. Letztere sprach z. B. wei witsdiernde Scbwalben, so oft ihr vorgesagt wurde „zwei zwitschernde Scbwalben". Gerade diese Kranken sind oft in ganz imgerecbtfertigter Weise als Simu- lanten verdiicbtigt worden. Sehr haufig kniipfen auch gerade diese bypo- cbondriscben Labmungen im Sinn der friiber erwabnten sogenannten Iiitentionspsycbosen an ein einzelnes Vorkommniss an: Ein Patient ist auf einem glatt gepflasterten Weg gestraucbelt , daran kniipft er die hypocbondriscbe Wabnvorstellung, seine Beine versagten den Dienst, und kiinftig versagen ibm seine Beine tbatsacblicb, sobald er einen abn- licben, d. b. gepflasterten Weg betritt, den Dienst. Hier ist also die bypocbondriscbe Geblabmung sogar an eine bestimmte Situation ge- kniipft : sie tritt nur auf gepflasterten Wegen ein. Bei anderen Kranken tritt sie nur auf freien Platzen auf (bypocbondriscbe Form der Agora pbobie) u. s. f. Von den byste rise ben Labmungen sind diese bypo- ebondriseben Labmungen sebarf zu trennen. Letztere entwickeln sicb auf Grund bewusster Vorstellungen, erstere entsteben obne solcbe. *) Die bysterisebe Labmung ist eine Complication der Psyebose, welcbe mit dem psyebopatbiseben Process selbst niebts zu tbun bat: plbtzlicb ist z. B. eine bysterisebe Hemiplegie da, obne dass die Kranke je an der Bewegungsfiibigkeit ibres Amies oder Beines bypocbondriscbe Zweifel gebegt batte. Die bypocbondriscbe Labmung ist bingegen stets eine Folge bypoebondriseber Urtbeilsassociationen. Ausser bypoebondri- seben Labmungen beobaebtet man ab und zu aucb bypocbondriscbe Ataxie und namentlicb bypocbondriscbe Krampfbewegungen. Die letzteren sind stets in boebstem Maass coordinirt und in ibrer Ersebeinungsform ausserst mannigialtig. Am biiuflgsten beobaebtet man eigenartige Scbiittelbewegungen der Arme und der Beine. Oft ist ibre specielle Form durcb irgendwelcbe Parastbesien oder 'anderweitige patbologiscbe Empflndungen bestimmt. Der psycbologiscbe Entstebungsmodus lasst sicb durcb folgendes Schema ausdriicken: die patbologiscbe Empflndung lost die bypocbondriscbe Wabnvorstellung aus: icb verfalle in Kriimpfe, und diese bypocbondriscbe Wabnvorstellung lost nun die Krampfe aus.

*) Oder, wie eine neuerdings vielfach beliebte Hypothese es ausdriickt, auf Grund nunbewusster Vorstellungen". Ausdriicklich ist iibrigens hervorzuheben, dass gelegent- lich auch bei der Hysteric bypocbondriscbe Labmungen vorkommen. Fiir die Iden- titilt der bystcrischen und der hypoebondriseben Labmungen beweist dies natiirlich cbensowenig wie das Vorkommen epileptiseber Krampfanfalle bei Hysteric die Identitiit dieser mit bystcrischen Krampfanfallen beweist.

Ziehen, I’syeliiatrie.

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Storungcn des Handel ns.

Unterstiitzt wire! die Entstehung der Wahnvorstellung sowohl wie der entsprechenden Krampfbewegungen dadurch, dass die Pariisthesien haufig zunaclist gewisse Abwehrbewegungen auslosen, welche der Kranke nun als die Anfangssymptome des beginnenden Krampfanfalls auffasst und ent- sprechend dieser bypochondrischen Vorstellung nun zu einem wirklichen Krampfanfall ausgestaltet. Die hypochondrisebe Wabnidee wirkt bier gewissermaassen als Multiplicator. Den typiseben Verlauf eines bysteri- seben Krampfanfalls, also namentlicb eine typisebe Folge einzelner Stadien (kloniscber Krampf toniseber Krampf grands mouve- ments) zeigen diese sog. bypoebondriseben Anfalle niemals. Sebr baufig treten Angstbewegungen zu den Krampfbewegungen binzu oder ent- wickeln sicb letztere durcb Ausgestaltung ersterer. So entsteben Bilder, welcbe zwiseben den friiber besebriebenen Affeetkrisen und den bypoebon- driseben Krampfbewegungen alle nur denkbaren Uebergange darstellen.

Ueberbaupt bedarf es nunmebr nocb der Hervorbebung, dass die Handlungen des Hypoebonders baufig niebt einfacb durcb den Inbalt der bypoebondriseben Wabnvorstellung, sondern sebr oft aucb durcb die der Wabnvorstellung zu Grunde liegende oder sie begleitende De- pression und Angst bestimmt werden. Der Kranke jammert mitunter Tag und Nacbt. Trotz seiner bypoebondriseben Besorgnisse treibt ibn die Angst zu Suicidversueben ; mitunter ist es aucb geradezu der Ge- danke, unbeilbar zu sein, welcber die Kranken zum Selbstmord veran- lasst. Gelegentlicb kommen namentlicb wenn zugleicb ein gewisser Intelligenzdefect bestebt , Selbstverstiimmlungen vor. Um z. B. eine wabnbafte Verengerung des Afters, welcbe der Kranke vielleicbt in An- lebnung an eine liingere Obstipation annimmt, zu beseitigen, treibt er einen Stock tief in den Mastdarm ein oder scblitzt den After mit einem Messer auf. Aucb zur Nabrungsverweigerung kommt es ofter, indem der Kranke wiibnt, seine Speiserobre sei verstopft oder seit Monaten sei kein oder wenigstens kein ausreicbender Stublgang erfolgt.

Der Verfolgungswabn beeinflusst die Handlungen der Kranken zuniicbst im Sinn der Abwebr. Die Kranken verriegeln und ver- barrikadiren sicb in ibrem Zimmer. Sie meideu jede Gesellscbaft. Speisen geniessen sie nur, wenn andere bereits von denselben gekostet baben; baufig bereiten sie sicb aucb alle ibre Nabruugsmittel selbst, um den vermeintlicben Vergiftungsversueben sicber zu eutgeben. Die Dienstboten werden fortwiibrend gewecbselt. Gelegentlicb erstattet der Kranke der Polizei oder dem Staatsanwalt oder dem Fiirsten Anzeige fiber die Verfolgungen, welcben er vermeintlicb ausgesetzt ist. \iele wecbseln den Wobnsitz immer wieder, um ibren Verfolgeru zu eut- geben. Sind zugleicb beftige Angstaffecte vorbauden, so kommt es zu lantern Jammern und zu ungestfimen Fluebtversuebeu. In der Angst

Stoi’ungen clcs Handclns.

163

Yor ihreii Verfolgeni spriugeu solclie Kraiike oft riicksiclitslos aus clem Fenster, zuweilen sogar durcli die Glassclieiben liindurcli ; naclilier geben sie selbst an, sie batten lieber sterben als ibren Verfolgern oder dem Scbarfrichter in die Hande fallen wollen. Bisher war der Kranke nur der Verfolgte. Haufig wird er spiiter zum Verfolger. Er gebt von der Vertbeidigung zum Angriff iiber, tlieils weil er fiir die friiheren and noch fortdauernden Verfolgungen Raclie nehmen will, tlieils weil er in dem Angriff die beste Vertbeidigung sielit. So wird der Kranke gemein- gefabrlich. Mitunter weiss er jabrelang sich zu beherrschen, bis dann plotzlicli bei einer zufalligen Constellation der Umstande und der Vor- stellungen die Selbstbeherrschung versagt und die Verfolgungsidee die That auslbst. Bei giinstiger Constellation genugt dann oft ein kleiner Aulass. Der Kranke legt eine harmlose Geste, ein beliebiges Wort, eine Verziehung der Miene bei einer Person der Umgebung als ein Signal der Verschworer oder eine directe Drohung gegen sein Leben aus, und aus Notbwebr kommt er durch einen Mordversuch der vermeintlicben Gefabr zuvor. In anderen Fallen handelt es sich einfach um einen Racheact. Der Kranke wahnt sich von seiner Frau hintergangen : auf Grund dieses Wahns ehelicher Untreue kommt es zu brutalen Miss- handlungen und selbst zu Morel oder Todtschlag. Oder der Kranke glaubt sich in einem vermeintlicben Recht gekrankt oder in einer ver- meintlichen politischen oder religibsen Mission behindert: so kommt es zu schweren Gewaltthaten gegen die Personen, welche vermeintlich dem Kranken im Wege stehen. Zahlreiche politische Attentate sind hierauf zuriickzufiihren. Grossenidee und Verfolgungsidee wirken bier bei der Erzeugung der Handlung zusammen. Im Gebiet der speciellen Patho- logic wird das Studium der Paranoia uns einen genaueren Einblick in die Casuistik der Handlungen des Verfolgungswahns sowie auch des Grossenwahns gestatten.

Grosse praktische Bedeutung haben auch diejenigen Handlungen, welche auf Grund ganz plotzlich aufschiessender und ebenso rasch wieder sich verfliichtigender Wahnvorstellungen, der friiher erwahnten Einfalle, erfolgen. Man bezeichnet dieselben als „Einfallshandlungen^^ oder wegen ihrer Plotzlichkeit auch als impulsive Handlungen, So kann ganz plotzlich in dem Kranken die Wahnvorstellung auf- schiessen, der Kaffee, den er gerade trinkt, sei vergiftet und eine im- pulsive Gewaltthat gegen die Person, welche den Kaffee zubereitet oder eingegossen hat, auslosen. Nach wenigen Minuten ist die Wahnvor- stellung verschwunden und haufig sogar vergessen; ebenso besteht fiir die impulsive Handlung selbst meist Amnesic. Mitunter ist der Einfall, welcher die impulsive Handlung bedingt , noch rudimentarer. Dem Kranken „fallt" plotzlich und voriibergehend ein, er sei wieder Soldat

164

Storungen des Ilandcins.

imd alsbalcl iiimmt er militarisclie Stellung ein uud raacht niilitarische IJewegimgen. /uweilen treten solclie Einfillle mit den entsprecheiiden Liidallsliandlungen in grosser Zahl uumittelbar liiutereinauder und olme erkeniibaren Zusammeuliang untereinander auf.

2. Zwangshandlungen.

Die Zwangshandlungen gehen aus Zwangsvorstellungen hervor. Es ist daher fiir sie selir cliarakteristisch , dass der Kranke der Krank- haltigkeit seiner Handlungsweise sich wohl bewusst ist. Er liandelt wider sein besseres, d. h. sein gesundes „Wissen und Wollen“. Es ist bereits trlilier hervorgehoben worden, dass fast alien Zwangsvorstellungen eine sehr lebliafte motorische Tendenz innewohnt. Nicbt stets siegt diese motorische Tendenz. Es giebt manche Zwangsvorstellungen, welche sich zwar trotz alien Widerstrebens immer wieder aufdrangen, aber doch nicht das Handeln des Kranken in entscheidender Weise be- einflussen. So kann z. B. die Zwangsvorstellung auftreten; „Du musst zum Fenster hinausspringen" oder „du musst in einer grossen Gesell- schaft plbtzlich diesem oder jenem dieses oder jenes Schimpfwort laut zurufen^^ oder „das Fleisch, das du zerschneidest, ist dein Bruder; in- dem du schneidest, todtest du ihn^^ Der Kranke steht, wie man zu sagen pflegt, iiber diesen Vorstellungsverkniipfungen, d. h. seine berich- tigenden Urtheilsassociationen iiberwiegen: er sieht die Unrichtigkeit seiner Vorstellungen ein. Dies schiitzt ihn zwar nicht gegen ein fort- wiihrendes Wiederkehren der Zwangsvorstellung, aber doch in manchen Fallen gegen ein Handeln im Sinne der Zwangsvorstellung. Es ge- lingt ihm den Drang, im Sinn der Zwangsvorstellung zu handeln, doch unter hartem Kampfe zu unterdriicken : er springt nicht zum Fenster hinaus, er ruft das Schimpfwort oder die Zote nicht aus, er schneidet und verspeist sein Fleisch trotz der Zwangsvorstellung. In der Mehrzahl der Fiille siegt jedoch auch im Spiel der Motive die Zwangsvorstellung, d. h. sie bestimmt oder moditicirt wenigstens die Handlungsweise des Kranken. Ueber die Einzelheiten dieser motorischen Eft'ecte der Zwangsvorstel- lungen ist bei Gelegenheit der Besprechung der letzteren schon aus- reichend gesprochen worden. Die Kranke, welche die Zwangsvorstellung nicht los wil’d, dass sie ein brennendes Streichholz babe liegen lassen, sucht Nachte lang unter alien Betten und Schriinken und zwingt oft genug auch ihre Familie, immer wieder an denselben Stellen nachzu- sehen, ob nicht irgendwo noch ein Streichholzchen glimme. Auch wurde erwahnt, dass es geradezu zu psychischeu Lahmuugeu kommen kann, und endlich, dass auch die glatte Musculatur des Kbrpers dem Eintluss der Zwangsvorstellungen ofter unterliegt.

Scheinbar ganz unabhangig von dem Vorstellungsleben stehen die-

Storungen clos Handelns.

165

jenigen Zwungsluindlungeii da, bei welclien dein Kniuken sick nur die ^^ol•stellung eiiier bestimmteu Uewegimg aufdrangt imd vermdgo ilirer grosseii lutensitiit die Bewegung auch tkatsachlicli auslost. So kann dem Kranken sick plotzlick die Vorstellung des Grimassirens aufdrangen and zwar so lebkaft, dass sick sein Gesickt tkatsacklick zur Grimasse verziekt, so sekr der Kranke seine Gesicktsziige zu bekerrscken suckt. Die Z^Yangsvorstelkmg ist in diesen Fallen auf das Auftaucken eines einzigen Erinnerungsbildes (namlick des optiscken oder motoriscken einer Grimasse) und dementspreckend die Zwangskandlung auf eine ein- zige Bewegung besckrankt. Sekr oft ist dies einzelne, dem Kranken sick aufzwangende Erinnerungsbild das motoriscke und akustiscke Er- innerungsbild eines sckimpfenden oder obsconen Wortes: zuweilen ver- mag der Kranke das Aussprechen des Wortes zu unterdriicken, kaufiger unterliegt er, und plotzlick, fast mit explosiver Heftigkeit fakrt ikm das Wort zum Munde keraus (Koprolalie). Dabei feklt die Beziekung auf eine bestimmte Person, welcke in dem oben angefiikrten Beispiel einer Zwangsvorstellung mit Zwangskandlung vorlag, oft vollstandig. Es kandelt sick nur um das jake Auftaucken der einzelnen Wortvorstelkmg okne jede Urtkeilsassociation. Meist kommt das Strauben des Kranken zu spat. Zwangsvorstellung und Zwangsbewegung fallen zeitlick zu- sammen. Dabei ist voiles Krankkeitsbewusstsein vorkanden. Hierker gekoren auck die meisten Eiille der sog. Maladie des tics Guinon’s: dieselben gekoren z. Tk. sekr versckiedenen Psyckosen an, kaben aber das zwangsweise Auftaucken gewisser Bewegungen, namentlick zwangs- weises Grimassiren und zwangsweises Aussprecken sckimpfender und obsconer Worte gemein.

Sekr kaufig kniipfen auck diese isolirten Zwangsbewegungen an Empfindungen an. Der Kranke siekt eine Bewegung, und diese optiscke Bewegungsempfindung lost alsbald eine aknlicke Bewegung aus. Es kommt zu einem zwangsweisen Nackakmen oder, wie man meist sagt, zu Eckokinese. Eine leickte Neigung zu Eckokinese oder, anders ausgedriickt, ein leickter Nackakmungstrieb auf motorisckem Gebiete, kommt auck den Geistesgesunden zu. Fiir die geistige Entwicklung des Kindes ist derselbe sogar von grbsster Bedeutung. Bei Tkieren und bei uncivilisirten, d. k. vorstellungsarmen Volkersckaften, bleibt auck in kokerem Alter dieser Nackakmungstrieb oft sekr ausgesprocken. Bei dem Geistesgesunden in civilisirten Liindern wird dieser Nackakmungs- trieb durck die Erziekung allmaklick unterdriickt: zaklreicke complexe Vorstellungen interveniren und unterdriicken die directe Nackakmung einer gesekenen Bewegung ; so kommt es , dass der geistesgesunde Erwacksene die Bewegungen, welcke er bei anderen siekt, nur absickt- lick, d. k. auf Grund besonderer Motivvorstellungen z. B. um eine

166

Storungen ties Ilandelns.

Bewegimg zu erlernen nachahmt. Anders bei vielen Geisteskranken. riier erhalt sich, namentlich bei Angeboren-Schwachsinnigen, eine solclie Echokinese dauernd, und andererseits tritt Ecbokinese nicht selten als Krankheitssymptom einer erworbenen Psychose, auch unabhangig von jedem Intelligenzdefect, plbtzlicli jenseits des Kindesalters auf. Im letzteren Falle ist sie den soeben ausfiibrlicher erdrterten Zwangsbe- wegungen zuziirechnen. Eine besondere Form der Ecbokinese 1st die Echolalie: der Kranke hort ein Wort aussprechen, und diese Gebbrs- empfindung lost ein Nacbsprecben des gebbrten Wortes aus. Wie die Ecbokinese ist aucb die Ecbolalie baufig ein Symptom des Scbwacb- sinns, des erworbenen sowobl wie des angeborenen. In anderen Fallen aber zeigt sie alle Merkmale einer ecbten Zwangsbewegung ; ibre Eigen- tbiimlicbkeit bestebt darin, dass sie stets an die Gebbrsempfindung eines Wortes das Aussprecben desselben Wortes ankniipft.

3. Defecthandlungen.

Die Defecthandlungen, welcbe in Folge krankbafter Urtbeilsscbwacbe entsteben, decken sicb im Wesentlicben mit den friiber bescbriebenen Handlungen, welcbe durcb Defecte der Erinnerungsbilder bedingt sind. Sie sind cbarakteristiscb fiir den angeborenen und erworbenen Scbwacb- sinn. Der Scbwacbsinnige begebt nicbt nur desbalb abnorme Hand- lungen,' well gewisse complexere Vorstellungen ibm feblen und daber im Spiel der Motive nicbt eingreifen, sondern aucb desbalb, well zwiscben den vorbandenen Vorstellungen nur ganz sparlicbe und nur die ein- facbsten Urtbeilsassociationen zu Stande kommen. Der Scbwacbsinnige vermag oft alien Einzelbeiten einer Situation, welcbe ibn zum Handeln driingt, sebr gut Kecbnung zu tragen, er vermag aucb an jede einzelne Empfindung in annabernd ricbtiger Weise eine Reibe von Vorstellungen anzukniipfen, bingegen sind die Verkniipfungen, welcbe er zwiscben den verscbiedenen Vorstellungsreiben berstellt, meist mangelbaft und un- ricbtig. Berecbnung und Ueberlegung in diesem Sinne feblen. In der speciellen Patbologie wird bei Besprecbung der verscbiedenen Formen des Scbwacbsinns bierauf ausfiibrbcb zuruckzukommen sein.

f. Soniatische Begleitsymptome der Psychoseu.

Bisber wurde nur solcber Symptome gedacbt, welcbe psycbiscber Natur sind (Empfindungsstorungen, Vorstellungsstorungen, Associations- storungen , Afiectstdrungen) oder den directen Ausdruck psycbiscber Processe darstellen (Storungen des Handelus einscbliesslicb der Aus- drucksbewegungen). Hiermit sind jedocb die Symptome der Psycbosen nicbt erscbdpft. Es kommen vielmebr nocb folgende Symptome binzu:

Somatisclie Begloitsymptome der Psychoson.

167

a. Storungeu der Motilitat , welche von psychischen Processen nicht abhangig siud, mithiu den Storungen des Plandelns niclit zusju- rechnen sind.

Storungen der automatischen Acte.

y. Storungen der Reflexe und Sehnenplianomene.

S. Storungen der Sensibilitat , welcPe von psychischen Processen unabhangig sind.

£. Storungen der secretorischen, trophischen, vasoinotorischen und splanchnischen Innervationen.

Alle diese kdrperlichen Begleitsymptome beruhen theils auf gleich- zeitiger coordinirter Erkrankung solcher Gebiete des Cen trainer ven- systems, welche mit psychischen Processen nichts zu thun haben, theils auf dem stbrenden Einfluss, welchen die erkrankte Hirnrinde, die Tragerin der psychischen Processe, auf die iibrigen Theile des Central- nervensystems und auf die iibrigen Organsysteme (durch Vermittlung des Sympathicussystems) hat, Erstere kann man auch als Compli- cationen der Psychosen, letztere als Fernwirkungen*) bezeichnen. Zu den complicirenden Begleitsymptomen gehoren z. B. die inannig- fachen Motilitats- und Sensibilitatsstdrungen, welche wir bei Dementia paralytica in Edge gleichzeitiger Erkrankung des Riickenmarks vor- finden. Es ergiebt sich, dass derselbe Krankheitsprocess, welcher in der Hirnrinde die Psychose erzeugt, im Riickenmark und in den peripheren Nerven „complicirende“ Symptome hervorruft. So kann das typische Krankheitsbild der Tabes neben dem eigentlichen Krankheitsbild der Dementia paralytica bestehen. Zu den complicirenden Symptomen sind auch die Lahmungen und Coordinationsstoruugen zu rechnen, welche bei Erkrankung der motorischen Rindem-egion auftreten, Dieselben sind von irgendwelchen Storungen im Bereiche der psychischen Parallelprocesse unabhangig und nicht, wie die Storungen der Handlungen, auf patho- logische Veranderungen der Empfindungen oder Vorstelluugen zuriickzu- fiihren, sondern lediglich auf pathologische Veranderungen der Ursprungs- zellen der grossen Pyramidenbahn und der diese Zellen verkniipfenden Associationsfasern. Gerade solche corticomotorische Lahmungen und Coordinationsstorungen kommen neben den eben erwahnten spinalen bei der vielfach genannten Dementia paralytica sehr haufig vor. Auch der Symptomencomplex der Hysterie, der Epilepsie u. s. w., sowie endlich der Symptomencomplex jeder Herd erkrankung des Gehirns kann die Psychose compliciren: haufig lasst sich dann zeigen, dass die Psychose auf dem Boden der Hysterie, Epilepsie, des Plirntumors u. s. w.

*) Die Handlungen selbst sind als directe Wirkungen dcr Psychose auf- zufassen.

168

Somatische BeglGitsymptome der Psychosen.

siuli entwickelt luit. Die letzteren Krankheiteu ersclicinen von cliesem ' Stanclpuuktc geradezii als die G r u n d kranklieit und die Psychose als die Complication. Naheres hicruber wird in der allgeineinen Aetiologie angegeben werden.

Anders sind die Fernwirkungen aiifzufassen. Wir wissen, dass die Processe in der liirnrinde den Stoffwecbsel, den Schlaf, die Driisen- secretionen, die Peristaltik der Eingeweide, die Contraction des Herzens imd der Blutgefasse, die Entwickelung und das Wachstbum der Or- gane u. dgl. m. beeinflussen. Wenn in Folge der Psycbose die corticalen Processe verandert sind, so erleiden aucb diese Einfliisse mancbe krank- bafte Veranderungen, deren Kenntniss namentlicb fiir die Diagnose und Tberapie der Psycbosen von erbeblicbster Bedeutung ist.

Zur Erleicbterung der Uebersicbt werden aus praktiscben Grunden im Folgenden die somatiscben Begleitsymptome der Psycbosen in der oben angegebenen Reibenfolge a bis e besprocben werden, gleicbgiiltig ob sie Complicationen oder ob sie Fernwirkungen in dem eben be- sprocbenen Sinne darstellen.

a. Storungen der Motilitat.

1. Lahmungen.

Die Labmungen, welcbe wir bei Psycbosen beobacbten, sind nainent- licb folgende : *)

I. Hysteriscbe. Ibre Patbogenese ist nocb nicbt sicber festgestellt.

II. Corticale. Dieselben beruben auf einer organiscben Erkrankung der motoriscben Abscbnitte der Hirnrinde. Seltener bandelt es sicb urn eine circumscripte makroskopiscbe Herd erkrankung, bilufiger urn diffuse mikroskopiscbe Rindenveranderungen (Dementia paralytica. Dementia senilis).

HI. Fasciculare. Die Pyramideubabn ist auf der grossen Strecke von der Hirnrinde bis zu den motoriscben Hirnnervenkernen resp. den diesen iiquivalenten Vorderbornganglieuzellengruppen des Riickenmarks an irgend einer Stelle unterbrocben ; meist bandelt es sicb um eine bamorrbagiscbe Zerreissung oder eine tbrombotiscbe oder emboliscbe Erweicbung.

IV. Nucleiire. Der Ursprungsort der Labmung ist bier in den motoriscben Hirnnervenkernen resp. in den diesen aquivalenten Gang- lienzellengruppen der Vorderbbrner des Riickenmarkes zu sucben.

*) Von den hypochondrischen Lahmungen wird bei dieser Zusammenstellung abgesehen, da sie durch Vorstellungen oder Empfindungeu bedingt sind.

Somatische Begleitsymptome der Psychosen.

169

V.W.

V. Peripherc. Meist luindelt es sicli mn die sog. niidtiple Neuritis, wie sie bei Alkoliolisten, Sypliilitikeru etc. beobachtet wird.

Auf der beistebenden Figur ist der scliematisclie Verlauf jeder moto- risclien Bahn dargestellt ; aus den bei- gesetzten Zahlen ist ersiclitlich , wo die soeben aufgezLihlten Lahmungen ihren Sitz baben.

Welclie von diesen 5 Labmungen im einzelnen Falle vorliegt, bat selbst- verstandlicb die neuropatbologiscbe Untersiicbung festzustellen. Die wicb- tigsten Anbaltspunkte namentlicb aucb zur Unterscbeidung von der friiber besprocbenen bypocbondriscben Liibmung sind in dem nacbfolgen- den Schema (S. 170) kurz zusammen- gestellt.

Hiermit sind selbstverstandlicb nur die ersten Anbaltspunkte ge- geben. Der Psychiater muss die ganze neuropatbologiscbe Diagnostik beherr- scben, um die Labmungen seiner Geisteskranken ricbtig zu beurtbeilen.

Im Einzelnen ist speciell nocb Fol- gendes zu bemerken. Die corticalen Labmungen sind bei den sogenannten functionellen Psycbosen bocbst selten, nur ganz ausnabmsweise findet man gelegentlicb bei functionellen Psycbosen mit scbweren Erscbopfungserscbeinungen auf der Kobe der Krankbeit eine leicbte Parese, z. B. eines Mundfaciabs. Sonst deutet das Vorhandensein einer corticalen Labmung stets auf eine organiscbe Psycbose (Dementia paralytica, Dementia senilis u. s. w.). Die motoriscbe Scbwacbe und krankbafte Ermiidbarkeit der motoriscben Actionen, welcbe wir dynamometriscb bei functionellen Psycbosen mitunter nacbweisen kbnnen, unterscbeidet sicb schon dadurcb, dass sie gleicbmassig die Muskulatur beider Korperbalften betritft. Nicbt zu verwechseln mit den corticalen Labmungen sind aucb die angeborenen asymmetriscben Inner- vationen, welcbe bei Geisteskranken nocb erbeblich baufiger vorkommen, als bei Geistesgesunden. Namentlicb im Gebiete der Mundfacialismusku- latur ist eine solcbe Verwecbslung sehr folgenscbwer. Einseitiges Ueber- wiegen der activen, mimischen, spracblicben oder Bube-Innervationen des Mundfaciabs ist congenital so baufig bei Geistesgesunden und erst

Cort. cer. Hirnrinde, C. i. Capsula interna, D. p. Decussatio pyrainidum, Vh. Vorder- horn, V. W. vordere Wurzel.

1-70 Soniatischc Bcgleitsymptorne der Psychosen.

Localisation

Ernahrungs-

Reizerschei-

C/>

<D r-

-s s

:05

2

o

storungen

nungen

*co

M 2

C

-

cc

1. Hypochon- drischo

Moist beschrankt sich die Lah-

Keine Atrophie

Selten

Normal

Normal

Norma

Lahmung

mung auf eine bestimmte Be-

wegungsform

2. Hysterische

Bald mono-, bald

Entweder rapide

In den ge-

Normal

Gemischte

Norma

Lahmung

hemi-, bald para-

einfacheAtrophie

lahmtenGlie-

Hemian-

piegisch

Oder sehr spat

dern haufig

asthesie

Inactivitats-

Contractur

atrophie

3. Corticale

Bald mono-, bald

In der Regel nur

Oft klonische

In der

Hbchstens

Norma

Lahmung

hemiplegisch.

eine sehr spat

Krampfe in

Regel

Par-

Oder g€

Wechselnd

eintretende In-

den gelahm-

normal

asthesien

steigeri

activitats-

atrophie

ten' Gliedern

4. Fasciculare

Meist hemiple-

In der Regel nur

Nach 3 4

In der

Hbchstens

Gcsteige

Lahmung

gisch, zuweilen

eine sehr spat

Wochcn oft

Regel

bei schwe-

Itei Sitz un-

eintretende In-

zunehmende

normal

ren Fallen

terhalb der

activitats-

Contractur

auch eine

Hirnschenkel

atrophie

voriiber-

paraplegisch

gehende

Hemian-

asthesie

5. Nucleare

Oft progressiv*)

Degenerative

Keine

Leichte

Intact

Meist

Lahmung

Atrophie

Ent-

herabge

artungs-

setzt

reaction

6, Periphcre

Bald sehr zer-

Degenerative

Keine

Schwere

Stets

Erlosche

Lahmung

streut, bald auf einen periphe-

Atrophie

Ent-

Hyper-

artungs-

asthesien

ren Nerv be-

reaction

schrankt

1

reclit bei Geisteskrankeu imd ist so scliwer von ervvorbenen Lahmungen des Mundfacialis zu trennen, dass man im Allgemeinen eine Minder- innervation eines Mundfacialis nnr dann diagnostiscb veiuverthen soil, wenn der ervvorbene Charakter feststeht, wenn also sicher beobaclitet ist, dass die bez.’ Parese vor Ausbrucli der Psycbose nicbt bestand.

2. Motorische Beizerscheinungen.

Scbon mebrfach wurde erwahnt, dass Epilepsie, Hysterie, Chorea mit Psycbose zusammen auftreten konnen. So beobaclitet man denn aucli epileptiscbe und hysterische Anfalle, sowie choreatiscbe Bewegun-

*) Die acutcn P'ormen (essentielle Kinderlahmung etc.) sind haufig mono- plegisch.

Somatische Begleitsymptome der Psychoson. 171

geu*) iu solchen Fallen. Gelegentlich fiiiclet man aiich vereinzelte, durcli jahrelange Zwisclienraume getrennte epileptische Anfalle bei solchen Geisteskranken, bei welchen von geniiiner Epilepsie eben wegen der imgemeinen Seltenheit der Anfalle nicht wohl die Rede sein kann. Namentlich bei sog. originaren Psychosen, d. h. in Fallen, wo neuro- pathische oder psychopathische Symptome sich bis auf die fiiihe Kind- heit zuriickverfolgen lassen, ist dies Vorkommniss nicht selten. Symp- tomatische epileptische Anfalle, welche denjenigen der genuinen Epilepsie diirchaus gleichen, kommen gelegentlich bei alien organischen Hiruerkrankungen und daher denn aiich bei den auf organischer Basis beruhenden Psychosen (Dementia paralytica u. s. w.) vor.

Von den typisch-epileptischen Anfallen, fiir welche ausser der Aut- hebung des Bewnsstseins der Ablauf in zwei Stadien, einem tonischen und einem klonischen, und die allgemeine annahernd symmetrische und gleichzeitige Betheiligung der ganzen Korpermuskulatur charakteristisch ist, sind die sog. epi leptifo rmen Anfalle oder Ri ndencou vul- sionen durchaus zu trennen. Bei diesen ist der Krampf vorwiegend klonisch; auch treten die verschiedenen Mu^celgruppen in einer be- stimmten zeitlichen Reihenfolge in den Krampf ein, welche der raum- lichen Reihenfolge der motorischen Centren in der Hirnrinde entspricht. Am haufigsten sind diese Rindenconvulsionen bei der Dementia paralytica. Dieselben werden daher auch in der speciellen Pathologie bei Bespre- chung dieses Leidens ausfiihrlicher zu beschreiben sein. Gelegentlich beobachtet man sie bei alien corticalen und subcorticalen Herderkran- kungen.

Unter den isolirten Krampferscheinungen beobachtet man bei Geisteskranken besonders haufig Zahneknirschen (Mastication). Das- selbe kommt namentlich bei organischen Psychosen (Dementia paralytica. Idiotic u. s. w.) vor, nicht selten aber auch bei den schweren Erregungs- zustanden, wie sie im Verlaufe der Mania gravis, der ideenfliichtigen und der incoharenten Paranoia beobachtet werden. Insbesondere neigen

*) Von den frixher beschriebenen Jactationen der motorischen Incoharenz unter- scheiden sich die choreatischen Bewegungen dadurch, dass sie ohne Stoning der Ideen- association resp. ganz unabhangig von einer solchen auftreten. Bei der choreatischen Bewegungsstorung handelt es sich um eine von Vorstellungen und Vorstellungsstorungen ganz unabhangige oder, wie man auch sagt, „unwillkurliche“ Stoning der beabsichtigten normalen Bewegung oder auch der Riihe durch Zwischenbewegungen. Bei der motori- ! schen Incoharenz ist die Ideenassociation iiicoharent und dementsprechend auch der Ablauf der Bewegungen seines Zusammenhanges beraubt: die normalen Bewegungen sind durch pathologische ersetzt ; das ilussere Bild kann fast ganz dasselbe sein. Die Aus- kiinft der Kranken und die Beobachtung der Entstehung der Bewegungsstorung fiihrt oft allein zu einer sicheren Diagnose. Ist die Chorea mit Psychose complicirt, so kann die Unterschoidung oft sehr schwer oder iinmdglich werden.

172 Somatische Begleitsymptome der Psychosen.

jugeiidlioliG Individuen in den Ictztcrwalmten Krunkheiten zu Zulme- kuii’sclieu.

Die lauger aulialtenden tonischen Krampferscheinungen bezeichnet man als Contracturen. Passive Contracturen, d. h. Contrac- turen, welche niclit auf einer pathologisch gesteigerten Innervation, sou- dein auf Schrumpfung der Muskelu berulien, sind bei Geisteskranken, welche auf Grund bestimmter Vorstellungen oder Empfindungen jahre- lang dieselbe Stellung einnehmen, ab und zu beobachtet worden. Die- selben sind theils als Inactivitats-, theils als Gewohnheitscontracturen aufzufassen. Unter den activen Contracturen kommen fiir die psychiatrische Diagnostik namentlich die hysterischen Contracturen so- wie die in Folge organischer Erkrankung der Pyramidenbahn an iigend einer Stelle ihres ganzen Verlaufs von der Hirnrinde bis zu den Vorderhbrnern des Riickenmarks excl. auftretenden Contracturen in Betracht. Diese hysterischen und organischen Contracturen konnen zu- weilen den friiher erwahnten katatonischen Stellungen in hohem Maasse ahneln. Differentialdiagnostisch kommt namentlich fiir die hysterischen Contracturen der Nachweis der hysterischen Sensibilitatsstorung, fiir die organischen die Steigerung der Sehnenphanomene in den betreffenden Gliedern in Betracht.

Unter den klonischen Kriimpfen ist namentlich des sog. Tic convulsif zu gedenken, welcher als complicirendes Symptom des sogenannten neu- rasthenischen Irreseins und als Zeichen einer neuro- resp. psycho- pathischen Constitution bfter zur Beobachtung gelangt.

3. Storungen im Ablauf der willkurlichen Bewegungen.

Es handelt sich hier namentlich um die Coordinationsstorungen und die als Intentionstrenior bezeichneten rhythmischen Unter brechungen des Ablauts der Bewegung.*) Erstere bezeichnet man auch ganz allgemein als Ataxie und unterscheidet spinale, cerebellare und corticale Ataxien, AUe diese Ataxien konnen als complicirende Symptome bei Psychosen vor- kommen. So kann z. B. bei einer Dementia paralytica eine typische spinale Ataxie in Folge der Complication mit Hinterstrangserkrankung des Riickenmarks auftreten. Am wichtigsten sind die corticalen Ataxien. Bei denjenigen Psychosen, welche auf organischer Rindenerkrankung beruhen, also wiederum namentlich bei der Dementia paralytica . geht in Folge der Zerstorung der motorischen Rindenelemente und der sie verkniipfenden Associationsfasern die Coordination der willkurlichen Bewegungen und zwar gerade zuerst die fiir die complicirter en Be-

*) Der chorcatischen Eewcgungsstorung wiirde schon obeu gedacht.

Somatisclio Beglcitsymptome der Psyclioscn.

173

wegiiugeu erforderliclie feinere Coordination verloren. Am friiliesten niacht sicli dies in der Regel auf dem Gebiet der Spracharticulation a-eltend. Es komint bei diesen Kranken zu Consonanten- und Silben- versetzungen und -verweclislungen. Je mehr Rindenfasern und Rinden- eleinente zii Grimde geben, nm so defector wird die Spracbe. Scliliess- licb leidet ancb die Articulation des einzelnen Buchstabens, d. b. die Coordination von Lippen-, Gauinen-, Zungen- und Ivehlkopfbewegungen, ■welche zu seiner Hervorbringuug erforderlich ist, ist gestort. Sind alle Rinden- und Associationsfasern , welcbe bei dem Aussprecben eines Wortes mitwirken, zu Grunde gegangen, so wird aus der spracblicben Coordinationsstorung eine apbasische Stbrung : der Kranke bat wobl noch den Begriff des beziiglicben Gegenstandes, aber er kann das Wort fiir denselben niclit mehr aussprecben. So kann aus der ataktisclien Spracbstorung allmablich eine motorische Aphasie sicb entwickeln. Bei , anderen Kranken sind es namentlich die Coordinationen fiir das Scbreiben Oder Geben oder Steben oder Greifen, welcbe in Folge einer Mitbe- tbeiligung der motoriscben Zonen an dem organiscben Krankbeitsprocess gestort sind.

Die Gefabr, diese organiscb bedingten Spracbstbrungen u. s. w. mit bysterischen oder mit den fruber erwahnten bypochoudrischen Spracb- stbrungen zu verwecbseln , ist zuweilen recbt gross. Der bysteriscbe Cbarakter einer Spracbstorung wird sicb namentlich durcb genaue Priifuug auf bysteriscbe Sensibilitatsstorung feststellen lassen. Die bypocbondriscben Spracbstbrungen verratben sicb durcb ibre Abhaugig- keit von einer bestimmten Vorstellung. Wenn eine Kranke regebnassig und ausscbliesslicb einen bestimmten Buchstaben, z. B. z, in alien Wbrtern weglasst, so ist dies kaum anders zu erklaren als dadurcb, dass die Kranke die Vorstellung bat, z nicbt aussprecben zu kbnnen; denn es lasst sicb gar nicbt abseben, wie ein organischer Process in alien Wortcoordinationen gerade dies eine Element zerstbren kbnnte. Nocb erheblicb scbwerer ist die Verwecbslung einer organiscben Spracb- ataxie mit der Spracbstbrung, wie sie durcb Verlangsamung und In- cobarenz der corticalen Associationen bedingt wird, zu vermeiden. Die Affecte des Zorns und der Angst kbnnen selbst bei dem Geistesge- sunden, namentlich aber bei dem Geisteskranken Spracbstbrungen er- zeugen, welcbe der organiscben ataktiscben Spracbstbrung sebr abnlicb sind. Aucb die Ermiidung oder Erscbbpfung kann Verlangsamung und Incoharenz der spracblicben Associationen bedingen. Endlicb wurde scbon friiher die Spracbstbrung als eine Theilerscbeinung der sog. pri- maren Incoharenz bescbrieben; aucb diese abnelt zuweilen der organi- schen Spracbstbrung in bobem Maasse. Um sicb vor solcben Vcr- wechslungen zu scbiitzen, wird man stets bedenken miissen, dass die

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Sonititischc BGglcil8yinj)tomG (iGr Psycho sen.

aul Verhingsiimung uiid Incoliareiiz der Association beruhende Sprach- stdiiing stets eine 1 heilerscheiming eiuer allgeineinen Verlangsamung resp. Incoluirenz aller corticalen Associatioueu ist. Man findet daher neben der Sprachstorung stets aucli Ilemmung resi). Incohilrenz des Denkens, wiilirend die organisclie Sprachstorung isolirt dasteht oder init Symptomen des Intelligenzdefectes , d. h. des dauernden Ausfalls von Vorstellungen und Vorstellungsassociationen verkniipft ist. Bei Be- sj^iechiing der Dementia paralytica in der speciellen Pathologic wird auf diese Differentialdiagnose zuriickzukommen sein.

Tremor-Erscheinungen sind bei Psychosen sehi- hiiufig. So kann die Complication der Psychose mit multipler Sklerose, Morbus Base- dowii, Paralysis agitans u. dgl. das Vorhandensein dieser oder jener Form des Tremors bedingen. Ein typischer Intentionstremor findet sich hiiufig bei Dementia i)aralytica. Auf dem Gebiet der Augenbewegungen wird er als Nystagmus bezeichnet, auf dem Gebiet der Sprache fiihrt er zu einer tremulirenden Aussprache der Vokale. Enter den Intoxicationspsy- chosen kommen uamentlich die durch chronischen Missbrauch von Al- kohol, Morphium, Nicotiana und Quecksilber hervorgerufenen Geistes- stbi ungen in Betracht. Das Zittern tritt ebensowohl bei activen Be- wegungen (als Intentionstremor) auf wie bei statischen Innervationen, d. h. bei dem activen Einnehmen bestimmter Ruhe- und Schwebehaltungen, so z. B. bei dem freien Spreizen der Finger. Bei chronischen Alkoho- listen kann dasselbe so heftig werden, dass Gehen und Stehen dem Kranken unmoglich wird. Dem alkoholistischen Tremor nahe verwandt ist der epileptische Tremor,- welcher besonders bei statischen Innerva- tionen deutlich hervorzutreten pflegt. Audi der hysterische Tremor in seinen verschiedeuen Formen complicirt ofters eine Psychose. Endlich

kommt im Alter bei geisteskranken Greisen noch ofter als bei Geistes- gesunden ein eigenartiges Zittern vor, welches durch die starke Mit- betheiligung des Kopfes ausgezeichnet ist. Alle diese Tremorformen sind bald mit einer Lahmung bezw. Schwache der zitternden Muskeln verbunden, bald nicht.

Eine besondere Stellung in der Reihe der Tremorformen nehmen das Affeetzitter n und das Erschdpfungszittern ein. Beide sind gerade bei Geistesstorungen sehr haufig und stets mit motorischer Schwache verkniipft. Enter den Affecten fiihren namentlich Angst und Zorn, zuweilen auch freudige Erwartung zu Tremor. Am starksten ist er in den Handen ausgesprochen. Meist ist er leicht arhyth- misch und stets diu’ch Geschwindigkeit und Kleinheit der Oscillationen ausgezeichnet. Er iiussert sich ebensowohl bei activen Bewegungen wie bei statischen Innervationen. In der aussereii Erscheinung ist das Erschdpfungszittern dem Alfectzittern sehr ilhnlich. Bei alien sog.

Somatische Begleitsymptomc der Psychosen.

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Erschopfuugspsyclioseu, also denjeuigen Geistesstorungen, welche auf dem Boden iibertriebener Inauspruchnahme des Centralnervensystems bei un- geuiigeuder Erliolimg bezw. Ernalmmg desselben aiiftreten, begegnen wir demselben sehr liaiifig.

AbnorniG Mitb6\v6guiig6ii sind glGiclifalls bGi GGistGskianlcGii niclit SGltGD. Am liaufigstGn bGobachtGt man siG bGi angcborGnGn odGr in friiliGstGr Kiudlmit GrworbGnGn organiscliGn HirnGrkranlmngGn. Audi diG InuGi-vationGU parGtiscliGr MuskGln bGi dGr DGmGntia paralytica und senilis sind oft mit Mitbewegungen verkniipft. So kaun bei dem Aus- spreclien eines etwas schwierigen Wortes fast die ganze Gesichtsmuscu- latur in heftige Mitbewegungen gerathen. Mitunter nehmen diese Mit- bewegungen geradezu einen spastisclien Cbaraktei an. Eine eigenaitige Form spastischer Mitbewegungen im Bereicli der Phonationsmusculatur stellt auch das Stottern dar.

p. Storungen der automatischen Akte.

Bei dem Menschen sind die meisten automatischen Akte aus Haud- lungen entstanden. Der Klavierspieler spielt eiu Musikstlick, welches er oft geiibt hat, schliesslich automatisch, d h. ohne dass psychische Parallelpro- cesse vorhanden sind. Diese aus Handluugeu hervorgegangeneu automa- tischen Akte konnen bei dem Geisteskranken dieselben Storungen zeigen wie die Handlungen selbst. Es kann daher einfach auf die Storungen des Handelns zuriickverwiesen werden. Nur ist hervorzuhebeu, dass zuweileu die automatischen Akte vor den Handlungen dem Kranken verloren gehen. So kommt es vor (bei Dementia paralytica, bei Erschopfimgs- psychosen u. s. w.), dass der Kranke Bewegungen, welche er friiher automa- tisch ausfiihrte, jetzt nur bei Anspannung aller Aufmerksamkeit auszufiihren vermag. Seltener beobachtet man, dass umgekehrt der Kranke auto- matische Bewegungen noch auszufiihren vermag, welche ihm bei Hin- lenkung oder Anspannung der Aufmerksamkeit nicht gelingen.

y. Storungen der Reflexe und Sehnenphanomen-Reflexe.

Eine Herabsetzung oder Aufhebung der PI an tar reflexe ist so- wohl bei functionellen wie bei organischen Psychosen haufig. Grossere Bedeutung kommt diesem Symptom in diagnostischer Hinsicht nicht zu, wofern es doppelseitig ist ; denn auch bei Gesunden trifft man gelegent- lich sehr schwache Plantarrefiexe. In stuporosen Zustanden ist Flerab- setzung der Sohlenreflexe fast stets zu constatiren. Einseitige Herab- setzung oder Aufhebung der Sohlenreflexe ist stets pathologisch und flndet sich weitaus am hautigsten bei den verschiedeneu Eormen des hysterischen Irreseins und bei solchen orgauisch - bedingten Psychosen,

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Somatische Begleitsymptome der Psychosen.

welclie niit Ixilckenmarkserkrankuug comi)licirt sind. Voriibergeliend tritt sie in den paralytisclien Anfallen der Dementia ijaralytica auf der Seite der Liilimimg auf. Steigerung der Plantarreflexe und zwar doppel- seitige ist ein haufiges Begleitsymptom der allgemeinen Hyperasthesie und oline besondere diagnostische Bedeutuug. Halbseitige Steigerung fiudet sicli am haufigsten })ei hysterischen Psychosen, seltener bei or- ganisch-bedingten.

Die epigastrisclien Beflexe sowie die Cremasterreflexe sind bei dem Gesunden, wofern nur die Bauchmuskelu resp. der Cremaster geniigend erschlafft sind, stets zu erzielen. Bei Geisteskranken fiihrt die mit Spinalerkrankung complicirte Dementia paralytica sehr oft zu einseitiger oder doppelseitiger Herabsetzung oder Aufhebung dieser Beflexe. Bei der Hysteric fallt die halbseitige Differenz der Beflexe ofter auf.

Der Conjunctival-, Palpebral- und Co rnealreflex ist bei den stupordsen Zustanden in der Begel erhalten, wahrend bei den sopo- rosen Zustanden diese Beflexe in der Begel herabgesetzt oder aufge- hobeu sind.

Der Wiirg- oder Gaumenreflex ist am haufigsten bei der Hy- steric, seltener bei organisch-bedingteu Psychosen herabgesetzt und zwar bald einseitig bald doppelseitig.

Von grosster Bedeutiing fiir die psychiatrische Diagnostik ist die Untersuchimg der P upillarr ef lexe. Es ist stets die Promptheit, die Ausgiebigkeit und die Nachhaltigkeit der Pupillenreactionen zu priifen und zwar sowohl der directen und synergischen Lichtreaction wie der Convergenzreaction. Mangel an Promptheit der Licht- reactionen (= Lichttragheit) ist fast stets gleichbedeutend mit Auf- hebiing der Lichtreactionen (= Lichtstarrheit) und weist wie diese auf eine organisch-bedingte Psychose hin, und zwar kommen namentlich Dementia paralytica. Dementia senilis. Lues cerebri und die alkoholisti- schen Psychosen in Betracht. Auch bei chronischeu Morphinisten wird Puiiillentragheit und selbst Pupillenstarre beobachtet. Die Complication einer Psychose mit Tabes bedingt selbstverstandlich ebenfalls das Auf- treten von Pupillentragheit resp. Pupillenstarre. Ein neues diagnostisches Moment ist insofern damit nicht gegeben, als in der iibergrossen Mehr- zahl dieser Falle die mit der Tabes vergesellschaftete Psychose die Dementia paralytica ist, deren Beziehung zu der Pupillentragheit schon erwahut wurde. Voriibergehende Pupillenstarre beobachtet man ab und zu in schwersten epileptischen Anfallen, sowie sehr selten in epilep- tischen Dammerzustanden. Mangel an Ausgiebigkeit der Licht- reactionen ist diagnostisch bedeutungslos. Er findet sich meist zu- gleich mit Mydriasis ungemein haufig bei alien Erschopfungspsychosen, ferner l)ei dem epileptischen und hysterischen Irresein, endlich bei den

Soiuatisclie Bcgleitsymptomc tier Psychoscn.

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Verscliiecleusteii organisclieu Psycliosen. Es bedarf nameutlicli bei wider- strebendeu Krauken oft eiuer grosseu Geduld und scliarfer Beobachtuug, urn diesen Mangel an Ausgiebigkeit mit der eben erwlilinten Tragheit iiicht zu verwecliselu : die imausgiebige, aber trotzdem prompte Reaction Avird sehr leicbt iibersehen. Mit der Uiiausgiebigkeit der Lichtreaction verbindet sich oft ein weiteres Symptom: immittelbar nach der Veren- gerung tritt sofort wieder eine Erweiterimg ein (Mangel anNaclibaltig- keit). Diese Wiedererweiterimg ist baulig von sog. elastischen oder liydraulischen Schwankungen der Pupillenweite (Hippus) begleitet. Mit- unter kann aucli die secundare Erweiterung ausgiebiger als die primtire Verengerung sein.*) Alle diese Begleiterscheinimgen der Unausgiebigkeit haben diagnostische Bedeutung bis jetzt nicht erlangt. Sie finden sicli bei mancben functionellen Psychosen sogar liaufiger als bei organiscben, Storungen der C on v ergenzreaction sind erheblicli seltener: Aufhebung und Triigbeit sind bei organiscben Psycbosen sowie bei Complicationen mit Tabes’ am baufigsten, Unausgiebigkeit und rascbe Ermiidung kommen aucb bei functionellen Psycbosen vor.

Der Blinzel reflex bei plotzlicber Belicbtung des Auges oder brusker Annaberung eines Fingers ist in stuporosen Zustandeu oft iiusserst scbwacb, bei organiscben Psycbosen kann er aufgeboben seiu. Seine Prufung ist desbalb von Wertb, weil wir bei soporosen oder scbwacbsinnigen Kranken mittelst desselben bfters eine Hemianopsie feststellen kbnnen, welcbe sonst gar nicbt zu constatiren ware. Fabren wir z. B. rascb mit dem Finger von der recbten Seite auf das linke oder recbte Auge zu und bleibt das Blinzeln aus, wahrend es bei An- naberung von bnks prompt eintritt, so ist eine recbtsseitige Hemianopsie sebr wabrscbeinlicb. Fiir die Diagnose ist mit dieser Feststellung oft ein wicbtiger Anbaltspunkt gewonnen.

Sehnenphanomene .

Ilerabsetzung oder Aufbebuug eines oder beider Kuiepbii- nomene bei einem Geisteskranken deutet meist 1. auf Dementia paralytica oder 2. auf Complication mit Tabes oder 8. auf Complication mit multipler Neuritis.

Die seltenen Fillle, in welcben eine Complication der Psycbose mit pro- gressive!’Muskelatr opine, Poliomyelitis u. dgl. Herabsetzung oder Aufbebung der Kniepbanomene bedingt, kommen praktiscb kaum in Betracbt. Sebr

*) So kann die Tansdinng entstehen, wenn nilinlich die primare Verengerung sebr unausgiebig ist als rule die Belicbtnng eine Erweiterimg der Pupille hervor.

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Ziehen, Paychiatrie.

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Sonmtischc Bcgleitsynii)tome der Psychosen.

wiclitig ist, class das Felilen der Kniepliaiioinene bei Dementia paralytica iiicht stets, aber dock haulig auf die Complication mit einer typisclien Tal)es zuriickzufiiliren ist. Der unter 1 und der unter 2 angefubrte Fall decken sicli also tlieilweise. Auch bei Syphilis des Centralnervensystems beobachtet man zuweilen Fehlen der Kniephanomene (mitunter zugleich mit ein- Oder doppelseitiger Lichtstarre der Pupillen). Insbesondere kommt bier aiicli der angeborene Schwachsinn bei hereditar-syphilitischen Kindern in Betraclit.

Vor ilbergehendes Fehlen der Kniephanomene kommt in tiefem Coma vor, so z. B. auch, wenn auch selten, im epileptischen Coma. Auch bei schweren Collapszustanden, mit und ohne Coma, gehen die Kniepha- nomene zuweilen verloren. Namentlich gilt dies von den Collapszustanden, welche man bei den schwersten Formen des in Irrenanstalten recht haufigen acuten Darmkatarrhs beobachtet. Unter 8 Fallen solchen Darmkatarrhs, welche das Westphal’sche Zeichen, d. h. Aufhebung der Kniephanomene zeigten, endeten 7 todtlich.

Dass gerade bei Geisteskranken die Priifung des Kniephanomens besondere Vorsicht erheischt, ist selbstverstiindlich. In vielen Fallen hat man mit mangelhafter Erschlafiung der Beinmuskeln, welche bekannt- lich zum Erzielen des Phiinomens unerlasslich ist, zu kiimpfen. Der Jendrassik’sche Kunstgriff (Ballen der Fauste) oder auch der Schreiber’sche (Reibung der Innenflache der Oberschenkel) sind sehr haufig erforderlich, um das Kniephanomeu zu erzielen. Sehr empfehlenswerth ist gerade bei Geisteskranken auch eine von Buzzard empfohlene Methode: man lasst den Kranken sitzend die Fussspitze des Beins, welches man priifen will, fest auf den Boden aufdriicken und beklopft die Quadricepssehne wiihrend dieses Aufstemmens der Fussspitze.

Doppelseitige Steigerung der Kniephanomene hat fiir die psy- chiatrische Diagnose keine Bedeutung, einseitige wie iiberhaupt jede halbseitige Differenz der Kniephanomene ist am haufigsten auf eine Herderkrankung im Verlauf der Pyramidenbahn (z. B. auf eine voraus- gegangene Hamorrhagie im Bereich der inneren Kapsel) oder auf De- mentia paralytica oder Dementia senilis zu bezieheu.

Fehlen der Achillessehnenphanomene hat dieselbe schwer- wiegende Bedeutung wie das Fehlen der Kniephanomene. Nur bei Frauen, die geboiAn haben, beobachtet man gelegentlich Fehlen der Achillessehnenphanomene, ohne dass eine der oben angefiihrten Krank- heiten und auch ohne dass Syphilis vorliegt. Die Steigerung der Achilles- sehnenphanomene gewinnt nur dann einige Bedeutung, wenn zugleich Fus ski onus zu erzielen ist. Dieser kommt namentlich vor bei:

1. Dementia paralytica:

2. Dementia senilis;

Somatische Bcgleitsymiitomc cler Psychosen.

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3. Multipier Sklerose, welclie selir liaufig Denkhemmung und aucli lutelligenzdefect bediugt;

4. Hysterie;

5. Epilepsie;

6. scliweren Fallen des neurastlienisclien Irreseius.

Halbseitiger Fiissklonus findet sich bei den sub 1 3 genannten Krankheiten sowie bei Herderkrankungen des Geliirnes auf der Seite der Lalimung. Selir selten beobachtet man balbseitigen Fussklonus aucb bei den unter 4 6 aufgezahlten functionellen Neurosen.

Das Anconeuss ehnenp banonien ist in diagnostiscber Beziebung weit weniger werthvoll. Sebr selten fehlt es ganz. Es hangt dies wahr- scheinlicli damit zusammen, dass die Beklopfung der Anconeussebnen stets aucb eine idiomusculare Contraction auslost. Die einzigen Fade, in welcben es vollig feblte, betrafen Paralytiker, bei welchen die Sec- tion bocbgradige graue Degeneration im Gebiet der binteren Wurzel- zonen des Buckenmarks ergab.

Anbangsweise sei bier aucb nocb kurz der sog. idiomuscularen Erregbarkeit gedacbt. Dieselbe aussert sicb darin, dass bei Beklopfung eines Muskels (nicbt einer Sebne) erstens eine Gesammtcontraction des Muskels und zweitens local d. b. an der Stelle der Beklopfung die Bildung eines Querwulstes eintritt. Diese idiomusculare Erregbarkeit ist bei Geisteskranken sebr baufig gesteigert. Bei epileptiscben sowie in den „paralytiscben Anfallen^^ der Dementia paralytica beobacbtet man zuweilen einen Querwulst, der uber 10 Secunden sicbtbar bleibt. Sonst ist die Steigerung der mecbanicben Muskelerregbarkeit bei Geisteskranken wie bei Geistesgesunden am baufigsten einerseits bei jugendlicben, sebr muskelkraftigen, und andrerseits bei senilen und kacbektiscben Individuen. Zuweilen beobacbtet man sogar ein Ueberspringen der Contraction auf benacbbarte Muskeln.

5. Sensible und sensorielle Storungen.

Der Hypastbesien und Hyperastbesien sowie der Hypalgesien und Hyperalgesien wurde bereits friiber gedacbt. Es erubrigt, bier nocb kurz der Parastbesien zu gedenken, soweit sie nicbt den friiber be- sprocbenen Illusionen oder Hallucinationen angebdren, soweit sie also nicbt durcb eine Erkrankung der Hirnrinde, sondern durcb eine Er- krankung der cerebralen, spinalen und peripberen Leitungsbabnen bedingt sind. So kdnnen die Parastbesien der Tabes und der multiplen Neu- ritis eine Psycbose compliciren. Bei der Dementia paralytica sind Par- astbesicn aucb in solcben Eiillen bilufig, wo das typiscbe Bild der T-abes ganz feblt. Es bleibt dann zweifelbaft, ob dieselben anf der

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Somatische Begleitsymptomc der Psychosen.

Rindenerkrankung selbst oder aiif einer nicht genauei- festgestellten ]\ritbe- tlieiligimg des TUickeamarks oder der periplieren Nerven am Kranklieits- process berubeii. Ganz abnliche Parastliesien linden sicb auch bei der Hysterie nnd bei der Neurastlienie imd kbnnen daber als complicirende Symptome des neurastbeniscben oder bysterischen Irreseins auftreten. Bei beiden Krankbeiten sind wir noch nicht im Stande mit Sicherheit anzugeben, ob die beziiglicben Pariisthesien auf autochtbonen Erregungs- processen der corticalen Empfindungselemente beruben und somit als eleinentare Plalliicinationen anzuseben sind oder ob sie abnormen, in den periplieren Leitungsbabnen gelegenen Reizen entsprecben. Fiir die Neurastlienie ist das letztere wabrscbeinlicber. Audi das Augen- flimmern und Obrensausen und -klingen der Neurastlienie ist in vielen Fallen wabrscheinlicb auf peripbere Reizziistande im Gebiet des Opticus resp. Acusticus zuriickzufubren.

Die Parastliesien, welcbe soeben erwabnt wurden, sind von leicbten negativen Gefiiblstonen begleitet. Der Kranke klagt wobl iiber die Liistigkeit derselben, aber diese berubt mebr auf der Bebarrlicbkeit dieser Pariistbesien und ibrem storenden Einfluss auf die Ideenasso- ciation als auf der Intensitat des negativen Gefublstons. Anders bei den sog. „spontanen Scbmerzen^G es sind dies Empfindungen, welcbe auf Reizen innerbalb der periplieren Leitungsbabnen beruben und von intensiv negativem Gefiiblston begleitet sind. Der negative Gefiiblston ist meist so stark, dass die Qualitiit der Empfindung ganz in demselben aiifgebt bezw. iiber demselben unbemerkt bleibt. Spontane Scbmerzen kommen bei den verscbiedensten Psycbosen vor. Man unterscbeidet zweckmiissig folgende Hauptformen:

1. Organise!! bedingte sp o n t an e S cbm er z en : bierber geboren z. B. die lancinirenden Scbmerzen der mit Tabes complicirten Dementia paralytica, die Kopfscbmerzen, welcbe die auf einer Herd- erkrankiing des Gebirns berubenden Psycbosen begleiten, endlicb die bartniickigen Kopfscbmerzen, welcbe namentlicb im Beginn der De- mentia paralytica und senilis Tag und Nacbt den Kranken qualeii.

2. Functionelle, dem Ausbreitungsgebiet eines bestimmten Nerven entsprecbende spontane Scbmerzen = Neuralgic n. Ausser der brtlicben Umgreiizung- ist die Druckeinpfindlicbkeit der fraglicben Nerveustamme fiir die Neuralgien sebr cbarakteristiscb. Am biiiifigsten ist das Yer- biiltniss zwiscben Neuralgic und Psycbose ein causales ; nicbt selten beobacbten wir, dass beftige Neuralgien zu Psycbosen zuweilen ganz voriibergebenden, sog. transitoriscben Geistesstorungen fiibren.

3. Topalgien, d. b. functionelle spontane Scbmerzen, deren Aus- breitung der anatomiscben Ausbreituug eiues bestimmten Nerven nicbt entspricbt. Druckempfindlicbkeit der zugeluirigcn Nervenstamme leblt

Somatische Begieitsymptome der Psychosen.

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Oder ist imerheblich. Hierlier gehdren die meisten Schmerzen des neur- iistheniselien Irreseins. Bei Besprechimg des letztereu wird cauf diese Topalgien zurilckgekommeu werden milssen. Eine der liaiifigsten dieser Topalgien ist z. B. ein anf der Scheitelhohe des Kopfes etwa den Um- fang eines Kartenblattes einnehmender fressender Sclimerz, den die Kra'uken bald uuter die Haut, bald in den Knochen, bald imter den letzteren, bald direct in das Gebirn verlegen. Gerade diese Topalgien sind hanfig die frucbtbarsten Ankniipfungssymptome fiir bypochondrische Wahnvorstellungen.

4. VasomotoriscbeFormen. Fiir die psychiatriscbe Diagnostik sind die sog. Migranezustande am wichtigsten. Man begegnet den- selben in der Anamnese von Geisteskranken sebr baufig, und ancb als complicu’ender Symptomencomplex der Psycbose wiibrend ibres Verlaiifs ist Migrane nicbt selten. Ausser der gewobnbcben Migrane spielt nanient- licb die sog. Augenmigrane eine bedeutsame Robe. Diese ist dadurcb aus- gezeicbnet, dass zu der Symptomtrias (Kopfscbmerz, Erbrecben, balb- seitiger Stoning der Gefassinnervation) Flimmerskotom binzutritt. Man beobacbtet dieselbe einerseits als Vorlaufersymptom der Dementia para- lytica und andererseits aiicb bei functionellen Psycbosen, so namentlicb bei dem bysteriscben und ancb bei dem epileptiscben Irreseiu. Bei der „complicirten Augenmigrane" (Migraine opbtbalmique compliquee) konimt zn den erwabnten Symptomen nocb eine gemiscbte Hemiamistbesie oder Hemibypastbesie binzu. Diese Form ist bei dem bysteriscben Irreseiu und bei den Intoxicationspsycbosen am baiifigsten.

Bei der Darstellung der einzelnen Psycbosen wird aid zablreicbe specielle sensible und sensoriscbe Stornngen genauer eingegangen werden mussen.

£. Storungen der secretorischen, trophischen, vasomotorischen und splanchnischen Innervationen.

Seer etionss toning eu.

Speicbelsecretion. Steigerung der Speicbelsecretion oder Salivation ist bei Psycbosen imgemein baufig. Oft kommt dieselbe rein meebaniseb zii Stande, indem unwillkiirlicbe Kaubewegungen (Mastication) die Speicbeldriisen zii einer fortwabrenden Secretion erregen. So findet man dies Verbalten z. B. bei organiseben Hirnkraukbeiten, namentlicb bei der Dementia paralytica, andererseits jedocb ancb bei den mit Masti- cation verlaufenden functionellen Psycbosen, insbesondere denjenigen jugendlicber Individuen. In anderen Fallen bandelt es sicb um Reiz- ersebeinungen im Gebiet der Secretionsnerven der Speicbeldriisen, welcbe in directerer Abbangigkeit von der Psycbose steben. So findet man

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SoiDiitischG IJcglcitsymptomc dcr Psychoscn.

z. i;. bei den aeuten Formen der Paranoia niclit selten cine ausge- spioehene Salivation. In einer dritten Reilie von Fallen ist die Salivation durch Halliieinationeu oder Wahnvorstellungen bedingt. So kbnnen Ge- selimaekstauschungen ein fortgesetztes Speicheln bedingen. Auch Ver- giftungswahn ohne Hallneiuationen kann zu abnormem Speicheln fiihrcn. Das Speicheln ist in den letztgenannten Fallen willkiirlich, insofern sich damit raeist bei den Kranken die Absieht verknupft, durch das Speicheln den hallucinatorischen Geschmack oder das vermeintliche Gift zu ent- ternen. Endlich kann auch die Zwangsvorstellung ^speicheln zu mussen" zu abnormem Speichelfluss fiihren.

Zuweilen wird eine Steigerung der Speichelsecretion auch nur vor- getauscht durch eine Lahmung des Orbicularis oris oder der Schling- muskulatur. In diesen Fallen trauft der Speichel aus dem Munde hervor, weil die normale Schluckbewegung ausbleibt oder der Schluss des Mundes unvollkommen ist. Gelegentlich konnen auch hierbei Wahnvorstellungen eine Rolle spielen: der Kranke glaubt den Speichel nicht herunter- schlucken zu diirfen und sammelt daher grosse Mengen in seinem Mund an. Man gelangt dann leicht zu der iiTthiimlichen Annahme, die Secre- tion selbst sei gesteigert. Mitunter ist auch die allgemeine motorische Hemmung die Ursache dieses Speichelsammelns : der Kranke schluckt nicht, weil alle sog. willkiirlichen Bewegungen auf das Hochste gehemmt sind. Sowohl die i^rimare wie die secundare motorische Hemmung kann zu solcher scheinbaren Salivation fiihren.

Pathologische Herabsetzung der Speichelsecretion beobachtet man ofter bei Melancholic, seltener. in Fallen von Paranoia.

Magensaftsecretion. Genaueres wissen wir nur iiber dieSalz- Sciur e abscheidung des Magens. Bei dem Gesunden enthalt ein 2 3 Stunden nach einer Fleischmahlzeit ausgeheberter Mageninhalt 1,5 2,5 Salzsaure. Am zweckmassigsten bestimmt man dieselbe mittelst der Sjoquist’schen Methode. Bei Psychosen findet sich oft eine Herabsetzung oder eine Steigerung der Salzsauresecretion. Erstere, die sog. Hypo- chlorhydrie, ist namentlich bei dem angeborenen sowie bei dem erworbe- nen Schwachsiim hiiufig. In den Terminalstadien der Dementia para- lytica ist oft Salzsaure in dem Ajisgeheberten iiberhaupt nicht mehr nachzuweisen. Hyperchlorydrie, d. h. Steigerung der Salzsauresecretion, beobachtet man bei manchen cardialgischen Anfallen (bis zu 7%o), zu- weilen aucii nach epileptischen Anfallen. Auch in schweren katatonischen Zustiinden besteht im Allgemeinen eine Tendenz zu Hyperchlorhydrie,

Ueber die Storungen in der Secretion des Darmsaftes wissen wir noch nichts. Wahrscheinlich ist, dass die schweren Verdauungsstorungen, welche wir olt bei der Melancholic, im Depressionsstadium der Dementia paralytica u. s. w. beobachten, z. T. auch auf solchen Storungen beruhen.

Somatischo Eegloitsyraptomc der Psycbosen.

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Audi die Galleuabsoiideruug ist zuweilen gestort; in solclien PAilleii beobaclitet man gelegeutlidi eine typisdie Urobilinurie. ^

Tliranensecretion. Auffallig geringfiigig ist dieselbe im Allge- ineiiieu bei den patbologisdien Depressionsznstanden. Der sebnlicbste Wunsdi vieler Melancholisdier ist: „nur wieder einmal ordentlich weinen zu konnen«. Eine starke Tbranensecretion bei primaren Depressions- oder Angstziistiinden recbtfertigt geradezu einen gewissen Verdacht aiif einen coexistirenden Intelligenzdefect.

Urinsecretion. Die Quantitilt des Urins ist bei den func- tionellen Psycbosen in der Regel an sidi normal. Eine Verringerung der 24stiindigen Urinmenge findet man trotz reichlicber Fliissigkeits- aufjiabme und ohne aeqnivalente Steigernng der Scbweisssecretion in Depressions- und Stuporzustanden. Eine auffallige Vermehrung der 24stiindigen Urinmenge (Polyurie) findet sicb oline qualitative Veran- derung des Urins bei organisch bedingten Psycbosen, so namentlicli bei der Dementia paralytica, der Lues cerebri, sowie Herderkrankungen des Gebirns. Bei dem bysteriscben Irresein beobacbtet man oft einen eigentbiimlicben Wecbsel von Oligurie und Polyurie. In vielen Fallen ist die Polyurie nur die secundare Folgeerscbeinung einer primaren Polydipsie.

Das specifiscbe Gewicbt des Urins ist bei Oligurie bilufig entsprecbend gesteigert, bei Polyurie verringert. Diaguostiscbe Bedeutuug baben diese Veriinderungen bis jetzt nicbt erlangt.

Die cbemiscbe Zusammensetzung des Urins ist bei Psycbosen baufig veriindert. So kann die absolute Menge der innerbalb 24 Stunden aus- gescbiedenen Cbloride, der Pbospbate und Urate sowie des Harnstoffs vermebrt oder vermindert sein. Wertb und Bedeutuug erlangen solcbe zablenmassigen Feststelbmgen im Allgemeinen erst danu, wenn zugleicb festgestellt wird, wieviel Cblor, Pbospbor und Stickstoff in derselben Zeit in der Nabrung dem Korper zugefiibrt wird und wieviel in den Facalien den Korper verlassen bat. Umfanglicbere zuverlassige Unter- sucbungen in dieser Ricbtung stebeu uocb aus. Bei Erregungszustiinden ist, wie dies a priori zu erwarten war, der Eiweiss- und Cblorumsatz gesteigert. Diese Steigerung ist wabrscbeinlicb bauptsacblicb auf die vermebrte Aluskelarbeit zuruckzufiibren.

Haufig entbiilt der Urin von Geisteskranken aucb abnorme Bestand- tbeile. llierber gebort zunacbst das Auftreten voii Albumen und Pro- pep ton bezw. Pepton, obne dass eine Erkrankuug des Nierengewebes nacbweisbar ist. Man beobacbtet dasselbe am baufigsten bei acuten scbweren Verwirrtbeitszustanden mit starkerer motorischer Erregung. Gerade bei diesen beobacbten wir aucb in anderen Beziebungen eine auffallig erbeblicbe Riickwirkuug der Psycbose auf die somatiscben Func- tionen. So ist z. B. bei dem Delirium tremens Albuminurie sebr

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Somatische Begleitsyrnptome dcr Psychosen.

hautig. Ilier iiinimt geradezu der Eiweissgelialt des Urins mit dem Grad der Iiicoliareiiz und Unorientirtlieit al) und zu. Audi in epilep- tisdieu Damnierzustcinden sowie nadi gehauften epileptisdien Anfiillen findet man ofters Eiweiss im Urin. Die Propeptonurie geht meist der Albuminurie voran und iiberdauert dieselbe eine kurze Zeit. Die erstere vernitb sich, wo sie ohne Albuminurie auftritt, meist schon dadurch, dass der mit Salpetersaure versetzte, gekochte Urin klar bleibt, nach dem Erkalten aber sich triibt und nach einigen Stunden einen deutlichen Niederschlag absetzt. Die Albuminurie bei Geisteskranken mit Arterio- sklerose ist in der Regel auf eine organische Nierenerkrankung und nicht. auf eine Beeinflussung der Nieren durch das Hirnleiden zuriickzu- fiihien. Bei Dementia paralytica findet man neben Albuminurie und Propeptonurie ofter auch Peptonurie.

Auch hya-line Cylinder hat man ofter im Urin Geisteskranker gefunden und zwar vorwiegend bei heftigen Erregungszustanden.

U r 0 b i 1 i n u r i e und auch B i 1 i r u b i n u r i e ist ohne Lebererkran- kung gelegentlich bei Dementia paralytica ziir Beobachtung gekommen.

Glycosurie mit oder ohne Polyurie ist bei organischen Psychosen ofters beobachtet worden. Dabei soli von denjenigen Psy- chosen, welche in Folge eines echten Diabetes auftreten, ganz abge- sehen werden, vielmehr nur diejenige Glycosurie Erwahnung finden, welche in directer Abhangigkeit von der Psychose steht. Eine solche findet sich nicht selten tage- oder wochenweise im Verlaufe einer Dementia paralytica oder einer Hirulues. Mitunter ist das Auftreten ein intermittirendes.

Acetonurie findet sich ofter bei solchen Geisteskranken, deren Ernahrung aus irgend einem Grunde darniederliegt. Sie ist daher z. B. bei nahrungsverweigernden Melancholikern nicht selten. Unabhangig von Storungen in der Nahrungsaufnahme kommt Acetonurie bei den verschiedenen Eormen des epileptisdien Irrseins sowie bei Dementia paralytica vor.

Die Storungen in der Blutbildung der Geisteskranken sind noch sehr wenig untersucht. Auf der Hohe schwerer acuter Psychoseu ist oft der Hamoglobingehalt und das specifische Gewicht des Blutes ver- mindert. Ebenso findet man eine Verminderung dieser beiden Blutwerthe bei der Dementia paralytica parallel dem fortschreitenden kbrperlichen Verfall. ImBeginne der Melancholie soil eine Steigerung beider Werthe vorkommeu.

Trophische Storungen.

Stoftwechseluntersuchungen, welche uns Auskunft zu gebeu ver- mbchten iiber den gesammten Chemismus des Korpers wahrend der

Somatischo Begleitsymptomc dor Psychosen.

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Psychose, liegen bislang fiir keiue ein/igc Psychose vor. Uusere Kennt- nisse bescbrankeu sich anf das Wenige, was oben beziiglicli der Aiis- scbeidung des Stickstoffes imd der Chloride im Urin angegeben wurde.

Einen gewissen Ersatz gewahrt eine genaue Beobacbtung des Korper- gewicbtes. Bei acuten Psychosen sollte dasselbe jedenfalls wochentlich festgestellt werden. Die wichtigste Regel beziiglich des Korpergewicbtes bei acuten Psycbosen lautet dahin, dass mit der Entwickelimg der Krank- heit das Korpergewicht rascb sinkt, auf der Hohe der Krankheit ein Minimum erreicbt und dann entsprechend der Genesung sich wieder hebt. Mitunter ist im sonstigen Zustand des Kranken, namentlich in den psychischen Symptomen, eine Besserung noch nicht zu erkennen und nur das Einsetzen einer leichten Gewichtszunahme nach langem Sinken bezw. langem stationarem Tiefstand des Gewichtes kiindigt die bevor- stehende Genesung an. Die Gewichtszunahme in der Reconvalescenz ist oft eine ausserst rapide (bis zu 15 Pfund in einer Woche). Nicht immer ist jedoch die Gewichtszunahme auf der Hobe einer acuten Psychose von giinstiger Vorbedeutung. Wenn eine acute Psychose nach langerem Sinken bezw. Tiefstand des Korpergewicbtes plotzlich oder allmahlich eine er- hebliche Zunahme desselben zeigt, ohne dass gleichzeitig oder unmittelbar danach eine Besserung auf psychischem Gebiet bemerklich wird, ist im Gegentheil ein ungiinstiger Verlauf in secundare Demenz als wahrschein- lich anzunehmen.

Vasomotorische Storungen,

Storungen der Innervation des Herzens und der i\.rterien sind bei Geisteskranken auch in solchen Eiillen nicht selten, wo das Herz und die Arterien selbst durchaus normal sind. Die Herz thiitigkeit ist selten in abnormer Weise beschleunigt (am haufigsten noch bei dem neurasthe- nischen Irresein und zwar hier bald dauernd, bald anfallsweise), hin- gegen sehr oft abnorm verlangsamt. *) Herabsetzung der Herzaction auf 50 und weniger Schlage pro Minute wird bei stuporoseu Zustanden nicht allzu selten auch beiAbwesenheit jeglicher Arteriosklerose beobachtet.

Wichtiger noch sind die Storungen jn der Innervation der arteriellen Gefasse. Haufig lehrt schon das Eiihlen des Pulses mit der Hand, dass entweder die Art. radialis in abnormem Grade contrahirt ist, oder dass umgekehrt die Wandspannung abnorm gering ist. In letzterem Falle besteht haufig eine gleichfalls schon fiir den tastenden Finger erkenn- bare Steigerung der normalen Dicrotic. Die sphygmographische Unter- suchung bestatigt dies. Die abnorme Steigerung der Wandspannung,

*) Bei organischen Psychosen, namentlich bei der sog. Taboparalyse ist Puls- beschleunigung und Pulsverlangsamung oft direct auf eine Degeneration des Vagus- kernes oder der peripheren Vagusfasern zu beziehen.

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bornatischc Begleitsyniptorne der Psychoscn,

cler sog. peripherische arterielle Gefasskrarnpf, giebt sicli rlurcb eine Verrainderuug cler Riickstosselevation zu erkennen ; zugleich pfiegt die erste Elasticitatselevation auf dem absteigenden Schenkel der Welle etwas libber nach oben gerlickt und deutliclier ausgepragt zu sein. Die

imtere der vorstehenden Curven giebt ein Beispiel eines solclien Gefiiss- krampfes ; das obere stellt ein normales Pulsbild dar. Die abnorme Schlaffheit der Gefasswande, die peripheriscbe Gefassparese, aussert sicli in einer Verkleinerung oder einem vblligen Verscbwinden der ersten Elasticitatselevation und einer erbeblicben Vergrbsserung der Riick- stosselevation; durcb letzteren Umstand ist die oben erwalinte Dicrotie bedingt,

Der arterielle Gefasskrarnpf kommt gelegentlich bei jeder Psychose vor. Am liaufigsten ist er bei der Melancbolie, bei der stuporbsen Paranoia und im Depressionsstadium der Dementia paralytica. Arterielle Gefassparese ist am liaufigsten in den spateren Stadien der Dementia paralytica. Hier erfahrt das - Pulsbild oft eine weitere Veranderung da- durch, class es scbliesslich zu einer fast vblligen Gefassparalyse kommt, sowie cladurch, class die Contraction des Herzens selbst abnorm lang- gezogenist: spbygmographiscli giebt sicli dies in cler sog. tar den Puls-

8.

9.

curve kund, bei welcher cler aufsteigencle Pulssclienkel eine sebr schrag ansteigende leicht gekriimmte Linie clarstellt und cler Wellengipfel abge- flacbt ist. Die beistehenclen Curven geben eine Veranscliaulichung der in Rede stehenden Gefassparese bezw. Gefassparalyse.

Somatische Begleitsymptomc ilcr Psychosen.

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Walirend die soeben beschriebenen Verilnderungen des Contriictions- zustandes von der Bescbaffenheit der Affecte im Weseiitlicheu unab- haiigig sind, kennen wir eine andere Veranderung des Pulses, welclie direct von Affectstorungen abbiingig ist. Intellectuelle Processe als solche obne begleitenden Gefiihlston beeinflussen das Pulsbild nicbt. Ebensowenig sind die einfacben leicbteren Stiinmungsanonialien , wie z. B. die einfacbe Depression oder die einfacbe Exaltation spbygmogra- pbiscb wirksam. Niir die sog. Erregungsaffecte, d. b. diejenigen Affecte, welcbe aucb auf dem Gebiete der willklirlicben Korpermusculatur einen erregenden Einfluss ausliben, wirken verandernd auf die Pulskurve und zwar ausnahmslos, es mag sicb um positive oder urn negative Affecte bandeln, in dem Sinn, dass die erste Elasticitatselevation nacb oben geriickt und vergrossert wird. Die Rlickstosselevation bleibt dabei fast unverandert. Die beistebende Curve stellt die Pulswelle eines Kranken mit beftiger primarer Angstagitation dar. Ganz abnlicbe Pulsbilder findet man bei beiterer Erregung, ballucinatoriscber Erregung u. s. f. Es ist wahrscbeinlicb, dass diese auf Erregungsaffecten berubende Ver-

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iinderung der Pulskurve der Ausdruck einer leicbten Steigerung der Wandspannung der Arterien ist. Sebr baufig beobacbtet man, z. B. bei Melancbolie, ein Zusammentreffen des oben erwabnten Gefasskrampfes mit der jetzt besprocbenen affectiven Veranderung der Gefasscontraction. Es kommt dann geradezu zu einer Summation der beiden Storungen. Den oben erwabnten Gefasskrampf ebenfalls durcbweg auf Affecteinfllisse zuriickzufiibren ist desbalb nicbt angangig, weil er sicb einerseits oft aucb obne jede Affecte vorfindet und andererseits ofters beftige Er- regungsaffecte obne die fiir den Gefasskrampf cbarakteristiscbe erbeb- liche Verminderung der Rlickstosselevation vorkommen.

Eine genaue Beobacbtung des Contractionszustandes der peripberen Arterien ist desbalb wicbtig, weil derselbe bei mancben Psycbosen einen vorziiglicben Maassstab fiir die Krankbeitsintensitat abgiebt und weil er. wie in der Folge sicb ergeben wird, mancbe tberapeutiscbe Indicationen an die Hand giebt.

Wie die Innervation des Herzens und der peripberen Arterien die centrale Temperatur, die Hauttemperatur und die Circulationsverbaltnisse des Korpers sowie seine WiLrmebilanz beeinflusst, ist bei den Psycbosen nocb nicbt griindlicb untersucbt. Die spbygmomanometriscbe Unter- sucbung (nacb Bascb) kann oft die spbygmograpbiscbe Aufnabme in

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Somatische Begleitsymptome dcr Psychosen.

willkommencr Weise l)estatigeii. Ein Riickschluss von dcm Contractions- zustand dcr periiiheren Korperarterien auf einen almlichen oder gar auf cinen entgegengesetzten der Gehirnarterien ist zur Zeit nocli nicht ge- [ stattet. I

Die t a g 1 i c h e Bestimmung der centralen Korpertemperatur sollte bei keinem Geisteskranken unterlassen werden. Zuriaclist zeigt die Eigenwarme bei Geisteskranken insofern Abweicbungen, als die Schwan- j kungen der Temperatur innerhalb 24 Stunden erheblicli grosser und j unregelmassiger sind als bei dem Gesunden. Ziim Theil sind diese un- regelmassigen Schwankungen auf Affectstbrungen zu beziehen.

Abnorme Herabsetzung der Korpertemperatur ist sehr haufig und zwar sowobl bei stuporosen Zustanden, wie in tobsiichtigen i Erregungszustanden. In letzteren kiinden sie oft den bevorstehendeu i Collaps an. Die tiefsten Temperaturen findet man zuweilen bei Dementia paralytica. Das Herabgehen der Temperatur ist bier zuweilen ein pro- gressives. Scbliesslicli werden Temperaturen von weniger als 30“ erreicht. Fast stets enden diese eigenthiimlichen Anfiille uacb einigen Tagen tbdtlich.

Temperatur Steiger ungen sind gleicbfalls bei Geisteskranken sehr haufig. Zuniichst ist zu beachten, dass leichte Brouchialkatarrhe, leichte Magenkatarrhe und namentlich Urinretentionen und Obstipationen bei Geisteskranken nicht selten, jedenfalls viel haufiger als bei Geistes- gesunden, schwere Temperatursteigerungen bedingen (bis fiber 39,5°). Dass in solchen Fallen in der That die Obstipation ffir die Temperatur- steigerung verantwortlich zu machen ist, ergiebt sich daraus, dass ein erfolgreiches Klysma nicht selten binnen 2 3 Stunden die Temperatur um 2%° herabsetzt und damit zur Norm zurfickffihrt.

In anderen Fallen ist die Temperatur steigerung direct durch das Hirnleiden bedingt. Man unterscheidet zweckmassig:

1 . Die hysterischeTemper at ur steigerung; Bei Hysterischen beobachtet man bald kurze Anfalle von Temperatursteigerung, bald wochenlang auhaltende Temperatursteigerungen. Dieselbeu kbnnen bis zu 40° und mehr betragen. Eine Beziehung der Temperatursteigerung zu Krampfanfallen oder motorischen Erregungszustanden ist oft nicht nachweisbar. Zuweilen bestehen zugleich schwere fieberhafte Allgemeiu- erscheinungen. Da Hysterische haufig Temperatur erhohuugen simuliren, so ist bei der Hysterie eine Temperatursteigerung nur dann anzuuehmen, wenn der Arzt selbst wiihrend der ganzen Procedur der Temperatur- messung zugegen gewesen ist.

2. Die auf excessive motorische Entladungen zurfick- z u f fi h r e n d e T e m p e r a t u r s t e i g e r u n g. Nach schweren und nament- lich nach gehauften epileptischen und auch nach hysterischen Krampf-

Somatischc Begleitsymptomo cler Psychoscn. 18‘J

iiufilllen siud liolie Teinperatiireu selir liaiifig. Iiii sog. Status epilep- ticiis felilen sie clalier selteu. Aber aucli schwere motorisolie Agitation als solche fiibrt oft zu liolien Temperatursteigerungeu. Nameutlicb stellen sicli solclie selir hautig da ein, wo die motoriscbe Agitation die Begleiterscheinung einer scliweren allgem einen Incoharenz in deni friilier erorterten Sinne ist. Sowohl die primare Incoharenz (z. B. bei der incoharenten Form der Paranoia) wie die secundare ideenfliicbtige und die secundare hallucinatorische Incoharenz (z. B. bei der sog. Mania gravis, der peracuten und acuten hallucinatorischen Paranoia) zeigen diese Neigiing zu Temperatursteigerungeu, sobald motoriscbe Agitation hinzutritt. Mitunter dauern solche Anfalle agitirter Incoharenz nur einige Stunden; dann kann man feststellen, dass mit dem Abidin gen des Anfalls die Temperatur, welche auf der Kobe des Anfalls bis zu 39,5" gestiegen war, binnen Vs Stunde zur Norm zuriickkehrt. In anderen Fallen erstreckt sich die Temperaturerhohung entsprechend der langeren Dauer der agitirten Incoharenz iiber Page und Wochen. Gerade in letzteren Fallen kommt es haufig zu todtlichem Ausgang. Man hat solche Zustiinde auch als „Delirium acutum^' bezeichnet.

3. Organisch bedingte Temperatursteigerungeu. Am haufigsten sind solche bei der Dementia paralytica, gelegentlich finden sie sich auch bei alien anderen organischen Gehirnerkrankungen. Fine besondere Stelhmg nehmen die Temperatursteigerungeu ein, welche in den sogenannten paralytischen Anfilllen der Dementia paralytica beob- achtet werden. Es sind dies eigenartige Zustande des Sopors oder Comas, welche sich iiber mehrere Page erstrecken konnen und mit halb- seitigen Lahmungs- und Krampferscheinungen einhergehen. Bei diesen beobachtet man fast stets Temperatursteigerungen, zuweilen bis iiber 40". Nicht selten bestehen dabei erhebliche Differenzen zwischen der rechten und linken Axillartemperatur. Bei Besprechung der Dementia paralytica in der specielleu Pathologic wird eingehend auf diese Anfalle zuriickzukommen sein.

Selbstverstandlich wird man sich zu der Annahme einer der drei soeben angefiihrten, mit der Psychose selbst in directerem Zusainmeuhang steheii- den Temperaturerhohungen nur dann entschliessen, wenn eiue peinlich genaue Untersuchung aller Korperorgane keine geniigende Erklarung fiir die Temperatursteigerung ergeben hat.

Splanchnische Storungen.

Stbrungen in der Innervation der Baucheingeweide sind sebr haufig. Die Storungen der Motilitilt des Magens sind noch weuig unter- sucht. In den terminaleii Stadien der Dementia paralytica leidet jeden-

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bomatischc Bogleitsymptome der Psycliosen.

lalls sehr olt ausser der sccretorisclieu Function aucli die niotorische r’unction des Magens erheblicli.

Abnorme motorische Reizzustande des Magens sind gleiclifalls nicbt selten. Erbrechen kommt bei Geisteskranken aus den verscliiedensten Ursacheii vor.^ Sehr liaufig berulit es auf einem Magenkatarrh. Bei dem morgendlichen Erbrechen des Trinkers handelt es sicli um eine Abstinenzerscheinung. Zuweilen Ijeruht das Erbrechen auch darauf, dass die Kranken die Speisen zu hastig und kaum zerkleinert in grosser Menge hiniinterschlucken. Namentlich bei Schwachsinnigen beobachtet man dies. Gerade bei diesen kommt es zuweilen auch zu einem regel- niiissigen Wiederkauen des durch Erbrechen in die Mundhbhle zuruck- gelangten Mageninhalts (Merycismus, Rumination). In einer weiteren Reihe von Fallen beruht das Erbrechen auf einer organischen Reizung der centralen Vagusbahnen, so bei der Dementia paralytica, bei Hirntumoren u. s. f. Weiterhin ist das hysterische Erbrechen zu erwahnen. Bei diesem kaun die Empfindung der Uebelkeit vollig fehleu. Meist tritt es schon eine Viertelstunde nach Aufnahme der Nahrung ein. Auch die Vorstellung erbrechen zu miissen kann zuweilen zu wirklichem Erbrechen liihren. Zuweilen ist das Erbrechen auch auf eine Hj^perasthesie oder riyperalgesie der sensiblen Magennerven zuriickzufuhren. In diesen Fallen pflegt zugleich ein intensiver Magenschmerz nach jeder Nahrungs- aufnahme sich einzustellen. Endlich ist bei vielen Geisteskranken das Er- brechen eine Theilerscheinung der sog. Migrane.

. Kr ampf zu st ande der Pharynxmusculatur liegen oft dem sog. Globus hystericus zu Grimde. Stunden und Tage lang kann durch dieselben jedes Schluckeu unmoglich werden. Auch bei schweren acuteu nichthysterischen Psychosen, namentlich bei den acuten Formen der Paranoia, beobachtet man solche Schlingkriimpfe. In seltenen Fallen ist der Oesophagus selbst Sitz des Krampfes: die Nahrung wird dann er- brochen, bevor sie den Magen erreicht.

Von noch grosserer Bedeutung sind die Storungen der D arm- innervation bei den Geisteskranken. Bei manchen Psychosen, so z. B. bei der Melancholie, ist fast stets die Darmperistaltik abnorm triige. So kommt es gelegentlich zu schweren Obstipationen. Ueber 14 Tage kann in den schwersten Fallen jede Defacation ausbleiben. Mangelhafter Tonus der Darmmusculatur bedingt nicht selten ausge- priigten Meteorismus. Letzterer gewinnt nicht selten dadurch eine specielle Bedeutung, dass die Kranken allerhand Wahnideen an ihn kniipfen, so z. B. den Wahn schwanger zu seiu oder den Wahu „niouate- langer Anhaufung von Kothmassen im Darm^^ Eine Steigerung der Darmperistaltik ist erheblich seltener. Ist dieselbe mit einer Steigerung der Secretion der Darmwandungen resp. mit einer Verringerung der

Soniatische Begleitsymptome cler Psychosen.

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Rcsorptionstaliigkeit verknupft, so kommt es zu schweren Diarrlioen. Namentlicli bei clem sog. neiirastlienischen Irreseiu beobacbtet man solcbe neuropatbisclien Durcbfalle nicbt selten. Dass Affecte uud Vorstelluugen zmveilen aucb hierbei mitwirkeu konnen, wurde frilber bereits erwtibnt.

An dieser Stelle soli aucb der Storimgen in der Function cler Gcnitalorgane gedacbt werden.

Menstruations storungen sind ungemein baufig. In vielen Fallen beruben dieselben allerdings auf einer nacbweisbaren*) Erkrankung der Genitalieu oder auf einem constitutionellen Allgem einleiden (Anamie). In andereu steben sie in directem Zusammenbange mit der Psycbose. So beobacbtet man im Verlauf der Melancbolie ofters eine erbeblicbe Verspatung cler Menses unci selbst eine langclauerncle Amenorrboe. Mit cler Genesung pflegt in solcben Fallen die Menstruation wiecler regel- miissig einzutreten. Aucb bei mancben Intoxicationspsycbosen kommt es zu Amenorrboe, so z. B. bei clem alkobolistiscben Irresein sowie bei -cbroniscbem Morpbinismus. Zuweilen verknupft sicb cliese Amenorrboe mit einer Atropbie cles Uterus,

Seltenere Erscbeinungen sind abnorm profuse Vaginalsecretiouen, Vaginismus u. clgl.

Bei clem mannlicben Gescblecbt ist die Impotenz unci zwar spe- ciell die Erectionsunfabigkeit praktiscb am wicbtigsteu. In vielen Fallen ist clieselbe psycbiscb beclingt. Die Vorstellung impotent zu sein ruft eine factiscbe Impotenz bervor. In ancleren Fallen berubt letztere auf einer Erscbopfung cler centralen Centren cler Erection, so z. B. bei lang- jabrigen Masturbanten, oder auf organiscber Zerstorung clerselben Centren oder cler zugeborigen Leitungsbabnen, so z. B. bei Dementia paralytica (namentlicb bei der mit Tabes complicirten Form cler letzteren).

Storungen cler Blaseninnervation aussern sicb bald als In- continenz, bald als Urinretention, bald als patbologiscber Urindrang. Incontinenz weist fast stets, wofern ein locales Leiden feblt, auf eine organiscb beclingte Psycbose bin. Oft ist sie mit Incontinentia alvi verknupft. Urinretention berubt bald auf einer Labmung cles Detrusor vesicae (so bei Dementia paralytica) , bald auf einem Krampf cles Spbincter vesicae (so meist bei cler Hysterie). Nicbt selten unterdriicken Geisteskranke aucb auf Gruncl von Wabnicleen das Uriniren tagelang. In solcben Fallen kann mitunter geraclezu aucb eine Incontinenz vor- getiiuscbt werden, inclem trotz aller Macbt cler Wabnvorstellung ab und zu etwas Uriu aus cler iiberfullten Blase abtrauft. Patbologiscber

*) Die Exploration per vaginam ist bei Geisteskranken mir claim vorzunehmen, wenn eine erbeblicbe Wahrsch ein lichkeit fiir eine Erkranknng cler Genitalien vorliegt. In vielen Fallen beeinflnsst sie clen psychiseben Znstand dnrebans iingiinstig.

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Soinatisclic Bcglcitsyuiptomc dcr Psyclioscri.

Uiincliang beruht iiieist aul einer abiioriuen llyperasthesie der Blaseu- . schleimliaut. Er fiudet sicli uamentlicli bei dem hystcrischen und neu- ^ rastbeniscbeii Irresein. Olt beruht die llyperasthesie auf excessiv ge- * triebener Onauie.

Eudlich sei hier auch anhaiigsweise der Stbruiigeu des Schlafes gedacht. Dieselbeu sind bei Psychosen sehr liiiufig. Paid beruhen sie auf affectiven Erregungen (primare Affectstorungen, erregende Wahnideeu oder Halluciuatiouen), bald auf gesteigertem Bewegungsdrang, bald eiidlich finden wir eine primare Agrypnie (Schlaflosigkeit), fiir welche specielle Ursacheu sich nicht nachweisen lassen. In der. speciellen Pathologic werden diese Schlafstorungen noch ofter zu erwahnen sein.

i

rl

Wa chs thu m s s 1 0 r u ng e n oder Entwickl ungshemniungen.

Wie in der allgemeinen Aetiologie ausfiihrlicher zu erortern sein ij wil’d, entwickeln sich viele Psychosen in einem Kbrper, dessen erste I Anlage und dessen Wachsthum in den ersten Lebensmonaten und Lebens- I jahren von der Norm abwich. Die korperlichen Zeichen, in welchen sich | eine solche Stoning der Anlage und Entwicklung verrath, bezeichnet I man auch kurz als „kbrperliche Degenerationszeichen^’. Die wichtigsten i derselben sind

1. Abnorme Schadelbildungen. In vielen Fallen beruhen dieselben nicht auf einfachen Entwickluugshemmnngen, sondern auf angeboreneu i constitutionellen Krankheiten (Syphilis, Rachitis) oder auf Traumeui ( (Zangengeburt). Wo einfache Eiitwickhmgshemmung vorliegt, handelt es | sich meist um Asymmetrien. Am Gesichtsschiidel beobachtet man Pro- geneitat,

2. Abnorme Gaumenbildiing : gespaltene Uvula, Hasenscharte, Wolfs- rachen.

3. Verbiegungen der Wirbelsaule, angeborene Liixationen, mangel- hafte Extendirbarkeit der Endphalangen der fiinften Finger, Polydaktylie und Syndaktylie.

4. Unregelmassige, weite Stellung der Zahne, partielle Persistenz des Milchgebisses, Fehlen der Eckzahne oder der lateralen Schneidezahne.

5. Angeborenes Colobom, asymmetrische Farbung oder Fleckung

der rechten und linken Iris, ovale Form und excentrische Lage der Pupille, langliche Verziehung der Papille, abnorme Lage des Austritts der Art. centralis retinae. |

6. Mangelhafte oder abnorme Differenzirung der charakteristischen Erhebungen und Vertiefungen des liusseren Ohres: Verkumnieruug der Crura anthelicis, Verengung der Fossa helicis, Defecte oder iibermilssige ! Umschlagiing dcs Helix am freien Raude, Spina(^ helicis, Qiierbalkeu in

Lelire vom allgemeinen Verlauf der Psychosen.

193

der Fossa helicis, tliigelformiges Abstelien der Ohren vom Kopf, Ueber- gang des Olirlappcliens mittels lauger Haiitfalte in die Wangenbaut.

7. Abnorme Bildimg der Genitalien: Epispadie, Hypospadie, Krypt- orchismus, abnorme Kleinlieit der Hoden, abnorme Insertion des Fre- nulum praeputii, Azoospermie, Aspermie; infantiler Uterus, Atresie der Vagina, partielle oder vollstilndige Verdoppelung des Scheidenuterus- kanals.

8. Haarwucbs von abnormer Localisation (so bei Spina bifida), Ver- doppelung des Haarwirbels.

Von mancben Autoren sind auch Hernien, Plattfuss, Mammahyper- tropbie, Pbimose u. a. m. als Zeicben der Entwicklungsbemmung ange- sprocben worden.

Wenn die Entwicklungsbemmung das Centralnervensystem selbst, oder einen Tbeil desselben betrifft, so findet man allerband Innervations- storungen. Besonders baufig sind z, B. congenitale Asymmetrien der Facialisinnervation. Audi mancbe Falle von congenitalem Strabismus, Nystagmus, Stammeln u. dgl. geboren bierber.

Auf die Bedeutung dieser „Degenerationszeicben^^ wird in der allge- meinen Aetiologie sowie bei Besprecbung des sog. „degenerativen Irre- seins^^ ausfiibrbcber zm’uckgekommen werden.

II. Lelire vom allgemeinen Verlauf der Psj chosen.

Die psycbopatbiscben Symptome treten zu einem psycbopatbiscben Zustand zusammen. Solcber psycbopatbiscber Zustiinde giebt es sebr viele. Die wenigsten derselben sind mit eigenen Namen belegt worden. Unter den Symptomen, welcbe einen bestimmten einzelnen psycbopatbi- scben Zustand zusammensetzen, unterscbeidet man zweckmassig Primar- symptome und Secund a r symptome. Die letzteren sind dadurcb aus- gezeicbnet, dass sie nur Folgeerscbeinungen der ersteren sind. Die Primarsymptome sind das eigentlicb Patbologiscbe, die Secundarsymptome stellen nur die Eeactionen dar, mit welcben die verscbiedenen psycbiscben Functionen auf erstere antworten. In diesen Eeactionen an sicb liegt nicbts Patbologiscbes, sie stellen vielmebr nur die natlirlicbe Consequenz der Primarsymptome dar. So ist z. B. der sog. „ballucinatoriscbe Stupor" ein bestimmter, sebr baufiger psycbopatbiscber Zustand. Der- selbe setzt sicb im Wesentlicben aus folgenden Symptomen zusammen:

1. Hallucinationen.

2. Illusionen.

3. Wabnideen.

4. Aprosexie.

Ziehen, Psychiatrie.

13

194

Lelirc vom allgeiueiiieu Veilauf der Psychosen.

5. Deukliemmiing.

C. Motorischer Hemmung, i

7. Affectverauclerimgen, z. B. Angst.

Von diesen Symptomen sind nur die beiden erstgenannten, also die Hallucinationen und Illusionen, Primarsymptome. Alle anderen sind Secundarsymptome. So entstelit z. B. die Wabnidee direct auf Grund der Sinnestauschungen. Stimmen rufen dem Kranken zu, wenn er sich riilire, sei er des Todes, und es ist eine erklarlicbe, kein neues patlio- i logisches Moment involvirende Folgeerscbeinung, wenn der Kranke | sich auf Grund dieser Stimmen verfolgt w a h n t. Ebenso leuchtet sofort ein, dass die Angst eines solchen Kranken lediglich ein Secundar- i symptom ist, und auch die verschiedenen sub 4 6 aufgezahlten Hemmungserscheinungen , also die 3 Corollarsymptome : *) Aprosexie , Deukhemmung und motorische Hemmung, sind, wie aus friiheren Erbr- terungen bervorgeht, als Folgeersclieinungen der primilren Halluci- nationen Oder Illusionen und der diese begleitenden Affecte aufzu- fassen.

Diese Zerlegung eines jeden psychopathischen Zustandes in seine Primar- und Secundarsymptome ist von der grossten Wichtigkeit fiir die Diagnose und iiberhaupt fiir die Beurtlieilung einer Geistesstorung im Einzelfall. Dabei muss man stets im Auge behalten, dass fast jedes Symptom sowobl als Primar- wie als Secundarsymptom auftreten kann. So ist z. B. die Angst oft Primar symptom und fiihrt zu s e c u n d a r e n Wa h n V 0 r s t e 1 1 u n g e n **) der V erschuldung, Verarmuug, Verfolgung u. s. w. In anderen Fallen ist die Wabnidee der Verschuldung, Verarmung oder Verfolgung das Primarsymptom, und die Angst ist nur eine secundare, bei aller praktischen Wichtigkeit doch kein neues patho- logisches Moment darstellende Folgeerscbeinung der Wabnidee. Es ist daber immer eine der ersten Aufgaben des untersucbenden Arztes, fest- zustellen , ob die einzelnen Symptome eines psychopathischen Zu- standes Primar- oder Secundarsymptome sind. Durch aufmerksame Beobachtung und geschickte Fragestellung gelingt diese Feststellung fast stets. Oft geniigt z. B. die directe Frage: Kommen Ihnen diese Gedanken nur in der Angst? (d. h. sind die Wahnideen secundar und die Angst primar?) und die correspondirende Frage: Haben Sie nur deshalb solche Angst, weil Sie glauben, dass . . . u. s. f.? (d. h. ist die Wabnidee primar und die Angst secundar?). Die meisten Kranken geben hierauf eine dem thatsachlichen Sachverhalt entsprechende Ant-

*) d. h. coordinirte Theilsymptome ein und derselben Stoning.

**) Wir bezeichneten diese seeundaren Wahnvorstellungen daher auch als Er- klarungsversuche der Angst.

Lehre vom allgeineinon Vcrlauf dor Psycliosen.

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wort. Vielfach giebt das zeitliclie Verbal ten der Symptome eineu weiteren Anbalt fiir die Bestimmimg ibres causalen Zusammenbangs. Ersteus sind namlicb die Primarsymptome die contiuuirlicberen, die Secimdarsymptome treten meist mebr als g elegentlicbe Zugaben auf. Ist z. B. die Angst priinar, so wird es zuweilen vorkommen, dass Angst obne Wabnideen bestebt, und iimgekebrt werden wir, wenn die Wahnidee primar ist, zuweilen Wabnideen obne Angst finden. Zweitens treten die Primarsymptome gewbbnlicb aucb zeitlicb v o r den Secimdarsymptomen auf. Dies zeitbcbe Verbiiltniss ist baufig aucb auf der Krankbeitsbobe nocb leicbt zu constatiren. Man fragt den Kranken: „Was kommt zu- erst, die Angst oder die angstigenden Gedanken?^^ Antwortet der Kranke, zuerst trete die Angst auf, so ist sebr wabrscbeinlicb die Angst aucb primar, wabrend im umgekebrten Fall die Wabnidee das Primarsymptom ist. Nocb weit wicbtiger ist die Feststellung, welcbes Symptom im ganzen Krankbeitsverlauf, also nicbt im einzelnen Augenblick auf der Kobe der Krankbeit, sondern bei der Krankbeitsent wick lung zuerst aufgetreten ist. Die Primarsymptome sind meist zugleicb F r ii b - symptome, die Secundarsymptome Spatsymptome der Psycbose. Die scbematiscbe Frage, welcbe der Arzt in dieser Kicbtung an den Kranken zu stellen bat, lautet: Womit bat die Krankbeit begonneu, mit Beangstigungen oder mit dem Gedanken, dass . . . u. s. w. ? Die Secuudar- symptome sind aucb zeitlicb secundar, oft stellen sie sicb erst W ocben und Monate nacb dem Auftreten der Primarsymptome ein.

Das causale Verbiiltniss zwiscben den Primarsymptomen und den Secimdarsymptomen muss nicbt wabrend des ganzen Krankbeitsverlaufs in alien Fallen besteben bleiben. Bei cbroniscbem Verlauf findet man nicbt selten, dass sicb scbliesslicb die Secundarsymptome von den Primarsymptomen unabbangig macben oder loslosen. Am baufigsten ge- scbiebt dies mit den Wabnvorstellungen, welcbe secundar aus primaren Aifectanomalien bervorgeben. So kann z. B. eine Psycbose mit primarer Traurigkeit und Angst beginnen. Spater treten secundare Wabnvor- stellungen der Verscbuldung binzu. Nimmt nun die Psycbose einen ungunstigen Verlauf, so findet man oft, dass die Affecte, also Traurig- keit und Angst, abklingen, aber die Wabnvorstellungen bleiben. Die Wabnideen sind unabbangig von den Affectanomalien geworden, oder, * mit anderen Worten, sie baben sicb mit dem Abklingen der Affecte selbstilndig gemacbt und zum Kang von Primarsymptomen erboben. Die Feststellung eines solcben Tbatbestandes triibt die Prognose erbeblicb.

Umgekebrt findet man in anderen Fallen baufig, dass bei cbro- niscbem Verlauf die auf der Krankbeitsbobe binzugetretenen Secundar- symptome sicb wieder verlieren. Am Scbluss des Krankbeitsverlaufes steben die Primarsymptome wiederum isolirt da. So beobacbtet man

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Lehrc vom allgeraolnen Verlauf der Psychosen.

dies namentlicli selir haiifig bei primaren Walmvorstelluugen. Auf der Krankbeitsholie fiiliren dieselben zu lieftigen secundaren Affectanomalien uud demeutsprechenden liandlungen. Bei chrouiscbem Krankbeitsverlauf ist man oft erstauut scliliesslich zu l^eobacliten, dass der Kranke seine Walmvorstellungen fast affectlos aussert und fur sein Handeln keine Consequenzen mehr aus denselben ziebt. Der Kranke bat sicb an seine Wabnvorstellungen gewobnt, die Secundarsymptome auf dem Gebiete der Affecte und des Handelns sind abgeblasst. Aebnlicb verbalten sicb baubg die Aifectstorungen und Anomalien des Handelns, welcbe secundiir zu primaren Hallucinationen binzugetreten sind. Bei cbroniscbem Ver- lauf klingen sie allmablicb ab. Der Kranke lernt nicht selten bis zu einem gewissen Grade seine Hallucinationen und die aus ibnen entsprungenen Wabnideen ignoriren. Die Secundarsymptome auf dem Gebiete der Affecte und des Handelns sind aucb bier verscbwunden. Aucb dies Verbalten ist prognostiscb meist von ungiinstiger Vorbedeutung.

Mebieie psycbopatbiscbe Zustande treten zu einer Psycbose in bestimmter Reibenfolge zusammen. Sebr wenige Psycbosen bieten wabrend ibres ganzen Verlaufes stets nur ein einziges Zustandsbild, d. b. einen einzigen Complex von Hauptsymptomen dar. Die meisten Psycbosen durcblaufen eine Reibe von Zustiinden in regel- massigei Reibenfolge. Bei der Darstellung der einzelnen Psycbosen wird fur jede einzelne genau angegeben werden, welcbe Zustande und in welcber Reibenfolge sie dieselben durcblauft. Hier sollen nur einige allgemeinere Gesicbtspunkte erwabnt werden.

Zunacbst baben viele Psycbosen ein Prodromal stadium. So gebt z. B. der Manie, welcbe auf der Krankbeitsbobe nur einen ein- zigen Zustand mit den beiden Hauptsymptomen der Exaltation und Ideenflucbt darstellt, fast stets ein Stadium krankbafter Depression vor- aus. In diesen Prodromalstadien sind meist die intellectuellen Syin- ptome, also die Storungen der Ideenassociation und die Empfindungs- falscbungen (Hallucinationen u. s. w.) nocb wenig ausgesprocben, und nur affective Anomalien kiindigen die bevorstebende Krankbeit an. Aucb ein affectives Nacbstadium, d. b. ein Nacbstadium mit Krankbeits- erscbeinungen vorwiegend auf dem Gebiet der Affecte, ist sebr baufig. So scbliesst die ebengenannte Manie z. B. sebr baufig mit einem Nacb- stadium einer eigenartig weinerlicb - reizbaren Verstimmung ab. Nocb regelmassiger ist ein solcbes Nacbstadium bei der Melancbolie. Diese zeigt auf der Krankbeitsbobe einen einzigen psycbopatbiscben Zustand, dessen Hauptsymptome Denkbemmung und krankbafte Depression sind. Gebt die Psycbose in Heilung liber, so scbliesst sicb an das Haupt-

Lehre vom allgemeinen Verlauf der Psychosen,

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stadium eiu eigenartiges Nachstadium, dessen Haiiptsymptom eine krank- liafte Heiterkeit ist. Der Krauke fiillt scheinbar in das entgegengesetzte Extrem. Man bezeicbnet diese kraukbafte Exaltation der Eeconvalescenz aiicb kurz als reactive Hyperthymie. In analoger Weise kann man die eben erwiibnte Weinerlicbkeit der genesenden Manie als eine reac- tive Depression bezeicbnen. Alle psycbopatbiscben Zustiinde, deren Haiiptsymptom eine einseitige Affectstorung, Exaltation oder Depression ist, baben eine solcbe Neigimg, bei ibrem Verscbwinden einer entgegen- gesetzten Zustandspbase , also einer reactiven Depression oder einer reactiven Hypertbymie Platz zu macben. Meist ist die Intensitiit der reactiven Affectanomalie erbeblicb geringer als diejenige der urspriing- licben. Mitunter wird jedocb die gegensinnige Affectscbwankung so stark, dass sie ein neues Hauptstadium der Psycbose darstellt. Zwei derartige coordinirte gegensinnige Pbasen bilden zusammen einen sog. Cyclus. In der Regel ist der weitere Verlauf einer solcben Psycbose der, dass nacb einem kiirzeren oder langeren Intervall derselbe Cyclus sicb wiederbolt, und in vielen Fallen kebren diese Cyclen das ganze Leben bindurcb immer wieder. Das allgemeine Schema eines solcben Verlaufs wurde somit sein

entweder: Depression, Exaltation, Intervall, Depression, Exaltation, Inter- vall, Depression, Exaltation u. s. f.

oder: Exaltation, Depression, Intervall, Exaltation, Depression, Intervall,

Exaltation Depression u. s. f.

Das psycbiscbe Gleicbgewicbt und zwar speciell das Gleicbgewicbt der Affecte kebrt bier niemals wieder dauernd zuriick, sondern es findet ein fortwilbrendes Oscilliren um die normale Affectlage statt. Man be- zeicbnet einen derartigen Verlauf als circularen Verlauf. Besonders die Psycbosen scbwer erblicb belasteter Individuen neigen zu diesem cu-cularen Verlauf. Aebnlicb wie die Affectstorungen konnen aucb Be- scbleunigung und Verlangsamung der Ideenassociation sicb in regel- massigen Cyclen ablosen.

In anderen Fallen beobacbtet man, dass die Psycbose nur ein Haupt- zustandsbild mit wenig ausgesprocbenem Vor- und Nacbstadium durcb- lauft, dass sie aber in gewissen Zwiscbenraumen wiederkebrt. Man spricbt in solcben Fallen von einem recidivirenden Verlauf. Sind die Zwiscbenraume, in welcben die Psycbose sicb wiederbolt, regelmassige d. b. stets annabernd gleicb lang, so bezeicbnet man die Gesammtbeit dieser Einzelerkrankungen als periodiscbes Irresein. Zwiscben dem periodiscben und dem recidivirenden Verlauf bestebt eine principielle Verscbiedenbeit, insofern bei ersterem fiir jedes neue Recidiv eine Ge- legenbeitsveranlassung sicb nacbweisen lasst, wabrend bei letzterem in bestimmten Intervallen die Psycbose wiederkebrt, obne dass fiir d^jj

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Lehre vom allgemeinen Verlaiif cler Psychosen.

jeweiligen Wiederausbruch eine Ursache sich ausfinclig macheu lasst. | Bei ersterem liandelt es sich daher aucli nicht eigentlich um eine beson- dcie Weise des Verlaufs, sondern um wirkliche Neiierkrankungen, wiih- rend bei dem periodischen Verlauf die Einzelerkrankungeu in der That I niir einzelne Phasen im Verlauf einer Gesainmtpsycbose, eben des sog I periodischen Irreseins, siud.* Bei dem letzteren ist mit der ersten Er- krankuug schou die ganze Pieihe der folgenden Erkrankungen gegeben, .j wahrend das Eintreten der Recidive im ersterwahnten Falle von bestimmten 1 Gelegeuheitsursachen abhangig ist. Man hat die Bezeichnung „periodisches I Irresein^'' weiter auch auf solche Falle ausgedehnt, in welchen die psychi- ^ schen Erkrankungen in regelmassigen Intervallen auftreten, aber unter sich j sehr verschieden sind. So kann z. B. die erste Erkrankung eine Manie, die zweite eine hallucinatorische Paranoiaj die dritte und vierte wieder eine jj Manie darstellen u. s. f. Wir sprechen dann von einem polymorphen I periodischen Verlauf. Die Ursache dieser eigenthiimlichen Periodicitat | im Verlauf mancher Psychosen ist noch ganz unaufgeklart. Eine Be- -i ziehung zu Malaria ist sehr selten. Bei weiblichen Individuen stehen die I einzelnen Anfalle nicht selten mit der Menstruation in Zusammenhang. Wir 1 wissen sonst mit Sicherheit nur, dass im Ganzen auch hier besonders schwer | erblich belastete Individuen zu Psychoseu mit periodischem Lauf neigen.

Von dem periodischen Verlauf ist der remittireude Verlauf I scharf zu unterscheiden. Letzterer ist dadurch ausgezeichuet, class das - Hauptstadium der Psychose in regelmassigen oder uuregelmassigen Inter- vallen Remissionen zeigt. Zuweilen sind dieselben so erheblich, dass ; eine wirkliche Inter missiou vorgetauscht wird. Remittirender Verlauf I ist bei den verschiedenen Formen der Paranoia am haufigsten, doch i findet man ihn auch bei organischen Psychosen (Dementia paralytica). L Bei Erblichbelasteten ist er nicht hiiufiger als bei Unbelasteten. I

Psychosen, welche wahrend ihres ganzen Verlaufs abgeseheu i von dem eben erwahnten Vor- und Nachstadium sowie von etwaigem |i circuUiren, periodischen oder remittirenden Verlauf nur ein Haupt- k stadium durchmachen, bezeichnet man als einfache Psychosen. Als zu- sammengesetzte oder polymorphe Psychosen bezeichnet man i solche, welche wahrend ihres Verlaufes mehrere verschiedene Haupt- stadien durchlaufen. Die Erforschung dieser polymorphen Psychosen ist I noch in hohem Maasse riickstandig. Wir kounen heute nur soviel sagen, ' dass die polymorphen oder zusammengesetzten Psychosen besonders fol- genden Verlauf zu bevorzugen scheinen:

1. Depressives Stadium.

2. Hyperthymisches Stadium.

3. Stadium der Verwirrtheit. !

4. Schwachsinn. <

Lehre vora allgemeinen Verlauf tier Psychosen.

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Im Stadium der Verwirrtheit ist meist der beginneiide Schwach- sinn bereits deutlich nacbzuweisem Man bat alle in dieser Weise ver- laufenden Psychosen aucb als „Vesania typica“ (Kahlbanm) bezeicbnet. Sehr hiinfig zeigt aucb die Dementia paralytica oder progressive Para- lyse der Irren einen ansgesprochen polymorpben Verlaut,

Je nacb der Gescbwindigkeit, mit welcber die einzelnen psycbo- patbiscben Symptome und Zustande im Verlaufe der Psycbose aufein- ander folgen, bezeicbnet man die Psycbose als acut, subacut oder cbroniscb. Diese Begriffe werden jedoch in der Psycbiatrie nicbt in ganz derselben Bedeutimg wie in der inneren Medicin gebraucht. Zn- niicbst ist vor allem zwiscben acnter und cbroniscber Entstebung und acutem und cbr oniscbem G e s a m m t v e r 1 a u £ zu unterscbeiden . M an scbreibt in der Psycbiatrie solcben Psycbosen acute Entstebung zu, deren H a u p t symptome innerbalb kurzer Erist bdcbstens binnen einiger Wocben im Wesentlicben zur vollen Entwicklung gelangt sind, und siebt dabei von den obenerwabnten Prodromalstadien, welcbe sicb oft iiber mebrere Monate erstrecken, vollig ab. So wird die Manie z. B. in der Kegel als eine acute Psycbose aufgefasst, obwohl die prodromale

Depression wocbenlabg vorhergebt.

Es kommt eben bei der Entscbeidung, ob acute Entstebung oder nicbt, lediglicb auf die Entwicklung der primaren Hauptsymptome an. Das beste Beispiel einer chroniscben Entstebung liefert die sog. Paranoia chronica simplex. Das primare und einzige Hauptsymptom dieser Psycbose ist die Bildung von Wabnvorstelbmgen. Diese Psycbose ent- wickelt sicb nun in der Kegel nicbt so, dass plotzlicb eines Tages eine oder mebrere Wabnideen auftaucben, sondern meist zeigt der Kranke zunacbst monatelang ein eigentbumlicbea Misstrauen: seine Umgebung erscbeint ibm unbeimlicb und veriindert, und allmablicb erst nimmt dieses unbestimmte Misstrauen bestimmtere Gestalt an und wu’d scbliess- licb in bestimmten Verfolgungsideen formulirt. In dem initialen Miss- trauen dieser Kranken ist das Hauptsymptom der Krankheit bereits entbalten. Das patbologiscbe Misstrauen entbalt gewissermaassen schon die Keime zu alien spateren Verfolgungsideen. Im Verlauf von Monaten und selbst von Jabren reifen die letzteren allmablicb aus. Eine solcbe Entwicklung ist eine cbroniscb e.

Von der acuten und chroniscben Entstebung der Psycbosen ist der acute und cbroniscbe Gesammtverlauf zu unterscbeiden. Eine Psy- chose, welcbe sebr acut eingesetzt hat, kann weiterhin einen chroniscben Verlauf nebmen; dagegen kommt es allerdings im Allgemeinen nicbt vor, dass eine Psycbose, deren Entwicklung in dem oben angegebenen Sinne eine

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Lehro vom allgemeinen Verlauf der Psychosen.

chronische war, spaterliin ausgesprochen acut verlauft. Ein allgemeinsil tiges Merkmal ...zuge],en, welches clen chronischen Verlauf an^gt ilt nicht nioglich Em solclies existirt nicht. Viclmehr wire! fiir jede einzeliie JLl entwickelt, anzugeben seiu, an welchen Merk-

Sn Ip chronisclieu Cliarakter annimmt

So deutet z. B bei vielen Psychosen der Eintritt eines Intelligenz- defects (Gedaebtniss- und Urtbeilsscbwaclie) auf einen UebergLg in ebromseben Verlauf. Bei anderen Psyebosen bat die ausgfebige!"

deutiiL“'''B eine soicbe omindse Be- deutung. Bei Psyebosen mit secundaren affectiven Wabnvorstellungen

IS em chromscher Verlauf dann wabrscbeinlicb, wenn in der oben L-

scbiiebenen Weise die Wabnvorstellungen sicb von den primaren Affecten

aus denen sie entsprungen sind, iinabbangig inacben und gelegentlich aucb

0 me solche auftreten. Im Allgemeinen spricht es aucb fiir chronischen

^ f motorisebe Reaction auf Wabnvorstellungen

Oder Hallucmationen allmablich nacblasst, wenn also der Kranke gleich- gultiger gegen seine Wabnideen und Sinnestausebungen wird. Ganz a Igemem muss scbbesslich hervorgeboben werdeu, dass die Geisteskrank- heiten uberbaupt diirchscbnittlicb erbeblicb langsamer verlaiifen als die meisten somatiscben Krankheiten. Es giebt allerdings Geistesstorungen welcbe m eimgen Tagen, und selbst solche, welcbe in einigen Stunden ab- laufen; man bezeichnet dieselben als „tran sit oris dies Irresein". Dies Sind jedocb seltene Aiisnahmen. Diejenigen Psyebosen, deren Entwicklung m dem oben erorterten Sinn im bochsten Alaass als acut zu bezeiebnen ist, dauern bis zur Heilung selbst im giinstigsten Fall docb mindestens 2—3 Monate und ziiweilen 6-9 Monate und mehr. Aucb bei solcben spiicbt man trotz der langeren Dauer nicht von einem chronischen Ver- lauf. Psyebosen konnen Monate lang ibren aciiten Cbarakter bewabren. Chronische r Verlauf bedeutet also nicht einfacb niir langsamen Verlauf, ein soldier kommt in gewissem Maasse aucb den Psyebosen nut aciitem Verlauf zu sondern bedeutet in der Psyebiatrie direct daiiernde Fixirung der Krankbeitssymptome und ist somit in uocb weit boherem Maasse als in der inneren Medicin mit Unbeilbarkeit identiseb.

In der speciellen Psyebiatrie wird im Folgenden die Bezeicbnimg acut stets mit Bezug auf die Entstebung der Psyebose, also im Sinn von „acut entstanden" angewandt werden. Die Bezeiebnung chronisch soli analog iuiFolgenden bedeuten „chroniscb entstanden^. Bei den Psyebosen, welcbe acut entstanden imd uacbtriiglicb in ebro- nischen Verlauf iibergegangen sind, soli fiir das chronisebe Scbluss- stadium das Adjectiv chronisch gelegentlich aucb gebraiicbt werden, docb hat man meist fur diese Schlussstadien eigene Bezeiebnuugen, welcbe die Anwendung des Wortes ,„cbroniscb" uberfliissig macben. So

Allgemeine Diagnostik.

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verbiudet sicli, wie bereits oben erwabnt, mit dem clironischen Verlauf oft ein zunelimender Intelligenzdefect ; man bezeichnet daher dies chro- niscbe Scblussstadium der Krankbeit meist als ,,secimdare Demenz^^ und sagt daher nicht: „die Psychose ist chrouisch geAvorden", sondern „die Psychose ist in secundare Demeuz iibergegangen^h Von einem Ueber- gang in chronisclien Verlauf pflegt man nur dann zu spreclien, Avenn der klinisclie Symptomencomplex im Wesentlichen imverandert bleibt, Avenn also z. B. die Wahnideen sich fixiren und systematisirt AA^erden, olme dass ein Intelligenzdefect hinzutritt.

III. All P’emeine Diaonostik.

o o

Die allgemeine Diagnostik hat das Schema anzugeben, nach Avelchem I der Arzt bei der Feststelhmg und VerAA^erthung der Symptome behufs der Diagnose am zAveckmassigsten vorgeht. Die erste Aufgabe des Arztes Avdrd die Feststelhmg des gegenAvartigen Zustandes, des Status praesens seiu. Hierfiir beAvahrt sich folgendes Schema.

A. Korperlicher Zustand.

Grosse. GeAvicht. Knochenbau. Schadelconfiguration ') (Lange, Breite, Umfang, Symmetrie). Muskelentwicklung. Fettpolster. Hautelasticitat. HaarAvuchs. Aeussere Ohren. Iris (Arcus senilis u. s. av.). Gaumen, Zahne. Zunge (belegt? unbelegt? Narben?).

Herztdne. Herzdampfung. Hautfarbe des Gesichts. Farbung der Conjunctiva. Farbe und Temperatur der Haut in den peripheren Korpertheilen. Vasomotorisches Nachrothen. Centrale Korpertemperatur. Beschaffenheit der x\rterienAvandungen (geschlaugelt? rigid?), Contrac- tionszustand der Arterien. Kobe, Unterdriickbarkeit, Regelmassigkeit, Form®) der BlutAvelle. ScliAveisssecretion.

Lungenspitzen. Verschieblichkeit der unteren Lungengrenzen. Re- spiration. Leberdampfung. DriisenschAvellungen. Beschaffenheit der medialen Tibiaflachen (Rauhigkeiten!). Genitalien (Narben !). Menstrua- tion. Urin (Reaction, EiAveiss- und Zuckergehalt u. s. av.). Stuhlgang.

Pupillen (Aveit oder eng, gleich, rund oder oval oder verzogen?). Directe und synergische Lichtreactionen. Convergenzreactionen.

‘) Vorziigliche Dienste zur genaueren Feststellung der Schadelconfiguration leistet die craniographische Methode Rieger’s.

*) Eventuell Blutkorperchenzahlung.

3) Eventuell sphygmographische Darstellung (Dudgeonscher Sphygmograph) und sphygmomanometrische Feststellung des Blutdrucks (nach Basch).

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Allgemeine Diagnostik.

Augenbewegimgen. Secimdare Innendeviation. Doppelbilder.

Weite der Augenspalte. Stirnrunzeln. Augenzukneifen.

Mundfacialisiimervationen in Rube, mimisch, beim Sprechen, beim /uugenvorstrecken, activ (Mundspitzen, Zabnefletschen).

Gaumenbebung bei Pbonation (Deviationen der Uvula sind bedeu- tungslos).

Ziingenvorstrecken (gerade oder mit Deviation? ‘) unter ataktiscbem Scbwanken oder bbrillar zitternd oder rubig?).

Grobe motoriscbe Kraft und Coordination der Arm- und Bein- bewegungen. Zittern der Extremitaten bei activer Einnabme von Rube- stellungen (statiscber Tremor z. B. beim Spreizen der Finger) oder bei willkiirlicben Bewegungen (Intentionstremor) oder bei scblaffer Rube. Romberg’scbes Scbwanken. Gang.

Spracbarticulation : Spontansprecben. Nacbsprecben. Bezeicbnen von Gegenstanden (nacb dem Gebor, dem Gefiibl, dem Seben u. s. w.). Scbrift: Dictatscbreiben, Spontanscbreiben, Nacbscbreiben, scbriftlicbes Benennen von Gegenstanden.

Kniepbiinomen. Acbillessebnenpbanomen. Fussclonus. Anconeus- sebnenpbanomen. Idiomusculare Erregbarkeit (im Allgemeinen am besten am Biceps des Armes zu priifen).

Plantarreflexe. Cremasterreflexe. Epigastriscbe Reflexe. Gaiimen- reflexe.

Sebscbarfe. Gesicbtsfelder.''^) Opbtbalmoskoi3iscber Refund. Lese- probe.

Horscbarfe resp. Horweite. Otoskopiscber Refund. Craniotympanale Leituug.

Werdeu Perubalsam und Ac. aceticum recbts und links gleicb stark gerocben oder nicbt?

Beriibrungsempfindlicbkeit. Scbmerzempfindlicbkeit (berabgesetzt oder gesteigert? werden symmetriscbe Sticbe symmetriscb empfunden?). Localisationsfebler fiir Beriibrungen. Muskelgefiibl.

Spontane Scbmerzen. Parastbesien.

Druckpunkte (Kopfpercussion, Gesicbtsnervenaustritte, Dorufortsatze der Wirbelsaule, lutercostalraume, Iliacalgegend, Mammae u. s. w.).

Scblaf. Hunger, Durst.

B. Psy cbiscber Zustand.

I. Gesicbtsausdruck. Gesticulation. Sprecbweise (rascb oder langsam, laut oder leise, in Satzen oder obne Satzzusammenbang, mit oder obne-

*) Bekanntlich liegt die Lahmung auf der Seite der Deviation vor.

*) Eventuell perimetrische Untersuchung, namentlich auch fiir Farben.

Allgemeine Diagnostik.

203

affective Betonnng u. s. w). Hancllimgen : spontane Bewegimgen (liegt, sitzt, geht der Krauke? AViisclit, kammt, kleidet und nahrt sich der Kranke spoutan und in normaler Weise? Befriedigt er seine Bediirfnisse in nornialer Weise? Sexnelles Verhalten. Verkehr mit den Angehdrigen. Benifstluitigkeit. Beschaftigung ausserhalb der letzteren. Schlaf) ; aufge- tragene Bewegungen (Vorstrecken der Zunge, Greifen nach Gegenstanden : werden solclie iiberliaupt ansgeflilirt, langsam oder rasch u. s. w.?). Reac- tion auf passive Bewegungen.

II. Empfindungen : Secundarempfindungen, Illusionen, Hallucinationen.

III. Gefiiblstone und Affecte; Welches ist die Grundstimmung ? Traurigkeit, Reizbarkeit, Heiterkeit, Angst? Bestehen diese Verstim- mungen continuirlicb oder treten sie anfallsweise auf oder wechseln die Stimmungen auffallig rasch? Welches ist ihr Inhalt, welches ihre Motive? Kbrperliche Begleitempfindungen dieser Verstimmungen. Oder ist das Gefuhlsleben herabgesetzt (Gleichgliltigkeit gegen Beruf und Angehorige, gegen Naturschbnheiten, Lecture u. s. w.)? Ethische Geflihlstone.

IV. Erinnerungsbilder : Fahigkeit, abwesende Personen und Oertlich- keiten sich vorzustellen. Sind auch complicirtere Begriffe vorhanden (Was ist Dankbarkeit? Wie nennt man es, wenn demand schlecht gegen einen Wohlthater handelt u. s. w.)? Erhaltung der Erinnerungsbilder in ihren associativen Verknlipfungen und in ihrer chronologischen Ordnung. Fragen nach den Schulkenntnissen, entsprechend dem Bildungsgange (7x8? 7xl8?^) 7x188?) geographische, historische Fragen: Hauptstadt von Deutschland, von Schweden? Deutsch-franzosischer Krieg? Aufzahlen der Wochentage, der Himmelsrichtungen, der Monate u. s. f.). Fragen nach den jetzigen Verhaltnissen des Kranken (Aufzahlen der Kinder, Angabe ihrer Geburtstage, Jahr der Verheirathung, Einwohnerzahl des Wohnorts, Biirgermeister , Abgeordneter des Wohnorts, Vermogensver- haltnisse des Kranken u. dgl.). Fragen nach den friiheren und namentlich nach den jiingsten Erlebnissen (wie haben Sie den gestrigen, den vor- gestrigen Tag zugebracht, welche Besuche empfangen, was zu Mittag gegessen?). Fahigkeit, Neues zu merken (wie lange wird z. B. eine 3 5 stellige Zahl behalten u. s. f.)

V. Ideenassociation :

Orientirung liber die Personalien, das heutige Datum, den augen- blicklichen Aufenthaltsort, die Personen der Umgebung. Werden Gegen- stande durch Betasten, Sehen u. dgl. richtig wiedererkannt?

‘) So wird man z. B. den Deprimirten fragen: Konnen Sie zuweilen auch noch heiter sein?

2) Insofern die meisten Menschen 7 X 18 = 126 nicht als fertige Association bereit liegen haben, sondern aus Theilassociationen (7 X 10 und 7X8) comhiniren miissen, greift diese Frage bereits in die V. Gruppe ..Ideenassociation" hinein.

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Allgemeine Diagnostik.

Aufmeiksamkeit : beachtet cler Kranke die Vorgange in seiner Um- gebung? haftet die Aufmeiksamkeit lilnger an einem Gegenstand oder eilt sie von einem zum andern?

Gescliwindigkeit der Ideenassociation.

Zusammenbang der Ideenassociation.

Inbalt del Ideenassociation; bestebenWalinvorstellungen oder Zwangs- vorstelliingen ? ist die Urtlieilskraft intact? wie weit ist speciell Krank- heitsbewusstsein vorhanden? Wie urtbeilt der Kranke iiber seine Ver- gangenbeit, iiber seine aiigenblicklicbe Lage? Welcbe Plane bat er fiir die Ziikunft? Wie beurtbeilt er speciell das Verbaltniss zu seiner Urn gebung, seine Vermogensverbaltnisse, seinen sittlicben Wertb (macben Sie sicb selbst Vorwiirfe?), seinen Gesimdbeitszustand, seine beruflicbe Leistungsfabigkeit? Wie beurtbeilt er die Verbaltnisse seiner Umgebung ?

Oder klagt der Kranke uber Mangel an Gedanken (^^Kopfleere^)?

Die Beziebungen des soeben gegebenen Schemas zu der fruber in der allgemeinen Symptomatologie gegebenen Eintbeilung und Darstellung der Symptome liegen auf der Hand. Selbstverstiindlicb ist dies Schema jedocb nicbt erscbbpfend. Dasselbe zeicbnet nur die Grundlinicu des Untersucbungsganges vor. Im Einzelfall wird dieser oder jener Befund sebr baufig speciellere weitere Untersucbungen in dieser oder jener Bicbtung nahelegeu oder notbwendig macben. So wird z. B. die Fest- stellung einer atropbiscben Labmung sebr oft zu einer Priifung der elek- triscben Erregbarkeit der paretiscben Muskelu Anlass geben miissen. Zu der Gerucbspriifung wird zuweilen eiue Gescbmackspriifung hinzukommen musseu. Der Nacbweis von Eiweiss im Urin wird eine genaue mikro- skopiscbe Untersucbung des Urinsediments nacb sicb zieben, durcb Avelcbe festzustellen ist, ob eine Nephritis vorliegt oder lediglicb die fruber erwabnte symptomatiscbe Albuminurie, wie sie bei Zustiindeu der Erregung und Verwirrtbeit vorkommt. So wird also die Uuter- sucbung je nacb den einzelnen Ergebnissen in dieser oder jener Ricb- tung ausgedebnt werden miissen. In ganz besonderem Maasse gilt dies von dem 2. Tbeil der Untersucbung, dem psycbischen Status praesens. Es ist zweckmassig, wie dies in dem Schema geschehen, bier mit den motoriscben Reactionen (Ausdrucksbewegungen, Handlungen) zu beginneu, weil sie sicb meist dem arztlicben Beobacbter zuerst darbieten und die besten Fiugerzeige geben, in welcher Ricbtung die Fragen nacb Storungen des Empfindungslebens , Affectlebens und Vorstellungslebens sicb am zweckmassigsten bewegen. Desbalb empfieblt es sicb aucb so sebr, dass der Arzt den Kranken nicbt sofort mit allerband Fragen bestiirmt, son- dern zunachst in seinem spontanen Thun und Treiben beobacbtet.

Die Fragen, welcbe in dem Schema des psycbischen Status an- gegeben sind, sind ebensowenig erscbopfeud. Nur die Hauptricbtun-

Allgemoine Diagnostik.

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geu, in welclien die Fragestellung sicli zii bewegen hat, sollen damit bezeichnet sein. Dem Geschick iind der Erfahnmg und namentlicb einem gewissen psycbologisclien Mitfiililen des Arztes muss die specielle Aus- wahl dei’Fragen iiberlasseu bleibeu. EinenKranken mit dem strahlenden Gesiclitsausdruck der Exaltation wird man nicht nach Versiindigungsideen ansforsclieu u. s. f. Ebenso wird man sich auch nicht an eine bestimmte Reihenfolge der Eragen binden. Eine spontane Aeussenmg des Kranken, welche eine Wahnidee vermuthen liisst, wird nicht selten Veranlassung geben, die Untersuchnng des Empfindimgs- und Affectlebens einstweilen anfzuschieben und zimachst der aufgefundenen Spur nachzugehen und die bez. Wahnidee zu verfolgen. Man tragt dann jeden psychopathischen Befund in die entsprechende Rubrik des Schemas ein und fiillt die schliesslich noch iibrig gebliebenen Liicken durch nachtragliche specielle Fragen aus.

Auch die Frage, ob die korperliche oder die psychische Untersuchung voranzuschicken ist, liisst sich nicht allgemein beantworten. Keinesfalls ist jemals erstere zu unterlassen. Gerade eine genaue korperliche Untersuchung weckt in vielen Fallen das Vertrauen zum Arzt am leich- testen und viele Kranke schenken einem auf korperliche Symptome gestiitzten Urtheil und Rath des Arztes weit eher Glauben als einem lediglich auf psychische Symptome gestiitzten Urtheil und Rath, weil sie oft den pathologischen Charakter der psychischen Symptome nicht zu- geben. Unendlich viel wichtiger ist aber, dass nur die korperliche Unter- suchung in vielen Fallen iiberhaupt eine sichere Diagnose ermoglicht. Der heilbare Melancholiker und der unheilbare Paralytiker im Depressionssta- dium konnen selbst flir den erfahrenen Psychiater annahernd die gleichen psychischen Symptome darbieten; erst die korperliche Untersuchung gestattet diesen von jenem zu unterscheiden. Haufig ist es geradezu zweckmassiger, die korperliche Untersuchung voranzuschicken, namentlich bei solchen Kranken, bei welchen in Folge ihres Charakters oder ihrer Krankheit ein lebhaftes Misstrauen oder Scheu vor der psychischen Untersuchung zu gewartigen ist.

Ausser dem Status praesens ist zur Diagnose stets eine genaue Anamnese erforderlich. Viele Psychosen durchlaufen eine ganze Reihe verschiedener Zustande und andererseits kommt ein und derselbe psycho- pathische Zustand im Verlauf verschiedener Psychosen vor. Erst die Anamnese gestattet, von der Diagnose des Zustandes zu der Diagnose der Krankheit fortzuschreiten. Die Anamnese ist eine doppelte, erstens kommt die objective in Betracht, welche die Umgebung des Kranken uns giebt, und zweitens die subjective oder Autoanamnese, welche der Kranke selbst uns giebt. Erstere ist im Allgemeinen die ver- lasslichere, wenn auch Uebertreibungen und Beschonigungen, irrthlim-

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Allgomeinc Diagnostik.

liche Deutimgen und absichtliche Entstellungen der beobacliteten Krank- beitsvorgange gelegentlich vorkoramen. Letztere, die Autoanamnese, ist. im Ganzeu nicbt so verlasslich : Erinnerungsfalschungen und Er- innerungsentstellimgen, retrospective Deutungen und auf die Vergangen- beit beziigliclie Wahnvorstellungen und endlich Gedachtnissdefecte tragen dazu bei , die Autoanamnese unzuverlassig zu macben. Aucb die Dissimulationsversucbe und sog. „rasonnirenden" Bescbonigungsversucbe vieler Kranken kommen binzu. Dafiir bat andererseits die Autoanam- nese den grossen Vorzug einen Einblick in die psycbologiscbe Genese und den psycbologiscben Zusammenliang der successiven psycbopatbiscben Symptome und Zustiinde zu gewabren.

Die Anamnese einer Psycbose muss in mancben Beziebungen viel mebi entbalten als die Anamnese einer gewobnlicben korperlicben Krank- beit, z. B. einer Lungenentzundung. Vor allem bedurfen zunacbst die Hereditatsverlialtnisse einer viel genaueren Feststellung. Speciell ist festzustellen, ob bei Vater, Mutter, Grossvater und Grossmutter viiter- und rniitterlicberseits, Gescbwistern des Vaters oder der Mutter, endlicb bei Gescbwistern und Ivindern des Kranken selbst irgendwelcbe belastende Krankbeiten (Psycbosen , anderweitige Erkrankungen des Nervensystems, auffallige Cbaraktere, Selbstmorde, Verbrecben, Truuk- sucbt u. dgl.) vorgekommen sind. In den meisten Fallen gelingt es aucb nocb, iiber die Kinder der Gescbwister des Kranken und die Kinder der Gescbwister seiner Eltern Einiges zu erfabren. Die personlicben Antecedentieu des Kranken selbst sind stets zunacbst aucb beziiglicb der ciusseren Lebensscbicksale und der geistigen Entwicklung genau aufzunebmen. Die meisten Psycbosen iiberfallen den Menscben nicbt jiiblings wie etwa eine Lungenentzundung, sondern sie erwacbsen oder brecben bervor auf dem Boden eines ganzen Lebens. Wir konnen den Inbalt vieler Wabnvorstellungen u. s. w. mit den zabllosen Beziebungen auf friibere Erlebnisse nur dann ricbtig versteben und wiirdigen, wenn letz- tere uns genau bekannt sind. Wir miissen wissen, was der gesunde Menscb war, um zu beurtbeilen, was die Krankbeit aus ibm gemacbt bat. Wie die Lunge vor einer Lungenentzundung ausgeseben baben muss, wissen wir obne besondere Nacbforscbung. Ob aber die Takt- losigkeiten eines Geisteskranken auf eine mangelbafte Erziebung bezw. scblecbte Gesellscbaft zuruckzufiibren oder als patbologiscbes Symptom zu deuten sind, eine Entscbqjdung, von der oft Diagnose, Prognose und Bebandlung ganz und gar abbangen kann nur eine genaue Anamnese lebren.

Im Folgenden werden kurz die Hauptpunkte zusammengestellt, welclie bei Erbebiing der Anamnese besonders zu berlicksicbtigeu sind:

Allgemeine Diagnostik.

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1. Hereditiit.

2. Verlief die Geburt des Kranken selbst normal?

3. Wann lernte er gehen, wann spreclien?

4. Traten in der Kindbeit Krankjieiten des Nervensystems auf („Hirnentzundung^^, „Krampfe^^ u. dgl.)?

5. Welcbe Schnlbildung genoss der Kranke? Fiel das Lernen ibm ■schwer? Wie waren seine Schnlleistungen ?

6. Cliarakter imd Temperament in der Kindbeit.

7. Pnbertatsentwicklimg. Erstes Aiiftreten der Menstruation. Mastur- bation.

8. Spatere beruflicbe Thiitigkeit.

9. Spatere geistige Interessen. Religiose Interessen.

10. Spatere Cbarakterentwicklung.

11. Heirath. Eheliche Verbiiltnisse. Sonstiger sexiieller Verkebr. : Sypbilitiscbe Infection. Puerperien.

12. Aufzablung der wicbtigsten korperlicben Krankbeiten und ibrer letwaigen Folgeerscbeiniingen und Residuen. Hierbei wird speciell auf : gynakologiscbe Leiden, Infectionskrankbeiten , Kopfverletzungen zu :acbten sein.

13. Geistige oder korperlicbe Ueberanstrengung ? Gemiitbserregungen? Abusus spiritubsorum ? Abusus Nicotianae? Ernabrungsverbaltnisse ?

14. Neuropatbiscbe Symptome und Erkrankungen jenseits der Pu- Ibertat; friibere Psycbosen.

Erst nacb Erledigung dieser Punkte kann zur Erbebung der Krank- ' beitsgescbicbte selbst iibergegangen werden. In vielen Fallen wird man ifinden, dass die jetzt vorliegende Krankheit sich allmablicb aus den :soeben unter 14 erwabnten neuropatbiscben Symptomen entwickelt bat. In anderen Fallen lasst sicb nacbweisen, dass

15. Besondere Gelegenbeitsursacben fiir den Ausbrucb der Psycbose entscbeidend waren (z. B. ein Typbus, eine beftigere Gemiitbserscbutterung,

I ein starkerer Alkobolexcess, ein starker Blutverlust bei einer Entbindung,

I eine Kopfverletzung u, dgl.),

16. Entwicklung der Psycbose selbst: d. b. Bescbreibung der bis jetzt aufgetretenen psycbopatbiscben Symptome und Zustande unter besonderer Berucksicbtigung ibrer Reibenfolge.

Wie oben in dem Schema des Status praesens, so sind aucb bier in dem Schema der Anamnese keineswegs alle in jedem Einzelfall in Betracbt kommenden Momente aucb nur annabernd erscbopfend aufge- ; zalilt. So sei z, B. nur erwabnt, dass es in vielen Fallen fur die Auf- I fassung und Bebandlung eines Geisteskranken von der grbssten Wicbtig- Ikeit ist, das soziale Milieu zu kennen, in dem er gelebt bat und auf i dessen Boden die Psycbose sicb entwickelt bat. Eine Lungenentzundung

208

Allgcmeine Aetiologie.

ist bei clem Vagabunclen dieselbc wie bei clem Gelehrten. Pline Psy- chose erleiclet je nacb clem Stand, der Umgebung u. s. w. des Kranken ganz erbebliche Moclificationeu. Aber auch im Leben des Kranken selbst ergeben sicli oft cliese ocler jene wicbtige anamnestiscbe Momente, welclie in clem Schema nicht enthalten sind. Ausser Alkobol und Nico- tiana existii-en z. B. noch zahlreiclie anclere toxische Sul)stanzen, welche gelegentlich Psychosen hervorrufen konnen. Obiges Schema giebt also nur die Gruncllinien fiir die anamnestischen Erhebungen an. Im Einzel- fall bedarf es oft vielfacher Erganzimgen. Den sichersten Wegweiser fiir diese letzteren gibt die allgemeine Aetiologie (s. n.) ab.

Mit der Feststellung des Status praesens lind der Erhebung der Anamnese ist die Diagnose vorbereitet. Die specielle Pathologie wird uns lehren, bei gegebenem Status praesens und bei gegebener Anamnese die richtige Diagnose zu stellen. In die specielle Pathologie verweisen wir auch die Classification der Psychosen, deren Kenntniss die Stellung der Diagnose einer Geistesstorung selbstverstandlich ebenso erleichtert, wie z. B. die Kenntniss des naturlichen Eintheilungssystems der Pflanzen die Bestimmung der Pflanzenart.

IV. All g’emeine Aetiologie.

Haufigkeit der Psychosen iiberhaupt. Eine zuverlassige Statistik ist fiber cliesen Punkt schwer zu gewiunen. Wie schon ofter er- wahnt, sind die Grenzen zwischen Geisteskrankheit und' Geistesgesundheit fliessende. Zwischen der sogenannten Neurasthenie und clem spater zu beschreibenclen neurasthenischen Irreseiu, zwischen der physiologischen Beschranktheit und clem pathologischen Schwachsinn, zwischen dem physiologischen Misstrauen und Hochrnuth und clem pathologischen Ver- folgungs- und Grossenwahn bestehen zahlreiche Uebergange. Dazu kommt, class aus ausseren Grfinden eine Zahlung der ausserhalb der Irrenanstalt befincllichen Geisteskranken kaum einigermaassen exact aus- geffihrt werden kann. Im Allgemeinen clfirfte auf 300 Geistesgesuncle mindestens 1 Geisteskranker zu rechuen sein.

Eine genauere Zahlenangabe der psychischen Morbiclitat im Allge- meinen ist auch schon deshalb vbllig zwecklos, weil die Haufigkeit der Psychosen zu verschiedenen Zeiten und in verschieclenen Lanclerh sich sehr verschieden erweist. Es ist namlich unzweifelhaft, dass im Lauf der Jahrhunclerte die Procentzahl der Geisteskranken im Ganzen zuge- nommen hat. Wenn auch in frfiheren Jahrhunclerten die Aufmerk- samkeit auf geistige Storungen weniger scharf gewesen und daher mancher P'all der Beobachtung ganz entgangen sein mag, und wenn auch

Allgenieine Actiologie.

209

in friilieren eTalirliimderten manclier Geisteskranke als Werkzeug Gottes Oder des Teufels (Heilige, Hexen u. s. \v.) gegolten haben mag, so reichen diese l)eiden Umstande dock uiclit aiis, die thatsachlick erlieblicke Zu- uakme der Psyckosen zu erklaren, zumal in mancken Liindern eine solcke Zimakme sogar innerkalb des jetzigen Jakrkunderts nackweisbar ist. Ganz besonders sckeinen 3 Forinen der Geistesstorung kaufiger geworden zii sein, das alkokolistiscke Irresein, die Dementia paralytica nud endlick das nenrastkeniscke Irresein. Die Ursacke dieser kistori- •scken Vernieknmg der Psyckosen ist zii sucken:

1. In dem zunekmenden Alkokolmissbrauck ;

2. in der zunekmenden Verbreitung der Syphilis ;

3. in der geistigen Ueberbiirdimg der keutigen Erziekung;

4. in der Ersckwerung des Kampfes urns Dasein, welcke das Nerven- ' system dem gefakrlicken Affecte der „Sorge^^ in viel kokerem Maasse aussetzt und zu intensiveren, lilngeren und kastigeren Leistungen bei . geringerer Puke bezw. Erkolungszeit zwingt. Hieraus erklart sick auck, 'Warum gerade jene drei Psyckosen ganz besonders an der allgemeinen -Zunakme tkeilkaben. Denn bei diesen spielen gerade jene vier Factoren :eine Hauptrolle in der Aetiologie (bei der Dementia paralytica die Syphilis).

Die geograpkiscke Verbreitung der Psyckosen zeigt gleickfalls er- Ikeblicke Ungleickkeiten. Wenigstens sckeint kaum zweifelkaft, dass bei . uncivilisirten Vblkern aknlick wie in friikeren Jakrkunderten Geistes-

storungen im Ganzen seltener sind, und zwar sckeinen es wiederum die drei oben erwiiknten Formen der Geistesstorung zu sein, welcke fiir dies Ke-

sultat namentlick in Betrackt kommen. Auck die Erklariing diirfte sick lim Wesentlicken mit der soeben fiir die kistoriscke Versckiedenkeit der ipsyckiscken Morbiditat gegebenen decken. Fiir detaillirtere und defini- tive Sckliisse reickt das statistiscke Material, welches bislang vorliegt, :nickt aus. Die Versucke, fiir eine bestimmte Nationalitat oder fiir eine bestimmte Passe oder fiir ein besonderes Klima eine kokere Ziffer der ipsyckiscken Morbiditat auszurecknen , sind grosstentkeils gesckeitert. ’Wo freilick bestimmte einzelne iitiologiscke Sckadlickkeiten unter der -grossen Zakl der spater aufzufiikrenden atiologiscken Momente in einem -geograpkisck mekr oder weniger sckarf abgegrenzten Bezirk besonders igekiluft sick vorfinden, wird man die von diesen atiologiscken Sckad- lickkeiten abkangigen Psyckosen selbstverstiindlick auck kaufiger finden als an anderen Orten, und kierdurck kann wiederum unter Um- -stiinden die Gesammtziifer der psyckiscken Morbiditat eine Erkokung erfakren. So ist z. B. der Alkokolmissbrauck entsckieden in den nord- licken Culturlandern starker verbreitet, dementspreckend finden sick denn auck kier mekr alkokolistiscke Psyckosen, und die koke Morbidi- tatsziffer mancker dieser nordlicken Culturlander, in welcken der Weg-

Ziehen, Psychiatrie. 14

210

Allgomeinc Actiologio.

fall anderer atiologischer Scliadliclikeiten einen Ausgleich niclit herbei- filhrt, diirfte sich hieraus erldaren lassen, Bei der Betrachtung der einzeluen atiologisclien Momente wird liierauf zuriickzukommen sein.

Das Gesclileclit iibt gleiclifalls keinen erheblicben Einfluss auf die Morbiditatsziffer im Ganzen aus. Manclie der spater aufzufiihrenden einzelnen atiologisclien Momente iiberwiegen bei dem inannlicben Ge- scblecht (Ueberarbeitiing und Sorge im Kampf umsDasein, sexuelle Excesse, Trunksucht, Syphilis), andere iiberwiegen beim weiblicben Gescblecht oder beschriinken sicb sogar auf dieses (sexuelle Unbefriedigung, Graviditiit, Puerperium, Lactation u. dgl.), Im Ganzen balten sich die bier und dort iiberwiegenden Scbadlicbkeiten etwa die Waage, sodass der Procentsatz der geisteskranken Manner ungefabr ebenso liocb ist wie derjenige der geisteskranken weiblicben Individuen, Hochstens ist der letztere in einigen Landern um ein Geringes grosser als der erstere,

Weit erbeblicher ist der Einfluss des Alters auf die Morbiditat. Auf jeder Altersstufe treffen eine Reihe atiologischer Scbadlicbkeiten zusammen, und von der Gesammtbeit dieser atiologischen Scbadlicbkeiten ist die Morbiditat einer jeden Altersstufe abbangig. Im Ganzen nehmen diese atiologischen Scbadlicbkeiten bis zum Eintritt der Pubertat nur sehr langsam zu. Mit dem Eintritt der Pubertat tritt eine jahe Zu- nabme derselben und damit der psycbischen Erkrankungen auf. Ibren hochsten Werth erreicht entsprechend der maximalen Haufung der atiologischen Scbadlicbkeiten die psychische Morbiditat im mittleren Lebensalter, bei dem Weibe im 25. 35., bei dem Manne im 30. 50. Lebensjahre. Dann nimmt dieselbe wieder ziembch rasch ab, um im hochsten Greisenalter jenseits des 70. Lebensjahres nochmals einen leichten Anstieg zu zeigen. Enter den atiologischen Einzelfaktoren, welcbe die Morbiditat einer jeden Altersstufe bestimmeu, spielen eiuige eine besondere Robe, nambch die physiologiscben Umwalzungen, welcbe in einem bestimmten Lebensalter regelmassig eintreten. Es sind dies

1. die Pubertatsentwickelung im 14. 20. Lebensjahre;

2. die senile Involution im 7. Lebensjabrzebnt.

Bei dem Weibe kommt hierzu nocb die Involution der Genital- organe, wie sie ibren Ausdruck in dem Aufhoren der Ovulation und Menstruation flndet, das sog. Kbmakterium. An diesen physiologiscben Wendepunkten der menschbchen Entwickelung flnden sicb regelmassig Maxima der Morbiditiitscurve. Bei Besprecbung der speciellen litiolo- giscben Momente wird anf den Einfluss dieser Altersetappen, auf die psychische Morbiditat und auf das psychische Krankheitsbild zuriickgc- kommen werden.

Auch der Beruf und die sociale Lage ist von erbeblichem Einfluss auf die Morbiditat, insofern beide oft eine Vereinigung zablreicher iitio-

I

I

Allgenieine Aetiologie.

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logisclier Schiidliclikeiten in sicli scliliessen. So ist z. B. erfalirungs- gerniiss cler Beruf des Officiers i)sycliischen Erkrankungen in besonderem Maasse ausgesetzt, insofern Alkoliolmissbraucb, sexnelle Excesse, korper- licbe iind geistige Anstrengungen, Syphilis und Gemiitbsbewegimgen bei dieseni Stand sehr hiinfig zusammentreffen.

Weit wicb tiger als das Stiidinm der bis jetzt angefiibrten sehr com- plexen atiologischen Momente, deren jedes zahlreiche einzelne atio- logische Factoren in sicli einschliesst, ist eine eingehende Betrachtung der Bedentimg und Wirkungsweise der einzelnen atiologischen Factoren.

Einzelne atiologische Factoren.

1. Erblichkeit.

Die Hauptthatsache, welclie den Einfluss der Erblichkeit auf die ipsychische Morbiditat zu erkennen giebt, ist folgende:

Psychische Erkrankungen sind bei solchen Individuen, in deren IFamilie psychische Erkrankungen bereits vorgekommen sind, haufiger ;als bei solchen, in deren Familie psychische Erkrankungen noch nicht 'vorgekommen sind. Erstere bezeichnet man als erblich belastet, letztere als erblich unbelastet. Dem Vorkommen psychischer Erkrankungen in (der Familie gleichwerthig ist das Vorkommen von

1. Erkrankungen des Nervensystems (ohne psychopathische Sym- iptome), also z. B. von Neurasthenie, Epilepsie, Hysterie, Migrane, Riicken- imarkskrankheiten u. s. f.

2. Auffalligen Charakteren und Begabungen, also z. B. von Excen- ;tricitat, Genialitat, Hang zum Verbrechen, ungeniigend motivirten Selbst- ;morden u. s. f.

3. Trunksucht.

Die Eeststellung der Hereditat eines Kranken wird also ausser auf Psychosen selbst auch noch auf die unter 1 3 aufgefiihrten 'Momente in der Ascendenz fahnden miissen. Dabei geniigt die einfache lErage: „sind Geisteskrankheiten, Nervenkrankheiten, Verbrechen u. dgl. in Ilhrer Familie vorgekommen?^^ nicht. Bei einer solchen Fragestellung ifallt von geflissentlichem Verschweigen ganz abgesehen dem Kranken ■und auch seinen Angehorigen meistens nur eiu geringer Theil der that- 'Sachlich vorgekommenen Eiille von Geistesstorung, Nervenkrankheit u. s. w. ein. Man muss daher sich einzeln die Eltern, Grosseltern, Geschwister 'der Eltern u. s. f. aufzahlen lassen und bei jedem einzelnen Familienglied ifragen, ob Geistesstorung, Verbrechen u. dgl. vorgekommen sind. Nur auf idiesem Wege lasst sich ein sicheres Urtheil iiber das Vorhandensein I und den Grad der erblichen Belastung gewinnen. Sehr vortheilhaft ist tes, in einem Stammbaum die diesbeziiglichen Erhebungen iibersichtlich /zusammenzustellen. Der beistehende Stammbaum stellt z. B. die erbliche i Belastung eines Paranoikers dar:

14*

212

Allgeineino Actiologie.

Grossvater Grossmutter

jahzornig

niclits

bekannt

Urgrossmutter

jahzornig

Grossvater Grossmutter

Trunksucht Alters-

schwachsinn

Onkel

Onkel

Vater

Apoplexie jahzornig jahzornig

Mutter

Migrane

Tante

Epilepsie

Bruder

(Hermann)

jahzornig

Patient Schwester

(Otto)

Paul

Hermann

(Anna) Selbstmord wegen unehel. Niederkunft

Bruder

(Carl)

Hypochonder

Bruder

(Max)

jahzornig

Bruder

(Friedrich)

gesund

cerebrale gesund

Kinder-

lahmung

Alle cliejenigen Glieder der Familie, bei welchen Psychose, Neurose u, s. w., kurz irgend ein belastendes Moment vorliegt oder vorgelegen hat, sind unterstrichen.

V erschiedene Formen der Belastung. In dem durch den Stamm- baum dargestellten Fall liegen Belastungsmomente sowohl vaterlicherseits wie iniitterlicberseits vor. Man spricht alsdann von cumulativer oder couvergenter Belastung (im Gegensatz zu einseitiger Belastung). In manchen Fallen sind bei den Eltern selbst Belastungsmomente nicht nacbzuweisen, sondern nur. bei den Geschwisteru der Eltern. In der Hegel findet man danu bei weiterer Nachforschung, dass bei den Gross- eltern ein Belastungsmoment vorgelegen bat. Der folgende Stammbaum stellt ein einfaches Beispiel dieser Art dar.

Grossvater

Trunksucht

Grossmuttor

gesund

Grossvater

gesund

Grossmutter

gesund

Onkel

Psychose

Vater . gesund

Mutter

Onkel

gesund gesund

Bruder Patient Bruder gesund Psychose

Tante

gesund

Die Eltern des Kranken sind bier beide gesund, desgleicben die Gescbwister der Mutter, sowie die Grosseltern iniitterlicberseits. Ein Bruder des Vater s bingegen ist geisteskrank, und genauere Nacbfor- scbung ergiebt, dass der Grossvater vaterlicherseits ein Trinker gewesen ist. Es liegt somit eine oinseitige Belastung vor und zwar bat der be-

Allgemeine Aetiologie.

213

lasteude Eiufliiss cles Grossvaters sich nin- bei einem Kind, namlicli dem Onkel des Kranken gelteud gemacbt, bingegen das andere Kind, den Vater des Kranken verscbont. Erst bei den Kindern dieses Vaters, also bei dem Patieuten selbst und einem Bruder des Patienten, ist der Einlluss der Trunksiicbt des Grossvaters wieder zu erkennen. . Dass bier uicbt etwa ein zufalliges Ziisammentreffen vorliegt, gebt aus der sta- tistiscben Tbatsacbe bervor, dass Individuen, deren Eltern zwar normal waren, deren Grossvater oder Grossmntter aber abnorm war, eine viel bobere Morbiditiitsziffer zeigen als Individuen, deren Eltern und Grosseltern normal waren. Wir miissen also annebmen, dass die Belastung bei dem ■Sobn in Folge des Ausbleibens von scbadlicben Gelegenbeitsursacben Dank giinstigen, compensirenden Umstanden (z. B. einer verstandigen lErziebung) latent geblieben, bingegen bei dem Enkel in Folge ungiin- jstigerer Umstiinde wieder zur Wirksamkeit gelangt ist. Die Lehre von der Aetiologie der Syphilis bietet analoge Beispiele: das sypbilitiscbe ’Virus kann ein Zwiscbenglied iiberspringen in dem Sinne, dass dies / Zwiscbenglied die Uebertragung vermittelt obne selbst zu erkranken. lln den eben dargestellten Fallen spricbt man von indirect er erb- licber Belastung.

Hauptgesetze der erblicben Belastung. Die zwei wicbtig- ■sten ergeben sicb bereits aus dem Obigen, namlicli erstens, dass die IKinder eines psycbopatbischen oder neuropatbiscben Individuums meist inicbt alle, sondern nur zum Tbeil selbst an Psycbopatbien (oder INeuropatbien) erkranken, und zweitens, dass die Enkel eines psycho- jpatbiscben oder neuropatbiscben Individuums alle oder (baufiger) zum Tbeil aucb dann an Psycbopatbien erkranken kbnnen, wenn ibr Vater (oder ibre Mutter verscbont geblieben ist. Im einzelnen Fall lasst sicb ikeineswegs stets nacbweisen, warum das e i n e Individuum verscbont und Mas andere dem belastenden Einfluss unterlegen ist. Im Allgemeinen Ikann man sagen, dass die Belastung eben nur eine Pradisposition / zu psycbiscber Erkrankung scbafft und dass immer nocb besondere intra 'vitam wirkende Scbadlicbkeiten binzukommen miissen, um aus dieser 1 Pradisposition oder latenten Belastung eine wu’klicbe Psycbose bervor- . zubringen. Das Ausbleiben bezw. Eintreten dieser Scbadlicbkeiten wiirde es bedingen, dass das eine Individuum erkrankt und das andere, gleicber- :maassen belastete, gesund bleibt. Indessen versagt diese Erklarung inicbt selten, und es bleibt dann nur iibrig anzunebmen, dass die ver- •scbiedenen Keimzellen der Erzeuger in ungleicbem Maasse von der Er- krankung der Erzeuger in Mitleidenscbaft gezogen worden sind. Vielfacb bat man aucb bebauptet, dass im Ganzen die weiblicbe Nacbkommen- scbaft von dem belastenden Einfluss in weiterem Umfang und grosserer Intensitat betroffen wird als die mannlicbe,

214

Allgemeine Aetiologic.

Verschieclene Grade der erblichen Belastung. Fiir den Grad der erblichen Belastung, welcbe von einer bestimmten Psycbose oder Neill ose oder der Irunksiicbt oder einer Cbai’akteranomalie aiisgebt, bietet sicb als geeignetster Maassstab ziinacbst die Procentzabl der psychi- scben Erkrankiingen unter den Nacbkommen. Niicbstdem wird man die Scbwere der psychischen Erkrankiingen der Nacbkommen beriicksichtigen. Dabei ergiebt sicb, dass in der That der belasteude Einfluss der ver- scbiedenen oben angefiibrten Belastiingsmomente sebr verscbieden gross ist. Eine einfache Neurastbenie, eine Charakterabsonderlicbkeit , eine senile Demenz iind eine einmalige Puerperalpsycbose in der Ascendenz sind weniger belastend als chronischer Alkobolismiis, Epilepsie, Hysterie, Schwacbsinn ii. s. w. Man hat geradezu eine bestimmte Scala der ver- scbiedenen Neiiroseu iind Psychosen nacb dem Grad ibres belastenden Einflusses aufstellen wollen. Solcbe Aiifstelliingen entbebren jedoch jeder Allgemeingiiltigkeit. Eine acute Paranoia, welcbe sicb in Folge einer zufalligen Haufung vieler Scbadlicbkeiten- entwickelt bat, hat eine ganz andere Bedeutung bei Feststellung der erblichen Belastung der Descen- denten als eine Paranoia, zu deren Entwickeluug ein geringer Anstoss geniigte. Im ersteren Fall wird man im Allgemeinen eine viel geringere Belastung anzunebmen baben als im letzteren. Bei der Abwagung der erblichen Belastung wird man also stets ganz iudividuell Fall fiir Fall vorgeben miissen. Einen besonders scbwereu belastenden Einfluss iiben selbstverstiindlicb diejenigen Psychosen aus, welcbe die alsbald naber zu bescbreibende „erblicb degenerative Modification'^ zeigen.

Die Scbwere der erblichen Belastung, welcbe auf einem Individuum rubt, ist nun durcbaus nicht allein nacb dem belastenden Einfluss zu bemessen, welcber in dem eben besprocbenen Sinn der Psycbose bezw. Neurose u. s. w. des Vaters oder der Mutter oder des Grossvaters u. s. w. zukommt. Die kliniscbe Betracbtung lebrt, dass eine Belastung im Allge- meinen aucb als um so scbwerer anzuseben ist, je niebr Glieder der Familie (einscbliesslicb der Gescbwister, Neffen und Nicbten des Kranken) an Psycbosen oder Neurosen u. dgl. gelitten baben. Wenn ich zwei Kranke bebandle, deren Grossvater vaterlicberseits Trinker war, und wenn sicb ergiebt, dass bei dem Kranken A der Vater und die Ge- schwister des Vaters sowie die Gescbwister des Kranken selbst und deren Kinder gesund geblieben sind, dass hingegen bei dem Kranken B z. B. der Vater excentriscb veranlagt, ein Bruder desselben psycbiscb erkrankt und zwei Gescbwister des Kranken selbst epileptiscb waren, so wird man trotz der Gleicbheit des e r s t e n Anstosses zur erblichen Belastung scbliessen, dass A weniger belastet ist als B, Man muss eben annebmen, dass die Keimzellen im ersten Fall weniger in Mitleideuscbaft gezogen worden sind oder durcb giinstige aussere Umstande die heredi-

Allgemeine Aetiologie.

215

tiirc Praclisposition lierabgeminclert worcleu ist. Besonclers scbwere Be- lastimg wire! man weiter stets clauu anzunebmen baben, wenn die oben erwabute convergeute Belastimg vorliegt, d. b. also, wenn vaterlicberseits und miitterlicberseits belastende Abnormitaten vorgekomraen sind. Durcb die gescblecbtlicbe Kreuzimg mit gesunden Individuen des anderen Ge- scblecbts ist die Gelegenbeit zn einer Elimination oder Abscbwacbung der bereditaren Disposition gegeben. Wo convergirende Belastung vor- liegt, addiren sicb uingekebrt die bereditaren Dispositionen. Ganz be- sonders unbeilvoll wirkt convergirende Belastimg dann, wenn die belasten- den Eltern zugleicb blutsverwandt sind. Blutsverwandtscbaft der Eltern als solcbe, d. b. bei Abwesenbeit belastender Abnormitaten in der Ascen- denz, sebeint keine Belastung der Descendenten zu involviren.

Specielle Einfllisse der erblichen Belastung auf die Psychose des Descendenten. Erblicbe Belastung giebt fiir alle Psyebosen ein sebwerwiegendes atiologiscbes Moment, fiii* die meisten das einflussreiebste ab. ImAllgemeinen untersebeidet sicb nun ein Fall einer einfacben Psyebose, welcber auf Grand erblicber Belastung sicb entwickelt bat, von einem Fall derselben Psyebose, welcber obue erblicbe Belastung auf Grand anderer Scbadlicbkeiten zu Stande §o- kommen ist, in den Symptomen niebt. Anders bei sebr sebwerer Belastung. Hier findet man oft (niebt stets), dass die erblicbe Be- lastung das Symptomenbild der Psyebosen in ganz eigentbiimlicber Weise modificirt. Man bezeiebnet diese Modification des kliniseben Bildes als die erblicb-degenerative Modification. Dieselbe kann, da sie auf Grund anderer atiologiscber Momente nur selten vorkommt, in diesem Sinne als specifiscb bezeiebnet werden. Die Wirkung sebwerer erblicber Belastung wird aucb kurz als erblicbe Degeneration bezeiebnet. Selbst bei sebr sebwerer erblicber Belastung findet man, dass keineswegs alle Glieder der belasteten Familie an einer solcben degenerativ-modifiemten Psyebose erkranken. Vielmebr findet man in der Kegel, dass aucb einige Familienglieder gesund bleiben und andere nur eine gewobnlicbe Psyebose (obne erblicb-degenerative Modification) acquiriren , dass also nur ein gewisser Brucbtbeil den Einfluss der sebweren erblicben Belastung zeigt, indem eine degenerativ-modificirte Psyebose sicb entwickelt. Der Einfluss der sebweren erblicben Belastung ist mit dieser eigentbumlicben symptomatiseben Farbung der gewobn- licben Psyebosen, welcbe soeben als degenerative Modification bezeiebnet wurde, niebt ersebopft. Haufig erzeugt derselbe namlicb keine vollent- wickelte Psyebose, sondern nur eine Reibe somatiseber und psyebiseber sogenannter Degenerationszeicben , d. b. eine Reibe somatiseber und psyebiseber Merkmale, welcbe bei sebwer erblicb belasteten Individuen viel baufiger sind als bei erblicb niebt belasteten oder bei erblicb leiebt

216

Allgemeine Aetiologie.

belasteten. Dabei ist selbstverstancllich, das dicse sog. Degenerations- zeiclien oft bei Erl)liclibelasteten aucli neben einer vollentwickelten Psychose, sie sei einfach oder degcnerativ modificirt vorkonimen konnen. Endlicli zeigt sicli in vielcn Fallen der l^linHiiss scliwerer erb- liclier Belastnng aucli darin, dass bei der Descendenz vorwiegend gewisse Psycliosen auftreten, oder init anderen Worten, es giebt einige Psychosen welclie zwar aucli bei erblicli niclitbelasteten und crblich leichtbelasteten Individiien in gauz derselben Form gelegentlicli auftreten, bei erblicb scbwerbelasteten Individuen jedocb imgleich haufiger sind. Solche Psy- chosen bezeichnet man als „vorzugsweise degenerative Psychosen^^.

Die degenerativen Modificationen der gewohnlieben Psychosen werden in der speciellen Pathologic bei Bespreclmng der einzelnen Psychosen aiif- gefiihrt werden. Die ;,vorzugsweise degenerativen Psychosen^ werden gleichfalls in der speciellen Pathologic besprochen werden imd zwar eine jede an derjenigen Stelle, welche ihr aiif Grund des klinischen Symptomen- complexes imd Verlaufes zukommt; es wird dann jedesmal die besondere Wichtigkeit, welche in iitiologischer Beziehimg der schweren erblichen Belastnng zukommt, gebiihrend hervorgehoben werden. Zu diesen vor- zugsweise degenerativen Psychosen gehoren z. B. die verschiedeneu Formen des Schwachsiuns, die meisten Formen des sog. periodischen und circu- liiren Irreseins, die acute einfache Paranoia, das Irresein aus Zwangs- vorstelhingen, das hysterische Irresein, das polymorphe Irresein u. s. f. Fine scharfe Grenze zwischen den vorzugsweise degenerativen Psychosen und den anderen Psychosen existirt iibrigens nicht. Man kanu geradezu eine Scala der Psychosen aufstellen, je nachdem in ihrer Aetiologie die einfache oder schwere erbliche Belastnng eine kleinere oder grossere Rolle spielt. So ist z. B. bei der Manie und Melaucholie die erbliche Belastnng, namentlich die schwere erbliche Belastnng, von der geringsteu iitiologischen Bedeutsamkeit, die intra vitam einwirkenden iitiologischen Schadlichkeiten iiberwiegen durchaus. Bei der chronischen einfachen Paranoia ist schwere erbliche Belastnng schon erheblich dfter nach- weisbar und gewisse Formen derselben (so namentlich die sog, originare Paranoia) wareu, wofern man sie nicht besser als degenerative Modi- ficationen ansieht, geradezu zu den vorzugsweise degenerativen Psychosen zu rechnen. Bei den periodischen Irreseinsformen (Folie intermittente der Franzosen) ist der Einfluss der schweren erblichen Belastnng be- reits so bedeutsam, dass sie zu den vorzugsweise degenerativen Psycliosen gerechnet werden miissen. Noch iiberboteu wird das periodische Irre- sein hierin von den Formen des angeborenen Schwachsi ms, welche daher in noch hoherem Maasse als vorzugsweise degenerative Psycliosen^* zu bezeichnen sind. Hand in Hand niit dieser steigenden Beziehimg zu schwerer erblicher Belastnng geht auch das zunehmende Vorkommen

Allgemeiiie Aetiologie.

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cler bereits erwalinten unci unten noch nalier zu besprechenden soma- tiscjben und psycliischen Degeuerationszeichen.

Audi das zeitlidie Auftreten der Psydiosen bei Erblidi-Degeuerirten hat liaufig etwas selir Charakteristisdies. Entweder tritt die Psychose sdion in den Kiiiderjahreu auf (angeborener Schwachsinn, originare Paranoia), oder sie bricht znm ersteu Male in der Pnbertat aus. Wenige Degenerirte iiberwinden die letztere ohne ausgepragtere psycbische Stoning. Im weiteren Leben genligen oft anffallig geringe Anlasse, um schwere Psychosen hervorznbringen. Im Ganzen iiberwiegt ein poly- morpher Verlanf, d. h. in unregelmassigen Zwischenraumen treten die verschiedensten Psychosen auf. Mitunter stellt das gauze Leben eines Degenerirten eiue Kette psychopathischer Znstande und Psychosen dar. In anderen Fallen kommt es zu clem oben aufgeflihrten perioclischen oder circularen Verlanf.

Finer genaueren Betrachtung bediirfen die Degeuerationszeichen. ]\Ian unterscheidet somatische und psychische Degeuerationszeichen.

a. Somatische Degeuerationszeichen. Dieselben decken sich vollstanclig mit den in der allgemeinen Symptomatologie aufgezahlten Wachsthumsstorungen oder Entwicklungshemmungen. Hinzuzufiigeu ist noch die Neigung zu gelegentlichen epileptischen Insiilteu (so z. B. bei heftigen Affecten, starken Schmerzen, sexuelleu oder alkoholischen Excesseu,*) Dentition u. s. w..), Neigung zu halbseitigen vasomotorischen Differenzen (Migrane, mitunter schon im frlihesten Kiuclesalter), bis in spatere Knabenjahre sich fortsetzende Enuresis, Verzogerung des Gehen- und Sprechenleruens u. a. m.

Beziiglich des Vorkommens dieser Degenerationszeichen ergiebt die Statistik, class Falle mit einem einzigen dieser Degenerationszeichen sich bei den nicht belasteten und leicht belasteten Geisteskranken in fast cler gleichen procentualischen Haufigkeit finden, wie bei den schwer belasteten Kranken. Hingegen ist das Zusammentreffen mehrerer cler genannten Degeuerationszeichen bei leichter oder mangelnder erblicher Belastung selten (c. 10 %), bei schwererer haufig (c. 80 ‘’,'0).

b. Psychische Degenerationszeichen. Auf clem Gebiete cler Empfinclungen fallt haufig die abnorm lebhafte Phantasie des Herecli- tariers auf. Schon in den Kinclerjahren ist das Traumleben abnorm gesteigert. Nicht selten kommt es schon in friiher Jugend ab und zu zu einzelnen Illusionen und Hallucinationen. In cler Kegel bleibt sich clabei cler Hereclitarier cler Unwirklichkeit dieser Sinnestauschuiigen be- wusst. Auch Neigung zu den sog. secundaren Sinnesempfinclungen wircl

*) Resistenzlosigkeit gegen Alkohol ist uberhaiipt bei erblicher Degeneration haufig.

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Allgemeine Aetiologie.

oft beobachtet. Nur bei den scliwersten vollentwickelten degenerative!! 1 sycliosen (Idiotie) niacbt diese patliologische Phantasiesteigerung einem pathologisclien Phantasiemangel Platz. Der Hereditarier diclitet ver- moge seiner lebliaften Phantasie oft in die Wirkliclikeit hinein. Daher auch oft ein krankhaftes Renommiren und Ijiigen. Die sexuellen Em- jjfindiingen sind bald gesteigert, bald anffallig wenig ansprucbsfahig Die Pubertcit tritt zuweilen verspiltet, seltener verfriiht aiif. Auf deni Gebiete der Affecte ist die Labilitat des Gefiililslebens am bezeicbnend- sten. Sclion bei dem Kinde fallen motivlose Zornausbriiche und ebenso motivlose oder auf Hallucinationen oder Illusionen beruliende Angst- anfiille auf (Pavor nocturnus). In den Pubertatsjabren wechseln oft sentimentale, weltschmerzliche Verstimmungen mit bizarrer Exaltation. Erstere konnen zu Selbstmordversucben in friihesten Jahren, letztere zu periodisclien Excessen (Spielsuclit) fiihren. Die Liebbabereien haben meist eineu absonderlicben Anstrich (tolle Sportleistungen). Bei aller Begeisterungsfabigkeit fiir allerliand Ideale sind die meisten Degenerirten im Grunde Egoisten. Dem entspricbt nicht selten ein unertraglicher Hochmuth.

Auch fiir das Vorstellimgsleben ist „der Mangel an Ebenmaass'^, die „desequilibration^^ der franzbsischen Autoren, charakteristisch. Die Begabung des Degenerirten ist fast stets einseitig. Kiinstlerische Talente sind haufig. Am ungeuiigendsten bleibt immer die Entwickeluug des logischen Denkens. Die Denkweise ist sprunghaft und widersprucbs- voll. Paradoxe Einfalle driingen sich allenthalben in den Vorstellungs- ablauf ein. Zuweilen haben dieselben schon eine gewisse Aehulichkeit mit den spiiter zu beriihrenden Zwangsvorstelhmgen, indem sie mit einer den Belasteten selbst befremdenden Hartnackigkeit liingere Zeit sein Denken beherrschen. Sein Deuken von heute steht mit seinem Denken von gestern in Widerspruch. Das Lernen auf der Schule ist oft ein ausgezeichnetes ; bier gelten viele Degenerirte als Wunderkinder. Zur Zeit der Pubertiit erfolgt oft ein plotzlicher Stillstand der intellectuellen Entwickelung.

Die Handlungen des Degenerirten entsprechen dieser geistigen Ver- fassung. Mit Recht hat man den Satz Stifter’s auf ihu angewendet: „Es waren in seinem Leben nur Anfange ohne Fortsetzung und Fort- setzungen ohne Anfang.^^ Der Beruf wird haufig gewechselt. Aus- schweifende Geselligkeit und eremitische Zuriickgezogenheit konnen sich ablosen. Viele bevolkern als Vagabunden die Landstrasse. Ihr that- sachliches Leben entspricbt nie dem theoretischen, welches ihre Phan- tasie sich vortraumt. Bizan’e Einfalle bestimmen oft mit impulsiver Macht die Handlungen des Degenerirten. Dieser Umstand, sowie die Labilitat der Alfecte machen die Handlungsweise desselben ganz unbe-

Aligemeine Aetiologie.

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rechenbar. Ethiscbe Begriffe imd Affecte haben aiif das Verbalten des* Degenerirteii, aiicb wenii eine voile Entwickelimg derselben eiutreten kouute, bezw. die intellectuelle Debilitiit die Entwickelimg derselben nicbt binderte (Moral insanity), sebr geringen Eintluss. Anderen Lenten gegen- iiber streuge Sittenricbter nnd von einer an Qnerulantenwabn erinnern- den Empbndlicbkeit, sind sie selbst ganz ibren egoistiscben Trieben imterworfen.

Man kann den gesamniten psycbischen Zustand dieser Degenerirten (der sogenannten Degeneres superienrs der franzbsiscben Antoren) imter den verscbiedensten Bezeichniingen ziisammenfassen. Die franzosischen Antoren sprecben meist von der psycbischen Deseqnilibration, in Dentscb- land werden nenerdings diese Znstiinde als „angeborene andanernde psycbopatbiscbe Minderwerthigkeiten'^^ beschrieben. Niemals wird man ans dem Vorbandensein von einem oder zweien der genannten Merkmale

ebensowenig wie ans ein oder zwei korperlichen Degenerationszeicben

anf Degeneration scbliessen diirfen. Es bedarf stets der Beriicksicb- tignng des Gesainmtbildes nnd vor Allem der Beriicksicbtigimg der Ent- wickelnng dieser psycbischen Besonderbeiten. Nnr wo die Keime der- selben sicb bis in die Kindbeit oder wenigstens bis in die Pnbertat zn- riickverfolgen lassen, wird man mit geniigender Sicherbeit erblicbe De- generation annebmen diirfen. Ancb eine eigentbiimlicbe Periodicitiit in den absonderlicben Stimmnngen nnd Handlnngen verriltb oft in Vorge- riicktem Alter nocb den Einflnss scbwerer erblicher Belastnng.

Die Gesammtbeit einer grosseren Zabl psycbiscber nnd somatiscber Degenerationszeicben wird ancb als die degenerative psycho- nnd nenro- patbische Constitution bezeicbnet. Im Folgenden werden wir nocb eine grosse Reibe verscbiedener psycho- nnd nenropatbiscber Constitntionen kennen lernen, welcbe sicb anf Grnnd anderer atiologiscber Schadlicb- keiten entwickeln. Die anf scbwerer erblicher Belastnng bernbende, degenerative psycbopatbiscbe nnd nenropatbiscbe Constitntion bat so viele cbarakteristiscbe Eigentbiimlicbkeiten, nnd kommt so selten anf Grnnd anderer atiologiscber Scbadbcbkeiten*) vor, dass meist ans ibrer Anwesenbeit, d. b. also ans dem Vorbandensein zablreicberer psycbiscber nnd somatiscber Degenerationszeicben ein Rlickscblnss anf das Vor- bandensein scbwerer erblicher Belastnng gestattet ist. In Fallen, wo eine genane Anamnese beziiglicb der Hereditat nicbt zn erbeben ist, so z. B. bei nnebelich geborenen Individnen, ist dies von grosster prak- tiscber Bedentnng.

Progressive erblicbe Degeneration. Znweilen beobacbtet

*) Am hiiufigsten findet man eine der degenerativen psychopathischen Con- stitution ahniiche constitutionelle Veranderung bei solcben unbelasteten Individnen, welcbe in friihester Jiigend eine Gehirnkrankheit iiberstanden haben.

220

Allgemeine Aetiologie.

fnau, class bei clem Kincle clieselbe Psycbose ocler Neurose wieclerkehrt wie bei clem Vater ocler cler Mutter, Man bezeicbnet dies als gleicb- artige Vererbung. Selir viel hilufiger ist die Vererbung ungleichartig? cl, b, die Psycliosen unci Neurosen cler Dcscendenz sincl von clenen cler Eltern verscbieclen, Daher kann z, B, aucli, wenn cler Vater an Para- noia gelitten hat, bei clem einen Kind eine Epilcpsie, bei dem anderen eine Manie, bei dem drittcn ein periocliscbes Irresein auftreten, Man bezeicbnet dies aucb als den Polymorpbismus cler erblicben Uebertra- gung, Bei scbwerer erblicher Belastung findet man nicht selten, class Generation fiir Generation ein grosserer Procentsatz cler Eamilienglieder psychiscb erkrankt unci class die Scbwere cler psychiscben Erkrankungen Generation fiir Generation zunimmt. So kann z, B, die Trunksuclit des Urahns in cler nachsten Generation vielleicht noch vorwiegend acute beilbare Psychosen (Manie, Melancbolie u, s, w,) beclingen; in cler zweiten Generation treten vielleicht unter clem cumulirenden Einfluss scblechter Erziebung' Ebescbliessungen innerbalb cler Eamilie u, clgl. bereits schwerere Psycbosen auf (chronische Paranoia, epileptiscbes, bysteriscbes, periocliscbes Irresein), Encllicb in, cler dritten Generation begegnen wir clem angeborenen Scbwachsinn , unci die Eamilie erliscbt, Zu letzterem Ausgang tragt baufig aucb die friiber unter den Degenerations zeicben erwiibnte Azoospermie bei,

2, Meehanisehe (traumatische) Lasionen des Centralnervensystems.

Soweit Kopfverletzungen eine Zerstorung des Gebirns an mebr ocler weniger umscbriebener Stelle bewirken, wire! bei Bespreebung des Einflusses der Heerclerkrankungen des Gebirns clerselben zu geclenken sein. An clieser Stelle hanclelt es sicb um die feineren molekularen Veranclerungen, welclie eine Commotio cerebri berbeifiibrt, Ueber die Natur clieser Veranclerungen wissen wir nocb niebts. Die Gesammtbeit cler nacb Commotionen (es sei clurcb direkten Seblag auf den Kopf ocler schweren Fall) auftretenclen Psycbosen bezeicbnet man als „Commotions- Irresein^C Dasselbe sebliesst sicb zuweilen clirekt an die Commotion an, Neben den bekannten Commotionsersebeinungen beobaebtet man in solcben Fallen allerbancl Sensationen, welcbe in das Innere des Kopfes verlegt werclen, „Es ist, als ob sicb im Kopfe alles rundum clrebt", geben die Kranken baufig an, Aucb Sebeinbewegungeu cler Objecte !

sincl niebt selten, Viele klagen direct fiber ein „TrunkenbeitsgeffibP^, andere lecliglicb fiber Scbwindel, Der Gang des Kranken kann dem eines Betrunkenen vollstanclig gleichen, Haufig ist eine allgemeine sen- * f sible unci sensorielle Hyperastbesie und Hyperalgesie, In an- cleren Fallen bestebt umgekebrt fiir Sticbe eine ausgepragte Hypal-

Allgcmoiiie Aetiologie.

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gcsie. Unter den sonstigen psycliisclien Symptomen stehen Halliicina- tionen iiud Augstaffecte oben an. Seltener ist das plotzliche Aufschiessen prinnirer Wahnvorstellungen. Sowohl die Ilallncinationen wie die etwaigen Wahnideen sind dnrcli schreckbaften Inbalt ausgezeichnet. Die Associa- tion ist baufig vollig gebemmt. Daraus resultirt oft eine bocbgradige Scbwer- besinnlicbkeit imd Unorientirtbeit. Ancb eine ecbte primare Incobarenz ist nicbt selten. Mit der Associationsstorung biingt ancb der bocbgra- dige amnestiscbe Defect zusammen, welcber gewobnlicb nacb Abklingen der acuten Krankbeitserscbeinungen zu besteben pflegt. Ancb die Hand- lungen baben meist eine ganz cbarakteristiscbe Farbung: neben katato- niscben Zustiinden kommen scbwere impulsive Gewalthandlungen und ein planloses Fort- und Umberlaufen vor. In anderen Fallen vergeben nacb dem Trauma zunacbst einige Stunden oder Tage und selbst einige Wocben obne erbeblicbere Stoning, bis plotzlicb eine traumatiscbe Psy- cbose mit den eben bescbriebenen Symptomen ausbricbt. Nicbt selten entwickelt sicb im Anschluss an ein acutes Stadium weiterbin eine cbro- niscbe geistige Veranderung, welcbe der sogen. secundilren Demenz ent- spricbt. Haufig tauscbt diese traumatiscbe secundare Demenz, vrenn sie progressiv zunimmt, geradezu das Bild der Dementia paralytica vor; denn ancb Labmungserscbeinungen und Coordinationsstorungen (z. B. der Spracbe) werden ab nnd zu beobacbtet. Aucb der Sectionsbefund kann demjenigen der Dementia paralytica in solcben Fallen ab und zu sebr iibnlicb, sein. In anderen Fallen bleibt die secundare Demenz auf einer gewissen Stufe stationar: bis auf eine massige UrtbeilsscbwacKe, eine Verarmung an complexen und namentlicb an abstracten Begriffen und den Untergang der complicirteren Gefiiblstone ist der Kranke normal.

In einer letzten Keibe jon Fallen bleibt der Getroffene Monate und Jabre lang geistig gesund. Hocbstens fallt denjenigen, welcbe den Getrolfenen fruber sebr genau kannten, auf, dass er reizbarer ist, rascber geistig ermiidet, eine leicbte Einbusse an Vielseitigkeit der Interessen und an Scbnelligkeit und Weitsicbtigkeit des Urtbeils erfabren bat und resistehzloser gegen Alkobol ist. Damit ist eine Pradispo- sition gescbaffen, welcbe fur die Einwirkungen anderer atiologiscber Scbadlicbkeiten den Boden vorbereitet. Eine geringfugige Scbadlicbkeit, welcbe vor dem Trauma obne patbologiscbe Keaction ertragen wurde, fubrt nacb dem Trauma in Folge der durcb das Trauma gescbaffenen neuro- bezw. psycbopatbiscben Constitution zum Ausbrucb einer scbweren Psycbose. Mitunter entwickelt sicb aucb aus dieser Pradisposition eine sog. traumatiscbe Neurastbenie oder in anderen Fallen eine trau- matiscbe Hysteric.

Aebnlicb wie die Commotio cerebri wirken nicbt selten aucb scbwere caloriscbe Insulte (Insolation u. dgl.).

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Allgeineinc Aetiologie.

3. Toxische Einfliisse.

Die Intoxicationeu wirken selir verscliieden, je naclidem sie acut oder chrouisch sind. Inir einzelue Stoife kennen wir nur Psycliosen in Lolge chronischer Einwirkung auf das Nervensystem, fiir andere nur Psycliosen in Folge einmaliger (acuter) Einwirkung, fiir die nieisten sind Psycliosen aus beiderlei Ursaclien bekannt.

a. A 1 k 0 b 0 1.

Nacbst der Erblichkeit ist der Alkoliolmissbraucli die wicbtigste Ursacbe von Psycbosen. Die acute Alkoholintoxication ist praktiscli fiir den Psychiater weniger wichtig: gelegentlicli kommen freilich sog. patho- logische Rausclizustande vor, welche durcli Unorientii’theit, Incoharenz, vereinzelte Hallucinationen (seltener Wahnvorstellungen) und tobsiiclitige motoriscbe Entladungen mit naclifolgender Amnesie ausgezeicbnet sind. Um so grossere Bedeutung hat die chronische Alkoholintoxication, der chronische Alkoholismus.*)

Man fasst unter diesem Sammelnamen alle diejenigen Organerkran- kungen zusammen, welche auf Grund eines excessiven, jahrelaug betrie- benen Alkoholgenusses sich entwickeln. Als besonders deletar ist der Amylalkohol (Fuselol) , sowie der sog. Absinthliqueur zu bezeichnen. Audi Eau de Cologne ist z. B. bei Dainen aus besseren Stiinden schon als spirituoses Gewohnheitsgetriink gefunden worden. Behufs Festste^ung des chronischen Alkohohiiissbrauches ist von den Angaben des Patienten selbst fast stets abzusehen, da Unwahrhaftigkeit eines der constantesten Symptome der sog. alkoholistischen Charakterdegeneration ist. Ausser den Angaben der Umgebung, namentlich der Ehefrau, ist der Arzt daher darauf angewiesen, den Alkohol aus seinen Wirkungen auf die verschiedensten Organsysteme (chronischer Magendarmcatarrh, fettige Degeneration des Herzmuskels und der Leber, Lebercirrhose, chronische Nephritis, Atheroniatose der Gefasse, multiple Alkohohieu- ritis, Alkoholepilepsie) nachzuweisen. Doch ist zu bemerken, dass zuweilen bei ausgesiirochenen alkoholistischen Psychosen die patholo- gischen Veranderuugen der Korperorgane relativ geringfiigige sein kbnnen. Als besonders sinnfalliges Merkmal des chronischen Trinkers sei speciell noch die gedunsene, fahle, von Gefassektasien durchsetzte kiilile Haut angefiihrt. Besonders wichtig sind fiir die Diagnose die alkoholistischen Storungen im Gebiete des Nervensystems. Fiir einen grossen Theil dieser Storungen ist die pathologisch-anatoinische Grundlage noch gar nicht ermittelt. Hierher gehoren namentlich folgende Symptome:

D Dabei kann die Psycbose, welche auf dem Boden der chronischen Intoxica- tion ausbricht, sehr wohl peracut entstehen und verlaufen (wie z. B. das Delirium tremens).

Allgemcine Aetiologie.

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1. Allgemeine Pare sen. Der Handedruck sinkt bei dynamome- trischer Messuug bis auf 30“ (also etwa ein Viertel der Norm) berab, der Gang wird scblotternd , die Mundfacialismuskulatur erscblaift bald eiuseitig, bald doppelseitig (daber das ausdruckslose Gesicht der meisten Trinker), die Zunge weicht imter starkem SchwankerT und fibrillarem Zittern nach einer Seite ab.

2. Der sogenannte Tremor alkoli olicus. Derselbe pflegt in Armen imd Beinen am starksten zu sein. Aucb Mimdmnskeln und Zunge sind oft betbeiligt; es kommt dann zu entsprecbender Spracb- storung. Er verstarkt sicb bei jeder willkiirlicben Innervation. Er ist nicbt auf die paretiscben Muskeln bescbrankt. Meist bestebt er aus kleinen rbytbmiscben Oscillationen. Zuweilen steigert er sicb na- nientlicb im Gefolge langerer Entziebung des Alkobols zu allge- meinen, Geben und Steben bebindernden Scbiittelkrampfen. Erwabnens- wertb ist, dass der Tremor alkobolicus durcbaus nicbt patbognomoniscb ist, er feblt ab und zu bei ausgesprocbenen Trinkern und findet sicb ab und zu mit alien seinen Merkmalen bei Nicbttrinkern (Epilepsie, Meningitis). Von dem Tremor alkobolicus zu unterscbeiden sind die isolirten oder cloniscben Zuckungen, sowie die toniscben Krilmpfe (namentlicb in den Waden), welcbe sicb ofter bei Trinkern finden. Ataxie s. str. ist selten, Bomberg’scbes Scbwanken baufig.

3. S ens ibilit at ss tor ungen. Am baufigsten sind Parastbesien, Hyperastbesien und Neuralgien. Der Localisationsfebler ist meist, na- mentlicb an Vorderarmen und Handen, sowie Unterscbenkeln und Fussen trotz der Hyperastbesie vergrossert. Die Aniistbesien, welcbe in spateren Stadien zur Beobacbtung kommen, beruben meist auf einer binzuge- gekommenen Alkobolneuritis oder auf der nicbt gerade seltenen Com- plication mit Hysteric.

4. Sensor ielle Stor ungen. Subjective Empfindungen, bezw. elementare Hallucinationen der boberen Sinne, feblen selten, so nament- licb Funkenseben, Moucbes volantes, Obrenklingen u. s. w. ; Amblyopien sind baufig. Die opbtbalmo'skopische Untersucbung vermag ofter eine temporale Abblassung der Papille oder aucb eine diffuse, leicbte, aber deutlicbe patbologiscbe Triibuug derselben zu constatb-en.

5. Hautreflexe und Sebnenphanomene sind, wofern nicbt eine Complication mit multipier Neuritis vorliegt, meist gesteigert. Licbttragbeit oder Licbtstarre der Pupillen ist selten.

Sebr wicbtig fiir die allgemeine Diagnose des cbroniscben A. ist endlicb die sogenannte alkobolistiscbe psycbiscbe Degenera- tion (obne ausgepragte Psycbose). Dieselbe ist cbarakterisbt durcb eine zunebmende Scbwiicbe des Gedacbtnisses, Verlangsamung der Auf- fassung und des Urtbeils und Verlust der etbiscben und iistbetiscben

224

Allgcmciiic Aotiologie.

Vorstcllimgen imd Gefiihle. Liigenliaft imcl verleumclerisch (VVahn ehe- hcher Untreue!), jahzornig and docli feig siml fast alle Alkoholisten. Besondere Beaclituug verdienen die gelegentlichen Bepressiouszustiinde imd Angstanfalle. Das abschweifende, aiisraalende, an den Biertiscli erinnernde Eedeti des Trinkers verratli gleichfalls die sinkende Intelli- genz. Der iinauflialtsame Niedergang der Willenskraft liisst alle Besse- riingsvoi'satze zu Sclianden werden.

Die vollentwickelten Psychosen, welche auf dem Boden des Alko- holismus zu Stande kommen, werden in der speciellen Pathologie aus- fiihrlicb besprochen werden. Besonders sei auch auf die in der speciellen Pathologie eingefiigte iitiologische Classification der Psychosen ver- wieseu. Gemeinschaftliche Ziige, welche der chronische Alkoholismus den gewbhnlichen Psychosen da, wo er atiologisch eine erheblichere Rolle spielt, meist aufpragt, sind

1. Eine Neigung zu Illusionen und Hallucinationen, zumal bunten, plastischen, in grosser Zahl auftretenden Gestalten,

2. Eine schwachsinnige Farbung der auftretenden Wahnvorstellungen.

Dazu kommen weiter alle jene Ziige, welche oben als „alkoholistische

psychische Degeneration^^ beschrieben warden.

Ueber die Art und Weise, in welcher der Alkoholmissbrauch das Centralnervensystem und speciell die Grosshiimrinde schiidigt, ist Fol- gendes zu bemerken. Zuniichst bediugt der Alkoholabusus eine indirekte Schadigung der Hirnrinde, insofern er fettige Degeneration zahlreicher fiir den Gesammtstoffwechsel wichtiger Organe (Leber, Nieren, Magen- driisen) hervorruft: unter der so entstandenen allgemeinen Stoffwechsel- stbrung muss selbstverstlindlich auch die Ernahruug und damit die h unction des Centralnervensy stems leiden. Eine weitere indirecte Scha- digung kommt dadurch zu Stande, dass der in Edge des Alkoholabusus fettig degenerirte Herzmuskel die Blutcirculation in unausreichender Weise besorgt. Wichtiger noch sind die localen Einwirkungen des Alkohols auf die Blutgefasse. Die Waudungen derselben verfallen, wie im iibrigen Kbrper, so auch in der Hirnrinde, einer atheromatosen De- generation. Durch diese werden neue, schwere Schiidigungen der Rinden- ernahrung bedingt. Endlich kommt noch der direkte deletare Einfluss des Alkohols auf die nervosen Elemente hiuzu. In vielen Fallen mag der- selbe, ebenso wie die erwahnten trophischen Storungen, ein functioneller bleiben, d. h. unsere mikroskopischen Untersuchungsmethoden vermogen Veriinderungen an den Ganglienzellen und Nervenfasern der Hirnrinde nicht nachzuweisen. In vielen anderen Fallen lassen sich makroskopisch Oder wenigstens mikroskopisch schwere Veranderungen in der Hirnrinde erkennen. Ebenso wie bekanntermaassen der Alkoholabusus nicht selten in den peripheren Nerven die Fasern zerstort (multipl. Alkoholneuritis),

Allgemeine Aetiologie.

225

ebenso beobacbtet man einen Faserschwimd in der Markleiste der Hirn- rinde imd in der Hirnrinde selbst. Ausserdem zeigt der Kbrper der corticalen Ganglienzellen sowie der Axencylinderfortsatz in den schwe- reren Fallen nicbt selten erbeblicbe krankbafte Veranderungen. Alle diese organisclien Veranderungen beobacbtet man namentlicb in den- jenigen Fallen, welcbe mit einem erbeblicberen Intelligenzdefect einher- gingen, speciell anch bei der sogenannten Alkoholparalyse, d. li. einer auf dem Boden des cbronischen Alkobolismus auftretenden, in dem kliniscben Symptomenbild mit der Dementia paralytica iibereinstim- menden Psychose.

b. M e t a 1 1 g i f t e.

Obenan stehen die Blei- und Quecksilbervergiftimg. Beide sind fast ausscbliesslicb als cbronisclie Intoxicationen bekannt. Die Psychose, welcbe auf dem Boden dieser cbronischen Intoxication ausbricbt (meist im Anschluss an eine accidentefte Gelegenheitsveranlassung) hat bald cbronischen, bald acuten Charakter.

Wie der Alkohol erzeugt auch das Blei bei chronischer Ein- wirkung oft eine psycho- und neuropathische Constitution, welcbe in der Kegel einige eigenartige Symptome zeigt. Bekanntlich sind An- streicher, Schriftgiesser, Schriftsetzer, Topfer, Glasarbeiter und Berg- leute der Bleivergiftung am meisten ausgesetzt. In seltenen Fallen hat auch Verunreinigung des Trinkwassers durch Bleirohren zu Bleipsychosen gefiihrt. Die kbrperlichen Symptome sind auch bei ausgesprochenen Bleipsychosen mitunter relativ schwach entwickelt, so die Bleianiimie; der blaulich-schwarze Saum am Zahnfleisch, die Kolik, die falschlich so genannte saturnine Arthralgie, der Tremor, die cerebrale, spinale und periphere Lahmung, die saturnine Neuritis optica, die Bleiskotome, die tonischen und klonischen Krampfanfalle u. s. w. Die psychischen Symptome bestehen in Schlaflosigkeit, Schwindel, elementaren Gehorstauschungen, leichter motorischer Agitation; ab und zu treten auch Angstaffecte, vereinzelte Hallucinationen oder unbestimmte Wahnvorstellungen auf. Mitunter beschrankt sich zeitlebens die psychische Veranderung auf diese „saturnine psychopathische Constitution'^ Haufiger kommt es zu schweren acuten oder cbronischen Psychosen. Allen ist fast ausnahmslos das Auftreten massenhafter Hallucinationen gemeinsam. Dieselben be- dingen in der Kegel eine schwere hallucinatorische Incoharenz und Unorientirtheit. Auch primare Angstaffecte sind haufig. Die Wahn- vorstellungen sind inhaltlich meist als Verfolgungsideen zu bezeichnen. In den schweren cbronischen Fallen kommt es meist zu Intelligenz- defecten.

Auch das Blei schadigt die Hirnrinde ahnlich wie der Alkohol theils Ziehen, Psychiatrie. 15

226

Allgemeino Aetiologie.

in directer, tlieils in indirecter Weise. Bald ist die Schadigung lediglich eine functionelle,*) bald makroskopiscli oder mikroskopisch nachweisbar. Unter den indirekten Scbadigungen spielt die Bleierkrankung der Nieren ofters eine grosse Rolle. In anderen Fallen iiberwiegen die Verande- rungen an den kleinen und kleinsten corticalen Gefassen. Endlicb ist aucli eine directe Einwirkung des Bleies auf die Ganglienzellen und basern der Hirnrinde wahrscheinlicb ; dieselbe ist derjenigen analog, welcbe wir bei den gewbbnlicben Bleilabmungen in den Ganglienzellen des Riickenmarks sowie in den peripberen Nervenfasern (periaxiale Neu- ritis) finden.

Das Quecksilber erzeugt zuweilen ganz abnlicbe psychisclie Veranderungen wie das Blei. Man wird namentlich bei Arbeitern in Quecksilberminen, Spiegelarbeitern, Thermometer- und Barometerarbeitern, Filzhutmacbern und Pelzbandlern an eine Quecksilberintoxication denken miissen. Stomatitis (Salivation), Gastrointestinalkatarrb und namentlich der Quecksilbertremor sind die cbarakteristiscbsten korperlicben Begleit- symptome.

Anzureiben sind bier aucb die Vergiftungen mit gewissen Gasen, so mit Kohlenoxyd (meist acut) und mit Scbwefelkoblenstoff (meist cbroniscb, namentlich bei Arbeitern in Gummifabriken).

c. A 1 k a 1 0 i d e.

Weitaus am wicbtigsten sind unter diesen die Narcotica, speciell das Morpbin. Letzteres bat auf das Centralnervensystem ganz ebenso deletaren Einfluss wie der Alkohol. Nur der cbroniscbe Missbraucb bat j)raktiscbe Bedeutung fiir den Psychiater. Die Kranken gelangen zu dem- selben meist bei einem scbmerzbaften Leiden (Pleuritis, Gelenkrbeumatis- mus, Neuralgien u. dgb). Andere wenden das Morpbium zum ersten Male gegen qualende Scblaflosigkeit an. Mancbe greifen zum Morpbium, um irgendwelcbe Affecte (Aerger u. dgl.) zu betauben. Aucb die Notb- lage des Arztes, der nacb einer in Alkobolexcessen oder aucb in auf- regender Tbatigkeit verbracbten Nacbt am Morgen sicb unwobl und erregt fiiblt, verfiibrt nicbt selten zu der ersten Morpbiumdosis. Solcbe Gelegenbeiten wiederbolen sicb. Der Kranke verliert seine Wider- standskraft und seine Rube gegeniiber Scbmerzen und Affecten immer mebr. Er muss ofter zum Morpbium greifen und, da alsbald eine Ge- wobnung eintritt, zu bbberen Dosen. Nun kommt binzu, dass mit der Gewobnung aucb das Bedurfniss sicb einstellt. Aucb obne Scbmerzen oder irgend einen anderen Anlass greift der Kranke zum Morpbium,

*) Wie die chronische Alkoholintoxication kann aucli die chronische Blei- und die chronische Quecksilbervergiftung z. B. zuweilen das klinische Bild der Ilysterie hervorrufen.

Allgemeine Aetiologie.

227

weil die mit der Enthaltimg verkniipfte „Unruhe“ sich einstellt, Diese qualvolle Unruhe der Abstinenz beberrsclit fortan die weitere Entwicke- lung. Sie besteht erstens in einer Empfindung der Unrube, welcbe der Kranke meist in den ganzen Kbrper verlegt, zweitens in einer „Unruhe der I deen association,'^ d. b. in einer leichten Bescbleunigung und Incobareuz des Gedaukenablaufs, welcbe dem Kranken jede Concentration and jedes zusammenbangende Arbeiten auf das Hocbste erscbwert, und drittens in einer motor iscben Unrube, d. b, einem fortwabrenden Bewegungsdrang, welcber den Kranken auf keinem Platz langer bleiben lasst; ofters koinmen ancb Angstaffecte binzu, Der Scblaf scbwindet. Diese Abstinenzerscbeinungen treiben den Kranken zu immer boberen Dosen. Von der Ursacbe, welcbe anfanglicb die Morpbiumverwendung bedingte, bat sicb der Morpbiumgebraucb nunmebr unabbangig gemacbt. Erst von diesem Augenblick an darf man von Morpbinismus im engeren Sinne sprecben.

Wenn anfangs nocb der Arzt das Morpbium verscbrieb und die Dosis bestimmte, so sucbt jetzt der Kranke auf eigene Faust sicb Morpbium zu verscbaffen und nimmt das Morpbium nacb eigenem Gutdunken, d, b. entsprecbend dem wacbsenden Abstinenzbedurfniss. Scbliesslicb gelangt er auf Tagesdosen von 1 3 Gramm und mebr.*) Die Anwendungs- weise ist meist eine subciitane. Oefters wird ancb statt des Morpbium- missbraucbs Opiummissbrancb **) (Opiopbagie) beobacbtet. Viele Opio- pbagen geben iibrigens spater docb zu dem Alkaloid uber.

Die wicbtigsten korperlicben Veranderungen, welcbe der Morpbium- missbrancb nacb sicb ziebt, sind

1 . Scbwere Stoffwecbselstorung : bierber gebort namentbcb ancb die kacbektiscbe Anamie des Morpbinisten. Aiicb Hamopbilie wird ab und zu beobacbtet. Neigung zu Hautpblegmonen und Zabncaries ist baufig.

2. Stbrungen des Digestionstracts : Herabminderung der motoriscben und secretoriscben Leistungsfabigkeit des Magenmuskels resp. der Magen- scbleimbaut, bocbgradige Anorexie, Obstipation.

3. Vasomotoriscbe Stbrungen und Stbrungen der Herzinnervation (Bradykardie und Pulsarbytbmie).

4. Die Pupillen sind im Anfang des cbroniscben Morpbiummiss- braucbs eng. Spater stellt sicb oft eine abnorme Mydriasis eiu. Die Beactionen werden nacb und nacb trager und weniger ausgiebig. Ancb die Accommodation leidet nicbt selten.

5. Die grobe motoriscbe Kraft der Extremitaten und Rumpfmuskeln nimmt ab. Jede Einspritzung belebt dieselbe nur fur kurze Zeit wieder

*) Die liocliste bis jetzt beobacbtete Tagesdosis ist 5,5 g.

**) Aucb opiumhaltige Arzneien (Pulvis Doweri, sogenannte Choleratropfen u. dgl.) konnen den ersten Anstoss zu Morphinismus geben.

15*

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Allgenieine Aetiologie.

etwas. Namentlich die motorisclie Ermiidung tritt immer rascher ein. Die Schlaftheit der Gesiclitsziige uud die Triigheit des Mienenspiels ver- rathen, dass aiich die Facialismusculatur sicli au der allgemeinen Herab- setzung der motorischen Innervation betlieiligt. Hilufig beobacbtet man statisclien pder Intentionstremor. Aucb wirklicbe Ataxie und Romberg- sches Schwanken findet sicb ofters.

6. Auf sexuellem Gebiet besteht Impotenz, zuweilen ist aucli bei er- baltener Erectionsfabigkeit die sexuelle Libido erloscben. *) Der Scblaf ist aiifgehoben.

7 . Sensible und sensorielle liypasthesien und Hypalgesien sind baufig. Das Gesicbtsfeld ist concentrisch eingeengt. Ringfdrmige und andere Skotome sind nicbt selten. Seltener ist eine iiber das ganze Gesichts- feld sicb erstreckende Amblyopie oder Amaurose. Nicbt selten entwickelt sicb auf dem Boden des cbroniscben Morpbinismus aucb der typiscbe neuropatbologiscbe Symptomencomplex der Hysterie.

Kopfscbmerzen (oft balbseitig), lancinirende Scbmerzen in den Ex- tremitaten, circumscripte Neuralgien sind sebr baufig.

Die psycbiscben Symptome des cbroniscben Morpbinismus sind

1. Hallucinationen und Illusionen: dieselben sind wenigstens in complicirterer Form nicbt baufig. Meist bandelt es sicb nur urn sebr einfacbe, elementare Hallucinationen, wie Funkenseben, Obrenklingen u. dgl. Sebr viel baufiger sind Parastbesien der Haut, namentlicb in den unteren Extremitaten. Die eigenartigen Kalteempfind ungen, fiber welcbe die meisten Morpbinisten klagen, sind vielleicbt aucb bierber zu recbnen.

2. Associationsstorungen : scbon nacb kurzer geistiger Arbeit tritt Ermiidung ein. Die Association wird trage und leicbt incobarent. Die Kranken vermogen eine langere und verwickeltere Vorstellungsreibe nicbt mebr in ibrem Zusammenbang zu verfolgen. Zu ernsterer geistiger Arbeit sind sie daber unfabig. Haufig bestebt zugleicb eine abnorme Reiz- barkeit. Die korperbcben Empfindungen der Unrube tragen dazu bei, den Vorstellungsablauf fortwabrend zu storen. Das Gedacbtniss, d. b. der Scbatz an Erinnerungsbildern, bleibt in der Regel intact.

3. Affectstdrungen. Der Angstanfalle wurde bereits gedacbt. Sebr wicbtig ist aucb die morpbinistiscbe Cbarakterdegeneration , welcbe der alkobolistiscben nabe verwandt ist. Sie berubt wie letztere auf dem Untergang der complicirteren, namentlicb aucb der etbiscben Geffibls- tdne. Wie der Alkobolist Ifigt der Morphinist. Da der Intelligenzdefect viel unerbeblicber ist, Ifigt er meist mit viel mebr Gescbick. Zur Lfige kommt baufig die Intrigue binzu. Alle Pflicbtgeffible gebeu nacb und

*) Atroi)liie des Uterus ist gleichfalls beobacbtet. Sebr baufig ist Amenorrhoe.

Allgemeine Aetiologie.

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nacli verloren, ebenso alle boheren Interessen. Damit liangt es auch zusammen, dass fast alle Morpliinisten nacb jeder Entziehung binnen Kiirzem wieder riickfallig werden:*) die ethischen Vorstellungen haben ilireu Gefiiblston eingeblisst und damit ibren Einfluss aiif das Handeln verloren. Die „Willenskraft^^ der Kranken bat unbeilbar gelitten.

Vollentwickelte acute Psycbosen sind auf dem Boden des Morpbi- uismus selten. Nur bei plotzlicber Entziebiing des Morpbiums oder plbtz- licber erbeblicber Verminderimg der gewobnten Dosis, also in der sog. Abstinenz, kommt es neben den cbarakteristiscben somatiscben Abstinenz- symptomen (gefabrlicbe Collapse, profuse Diarrboen, Erbrecben, Gabnen, scbwerer Tremor und Ataxie aucb der Spracbbewegungen , mul- tiple Scbmerzen u. s. w.) zu beftigen acuten psycbopatbiscben Symptomen. Scbwere Angsteffecte und massenbafte Hallucinationen (vorzugsweise des Gesicbts) spielen unter denselben die Hauptrolle. Hallucinatoriscbe Incobarenz und ballucinatoriscbe Wabnvorstelluugen treten baufig bin- zu. Mitunter kommt es zu ausgesprocbener Tobsucbt.

Aucb der Cocainmissbraucb ist neuerdings baufiger geworden. Meist bandelt es sicb um Individuen, welcbe urspriinglicb Morpbinisten waren und, um das Morpbium loszuwerden, dasselbe durcb Cocain zu ersetzen versucbten. Dieser Versucb scbeitert in der Regel vbllig: die IG’anken erzielen bdcbstens eine geringe und nocb dazu nur voruber- gebende Verminderung ibi’er taglicben Morpbiumdosis und verfallen obendrein dem Cocainismus. Letzterer verbalt sicb insofern umgekebrt wie der Morpbinismus , als die Cocainabstinenz in der Regel obne scbwerere psycbopatbiscbe Erscbeinungen verlauft, vielmebr gerade der cbroniscbe Cocamgebraucb an sicb scbwere Psycbosen bedingt. Die- selben geboren grosstentbeils der in der speciellen Patbologie ausfiibrlicb bebandelten ballucinatoriscben Paranoia an.

Erbeblicb seltener sind psycbopatbiscbe Erscbeinungen oder Psy- cbosen nacb dem acuten oder cbroniscben excessiven Gebraucb des Atropins, Hyoscins u. s. w.

Grbssere Bedeutung besitzt der Nicotinmissbraucb fiir die Aetiologie der Psycbosen. Speciell scbadigt das excessive Raucben scbwerer, im- portirter Cigarren das Centralnervensystem in ganz erbeblicber Weise. Neben scbweren Storungen der Herz- und Gefassinnervation (Angina pectoris) und der Darminnervation, sowie neben Amblyopieen und subjec- tiven Gerauscben beobacbtet man aucb das Auftreten vollentwickelter Psycbosen (Zwangsvorstellungen , neurastbeniscbes Irresein). Aucb bei der Entwickelung der Dementia paralytica, also einer Psycbose auf orga- niscber Grundlage, scbeint dem Nicotinmissbraucb eine gewisse atiolo- giscbe Bedeutung zuzukommen.

*) Oder, was ebenfalls nicbt selten ist, dem Alkobolismus verfalleq,

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Allgemeine Aetiologie.

Ergotismus, d. li, chronische Vergiftung durch Ergotin, ist bei Verunreinigung des Brotes durch Mutterkorn al) und zu epidemiscli beobaclitet worden. Auf kbi’iierlichem Gebiete sind die Hauptsymptome : epileptische Anfalle, Parastbesieu, Hypalgesie, Ataxie, Fehlen des Knie- pbanomens. Auf psychischem Gebiet ist das hervorstecbendste Symptom eine erhebliche Denkhemmung und ein Defect der Intelligenz. Letzterer ist nicht progressiv. Die Section ergiebt namentlich eine schwere Erkrankung der Burdach’schen Strange des Ruckenmarks.

Eine Verunreinigung des Mais, welcbe noch nicht naber bekannt ist, bedingt die sog. Pellagra. Dieselbe kommt fast nur in Nordita- lien vor, ausserdem in vereinzelten Gegenden Spaniens, Siidfrankreicbs und Rumaniens. Das Leiden erstreckt sich oft iiber 10—15 Jahre; in jedem Friibling stellt sich eine Exacerbation ein. Die Hauptsymptome sind Veranderungen der Haut und schwere Durchfalle, Parasthesien, dif- fuse Lahmungen, Tremor, Opticusatrophie, Retinitis pigmentosa. Dazu kommt auf psychischem Gebiet ein merklicher Defect der Intelligenz, sowie namentlich depressive Affectstorungen.

4. Physiologische Entwiekelungsvorgange.

Die wichtigsten Etappen der normalen Entwickelung sind die Puhertat und das Senium. Wie schon oben erwahnt, bedingen beide einen An- stieg der psychischen Morbiditatscurve.

a. DiePubertat.

Mit der Geschlechtsreife, im 13. 20. Lebensjahre findet eine vollige Umwalzung der korperlichen und psychischen Lebensvorgange statt. Aus den Genitalorganen strbmen dem Gehirn zahlreiche neue Reize zu. So entstehen auf psychischem Gebiet ganz neue Organempfindungen und ganz neue Vorstellungskreise, die von machtigen Geflihlstbnen be- gleitet sind. Gerade die letzteren geben den neuen Empfindungen und Vorstellungen einen gewaltigen Einflus^ auf das Denken und Handeln. Auch bei dem normal veranlagten Individuum vollzieht sich diese korper- liche Umwalzung nicht ganz ohne psychische Reactionen. Das Gehirn iiberwaltigt die neuen Reize nicht sofort und verarbeitet sie daher in unausreichender Weise. Der Trotz und der ungeschlachte Uebermuth der Flegeljahre wird oft von unmotivirt sentimentalen und weltschmerz- lichen Stimmungen abgelbst. In der Lecture werden die Indianer- und Kriegsgeschichten von dem Roman verdrangt. Zahlreiche halbverstandene Begriffe mit wenigen inhaltgebenden Partialvorstellungen , aber sehr lebhafter Gefiihlsbetonung, werden aufgenommen. Der Hang zur Strasse und zu der derben Ausdrucksweise der Flegeljahre weicht einem Hang zur Einsamkeit und zu einem phrasenhaften Pathos. Das Individuum,

Allgemeine Aetiologie.

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das in den Flegeljahren nicM wusste, wo es mit seinen Extremitaten bleiben sollte, vermag jetzt sein Ich niclit in die allgemeine Ordnung seiner Umgebung einzufligen. Die logiscbe Fortbildung des Denkens scheint einige Jabre vbllig stillzustehen. Gesteigert wird der Einfluss dieser Umwalzung in vielen Fallen noch durch onanistische Excesse, oder in anderen Fallen durch Stoffwechselstorungen (Pubertatschlorose u. dgl.). Wenn diese Umwalzung schon an dem normal veranlagten Individuum nicht spiu'los voriibergeht, so wird begreiflich, dass ein pathologisch veranlagtes (z. B. erblich belastetes) Individuum durch dieselbe schwere psychische Schadigungen erfahren kann. So entstehen die sog. Pubertats- psychosen. Diese konnen unter den verschiedensten klinischen Bildern auftreten. Die Pubertatspsychose kann eine Manie, eine Melancholie, eine Paranoia sein u. s. f. In vielen Fallen findet man, dass diese unter dem Einfluss der Pubertat entstandenen Psychosen einige eigenartige gemein- same Ziige zeigen. Man hezeichnet die Gesammtheit dieser Ziige als die „hehephrene Modification^^ der Psychosen. So kennen wir eine hebe- phrene Manie, Melancholie u. s. f. In anderen Lebensaltern, auf Grund anderer atiologischer Schadlichkeiten sind diese hebephrenen Ziige in ihrer charakteristischen Beschaffenheit und Combination nur sehr selten zu beobachten. Dieselben bestehen wesentlich in Folgendem. Die Affecte wechseln auffallig rasch. Die Stimmungsstbrungen sind zudem nicht einheitlich. In der ausgelassensten Heiterkeit aussert der Kranke hypo- chondrische oder weltschmerzliche Vorstellungen, in der schwersten De- pression macht er alberne Scherze. Paramimie und Lachweinen sind sehr haufig. Die Kranken ergehen sich unter unzahligen Wiederholungen in hochtrabenden , gewahlten Redensarten. Unverstandene Sentenzen werden altklug immer wieder eingestreut. Auffallige Widerspriiche bleiben unbemerkt. Logiscbe Verbindungen von Urtheilen zu Schliissen kommen kaum zu Stande. Die Ki’anken lieben bizarre Satzconstructionen. Stunden- lang stehen sie lachelnd, tanzelnd und selbst grimassirend vor dem Spiegel. Ihr ganzes Thun und Treiben scheint auf Zuschauer berechnet. Die Beziehung der successiven Bewegungen und Handlungen auf eine Ziel- vorstellung wird vblhg vermisst. Etwaige Wahnideen fallen durch ihre Albernheit und Abenteuerlichkeit auf. Wie aus dieser kurzen Schilde- rung sich ergieht, handelt es sich bei den meisten dieser Merkmale um pathologische Verzerrungen gewisser Ziige, die auch der normalen Puber- tat eigen sind.

b. Das Senium.

Der Einfluss des Seniums auf die psychische Entwickelung ist weit durch sichtiger. Er beruht oifenbar auf der Abnahme der Leistungs- fahigkeit der Hirnrinde. Auch bei den meisten normalen Individuen

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Allgemeine Aetiologie.

macht sich dieser Emfluss geltend. Der egocentrisohen Einengung des Gefuhlslebens wui-de bereits frilher gedacht. Die Fahigkeit fiii- fremde Sclucksale imcl fremde Gedankenkreise mitzufiilden, oder auch nur die- selben zu verstehen, geht mehr und mehr verloren. Das Interesse des Kranken engt sich auf seine kdrperlichen Bedilrfnisse und Annehmlicli- keiten ein. Hdchstens einige wenige Lieblingsgedanken und Lieblings- bescbaftigungen bleiben erhalten. Da diese nun abcr ganz isolirt auf- treten und der Kranke sie nicht mehr zu motiviren oder den veranderten Umstanden anzupassen vermag, ist ihnen oft der Stempel eines starren Eigensmns aufgedriickt. Mit dem Verlust des Verstandnisses und des Mitgefiihls fur die Gegenwart geht oft eine Neigung, die vergangenen Zeiten zu riihmen und fast geschwatzig von ihnen zu erziihlen, Hand in Hand. Die Productivitat der Ideenassociation hat aufgehort. Neue associative Verkniipfungen kommen nicht mehr zu Stande oder haften nicht mehi. Das Gedachtniss fiir das Jiingstvergangene nimmt langsam aber stetig ab,

In der Noim tritt diese noch als physiologisch anzusehende senile Involution des Seelenlebens erst nach dem 70. Jahre ein. In manchen Fallen z. B. auf Grund von Atheromatose kdnnen entsprechend den kdrperlichen Symptonien des Senium praecox auch die psychischen Symptome der senilen Involution verfriiht auftreten.

Es ist ohne Weiteres verstandlich , dass die senile Involution in hohem Maasse geeignet ist, bei pradisponii’ten (also z. B. erblich belasteten oder durch intra vitam stattgehabte Schadigungen der Widerstandskraft beraubten) Individuen vollentwickelte Psychosen zum Ausbruch zu bringen. Diese senilen Psychosen treten in den verschie- denstenFormen (hallucinatorische Paranoia, incoharente Paranoia, Melan- cholie u. s. w.) auf. Die oben beschriebene senile Charakterveriinderung modificirt das klinische Bild oft in ausgesprochener Weise. Schreck- hafte Hallucinationen (auch bei Psychosen, welche sonst gewdhnlich ohne Hallucinationen verlaufen) und primare Angstaffecte (auch bei den sog. nicht-aifectiven Psychosen) sind fast alien senilen Psychosen gemeinsam, desgl. Schwindelanfalle. Oft findet sich eine schwere Unorientirtheit und Incoharenz. Nicht selten kommen im Senium auch bei functionellen Psychosen leichte Paresen, namentlich der Mundfacialismuskeln vor. Eine ganz specielle Form stellt endlich die sog. senile Demenz dar: bei dieser fiihrt der Untergang der Rindenelemente zu einem fort- schreitenden Intelligenzdefect. Diese senile Demenz wird in der speciellen Pathologic eingehend besprochen werden.

Allgemeine Aetiologie.

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5. Korperliche Krankheiten. a. Acute Krankheiten.

Sieht man von den Erkrankungen des Nervensiy stems ab, so sind es fast ausschliesslich die acuten fieberhaften Infectionskrankheiten, welche ofter psychopathische Erscheinimgen oder auch vollentwickelte Psychosen hervorrufen. Auf der Hohe der Krankheit, sowie im Stadium der Abuahme der Krankheit (seltener im Beginn) treten ungemein haufig Illusionen, Hallucinationen und Stdrungen des Vorstelhmgsablaufs (primare und hallucinatorische Incoharenz) auf. Auf der Hohe der Krankheit stehen diese psychischen Symptome in directer Abhangigkeit von der Fieberhohe ; d. h. ceteris paribus sind sie um so ausgesprochener, je hoher das Fieber ist. Man bezeichnet sie daher auch als Fieber- delirien. Im Stadium der Abnahme der Krankheit stehen die psychischen Symptome in Abhangigkeit von der allgemeinen Ernahrungsstorung und Schwiiche. Man bezeichnet sie auch als I n a n i t i o n s d e 1 i r i e n. Sie unter- scheiden sich von den Fieberdeluien namentlich durch die ausgiebigere Verarbeitung der Sinnestauschungen zu Wahnideen und durch gelegent- hches Auftreten primarer Wahnideen. Ausser der Fieberhohe und der Ernahrungsstorung scheinen iibrigens auch die im Blut kreisenden infec- tiosen Microorganismen bezw. die von diesen gebildeten Toxine fiir das Auftreten dieser Delirien von Belang zu sein.

Ausser diesen ,jDelirien^^ kommt es nicht selten sowohl auf der Krankheitsholie wie im Stadium der Krankheitsabnahme zu vollent- wickelten, abgeschlossenen Psychosen, welche auf dem Boden der Er- nahrungsstorung, der toxischen Veranderung des Bluts und der Tempe- ratursteigerung entstehen, aber im Gegensatz zu den oben besprochenen Delirien eine gewisse Selbstandigkeit gegeniiber diesen ihren Ursachen erlangen. Typhus, Malaria, acuter Gelenkrheumatismus und Pneumonie rufen am haufigsten solche Psychosen hervor. Die meisten derselben gehoren in das Gebiet der hallucinatorischen Paranoia ; bald iiberwiegen agitirte, bald stuporose Zustande. Verfolgungs- und Verslindigungs- ideen sind haufiger als Grossenideen. Hemmung und Incoharenz des Vorstellungsablaufs ist sehr haufig, Ideenflucht seltener. Eeine Manie und Melancholie sind nicht so haufig. Stupiditat oft mit Ausgang in unheilbare secundare Demenz ist etwas haufiger. Plotzliche Selbst- mordversuche kommen sowohl bei den sog. Delirien, wie bei den Psy- chosen nicht selten vor. Die Intermittenspsychosen verlaufen nicht selten in periodischen Anfallen, welche den Fieberanfallen entsprechen, oder diese auch geradezu vertreten konnen. Haufig lasst sich bei alien diesen Psychosen nachweisen, dass durch andere atiologische Schadlich- keiten (Hereditat, Potus u. s. w.) bereits vor der fieberhaften Erkrankung

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Allgemeine Aetiologie.

eiue Praclisposition fiir psycliisclie Erkrankung bestand. Die Psychose iiberdauert die ursaclilicbe fieberliafte Erki’ankung oft um Monate und selbst um ein Jalir (von dem ungiinstigen Ausgang in secundare Demenz ganz abgesehen).

b. Chronische Krankbeiten.

Syphilis. Die Syphilis ist eines der wicbtigsten atiologischen Momente der Psychopathologie. Ganz abgesehen von der schweren Ernahrungsstorung , welche die SyphiHs haufig hervorruft, erzeugt die Syphilis

1. umschriebene, geschwulstartige Processe ini Centralnervensystem in Gestalt gummbser Meningitiden und einzelner Gummiknoten, und

2. diffuse Veriinderungen in den Gewebsbestandtheilen des Cen- tralnervensystems ; letztere spielen sich theils direct an den nervosen Ele- menten ab (Degeneration der markhaltigen Nervenfasern und Unter- gang der Ganglienzellen) , theils am Zwischengewebe (Gliawucherung) und namentlich an den Gefasswanden (End- und Periarteriitis mit Aus- wanderung weisser und rother Blutkorperchen).

Die unter 2 angefiihrten Einwirkungen sind wahrscheinhch z, Th. gar nicht direct auf die Mikroorganismen der Syphilis zuriickzufiihren, sondern auf die von den letzteren gebildeten Toxine. Hiernach er- scheint die Psychose oft als eine Nachkrankheit der Syphilis, etwa in ahnlichem Sinne, wie die postdiphtherische Lahmung eine durch Toxine bedingte Nachkrankheit der Diphtherie ist.

Die beiden wicbtigsten Psychosen, fiir welche die syphilitische In- fection die einzige oder die erheblichste atiologische Bedeutung hat, sind die Syphilis des Gehirns und die Dementia paralytica.

Die anamnestische Feststellung einer stattgehabten syphilitischen Infection ist oft nicht leicht. Zunachst hat man mit der bewussten Unwahrhaftigkeit der Kranken zu kampfen. In anderen Fallen lasst sich nicht bestimmen, ob ein Ulcus molle oder durum vorgelegen. End- lich ist nicht selten ein intraurethraler barter Schanker unter dem Bilde einer Gonorrhoe verlaufen. Am sichersten deutet auf einen syphilitischen Primaraffect (also harten Schanker) Einzahl des Geschwurs und schmerz- lose Schwellung der Lymphdriisen. Die secundaren syphilitischen Erschei- nungen entgehen der Beobachtung sehr oft. Wichtige Fingerzeige geben auch Aborte bei den Ehefrauen der Kranken. Mindestens ein Drittel aller Aborte ist auf Syphilis des Ehemannes zuriickzufuhi’en. Ferner wu’d man sich nach etwaigen Zeichen hereditarer Syphilis bei den Kindern erkundigen. Endlich vermag die objective Untersucbung Aufklarung zu verschaffen. Fiir diese kommen natiirlich namentlich diejenigen syphilitischen Symptome in Betracht, welche fiir immer oder wenigstens

Allgemeine Aetiologie.

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lan^ere Zeit persistiren. Es sind dies namentlich folgende: die Lympli- idi-usenschwelkingen, das Leiicoderma, die Narben, die Perforationen des Gaumens imd der Naseiisclieidewand imd die periostitiscben Belege und die bockerigen Auftreibungen (Topbi) der Knochen, so z. B. der medialen Tibiaflachen u. s. w. Man wkd daber bei der Aufnabme des Status praesens stets aiif diese Zeicben acbten miissen.

Der Zeitraum , welcber zwiscben deui Primaraffect und deni Aus- brucb der Psycbose liegt, scbwankt innerbalb weiter Grenzeu. Gerade

20 Jabre nach der Infection beobacbtet man oft den Ausbiucb

-scbwerer organiscber Psycbosen, bei denen Syphilis die einzige oder

•wichtigste atiologiscbe Kobe spielt.

Sebr wicbtig ist aucb die bereditare Syphilis. Viele Falle kindbcber 1 Psycbosen, namentlich aucb viele Falle von angeborenem Scbwacbsinn, -sind auf dieselbe zuriickzufubren. Ab und zu beobacbtet man aucb . einen verspateten Einfluss dieser bereditaren Syphilis. So kann dieselbe z. B. in den zwei ersten Lebensjabrzebnten vollig latent verlaufen und , erst im dritten oder gar im vierten scbwere sypbilitiscbe Erscbeinungen ■von Seiten des Centralnervensystems bedingen.

Das Ulcus molle und die acute Gonorrhoe spielen seiten ,eine atiologiscbe Kobe. Die chroniscbe Gonorrhoe bedingt zuweilen : scbwere melancboliscbe Verstimmung mit oder obne neurastbeniscbe : Symptome ; oft bildet sie die Ankniipfungskrankbeit fiir hypocbondrische Wabnvorstebungen.

Tuberkulose.*) Meist beobacbtet man bei Tuberkulosen eine Neigung zu optimistiscber Auffassung ibres Leidens (Eupborie der Tuber- kulosen). In seltenen Fallen kommt es zu entwickelten Psycbosen und zwar entweder zu Melancbolien oder zu babucinatoiiscben Erregungs- zustanden im Sinne der bereits gelegentlicb erwabnten, unten ausflihi- licber zu besprecbenden sog. Erscbopfungs- oder Inanitionsdelirien.

Carcinose. Die Carcinose kann direct das Centralnervensystem befallen, indem carcinomatose Wucberungen in den Meningen oder car- cinomatbse Heerde im Innern des Gebbns sicb entwickeln. Diese locale Metastase ist bei dem Carcinom fast nocb baufiger als bei der Tuber- kulose (wenigstens derjenigen des Erwacbsenen). Die Carcinommeta- stasen erzeugen dieselben psycbopatbiscben Erscbeinungen wie jeder andere Hirntumor. Ausserdem wirkt die Carcinose indirect, indem sie eine progressive Kacbexie bedingt. So kommt es abnlicb wie bei der

*) Weit haufiger spielt umgekehrt die Psycliose eine atiologiscbe Rolle bei Ent- stebnng der Tuberkulose; die ungeniigende Ernahrung, die mangelbafte Respiration (namentlicb in stuporosen Zustanden), endlicb leider aucb die unzureicbende bygie- niscbe Einricbtung und Fiirsorge mancber Anstalten erklart die auflallig bobe Morbi- ditat und Mortalitat an Tuberkulose unter den chroniscben Geisteskranken.

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Allgemeine Aetiologie.

Tiiberkulose zu den sog. Erschopfungsdelirien. Auch schwere Melancho- Iien werden ab und zu beobaclitet.

Magenerkrankungen geben ofters zu hypocbondriscben Melan- cliolieu Anlass. Die clironiscben functionellen Magenstbrungen , welche man als nervbse Dyspepsie bezeichnet, konnen meist nicht als'ursaclie fiir eine etwa bestebende Psycbose angeseben werden, sondern sind der letzteren coordinirt. (Vgl. neurastbeniscbes Irresein in der spe- ciellen Patbologie.) Cbroniscbe Darmkatarrbe fubren gleicbfalls mitunter zu bypocbondriscben Melancbolien ; docb muss man sicb buten, jede bartnackige Obstipation obne Weiteres auf cbronischen Darmkatarrb und welter auf einen solcben bypotbetiscben cbroniscben Darmkatarrb die Melancbolie oder Neurastbenie zuruckzufubren. Viel baufiger ist die Obstipation lediglicb auf eine Innervationsstbrung des Darms zuriick- zufiibren, welcbe selbst eine Tbeilerscbeinung der allgemeinen Psycbo- neurose ist.

H ei zki a nkb ei t en. Das Verbiiltniss derselben zu den Psycbosen ist in atiologiscber Beziebung sebr complicirt. Sicber scbeint, dass Herzkrankbeiten , insofern sie Circulationsstbrungen bedingen, eine Pra- disposition fiir psycbiscbe Erkrankung scbaffen kbnnen. Bestimmte Beziebungen zwiscben einzelnen Psycbosen und einzelnen Herzleiden, wie man sie z. B. zwiscben Tabes und Aorteninsufficienz gefiinden bat, bat man nocb nicbt feststellen kbnnen. Nur ist wobl begreiflicb, dass bei Herzkranken Pracordialaugstanfiille ceteris paribus baufiger auftreten. Insofern zablreicbe Heerderkrankiingen des Gebirns (Embolie ii. dgl.) von Herzleiden abbiingig sind, ist ein weiterer Weg gegeben, auf welcbem ein Herzleiden indirect psycbiscbe Veriinderungen berbeifiibren kann.

Atheromatose und and ere cbroniscbe Erkrankungen der Gefass- wande sind sebr baufig ein wicbtiger atiologiscber Factor fiir psycbiscbe Erkrankung. Dieselben bedingen schwere Gefahren fiu- das Central- nervensystem , indeni sie zu Heerderkrankungen Anlass geben kbnnen (Miliaraneurysmen Hirnbiimorrliagie, sypbilitiscbe, nepbritiscbe, senile, kacbektiscbe Veranderiingen der Gefasswiinde Hirntbrombose), welcbe ibrerseits psycbiscbe Veranderiingen nacb sicb zieben kbnnen (s. ii.). Auf die Bedeiitsamkeit der sypbilitiscben und senilen Gefasserkrankungen fiir die Dementia paralytica bezw. Dementia senilis ist scbon oben bin- gewiesen worden. In vielen anderen Fallen ist es lediglicb eine fiinc- tionelle Ernahrungsstbrung, diircb welcbe die cbroniscbe Erkrankung der Hirngefasswandungen den Boden fiir Psycbosen vorbereitet.

Nephritis. Die Nephritis erzeugt Psycbosen auf doppeltem Wege, erstens durcb Vermittlung der zuletzt besprocbenen Veranderiingen der Gefasswande , welcbe bekanntlicb die cbroniscbe Nephritis ungemein baufig begleiten, zweitens aber durcb die uramiscbe Veranderung des

Allgemeine Aetiologie.

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Blutes. Seitdem wir wissen, dcass Kreatin, Kreatinin, doppeltphosphor- saiires Ivalium u. s. f., aiif die freigelegte Hirnrinde des Thieres aufge- trageu, scliwere motorische Reizersclieinimgen hervorrufen, ist es leicht begreiflich , dass psychopatliologische Erscheinimgen in Folge einer ura- roisdien Verandenmg des Blutes sich einstellen konnen. Die meisten dieser nepbritisclien Psyclioseu verlaufen imter dem Bilde der hallucina- torisclien Paranoia.

Diabetes. Die Stoffwechselstorung , welcbe das Wesen des Dia- betes mellitus ansmacht, bedingt nicht selten psychische Veranderungen. 'Namentlicli beobachtet man reizbare und traurige Verstimmimg sehr oft. Aucb apathische Ziistande kommen ofter vor. Seltener sind voll- entwickelte Psychosen.

Erkrankungen der Genitalorgane. Nur die Erkrankungen der

weiblichen Genitalien spielen in der Aetiologie der Psychosen eine .grbssere Rolle. Namentlich Lageveranderimgen des Uterus, Endome- :tritiden, Para- und Perimetritiden , sowie die Geschwiilste des Uterus

und der Ovarien kommen in Betracht. Seltener sind es in diesen Fallen die bewussten Beschwerden, welche die Psyche beeinflussen; meist haudelt es sich um Einfliisse, welche unterhalb der psychischen Schwelle bleiben. Man hat deshalb geradezu in solchen und ahnlichen Fallen ’von Reflexpsychosen gesprochen. Im Allgemeinen hat man den Ein- : fluss der gynakologischen Erkrankungen auf die Entstehung von Psychosen : liber schatzt. Es ist allerdings richtig, dass in einzelnen Fallen die I Beseitigung einer Endometritis oder die Correctur einer Lageveranderung ■.des Uterus, oder in sehr seltenen Fallen auch z. B. die Castration (bei I entziindhcher Vergrbsserung der Ovarien) eine Psychose giinstig heein- :flusst oder selbst gehoben hat. Dies sind jedoch Ausnahmen. In der iiibergrossen Mehrzahl der Falle bleibt die gynakologische Behandlung einflusslos, in anderen wirkt sie, indem sie neue Reize hinzufiigt, geradezu ■schadlich. Ganz anders liegen die Verhiiltnisse in denjenigen Fallen, wo das gynakologische Leiden schwere Storungen der allgemeinen ] Ernahrung bedingt (Metrorrhagien , Reflexneurosen des Magens mit ■: consecutiven Verdauungsstbrungen u. s. w.). Dieser indirecte Einfluss gyna- I kologischer Erkrankungen ist oft von allererheblichster atiologischer iBedeutung, und in solchen Fallen ist die gynakologische Behandlung oft < das einzige Mittel , die Psychose durch Elimination ihres wichtigsten : atiologischen Factors zu beseitigen.

Die Formen der mit gynakologischen Leiden zusammenhiingenden Psychosen sind sehr mannigfaltig und keineswegs etwa, wie friiher zu-

weilen angenommen wurde, auf das hysterische Irresein beschrankt. Im ' Ganzen iiberwiegt die Melancholie und die Paranoia. Dass die Wahn-

vorstellungen nicht selten einen sexuell gefarbten Inhalt haben, erkliirt

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Allgemeine Aetiologie.

sick genugsam claraus, class viele dieser I^ranlcen von ihrem Genitalleiden wissen und in Gedanken sick mit demselken kesckaftigen. Auck geken erklarlicker Weise die Reizzustande im Genitaltractus oft Anlass zu ent- spreckenden Illusionen und illusionaren Aiislegungen. Dakin gekdrt z. B. die Vorstellung mancker Kranken, welckc an Kolpitis oder Endo- metritis leiden, ikre Vagina kekerkerge allerkand Ungeziefer (Ratten, Mtiuse u. dgk), man „elektrisire" ikre Genitalien, um sie „mannstoll“ zu macken u. s. f,

c. Krankkeiten des Nervensystems.

Begreiflicker Weise steken dieselben in viel engerer atiologiscker Beziekung zu den Psyckosen; sind dock letztere selbst zu den Krank- keiten des Nervensystems zu recknen, indem sie Krankkeiten der Hirn- rinde sind. Diese atiologiscke Beziekung ist jedock in den wenigsten Fallen so zu fassen, als sei die Psyckose eine Folgekrankkeit des Nerven- leidens. Vielmekr sind beide meist coordinirt: So ist z. B. allerdings ricktig, class sekr kaufig im Ansckluss an eine Tabes eine Dementia paralytica sick entwickelt. Diese Succession konnte zu der Annakme ver- leiten, dass letztere eine Folgekrankkeit der ersteren sei. Eine solcke Annakme ist unricktig. Beide, Tabes (d. i. die Hinterstrangserkrankung des Riickenmarks) und Dementia paralytica (d. i. die diffuse Rinden- erkrankung mit psyckiscken Symptomen), sind coordinirte Folgekrank- keiten ein und derselben atiologiscken Momente (Sypkilis u. dgk). Es kan- clelt sick also lediglick um eine Succession, nickt um einen causalen Zusammenkang. In der Tkat kommt es denn zuweilen auck vor, class zuerst die Dementia paralytica auftritt und erst spater die tabiscken Symptome kinzutreten. Ein aknlickes Verkaltniss liegt bei den Psyckosen vor, welcke im Ansckluss an eine Polyneuritis sick entwickeln und clurck die kockgraclige Unorientirtkeit und Incokarenz sowie durck das fast momentane Vergessen aller Sinnesempfinclungen ausgezeicknet sind. Auck kier sind die psyckiscken Krankkeitsersckeinungen keinesfalls als F 0 1 g e ersckeinungen der peripkeren neuritiscken Processe aufzufassen, sonclern auf analoge coordinirte patkologiscke Processe im Associa- tionsfasersystem der Hirnrincle zuriickzufiikren.

Ein wirklicker Causalzusammenkang in dem Sinne, dass ein ander- weitiges Leiden des peripkeren oder centralen Nervensystems eine Ver- anclerung der Hirminde, sei sie functionell oder materiell, und somit eine Psyckose bedingt, findet sick nur bei gewissen Heerderkrankungen des Gekirns. Letztere rufen bekanntlick ausser den Ausfallsersckeinungen, welcke auf der Zerstorung der Elemente durck die Heerderkrankung beruken, auck sog. Fernsymptome kervor, welcke auf der Einwirkung des Krankkeitskeerdes auf die nakere und fernere Umgebung beruken.

Allgemeine Aetiologie.

239

Diese Einwirkung ist bald einc bemmencle, bald eine reizende. Danacn tbeilt man die Feruwirkimgeu oder Eernsymptome ein in

1 . Hemmungserscheinungen,

2. Keizerscbeinungen.

Bald ist diese Einwii'kung durch die Blutgefasse (Compression u. s. f.), bald durch die Nervenfasern (welche durch die Heerderkrankung beriihrt werden), bald durch Druck vermittelt. Am ausgesprochensten findet man solche Eernsymptome erklarlicher Weise bei den Hirngeschwiilsten, da die Druckwirkimg innerhalb der geschlossenen Schadelkapsel zur vollen Geltung kommt. Mit den ubrigen Gebieten des Centralnerven- systems ist auch die Hirnrinde diesen Fernwii'kungen ausgesetzt. Daher linden wir denn auch speciell bei den Hirntumoren ausgesprochene psychopathische Symptome. Die Druckwirkimg bedingt zunachst haufig Reizerscheinungen. So kann es einerseits zu klonischen Krampfen und andrerseits zu Hallucinationen kommen. Beispielsweise hat man bei Geschwulsten im Bereich der corticalen Riechsphare (Gyrus hippocampi) Geruchstauschungen beobachtet. Zu den Reizerscheinungen ist vielleicht auch die gesteigerte affective Erregbarkeit zu rechnen. Die Hemmungs- erscheinungen aussern sich einerseits in der Abnahme der motorischen Leistungsfahigkeit (taumelnder Gang) und* andrerseits auf psychischem Qebiet in einer allgemeinen Denkhemmung. Die Schwerbesinnlichkeit ist als hervorstechendes Symptom vieler Tumorkranken schon langst be- kannt. Aehnliches finden wir auch bei den ubrigen Heerderkrankungen des Gehirns.

Die psychischen An sfa 11 serscheinungen, welche eine Heerderkrankung hervorbringen, sind erklarlicher Weise verhaltnissmassig gering. Da die Hirnrinde in alien ihren Theilen an dem psychischen Process mitwirkt, so kann eine Heerderkrankung dii’ect, d. h. als Ausfallserscheinung keine allgemeinere psychische Stoning (wie z. B. Denkhemmung) auslosen, sondern nur den isolirten Ausfall bestimmter Gruppen von speciellen Erinnerungsbildern (z. B. der optischen) oder Associationsbahnen her- vorrufen. Der sogenannte Intelligenzdefect ist daher bei den Heerd- erkrankungen des Gehirns meist nicht erheblich und nur partiell. Die Hemmung, also die Fernwirkung, tauscht einen grbsseren Defect nur vor. Diese Sachlage andert sich, wenn statt einer singularen Heerd- erkrankung multiple Heerderkrankungen (multiple Sklerose, multiple Sy- philis des Centralnervensystems) vorliegen. Durch diese werden an zahl- reichen Stellen Defecte von Erinnerungsbildern oder Associationsbahnen hervorgerufen, und daher nahert sich auch das klinische Bild mehr demjenigen der diffusen organischen Krankheitsprocesse der Hirnrinde, d. h. also dem der organischen Psychose (Dementia paralytica); es spricht sich dies khnisch darin aus, dass wir bei diesen multiplen Heerd-

240

Allgemeine Aetiologie.

erkranlmngeu stets aucli einen viel erlieblicheren Intelligenz defect neben den Hemmungserscbeiuungen finden.

Wiibrend in den eben bescbriebenen Fallen die psycboijatbiscben Symptome als directe oder indirecte Ileerdsymptome der Ilirnkrankbeit aufznfassen sind, finden wir in anderen Fallen folgenden Zusammenhang. Die Heerderkrankung erzeugt zuniicbst nur gewisse Ausfallssymptome iind beinwiikungen, allniablicb jedocb beginnt in der Umgebung des Krankbeitsbeerdes eine organiscbe Veriinderung entziindlicber Natur welcbe scbliesslicb aucb entferntepe Tbeile des Geliirns in Mitleiden- scbaft zieben kann. Namentlicb bei cerebralen Heerderkrankungen im friibesten Kindesalter ist dieser reactive Entziindungsprocess in der Um- gebiing ein sebr aiisgedebnter. Man bezeicbnet ibn gewobnlicb als diffuse seciindare Sklerose. Kliniscb aussert sicb dieselbe in der Regel in einem mebr oder weniger grossen Intelligenzdefect. Diese Form des Scbwacb- sinns kann somit mit gutem Recbt als eine Folgepsycbose der urspriing- licben Heerderkrankung bezeicbnet werden. Bei dem Erwacbsenen kommen ganz abnlicbe secundare patbologiscb-anatomiscb nacbweisbare Processe vor und bedingen gleicbfalls eine unter dem Bilde der secundaren Demenz verlaufende Folgepsycbose. So kennen wir z. B. eine Dementia post apoplexiam, d. b. einen allmablicb zu Hirnbamorrbagien binzutretenden Intelligenzdefect, und a. m. Oft ist es dabei zweifelbaft, wie weit ‘einzelne Symptome dieser Folgepsycbosen auf secundare, diffuse, or- ganiscbe Veranderungen in der Umgebung des Krankbeitsbeerdes oder auf functionelle Fernwirkungen desselben zuriickzufiibren sind. So ist z. B. nacb bamorrbagiscben Insulten fast regelmassig eine allmablicb zunebmende affective Reizbarkeit (oft mit Weinerlicbkeit gepaart) zu beobacbten. Ob diese nun auf eine fortgesetzt vom Krankbeitsbeerd ausgebende functionelle Reizwirkung oder auf diffuse organiscbe Ver- anderungen in der Umgebung des Heerds zuriickzufubren sind, ist nocb unentscbieden. Der sicbere Nacbweis entsprecbender organiscber Ver- anderungen stebt jedenfalls nocb aus.

Scbliesslicb ist nocb der Tbatsacbe zu gedenken, dass in vielen Fallen Gebirnerkrankungen zwar nicbt in der eben erorterten Weise, d. b. obne Hinzutreten anderweitiger iitiologiscber Momente, zu dem Ausbrucb einer Psycbose fiibren, indessen eine Priidisposition zu psycbi- scber Erkrankuug binterlassen. Die Folge dieser Priidisposition ist, dass relativ scbwacbe atiologiscbe Scbiidlicbkeiten kiinftig geniigen, eine Psycbose zum Ausbrucb zu bringen. Diese durcb die Heerderkrankung des Gebirns bedingte neuro- und psycbopatbiscbe Constitution oder Vulnerabilitiit aussert sicb baufig lediglicb in einer gesteigerten affec- tiven Erregbarkeit und einer Resistenzlosigkeit gegen geistige Getriinke. In anderen Fallen ist sie vbllig latent. Zuweilen findet man aucb ganz

Allgemeine Aetiologie.

241

•ibnliche somatisclie imd psychisclie Degenerationszeiclien bei diesen durch friibe Gehirukraukbeit psycbopathiscb-pradisponirten Individuen, me bei deu erblicb scliwer belasteten Individuen, welche friiher ge- schildert wurden.

Bislier war ausscliliesslich von organiscben Erkrankungen des Nervensy stems und deren atiologiscben Beziebungen zii psycbiscben Er- kranknngen die Kede. Nocb viel wicbtiger sind die atiologiscben Be- ziebimgen der fimctionellen Neurosen zu den Psycbosen. Die wicbtigsten dieser fimctionellen Neurosen sollen im Folgenden kurz von diesem Standpunkt aus betracbtet werden.

1. Epilepsie. Die genuine Epilepsie ist bekanntlicli eine func- tionelle Neurose, flir welcbe ofter wiederkebrende Anfalle toniscb-kloni- scber Kriimpfe mit Bewusstseinsverlust cbarakteristiscb sind. Meist treten die Krampfanfalle in unregelmassigen Zwiscbenraumen auf, seltener mit einer gewissen Periodicitat. Nm' in seltenen Fallen verlauft eine genuine Epilepsie obne psycbiscbe Veranderungen. Zunacbst ist bervorzubeben, dass als Aura eines epileptiscben Anfalls, d. b. als Vorzeichen desselben vor Scbwinden des Bewusstseins nicbt selten Hallucinationen auftreten. Der eine Epileptiker bort kurz vor dem Anfall einen Drobruf, ein anderer fiiblt einen Stick, ein dritter siebt eine riesengrosse scbwarze Gestalt plotzlicb vor sick u. s. f. Aucb Praecordialsensationen mit Angst treten ofter als Aura auf. Abgeseben von diesen Aurasymptomen ist die sogenannte psycbiscbe epileptiscbe Degeneration am baufigsten. Es bandelt sick bei dieser nicbt um eine vollentwickelte Psycbose, sondern um eine langsam fortscbreitende , oft die Grenzen des pbysiologiscben Geisteslebens nicbt iiberscbreitende Veranderung der Intelligenz und des Cbarakters. Hiervon sind die vollentwickelten epileptiscben Psycbosen zu unterscbeiden , welcbe auf dem Boden einer solcben epileptiscben psycbiscben Degeneration sick sebr haufig entwickeln. Die psycbiscbe Degeneration der Epileptiker stellt sick bei liingerem Besteben einer genuinen Epilepsie in uber 80 Procent aller Eiille ein, um so rascber, je gebaufter die Anfalle auftreten. Die Anfalle des sog. Petit mal scbeinen auf die Psycbe nocb verderblicber zu wirken als diejenigen des Grand mal. Die Hauptsymptome der progressiven epileptiscben Degeneration sind folgende:

a. Erscbwerung des Vo rstellungsablaufes. Die Kranken fassen namentlicb Neues scbwerer auf, denken langsamer und besinnen sick auf Jungstvergangenes nur mubsam. Dementsprecbend wird aucb die spracblicbe Articulation und Diction scbwerfalliger und langsamer. Besonders ausgesprocben tritt diese Denkstorung namentlicb wabrend der leicbten traumbaften Benommenbeit auf, welcbe nacb dem Krampf- anfall nocb einige Stunden oder Tage anbillt.

Ziehen, Psyehiatrie.

16

242

Allgciiicine Aetiologie.

b. Abuorme Zornmutliigkeit bei Abstumpfung der geistigen Iiiteressen: Der Epileptische kann durcli Kleinigkeiten (z, V>. leicliten Tadel) in sinnlose Wutli versetzt werden, dabei ist er sonst gleichgiiltig. Seiu gcistiger Ilorizont engt sicli melir und melir ein. Seine Unlust- gelilble bescliriinken sick abgeseken von der erwillinten Zornmiithig- keit auf eine monotone Traurigkeit iiber das Eortbestelien des imkeilbaren Leidens. Niclit selten entwickelt sick eine ausgepragt liy- pockondriscke Stimmung. Dieselbe tritt 1—2 Tage vor einem Krampf- anfall in inancken Fallen starker kervor. Neigung zu Norgeln und Misstrauen ist kiiufig. Die Lustgeflikle besckriinken sick auf die Be- friedigung der einfackeren sinnlicken Bediirfnisse. Die von vielen Epilep- tiscken zur Sckau getragene sckmeickleriscke Verbindlickkeit, aufopfernde Nilckstenliebe und asketiscke Bigotterie sind meist nm’ Maske fiir den zunekmenden Egoismus.

Die Handlungen des ckroniscken Epileptikers zeigen sick ent- spreckend dieser intellectuellen und affectiven Einengung verandert. Die Lebensweise zeigt oft eine an Dressur erinnernde pedantiscke Piegel- massigkeit, ein Kleben an Aeusserlickkeiten; ein sopkistisches Sick-im- Kreise-kerumdreken mackt sick mekr und mekr geltend. Bei fort- gesetzter Steigerung gekt die psyckiscke epileptiscke Degeneration all- maklick in die vollentwickelte, in der speciellen Patkologie zu bespreckeude Demenz iiber.

Ausser dieser sog. psyckiscken epileptiscken Degeneration kommen bei der genuinen Epilepsie auck sekr kaufig vollentwickelte Psyckosen vor. Die acuten Formen dieser Psyckosen treten nickt selten auck ganz unabkiingig von der erwiilinten psyckiscken Degeneration, initunter lange vor merklickem Eintritt der letzteren auf. Abgeseken von der sogenannten epileptiscken Demenz gekoren die sammtlicken epileptiscken Psyckosen der kallucinatoriscken Paranoia an und stellen eine Avokl ckarakterisirte Form derselben dar. Zwar kann gelegentlick auck jede andere Psyckose in typiscker Entwicklung bei einem Epileptiker auf- treten, aber grdssere Haufigkeit und eine ganz specifische Gestaltung und Modification der Symptome zeigen nur diese Formen der kalluci- natoriscken Paranoia. Die besonderen Eigentkumlickkeiten aller dieser epileptiscken Paranoiafiille, welcke man auck als epileptiscke Dammer- z u s t a n d e bezeicknet, sind

1. Briiskes Eiusetzen und nackfolgende Amnesie,

2. Sckreckkafte, bunte Hallucinationen,

3. Religios-ekstatiscke Hallucinationen (Gottnomenklatur),

4. Auffallige Unorientirtkeit und Incokarenz,

5. Episodisckes Auftreten stuporoser Pkasen neben ausgesprockener Verbigeration,

Allgemeiiie Actiologio.

243

6. Gewaltthatige Handlungen impulsiven Charakters,

7. Lallende, scaudirende Spraclie iiiit geliauften Silben- und Wort- wiederbolungeu,

8. Cutane Analgesie.

In der speciellen Patbologie wird auf diese epileptiscben Dammer- zustaude iiud die eigenartigeu Beziehungen ihres Auftretens zu den Krampfanfallen nocbmals zuriickzukommen sein.

2. Hysterie. Die Hysterie ist eine functionelle Neurose, deren Ilauptsymptome bestimmte Sensibilitiitsstorungen (Hemianastliesie , An- iistbesie en plaques oder mit manscbettenformiger Abgrenzung), bestimmte seusOrische Storungen (concentriscbe Gesicbtsfeldeinengimg, Dyscbroma- topsie, Hemianopsie u. s. w.) und bestimmte Druckpunkte oder Druckzonen (die sog. Ovarie) sind. Dazu kommen ofters nocb hysteriscbe Labmungen und Contracturen, sowie namentlicb die bysteriscben Krampfanfalle, fiir welcbe das Erbaltenbleiben des Bewusstseins , sowie ein den Anfall ab- scbliessendes Stadium coordinirter Bewegungen (grands mouvements, arc en cercle, attitudes passionelles) charakteristiscb ist. Aebnlicb wie die Epilepsie fiibrt auch die Hysterie zu einer psycbiscben sog. bysteriscben Degeneration. Die Hauptsymptome derselben sind folgende :

a. Der Vorstellungsablauf zeigt keine primaren formalen Storungen. Nur die logiscbe Cobarenz und Consequenz des Denkens feblt oft. Die Intelligenz bleibt im Gegensatz zu der epileptiscben psycbiscben De- generation — intakt. Unentwickelte Wabnvorstellungen im Sinn einer unbestimmten Verfolgung, zuweilen aucb erotiscben Inbalts, treten ge- legentlicb auf. Ungemein haufig sind die friiber erwahnten Erinnerungs- entstellungen.

b. Die Gefiiblstone und Stimmungen sind krankbaft veranderlicb. Durcb das Auftaucben eines fiir den Augenblick ganz bedeutungslosen Erinnerungsbildes kann ein jaber Umscbwung der Stimmung bedingt werden. Die mittleren Gefublstone feblen. Die Kranken kennen nur leidenscbaftlicbe Liebe oder gliibenden Hass. Da Abneiguugen und Zu- neigungen (sowobl fur Personen, wie fiir Gegenstiinde) durcb kaum merklicbe Vorstellungen oder Empfindungen bereits bestimmt bezw. ver- iindert werden, erscbeinen dieselben geradezu als Idiosynkrasien. Speciell wecbseln aucb auf sexuellem Gebiet Liisternbeit und Frigiditiit. Die egoistiscben Gefiible iiberwiegen durcbaus. Altruistiscbe oder gar objec- tive Interessen existiren kaum. Hingegen beansprucben die Kranken im bochsten Maasse, dass ibre Umgebung in dem Mitgefubl und dem Interesse an ibrem Leiden aufgebt. Daraus entspringt ibre Sucbt zu iibertreiben und ibre Neigung zu tbeatraliscbem Gebabren. Etbiscbe Gefublstone abstracter Begriffe baben fast gar keine Macbt iiber die Kranken. Pflicbtbegriffe baben daber auf das Handeln der Kranken

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244

Allgemoiiie Aetiologie.

keineu Einfluss. Dio aiigeublicklicben Gefliblstone l)cherrscben sie voll- stiinclig. Damit liiingt aucb die liervorstcchende Unwabrbaftigkeit der moisten Ilysteriscben ziisammen. Ihre Angaben worden nicht durcb den objectiven Zusammenbang der Erinnerungsbilder, sondern durcb die augenblicklichen Gefiihlstbne bestimmt. Dabei kommt aucb die oben erwillinte, auf krankbafter Phantasietliatigkeit beruhende Neigung zu Erinnerungsentstellungen in Betraclit.

c. Die Empfindungen erfaliren sebr baufig illusionare Ealschungen, Ebenso kommen Hallucinationen aucb obne vollentwickelte Psychose gelegentlich vor.

d. Die Handlungen entsprechen den eben aufgezahlten Stbrungen. Die Tliatigkeit der Kranken ist springend. Allenthalben feblt die Con- seqiienz. Der jiibe Afiectwechsel macht die Kranken unberechenbar. Haufig sind impulsive, auf plotzlicben Affectstossen beruhende Hand- lungen, Das ganze Gebahren ist auf Effect berechnet, Eiige unci Betrug feblen selten, aber beide vollziehen sich oft, obne dass die Kranken sicb bewusst sind, dass sie liigen oder dass sie betriigen. Durcbweg uberwiegen egoistiscbe Handlungen. Wo der Egoismus oder die personlicbe Eitellceit der Kranken verletzt wird, kommt es zu den raffinirtesten Kacbeakten.

Ausser dieser sog. bysteriscben psycbiscben Degeneration kommen bei der Hysterie aucb vollentwickelte sog. bysteriscbe Psycbosen vor. Eine bysteriscbe Demenz im Sinne der oben erwabnten epileptiscben Demenz existirt nicbt, Diimmerzustande , welcbe den epileptiscben in vielen Punkten durcbaus analog sind, kommen aucb bei der Hysterie vor. Eine romanbafte Farbung der Sinnestauscbungen ist fiir diese bysteriscben Dammerzustande cbarakteristiscb. Die Hallucinationen steben untereinander in einem viel engeren Zusammenbang. Es ban- delt sich um zusammenbilngende ballucinatoriscbe Erlebnisse, welcbe mit den Traumen des Geistesgesunden oft eine frappante Aebnlicbkeit baben. Der Erinnerungsdefect nacb Abklingen des Diimmerzustandes ist meist kein totaler. Der Kranke weiss retrospectiv viel mehr sowobl liber seine wirklichen wie uber seine ballucinatoriscben Erlebnisse mitzu- tbeilen als der Epileptiker, Endlicb kommen auf dem Boden der Hysterie chroniscbe Psycbosen im Sinne der einfacben cbroniscben Paranoia viel baubger vor als auf dem Boden der Epilepsie. In der speciellen Patbologie wire! diese chroniscbe einfacbe Paranoia der Hyste- riseben eingebend besproeben werden.

3. Neurastbenie oder Nervositiit. Die Neurastbenie ist eine functionelle Neurose, deren klinisches Bild weit weniger sebarf umsebrieben ist als dasjenige der Epilepsie oder der Hysterie. Die motoriseben Stbrungen besebriinken sicb meist auf eine abnorm rasebe Ermiidung

Allgemciiie Aetiologie.

245

eutweder aller oder einzelner Kdrpermuskeln. Im letzteren Falle weun die Ermiidbarkeit niir eiuzelue Kdrpermuskeln betrifft sind in der Kegel nicbt wie bei der Hysterie die Muskeln einer Kdrperbalfte oder einer Extremitiit betroffen, sondern Muskelgruppen , welclie zu- sammen eine bestiinmte Gattung complicirter Bewegungen ausfiibren. So kdnueu z. B. bei einer gewissen Form der Neurastbenie speciell alle diejeuigen Muskeln, welche die Fixation gesebener Objecte besorgen, abuorm ermiidbar sein. Solcbe Kranken vermdgen kaum einige Minuten zu leseu, weil alsbald die Accomodationsmusculatur und die Recti interni versageu. Bei anderen sind die Athem- oder die Kau- oder die Geb- oder die Scbreibmuskeln u. s. w, abnorm ermtidbar. In alien diesen Fallen muss es dabin gestellt bleiben , ob abnorm gesteigerte Ermiidungs- empfindungen die Bewegungsfabigkeit storen oder ob die motoriscben Centren und Leitungsbabnen selbst abnorm rascb in ibrer Leistungs- fabigkeit sicb erscbopfen. Die sensiblen und sensoriscben Storungen bescbranken sicb meist auf Hyperastbesien und Hyperalgesien, Ob zu- gleicb die Ermiidbarkeit der sensiblen und sensoriscben Apparate bezw. Centren gesteigert ist, muss zweifelbaft bleiben. Es ware sebr wobl denkbar, dass die rascbe Ermildung beim Seben u. s. w. lediglicb auf einer rascben Ermiidung der Accomodationstbatigkeit und der Recti interni berubt, somit also ausscbliesslicb motoriscben bezw. muscularen Ursprungs ist. Zu den constantesten Symptomen der Neurastbenie zablen weiter- bin die sog. neurastbeniscben Druckpuncte*) und Topalgien. Enter den visceralen Storungen spielen diejenigen der Herz- und Gefassinnervationen („vasomotoriscbe Neurastbenie") und der Magen- und Darminnervationen („nervbse Dyspepsie") die Hauptrolle. Von den neurastbeniscben Par- astbesien war oben bereits die Rede.

Wie die Epilepsie und die Hysterie fiibrt aucb die Neurastbenie zu einer bestimmten psycbiscben Veranderung, welcbe man als „ueu- rastbeniscbe psycbiscbe Veranderung oder Degeneration" bezeicbnen kann. Wabrend jedocb bei der Epilepsie und oft aucb bei der Hysterie die psycbiscbe Veranderung im Verlauf, d. b. nacb liingerem Besteben der Neui'ose eintritt, entwickelt sicb bei der Neurastbenie viel baufiger die psycbiscbe Veranderung vor oder wenigstens gleicbzeitig mit den soma- tiscben Veranderungen. Es kann daber nicbt wobl von einer atio- logiscben Rolle der Neurastbenie gegenliber der psycbiscben Ver- anderung gesprocben werden, sondern die psycbiscbe Veranderung ist eine Tbeilerscbeinung der gesammten Krankbeit.**) Indem wir

*) Zum Theil clecken sicli diese allerdings mit den hysterischen Druckpunkten. Ueberhaupt existiren zwischen Neurastbenie und Hysterie zablreiche Uebergange, ohne dass desbalb die Neurastbenie einfach als eine „Abart der Hysterie" zu bezeicbnen ware.

**) Aucb von der hysteriscben psycbiscben Veranderung gilt dies in yielep Fallen,

246

Allgemoine Aetiologic.

claher eine genauere' Beschreibung clerselben der speciellen Patbologie (s. neurastbenisclies Irresein) vorbebalten, fiibren wir bier nur die Ilaupt- symptome der neurastheniscben psycbiscben Verilnderung auf. Es sind dies ausser den sclion erwiihnten riyperiisthesien , Ilyperalgesien und Pariistbesien namentlicb folgende:

a. Auf dem Gebiete der Affecte eine abnornie Reizbarkeit. Die-

selbe aussert sicb darin, dass geringfiigige Anlasse sebr erbeblicbe und namentlicb sebr nacbbaltige Afi'ectscbwankungen bervorrufen. Zuweilen kommt es aucb namentlicb bei den vasomotoriscben Formen zu Angstaffecten. 1

b. Stbrungen der Aufmerksamkeit meist im Sinne einer Hyper- j| prosexie, seltener im Sinne einer Hypoprosexie.

c. Storungen des Vorstellungsablaufs und zwar wecbseln Bescbleuni- i gungen und Verlangsamungen aucb bei demselben Kranken in unregel- massiger Weise ab. Sebr baufig ist aucb eine leicbte, aber qualvolle Incobarenz der Ideenassociation,

d. Neigung zu Zwangsdenken und Zwangsvorstellungen. i

e. Neigung zu bypocbondriscben Wabnvorstellungen.

Wabrend die Epilepsie und die Hysterie zu eiuigen an Zabl ziemlicb

bescbriinkten , durcb cbarakteristiscbe Farbung des kliniscben Bildes

ausgezeicbneten Psycbosen fiibren, kennen wir solcbe neui-astbeniscbe '

Psycbosen nicbt. Vielmebr kann sicb und pflegt sicb in der That aucb

baufig genug jede Psycbose auf dem Boden der Neurastbenie zu ent-

wickelu. Sowobl die organiscb bedingteu Psycbosen wie die functionellen

Psycbosen geben baufig allmahlich aus der Neurastbenie bervor oder

brecben, bei Hinzutritt einer Gelegenbeitsveranlassung , plotzlicb bei .

einem neurastbeniscben Individuum aus. Die Neurastbenie stellt somit

den frucbtbarsten Bodeb fiir den Ausbrucb der verscbiedensten Psycbosen ' ;

dar. Oft decken sicb die fr fiber erwabnte erblicbe neuropsycbo- |

i

patbiscbe Konstitution unddiejetzt besprocbene neur astbeniscbe ; neuropsycbopatbiscbe Veranderuug in vielen Zfigen. Man kann oft < geradezu verfolgen, wie auf dem Boden einer erblicben Veranlagung | zuiuicbst Neurastbenie und auf dem Boden dieser letzteren irgend eine f acute oder cbroniscbe Psycbose sicb entwickelt. J

4. Cborea. Die atiologiscben Beziebungen der Cborea zu deuJi Psycbosen sind erbeblicb weniger wicbtig. Ganz abzuseben ist bier ,.| von solcben Fallen, wo die cboreatiscben Bewegitngen lediglicb ein : | Symptom der der Psycbose zu Gruude liegendeu Hiruerkraukuug clar- J stellen, ein Vorkommniss, welcbes namentlicb bei Dementia paralytica p' gelegentlicb beobacbtet wu'd. Die psycbiscben Veranderungen , welcbej im Verlauf einer Cborea auftreten, sind gewobnlicb wenig ausgesprocben.S: Meist bescbrankt sicb die cboreatiscbe psycbiscbe Verauderung auf einef

I

Allgemeine Aefciologio.

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abnorme Steigerung der affectiven Erregbarkeit (namentlich Zornmlithig- keit), sowie aiif eine leiclite ideenfliichtige Incobarenz des Vorstellungs- ablaufs mit Hyperprosexie. Zuweilen kommt es aiicli zu vereinzelten Halliicinationen. Die volleutwickelten Psycbosen, welche auf dem Boden bezw. im Verlauf der Sydenbam’sclien Chorea auftreten, gehbren zmneist der liallucmatorisclien Form der acuteu Paranoia an.

5. Cerebrale Erschopfung.

Wenn das Nervensystem zn einer iiberniassigen Arbeit gezwungen ist nnd zngleich seine Ernahrung, d. h. die Wiederersetzimg der bei der Function zersetzten Stoffe, mangelhaft ist, so tritt der Zustand ein, welcben man als cerebrale Erschopfung bezeichnet. Eine solcbe cerebrale Erschopfung kann in der mannigfaltigsten Weise entstehen. Korperliche Strapazen nnd geistige Ueberarbeitung kommen einerseits als aufreibende Momente in Betracht, wahrend andererseits ungeniigende Nahrungsaufnahme , Anamie (sie sei constitutionell oder durch schwere Blutverluste entstanden), Mangel an Schlaf u. dgl. es nicht zu eifter Besti- tution der im Uebermaass in Anspruch genommenen, iibermhdeten Rin- denelemente kommen lassen.*) Speciell das kindliche Gehiru verfiillt leicht einer solchen Erschopfung. Die intellectuelle Ueberbiirdung un- serer Schulerziehung giebt einen Hauptfactor fiir dieselbe ab. Auch sexuelle Excesse (Masturbation n. s. w.) kommen in Betracht. Die psychi- sche Veranderung, welche dnrch die cerebrale Erschopfung hervorgeru- fen wil’d, ist namentlich durch die Verlangsamung und die Incoharenz des Vorstellungsablaufs ausgezeichnet. Die Kranken sind schwerbesinn- lich. Sie klageu oft selbst, dass sie nicht mehr zu denken und ihre Gedanken nicht mehr auszudriicken wiissteu, dass der Gedankenfaden ihnen so oft abreisse. Zu anhaltender energischer Arbeit sind sie un- fahig. Die sensorischeu Geflihlstone sind oft in dem Siune verandert, dass schon geringe Reizstarken unertragliche Unlustgefiihle hervorrufen. Die intellectuellen Gefiihlstone sind umgekehrt meist herabgesetzt. In ^ielen Fallen kommt es auf Grund dieser cerebralen Erschopfung auch zu volleutwickelten Psychosen. Man bezeichnet diese Psychosen als Er- schopfungspsychosen oder asthenische Psychosen. Gemeinsam ist den meisten dieser asthenischen Psychosen eine erhebliche Verlangsamung und Incoharenz des Vorstellungsablaufs. Auch in den Hallucinationen und Wahnvorstellungen fallt die Abgerissenheit auf. Auf motorischem Gebiet herrscht mehr oder weniger Resolution vor; dieselbe wird jedoch oft durch plotzliche Erregungszustande wahnhaften oder hallucinatori-

*) Dass^bei den sog. Fieberpsychosen ausser der Temperaturerhohung und der toxischen Einwirkung von Microorganismen auch die Ernabrungsstbrung eine grosse Rolle spielt, wurde oben bereits erwahnt.

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Allgemeine Aetiologie.

schen Ursprungs imterbrochen. Gelegentlicli kann jede Psychose auf dem Boden der cerebralen Erscbbpfiing auftrcten (so z. B. auch die Manie). Am haufigsten begegnet man der Neurastlienie und der sog. Stupiditat, nachstdem der halliicinatoriscben und incoliarenten Form der Paranoia sowie den fliessenden Uebergangsformen, welcbe zwiscben der liallucinatoriscben und incoharenten Paranoia einerseits und der Stupi- ditat andrerseits vorkommen.

Auf Grund dieser Erorterungen wird es auch verstandlich , dass nach schweren erschbpfenden Psychosen dfters ein Erschopfungsstadium mit den charakteristischen Merkmalen der Erschopfungspsychose folgen kann. Die erste auf Grund eines beliebigen anderen atiologischen Mo- ments entstaudene Psychose bedingt hier eine schwere cerebrale Er- schopfung und so gewissermaassen eine zweite Psychose.

6. Gemuthserschutterungen.

Enter den momentan einwirkenden Affecten spielt der Schrecken die grosste Eolle. Bei erblich belasteten oder anderweitig ueuropsycho- pathisch veranlagten Individuen kann derselbe geniigen, j ah lings eine acute Psychose hervorzurufen. In anderen Fallen beobachtet man keine vollentwickelte Psychose, sondern lediglich pathologische Verande- rungen der Affecte selbst. So fiihren namentlich Schrecken, Angst und Zorn oft zu sog. „pathologischen Affectzustanden". Dieselben sind da- durch ausgezeichnet, dass die Dauer und Intensitat des Affects in gar keinem Verhaltniss zu der auslosenden Ursache steht. Hemmung (bis zu volligem Mutismus), Incoharenz, Unorientirtheit, vereinzelte Halluci- nationen und auch Wahnvorstellungen kommen zu der pathologischen Affectsteigerung hiuzu. Die Dauer eines solchen pathologischen Affect- zustandes (oder transitorischen Affectirreseins) belauft sich auf einige Stunden bis zu einigen Tagen. Schwere Gewaltthaten und sinnloses Fortlaufen kommen in diesen Anfallen haufig vor. Fast stets liegt erbliche Belastung oder ein anderweitiges pradisponirendes Moment vor. Es ist nicht unwahrscheinlich , dass die schweren Begleiterschei- nungen der j)athologischen Affectsteigerungen auf plotzliche durch den Affect bedingte Storungen der Gefassinnervation zuruckzufiihren sind. Nach dem Ausgleich der Storungen besteht stets eine vollige oder wenigstens hochgradige Amnesie.

Noch viel wirksamer in der Hervorbringung von Psychosen sind langsam und lange einwirkende Gemuthserschutterungen. Sorge, Aerger, Gram, Zuriicksetzung kommen hier namentlich in Betracht. Wie wir uns den storenden Einfluss dieser chronischen Affecte auf die Hirnriude zu denken haben, muss noch dahin gestellt bleiben. Bald tragen sie

Allgemeiiie Aetiologie.

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zur Entwicklimg organischer Psychosen (Dementia paralytica) bei, bald fiihren sie zn einer functionellen Psychose und zwar ineist zu einer acnten oder chronisclien P^iranoia. Ein sehr cliarakteristisches Beispiel fill- die letztere Entwicklimg liefert der sog. Gouvernantenwahnsinn. Es handelt sich bei diesem meist nin eine subacute oder chronische Form der Paranoia, welche auf Grund jahrelanger Affectschadigungen bald plotzlich auftritt, bald allmahlicli sich entwickelt. Nahrungssorgen, Heiinweh, gesellschaftliche Zuiiicksetzungen, welche von diesen Erziehe- rinnen urn so mehr empfunden werden, als ihre thatsachliche geistige Ueberlegenheit oft einen verhaltenen geistigen Hochmuth erzeugt hat, vereinigen sich, das Nervensystem aufzureiben.

Nicht selten kann man beobachten, wie diese chronischen Atfecte ganz allmahlich eine bestimmte Charakterveranderung erzeugen, z. B. eine Neigung zu Misstrauen und Hochmuth, welche ganz fliessend in pathologischen Verfolgungs- und Grossenwahn (Paranoia chronica) liber- geht. Solche Psychosen erwecken den Anschein einer psychologischen Motivii-ung. In anderen Fallen fehlen solche bestimmten Bindeglieder und man beobachtet nur, wie unter der Einwirkung chronischer Affecte die affective Erregbarkeit im Allgemeinen zuniichst zunimmt und dann diese oder jene Psychose ohne bestimmten Zusammenhang mit den vorausgegangenen Affectschadigungen sich entwickelt.

Fehler in der Erziehung spielen hierbei eine grosse Bolle. Das Kind wil’d nicht gewiihnt, seine Affecte zu beherrschen. Die Abhartung gegen psychische Unlust wird ebenso versaamt wie die Abhartung gegen physischen Schmerz. Gerade in den besseren Gesellschaftsklassen konnen die Kinder, welche die Schule verlassen, zahllose Verben conjugiren und unzahlige Jahreszahlen hersagen, aber keiner Versuchung zur Lust widerstehen und keine negative Gefhhlsschwankimg ruhig ertragen. Ihre ganze Ideenassociation und ihr Handeln wird von Lust- und Unlust- affecten geknechtet. Dass in solchen Gehirnen spater die Affecte oft pathologische Storungen der psychischen Thatigkeit hervorrufen, ist ohne Weiteres verstiindlich.

7. Imitation (psychische Infection).

Der Umgang mit Geisteskranken als solcher birgt fiir den Unbe- lasteten keine erhebliche Gefahr psychischer Erkrankung. Hingegen ist bei erblich belasteten Individuen psychische Erkrankung im Anschluss an haufigen Verkehr mit Geisteskranken schon ofter beobachtet worden. In solchen Fallen handelt es sich jedoch meist nicht um eine directe Uebertragung, sondern der Verkehr mit Geisteskranken wirkt schadigend durch die mit ihm verbundenen Gemiithserschutterungen und kdrperlichen

250

Allgemeinc Prognostik,

unc geistigen Ueberanstrengungen. Filllc directer Uebcrtragung sind sebr selten. Man spriclit in solchen Fallen von inducirtem Irresein (Folie coinmnmqiiee, folie a deux). Fast inimer haudelt es sich um Individuen welclie in stetem Contact miteiuander leben, meist um Ehegatten oder Gescbwister. Das ersterkrankte Individuiim A ist gewobnlicli das willens- stiiikere. Oft kanu man feststellen, dass scbou in gesunden Zeiten dasselbe grossen Einfluss auf das zweite Individuum B ausgeiibt bat Diesel- Einfluss macht sich nun auch im Verlauf der Erkrankung von A geltend. Allmahlicli passt sich das Individuum B den kraukhafteu Stimmungen von A an und denkt sich in seine Wahnideen hinein. Mitunter kann man geradezu von einer Suggestion im Wacheu sprechen. Zuweilen unterrichtet A geradezu B in seineu Wahnideen. B verhalt sich bald gauz passiv , bald jiasst es die Wahnvorstellungen seiner speciellen Denkweise an oder gestaltet dieselben weiter aus. Auch zu einer Riickwirkung von B auf A kann es .kommen , indem B seinerseits seine Zuthaten zu den von A iibefkommenen Wahnvorstellungen auf A iibertragt.

Die meisten dieser Zwillingspsychosen gehoreu, soweit A in Betracht kommt, der chronischen Paranoia an. Fast stets liegt erbliche Be- lastung vor. Wird das Individuum B dem dominirenden Einfluss von A entriickt, so verschwinden nicht selten die inducirten Affecte und Wahnvorstellungen bei B ausserst schnell. Die Psychose von A ist meist unheilbar, weil es sich eben meist um chronische Paranoia handelt.

V. Allgemeine Prog-nostik.

Eine Psychose kann ausgehen in

1. Heilung,

2. Heilung niit Defect, i

3. Secundare Demenz,

4. Tod, ;

5. kann sie unverandert bleiben. ^

Der Procentsatz der vblligen Heilungen ist fiir die einzelnen Psy- * chosen enorm verschieden. Es giebt Psychosen, welche in 90 “o ^^er * Eiille bei sachgemiLsser Behandlung mit vblliger Heilung euden (z. B. die einfache Melancholie), und andere, bei welchen Heilungen zu den grbssteu Seltenheiteu gehoren (Dementia jiaralytica).

Die Prognose quoad sanationem completam hiingt uamentlich von folgenden Factoren ab: ;

Allgemeine Prognostik..

251

1. Von der Diagnose, insofern die eine Psychose erfahrungsgeinass eine viel giinstigere Prognose giebt als die andere.

2. Von der vVetiologie. Psycbosen, deren Hanptentstehungsiirsaclie ihrer ganzen Natur nacli voriibergebend (wie z. B. Schreck) oder der Therapie erfahrungsgeinass zuganglich ist (Aniiinie u. s. w.), geben eiue bessere Prognose als solcbe, deren iitiologiscbe Factoren clironiscb wirk- sam iind niclit zu beeinflussen sind. Iin Einzelnen ist nocb Folgendes zu benierken. Holies Alter scbiidigt die Prognose. Uebergang in seciin- diire Denienz ist bei Alterspsycbosen erbeblicb liaiifiger als z. B. bei Pnbertatspsycbosen. Erbliche Belastimg verschlechtert, selbst wenn sie bocbgradig ist, bei aciiten Psycbosen die Prognose nicht. Im Gegen- tbeil tritt die Heilimg ziiweilen iiberrascbend plotzlich und friib ein. Docli ■v\drd die Prognose insofern getriibt, als die Gefabr eines Riickfalls oder eines periodiscben Verlanfs grosser ist. Die Prognose cbroni sober Psycbosen, d. b. Psycbosen, deren erste Symptome sicb sebr langsam ent- wickelt baben, ist bei erbbcber Belastung nocb nngiinstiger, als sie es obnebin d. b. aiicb obne erblicbe Belastung ist. Enter den Intoxi- cationspsycbosen ist die diircbaus iingiinstige Prognose des cbroniscben Alkobolismus und Morpbinismus bemerkenswertb. Zwar beilen die acuten Psycbosen, welcbe auf dem Boden dieser cbroniscben Intoxicationen auf- treten, fast stets, aber die psychiscbe Degeneration, welcbe der cbroniscbe Alkobol- bezw. Morpbiumgebraucb erzeugt, bildet sicb fast niemals ziiriick. Es kommt binzu, dass selbst nacb nionate- und jabrelanger Entziebung des Giftes (z. B. diircb Aiifentbalt in einer gescblossenen Anstalt) in Folge der krankbaften Energielosigkeit der Patienten fast stets Ruck- falle in den Alkobol- bezw. MorpMummissbraucb eintreten, sobald dieselben wieder sicb selbst liberlassen sind, also z. B. aus der Anstalt beurlaubt werden. Die Syphilis ist als atiologiscber Factor von sebr verscbiedener prognostiscber Bedeiitung, je nacbdem es sicb urn die directe Erzeugung cbarakteristisch sypbilitiscber Neubildungen im Gebum bandelt, oder um die indirecte, wabrscbeinlicb durcb Sypbibstoxine vermittelte diffuse Alteration des parencbymatosen und interstitiellen Gewebes der Hirn- rinde. Gegen letztere Alteration ist unsere Tberapie erfahrungsgeinass fast macbtlos.

3. Von bestimmten Einzelsymptomen. Jedes Zeicben, welches er- worbenen Intelligenzdefect beweist, ist von nngiinstiger Vorbedeutung. Desgleicben ist es von nngiinstiger Vorbedeutung, wenn affective Wabn- vorstellungen sicb von den primaren Affectstorungen unabbangig macben. Ebenso deutet Systeraatisirung von Wabnvorstellungen, wie friiber scbon erwabnt, auf cbroniscben Verlauf. Endlicb wu'd man Psycbosen, welcbe mit primaren Wabnideen einsetzen, meist ungunstig beurtbeilen miissen. Erfabrungsgemilss nebmen solcbe fast stets einen cbroniscben Verlauf.

252

Allgemeine Prognostik.

Lahmungserscheinungen, welche ihrei- Combination nacli nicht aut eino

diffuse R"i„‘'dn konnon, sondern auf nine

1 -I, iieikiankimg deiiten, weisen stets auf schwere meist

uuheilbare organisclie Psychosen hiu

eine/hohr Veranlagung. Die Gefahr des Uebergangs

emei 1 eilbaieu Psychose m secundare Demenz ist im Ganzen bei geisl^

scbwacb veranlagten Individuen grosser als bei gut veranlagten. ^

I - If Defect verstebt man eine Heibmg mit

leicbtem Intelbgenzdefect. Die secundare Demenz stellt einen scbweren, meist nocb dazu progressiven Intelbgenzdefect dar. Der Intelbgenzdefect cer sog. „Heilung mit Defect'^ ist viel unerbeblicber und nicht fort- scbreitend Fur die gewobnlicbe Betrachtung scbeinen solcbe mit Defect gebeilte Kranken vollig gebeilt. Erst eine genaue Vergleicbung des psycbiscben Zustandes nacb Ablauf der Psychose mit demjenigen vor Beginn der Psychose lebrt, dass der Kranke eine Einbusse erlitten bat Seme gewohnbcben Berufsgescbafte besorgt er aberdings nocb un- gefahr ebenso wm friiber, aber sein Urtbeil in complicirten Fragen bat an Weitsicbtigkeit und Scbnebigkeit merklicb verloren. Ebenso fabt bei emem solcben genaueren Vergleicb auf, dass die Gefuhlstbne des Kranken eine Einengung und einen Niedergang erfabren baben. Die Gefuhlstbne c er complicirteren Vorstebungen , die etbiscben und altruistiscben Ge- fuble, wie die iistbetischen und intebectueben Interessen sind abge- stumpft. Das geistige Niveau des Kranken ist urn eine oder mebrere Stufen gesunken. Bei Frauen, welche eine solcbe Heilung mit Defect erfabren baben, fabt oft ein merklicber Mangel an Scbamgefiibl auf. Macbt man dieselben auf solcbe Verstbsse aufmerksam, so ergiebt sich, dass den ,,Gebeilten" ein adaquates Verstandniss und Gefubl fiir Scbicklicbkeit feblt. Bei Mannern kommt es oft zu aberband Ex- cessen, deren patbologiscber Ursprung sicb darin verratb, dass sie zu den Lebensgewobnbeiten vor der Psychose in scbneidendem Wider- sprucb steben. Gelegentlicb kommt es sogar vor, dass dieser die

Heilung begleitende Defect die Gebeilten mit clem Strafgesetz in Con- flict bringt.

Die secundare Demenz wu’d in der specieben Patbologie eine besondere Besprecbung finden. Es sob bier nur bervorgeboben werden, class zwiscben der Heilung mit Defect und dem Ausgang in secundare Demenz zablreicbe Uebergiinge vorkommen.

Tbdtlicber Ausgang ist am baufigsten bei den Psycbosen auf organischer Grundlage. Bei Besprecbung der Dementia paralytica, einer organiscben Psychose, welche fast stets binnen 2 5 Jabren zum Tode fiibrt, wire! iiber die specieben Ursacben dieses tbdtlicben Verlaufes aus- fiihrlicb zu spreeben sein. Bei den functioneben Psycbosen ist tbdtlicber

Allgemeine Therapie.

253

Aiiso-aug seltcner, immerhin jeclocli beclingen aucli functionelle Psycliosen eine Reilie von Lebensgefaliren. Oft fiilirt Herzscliwaclie in Folge nn- o-eniigencler Ernabrnng bei excessivem Krafteverbraucli zum Tode. Andere Kranke werden von Pneumonie, Limgengangran, Pleuritis oder Tuber- kulose bingerafft. Speciell die Morbiditat fiir Pneumonie imd Tuber- kulose ist bei den Geisteskranken erlieblich grosser als bei Geistes- o-csunden. Die Pneunionien verlaufen hilufig sebr versteckt. In iiber der Hillfte der Falle enden sie todtlicb. Haufig wird aucb durcb schwere Darmkatarrhe (meist infectiosen Cbarakters) der Tod herbeigefiihrt. Bei unreiulicben Kranken beobacbtet man scbwere Pblegmonen, tbdtlicbes ErysiiJel n. s. w. Endlicb ist der Gefabr der Selbstverletzung und speciell des Selbstmords zn gedenken, anf welcbe bei Besprechung der Therapie specieller eingegangen werden soli.

Die Erfabrung lebrt, dass besonders ein bestimmter Symptomen- complex bei functionellen Psycbosen in der Mebrzabl der Falle todtlicb endet. Es ist dies der Zustand, der fruber als Delirium acutum be- scbrieben wurde und dessen Hauptsymptome Unorientirtbeit, Incobarenz, Agitation und Temperaturerbdbung sind. Fast zwei Drittel der Falle, welcbe diesen Zustand zeigen, enden todtlicb. Man findet ibn am baufigsten bei der sog. Mania gravis, sowie bei gewissen Formen der acnten Paranoia.

Ein ganz un veran d ertes Eortbesteben der Psycbose bis zum Lebensende ist nur bei der cbroniscben Paranoia baufiger, und aucb bei dieser entdeckt die genauere Beobacbtung leicbtere Scbwankungen und Veranderungen des Krankbeitsbildes. Bei den meisten anderen fuuctio- nellen Psycbosen tritt, falls Heilung ausbleibt, ein mebr oder weniger .. grosser Intelligenzdefect im Sinne der oben erwiibnten secundaren De- menz ein.

VI. Allgemeine Therapie.

Die Propbylaxe geistiger Erkrankung griindet sicb selbstver- standlicb ganz auf die Lebren der allgemeinen Aetiologie. Eine specielle Wicbtigkeit erlangt sie bei der Erziebung erblicb belasteter oder aus ander- weitigen Grunden neuropsycbopatbiscb veranlagter Kinder. Der Haus- arzt kann durcb zweckmassige Ratbertbeilung in dieser Ricbtung sebr viel zur Verbutung von Geistesstbrung beitragen. Namentlicb kommen folgende Momente bei der Erziebung und Bebandlung soldier Kinder in Betracbt :

1, Vermeidung von Kaffee, Tbee, Bier, Wein u. s. w. ;

2. Kraftige Ernabrung (Milcb, Eier);

254

Allgemeine TLcrapie.

3. Vei'langsamung dor inteilectuellen Entwickeluug’) (Sclmlbesuch

ev. erst vom 7. Lcbensjahre ab), specicll /uriickbalUmg der ft.twiokeZg der lliantasie (Ueberwacliimg der Lecture); ^

4. Regelrniissige Abwechslung von Arbeit imd Rube;

5. Abbartung im weitesten Sinne (kiihle Waschungon, kcirperlicbe Uebiingen, Gewbbnung an Schmerz);

6. Gewolinung an Gehorsam und Selbstbelierrschung. Ruhige Strenge wirkt zelmmal besser als verzieliende Nacbsiclit;

^ 7. Ev. Eiziehung ausserlialb des elterlicben Ilauses in einem Pada- gogium Oder auf dem Lande bei einem Lehrer, Arzt oder Geistlichen;

8. Ueberwachen der sexiiellen Entwickelung (Masturbation u. s. w.);

9. Wahl ernes Berufes, welclier geistig und korperlich beschaftigt,' moglichst wenig Verantwortlichkeit aufladt und den Sorgen der Con- currenz und des Ehrgeizes moglichst wenig Raum liisst.

^ Ausser der Prophylaxe kommt die Behandlung der Krankheit selbst in Erage. Sobald die Psychose ausgebrochen ist, liegt dem Arzt zunachst die Entscheidung ob, ob die Einlieferung in eine Anstalt noth- wendig ist oder nicht, Hierfiir gelten folgende Regeln; Die Ein- lieferung in die Anstalt ist nothwendig

a. bei unheilbaren Geisteskranken, wenn Gemeingefahrlichkeit,*) **) Selbstmordverdachtigkeit oder Pflegebediirftigkeit vorliegt und die Faniilie des Kranken die Umgebung nicht vor ihm oder ihn selbst nicht vor sich zu schiitzen oder in ausreichendem Maasse ihn zu pflegen vermag. Hierzu, ist zu bemerken, dass nur in den seltensten Fallen (bei sehr giinstigen ausseren Verhaltnissen) ein g em e i n g ef ii h r 1 i ch er oder s e 1 b s t m 0 r d V e r d a c h t i g e r Kranker in seiner Eamilie ausreichend ilberwacht zu werden vermag. Defter kann der Pflegebediirftigkeit del Kianken in der Eamilie geniigt werden. Die Beiirtheilung, ob Gemeingefahrlichkeit bezw. Selbstmordverdachtigkeit vorliegt, ist .oft nicht leicht. Oft namlich sind gemeingefahrliche^Handlungen bezw. Selbstmord- versuche oder drohende bezw. selbstmordverdiLchtige Aeusserungen noch nicht vorgekommen, und doch liegt Gemeingefahrlichkeit und Selbstmord- verdachtigkeit vor: der Kranke weiss seine krankhaften Imjiulse eben

*) Diese Zuriickbaltung ist aiich in solcheii Fallen durchzufuhren, wo eine tiber- raschencle Beanlagung clen Kindern spielend in der Scbiile mitzukommen gestattet.

**) Unter gemeingefabriicben Kranken werden bier nicbt nur solcbe verstanden, welche ihrer Umgebung durcb Handgreiflicbkeiten gefahrlicb werden, sondern aucli solcbe, welcbe durcb Larmen u. dgl. stdrend oder durcli Scbimpfen u. s. w. in Wort und Schrift lastig und bedroblich werden und endlicli aucb solcbe, welcbe durcb im- sinnige Verscbwendung ibr Vermdgen zu ruiniren drohen. In letzterem Falle wird der Anstaltsaufenthalt oft iiberflussig, sobald Entmiindigung eingeleitet ist.

Allgenieine Therapic.

255

nocli zu beherrsclien, aber eine ziifallige Constellation, eine leicbte Zu- iiabme cler Kranklieitssymptome kann geniigen, eine jabe Gewalttliat cles Kranken gegen sich ocler gegen andere zu zeitigen. Als Eegel ist festzubalten, dass jeder Kranke mit Hallucinationen oder Angstaffecten sowobl gemeingefahrlich wie selbstmordverdachtig ist. Hallucinirende uud angstvolle Kranke sind imbereclienbar iind daher im Allgeineinen stets der Anstalt znznweisen. Kranke mit fixirten Walinvorstellungen konnen dann oft ausserbalb der Anstalt belassen werden, wenn Neu- bildung von Wahnvorstellungen nicbt mebr stattfindet und die vor- bandenen Wabnvorstellungen ibrem ganzen Inbalt nacb nicbt zu gemein- gefabrlicben oder selbstmordgefabrlicben Handlungen tendiren oder in der friiber erorterten Weise bei langem Besteben der Krankbeit ibren Einfluss auf das Handeln verloren baben.

b. bei beilbaren Geistesstorungen ist im allgemeinen stets die Ueberfiibrung in eine Anstalt ratblicb. Zur Heilung einer Geistesstoiung bedarf es einer so stetigen sacbverstandigen Ueberwacbung des ganzen Lebens und oft eines so rascben Eingreifens seitens des Arztes und Pflegers, dass, abgeseben von seltenen Ausnabmefallen, die Familienpflege und die Bebandlung durcb einen entfernt wobnenden Arzt nicbt oder erst in viel langerer Zeit Heilung zu erzielen vermag. Das Heimweb, Welches meist als Argument gegen die Ueberfiibrung in eine Anstalt angefiibrt wird, ist erfabrungsgemass der Heilung in der iibergrossen Mebrzabl der Fillle nicbt binderlicb. Im Gegentbeil ist die Trennung von der Familie oft fiir die Heilung geradezu vortbeilbaft oder uner- lasslicb. Die Affectbeziebungen, welcbe den Kranken an seine Angeborigen kniipfcn, wirken gerade dann meist ungiinstig auf den Krankbeitszustand, wenn sie durcb fortwabrendes Seben oder Horen oder aucb nur In- der-Nilbe-wissen geniibrt und angeregt werden. Der Melancboliscbe ist doppelt traurig, wenn er seine Angeborigen unter seiner Verstimmung mit leiden siebt, und erst recbt doppelt traurig, wenn seine Angeborigen beiter zu seiu versucben oder wu’klicb sind. eder der Maniakaliscbe nocb der Melancboliscbe beberrscbt sicb seinen Angeborigen gegeniiber in den Aeusserungen seiner Affecte; in der Anstalt, fremden Personen gegeniiber, lernt er eber sicb zu beberrscben und zu fiigen. Die Wabn- vorstellungen und Sinnestauscbungen des Paranoikers finden in den haus- licben Verbaltnissen den frucbtbarsten Boden flir allerband Ankniipfungen. In der Anstalt fallen diese personlicben Beziebungen weg, die Wabn- vorstellungen und Sinnestauscbungen finden daber weniger Anknupfungs- punkte und, wenn sie an die fremden Verbaltnisse scbliesslicb docb ankniipfen, so erregen sie im Ganzen den Kranken docb etwas weniger, weil eben seine eigenen Verwandten wenigstens dem System der ver- meintlicben Verfolgungen bfter fern bleiben. Selbstverstiindlicb gilt dies

256

Allgeraeine Therapic.

alles nui- nn Al geniemen. Audi die Anstalt hat mhllose Melancholisdie uuc Mamahahsche, iveldie sich niclit beliemcben, uud I’aranoiker mit tobsuditigei- Lrregnng. Gewiss existiieii audi Fillle, wo das Heimweb die Depression des Melancholisoben und die Internirung die Commuting- ceit des Manicakcalisclion steigert und die gewaltsame Treniiung von der Familie direct zii Walinvorstellungen Aiilass giebt. Aber diese Fillle bleiben durcliaus in der Minderzabl gegeniiber den zahlreichen Fallen wo die Irennung von der Familie iiberwiegende Vortlieile in den oben Iciirz skizzirten Ricbtungen gewalirt.

Niir in den seltenen Fallen, wo aiisnalimsweise giinstige Verliiiltnisse gestatten, im Haiise des Kranken eine ausreichende Trennung von den Angeborigen durcbzufuliren und alle Scbutzmaassregeln gegen Selbstmord und Gemeingefabrlichkeit, wie sie die Anstalt darbietet, anzuwenden, wo insbesondere ein sachverstandiger Arzt stets nalie zur Hand ist und gescbulte Pfleger zur Verfiigung stehen, kann man gelegentlicb von der Ueberfiilirung in eine Anstalt absehen. Auch leuchtet ein, dass fiir die verscbiedenen Psychosen oft sehr verscliiedene Gesicbtspunkte in Betraclit kommen. Endlich wird zu erwiigen sein, wie weit im Einzelfalle die Angeborigen selbst nacb Bildung und Cbarakter und nacb ihren person- lichen Beziebungen zu dem Kranken mutbmaasslich giinstig oder un- giinstig auf denselben einwirken.

Hat der Arzt erst sich fiir die Trennung von der Familie liberhaupt entscbieden, so erbebt sich die weitere Frage, ob der Kranke in eine offene oder eine sog. gescblossene Anstalt iiberfubrt werden soil. Der Gegensatz zwischen dieser und jener bat sich nun in den letzten Jabr- zebnten insofern mebr ausgeglichen, als in den meisten gescblossenen Anstalten aucb offene Abtheilungen eingericbtet worden sind.*) Das Odium, welches in vielen Kreisen den gescblossenen Anstalten entgegengebracbt wird, kann sich daber im Wesentlicben nur nocb darauf griinden, dass neben den offenen Abtheilungen mit den leicbteren Kranken aucb gescblossene Abtheilungen mit scbweren Kranken existiren, und dass der ominose Name „Irrenanstalt" nocb allzuoft dem Gesammtcomplex der ge- scblossenen und offenen Abtheilungen anbaftet. Der Arzt bat beute nocb in vielen Fallen mit solchen bergebracbten Vorurtbeilen zu recbnen. Er wird daber in solchen Eallen, wo der Cbarakter der Krankbeit es gestattet, mitunter der offenen Anstalt den Vorzug geben. Es kommt dies namentlicb in denjenigen Eallen in Betraclit, wo der Kranke weder

gemeingefabrlicb (im weitesten Sinne) nocb flucbtverdacbtig ist. Selbst- mordversucben kann eventuell aucb in einer offenen Anstalt vorgebeugt werden, indem dem Kranken ein Privatwarter , welcber das Kranken

*) Dass ziiweilen auch die Unterbringung in einer fremden Familie in Betracht kommt, wird gelegentlicb in der speciellen Pathologie zu erortern sein.

AUgemeine Therapie.

257

zimmer niclit verlassen darf, beigegeben wird. In praktiscber Bezieliung ist endlicli nocb zu erwagen, dass die offenen Anstalten fast diirchweg Privatanstalteu, imd dementsprecliend die Verpfiegimgskosteu erbeblich hober sind. Bei weniger bemittelten Kranken kommt daber stets nur die sog. gescblossene Anstalt in Frage.

Ungeeignet zur Unterbringung psycbiscb-kranker Individuen sind diejenigen offenen Kaltwasserbeilanstalten , welcbe einen Hotel-massigen Cbarakter tragen. Einen gewissen Abscliluss nacb aussen muss aucb die off’ene Anstalt baben, wenn sie Psycbiscb-Kranke beilen soil.

Hat sicb der Arzt fiir die Aufnabme in die Anstalt entscbieden^ so wird docb in den meisten Fallen die Ueberfiibrung in die Anstalt nicbt sofort stattfinden konnen, da dieser leider nocb in vielen Gegen- den Deiitscblands die Erfiillung zablreicber weitscbweifiger Formalitaten vorausgeben muss. Der Arzt wird daber genotbigt sein, jede Psycbose docb einige Zeit, namlicb bis zur Ueberfiibrung in die Anstalt, selbst zu bebandeln. In der speciellen Patbologie wird fiir jede einzelne Psy- cbose besonders angegeben werden, wie diese Vorbebandlung in der Familie am zweckmassigsten durcbgefiibrt wii-d. Die Grundsatze dieser Vorbebandlung in der Familie decken sicb im Wesentlicben mit den- jenigen der definitiven Bebandlung in der Anstalt.

Die wicbtigsten Heilmittel, welcbe bei der Bebandlung von Psycbosen unS' zur Verfiigung steben, sind folgende:

1. Diatetisehe Mittel.

a. Bettrube. Bei den meisten acuten Psycbosen und zwar gerade aucb bei solcben, welcbe mit scbwerer motoriscber Agitation verlaufen, ist Bettrube dringend angezeigt. Der Krafteverbraucb wird durcb die Bett- rube auf das iiberbaupt erreicbbare Minimum reducirt. Eine dauernde Gleicbmassigkeit aller ausseren Bedingungen liisst sicb auf keinem anderen Wege ebenso erreicben wie durcb Bettrube. Zudem ist letztere vorziig- licb geeignet dem Kranken das Bewusstein, dass er krank ist, beizu- bringen und zu erbalten. Endlicb ist die Ueberwacbung des Kranken im Bett in der Kegel viel leicbter durcbzufiibi’en als ausserbalb desselben.

b. Korperlicbe Bescbaftigung. Solange die korperlicbe und geistige Erscbopfung bei einer Psycbose iiberwiegt, verzicbtet man am besten auf jede Bescbaftigung des Kranken. Namentlicb bei scbweren primaren Hemmungssymptomen wirkt Bescbaftigung meist scbadlicb. Um so mebr ist dieselbe angezeigt, wo die corticalen Associationen be- scbleunigt sind oder wo scbwere Erregungsaffecte oder Sinnestauscbungen Oder Wabnvorstellungen besteben. Arbeit lenkt die Kranken von ibren krankbaften psycbiscben Processen ab und verscbafft ibrem patbologiscben

Ziehen, Psychiatrie. -JY

2.58

Allgemeine Therapio.

liewegungsdrang Gelogenlieit zu normalen, geordneten und controlir- baren Entladungen. Die Auswalil einer zweekmassigen Beschaftiguug im Einzelfalle ist eine der schwierigsten Aufgaben des Psychiaters. So- weit geistige Besclulftigung in Frage kommt, werden die wichtigsten Gesiclitspunkte bei Besprechung der sog. psycbischen Behandlung zur Spraclie koinmen. Korperliche Beschilftigung (einfache Handarbeiten, Ilandwerkerarbeiten, Gartenarbeiten, Ilolzsagen u. dgl.) ist im Allge- meiiien vorzuziebeu, weil sie dem krankeu Gehirn keine psychisclie Arbeit zumutliet und docli Ableukimg gewiihrt. Jedenfalls ist jede Ueber- austrengung zii vermeiden. Am besten gescliieht dies, indem der Arzt ganz bestimmte Arbeitsstunden festsetzt und gauz bestimmte Erholungs- pausen einschiebt. Gerade der regelmassige Wechsel von Ptuhe und Arbeit spielt eine wichtige therapeutische Eolle. Wann und in welchem Umfange die Bettruhe durch korperliche Beschaftiguug zu ersetzen bezw. im Bett korperliche Beschaftiguug (Handarbeiten) zu erlauben ist, kann nicht in allgemeingiiltiger Weise fiir alle Psychosen und nicht einmal fiir alle Falle einer bestimmten Psychose angegeben werden. Die specielle- Pathologie wird uns wichtige Fingerzeige in dieser Beziehung geben miissen, viel wird jedoch bier stets dem individualisirenden Ermessen des Arztes iiberlassen bleiben. Spaziergange , Gymnastik, Spiele im Freien sind weitere im Ganzen noch viel zu wenig in Anwendung ge- zogene therapeutische Mittel, bei welchen die korperliche Beschilftigung eine Hauptrolle sj)ielt.

c. Fernhaltung ilusserer Beize. Bei vielen Psychosen ist es zweekmassig, dem Kranken moglichst wenig iiussere Reize zuzufiihren oder mit anderen Worten sein Empfindungsleben moglichst monoton zu gestalten. Der Kranke mit Hemmungen erschopft umsonst seine Kraft an der Verarbeituug neuer Empfiuduugen. Der Kranke mit Ideenflucht wird durch ueue Empfinduugen zu neuen Vorstellungsreihen angeregt und seine Ideenflucht hierdurch noch gesteigert. Dem Kranken mit Wahnvorstelluugen und Sinnestauschungen bieten neue, wechselnde Empfindungen die fruchtbarsten Aukniipfungspunkte fiir wahnhafte Aus- legungen und illusioniire Transformationen. Schon die Bettruhe an sich ist geeignet, einem erheblichen Wechsel iiusserer Reize vorzubeugen. In mancheu Fallen wird es vortheilhaft sein, den Kranken vollig zu isoliren, d. h. ihn wiihrend des grossten Theils des Tages allein zu lassen. In den Anstalten sind fiir diese therapeutische Isoliruug eigene Zimmer, die sog. Isolirzimmer eiugerichtet. Bei selbstmordverdiichtigen Kranken ist diese Isolirung selbstverstaudlich zu verwerfen. Bei erregten Kranken ist die Isolirung nur durchzufilhreu in sog. Zelleu, d. h. in Isolirzimmern, welche keine Mbbel oder in dem Boden verankerte Mobel enthalten und nach aussen durch festverschlosseue Thiireu und unzerbrechliche Fenster-

Allgenieine Therapie.

259

sclieiben abgesclilossen siucl. Man soil iibrigens mit clieser Isolirimg sehr sparsani imd vorsicbtig sein. Bei 1 lingerer Isolirimg veiwilclein die Kranken meistens. Sobalcl sicli irgeucl welclie Zeiclien solcher Yenvildernng (Unreinlichkeit !) zeigen, ist jedenfalls die Isolirung sofort aufziibeben. Bei Hallucinanten verbietet sich langere Isolirung oft sclion desbalb, weil die Abwesenbeit aller ausseren Keize oft das Auf- treten von Hallncinationen begiinstigt. Sebr oft ist ein regelmassiger Wecbsel von B escbiiftignng in aemeinscbaft mit anderen Personen uud Isolirung vortbeilbaft.

Die Ferubaltung der Angeborigen ist biinfig Conditio sine qua non fiir die Genesimg. Es wurde dies scbon oben bei Besprecbiing der , Indicationen fiir die Anstaltsbebandlimg betont. Das Seben iind Horen der Angeborigen wirkt iusofern meist nocb erbeblicb scbiidlicber als neue Beize iiberbaupt, als ausser neuen Empfindungen aucb immer . Affecterregungen mit demselben sicb verbinden. Daber werden aucb in der Anstalt Besucbe von Angeborigen auf der Krankbeitsbbbe im Allgemeinen nicbt zugelassen. Jeder Besucb aucb ganz abgeseben 'Von dem unvermeidlicben Abscbied am Scblusse desselben regt zabl- losQ Vorstelluugsreiben und zabllose Affecte (Sorgen u. s. w.) an. Aucb der Briefwecbsel bedarf aus demselben Grunde der Einscbrankuug. Aucb 1 diese Vorscbriften siud nicbt allgemeingiiltig. Es giebt Fiille, in welcben ein iiberbandnebmendes Heimweb oder eine iiberbandnebmende Un- i orientirtbeit durcb Zulassung eines Briefes oder eines Besucbes in einer I fiir den ganzen Kraukbeitsverlauf entscbeidenden Weise giinstig be- I einflusst wu’d.

d. Ernabrung. Bei sebr vielen Psycbosen liegt der Ernabrungs- izustand scbwer danieder. Bald ist diese Inanition eine Folge der Psy- I cbose selbst , bald entwickelt sicb nmgekebrt letztere in der friiber be- : sprocbenen Weise auf dem Boden der ersteren. Stets ist daber bei ' Geisteskranken die Ernabrung auf das Sorgfiiltigste zu controliren. Oft ist es indicirt, eine Ueberernabrung durcbzufiibren. Bei acuteu Er- scbopfungspsycbosen sind vor allem Eier, Milcb und Butter zu verab- reicben, Sebr gute Dienste leisten aucb die Arecapriiparate sowie das Lipanin. Das Fleiscb wird in scbweren Fallen am besten fein gescbabt oder gewiegt verabreicbt. Spirituosen sollen fiir Falle aufgespart werden, in welcben Herzcollaps vorliegt oder unmittelbar drobt. Nur bei senilen Psycbosen darf man mit Wein u. dgl. freigebiger sein. Sebr wicbtig ist es, den Kranken oft etwa zweistiindlicb Nabrung anzubieten und lieber die Quantitat der zur einzelnen Mablzeit vorgesetzten Speisen einzuscbriinken.

Die Appetitlosigkeit der Kranken weicbt oft sebr rascb, wenn eine

bestebende Magenverstimmung oder Obstipation beseitigt wird. Es ist

17*

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Allgemeine Therapie.

tlalier nameutlicli bei acuten Psychosen die Zunge raittelst Lappchens Oder bpiilens etwa 2stuudlich von r>elag zu liefreien und der Stuhlgang genau zu reguliren. llegeluiassige Ijeibmassage, Darreichung von Obst, ev. Klystiere (notbigenfalls init Zusatz von Kicinusol) oder in den scluversten Fallen bohe Eingiessungen*) sind im Allgemeinen deu innerliclien Meclicamenten vorzuzielien.

Nahrungsverweigerung auf Grand von VValmvorstellungen oder Sinnes- tauscliungen („ich bin nicht werth zu essen^^, „icli darf nicht essen^, „im Essen ist Gift'^) wird zuniichst am besten 24 Stunden lang vom Arzt vollig ignorirt. Man redet dem Kranken nicht zu, sondern bietet ihin nur in regelmassigen Zwischenraumen Speise an. Oft einpfiehlt es sich auch, scheinbar verseheutlich in der Niihe des Kranken etwas Nahrung, z. B. wahrend der Nacht, stehen zu lassen. Nicht wenige Kranke geben ihrem Himgergefiihl nach, sobald sie sich imbeobachtet glauben. In andereu Fallen ist die Wahnvorstellung oder die Sinnestauschung**) starker als der Hunger. Je nach dem Kraftezustand des Kranken wird man nun 2—3 5 Tage zuwarten diirfen; sobald die Pulswelle den drohenden Collaps anzeigt, ist sofort zur kiinstlichen Ernahrung zu schreiten. Ernahrende Klystiere (3 Eier, V2 Liter Wasser, 1 Messer- spitze Kochsalz) konnen zuniichst versucht Averden. Meist reichen die- selben nicht aus, den fortschreitenden Krafteverfall aufzuhalten. Man muss sich dann doch zur Schhmdsoiidenfutterung entschliessen. Letztere findet am zweckmassigsten in der Weise statt, dass eine weiche elastische Sonde dem in Riickenlage festgehaltenen Kranken durch die Nase eingefiihrt wird. Man giesst y. Liter Milch (mit 2 Eiern) und V4 Va Liter schweren Wein ein. Sehr zweckmassig ist es, etwas Kochsalz zuzufiigen und falls Obstipation besteht auch 1 2 Ess- Ibftel Ricinusol. Bei Kranken mit starkerer Brechneigung ist die Quanti- tilt der eingeflihrten Milch einzuschranken. Es versteht sich von selbst, dass die Sondenfiitterung der grossten Vorsicht bedarf; die Gefahr, dass in Folge des Eindringens des Schlauches in die Luftrohre oder in Folge plotzlichen Erbrechens Speisepartikel in den Bronchialbaum gelangen und tbdtliche Schluckpneumonien oder Lungengangriin hervorrufen, liegt oft sehr nahe.

In solchen Fallen, wo die Ernahrung sehr stark gelitten hat und die Psychose offenbar im Wesentlichen auf die allgemeine Ernahrungs-

*) Mitunter ist auch die manuelle Entfei’uung der harteu Kothballen aus dem llectum erforderlich.

**) In manchen Fallen lasst auch die motorische Erregung oder Hemmung als solche die Kranken nicht zum Essen kommen. Endlich kann bei Zustanden pro- trahirter Bewusstlosigkeit in gefahrdrohenden Fallen Sondenfiitterung nothwendig werdcn.

Allgemeine Therapie.

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stoning zuriickzufiihren ist, kanu die Ilebimg der Ernalirung nnd damit die Ileilung der Psycliose besclileimigt werden, indem man mit der Bett- I rube and der Ueberernaliriing eine tagliclie Massage des ganzen Korpers vcrbindet. Oft ist es olme Massage gar nicht moglicb, die erforderliclie Oder gewlinscbte Ueberernaliriing diircliziifiilireu. Die diircb die Massage o-eleistete Anregung des Stoffwechsels kann man diircli allgemeine Faradisa- tion nocb weiter steigern. Bei diesen Massagekuren nahert sick die ganze Beliandliing der sog. Playfair’ scben oder Weir-Mitcbell’scben Mastkur.

2. Hydrotherapie.

In den ersten Jabrzehnten dieses Jabrbunderts wiirde die kalte Douche nocb vielfacb als Strafmittel zur ^^Besserung" der Geisteskranken augewandt. Man nannte dies Traitement moral. Seitdem die Psycbia- trie aufgebort bat, die geistigen Erkrankungen auf Immoralitat zuriick- zufubren, bat das bydriatriscbe Strafverfabren sicb in die Winkel einiger Pllegeanstalten zuriickgezogen. Urn so ansgiebiger wird die Hydro- tberapie zu Heilzwecken angewandt. Die wicbtigsten bydrotberapeu- tiscben Bebandlungsmittel sind:

a. Das warme prolongirte Vollbad. Die Temperatur ist auf 25—290 zu bemessen. Die Dauer des Bades soil zwiscben 20 Minuten und 2 3 Stunden scbwanken. Ueberscbreitet die Dauer 1 Stuude, so empfieblt es sicb zum Scbluss durcb Zulassen warmen Wassers die Tem- peratur bis auf 30 oder 31° zu steigern. Die Hauptwii'kung des Bades ist die berubigende; zuweilen steigert sicb diese so weit, dass nacb dem Bade mebrstiindiger Scblaf eintritt. Indicirt ist das warme pro- longirte Vollbad bei alien depressiven Erregungszustanden ; bei Exaltations- zustanden und neurastbeniscben Keizbarkeitszustanden versagt die be- ruhigende Wirkung oft. Aucb zur Anregung des Stoffwechsels kann es in Anwendung gezogen werden. In diesem Falle empfieblt sicb kurze Dauer und Zusatz von Soole (2 3 Kilo). Direct nacb dem Bade sind appetitlose und selbst abstinirende Kranke oft leichter zur Nabrungs- aufnabme zu bewegen. Abstand ist von der Anwendung des warmen prolongirten Vollbades jedenfalls in alien denjenigen Fallen zu nebmen, in welcben der Kranke Wabnvorstellungen (angstlicben oder verfolgenden Inhalts) an die Procedur des Badens kniipft. Der erregende Einfluss solcber Wabnvorstellungen iiberwiegt dann namlicb fast stets fiber den berubigenden des Bades.

b. Das kalte Bad. Die Dauer ist auf 5—15 Minuten, die Tem- peratur auf 12—20° zu bemessen. Meist empfieblt es sicb mit warineren Badern zu beginnen und allmablicb zu niedriger temperirten fiberzugeben. Entsprechend der Herabsetzung der Temperatur ist die Dauer abzu-

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Allgemeine Therapie.

kurzen. Das kalte Bad ist als Abhartungsmittel des Nervensystems bei vielen Fiillen voii Neurasthenie indicirt. Audi bei der Ilysterie und namentlicli bei der P]pilepsie wirkt es oft giinstig. Contraindicirt ist das kalte Bad bei aiuimischeii und bei alien im Ernahrungszustand lieruntergekomnieuen Individuen.

c. Die liydropathische Einpackung des ganzen Kbrpers rait Aus- scliluss des Kopfes (und eventuell der Anne). Diese findet in der Weise statt, dass um den nackten Korper des Kranken ein in Wasser von 22 26 0 getauclites Laken gesclilungen und iiber dies Laken eine dicht anschliessende wollene Decke gewickelt wird. Die Dauer scliwankt zwischen Va 2 Stunden (meist V4 1 Stunde). Die Wirkung ist abnlich ivie die- jenige des warmen prolongirten Vollbades eine berubigende. Bei de- pressiven Erregungszustanden wirkt zuweilen die feuclite Einpackung in Fallen berubigend, wo das warme Vollbad versagt. Bei Exaltations- zustiinden und neurastbeniscben Reizbarkeitszustanden leistet sie in der Eegel mebr als dieses. Oft scblafen die Kranken in der Einpackung ein. Contraindicirt ist aucb die bydropatbische Einpackung bei alien Kranken, welcbe auf Grimd von Wabnvorstellungen u. s. w. sicb dauernd gegen die Maassregel strauben. Etwa eintretende Congestivzustande sind durcb kiilile Compressen, welcbe man auf Stirn, Scbeitel und Kacken applicirt, zu bekampfen.

d. Kalte Abreibungen oder Abwascbungen (ev. aucb Ueber- giessungen) sind im Ganzen in denselben Fallen angezeigt, in welcben das kalte Bad indicirt ist. Docb ist ibre Anwendung eventuell aucb bei scbwacb- licberen Individuen unbedenklicb, vorausgesetzt, dass die Abreibung nicbt zu kalt ist und nicbt zu lange dauert (nicbt uuter 18° und nicbt langer als 4 Minuten). In mancben Fallen (Neurastbenie) kann die Abwascbung mit grossem Vortbeil mehrmals tiiglicb wiederbolt werden (Morgens, Mittags, Naclimittags, nicbt Abends). Aucb bei stuporoseu Zustandeu sind oft kurze, nicbt zu kalte Abreibungen vortbeilbaft. Abgeseben von der metbodiscben tiiglicben Anwendung der kalten Abreibungen konnen die- selben ad hoc gemacht werden, um den einzelnen bysteriscben oder hypocbondriscben Anfall oder eine der friiber erwiibnten Affectkrisen zu coupiren oder abzukiirzen. Aucb bei starken ballucinatoriscben Er- regungen wirken kalte Abwascbungen oft vortbeilbaft im Sinne eines Gegenreizes. Laue Abwascbungen (23 24®, 10 Minuten) wirken mebi* berubigend als anregend ; bei abencllicber Application wirken sie fordernd auf den Scblaf.

e. Locale kalte oder warme Compressen, Abreibungen oder Einwickl ungen. Solcbe sind seltener indicirt. Auf Kopfdruck wirken offers kiilile Compressen auf Stirn und Scbeitel oder Benetzungen der Stirn (obne vblliges Abtrocknen) lindernd. Bei affectiven Erregungs-

Allgemeine Therapie.

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zustiindeu uud liysterischen Krampfaufiillen empfiehlt sicli oft aiicli em euergisclies Frottiren der Brust mit kalten, nassen Tiicliern.

3. Electrotherapie.

Die Electrotherapie spielt in der Psycliiatrie bis jetzt keine grosse Rolle. Die Kopfgalvanisation ist begreiflicherweise oftmals gegen die verscbiedensten Psycbosen augewandt worden, jedocb obne siclieren Erfolg. Nur gegen Scblaflosigkeit bewabrt sie sicb in manclien Fallen (Qnerstroine , Abends vor dem Scblafengeben von lOminlitiger Danei und in der Starke von 1% M. A. anzuwenden). Locale Bebandlimg von Drnckpunkten, Topalgien und Nenralgien mit der Anode leistet oft gnte Hiilfe gegen solche complicirende Symptome. Die allgemeine Faradi- Ltion wiirde bereits als Unterstiitziingsmittel der Ernabrungskur an- gefiibrt. Locale Faradisation kann ofters mit Vortbeil an Stelle der localen kalten, nassen Frottirnngen treten. In sebr vielen Fallen, m welchen die Electrisation scbeinbar wirksam sich zeigt, ist sie nui ein geeignetes Veliikel der Suggestion (s. u.).

4. Medieamentose Therapie.

a. Opium nnd seine Alcaloide. Das Opium kann entweder inner- licb als Piilver oder in Gestalt der Tinctur verabreicbt oder als Extract. Op. aquosum siibciitan injicirt werden. Bei siibcntaner Beliandlung wil’d es zwar besser vertragen, insofern die Magenbescliwerden geringer siud, daftir giebt der Act der Einspritznug selbst vielen Kranken zu allerband Wabnvorstelliingen Anlass. Aucb setzt die Opinmwirkung bei siibcntaner Injection zwar rascber ein nnd ist intensive!', daftir aber verfliegt sie rascber. Wenn es sich daher nicht dariim handelt, eines schweren plotzlichen Angstanfalls oder eines anderen die Opiiimbehand- liing indicu’enden Symptoms moglicbst rasch Herr zu werden, wird man dock meist die innerliche Anwendnng vorzieben. Das Opium bewabrt sicb namentlicb bei der Bekampfung depressiver Affectstorungen, vor Allem der primaren Angst nnd der primaren Tranrigkeit. Hiei Avirkt es nicbt niir angenblicklicb lindernd, sondern bei langerei An- wendiing bringt es scbliesslicb diese primaren Afiectstdrimgen vollig ziim Scbwinden. In zweiter Linie zeigt es sicb wirksam gegenliber balliici- natoriscben Erregungsziistanden, insbesondere solcben, welcbe in dem frliber besprocbenen Sinne anf dem Boden cerebraler Erscbopfiing anf- treten. Anf Einzelbeiten dieser Indicationen sowie anf einige weitere Indicationen wird in der speciellen Pathologic einziigeben sein. In der Hegel beginnt man mit einer Tagesdosis von 0,15 und steigt bis zu Tages- dosen von 0,5, 1,0 und selbst 1,5 g.

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Allgomeine Therapie.

Die Anwendung des Morph iu ms statt des Extr. Opii aquos. ist unbcdenklich; jedenfalls ist jedoch jede einzelne Einspritzung vom Arzt SGlbst zu macbeu, aiicb tbeilt man dcm Krauken am Ijeston deu Namen t es Mittels nicht mit. Die Gefabr der Angewobnung an Morpbium ist erfabrungsgemass viel p-bsser als diejenige der Angewobnung an Opium. Die Indicationen sind im Wesentlicben dieselben.

b. Hyoscin. Dieses Alcaloid wird fast nur subcutan angewendet. Die Anfangsdosis betragt 0,0006 g fiir die Frau und 0,0008 g fiir den Mann. Da rascli Gewobnung an das Mittel eintritt, so muss die Dosis sehr rascb erhobt werden; man kann die einmalige Dosis schliesslicb bis auf 0,003 und die Tagesdosis bis auf 0,01 g steigern. Die Wirkung des Mittels beschrankt sich im Gegensatz zum Morpbium fast aus- schliesslieh auf die motoriscben Centren. Die Bewegungen des Kranken werden scbon wenige Minuten nach der Einspritzung incoordinirt und kraftlos. Schliesslicb tritt Scblaf ein (meist nach 10 15 Minuten). Durcb Anrufe oder Hautreize ist der Kranke jederzeit leicht aus dem- selben wieder zu wecken. Die von dem Alcaloid bervorgerufene Contrac- tion der peripberen Arterien verleibt dem Kranken im Hyoscinscblafe ein leicbenblasses Ausseben, welches zusammen mit der Verlangsamung der Respiration den Unerfabrenen oft erscbreckt. Dabei ergiebt genaueie Untersucbung , class der Blutdruck sogar gesteigert und die Atbmung ganz entsprecbend der Verlangsamung vertieft ist. Unan- genebme Nebenwirkungen sind die Accommodationslahmung und die Scbluckstbrung. Audi kommt dem Mittel entscbieden cumulative Wirkung zu. Schliesslicb beobacbtet man vollige Licbtstarre der Pupillen, welcbe das Aussetzen des Mittels einige Tage iiberdauern kann.

Langere Anwendung des Hyoscins ist namentlicb in alien denjenigen Fallen indicirt, in welcben eine scbwere motoriscbe Agitation und Ideen- flucbt bestebt (also z. B. bei Manie). Einmalige oder gelegentliche An- wendung des Mittels erweist sicb zweckmiissig, wenn uberbaupt eine scbwere motoriscbe Erregiing (sei es mit oder obne Ideenflucbt) vorliegt, welcbe auf anderem Wege nicbt beseitigt werden kann und docb aus bestimmten Griinden z. B. urn einen iibermassigen Krafteverbraucb und damit drobenden Collaps zu verbiiten oder Selbstbescbadigungen zu vermeiden beseitigt bezw. verringert werden muss. Hier wu’kt das Mittel oft geradezu lebensrettend. Insbesondere empfiehlt sicb das Mittel aiicb bei tobsiicbtig erregten Kranken, deren Einlieferung in die Anstalt sicb aus irgend einem Grunde verzbgert. Bei der enormen Schwierigkeit, in der Privatbebandlung solcbe Kranken vor gefabrlicben Gewalttbatigkeiten gegen sicb und gegen die Umgebung zu bewabren, ist die Anwendung des Hyoscins oft dringend geboten. Auch bei dem Transport solcber Kranken in die Anstalt leistet das Mittel dem Arzt

Allgemeine Therapie,

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unschatzbare Dienste. Bei schweren Erregimgszustanclen der Angst wire! es zweekmassig mit Morpbhim combinirt (0,015 Morpbium -{- 0,0005 Hyoscin.*) Bei nabrungsverweigernden Kranken kann oft der Beginn der Hyoscinbetaubung mit Vortbeil zum vorsiebtigen Einflossen von Nabrung (jedocb nnr fliissiger) benutzt werden.

Dem Hyoscin sebr abnlicb wirkt das scbwefelsaure Duboisin; docb ist die Wirkimg etwas weniger intensiv.

c. Cbloralbydrat. Da subentane Anwendung des Mittels wegen der Gefabr der Abscediriing ausgescblossen ist, so ist es nnr bei solcben Kranken anwendbar, welcbe es freiwillig nebmen. Entweder kann es per os Oder per clysma verabreiebt werden. Die Dosis ist im ersteren Falle auf 1 2 g, im letzteren auf 2 3 g zii bemessen. Der Cbloral- scblaf bat den Vortbeil, dass er dem natiirlicben Scblaf am abnlicbsten ist. Die Nacbtbeile des Chlorals bangen mit seiner gefasslabmenden Wirkung zusammen. Wegen der letzteren ist sein Gebraiicb in alien Fallen, in welcben Erkrankungen des Herzens oder der Gefasse besteben Oder die Herztbiitigkeit scbwacb ist, durebaus contraindicirt. Namentlicb ist der langere Fortgebraucb des Chlorals aucb bei intactem Circulations- apparat stets bedenklicb. Es kommt binzu, dass bei wiederholter An- wendung das Chloral sebr rascb versagt, und dass dann aucb Steigerungen der Dosis bald nicht mehr ausreicben, Scblaf zu erzielen. Am meisten empfieblt sicb die gelegentlicbe Anwendung des' Chlorals bei acuten ballucinatorischen Erregungszustanden. Oft kann es vortbeilhaft mit Morpbium oder Opium combinirt werden (0,01 Morpbium auf 1,0 Chloral). Aucb kann in solcben Fallen das Chloral mehrmals taglicb in kleinerer Dosis (0,5 g) zur Herabsetzung der ballucinatorischen Erregung verwandt werden.

d. Paraldebyd und Amylenhy dr at. Beide sind in Oel oder in Wein und zwar 3 4 g pro dosi zu verabreicben. Beide sind lediglicb Scblafmittel und konnen mit Vortbeil zur gelegentlicben Ablosung eines anderen Scblafmittels, dessen Wirkung in Folge wiederbolten Gebrauebs zu versagen drobt, verwandt werden.

e. Sulfonal und Trional. Dieselben sind beute die empfeblens- werthesten Mittel unseres Arzneisebatzes , wenn es einfacb darauf an- kommt Scblaf zu erzielen. Sie sind nur per os wirksam. Am besten verabreiebt man sie in einer grbsseren Menge beisser Milch oder gesalzener Suppe. Will man den bei der Losung des Mittels sicb ein- stellenden bitteren Geschmack vermeiden, so lasst man das Mittel zunaebst in etwas Wasser ungelost scblucken und dann beisse Milch oder Suppe in grosserer Menge nachtrinken. Die Dosis betragt fiir Sulfonal 2 g, fiir

*) Hydrochloricum oder hydrojodicum.

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Allgemeine Therapie.

Trional 1,5 g. Subciitane Anwendung ist ausgeschlossen , beide Mittel koramen dalier nur bei solchen Kranken in Betracht, welcbe freiwillig sicb zum Einnebmen von Arzneimittcln entscbliessen. Mehrfach gelingt es iibrigens aucli das Mittel unbemerkt dein Kranken beizubringen, indem man es feinpulverisirt mit Salz vermisclit aiif Butterbrod streut. Eine regeliniissige Anwendung des Siilfonals oder Trionals empfieblt sicb, da ofter Magendarmerscheinungen beobacbtet werden, nicht. Audi scheinen beide Mittel etwa bestebende Geborshallucinationen zu verstiirken.

f, Bromsalze. Am zweckmassigsten ist die Darreicbung des Brom- natriums. Die Brombebandlung erweist sicb namentlidi bei primaren Exaltationsziistiinden vortbeilhaft. Audi balludnatoriscbe Erregungs- zustiinde (insbesondere Hallucinationen auf dem Gebiete der Haut- und Organempfindungen) werden oft giinstig beeinflusst. Als Scblafmittel bewiibrt es sicb namentlicb in solcben Fallen, wo die Scblaflosigkeit auf einem gesteigerten Traumleben berubt (z. B, bei Neurastbenie). Endlicb entfaltet das Brom eine fast specifiscbe, wenn aucb selten zu volliger Heilimg fiibrende Wirkung gegenuber der Epilepsie und den epileptiscben Psycbosen. Bei letzteren empfieblt sicb dringend die Ver- bindung von Brom mit Opium. Die Dosis ist auf mindestens 5 g zu bemessen, in scbweren Fallen kann bis auf 1 2 g pro die gestiegen werden. Stets ist das Mittel stark verdiinnt zu reicben.

Auf zablreicbe Eiuzelindicationen flir die soeben augefiibrten Medi- camente sowie auf gelegentlicbe Verwendung anderer Medicamente (Cbiuiu, Ergotin u. s. w.) wird in der speciellen Patbologie und Tberapie aufmerksam gemacbt werden.

5. Psychische Therapie.

Neben der diittetiscben Tberapie ist die psycbiscbe Tberapie weitaus am wicbtigsten. Einige Grundsatze derselben mussten bereits oben bei Besprecbung der diatetiscben Tberapie gestreift werden (vgl. fiber Iso- lirung u. s. f.). Weitere wicbtige Grundsatze sind folgende:

a) Bei primarer Depression versucbe man nicht durcb sog. Zer- streuung die Kranken aufzubeitern. Solcbe Kranke ffiblen sicb vermoge ibrer Depression bei jedem Aufbeiterungsversucb meist doppelt unglfick- licb. Aucb mit dem Zusprecben von Trost sei man nicbt zu freigebig. Ein kurzes, seltenes Trostwort wirkt am nacbbaltigsten.

b) Bei primarer Exaltation verzicbte man auf alle weitlaufigen Mabnreden oder Strafpredigten. Excesse erscbwere man durcb Ueber- wacbung und Bescbaftigung. Speciell wird man aucb durcb geistige Bescbaftigung versucben die gesteigerte Associationstbatigkeit dieser Kranken in geordnete Bahnen zu lenken. Bei gebildeten Kranken

Allgemeine Therapie.

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empfiehlt sich in erster Linie neben korperlicher bezw. mechanischer Beschaftigmig Zeicbnen, Vorlesen (uiclit Lesen), Excerpiren unci Ueber- setzcn. Etwaige Excesse sind niemals clem Kranken als ein Ilnrecbt vor- zubalteu, sonderu durcb geeignetere Ueberwachimg u. s. w. kiinftig zu ver- hiiten; man darf liocbstens den Kranken auf die unangenelimen Folgen, welcbe Excesse fiir ibn nnd andere haben, kurz aufmerksam macben.

c) Auf eine Discussion iiber Wabnideen und Sinnestauscbungeu sicb einzulassen ist fast niemals riitblicb. Wabnideen werden leicbter ver- gessen als widerlegt, und das Anstreiten gegen Sinnestauscbungeu fiibrt nur clazu, dem Arzt das Vertrauen des Kranken zu rauben. Aucb fiibrt die Discussion liber Wabnvorstellungen den Kranken oft geradezu dabin, nacb Griinden fiir seine Wabnvorstellungen zu sucben und dieselben zu systematisiren. Man begniige sicb im Allgemeinen damit, kurz seine Meinung dabin auszusprecben; „icb balte Ibre Vorstellungen fiir Irrtbiimer und Ibre Stirnmen bezw. Erscbeinungen fiir Tauscbungeu (fiir Traume im Wacben), aber der weitere Verlauf soil entscbeiden, ob icb Kecbt babe!^^ Eine objective geistige Bescbaftigung erweist sicb neben korper- licber Bescbaftigung wenigstens bei gebildeten Kranken aucb bier am niitzlicbsten. Nur empfieblt es sicb die geistige Bescbaftigung etwas vielseitiger zu gestalten: man lasse stundenweise zwiscben Eube, geistiger Bescbaftigung und korperlicber Bescbaftigung wecbseln und wecbsele aucb mit der geistigen Bescbaftigung ofters. Aucb auf Ver- kebr und Spielen mit Mitkranken ist Gewicbt zu legeu.

d) Bei iiberbaudnebmender wabnbafter oder ballucinatoriscber Un- orientirtbeit kann mitunter ein gescbickter Orientirungsversucb rascb klarend wirken. So beobacbtet man, class ein Besuch der Angeborigen zur ricbtigen Zeit, eine einfacbe kurze Auseinanclersetzung der Situation durcb den Arzt, ein Ausgang im geeigneten Moment, ja sogar das blosse Verstatten des Lesens einer Zeitung clem Kranken auf den ricbtigen Weg zur Klarung verbilft.

e) Jedweder affectiven bezw. motoriscben Erregung der Kranken setze man unerscbiitterliche Eube entgegen. Der Kranke soil wissen, class der Arzt ausserbalb der Stiirme stebt, die ibn selbst erscbiittern. Daber sprecbe man im Allgemeinen aucb eber langsam und eber wenig, namentlicb unterbrecbe man den Kranken im Allgemeinen in seinen Eeclen nicbt.

f) Bei Kranken mit Hemmung sei man cloppelt sparsam mit Unter- reclungen. Zur Beantwortung der Fragen, welcbe man stellt, lasse man dem Kranken viel Zeit. Namentlicb vermeicle man, wenn der Kranke die Antwort scbulclig bleibt, weiter Frage auf Frage zu baufen. Mit geistiger Bescbaftigung soil man bei cliesen Kranken vorsicbtig sein.

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Allgemeine Therapie.

g) Mau sei durcliaus wahr gcgen den Kranken. Audi die sog. Nothliige ist dem Geisteskranken gegeniiber mdglichst zu vermeiden.

Selbstverstandlidi sind diese Grundsatze in keiner Weise erschbpfend. Die psycho-patliologisclieu Syinptome und Zustande sind viel zu mannich- laltig, als dass sicb ihre psychisdie Bebandlung in einige wenige Regeln zusammenfassen Hesse. In letzter Linie entscheidet iin Eiuzelfall oft der psychologische Instinct des Arztes. Ebenso darf man den oben aufge- fiihrten Grundsatzen keine absolute Giiltigkeit beimessen. Jeder einzelne Fall einer Psychose ist in viel libbercm Maass eine Krankheit fur sich als z. B. ein Fall von Lungenentziindung oder Typhus. Die Bebandlung und speciell gerade die psycbische Bebandlung der Psychosen muss daher im hbchsten Maasse individualisiren.

Zur psychischen Therapie im weiteren Sinn gehort auch die Hyp nose und die Suggestion in der Hypnose. Man hat erstere mannicbfach gegeniiber den verschiedensten Erregungszustauden angewandt. Die Er- folge sind im Ganzeu sparliche. Mehr leistet die Hypnose und zwar speciell die Suggestion in der Hypnose zuiveilen bei hysterischen und hypochondrischen Zustanden. Jedenfalls bedarf es bei der Hypnose grosser Vorsicht. Ungiinstige Nebenwirkungen werdeu nicht zu selten beobachtet (wahnhafte und halluCinatorische Erregungen u. s. w.), Bei weiblichen Individuen ist die Hypnose nur in Gegenwart dritter Per- sonen vorzunehmen : weibliche Geisteskranke kuiipfen nur allzuleicht an die Hypnotisirungsversuche allerhand Erinnerungsentstellungen (z. B. im Sinn eines stattgehabten Stuprumversuchs u. dgl. m.)

6. Aetiologisehe Therapie.

Die iitiologische Therapie ist selbstverstandlich. Wenu eine Psychose auf Hirnsyphihs beruht, wird man eine specifische Kur einleiten, und so in vielen anderen Fallen. Eine Vernacblassigung dieser iitiologischen Indicationen wird am sichersten durch eine genaue Untersuchung aller Korperorgane verhiitet; aus der letzteren ergeben sich die Fingerzeige fiir die atiologische Bebandlung ohne Weiteres.

Specielle Bebandlung einiger wichtiger Einzelsymptome.

a) Nahrungsverweigerung. S. oben unter diatetischen Mitteln.

b) Selbstmordverdachtigkeit. Die Verhiitung von Selbstmord- versuchen in vielen Fallen ist eine der wichtigsten Aufgaben des Arztes. Kranke , welche irgendwie selbstmordverdachtig sind , also namentlich Kranke mit Angstaffecten, mit hallucinatorischer Erregung oder mit im- pulsiven Einfallshandlungen sind weder bei Tag noch bei Nacht alleiu zu

AUgcmeinc Thcrapie.

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lassen. Alle scharfen lustrumente (Messer, Sclieeren) sind dem Kranken ab- zunehmen und keinesfalls (auch z. B. beim Essen nicbt) wieder einzubandigen. Weuu irgend mbglicli, ist der Krauke in einem Parterrezimmer oder in einein Zimmer mit vergitterten Eenstern nnterzubringen, um einen Sturz ans dem Fenster zii verhilten. Sehr erleiclitert wird die Uebervvachung, indem man danernde Jkttrnlie (s. o.) anordnet. Der Gefahr einer Stran- gulation begegnet man am besten durcb standige Ueberwacliung ; in mancben Fallen wird man auch Nacbts Augehorige oder Krankenpfleger, welclie sicli regelmassig ablbsen, bei dem Kranken wacben lassen. In leicbtereu Fallen genligt neben stiindiger Ueberwacbung, welcbe jeden- falls durcbziiflihren ist, bftere Diircbsucbung des Bettes (nacb Stricken, Tuclistreifen n. dgl.). Der iiberwachenden Person ertlieilt man den stricten Auftrag, dass sie keinesfalls auch nicbt fiir einen sog. „Augenblick^^ den Kranken verlasst. Speciell hat dieselbe den Kranken auch stets bis i n den Abort zu begleiten, wofern man nicbt vorzieht dem Kranken in seinem Zimmer bezw. Bett den Unterschieber zu geben. Alle Haken, Niigel u. s. w. wird man nach Moglichkeit entfernen, eventnell kann man auch durch Blechhiitchen von der Form eines Halbkegels, welcbe man liber den betreffenden Haken, Angeln, Vorsprungen u, s. w. anbringt, die Befestigung einer Scbnur erscbweren. Docb ist bervorzubeben, dass eine vollstandige Sicberbeit in dieser Hinsicbt kaum berzustellen ist; bat man docb scbon beobacbtet, dass Kranke sicb an den Pfosten ibres Bettes aufbingen. Nacbts hat jedenfalls die bei den Kranken scblafende Person die Tblir abzuscbliessen imd die Fenster ebenfalls zu verwabren, nm ein nacbtlicbes Entweicben mit nacbfolgendem Selbstmordversuch zu verbiiten. Den Tbiirscblussel bat der Pfleger am besten Nacbts nm den Leib zu binden. Endlicb wird man durcb bydropatbiscbe Maassuabmen, Darreicbung von Opium u. s. w. die Angst, welcbe in erster Linie die meisten Kranken zum Selbstmord treibt, zu vermindern sucben.

c. Tobslichtige Erregung. Der bydropatbiscben und medica- mentosen Bebandlung (Hyoscin) wurde bereits gedacbt. Ebenso ist scbon zur Spracbe gekommen, dass korperlicbe Bescbaftigung dem Bewegungs- drang erregter Kranken oft eine vorziiglicbe Ableitung verscbafft. In der Anstalt bietet die Isolirung in einem unmoblirten Zimmer mit un- zerbrecblicben Fensterscbeiben ein weiteres Mittel, um gemeingefabrliche Gewalttbatigkeiten zu verbuten. In vieleu Fallen ist der fortgesetzte Bingkampf des Kranken init 3 4 Pflegern mit viel grosseren Missstanden fiir den Kranken selbst und seine Umgebung verkniipft als eine mehr- stiiridige Isolirung. Insbesondere kommt letztere dann in Betracbt, wenn Narcotica (z. B. auch Hyoscin) versagen oder aus irgend einem Grunde contraindicirt sind. Vgl. iibrigens obeu unter „diatetiscbe MittePb Da

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Allgemeine Therapie.

tobsuclitig erregte Krauke Liiufig auch ilir JJettzeug und ihre Kleider zerreissen, so wird man oft genothigt, denselben in der Zelle als Lager lediglicb Stroll Oder besser Seegras (ev. auch Ilolzwolle) zu geben; ausser- dein erhalten die Kranken einen liemdartigen Anzug und Decken von unzerreissbarem Zeug.

Zwangsjacken gehoren in die Kumpelkammer, Ueberhaupt ist jede Fesselung von Geisteskranken bis auf wenige Ausnahmefalle zu unter- lassen, Diese Ausnahmefalle sind

erstens Fiille chirurgischer Verletzungen, in welchen das Toben der Kranken die Heilung der bez. Verletzung in ernster Weise gefiihrdet;

zweiteus Fiille excessiver Masturbation, in welchen letztere die Ileilung der Psychose hindert;

drittens Fiille schwerer tobsiichtiger Erregung, in welchen aus iiusse- seren Griinden die Unmoglichkeit vorliegt, in anderer Weise die Um- gebung vor dem Kranken zu schiitzen oder am Entweichen zu ver- hindern.

Der letzte Fall wird nur ausserhalb der Anstalt vorkommen; namentlich fiir den Transport schwer erregter Kranker in die Anstalt wird man zuweilen der Fesselung nicht entbehren konnen. Jedenfalls wird man auch in den oben aufgefiihrten 3 Fallen stets zuerst alle an- deren Mittel (Hyoscin, Brom, Einpackungen u. s. w.) versuchen. Der Zwang, dem man den Geisteskranken zuweilen unterwerfen muss, soli nie den Charakter einer arztlichen Verordnung verlieren. Jede einzelne Isolirung und erst recht jede weitergehende Zwangsmaassregel (wie z. B. die oben erwahnte ausnahmsweise Fesselung) darf nur auf dii’ecten Befehl des Arztes erfolgen. Niemals Soil das Wartepersonal zu solcheu Maass- regeln befugt sein.

d) Unr einlichkeit. Koth- und Urinverunreinigungen erschwereu die Behandlung manches Geisteskranken ungemein. Beruhen sie auf Schwachsinn oder Liihmuug der Sphincteren, so wird man die Kranken stiindlich zum Abort fiihren und durch regehniissige Bader und Waschungen die Reinlichkeit zu erhalten suchen. Die Verwendung von Urinalen be- wahrt sich selten. Hiiufig tritt Kothschmieren und Urinsalben hinzu, so bei motorisch-erregten Kranken, feruer auf Grund von Wahnvor- stelluugen sowie namentlich Hand in Hand mit sexueller Ueberreizung. In solchen Fiillen ist es oft zweckmassig, tiiglich den Kranken ein Klystier zu geben und sie nach demselben so lange auf dem Nachtstuhl zu halten, bis reichliche Entleerung erfolgt ist. Auch kann man durch kleine Hyoscindosen oft mit Vortheil die motorische Erregung herab- setzen. Endlich bewahrt sich oft die Darreichung von Opium; die Stuhlentleerungen erfolgen dann seltener, und die Verunreinigung mit

Allgcmeinc Therapie.

271

den liar ten Kotlimassen ist nieist nnerheblicher. Aufsiclit und regel- niiissiges Baden blieb aucb bier weitaiis das Wichtigste.

e) Masturbation. Medicamente wie Lupnlin, Campber, Brom helfen Avenig. Wirksamer sind kalte Waschungen und namentlich in- tensive korperliclie Bescbaftigimg. In scliAveren Fallen ist ev. auch Naclits UeberAA’'acliung geboten. Zur Fesseliing darf man nur im aussei- sten Notbfall scbreiten. Predigten liber die verderblichen Folgen der Masturbation richten meist nur wenig aiis imd flibren leicht zu bypo- cbondriscben W ahnvorstellimgen.

B. Specielle Psycliopathologie.

Die Eintheilung’ der Psjcliosen.

Solange man getrennte Seelenvermogen annalim, kounte man sich vorstellen , dass entsj)rechend diesen Seelenvermogen einige scharfge- trenute psychische Kranklieitsfamilieu existiren miissten. Die Lehre von den Seelenvermogen ist gefallen. Es hat sich ergeben, dass die psy- chischen Processe sich sammtlich dem friiher entwickelten Schema der Ideenassociation einordnen, welche mit der Empfindung beginnt, eine Vorstellungsreihe durchlauft und mit der Bewegung abschliesst. Aprio- lische Classificationen erscheinen bei dieser Sachlage von Anfang an aus- sichtslos. Wir werden auf den empirischen oder klinischen Weg hin- gewiesen. Die klinische Beobachtung lebrt nun zunacbst einen grossen Unterscbied zwiscben den verscbiedenen Geistesstorungen : es giebt Geistes- storungen, welche von ibrem ersten Beginn an einen deutlicben Intelligenz- defect (Urtbeils- und Gediichtnissschwacbe) zeigen, und solcbe, welche obue Intelligenzdefect einsetzen und aucb weiterbin obne Intelligenzdefect veilaufen. Wir bezeicbnen erstere aucb kurzweg als Defectpsycbosen : zu denselben geboren die verscbiedenen Formen des augeborenen und er- worbenen Scbwacbsinus. Den Defectpsycbosen stellen wir die Psychosen obne Intelligenzdefect gegenuber; dabei ist nicbt ausgescblossen und von Anfang an bervorzubeben, dass gelegentlicb aucb diese Psycbosen obne Intelligenzdefect scbliesslich nacb langerem Verlauf, wenn Ileilung aus- bleibt, allmablicb zu einem Intelligenzdefect, der sog. secundaren De- menz, fubren konnen. Diese secundare Demenz stellt gewissermaassen das Bindeglied zwiscben den beiden Hauptgruppen der Psycbose, den Psycbosen obne Intelligenzdefect und den Defectpsycbosen dar. Die weitere Classifi- cation der Psycbosen obne Defect wird von der Tbatsacbe auszu- gebeu haben, dass jede Psycbose entweder wabrend ihres Verlaufs nur einen psycboiDatbiscben Zustand durchlauft oder eine P’olge mebrerer psych opatbiscber Zustande darstellt. Wir unterscbeiden daber unter den Psycbosen obne Defect einfacbe und zusammengesetzte Psy. chosen. Einfacbe Psycbosen sind solcbe, welche im Wes ent lie ben nur einen i^sychopatbischen Zustand durcblaufen ; von etwaigen kiii’zereu

Die Eintbeiiung der Psychoson.

273

Vor- uucl Naclistadieu wire! dabei abgeselien*). Zusammengesetzte Psy- choseu sind solclie, welclie liintereinander versebiedene psychopathisebe Zustiiude durcblaufeu. Die zusanimengesetzteu Psychosen sind erheblich seltener imd praktisch von geringerer Wichtigkeit. Wir werden uns daher uur ganz kurz init denselben bescliaftigen. Audi werden manche der- selbcn im Anschluss an einzehie einfache Psychosen anhangsweise Er- wahnung linden. Die einfachen Psychosen zeigen wesentliche Unterschiede, je nachdem die ersten Krankheitserscheinungen auf dem Gebiete der Aftecte Oder in dem Inhalt der Empfindungen und Vorstellungen sich geltend inachen. Als affective Psychosen bezeichnet man diejenigen ein- fachen Psychosen, deren Primarsymptome Affectstorungen sind, als in- tellectuelle Psychosen diejenigen einfachen Psychosen, deren Primar- symptome inhaltliche Storungen des Empfindens (Sinnestauschungen) oder des Vorstellens (Wahnvorstellungen, Zwangsvorstellungen) sind. For male Storungen des Vorstellungsablaufs (also Storungen der Geschwindigkeit und des Zusammenhangs der Ideenassociation) kommen als isolirte An- fangssymptome einer Psychose nur selten vor, sie begleiten vielniehr in der Kegel entweder die Affectstorungen oder die Emplindungs- und Yorstellungsstorungen der einfachen Psychosen oder folgen den ersteren oder letzteren nach. Speciell beobachtet man ungemein selten isolirte Ideenflucht oder isolirte Incoharenz als Anfangs- und Hauptsyinptom einer Psychose, etwas hauliger tritt Hemmung des Vorstellungsablaufs als eiuziges, erstes und dominirendes Symptom einer bestimmten Psy- chose auf; man bezeichnet die letztere als Stupiditiit und rechnet sie zu den intellectuellen Psychosen und fasst alle anderen intellectuellen Psy- chosen unter dem Begriff der Paranoia und des Irreseins aus Zwangs- vorstelhmgen zusammen. Die Paranoia tritt in zwei Hauptformen auf, namlich als Paranoia simplex und als Paranoia hallucinatoria. Bei ersterer sind Wahnvorstellungen, bei letzterer Sinnestauschungen das Hauptsjinptom. Treten StorungeD des Vorstellungsablaufs zu den in- haltlichen Storungen hinzu, so kommt es zu drei weiteren Eormen der Paranoia, welche wir als ideenfluchtige Form, stuporose Form und in- cohiirente Form bezeichnen, je nachdem Ideenflucht, Denkhemmung oder Incoharenz als zweites Hauptsymptom in das Krankheitsbild eintreten.

Die weitere Eintbeiiung der Defect psychosen geht davon aus, dass der Intelligenzdefect bald angeboren bald erworben ist. In ersterem Fall spricht man von angeborenem, in letzterem von erworbenem Schwachsinn. Der angeborene Schwachsinn wird je nach seinem Grade als Idiotie, Imbecillitat und Debilitat bezeichnet. Der erworbene Schwachsinn wird auch als Demenz bezeichnet. Die wichtigsten Eormen der Demenz

*) Ebenso auch von dem bereits erwahnten Ausgang in secundare Demenz.

Ziehen, Psychiatrie. 18

274

Dio Eintheilung dor Psychosen.

sind (lie Dementia senilis und die Dementia paralytica. Audi die sog. D. epileptica und alcoholica sowie die melirfach envalinte Dementia secundaria werden liier unterzubringen sein.

Es ergiebt sich somit auf Grund des oben aufgestellten kliniscben Eintbeilungsprincips folgende Classification der Geisteskrankheiten.

I. Psychosen obne Intelligenz defect.

A. Einfache Psycliosen: ein einziges Hauptstadium.

1. Affective Psychosen: primarc Hauptsymptome auf affectivem

Gebiet:

a) Manie;

b) Melancholie ;

c) Neurastbenie.

2. Intellectuelle Psychosen : primare Hauptsymptome auf intellec-

tuellem Gebiet :

a) Stupiditiit;

b) Paranoia;

a. Paranoia simplex; p. Paranoia hallucinatoria ; y. Ideenfliichtige Form;

S. Stuporose Form; e. Incoharente Form;

c) Irresein aus Zwangsvorstellungen.

B. Zusammengesetzte Psycliosen: mehrere Ilauptstadien.

II. Defectpsy chosen.

A. Angeboreuer Schwachsinn :

a. Idiotie ;

b. Imbecillitat;

c. Debilitat.

B. Erworbener Schwachsinn s. Dementia:

a. Dementia paralytica;

b. Dementia senilis;

c. Dementia secundaria nach functionellen Psycliosen;

d. Dementia secundaria bei Heerderkrankungen (Syphilis cere- bri u. s. w.) ;

e. Dementia epileptica;

f. Dementia alcoholica.

Im Einzelnen wird ausfiibrlich zu erortern sein, dass die soeben auf- gezahlten Psycliosen nur die typischen Formen darstellen, dass aber zwischen diesen typischen Formen zablreiche Uebergangsfornien vor- kommen. Bei dem angeborenen Schwachsinn konimt nicht selten cine

Die Eintheilung der Psycboseii.

275

iManie odor Melancliolie oder Paranoia ziim A.iisbrucli, mit anderen Worten zu der angeborenen Defcctpsyclioso kommt eiue der unter I, A angefiibrten Psyclioseii biiizu. Ganz besonders aber finden sich innerlialb der Gruppe I, A zwisclien den einzelnen Psychosen zahlreiche Uebergangsfornien, Die wiclitigsten derselben werden Icurz im Anschluss an die einzelnen Psychosen erwiihnt werden. Endlich giebt es einige seltenere Psychosen, welche nicht einfach als Uebergangsformen aufzu- fassen sind, sondern eine besondere Stellimg im System beanspruchen wiirden. Eben wegen ihrer Seltenheit sind dieselben in dem obigen Schema weggelassen worden. Zu den Uebergangsformen gehoren z. B. auch diejenigen einfachen Psychosen, bei welchen affective und intelleo tuelle Storungen gleichzeitig und gleichbedeutsam in das Krankheitsbild eintreten. Diese Uebergangspsychosen zwisclien den affectiven und in- tellectuellen Psychosen bezeichnet man als „gemischte^^ Psychosen. Die in der allgemeinen Pathologic beschriebene hysterische psychische Degeneration ist z. B. bier einzureihen. Gerade diese gemischten Psy- chosen kommen vorzugsweise auf Grund ganz bestimmter atiologischer Momente vor, wiihrend das Auftreten der meisten iibrigen Psychosen weniger eng an einzelne bestimmte atiologische Momente gebunden ist. Auch diese gemischten Psychosen werden nur fliichtig beriihrt werden, zumal in der allgemeinen Aetiologie der haufigeren schon ausfiihrlich ge- dacht worden ist.

Ausser der in obigem Schema durchgefiihrten Eintheilung kann man auf Grund andrer Principien noch andere Eintheilungen aufstellen. Unter diesen hat namentlich die atiologische grosse praktiscbe Bedeutung, weil erstens die Ursachen der Psychosen oft klarer zu Tage treten und leichter festzustellen sind als die primilren Hauptsymptome und weil zweitens viele atiologische Momente den auf ihrem Bodeu entstehenden Psychosen meist eine ganz bestimmte symptomatische Farbung verleihen; jedeni dieser atiologischen Momente kommt sonach eine bestimmte sym- ptomatische Farbung zu, welche auf Grund anderer atiologischer Momente viel seltener beobachtet wird. Auch findet man, dass u'gend ein atio- logisches Moment keineswegs alle Psychosen gleichmassig haufig hervor- bringt, sondern einige bestimmte Psychosen haufiger als andere. Offen- bar muss eine genaue Kenntniss dieser atiologischen Beziehungen die Diagnose sehr erleichtern. Es wird daher am Schluss der Besprechung der einzelnen Psychosen nochmals eine atiologisch geordnete Uehersicht derselben gegeben werden. Desgleichen wird aus ahnlichen Griinden am Schluss noch eine kurze Uebersicht iiber die Psychosen vom Standpunkt ihres Gesammtverlaufes aus (ob transitorisch, recidivirend, periodisch, circular u. s. w.) gegeben werden. Der Hauptbesprechung wird jedoch ausschliesslich das oben gegebene Schema zu Grunde gelegt werden.

18*

27G

Manic.

J. Psjcliosen olmo Iiitcllio'onzdefect.

A. Einfjiche Psychoseii.

1. AfiFectlve Psychosen. a. Die Man ie.

Die Manie ist eine Geistesstorung, welche diirch zwei primare Haupt- symptoine ausgezeichnet ist, namlich durcli

1. heitere Verstimmung (Exaltation) und

2. Beschleunigung der Ideenassociation.

Eine Theilersclieinung der letzteren ist die niotorische Agitation. Wie alle iibrigen Kindenassociationen beschleunigt sind, so ist aucli die Association inotorischer Rindenerregimgen beschleunigt. So entsteht der krankhafte Bewegungsdrang des Maniakalischen. Da dies Symptom dem Beobachter sicli meist am augenfalligsten darstellt, hat man es haufig als. drittes Hauptsymptom der Manie aufgefiihrt. Ueber das gegen- seitige Verhaltniss der heiteren Verstimmung und der Bescldeuniguug des Vorstellungsablaufs bestehen sehr verschiedene Ansichten. Bald hat man die letztere als das einzige primiire Symptom bezeichnet und die heitere Verstimmung aus dem Geflihl der Erleichterung des Vorstellungs- ablaufs erklaren wollen, bald hat man die heitere Verstimmung als das primare Symptom iDezeichnet und die Beschleunigung des Vorstellungs- ablaufes als eine Eolgeerscheinung derselben gedeutet. Die klinische Be- obachtung spricht entschieden dafiir, dass beide Symptome primar und untereinander coordinirt sind. Worauf diese Coordination beruht, ver- mag die physiologische Psychologie noch nicht mit Sicherheit anzugeben.

S p e c i e 1 1 e S y m p t o m a t o 1 o g i e.

Affecte. Die heitere Verstimmung ist, wie die allgem eine Psycho- pathologie lehrt, das krankhafte Uebervviegen positiver Gefiihlstdne. Sie betrilft in gleicher Weise die Gefiihlstone der Empfindungen wie der Vorstellungen. So kommt es, dass 'der Maniakalische von „gbttlichen Zahnschmerzen^^ spricht, dass die einfachste Landschaft ihm „wunderbar verschout^^ erscheint, dass er die entsetzlichste Musik fiir „herrliche Har- monie^^ erklart. Die asthetischen und ethischen Gefiihlstone seiner Vor- stellungen sind ebenso alle nach der positiven Seite verschoben. Der Maniakalische schwiirmt fiir das Gute und Schbne. Er ist Optimist. Die Zukunft erscheint ihm ebenso wie die Gegenwart im hellsten Licht. Keine Enttiiuschung vermag seinen Humor dauernd zu stdren. Ganz besonders ausgesprochen ist stets die krankhafte positive Gefiihlsbetonung

Manie.

277

cler Empfindimgen und Vorstellungen des eigeneu Ichs. Der Maniakalische fiililt sicli gesund imd leistungsfaliig wie nie ziivor. Viele Kranke be- zeiclmeu sicli geradezu als .,verjlingt" oder „neiigeboren^^ Die eigene Bedentimg wii-d erlieblicli iiberschatzt. Der Kranke glaiibt, die ganze Welt stelie ilim olfen. Die Gefiible gegenliber deu Personen der Um- gebung sind verscliieden. Zimacbst bedingt die lieitere Verstimmung aiich bier positive Gefiihlstone. „Seid nmscblungen, Millionen!" war das Losungswort eines Maniakaliscben. Andrerseits bringt es die dominirende Ueberscliatzuug der eigeuen Personlichkeit mit sicb, dass der Kranke jeden Widersprucli und jeden Widerstand seiner Umgebimg doppelt un- angenebm empfindet und daher oft in maasslosen, wenn aucb meist rasch wieder verrauchenden Zorn geratb. So kommt es, dass die beitere Ver- stiinmung des Maniakaliscben sicb so sebr biiiifig mit Zornmlitbigkeit oder Eeizbarkeit verkniipft.

Gelegentlicb kann der Maniakoliscbe sogar weinerlicb sein. Die Wirk- licbkeit klart ibn gelegentlicb iiber die Hiilflosigkeit und Bedeutungs- losigkeit seines iiberscbatzten Icbs auf. Auf der Kobe der Exaltation antwortet der Kranke bierauf mit Zornausbriicben ; ist aber die Exalta- tion nocb nicbt oder nicbt mebr auf der Kobe, so ist der Kranke empfindlicb und weinerlicb. Haufig findet sicb aucb eine aus Reizbar- keit und Weinerlicbkeit gemiscbte Stimmung. Diese scbeinbar dem Grundaifect der Manie widersprecbenden Stimmungen sind, wie leicbt erklarlicb, im Beginn und am Scbluss der Manie sowie wabrend gelegent- licb er Remissionen und endlicb aucb bei den leicbteren Formen am baufigsten.

Das seltene Vorkommen depressiver Pbasen und Angstanfiille wird bei der Darstellung des Verlaufes der Manie erwiilint werden.

Empfindimgen. Auf dem Gebiet der Empfindimgen zeigen viele Maniakaliscbe keine Stoning. Die Reizscbwelle ist nicbt merklicb berab- gesetzt. Inbaltlicbe Storungen der Empfindung feblen in vielen Fallen vollstandig. Nur in etwa einem Fiinftel der Falle treten Hallucinationen auf. Meist bandelt es sicb um Visionen. In der Regel sind dieselben durcb Mannicbfaltigkeit und Beweglicbkeit ausgezeicbnet. Tbiere, Land- scbaften, Fratzen werden am baufigsten geseben. Der Inbalt der letzteren entspricbt nicbt stets der krankbaften Heiterkeit des Patienten. Vereinzelt finden sicb aucb Gescbmacks-, und Berubrungsballucinationen. Haufiger als Hallucinationen sind Illusionen. Aucb unter diesen berr- scben Gesicbtstauscbungen vor.

Eine Priidisposition fiir Hallucinationen und Illusionen zeigen Indi- viduen in sebr jugendlicbem oder sebr vorgeriicktem Alter sowie Alko- bolisten. Endlicb begiinstigen cbroniscbe Paukenboblencatarrbe speciell das Auftreten von Gebbrstauscbungen bei der Manie,

278

Manie.

Diejenige Form cler Manie, bei welclier es zu massenliafteren Sinnes- tauscbungen kommt, wird aiicli als Mania hallucinatoria bezeichnet.

Die Vorstellnngen des Maniakalisclien zeigen in forma ler 15c- ziehung den beschleunigten Ablauf, welcher ol)en als ein IIaui)tsymi)tom der Krankheit angeiuhrt wurde. Diese Bescbleunigung der Ideenasso- ciation kommt in den verschiedensten Graden vor. Bald besclirankt sie sicli aiif ein leiclites ^ideenfliichtiges Geplauder^^, bald steigert sie sich zu ausgesprocliener „Ideeufluclit^^ Am einfacbstcn deukt inaji sich die Bescbleunigung der Ideeuassociation dadurch entstanden, dass die Pir- weckbarkeit der latenten Plrinnerimgsbilder in pathologisclier Weise ge- steigert ist. Sprachlich iiussert sich die Ideenflucht in der sog. Logor- rhoe, Wie fast stets bei Bescbleunigung der Ideeuassociation, gewinnen auch bei dem Maniakalischen Aehnlichkeitsassociationen mehr Bedeutung als bei dem Gesunden. In den leichteren Graden der Kraidcheit verrath sich dies nur in einer Neigung zu Wortspielen, Wortwitzeu und dialec- tischem Wortklauben, in den schwereren Graden kommt es zu Allitera- tionen und Keimen. Der Zusammenhang der Ideeuassociation bleibt in den leichteren Graden der Ideenflucht noch gewahrt. Die Kranken

schweifen oft ab, flechten Parenthesen ein, iiberspringen gelegentlich Zwischenglieder, aber sie flnden den Faden doch noch wieder und machen sich verstandlich. In den schwereren Fallen kommt es zu secundarer Incoharenz. Die ausserlichen Associationen nach der Aehnlichkeit des Wortklangs iiberwiegen vollstandig. Die Kranken kommeu vom Hundertsten in das Tausendste und verlieren fortwahreud den Faden. Schliesslich geht der Satzzusainmeuhang verloreu und in den schwersteu Fallen reihen die Kranken ganz beliebige Worte ohne irgeud welchen inneren Zusammenhang und ohne Satzconstructiou in fliegender Hast aneinander. Es kommt also zu ausgepragter secundarer, d. h. durch Ideenflucht bedingter Verbigeration. Diese Verbigeration ist je nach dem Bildungsgrad resp. Wortschatz des Kranken bald ziemlich monotou bald sehr wechselnd. Substantiva und Adjectiva herrscheu in der Regel vor.

Die Bescbleunigung der Ideeuassociation fiihrt noch zwei Corollar- symptome mit sich, namlich erstens den gesteigerten Bewegungsdrang und zweitens die Steigerung der Aufmerksamkeit. Von ersterem wird bei den Handlungen der Maniakalischen die Rede sein. Die letztere, die Steigerung der Aufmerksamkeit (Hyperprosexie), betrifft den Associations- vorgang, durch welchen an eine Empfindung die erste Vorstelluug au- gereiht wird. Bei dem Maniakalischen ist auch dieser Associations- vorgang beschleunigt. In Folge der abnormeu Erweckbarkeit aller latenten Erinnerungsbilder Ibsen auch Empfiudungeu, welche bei dem Gesunden viel zu schwach wiiren, eine Vorstelluug auzuregen und somit

Manie.

279

die Aufmerksamkeit auf sich zu zielieu, Vorstellungen aiis und erregeu die Aufmerksamkeit. So kommt es, dass der Mauiakalisclie jede kleine ^'eriinderuug in der Toilette seiner Umgebung bemerkt, jedes Gerauscli auffiingt n. s. f., und an die scliwiiclisten Sinneseindriicke Benierkungen, namentlicb Witze und Reniiniscenzen anknlipft. Dass diese Steigerung des Aufmerkens zugleicli eine Concentration der Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand im hocbsten Maase erschwert, liegt auf der Hand. In jenen scliweren Fallen, in welclien die Bescbleunigung der Uindenassociationen zu secundarer Incoharenz fiibrt, kommt es nicht selten aucli zu secundarer Unorientirtheit : die Kranken wissen weder Datum nocli Aufentbaltsort anzugeben.

Inbaltlich sind die Vorstellungen des Maniakalischen oft ganz intact. Zunacbst sind die einzelnen Erinnerungsbilder in voller Schiirfe und Deutlichkeit erbalten. Die Sclinelligkeit der Eeproduction tauscht geradezu eine Steigernng des Gediichtnisses (Hypermnesie) vor. Ebenso sind die Urtheilsassociationen zunacbst vollig normal. Oft ist der Kranke selbst ebenso wie seine Umgebung zunacbst erstaunt, wie rascb nnd ricbtig der Kranke selbst complicirte Begriffe zn Urtbeilen verbindet. Dies erleidet freilicb mit dem Ansteigen der Krankbeit eine wesentlicbe Einscbriinkung. Erstens namlicb fiibrt die Ideenflucbt, wie oben bereits erwiibnt, in ibren boberen Graden zn Incobarenz und macbt scbliesslicb alle Urtbeilsassociationen unmoglicb, und zweitens fiibrt die Affectstorung scbliesslicb zu einer inbaltlicben Stoning der Urtbeilsassociationen. In letzterer Beziebung kommt namentlicb die krankbafte Lustbetonung der Icb-Empfindungen und Icb- Vorstellungen in Betracbt. Diese fiibrt dazu, dass der Kranke mit seinem Icb allerband Vorstellungen der Ueber- scbatzung verkniipft. In den leicbteren Graden bescbriinkt sicb dies auf einfacbes Prablen mit korperlicber Starke und Scbonbeit und geistigen Fiibigkeiteu. In den scbwereren Graden kommt es zu wirklicben Grossen- ideen. Der Kranke spricbt von Keicbtbiimern, die er gar nicbt besitzt. Er erzilblt von boben Connexionen, Beziebungen zu alien europiliscben Hofen u. dgl. mebr. Andere construiren sicb einen adligen Stammbaum und unterscbreiben sicb mit „von^b Weiblicbe Kranlie fabeln von aller- band vornebmen Verlobungen. In den scbwersten Graden bebaupten die Kranken direct: icb bin der Kaiser, die Landratbin, die Mutter Gottes, die Braut Cbristi, icb bin Millionarin u. s. f. Ein ISjabriger maniakaliscber Junge vom Lande stellte sicb mir als Doctor der Pbilo- sopbie vor. Dieser Grossenwabn erstreckt sicb aucb auf Vergangenbeit und Zukunft. Die fabelbaftesten Erlebnisse werden bericbtet, die gross- artigsten Plane gescbmiedet. Dabei sind diese Grbssenideen baufig durcb grosse Eliicbtigkeit ausgezeicbnet. Kedet man dem Kranken ein- dringlicb zu, er solle keine solcbe Tborbeiten reden und sicb besinnen,

280

Manie.

so gelingt es iu vieleu Fallen clem Kranken das Gestandniss zu entlocken class alles „nur Sclierz" oder „nur Komddie'^ sei. Dies latente Kranklieits- bewusstsein Imweist am besten, dass die Grdsseniclee adectiven Ursprungs imd mcht primar ist. Mitiiuter gel)en die Kranken naclitraglich in der lleconvalescenz selbst ganz richtig an, dass ilire „ubermutliige Laune odei ibre Unriihe sie auf solche Gedankeu gebracht habe“.

Dieser Grossenwahn tlieilt sicli zuweilen auch der Auffassimg der Umgebung mit. So behaiiptete eine Kranke, dass die vom Fenster'^ilires Zimmers sicbtbaren Hiigel die Berge der Riviera seien Anclere ver- muthen in ibren Mitkranken verkleidete bobe Persbnlicbkeiten. Die ganze Aufnabme in die Anstalt ist ibnen ein Karnevalsscberz , in der Anstalt soil ibre Vermablung mit einem boben Herrn gefeiert werclen. Aucb bier lacben die Kranken, wenn man scbarf in sie eindringt, iiber ,,solcben Unsinn^^ Selten feblt das Krankbeitsbewusstsein fur cliese illusionaren Auslegungen der Manie vollstanclig.

Anclere Wabnicleen als die soeben angefubrten Grossenicleen sind bei der Manie sebr selten. In den voriibergebenden spater zu erwalmen- clen Angstanfallen kommen Angstvorstellungen entsprecbenden Inbalts (der Versundigung, der Verfolgung, zuweilen aucb bypocboudriscbe Wabnvorstellungen) ab unci zu vor. Voriibergebend konneu aucb Halluci- nationen Verfolgungsideen bervorrufen. Die weiuerlicbe Reizbarkeit cles Reconvalescenzstacliums fiibrt biiufig zu einem unbestimmten Wabn der Zuriicksetzung. Der Kranke aussert: „mit mir meinen es natiirlicb alle scblecbt, icb bin immer das Ascbenbroclel" u. s. f.

Die Hand lung en cles Maniakaliscben sind entsprecbend der patbo- logiscben Gefiiblsreaction unci der Bescbleunigung der Associationsvor- gange gestort. Am becleutsamsten ist die letztere, inclem sie direct zu clem bereits eingangs erwabnten Beweguugsdrang, der motoriscben Agita- tion Anlass giebt. Dieser Bewegungsdrang aussert sicb zuuacbst iu einer imermiidlicben Logorrboe. Die Kranken sprecben fast uuuuter- brocbeu unci mit erstaunlicber Zuugenfertigkeit. Oft lassen sie sicb kaum Zeit luterpunctiouen einzubalten. Keinen anclereu lassen sie zu Woit komnieu. Fortwabreud fallen sie iu die Rede. Keiu Gebeiinniss bebalten sie fiir sicb. Sie gelten daber bald fiir tactlos und incliscret. Meist kommt binzu, dass die Kranken mit scbreieucler Stimme sprecben. Oft zeigt sicb aucb eine Neigung zu cleclamirencler Betonung. Der Vor- liebe fiir Reime wurde bereits geclacbt. Viele Kranke lieben gewablte Ausdrlicke, anclere miscbeu frauzosiscbe Brocken ein. In den boberen Gracleu der Krankbeit singen die Kranken stuucleulaug, in den bocbsten kommt es zu unarticulirtem Briillen. Ebeuso ist aucb der Gesicbts- ausclruck und die Gesticulation veriindert. Die Augen sind eutspre- cbencl der Stimmungsverancleruug eber weit geoffnet, das ganze Gesicbt

Manie.

281

lacht*). Das ]\iienenspiel fal^t durcli grosse Lebhaftigkeit auf. Die Gesti- cnlatiou ist gesteigert. Eine auffiillige Eitelkeit macht sich geltencl. Der Kranke liebt anffiillige Kleidnng. Weiblicbe Kranke werdeu kokett, stecken sich Bhimen ins Haar, schmucken sich mit auffiillig bimten Bandern, Avecliseln fortwabrend die Erisureii, decolletiren sich in indecenter Weise. Der Kranke mocbte ,,die gauze Welt nmarmen". Er sitzt selten still. Eine fortwalirende Unrulie treibt ilm umber. Oft bat der Gang etwas Tiiuzelndes. Er betastet alle Gegenstande**), redet fremde Personen wie alte Bekauute an, scbliigt Vorgesetzten gegenliber einen cordialen Ton an. Eine imermudlicbe Gescbaftigkeit treibt ibn Tag und Nacht umber. Seine Unternebmungslnst verleitet ilm zn gewagten gescbaftlicben Specula- tionen. Hindernisse existiren flir ibn nicbt. . Er schreibt zabllose Briefe, setzt Annoncen in die Zeitung nnd verfasst Gedicbte. Alle sinulicben Begierden siud dnrch die beitere Verstimmimg gesteigert nnd setzen sicb in Folge des gebobenen Selbstgefiibls und der Bescbleunigimg der motoriscben Keactionen sofort in entsprechende Handlimgen um. Der Kranke lebt daber weit iiber seine Verbaltnisse binaus. Er macbt kost- spielige Reisen. Besouders biinfig sind Alkobolexcesse, die ibrerseits oft znr Steigerung der Kraukheit beitragen. Am bedentsamsten sind die krankhaften Handlimgen auf sexuellem Gebiet. Der Kranke reisst, seiner sonstigen Gewobnbeit ganz zuwider, Zoteu. Uniiberlegte Ver- lobimgen kommen zn Staude. Grobere sexnelle Excesse, bald anf nor- malem Wege, bald dnrcb Masturbation, bleiben nicbt aus.

Mit seiner Umgebimg geriitb der Kranke fortwiilirend in Couflicte. Sein Renommiren fordert den Widersprucb der Umgebimg geradezii beraiis, und sein gehobenes Selbstgefiibl vertriigt keiiien Widersprucb. Hier kommt namentlicb die Zornmiitbigkeit des Kranken znr Geltimg. Er wird bei Disciissionen leicbt bandgreiflich. Mitimter fiibrt der Jiih- zorn zii scbweren Korperverletzimgen. Namentlicb der Biertiscb ist dem Kranken in dieser Bezielmng gefabrlicb: bier kommt es zn Injiirien (z. B. aiicb Majestatsbeleidigimgen) nnd Scblagereien. Da der Kranke Aiitoritaten wiederiim in Folge seines gebobenen Selbstgefiibls nicbt anerkennt, so ist „Widerstand gegen die Staatsgewalt^^ imgemein baiifig.

In den seitber betracbteten FMlen waren die Handlimgen des Kranken nocb immer von znsammenbaugenden Vorstellimgen (Motiven) beherrscbt. In den scbwereren Fallen werden die motoriscben Reactionen mebr und mebr vom Spiel der Motive imabbiingig. Zii letzterem bleibt bei der Fliicbt der Associationen eben gar keine Zeit. Die Heinmiingen,

*) Vgl. (lie physiognomische Tafel Fig. 1.

**) Auch Diebstable kommen zuweilen vor: cler Kranke glaubt alles sein eigen, bei der Gescbwincligkeit seiner Associationen wird er geradezn von seinen eigenen Handlimgen tiberrascht.

282

Manie.

iiber welclie cler Gesiiude verfugt, kommen uicht melir zur Geltung. Die Kianken piitzen sich in cler pliantastisclisten Weise auf. Ililufig koinnit es namentlich aucli l)ei weiblichen Krauken zu scliain- losem Eutblbsseii. In lortwalirendein Nestelii, Urinsalben und Koth- scliiiiieien aussert sicli der motorisclie Drang auf sexuellem Gebiet, weun anderweitigc Entladimgen unmbglich sind. Feblt Ueberwachung, so kommen brutale sexuelle Vergewaltiguugen vor. Mildcben aus guter kamilie eigeben sich der Prostitution oder einem wildfremden Mann. Der motorisclie Drang und der patliologisclie Zorn des Kranken ricbtet sich auch gegen Sachen. Er zcrreisst seine Kleider, zerstbrt Mobiliar, poltert gegen Thlir und Wiinde unter unarticulirtem Schreien. Kurz, es entwickelt sich das Bild einer ausgesprochenen Tobsucht. In den schwersten I alien kbnnen die motorischen Acte scheinbar ganz regellos werden. Es kommt zu den riicksichtslosesten Jactationen, mitunter auch zu Zahuekuirschen. Der Unerfahrene kann geradezu den Ein- druck .gewinnen, dass es sich urn Convulsionen handle. Der Kranke lasst Koth und Urin unter sich, weil zahllose anderweitige motorisclie Entladimgen iliiii keine Zeit lassen, den Nachtstuhl aufzusuchen. Die Nahrungsaufnahme , die schon in den leichteren Fallen dadurch gestort ist, dass die Kranken durch jeden Sinnesreiz von clem Essen abgelenkt werden, hort jetzt fast ganz auf: das Essen wire! umher geworfen, an die Wiinde geschmiert, dem Krankenpfleger ins Gesicht geschiittet u. dgl.m.

Sehr bemerkenswerth namentlich in den leichteren Fallen ist auch die Art und Weise, wie der Kranke Vorhaltungen wegen seiner krankhaften Handlungen begegnet: meist sucht er niimlich zuweilen mit grosser dialectischer Gewandtheit nachtriiglich seine krankhaften Handlungen zu motiviren, zu entschuldigen und zu beschonigeu*). Seltener haben die Kranken genug Einsicht, den wirklichen Ursprung ihrer krank- haften Handlungen (aus der Aifectveranderung und Associationsbe- schleunigung) selbst zu erkennen. Alan bezeichnet die Neigung der Alaniakalischen zu derartigen dialectischen Eechtfertiguugsversuchen als den riisonnirenden Charakter der Alanie und hat diejenigen Fiille von Manie, bei welchen dieser riisonnirende Charakter besonders aus- gesprochen ist, als Manie raisounante bezeichnet.

So mat is die Symptome s. str. Liilimungen und Aniisthesien fehlen vollstiindig. Die Schmerzempfindlichkeit ist oft herabgesetzt. Haufig, namentlich bei jugendlichen Kranken, finden sich ausgepriigte Druckpunkte, namentlich im Rumpfgebiet. Spontane Schmerzen und Parasthesien sind selten ; nur iiber Kopfschmerzen wire! otter, namentlich

*) So entschuldigte sich z. B, eine Kranke, welche ihr gesammtes Essgeschirr zerschlagen batte, lachend damit, dass „beute doch der Polterabend der Prinzessin, welcbe sicb demnaebst verheiratbe, gefeiert werde“.

Manie.

283

ini Beginn unci gegen Schluss der Krankheit geldagt. Die dynamo- nietrisclie Messung des Hilndcdriicks ergiebt keine die Norm iiber- steigenden Wertlie. Liisst man den Druck auf das Dynamometer in Zwisclienraumen von einer lialben Minute iviederliolen , so tritt in man- clien Fallen auffallend viel spiiter als sonst Ermildung ein.

Audi die eigenartigeu Empfiudungen der Ermlidung fehlen clem Maniakalisdien baulig vollstandig. Damit biingt zusammen, class Scblaf- losigkeit eiues der constantesten Symptome.fast jecler Manie ist.

Die liautreflexe sincl zuweilen, namentlidi bei jugenclliclien Fallen, gesteigert. Die Sebnenplianomene sowie die idiomusculare Erregbarkeit sincl meist stark gesteigert; ab unci zu ist fiir die Dauer der Krankheit Fussdonus nacbzuweisen. Die Pupillen sincl mitunter etwas erweitert, die Reactionen prompt, aber zuweilen etwas wenig ausgiebig.

Die Korper temp era tur ist normal, zuweilen sogar subnormal. Nur in den scbwersten Fallen, in welchen die Ideenflucht sich zu in- coharenten Verbigerationen steigert unci die motorische Agitation zu ganz regellosen Jactationen flibrt, werclen Temperatursteigerungen (zu- weilen bis 39,5“) ohne complicii’encle somatische Erkrankung beobaclitet. Die peripheren Arterien sind baufig stark contrahirt, gelegentlich weidit der Gefcissspasmus auch ausgesprodienen Vasoparesen. Dementsprechend ist das sphygmographische Bilcl ein sehr wediselndes. Audi die Haut- itemperatur ist grossen Sdiwankungen unterworfen. Die Pulsfrequenz ist baufig niedriger als normal.

Die Scbweisssecretion erscbeint in Anbetracbt der starken Muskel- tbatigkeit meist auffallend geringfugig, die Speicbelsecretion oft zu aiis- gesprocbener Salivation gesteigert.

Gastrisdie Stor ungen sincl im Beginn der Manie fast stets zu finclen. Im weiteren Verlauf bessern sicb dieselben zuweilen in auffalliger Weise. Hartniiddge Obstipation kommt ab unci zu vor. An die Stelle der an- fanglicben Anorexie kann spiiter Bulimie treten. Der Stoffwecbsel der Manie ist nodi nidit griindlicb imtersucbt worclen. Wenn scbwere In- cobiirenz unci Jactationen sicb einstellen, also in den cleliranten Ziistanclen der scbwersten Fiille ist oft Albiiminurie bezw. Propeptonurie zu con- statiren. Ancb hyaline Cyfinder finclen sicb ofter auf der Hobe der Er- regung. Das Korpergewicbt nimmt in der Regel mit zunebmencler Erkran- kung stetig ab. Sobalcl die Berubigung beginnt, baufig scbon etwas vor- her, nimmt das Korpergewicbt rasch zu. Nicbt selten finclet man iibrigens auch eine voriibergebencle Korpergeivicbtszunabme im Beginn der Er- krankung, nacbclem die Anorexie des clepressiven Vorstacliums gewicbenist.

Verlauf. Der Verlauf der Manie lasst gewobnlicb 3 Staclien er- kennen: ein clepressives Vorstaclium, das exaltirte Hauptstaclium unci ein clepressives Nacbstadium.

284

Manie.

In clem Vo r stadium ist die Stimmung gedriickt. Das Selbstvertrauen schwindet melir und mehr. Ilypochondrische Besorgnisse c^ualen den Kraukeii. (jelegentlicli treten auch leichte Beiingstigungen mit Neigung zii Selbstanklagen imd Lcbensiiberdriiss aiif. Die Associationsvorgange zeigen eine leichte Ilemmung. Die geistige Leistungsfaliigkeit scheint lierabgesetzt. Die Kranken arbeiten langsain imd olme Lust; zuweilen hiiteii sie das Bett. In ihren Entscbliissen zeigt sich eine auffilllige Zag- haftigkeit. Dazu kommen gastrische Bescliwerden, Kopfdruck und all- gemeines Mattigkeitsgefiihl. Das wiclitige Symptom der Schlaflosigkeit zeigt sich meist schon jetzt. Selten fehlt dies depressive Vorstadiuin ganz. Seine Dauer betriigt durchschnittlich 4-8 Wochen.

Das Hauptstadium der Krankheit entwickelt sich aus dem ini- tialen Depressionsstadium meist allmahlich binnen einiger Tage oder Wochen. Die heitere Verstimmung, die Beschleuniguug des Vorstellungs- ablaufs und der Bewegungsdrang verdrangen mehr und mehr, zuweilen unter einigem Hin- und Herschwanken die Depression, die Denkhemmung und die motorische Tragheit. Der weitere Krankheitsanstieg erfolgt mit sehr verschiedener Greschwindigkeit und bis zu sehr verschiedener Hohe. Bei den leichteren Formen, der sog. maniakalischen Exaltation oder Hypo manie (Mania levis) bleibt es bei einer niiissigen Ausgelassen- heit, deren pathologischer Charakter oft nur dadurch festzustellen ist, class man von den Angehbrigen in Erfahrung bringt, class die jetzige Stimmungslage des Kranken seiner frilhern Stimmungslage und seinem Temperament in gesunden Zeiten gar nicht entspricht. Die Beschleu- nigung des Vorstellungsablaufs aussert sich nur in einer unermudlichen Eedseligkeit und fortwahrenden Abschweifungen. Die Kranken schreiben viel, machen unniitze Einkaufe, begehen Trinkexcesse, werden putz- und vergniigungssiichtig, renommiren, kokettiren, fangen leicht Handel an; auch Excesse in Venere et Mcotiana sind haufig. Bei der Mania gravis, der schwereren Form, erfahren alle Symptome die oben in der speciellen Symptomatologie ausfiihrlich erbrterte Steigerung. Es tritt wirkliche Ideenflucht ein, die motorische Agitation wire! dem Einfluss hemmender Vorstelhmgen ganz entriickt und steigert sich zu ausgepragter Tobsucht. In den schwersten Fallen endlich, welche man frliher dem veralteten Delirium acutum subsumirte, steigert sich die Ideenflucht bis zu secun- clarer Incohiirenz (Verbigeration und secundare Unorientirtheit), und die motorischen Entladungen werden so jah und regellos, class ein Einfluss des Vorstelhmgslebens auf dieselben iiberhaupt nicht mehr nachweisbar ist. Meist stellt sich in diesen schwersten Fallen auch Fieber ein.

Das Hauptstadium der Krankheit klingt, falls der Tod nicht eintritt, meist ganz allmahlich aus. Das erste Zeichen der bevorstehenden Ge- nesung ist in vielen Fallen die Besserung des Schlafes. Sehr haufig ist

Manie.

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(ler Kranldieitsverlanf auf cler Holie der Krankheit ein remittirencler. Aucli weuu die Krankheitsliuhe bereits uberscliritten ist, siud Eeexacerba- tionen sebr baufig. Beim weibliclieu Gesclileclit kniipfen dieselben gern an die Menstruation an. Zur Zeit der letzteren pflegt iiberlianpt in vielen i Fallen die Krankheit sicli am intensivsten zii ilussern. Die Handlungen ! der Kranken wahrend des Abklingens der Erregung haben oft etwas I auffallig Albernes imd Kindisclies, so dass geradezu der Uebergang in I Schwachsinn vorgetauscht wird.

i Mit dem Abklingen der Erregung erfolgt in den giinstigen Fallen j der Eintritt in ein depressives Nachstadium. Dasselbe ist gegen das Erregungsstadium niemals scharf abgesetzt. Selten fehlt es ganz. Die Kranken sind in diesem Nachstadium launenhaft, reizbar und empfindlich. Die Steigerung ihres Selbstgefiihls wirkt aus dem Erregungsstadium oft noch nach: aber die Kranken beinerken jetzt den Contrast, welchen die Wirklichkeit zu ihren „hochfliegenden Traumen'' bildet. Demgemass sind sie weinerlich. Hier tritt auch haufig der oben erwiilmte Zuriicksetzungs- wahn auf, wenn einer der noch immer zahlreichen Wiinsche dem Kranken . abgeschlagen wird. Spater macht das gehobene Selbstgefiihl oft einem Mangel an Selbstvertrauen Platz. In anderen Fallen kommt es zu leichten Beiingstigungen. Mitunter besteht auch eine leichte reactive Denkhem- mung. Die verkehrten Handlungen auf der Flohe der Erregungen geben ' offers Stoff zu allerhand Selbstanklagen.

In seltenen Fallen steigern sich die Symptome dieses depressiven Nachstadiums so sehr, dass letzteres als eine neue Psychose impouirt. Diese neue reactive Psychose bietet dann entweder das Bild der Melan- cholic oder das Bild der Stupiditat. Im Allgemeinen hat man, wenn eine Melancholie auf eine Manie folgt, zu fiirchten, dass es sich nicht um eine einfache Manie handelt, sondern um die maniakalische Theilphase eines cir- cularen Irreseins (s. u.), dass mithin eine neue maniakalische Erkrankung auf die Melancholie folgt. Die F'alle, in welchen die Melancholie ledig- lich eine Weiterentwickehmg des depressiven Nachstadiums darstellt, sind selten.

Die durchschnittliche Dauer der Manie betragt etwa 5 Monate. Doch sind Falle bekannt, welche iiber ein Jahr dauern.

Ausgange und Prognose. Folgende Ausgange der Manie kommen vor:

1. in Heilung. Solche wird in etwa 90% tier Falle beobachtet.

2. in Tod. Derselbe tritt in ungefahr 5% der Falle ein und zwar bald durch intercurrente Krankheiten, bald in Edge der Grundkrankheit, auf deren Boden auch die Manie selbst sich entwickelte (Nephritis u. dgl.), bald in F’olge von Flerzschwache. Die schwersten Falle der Mania gravis mit Unorientirtheit, Incoharenz, Verbigeration, Jactationen und Fieber

28G

Manie.

sind zugleich aucli die lebcnsgofillirliclisten. C.'omplication mit Alkoholis- mus odor lleivdcraukheiten erhdht die liobensgefalir stets ganz wesentlich.

3. in secundilro Demenz. In etwa 10% der FiUle stellt sich ein danernder Defect der Intelligenz ein. Dald ist dieser Defect so un- erlieblich, dass man von einer „lleilung mit Defect^^ spreclien kann. Derselbe vemitli sich dann meist nur in einer Abnalime der geistigen Interesseii und I^iinengiing des geistigen Ilorizonts, in einer leichten Ein- biisse der lioheren etbisclien und asthetischen Gefiihle und in einem Mangel an Energie und Selbststandigkeit. Mit der Annahme eines solclien Defects muss man iibrigens sebr vorsichtig sein, da, wie envillint, im Ver- lauf der Keconvalescenz manclie Maniakalische, die spiiter in voile Ge- iiesung iibergehen, ein eigenthiimlicli schwacbsiuniges Gebahren zeigen; namentlich ist zu beachten, dass letzteres viele Monate zuweilen an- lialten und dock noch Eestitutio ad integrum erfolgen kann. In anderen Fallen ist der Intelligenzdefect viel erbeblicher : es entwickelt sich eine ausgesprochene secundare Demenz. Hier haben Gedachtniss und Urtheils- kraft eine dauernde erhebliche Einbusse erlitten. Die Kranken behalten dauernd ein kindisches Gebahren. Die urspriingliche Aifectstorung kann vollig verschwinden. Hilufig werden aus dem Exaltationsstadium einzelne Grossenideen in die secundare Demenz mit hiniibergenommen. Zu einer Systematisirung derselben kommt es in Folge des Intelligenzdefectes nicht. Es fiillt geradezu auf, dass der Kranke aus seinen Grossenideen gar keine Consequenzen zieht. Das Bewusstsein fiir die Krankhaftigkeit derselben ist vollig erloschen. Gelegentlich treten auch abgerissene Persecutionsideen hinzu. Sehr haufig tauchen jetzt Hallucinationen aller Sinne auf. Die Handlungen der Kranken bleiben oft dauernd von der maniakalischen Agitation beherrscht ; in anderen Fallen erlischt der Be- wegungsdrang allmahlich. Wo die Agitation bestehen bleibt, fallt das- Zwecklose und Alberne der agitirten Handlungen auf. Diese secun- dare Demenz hat meist einen langsam fortschreitenden Charakter. Die lieilung mit Defect ist stabiler. Zwischen beiden finden sich zahlreiche Uebergange.

W e 1 c h e Falle von Manie zu diesem ungiinstigen Ausgang in secun- dare Geistesschwilche pradis^jonirt sind, ist noch nicht sicher festgestellt. Meist handelt es sich um Individuen, welche schon mehrmals eine Manie durchgemacht haben und nun schliesslich einem schweren Anfall uuter- liegen.

4. in secundare Paranoia. Dieser Ausgang ist sehr selten. Die Hallucinationen und Wahnideen, welche sich nach einer ungiinstig ver- laufenden Manie einstellen, sind, wie unter 3 erwahnt, fast stets Begleit- symptome der secundilren Demenz. Das postmanische Auftreten von Hallucinationen und Wahnideen ohne Intelligenzdefect, d. h. also der.

Maiiie.

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Ausgang in secuncUire Paranoia, konimt unter 100 Fallon kaum ein- ^ Dial vor.

5. in chronisclie Manie: liier lialten heitere Vcrstiinmung, Ideen- , fluclit und Bewegungsdrang olinc Intelligenzdcfect viele Jalire an. Dieser j Ausgang ist nocli seltencr als dor unter 4 erwahntc. i Bci dieser Aufzahlung sind diejenigen Manien nicht oingerechnet worden, welclie die Tlieilphase eines periodisclien Irreseins (periodische Manie) oder eines circularen Irreseins darstellen. Abgeselien naralicli von einer ziemlicli ausgesproclienen Neigung zu llecidiven innerlialb grosser unregelmassiger Zwisclienraume tritt die Manie aucb in einer beson- deren periodisclien Form auf. Bei dieser periodisclien Manie wieder- holen sich die maniakaliscben Anfillle in ziemlicb regelmassigen Zwiscben- riiumen. Folgt jedein dieser periodisch wiederkehrenden maniakaliscben Anfiille eine Melancliolie, so spricbt man von circular em Irresein. Von letzterem wird spiiter ausfiibrlicb die Rede sein. Die periodische Manie (ohne nachfolgende Melancholien) wird beziiglich ilirer klinischen Eigenthlimlichkeit bei Darstellung der Varietiiten der Manie genauer besprocben werden. Hier sind beide Vorkommnisse schon deshalb zu erwabnen, weil bei Stellung der Prognose die Moglichkeit, dass die in Bebandlung stehende Manie zu einer periodischen Manie bezw. zu einem circularen Irresein gehort, selbstverstandlich grosste Beachtung verdient. Vgl. aucb unter Diagnose.

Varietaten der Manie. Gewohnlicb unter scheidet man auf Grund der verschiedenen Intensitiit der Krankbeitsersclieinungen, wie oben bereits erwabnt, eine leicbtere Form, die Hypomanie, und die Mania grains. Zwischen beiden existiren begreiflicber Weise zabllose Ueber- gange. Neben diesen beiden Hauptformen bat man auf Grund des be- sonders auffalligen Hervortretens gewisser Nebensymptome offer nocb einige andere Formen uuterscbieden. So wurde z. B. scbon oben der „rasonnirenden Manie" gedacbt. Aebnlicb unterscbeidet man offer aucb eine „ballucinatoriscbe Manie" (Mania ballucinatoria). Bei dieser treten zu den typiscben Symptomen der Manie zablreicbere Plallucinationen und Illusionen binzu. Der Verlauf dieser ballucinatoriscben Form ist gewobnlicb etwas langwieriger und die Prognose etwas unglinstiger als diejenige der reinen oder typiscben Manie. In der Classification der Psycbosen bietet die ballucinatorische Form der Manie desbalb ein be- sonderes Interesse, weil zvfiscben ibr und der spater zu besprecbenden ideenfiiicbtigen Form der ballucinatoriscben Paranoia fliessende Ueber- giinge vorkommen.

Wichtiger sind die Varietaten der Manie, welcbe man auf Grund des Yerlaufes unterscbeidet. Friiber spracb man viel von transitori- scber oder peracuter Manie. Sorgfiiltigere Analyse bat ergeben.

288

Manie,

class lu diesen nur weuige Stunden dauernden Kranklieitsanfallen die charaktcristisclicn Symptome tier Manie garniclit vorhanden sind. Die Scltenheit tier chronisclien, d. li. unverandert bis zum Lebenseride Willirendeu Manie wurde oben bereits bervorgchoben. Dabei ist frei- licli binzuzufiigen, class die typisclie Manie zuweilen 1 Jabr und langer daiiern und claun in Heilung ubergelien kann. Selbstverstilndlicli stebt an sick nichts im Wege, solcken b alien auch das Priidikat „chronisch« beizulegen. Eine ungemein praktiscbe Bccleutung hat entllich diejenige Verlaufsvarietat der Manie, welche man als period! sc be Manie be- zeiclinet. Dieselbe ist abgesehen von der cbarakteristischeu periotliscli- regelnuissigen Wietlerkehr der Anfalle aiicli beziiglicli der Symptome und ties Verlaufes ties einzelnen Anfalls von der. typischen Manie ver- schieden. Die periodische Manie tritt entweder als periodisclie Mania gravis oder noch haufiger ~ als periodische Hypomanic auf. In seltenen Fallen wechseln schwere und leichte Anfalle. Mitunter zeigeu die ersten Anfalle der Krankheit noch keine regel mils sig- periodische Wiedeikehi, erst nach 3 oder 4 oder noch mehr Anfallcn kommt es zu einer strengen Periodicitilt der Anfalle. Es kann sich soniit eine perio- dische Manie auch auf Grrund wiederholter Rccithve eiuer einfachen Manie entwickeln. Die Dauer der einzelnen Anfalle schwankt innerhalb weiter Grenzen, meistens betriigt sie mehrere Wochen oder Monate, in seltenen Fallen nur 1 2 Tage. Das sogenannte freie Intervall zwischeu den Anfallen betragt gleichfalls einige Monate, zuweilen sogar einige Jahre, selten nur einige Tage. Fiir den Ausbruch ties einzelnen Anfalls lassen sich zuweilen besondere Gelegenheitsveranlassungen gar nicht nachweisen ; nicht selten kniipft der Ausbruch ties einzelnen Anfalls an irgend eine gemuthliche Erregung an. Erheblichere Schiidlichkeiten, tleiien tier Kranke ausgesetzt wircl, bedingen hiiufig ein Anteponiren ties Anfalls, wilbrend eine sehr ruhige Lebensweise, z. B. in tier Anstalts- behandlung, die Intervalle vergrossert und die Anfiille hinausschiebt. In der Regel kehren die Anfalle bis zum Lebensentle wieder. Heilung wircl hochstens in 15 % tier Fiille beobachtet.

Die Symptome ties einzelnen Anfalls der periodischen Manie zeigen folgende Eigentliilmlichkeiten :

1. Das depressive Initialstaclium feblt sehr haufig; nur bei den ersten Anfilllen pflegt es noch deutlich ausges]5rochen zu seiu.

2. Die maniakalische Erregung steigt sehr rasch zu ihrer vollen Hohe an; meist ist auch der Abfall tier Erregung ein jaherer als bei tier gewohnlichen Alanie.

3. Das depressive Nachstadium ist kiirzer oder kann auch vollig fehleu.

4. Haufig treten einzelne Symptome, die tier gewohnlichen Manie nicht so regehnassig und nicht so ausgesprochen zukommen, mehr in den

Manie.

289

Vordergruud. Hierher gelioren auf psycliiscliera Gebiet der raisonni- I rende Charakter des Kranklieitsbildes, sowie die Neigung zu impulsiven ! Haudlimgen (alkoholistischen uud sexuelleu Excessen, Diebstahlen, Vaga- I bondage, Brandstiftung), anf kdrperlichem Gebiet schwere vasomotorische I Erscheinungeu (Wecbsel von Gefasslahmung und Gefasskrampf sowie j qiialende Kopfsensationen).

I Das Intervall zwiscben den Anfallen der periodischen Manie ist

nieistens nur Anfangs vollig rein. Haben sicb die Anfalle erst dfters wiederholt, so pflegt sicb in den Intervallen eine eigenthiiniliche geistige Scliwacbe benierkbar zu machen. Dieselbe betrifft weniger das Gedacht- niss und die Urtheilskraft der Kranken als ibre intellectuellen G e f u b 1 e. Der Patient biisst seine Interessen fiir Kunst, Wissenscbaft u. dgl. mebr und mebr ein. Er gewobnt sicb eine pedantiscbe regelmassige Lebens- weise an und findet in vollem Gegensatz zu seinen Neigungen vor der Erkrankung jetzt eine bebaglicbe Befriedigung in diesem stundenplan- miissigen Leben voller Kleinigkeiten. In psycbologiscb wobl verstand- licbem Zusammenbange biermit stebt, dass die Energie der Ki’anken regelmassig leidet. Neigung und Fabigkeit zu selbstandiger Tbatigkeit verscbwinden. Audi die Interessen fur die Familienangeborigen u, s. f. erkalten ; viele Kranken zieben sicb in den Intervallen vollig von der Welt zuruck. Das krankbaft tbiitige Benebmen und die gesteigerte gemutblicbe Keaction i n den Anfallen bebt sicb vom pblegmatiscben Da- sein der Kranken ausserbalb der Anfalle natiirlicb um so scbarfer ab.

Aetiologie. Die Manie ist, aucb wenn man die periodiscbe Manie ein- scbliesst, eine seltenere Erkrankung. Auf 100 Einlieferungen der Jenenser psycbiatriscben Klinik kommen z. B. durcbscbnittlicb nur 3 4 Manien. Bei dem weiblicben Gescblecbt ist sie etwas baufiger als bei dem mann- licben. Meist erfolgt der Ausbrucb im Alter von 12 25 Jabren. Im bbberen Alter ist sie selten. Bei Kindern unter 12 Jabren kommt Manie, allerdings gewbbnbcb in atypiscber Form, relativ nicbt selten vor. Aucb der erste Anfall der periodiscben Manie lasst sicb meist bis auf das Alter von 18 25 Jabren zuruckfubren.

Erblicbe Belastung iiberbaupt findet sicb bei etwa 75%, scbwere erblicbe Belastung bei 20 % . Die sogenannten Degenerationszeicben finden sicb bei 20% in grosserer Haufimg. Bei der periodiscben Manie speciell findet sicb erblicbe Belastung iiberbaupt bei 80%, scbwere erblicbe Belastung bei 50 %, eine grossere Zabl von Degenera- tionszeicben bei 40%.

Weitere atiologiscbe Momente pflegen sicb nocb fiir die specielle Zeit des Krankbeitsausbrucbes nacbweisen zu lassen. Gemiitbserscbiitte- rungen und intellectuelle Ueberanstrengung kommen auf psycbiscbem Gebiet, Inanition im weitesten Sinn auf korperlicbem Gebiet namentlicb

Ziehen, Psychiatrie. 19

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Manic.

in l)etraclit. Untcr den Geiniithserschiitterungen komint sowohl pldtz- liclier Sclireck wie aulialtender Kunimer in Betracht. Der Eintritt in eine neue, ungewolinte Beschilftigung giebt speciell bei Disponirten oft Anlass znm Ausbrucb eiuer Manie. Unter den Inanitionszustanden, welche zur Manie fiihren, sind besonders die Schwiichezustande nacli erscliopfenden Krankheiten, Blutverlusten, schweren Entbindungen und protrabirter Lactation zu nennen. Audi Menstruatiousstbrungen in der rnbertiit bedingen zuweilen eine Manie. Diese Manie kann sicli weiter- hin bei jeder Menstruation wiederliolen und so ein periodisclies mania- kaliscbes menstruelles Irresein sicb entwickeln.

Zuweilen bat man aucb bebauptet, dass Herzkranke eine gewisse Priidisposition flir Manie besitzen. Auf dem Boden der grossen Neurosen entsteht die Manie nur selten (Epilepsie, Hysteric, Chorea).

Die Hii-ngifte, welche Psychosen erzeugen, spielen speciell in der Aetiologie der Manie keine erhebliche Rolle. Zu erwahneu ist nur die Alkoholmanie. Auch diese ist eine der selteneren Psychosen, welche auf dem Boden des chronischen Alkoholismiis auftreten. Meist tritt sie unter dem Bild der Mania gravis auf. Die Ideenflucht steigert sich ausserst rasch zu secundarer Incoharenz, die motorische Agitation er- reicht sehr hohe Grade. Todtlicher Verlauf ist nicht selten. Auf dem Boden des chronischen Morphinismus kommt zuweilen eine iiber mehrere Mouate sich erstreckende Hypomanie vor, deren Symptome im Uebrigen von den gewohnlichen der Hypomanie kaum abweichen.

Auch nach Kopftraumen und Insolationen sind mitunter Manieu beobachtet worden.

Diagnose. Die Diagnose der Manie muss stets die beiden Haupt- symptome der Krankheit; die pi'imare heitere Verstimmung und die primare Beschleunigung des Vorstellungsablaufs sowie den mit letzterer in Zusammenhang stehendeu primaren Bewegungsdrang ins Auge fassen. Nicht jeder Kranke also, der abnorm heiter ist oder schnell denkt und sjiricht oder sich viel bewegt und gar tobt, leidet an Manie. Vielmehr ist die pathologische Exaltation, die Beschleunigung des Vorstellungs- ablaufs und die Agitation stets erst genau zu analysireu und speciell bedarf es einer genauen Untersuchung, ob die drei geuannten Symptome primal’ sind, Exaltation, Ideenflucht und motorische Erregung also nicht z. B. secundar auf Grund von Hallucinationen aufgetreten sind. Dieser Nachweis der primaren Natur der genannten Symptome ist in doppelter Richtung zu fiihren: erstens ist nachzuweisen, dass jetzt, d. h. zur Zeit der arztlichen Untersuchung, dieselben in allgemein-psychopathologischem Sinn primar, d. h. nicht auf andere Symptome zuriickzufiihreu sind, und zweitens ist nachzuweisen, dass auch im seitherigeu Verlauf der

Manic.

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Kraukheit dieselbeu die friihesten imd liervorstechendsten Symptome creweseu sind, wobei selbstverstiindlicli you Prodromalsymptomen ernes etwaigeu Vorstadiums der Krankheit abzuseben ist. Hat sonacli der erste 'Augenschein das Vorliandeuseiu der drei llauptsymptome gelehrt, so wil'd "^die Diagnose im Weiteren folgenden Weg einschlageu iniissen. I^Ian stellt zuerst durcli Befragen des Kranken oder besser der Ange- horigeu desselben fest, ob - abgeselien von einer etwaigen initialen De- pression — die jetzige lieitere Verstimmnng, die Logorrhoe und der Bewegnngsdrang von Anfang an das Krankheitsbild durchgangig be- lierrsclit baben. Dabei wird man in Erwagnng zielien miissen, dass die heitere Verstimmnng unter Umstanden (namlich dann, wenn die Um- gebnng des Kranken seiner pathologisclien Exaltation und Geschaftigkeit Widerstand entgegensetzt) fiir den Laien oft ganz durcli die zornmlitbige Erregung verdeckt iverden kann. Hat man in dieser Weise anamnestiscli den Priniat der 3 Hauptsymptome festgestellt, so stellt man durcli Be- fragen des Kranken fest, ob die 3 Symptome, wie sie augenblicklicli vorliegen, psycliopatbologisch primar oder auf andere Symptome zuriick- ziifiiliren sind. Von solclien anderen Symptomen kommen nament- lich Walinideen und Hallucinationen in Betracht. Finden sicli solche niclit, so ist der primare Cliarakter der drei Hauptsymptome ohne Weiteres gesicliert. Finden sicli liingegen Grossenideen und Hallucina- tionen exaltirten Inhalts, so ist weiter zu iintersuclien, ob die Grossen- ideen nur Erklarungsversuclie der primaren Affectveranderung und die Hallucinationen nur nebensacliliclie Begleitersclieinungen derselbeu dar- stellen oder ob primare Grossenideen und Hallucinationen Anlass zu secundarer Exaltation gegeben liaben. Nur im ersteren Fall liegt eine Manie vor. Bei eindringlicliem Fragen giebt oft der Kranke selbst an, dass ;,nur seine Unriilie und seine gute Laiine ibn auf solcbe Gedanken briuge^^, und entbiillt uns so den primaren Cliarakter seiner Exaltation. Audi die eindringlicbe Frage, ob der Kranke sicb nur liber seine vei- nieintlicben Standeserbbbungen u. s. w. und seine beiteren Visionen u. dgl. so freue oder im Allgemeinen sicb beiterer, gebobener und tbaten- bistiger als friiber fiible, fubrt oft zum Ziel.

Ist in dieser Weise der primare Cbarakter der drei Hauptsymptome festgestellt, so ist aucb daiiiit die Diagnose der Manie nocb niclit sicbei gestellt. Es bedarf vielmebr stets nocb einer genauen Untersucbung, ob diese Symptome die einzigen primaren Hauptsymptome sind. Nanient- licb kommt in Betracbt, ob nicbt auf kbrperlicbem Gebiet Labmungen, auf psycbiscbem Gebiet ein zunebmender Intelligenzdefect vorliegt. Nur wenn solcbe Symptome feblen, liegt Manie vor.

Abgeselien von diesen allgemeinen Gesicbtspunkten kommen speciell folgende dift’erentialdiagnostiscbe Punkte in Betracbt:

19*

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Manio.

1. Die Manie kann iiberselien werrlen. Diese Gefahr liegt natiirlich nur bei der Hypomanie nabe. Bei dieser balten sicb die Symptome zuweilen so selir im Bereich dessen, was wir gelegentlich auch als Charaktereigentlitinilichkeit bei gesunden Menscben finden, dass in der That zuweilen fraglicli sein kann, ob ein exaltirtes Temperament Oder Krankbeit vorliegt. Sicberbeit verscbafft bier nur die Anamnese. Hypomanie liegt dann vor, wenn nacbzuweisen ist, dass der augenblick- licb vorliegende Complex auffalliger psycbiscber Erscbeinungcn niclit von jeber bestanden, sondern gerade im Gegensatz zu dem friilieren Cliarakter des Individuums sicb zu einer bestimmten Zeit neu ent- wickelt bat. Sebr beweisend fiir Krankbeit ist selbstverstandlicb auch etwaiges periodiscbes Auftreten des Symptomencomplexes, sowie das etwaige Vorbandensein eines initialen Depressionsstadiums. Endlicb ist besonderes Gewicbt auf die Scblaflosigkeit der Hypomanie zu legen.

2. Die Manie kann mit folgenden Krankbeiten verwechselt werden :

a. Dementia paralytica. Diese bietet in dem sog. „Exaltations- stadium" eine ganz abnlicbe primare heitere Verstimmung, Beschleuni- gung des Vorstellungsablaufs und Agitation wie die Manie. Die unter- scbeidenden Merkmale gegeniiber der Manie sind der zunebmende Intelligenzdefect und die somatiscben Erscbeinungen, welcbe bei der De- mentia paralytica hinzukommen. Bei dem Paralytiker ergiebt die Anamnese, dass dem Ausbrucb der Erregung scbon langere Zeit Ge- dacbtnissscbwacbe vorausgegangen ist oder dass auffallige Taktlosigkeiten seitens des Kranken scbon begangen warden, als von ii'gendwelcber Exaltation nocb keine Rede war. Beides entbiillt den beginnenden Intelligenzdefect. Besonders. deutlicli zeigt sicb letzterer aucb in den secundaren Grossenideen, welcbe sowohl der Paralytiker wie der Mania- cus auf Grand seiner Exaltation entwickelt. Die Grossenideen des Paralytikers sind plump erfunden und maasslos, diejenigen des Maniacus haben meist einen geistreichen Zug und sind selten ganz widersinnig. Einwiirfe erwidert der Paralytiker mit einem hiilflosen Lacben oder mit dem Hinzufiigen neuer ebenso sinnloser Grossenideen, wabrend der Maniacus durcb Witze und Dialektik seine Grossenidee zu vertbeidigen sucbt oder lachelud ihre Krankbaftigkeit zugiebt. Die Grossenidee des Paralytikers kann man durcb entsprechende Suggestion beliebig steigern. Betiauptet er eine Million zu besitzen und bemerkt man, das sei docb wenig, so giebt er sofort nocb einige Millionen zu, warend der Maniacus selten in diese Falle gebt. In den Handlungen des Paralytikers ofi’en- bart sicb gleicbfalls der Intelligenzdefect: Das Cyniscbe und Witzlose unterscheidet dieselben von denjenigen des Maniakalisclien. Haufig liefert aucb die kbrperlicbe Untersucbung Anbaltspuukte : Facialisparesen,

Manie.

293

Piipillenstarre, Fehlen der Kniephanomene, Analgesie, hesitirende Sprache*) kommeu hier nameutlich als eutsclieidende Symptome fiir Dementia paralytica in Betracht. Die Abwesenheit der Symptome ist noch nicht beweisend fiir Manie, da alle diese somatischen Symptome nicbt selten aiicli im Exaltationsstadiiim der Dementia paralytica noch nicht zu deiitlicher Entwickelung gelangt sind.

Mit Hiilfe dieser Unterscheidiingszeichen gelingt es in der Kegel, die Differentialdiagnose zwischen Manie iind Dementia paralytica richtig zu stellen. Nur in den scbwereren Fallen tobsiichtiger Erregung versagen sie zuweilen , namentlich wenn zudem aus irgend einem Griinde eine genauere Anamnese nicht zu erlangen ist. Bei solcben Kranken ist eine exacte korperliche Untersuchung oft kaum durchzu- fiihren, und die hochgradige, oft von secundiirer Incoharenz begleitete Ideenflucht und motorische Erregung lasst ein Urtheil fiber die Intelligenz des Kranken nicht zu. Es bleibt dann oft nichts Anderes iibrig, als die Diagnose vorlaufig in suspense zu lassen und die Beruhigung des Kran- ken abzuwarten. Namentlich bei mannlichen Kranken im Alter von

30 45 Jahren, bei welchen anamnestisch Syphilis nachzuweisen ist, soli

man mit der Diagnose Manie sehr vorsichtig sein. Die Mehrzahl diesei Fiille entpuppt sich im weiteren Verlauf als Paralysen.

b. Paranoia hallucinatoria acuta. Bei dieser entwickelt sich ofters bei entsprechendem Inhalt der Hallucinationen gleichfalls Ideen- flucht, Bewegungsdrang und Exaltation, aber der secundare Charakter dieser 3 Symptome verrath sich darin, dass alle drei sofort nachlassen, wenn die Hallucinationen zuriicktreten, wahrend bei der Manie die Inten- sitiit der Exaltation, Ideenflucht und Agitation von dem Auftreten der Hallucinationen ganz unabhangig ist. Auf der Hohe der Erregung ist iibri- gens auch hier die Unterscheidung mitunter sehr schwer. Auch existirt eine ideenfliichtige Form der hallucinatorischen Paranoia, bei welchei zu den Hallucinationen primare Ideenflucht hinzutritt. Zwischen dieser und der hallucinatorischen Manie existiren ganz fliessende Uebergange. Im einzelnen Fall wird man das Hauptaugenmerk immer darauf zu richten haben, ob bei B e g i n n des Leidens zuerst Hallucinationen neben der Ideenflucht oder zuerst affective Storungen im Sinne einer heiteren Ver- stimmung neben der Ideenflucht auftraten. Nur im letzteren Fall liegt eine Manie vor. Gegeniiber der acuten epileptischen hallucinatorischen Paranoia kommt abgesehen davon, dass auch bei dieser Hallucinationen das Krankheitsbild beherrschen, differentialdiagnostisch speciell in Betracht, dass retrospectiv die Erinnerung des Maniakalischen fiir die Erlebnisse

*) Bei alkoholistischen Maniacis findet sicli iibrigens nicht selten eine der para lytiscben ahnliche alkoholistische Sprachstorung.

294

Manie.

wahrend der Kranklieit durcliweg gut erhalten ist, wahrend der Epilep- tische stets einen melir oder weniger grossen Erinnerungsdefect zei<rt.

c. Gewissc angel)oreiic psycliischc Scliwacliezustaiide, na- nientlich die sog. Moral insanity. Diese stellt cine besondere Form des leicliten angeborenen Scliwachsinns dar, bei welcher der Intelligenzdefect namentlicb die Bildung etbischer Begriffe betrifft. Da bier allerhand Excesse sehr liaiifig sind, so kommt in der Praxis cine Verwccbselung mit den z. "I’h. abnlicben Excessen der Hypomanie garnicht selten vor. Die Differential- diagnose hat zu beacbten, dass bei der sog. Moral insanity stets ein In- telligenzdefect vorliegt und dass die Krankheitsausserungen sicli bis in die Kindheit zuriickverfolgen lassen: beides trifft fiir die Hypomanie nicht zu.

Besondere diagnostische Schwierigkeiten maclit in der Piegel noch die Frage, ob eine Manie als einmalige oder als die Tlieilphase einer periodiscben Manie oder eines circularen Irreseins aufzufassen ist. Hier kommen die folgenden Kriterien in Betracht. Ein maniakalischer Anfall ist wahrscheinlich nicht als einfache Manie, sondern als Phase einer periodischen Manie zu betrachten, wenn

I. das depressive Initialstadium sehr wenig entwickelt ist;

II. der Anstieg und Abfall der Exaltation ein sehr jiiher ist.

Als Theilphase eines circularen Irreseins ist ein maniakalischer Anfall dann wahrscheinlich aufzufassen, wenn im Yerlauf desselben zu- weilen stunden- oder auch tageweise melancholische Zustiinde das mania- kalische Bild unterbrechen und wenn das initiale Depressionsstadium sehr stark entwickelt gewesen ist. Sicher sind iibrigens alle diese Kriterien nicht; meist bringt daher erst der weitere Verlauf die ge- wiinschte Aufldarung.

Therapie. Die erste Frage, welche der Arzt sich vorzulegen hat, wird in der Regel dahin gehen, ob Anstaltsbehandlung erforderlich ist. Bei den schwereren Formen der Manie liegt die Nothwendigkeit der Einlieferung in eine geschlossene Anstalt auf der Hand. Aber auch bei den leichteren Formen, also bei der sog. Hypomanie ist eine Entfernung aus der Familie und Ueberfiihrung in eine Anstalt selten zu umgehen, da die Autoritiit der Angehorigen des Kranken und die Uebcrwachung durch gelegentliche arztliche Besuche im eigenen Hause des Kranken selten hinreicht, die erwiilinten krankhaften Excesse zu verhiiten, durch welche der Patient seine sociale Stellung, sein Vermogen u. s. w. gefahrdet und durch welche die Krankheitsdauer verlangert wird. In leichteren Fallen bei fiigsameren Charakteren geniigt zuweilen die Unterbringung in einer offenen Anstalt. In der Mehrzahl der Fiille wird man jedoch auch hier die geschlossene Anstalt vorziehen.

Die eigentliche Behandlung selbst hat folgende Gesichtspunkte zu beriicksichtigen.

Manie.

295

1. Einschraukung der aiisser'en Sinnesreize, deren jeder bei deni Maniakalisclien ueue Vorstellungen imd Affecte weckt imd so Exaltation, Ideeuflucht imd Agitation steigert. Sehr zweckmassig ist daher in vielen Fallen absolute Bettrulie im Einzelzimmer. Briefe imd Besiiche der Angehorigen sind meist zii verbieten.

2. Beseliaftigiing, diirch welclie dem Bewegimgsdrang des Kranken eine imscliadliclie Entladimg ermoglicbt wird. Man versiiclie dalier den Kranken je nacli Stand, Bildung, Gescbleclit imd Alter im Bett zii bescbaftigen. Ziiweilen kann es sich aiicli als vortbeilliaft er- weisen, die absolute Bettrulie ab imd zii stimdenweise diircli korperliche Thatigkeit ausserlialb des Bettes zii imterbreclien. Bei gebildeteu Kran- ken regie man den Wechsel von Riilie imd Beschaftigimg diircli einen

scbriftlicben Stimdenplan.

3. Directe Bekiimpfung der gesteigerten corticalen Erregimg. In en leichteren Fallen sind Medicamente vollig iiberfliissig. In den scliwereren empfiehlt sich die Anwendung von Bromsalzen oder Hyoscm. Erstere sind in einer Tagesdosis von 6-8 g und jedenfalls eine Keihe von Woclien hintereiuander regelniassig zii geben. Das Hyoscin ivird siibciitan ver- abreicht und zwar am zweckmassigsten, bevor die Erregimg die Iloie erreicht hat. Nicht selten gelingt es, diirch friihzeitige Einspritzimg einer grosseren Dosis einen Anfall fast vollig zii coiipiren. Dies gilt sowohl fiir den ganzen maniakalischen Anfall wie fiir die einzelueu Ex- acerhationen desselben. In der Kegel beginnt man bei Mannern mit einer Dosis von 0,8 mg, bei Frauen mit 0,6 mg. Die Einspritzimg kann bis zii dreimal an ein em Tag wiederholt werdeu. Bei taglicher Verabreichimg muss man taglich iim 0,2 mg steigen. Doch empfiehlt es sich im All- gemeinen, nicht langere Zeit hindiirch taglich Hyoscin zii geben. Viel- mehr setzt man besser tageweise aiis. Die intermittirende Anwendimg des Mittels genligt, iim in vielen Fallen einen milderen Krankheitsver- laiif herbeiziifiihren. Statt des Hyoscins ist neiierdings aiich das Dii- boisin empfohlen worden. Gegen die Schlaflosigkeit kommen aiich Sulfonal (3 g in heisser Milch) und Trional (2 g in heisser Milch) in

13 ct I* 3^ dit

Neben diesen Medicamenten empfiehlt sich eine regelmassige hydio- pathische Behandlung und zwar am besten in Gestalt prolongirter Bader

(1 2 - 3 Stunden, die Temperatur ist bei Beginn des Bades anf 26 " zii

bemessen, gegen Schliiss des Bades jedoch bis anf 29 ° zu steigern). Leisten die Patienten gegen die Badeprocedur starken Widerstand, so verzichtet man besser anf dieselbe, da bei der zwangsweisen Festhaltung in der Badewanne der beruhigende Effect meist vollig aiisbleibt.

Die weinerliche Reizbarkeit im N a ch stadium der Manie besser t sich oft auffallig rasch bei Darreichung kleiner Opiiimdosen (0,05 einmal taglich).

296

Mariie.

SHt/ "■ f ’t," Alkoholica Sind su streichen

Ivalknassei). Sehr empfehleuswertl. ist auch Verabfolguiig von Miicli

Jedeiifalls ist eiitsprechend dein eiiormen luafteverbraucli dor moisten Maniakalischen die Ernal.rung naoh M«v.

hebkei stoigorn. Dabei bedarf os besondorer Berueksicbtign^g

io Tl 'T-t "f"'! 'r *^'"'** Bovvegungsdranges und seiner Ab-

ibarkoit durch die kleinsteu Sinnesoindrucke selir Iiaufig das Essen

™-zettel odor vorspio t; os bedarf bier also genaiioster Uoberwacbung.

Ixaiichen wircl am bosten ganz v6rboten.

Auch bei genauer Einbaltung aller dieser Vorscbriften, sowie der se bstverstandhchen Erfiillung aller Causalindicationen wird gelegeutlich er tobsuclitige Zustand sicli derart steigern, dasS der Umgebuug eiue directe Gefahr erwacbst. Versagt in solclien Fallen auch das Hyoscin Oder will man dasselbe entsprecbend der oben gegebenen Vorscbrift ein mal tageweise wieder aussetzen, so ist die Isolirung in einer Zelle nicht zii mngeben. Man isohrt den Kranken in einem sogenannten unzerreiss- ichen Anzug, der iibrigens die Bewegungen des Patienten vbllig frei lasst. Dazu erhalt der Kranke einen Strolisack, resp. wenn er letzteren ausraumt oder zerreisst, Seegras und eine sog. unzerreissbare Decke.

le Temperatur ist auf 14 ° und, wenn der Kranke auch den sog un- zerreisslichen Anzug zerreist, auf IB® zu balten. In der Regel soil die Isolirung in der Zelle, namentlicb am Tage, nicht iiber 4—6 Stunden dauern. Ausnabmsweise kann es jedoch sich als vortheilhaft er- weisen die Kranken tagelang in der Zelle zu isoliren, wenn namlich die vollige Abgeschlossenbeit der Zelle sichtlich beruliigend wirkt und der Kranke in der Zelle nicht verwildert, d. h. unreinlich wird, masturbirtu. s.w.

Besondere Besprechung bedarf endlich die Therapie in jenen schwersten Fallen, in welchen die Agitation sich zu sinnlosen Jactationen, die Ideenflucht zu Verwirrtheit und Unorientirtheit steigert und Fieber hinzutritt. Hier gilt es der directen Lebensgefahr zu begeguen. Von der Isolirung in der Zelle ist ganz abzusehen. Enter Umstanden wird die Schlundsondenfiitterung erforderlich . Drohendem Collaps ist even- tuell durch wiederholte Injectionen physiologischer Kochsalzldsung (500 g) unter die Oberschenkelfascie vorzubeugen. In angemessenen Zwischen- raumen muss jedenfalls durch Medicamente zeitweise motorische Ruhe erzwungen luerden. Gerade hier leistet das Hyoscin, sacliverstiindig an- gewendet, unschatzbare Dienste, wahrend fast alle anderen Sedativa inehr Oder weniger versagen. In diesen schweren Fallen muss auch starker Wein, ev. Cognac in reichlicher Menge verabfolgt werden.

Pathologische Anatomic. Die pathologisch-anatoniische Unter- suchung, speciell auch das mikroskopische Studium der Hirnrinde ist

Melancholie.

297

bisher clurchaus uegativ aiisgefallen. Die Manie ist daher zu den functio- nellen Geistesstorungen zu reclinen. Audi die verschiedenen Theorien, welche die Krankheit auf Circulationsveriluderimgen der Hirnrinde zuriick- zufubren sucheu, liabeu irgeud zultiuglicbe Stiitzeu in den Beobacbtungs- tbatsacbeii nocb uicbt gefunden.

b. Melancbolie.

Die Melancbolie ist eine Ps}''cbose, welcbe durcb 2 Hauptsymptome cbarakterisirt ist, nainlicb durcb eine krankbafte primare Depression und durcb eine primare Denkbemmung. Haufig tritt bierzu als drittes Haupt- symptom eine motoriscbe Hemmung; letztere ist nur eine Tbeilerscbei- nung der allgemeinen Hemmung der corticalen Associationen, welcbe sicb andrerseits als Denkbemmung kundgab.

Ueber das gegenseitige Verbaltniss der beiden Hauptsymptome bat man sicb viel gestritten. Bald bebauptete man, die Depression entstebe secundar, indem der Kranke sicb der Hemmung seines Vorstellungs- ablaufs bewusst werde, bald betracbtete man umgekebrt die Denkbemmung lediglicb als eine Folge der Depression. Die kliniscbe Beobacbtung spricbt dafiir, dass Depression und Hemmung coordinirte Parallelsymptome siud, welcbe sicb allerdings wecbselseitig verstarken. Wir scbreiben daber so- wobl der Depression wie der Hemmung primaren Cbarakter zu.

Specielle Symptomatologie.

Affecte. In vielen Fallen bescbriinkt sicb die Alfectstorung auf eine einfacbe Depression. Man bezeicbnet diese Form aucb als Hypo melan- cbolie Oder melancboliscbe Verstimmung. Hier sind die positiven Ge- fiiblstone sammtlicb verscbwunden, alle Empfindungeu und Vorstellungen sind von Unlustgefiiblen begleitet.*) Die ganze Welt erscbeint dem Kranken grau in grau. Bei den scbwereren Formen der Melancholie (bei der Melancholia gravis) treten zu der einfacben Depression nocb Angstaffecte binzu. Die letzteren treten bald anfallsweise, bald continuirlicb auf. Audi in letzterem Fall konirat es baufig zu anfallsweisen VerstMaingen der Angst. Hinsicbtlich der korperlicben Begleitempfindungen und der Lo- calisation ist die Angst der Melancholie meist (nicbt stets!) als typiscbe Pracordialangst zu bezeicbnen. In vielen Fallen beobacbtet man, dass die Angst im Lauf des Pages ganz typischen Intensitatsschwankungen unter- liegt. So pflegt namentlicb in den friihen Morgenstunden oft ein jabes Anwacbsen der Angst einzutreten. Aucb gegen Abend steigert sicb ge- wbhnlicb die Angst, Zuweilen beobacbtet man nach jeder Mablzeit eine Verstarkung der Angstaffecte.

*) Die krankhaften iicgativen Gel'uhlstone der Empfindung sind zumeist auf Irra- diation und Reflexion von Gefiihlstonen der Vorstellungen zuriickzufiiliren.

298

Melancholie,

Bei einer besoucleren Form der Melancliolie beobachtet man eine eigenartige Nuance der negativen Aflfectscliwankung. FiS giebt Kranke, welcbe klagen, dass ihnen alles Gefiihl ablianden gekommen sei, dass sie weder froli nocli traurig Sein kbnnten : das Gefiihl fiir Gut und Schlecht, Sclibn und llasslicli sei ihnen ablianden gekommen, die Liebe zu ihren Angelibrigen und das Interesse fiir ilire Tliiltigkeit und ihren Beruf sei er- storben, statt des Herzens sei ein Stein in ihrer Brust. Der einzige Affect des Kranken ist die Verzweiflung iiber diese pathologische Gefiihllosigkeit. Man bezeichnet diese Form als die apathische Form der Melancholie.

Fiinpfindungen. Das Empfindungsleben des Melancholischen bleibt nicht selten ganz intact. Hyperalgesie ist selten. Bei der apathischen Form beobachtet man zuweilen sogar echte Hypalgesie. Ausgesprochene Halluciuationen oder Illusionen linden sich nur etwa in einem Zehntel aller Fiille ; wo solche sich in grosserer Zahl linden, handelt es sich um die unten ausfiihrlicher zu erwahnende hallucinatorische Varietat der Melancholie. Die eigenartigen Sensationen, welche die Angst der Melan- cholischen begleiten, sind schwerlich als Illusionen oder Hallucinationen aufzufassen, sondern wahrscheinlich als Emplindungen, welche in nor- maler Weise aus vasomotorischen Storungen u. s. w. hervorgegangen sind.

Vorstellungen. Der formale Ablauf der Vorstellungen ist ver- langsamt. Diese Verlangsamung aussert sich zuniichst in dem Wieder- erkennen und in der Aufmerksamkeit. Der Melancholische identilicirt Emplindungen miihsam. Um die Uhr abzulesen, braucht er oft eine Minute und mehr. In schweren Fallen kann es hierdurch zu einer volligen Unorientirtheit und Rathlosigkeit kommen. Dazu kommt eine schwere Hypoprosexie : die meisten Emplindungen, welche die Reize der Aussen- welt hervorrufen, losen in Folge der allgemeinen Hemmung keine Vor- stelhingen aus oder bleiben mit andereu Worten unbeachtet. So kommt es, dass der Melancholische zuweilen nach mehrwdchentlicher Be- handlung noch nicht einmal den Namen seines Arztes kennt. Er hat den Namen oft gehdrt, aber nicht behalten, weil der Act des Aufmerkens, die Verkniipfung mit Vorstellungen vollstiindig unterblieben ist. Ferner aussert sich die allgemeiue Associationshemmung in einer ausgesprochenen Schwerbesinnlichkeit. Der Kranke muss sich lange besinuen, bis er seine . eigenen Personalien, die Namen seiner Kinder anzugeben oder einfache Fragen, welche sein Schulwissen, seinen Beruf u. dgl. betreffen, richtig zu ' beantworten vermag. Es giebt hochgebildete Kranke, welche in der Me- lancholie in Folge ihrer Denkhemmuug 7x18 nicht auszurechnen ver- mogen. Im Allgemeinen ist die Hemmung des Vorstellungsablaufs um - . so intensive!’, je schwerer die Angstaffecte sind, doch lindet sich auch bei ^ einfacher Depression sehr oft eine ausgesprochene Denkhemmung; ganz * fehlt dieselbe niemals. ?1

f

rat*'-

Melancholie.

299

Inhaltliche Storungen cles Vorstellungslebens konnen vollig fehlen. So fehlen solche z. B. in der Regel bei der inelancbolischen Verstimmung. llaufig iedocli koinint es aucli zn secundaren Wabnvorstellungen im Sinne desKleinbeitswabnes, also zu sogen. Erklarnngsversuchen der Depres- sion und Angst. Unter diesen Wabnvorstellungen sind Versiindigungsvor- stellnngen am biinfigsten. Der immer wiederkelirende Refrain aller Aeusse- rungen des Kranken ist : ich bin nicht krank, sondern sclilecbt. Zuweilen ist dies krankhafte Scbuldbewusstsein ganz unbestimint, in anderen Fallen deuten die Kranken irgend ein vergangenes Erlebniss im Sinn einer Ver- schuldiing urn. Namentlicb die Selbstanklagen : „ich babe meine Wirth- scbaft scblecbt gefiibrt, ich babe die Meinigen scblecbt bebandelt, ich babe es an Gottvertrauen fehlen lassen" n. dgl. m. kebren immer wieder. Zuweilen kommt es auch zu ganz freien und bis ins Einzelne aus- gemalten Erfindungen der scbwersten Verbrechen. Kranke mit apatbiscber Melancholie werfen sich oft direct ihre Apatbie vor: „Icb bin so scblecbt, dass icli gegen alle meine Pfiicbten gleichgliltig geworden bin'b

Nacbst dem Versiindigungswabn beobacbtet man besonders baufig den Krankheitswahn ; als Erklarungsversucbe der Angst treten bypo- cbondrische Vorstellungen auf. Der Kranke glaubt an Syphilis, Tuber- kulose u. dgl. zu leiden. Oft knlipft dieser bypochondrische Wabn an ganz bestimmte tbatsacblicbe Symptome oder Krankbeiten an. So konnen die tbatsacblich vorhandenen Pracordialsensationen Anlass zu der bypo- cbondriscben Annabme eines Herzfehlers geben. Der Sypbiliswabn kanu an einen Herpes praeputialis ankniipfen. Man bezeicbnet die Symptome bezw. Krankbeit, an welcbe der Kranke unter dem Einfluss der Depression und Angst bypochondrische Wahnvorstelbmgen kniipft, wie friiber er- wiilint, als Anknlipfungssymptome bezw. Anknlipfungskrankheit. Bei der Melancholie jugendlicber Masturbanten kniipft der Krankheitswahn meist an die mit der Masturbation zum Tbeil tbatsacblich zusammenbangende korperlicbe und geistige Scblafflieit sowie an die Haufung nacbtlicher Pollutionen an; so kommt der Kranke auf die Wabnidee, er leide an „Riickenmarksauszehruug^^ Man bezeicbnet diejenige Form der Melan- cbolie, bei welcber die secundaren Wabnvorstellungen sicb hauptsacblich in der Ricbtung des Krankbeitswabns bewegen, aucb als „bypochon- driscbe M elancbolie^^

Haufig sind aucb Verarmungsvorstellungen, so namentlicb bei der Melancholie des Seniums. Der Kranke aussert: ausstebende Scbulden wiirden ibm wobl verloren geben, sein Waarenlager sei zu gross, er konne die Kosten der Behandbmg nicht tragen, er musse mit seinen Kindern verbungern und betteln geben.

Selten finden sicb bei der Melancholie Verfolgungsideen. Am bau- figsten beobacbtet man sie nocb ab und zu bei geistig minderveranlagten

300

Melancholie.

odei ungebildeteii Melancholischen im Anschluss an Versiindigungsvor- stellungen. Solche Kranken jammern: „ich soil in’s hdllische Feuer^, ,,ich soil als irrender Geist iiumer umlierwaudern^^ „der Staatsanwalt ver- folgt niich^^ Gerade bei dieser Form komnit es aucli dfters zu wahn- haften und zu illusionaren Auslegungen. Der Kranke deutet das Sprechen vor seiner Tliiir als das Gemurmel von Polizisten, ein zufalliges Klopfen als das Zimmer n eines Scbaffots". Aeusserst selten beobaclitet man, dass bei der Melancliolie Verfolgungsideen direct als ErkUirungsversucbe der Angst auftreten.

Zu den Versiindigungsideen treten gelegentlich auch die in der all- gemeinen Pathologie genauer gescbilderten contrastirenden Grbssenideen binzu. Aucb mit den V erarmungsideen verkniipfen sich letztere zuweilen ; der Kranke scbildert, um sein jetziges Fiend nocb greller zu beleucliten, in iibertriebener Weise, wie gliicklicb er friiher gelebt babe, wie reicb er gewesen sei.

Die Handlungen des Melancboliscben sind ganz und gar durcb die soeben gescbilderten psycbopatbiscben Symptome bestimmt. Zunacbst malt sicb im Gesicbtsausdruck des Kranken die Depression und die Angst. In der allgemeinen Patbologie (S. 142 if.) sind die Ausdrucksbewegungen der Angst und der Depression ausfubrlicb bescbrieben worden.*) Die sonstigen Bewegungen und Handlungen des Melancboliscben (abgeseben von den Ausdrucksbewegungen) steben ganz unter dem Einfluss der mo- toriscben Hemmung, welcbe als drittes Hauptsymptom der Melancbolie gelten kann. Diese motoriscbe Hemmung ist eine Tbeilerscbeinung der allgemeinen Associationsbemmuug und primar wie diese; wie diese er- fabrt sie jedocb zugleicb eine erbeblicbe Steigerung durcb die Depression und namentlicb durcb die Angst. Beide Formen der motoriscben Hem- mung, welcbe die allgemeine Patbologie kennen lebrt (S. 149), kommen bei der Melancbolie vor: bald bestebt vollige Resolution der gesammten Korpermuskulatur, bald bestebt eine allgemeine katatoniscbe Spannung. In ersterem Fall bezeiclmet man die Melancbolie als Melancboliapassiva, im letzteren als Melancholia a 1 1 o n i t a. In beiden Fallen liegen die Kranken fast regungslos. Spontane Bewegungen kommen kaum zu Stande. Die Kranken mussen gewascben, gekiimmt und gefiittert werden. Einige lassen sogar Kotb und Urin unter sicb geben. Aufgetragene Bewegungen werden gar nicbt oder nur iiusserst langsam, zuweilen in vielen Absiitzen ausgefiibrt. Viele Kranke sprechen gar nicbt, andere unbdrbar leise. In den leicbteren Fallen z. B. bei der sog. melancboliscben Ver- stimmung aussert sicb die Hemmung lediglicb darin, dass die Kranken sich langsamer entscbliessen (Abulie) und alle Bewegungen langsamer

*) Vgl. auch die physiognomische Tafel Fig. 2 (Depression) und Fig. 3 (Angst).

Melancliolio.

301

ausfiilireu. Oft klagen die Krankeu selbst iiber den „Riickgang ihrer Willenskraft^b Hire berufliche Tliiitigkeit filllt ibnen iiusserst scbwer. Zu einer Arbeit, welcbe sie fr liber sjiielend in einer Stunde bewliltigten, braucben sie jetzt einen ganzen Tag. Hat der Kranke schliesslich sich einnial zii einem Entschluss aufgerafft, so liberkomnit ihn bei seinem Mangel an Selbstvertraiien sofort der Zweifel, ob der eingeschlagene Weg der ricbtige ist. In Folge dessen widerruft der Kranke seinen ersten Entschluss, um auch diesen Widerruf sofort wieder zu bereuen. Bei Frauen aussert sich die Abulie namentlich in der Vernachlassigung ihres Haushalts, ihrer Toilette u. s. f.

Fine wesentliche Modification erfahrt das Handeln der Melancholi- schen dann, wenn der agitirende Einfluss der Angst den hemmenden Ein- fluss iiberwiegt. Warum im Einzelfall dieser oder jener starker ist, kbnnen wir meist nicht nachweisen. Wie die angstliche Agitation die Ausdrucksbewegung verandert, ist in der allgemeinen Pathologic ange- geben. Die Kranken irren ruhelos umber. Es kann zu ausgesiirochener Vagabondage kommen. Andere bleiben zwar im Bett, aber ringen Tag und Nacht die Hlinde und jammern. Bis zu tobsiich tiger Erregung kann sich diese angstliche Agitation der Melancholic zuweilen steigern. Man bezeichnet diejenige Form der Melancholic, bei welcher dieser agitirende Einfluss der Angst vorherrscht, auch als Melancholia agitata.

Selbstmordversuche kommen gelegentlich auch auf Grund einfacher Depression, also bei der einfachen melancholischen Verstimmung, vor. Ungleich haufiger sind sie, sobald Angstaffecte hinzutreten. Speciell bei der agitirten Melancholic kommt es sehr haufig zu den energischsten Versuchen gegen das eigene Leben. Indess ist auch die Melancholia attonita stets selbstmordverdachtig. Die Hemmung der Angst kann ganz plotzlich in Agitation umschlagen. Fine Kranke, die wochenlang regungslos in katatonischer Spannung liegt, kann plotzlich, wenn eine Gelegenheit sich bietet, mit der grossten Energie und Behendigkeit einen Selbstmord- versuch machen.

Manche Kranke suchen auch die Angst, welche sie ruhelos umher- treibt, durch Genuss von Spiiituosen zu iibertauben. Namentlich bei der periodischen Melancholic beobachtet man dies nicht selten. Stunden- weise lindert der Alkoholgenuss in der That die Angst. Sobald jedoch der Rausch verflogen ist, kehrt die Angst mit grosserer Heftigkeit zuriick. Es bedarf immer grosserer Alkoholdosen, damit der Kranke nur einige Ruhe findet. Schliesslich bleiben die Kranken oft allnachtlich sinnlos betrunken in der Strassengosse noch dazu haufig in einer fremden Stadt, wohin die innere Unruhe sie gerade getrieben hat liegen. Mit dem Abklingen der Melancholic meist nach einigen Wochen, zuweilen schon nach einigen Tagen verschwindet auch das Bedfirf-

302

Melancholic.

niss nach Alkoliol in der Regel sofort. Selir unzweckinassig hat man diese periodischen Melanclioliker auch als Quartaltrirdcer oder Dipso- maneu bezeichnet.

Seltener suchen die Kranken ihre innere Angst durcli excessive Masturbation zu libertLiubeu. Meist handelt es sicli in solchen Fallen uni schwer erblich belastete weibliclie Individuen.

Durch die secimdaren Wahnvorstellungen der Kranken kommt es zu weiteren pathologischeu Veranderungen des Handelns. Besonders steigert der Versilndigungswahn und der Verarmungswalin die Selbst- mordgefalir erlieblich. Indess auch bei der hypochondrischen Melancholie kommen oft genug Selbstmordversuche vor: die elementare Gewalt der Angst ist starker als die in der Wahnidee sich aussernde Besorgniss um das Leben. Auch Gewalthandlungen gegen die Umgebung sind bei Melancholie nicht selten (Kindesmord, Brandstiftung). Endlich kommt es uugemein haufig zu Nahruugsverweigerung. In der Regel motivirt der Kranke dieselbe damit, dass er keine Nahrung verdiene, er sei zu schlecht, oder damit, dass er sie nicht bezahlen konne, er sei zu arm, oder endlich damit, dass er sie nicht verdauen konne, sein Magen und sein Darm seien zu krank. Seltener kommt es bei der Melan- cholie zu den hypochondrischen Wahnhandlungen, welche S. 159 und 160 beschrieben wurden. Die Angstatfecte sind meist zu lebhaft, als dass es zu so complicirten und zusammenhangenden Handlungen kommen kbnnte. Nur wenn die hypochondrische Melancholie einen chronischen Verlauf nimmt, kommt es zu den dort erwahnten Wahnhandlungen.

Somatische Symptome s. str. Der Schlaf der Melancholischen ist sehr haufig mangelhaft, auf der Hohe der Krankheit fehlt er zu- weilen vollstandig.

Die Ernahrung siukt stets erheblich. Manche Kranke verlieren im Verlauf einer Melancholie fiber 20 Kilo an Korpergewicht. Hunger und Appetit konnen vollstandig fehlen. Zuweilen ist die Salzsauresecretion des Magens, haufig die Speichelsecretion herabgesetzt. Obstipationeu von 1 2wochentlicher Dauer werden beobachtet. Die Zunge ist meist pelzig belegt. Oft tritt Erbrechen auf.

Die Respiration ist haufig verlangsamt. Oft beobachtet man ein plotzliches tiefes Aufathmen. Unter dem Einfluss schwerer Angstaffecte wird sie beschleunigt und unregelmassig.

Die peripheren Arterien sind meist abnorm stark contrahirt. Daher die kfihlen Hande und Efisse der meisten Melancholischen. Die Herz- thatigkeit ist eher verlangsamt, nur unter dem Einfluss schwerer Augst- affecte ist sie ofters beschleunigt und unregelmassig. Im Anschluss an Obstijjationen kommt es oft zu hoheu Temperatursteigerungen, welche

Melancliolie.

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mit Beseitigiiug der Obstipation rascli zuriickgehen (vgl. S. 188). Nicbt seltcu wil'd aiicli Aineuorrlioe boobaclitot.

Neuropathologische Symptome fehleu im Uebrigen ineist vollstandig. Ziiweilen finden sicli Druckpimkte. Es bandelt sicli dann ineist um Melancbolien, welcbe sicb aiif dem Boden der Neiirasthenie entwickelt liaben.

Verlauf. Ein Prodroinalstadinin feblt der Melancbolie baufig voll- stiindig. Olme Vorboten stellen sicb die Hanptsymptome der Psycbose bald rascber, bald langsamer ein. In einer kleineren Anzabl von Fallen geben gastriscbe Bescbwerden, Kopfdruck, Keizbarkeit und geistige und korperlicbe Erscblaffung der melancboliscben Depression voraus. Bei der melancboliscben Verstimmung bat es mit einfacber Depression sein Bewenden. Bei der Melancbolia gravis treten Angstaffecte binzu. Nocb banfiger zeigen sicb letztere fast gleicbzeitig mit der Depression. Zu- weilen setzt die Psycbose ganz acut mit einem scbweren Angstanfall ein. Secundare Wabnvorstellungen entwickeln sicb in der Kegel erst, wenn Depression und Angst bereits langere Zeit bestanden baben. Oft kann man geradezu ein erstes Stadium der reinen Affectstorung und ein zweites Stadium der secundaren Wabnideen unterscbeiden. Die Denk- bemmung lauft im Ganzen der Affectstorung parallel.

Die Dauer der Melancbolie belauft sicb in der Kegel auf 4 6 Monate. Gerade die leicbte melancboliscbe Verstimmung uberscbreitet diese Dauer oft erbeblicb. Es giebt Eiille von Melancbolie, welcbe erst nacb mebr als 12 Monaten in Heilung iibergeben. Der Uebergang in Heilung voll- ziebt sicb zuweilen fast kritiscb. Oft wird er durcb den Wiedereintritt der auf der Krankbeitsbobe ausgebliebenen Menstruation angekiindigt. In anderen Fallen bilden sicb die Wabnvorstellungen, die Affectstorungen und Hemmungen ganz allmablicb zuriick. Leicbte Reexacerbationen im Verlauf der Reconvalescenz sind baufig. Seltener erfolgt im Verlauf der letzteren unmittelbar ein Rlickfall.

Ungemein baufig beobacbtet man ein Nacbstadium im Sinn einer . reactiven Hypertbymie. Namentlicb, wenn die Affectstorung und Denk- bemmung sebr scbwer waren, beobacbtet man fast stets eine mebr- wocbentlicbe oder mebrtagige beitere Verstimmung mit entsprecben- der Bescbleunigung des Vorstellungsablaufs. In ubertriebenen Ausdriicken , ruhmen die Kranken, wie glucklicb sie sind, dass ibr vermeintlicb zer- '■ stortes Gedacbtniss und ibre Leistungsfabigkeit wiedergekebrt sind. ' Selten erlangt dies bypertbymiscbe Nacbstadium eine starkere Ent- wickelung, so dass es als eine neue selbstiindige Psycbose, eine ^reactive Manie“ imponirt.

A u s g a n g e und Prognose. Die Ausgange der Melancbolie sind folgende :

304

Melancholie.

1. in Heilung.

2. iu Heilung mit Defect

3. in Tod.

4. in secundiiren Schwaclisin'n.

5. in cbronisclie Melancholie.

6. in sog. secundare Paranoia.

Die meisten Falle endigen mit volliger Heilung. Bei der typischeu Melancholie erzielt man dieselbe in fast 90% aller Falle. Hat die Melancholie sehr lange gedauert, so ergiebt sich zuweilen eine Heilung mit Defect, d. h. die Affectstorungen und Hemmungen schwinden, aber eine genaue Vergleichung ergiebt, dass der Kranke eine leichte intel- lectuelle Einbusse erlitten hat. Complicirtere Begriffe und Urtheils- associationen sind ihm mit der Krankheit verloren gegangen. Dem Laien entgeht diesei leichte Defect meist vollstiindig. In eiiier geringen Zahl von Fallen tritt keine Heilung, sondern ein erheblicher, fortschreitender Intelligenzdefect ein . die sog. secundare Demenz. Dieser ungunstige Ausgang kiindigt sich meist zuerst dadurch an, dass gelegentlich ein ominoses Lachen das Gesicht des Kranken iiberfliegt. Dies alberne Lachen wechselt ohne Motive mit Angstzustanden ab. Das Jammern der Kranken nimmt ebenso wie ihre Angstbewegungen einen fast automa- tischen Charakter an. Unreinlichkeiten hiiufen sich. Auch Hallucina- tionen und Illusionen stellen sich in grosserer Zahl ein. Die Kranken denken und sprechen zuweilen rascher, aber diese Besserung ist nur scheinbar: aus dem Inhalt der Aeusserungen des Kranken ergiebt sich, dass eine erhebliche Gedachtniss- und Urtheilsschwache eingetreten ist. Letztere nimmt weiterhin stetig zu, wahrend die Alfectstorung abnimmt. Schliesslich konnen sich die schwersten Formen der secuudaren Demenz entwickeln. Die Kranken sprechen und handeln vbllig verwirrt. Etwas hciufiger, wenn auch gegeniiber der grossen Zahl der Heilungen kaum in Betracht kommend ist der Ausgang in chronische Melancholie. Ge- diichtniss und Urtheilskraft bleiben in diesen Fallen intact. Auch gleichen sich die Affectstorungen oft bis zu einem gewissen Grade aus; speciell verlieren sich die heftigen Angstaffecte vollstandig. Auch die Denk- hemmung weicht bis zu einem gewissen Grade. Und dock sind die Kranken nicht gesund. Eine krankhafte Wehleidigkeit tritt an die Stelle der anfanglichen Depression. Die Hemmung bleibt auf dem Gebiet des Handelns dauernd bestehen. Die Kranken bleiben unschliissig, rath- los, leistungsunfahig. Fiir das praktische Leben sind sie unbrauchbar. Das Selbstvertrauen kehrt nicht zuriick. Viele ergehen sich in mono- tonem Jammern und unfruchtbaren Selbstanklagen. Hat es sich um eine hypochondrische Melancholie gehandelt, so stellt sich nun mit dem Abklingen der Affecte das hypochondrische Gebahren ein, wie es S. lo9

Melancholie.

305

unci 160 gescliildert wiirde. Die secundaren Wahnvorstellungen haben sicb von den Affectstorungen, aiis denen sie liervorgegangen waren, unabbangig gemacbt. Die Gefabr eines solcben Ausgangs in cbroniscbe Melancbolie ist erfabningsgemass bei von Hause aus geistig wenig ver- anlagten Individuen am grossten. Uebrigens besteben zwiscben der Heilung niit Defect, der secundaren Demenz und der zuletzt gescbil- derten cbroniscben Melancbolie fliessende Uebergange.

Der todtlicbe Ausgang wird am baufigsten durcb Selbstmord berbei- gefiibrt. Namentlicb ausserbalb der Anstalten geben nicbt wenige Melancboliker so zu Grunde. Andere Todesursacben sind in inter- cnrrenten Erkrankungen gegeben, wie sie namentlicb bei abstinirenden, in der Ernabrung stark beruntergekommenen Melancbolikern nicbt selten und zumeist in sebr gefabr licber Form auftreten,

Einen ganz besonderen Ausgang stellt der Uebergang in secundare Paranoia dar. In diesen Fallen spricbt man besser von zwei Hauptstadien, einem depressiven, welcbes der Melancbolie entspricbt, und einem bal- lucinatoriscben, welcbes der secundaren Paranoia entspricbt. Es gebort mitbin die Psycbose nacb ibrem Gesammtverlauf zu den zusammengesetz- ten Psycbosen und wird unter diesen eine kurze Besprecbung finden. Ini Ganzen ist diese secundare Paranoia selten. Wenn sicb im Verlauf einer Melancbolie gebaufte Hallucinationen oder Wabnvorstellungen der Verfolgung u. s. w. einstellen, so bandelt es sicb in der Kegel gar nicbt um diese secundare Paranoia, sondern eine aufmerksame Untersucbung lebrt, dass ein Intelligenzdefect sicb entwickelt und class mitbin der Uebergang in secundare Demenz sicb vollziebt.

Varietaten. Einige Varietaten der Melancbolie sind bereits an- gefiibrt worclen. So wurde der „melancboliscben Verstimmung" (Hypo- melancbolie), der apatbiscben Form, der Melancboba passiva, attonita, agitata und der Melancholia bypocbondriaca scbon gedacbt. Pro- gnostiscb nebmen unter diesen Varietaten die Melancboba attonita und die Melancboba bypocbondriaca insofern eine besondere Stellung ein, als ibre Prognose etwas ungiinstiger ist. Bei ersterer ist der Ausgang in secundare Demenz, bei letzterer der Ausgang in cbroniscbe Melan- cbobe und der Ausgang in secundare Paranoia etwas baufiger als bei den iibrigen Melancboben. Uebrigens existiren zwiscben alien diesen Varietaten keine scbarfen Grenzen. Eine passive Melancbolie kann ganz plotzbcb fiir kiirzere oder langere Zeit in die agitirte Form iibergeben, bypocbondriscbe Wabnvorstellungen konnen wabnbaften Selbstanklagen Platz machen u. s. f.

Eine besondere Varietat der Melancbolie stellt aucb die Melan- cholia ballucinatoria dar. Namentlicb auf dem Boclen scbwerer erbbcher Belastung und im Senium beobacbtet man baufiger, dass zu den Ziehen, Psychiatrie, 20

306

Melancholic.

Ilauptsymptomen der Melancliolie, also zu der Depression, Angst und liemmung Hallucinationen und Illusionen und zwar vorzugsweise solche schreckliaften Inlialts hinzutreten. Nicht selten handelt es sich bei den Sinnestauschungen der hallucinatorischen Melancliolie auch um das sog. Gedankenlautwerden. Die Kranken klagen, dass sie jeden Gedanken in ihrem Kopl, in ihrer Brust oder in ilirem Abdomen mitsprechen bbren. Die sinnlicbe Lebliaftigkeit dieser Hallucinationen ist gewobnlicb sehr gering ; meist zweifeln die Patienten auch nicht an ihrer subjectiven Ent- stehung. Mitunter flihlen sie einen eigen thiimlichen Drang, die gehorten Worte mitzusprechen. Die Prognose dieser hallucinatorischen Melan- cholie ist nicht so gut wie diejenige der typischen Melancholie. Nament- lich ist stets die Weiterentwickelung zu einer typischen hallucinatorischen Paranoia zu fiirchten.. Ueberhaupt bestehen zwischen der Melancholia hallucinatoria und der Paranoia hallucinatoria (namentlich der stuporbsen Form) fliessende Uebergangsformen.

Eine andere Varietat der Melancholie ist durch das Hinzutreten von Zwangsvorstellungen zu den typischen Symptomen der Melancholie charakterisirt. Weitere Varietaten entstehen durch Complication der Melancholie mit Neurasthenie oder Hysterie. Die neurasthenische Grunderkrankuug aussert ihren Einfluss im klinischen Bild der Melan- cholie dadurch, dass sie zu der Depression der Melancholie die neurasthe- uische Reizbarkeit hinzufiigt. Fiir die Melancholie der Hysterischen ist die Labilitat der Stimmung charakteristisch. In beiden Fallen macht sich oft ein riisonnirender Zug im Krankheitsbild geltend: die Kranken suchen ihre krankhaften Handlungen hinterher zu beschonigen und zu rechtfertigen.

Sehr wichtig ist auch die periodische Form der Melancholie. Wenn sie auch nicht so haufig ist wie die periodische Manie, so wird man doch bei schwerer erblicher Belastung stets auch an diese Mbglich- keit denken miissen.

Endlich tritt die Melancholie auch in der Form des t ransito ri- se hen Irreseins auf. Man bezeichnet diese Form auch als Raptus melan- cholicus. Derselbe dauert oft nur einige Minuten, hochstens 1 2 Stuu- den. Eine extreme Angst Liberfallt den Kranken meist ganz plotzlich und fiihrt zu j alien Gewaltthaten des Kranken gegen sich und seine Um- gebung (Selbstmord, Mord, Mobiliarzertriimmerung, planloses Fortlaufen). Schreckhafte Wahnvorstellungen und Sinnestauschungen konuen hinzu- treten. Ein ausgesprochener arterieller Gefiisskrampf begleitet den An- fall. Derselbe endet meist kritisch. Fiir alles Vorgefallene besteht eine fast vollstandige oder auch vollstiindige Amnesie.

Aetiologie. Bei der typischen Melancholie ist erbliche Belastung nur in der Hiilfte aller Falle zu findeu. Auffiillig oft beobachtet man

Melancholie.

307

gleichartige Vererbiing. Im Ganzen ist die Melancholie beim ^weiblichen Geschlecbt haufiger als beim mannlicben. Oft fallt cler Ausbruch der Melancholie in die Pubertat oder das Senium. Die Pubertatsmelancholie kniipft haufig an onanistische Excesse an. Im Senium ist wohl nament- lich die Atheromatose der Gefasse fiir den Ausbruch der Psychose ver- antwortlich zu machen.

Eine haufige Veranlassung zum Aushruch einer Melancholie stellt auch die Graviditat dar. Meist setzt diese Graviditatsmelancholie im 3. oder 4. Schwangerschaftsmonat ein, seltener erst gegen Ende der Schwangerschaft. Circulationsveranderungen und reflectorische Einfliisse mogen dabei oft im Spiele sein. Haufig ist jedoch auch ein psychisches Moment wirksam: die Furcht vor der Entbindung. Daher kommt es auch, dass die Graviditatsmelancholie bei Primiparae etwas haufiger ist als bei Multiparae.

Seltener erzeugt das Puerperium selbst eine Melancholie, Die Psychosen, welche in den ersten Wochen des Wochenbetts ausbrechen, verlaufen zwar oft mit schweren Angstaffecten, aber eine genauere Unter- suchung lehrt sofort, dass diese Angstaffecte ausschliesslich auf Hallu- cinationen und Wahnvorstellungen beruhen, und dass somit diese Puerperal- psychosen s. str. der acuten hallucinatorischen Paranoia zuzurechnen sind. Haufiger ist die Melancholie eine Folgekrankheit einer pro- trahirten Lactation.

Ueberhaupt ist kbrperliche Erschopfung, sie sei entstanden wie sie wolle, eines der wichtigsten atiologischen Momente fiir die Melancholie. Ebenso bedeutsam ist Kummer und Sorge. Daher kann die Melancholie an die verschiedensten Lebenschicksale ankniipfen. Zuriicksetzungen, ge- schaftliche Verluste, schwere Erkrankungen von Angehorigen, Todesfalle in der Familie kbnnen den Ausbruch herbeifiihren. Zuweilen geniigt die plbtzliche Versetzung in andere Verhaltnisse, um die Depression der Me- lancholie hervorzurufen. Dahin gehort z. B. auch die Melancholie, wie sie nach Verlobungen, nameutlich bei jungen Madchen, zuweilen aber auch bei Mannern beobachtet wird. Die Reue und die Angst wegen des Ja- worts leiten hier die Psychose ein. Nahe verwandt ist auch die Melan- cholie, welche sich allmahlich aus einem noch physiologischen Heimweh entwickelt.

Seltener erzeugen momentane Affectstbsse, wie z. B. Schreck u. dgl. eine Melancholie.

Sehr schwere Formen der agitirten Melancholie beobachtet man bei dem chronischen Alkoholismus.

Diagnose. Die Melancholie kann nameutlich mit folgenden Krank- heiten verwechselt werden:

1. Mit der hallucinatorischen Paranoia. Sowohl die stuporose

20*

308

Melancholie.

Form wie die agitirte Form der letzteren l)ietet ausserlich grosse Aelm- liclikeit mit der Melancliolia attouita resp. agitata, sobald bei der hallu- cinatoriscbea 1 aranoia Ilalluciuationen angstlicben Inlialts vorherrsclieii. Differentialdiagnostiscli kommt bier alles in Betracht, was iiber das Cha- rakteristische des hallucinatoriscben Gebahrens in der allgemeinen Patho- logie gesagt worden ist. Scbon der Gesicbtsausdruck ermdglicbt oft zu entscheiden, ob einfacbe oder hallucinatorische Angst, mit anderen Wor- ten, ob Melancholie oder hallucinatorische Paranoia vorliegt*). Auch das plotzliche Anfhorchen, der plotzliche Wechscl der Blickrichtung verrathen den Hallucinanten. Weitere Fingerzeige giebt das Befragen des Kranken: Aengstigen Sie sich, weil Sie so schreckliche Binge sehen und hdren, oder kommt die Angst von selbst ? Bei sehr heftiger Erregung und namentlicli bei sehr ausgesprochener Hemmung wird man freilich zuweilen eine ver- wirrte bezw. iiberhaupt keine Antwort erhalten. So kommt es, dass zu- weilen eine sichere Diagnose auf der Hohe der Krankheit nicht moglich ist, zumal wenn auch die Anamnese im Stich lasst. Namentlich zwischen Melancholia hallucinatoria und Paranoia hallucinatoria ist ohne Anam- nese keine sichere Entscheidung moglich. Die Anamnese muss lehren, ob die Hallucinationen nur eine secundare Zuthat sind oder das ganze Krankheitsbild von Anfang an bestimmt haben.

2. Mit dem Depressionsstadium der Dementia paralytica. Im Verlaufe der letzteren tritt ungemein haufig ein Stadium ein, welchem die Hauptsymptome der Melancholie: primare Depression, Angst, Denkhem- mung und motoihsche Hemmung oder eventuell statt der letzteren iingst- liche Agitation in der fiir die Melancholie charakteristischen Zusainmeu- stellung zukommen. Die Unterscheidung der Melancholie von diesem Stadium der Dementia paralytica beruht darauf, dass letztere ganz be- stimmte n e u r o p a t h o 1 o g i s c h e S y m p t o in e zeigt und auch stets mit einem Defect der Intelligenz verkniipft ist. Die wichtig- sten neuropathologischen Symptome, auf welche man zu fahnden hat, sind: Pupillenstarre, Facialisparesen, hesitirende Sprache, Aufhebung der Kniephanomene oder Achillessehnenphanomene. Alle diese Symptome kommen bei Melancholie nicht vor: wo sich eines derselben fiudet, han- delt es sich um das Depressionsstadium der Dementia paralytica, jeden- falls nicht um Melancholic. Der Intelligenzdefect kann durch dii’ecte Intelligenzprlifung nachgewiesen werden**) (s. unter Dementia paralytica). Oft giebt sich derselbe schon in dem ganzen Gebahren und in dem lu- halt der secundaren Wahnvorstellungeu kund. Die Depression des Para-

*) Vergleiche auf den pbysiognomischen Tafeln Fig. 3 mit Fig. 5. Erstere stellt die einfache Angst der Melancholie, letztere diejenige der hallucinatoriscben Paranoia dar.

**) Dabei muss man sich nur davor hiiten, Intelligenzdefect und Denkhemmung zu verwechseln.

Melancholie.

309

lytikers ist oberflaclilicher ; oft macht sie voriibergehend einem albernen Lacben Platz. Die secimclareu Wabnvorstellimgen sind durch ihre Maass- losigkeit, diircli flagrante Widerspriicbe unter sicb iind mit den Tbat- sacben und durcb die Diirftigkeit der Motivirnng ausgezeicbnet. Der Paralytiker bebauptet zu Millimetergrosse zusaramengescbrumpft zu sein, Herz, Lnngen u. s. w. verloren zu baben. Wiibrend er isst, bebauptet er, der Mimd sei zugewacbsen. Seit vielen Jabreu will er keinen Stublgang gebabt baben. Bei der Melancbolie finden sicb derartige scbwacbsinnige Wabnvorstellimgen nur ausserst selten.

Endlicb wird man beriicksicbtigen, dass die Dementia paralytica namentlicb im mittleren Mannesalter auf Grand friiber stattgebabter sypbilitiscber Infection vorkommt. Man wird daber mit der Diagnose einer Melancbolie doppelt vorsicbtig sein, wenn es sicb um eineu friiber sypbilitiscb gewesenen Mann im 4ten oder 5ten Lebensjabrzebnt bandelt.

3. Mit Dementia senilis. Maassgebend fiir die Unterscbeidung ist die Feststellimg, ob ein Intelligenzdefect vorliegt oder nicbt. Gelingt es einen solcben sicber nacbzuweisen, so liegt senile Demenz imd keine Melancbolie vor. Gerade bierbei bedarf es grosser Vorsicbt, denn gerade die senile Melancbolie tauscbt sebr oft einen Intelligenz- defect vor.

4. Mit der Stupiditiit. Fiir diese Verwecbselimg kommt namentlicb die apatbiscbe Form der Melancbolie in Betracbt. Dilferentialdiagnostiscb ist zu beriicksicbtigen, dass der apatbiscbe Melancboliker seine Apatbie scbmerzlicb empfindet, wabrend bei der Stupiditat der Kranke unter seiner Apatbie nicbt oder kaum leidet. Ferner pflegen bei der apatbi- scben Melancbolie gelegentlicb docb einzelne Angstaffecte aufzutreten; bei der Stupiditat wird die Affectlosigkeit bfter von einem kindlicben Lacbeln unterbrocben. Uebrigens kommen ab und zu Zwiscbenformen zwiscben der apatbiscben Melancbolie und der Stupiditat vor. Fasst man nur das motoriscbe Verbalten ins Auge, so abnelt die Stupiditat am meisten der passiven Melancbolie : beiden ist die vollige Resolution der Kbrpermusculatur gemeinsam. Der blode Gesicbtsausdruck der Stupiditat und der traurige der Melancbolie sind jedocb kaum zu verwecbseln.

Besondere Beacbtung verdient aucb stets die Moglicbkeit, dass die vorliegende Melancbolie die Tbeilpbase eines circularen Irreseins ist. Dringender wird dieser Verdacbt, wenn die Melancbolie sebr plbtz- licb ausbracb und wenn in ibrem Verlauf gelegentlicb stundenweise eine auffallige beitere Exaltation die Depression unterbricbt.

Ueberseben wird die einfacbe melancboliscbe Verstimmung nicbt selten. Die Vernacblassigung der Toilette, des Berufs, des Hausbalts wird auf Cbarakterveranderung statt auf Krankheit zuruckgefiibrt. Ein sacbverstandiges Befragen wird obne Scbwierigkeit die patbologiscbe

310

Melancholic.

Natiir tier psychisclien Veraiiclerimg feststellen konnen. Die oben- erwalmten sog. Dipsomanen werclen oft mit Trinkern verwechselt. Die Perioclicitat der Excesse ist bier ein wichtiges Kriterium. Es ist jedoch zu beachten, dass nicht selten aus dipsomanischen periodischen Melan- cholikern schliesslich chroniscbe Alkobolisten werden. Endlicb kann die Krankheit wegen ibres transitoriscben Charakters iibersehen werden. Es kommt leider nocb immer ab und zu vor, dass die Angabe solcher Kranken, sie wiissteu sicb. des ganzen Vorfalls (abgesehen vielleicbt von einem initialen Angstgeflibl) nicbt inebr zu erinnern, selbst von Aerzten fill- „grobe Simulations^ gehalten wird. Die blinde Riicksichtslosigkeit der Strafhandlung im Raptus melancholicus sollte schon dem Richter den Gedanken nahelegen, dass es sicb um einen pathologisch bedingten Act bandelt.

Tberapie. Zunacbst gilt als Hauptregel, dass jede Melancbolie, bei welcher Angstaffecte bestehen, wegen dringender Selbstmordver- dachtigkeit in eine gescblossene Anstalt zu uberfiihren ist. Bei der sog. melancholischen Verstimmung kann man eber die Bebandlung ausserbalb einer gescblossenen Anstalt in . Anbetracbt des Feblens von Angstalfecten und in Anbetracbt der entsprecbend geringeren Gefabr eines Selbstmordes riskiren. Da aucb die sonstige Bebandlung bei der melancboliscben Verstimmung und bei der Melancbolie mit Angst in wesentlicben Punkten verschieden ist, soil aucb die Besprecbung getrennt werden.

a. Bebandlung der melancboliscben Verstimmung. Bei nicbt gunstiger Vermogenslage wird man aucb bier die Einlieferung in eine gescblossene Anstalt vorzieben. Steben die pecuniaren Mittel zur Ver- fiigung, so veranlasst man die Ueberfiibrung in eine offene Privatanstalt. Der Verbleib des Kranken in seiner eignen Familie ist stets unzweck- massig. Ibren Angebdrigen gegeniiber fiiblen die Kranken ibre De- pression in doppelter Starke und sind doppelt willensscbwach. Der Kranke muss in andere Umgebung und zwar vor allem in einfacbe Ver- lialtnisse. Geselligkeit, Zerstreuungen, iiberbaupt Abwecbselung wirkt fast stets scbadlicb. Man ordnet daber die Lebensweise des Kranken bis zu seiner Einlieferung in die offene oder gescblossene Anstalt und weiterbin aucb in dieser selbst nacb folgenden Grundsatzen. Zunacbst empfieblt sicb die Bettrube aucb auf einen Tbeil des Tages (z. B. die Mittagszeit von 12 3 Ubr) auszudebnen. Es ist darauf zu acbten, dass der Kranke seine Toilette regelmassig und genau besorgt. Der Vor- mittag ist auf leicbte korperlicbe Bescbaftigung (Gartenarbeit, Bescbafti- gung im Hausbalt, Zeicbnen, Modelliren) zu verwenden. Nacb balb- stiindiger Bescbaftigung ist stets mindestens eine balbe Stunde Rube einzubalten. Am Nacbmittag empfeblen sicb langsame, kurze Spazier-

Melancholie.

311

giinge, einfiiclie Spiele, weuu moglich im Freien, unci leichte korper- liclie Bewegung unci Lecture. Bei der Auswahl der letzteren bedarf es specieller Vorsicht: erbauliche Lecture ebensowohl wie Immoristisclie wirkt meist ungiinstig, leichte historische Lecture, kurze einfach ge- schriebene Novellen wirken am besten. Sehr vortheilhaft ist es, wenn man den Kranken zu bestimmen vermag, auf seinen Spaziergangen Pilanzen zu sammeln und nachher zu bestimmen. Der Erfindungsgabe cles Arztes ist bier ein weiter Spielraum gelassen. Bei ungebildeten Kranken wircl man selbstverstandlicb das Hauptgewicht auf korperliche Beschaftigung legen miissen. Von beruflichen Arbeiten halt man den Kranken am besten moglichst fern. Den Briefwechsel mit Angehorigen und Freunden schriinkt man ein, jedenfalls setzt man bestimmte Tage sowohl fur das Schreiben, wie flir den Empfang von Briefen fest. Ueberhaupt ist die ganze Lebensweise des Kranken durch einen festen Stunclenplan zu regeln.

Medicamentose Behancllung ist, soweit nicht atiologische oder sym- ptomatische Indicationen in Betracht kommen, iiberflussig. Morgens und nach der Mittagsruhe verordnet man kiihle Abwaschungeu, Abends eine lane Abwaschung oder ein prolongirtes Bad (28 1, ^^4 St.) oder eine hydropathische Einpackung (25 '/a % St.). Die Obstipation bekampft

man durch Leibmassage und Eumpfgymnastik, die Schlaflosigkeit, wenn die eben erwahnten hydrotherapeutischen Maassnahmen versagen, durch gelegentliche (nicht tagliche!) Bromdosen (5 g Natrium bromat.) oder Sulfonaldosen (1,5 g Abends in Suppe oder Milch). Die Nahrungsauf- nahme bedarf einer besonderen Controle ; eventuell kommt eine Mastkur in Betracht. Stets wird der Arzt durch entsprechencle Fragen sich iiber- zeugen miissen, oh Suicddgefahr besteht oder nicht. Es ware eine ganz . falsche Scheu, wenn man solche Fragen unterlassen wollte, um, wie es meist heisst, den Kranken „nicht aufzuregen^^ Auch die leichte melan- cholische Verstimmung ist sehr haufig selbstmordverdachtig. Es sind in letzterem Falle alle Maassregeln durchzufiihren, welche in der allge- meinen Therapie angegeben sind.

b. Behandlung der Melancholie mit Angstaffecten. Nur bei sehr giinstigen Vermogensverhaltnissen ist hier die Behandlung in einer offenen Anstalt moglich; es ist in letzterer namlich unumganglich nothwendig, dem Kranken einen eigenen Privatwarter zu halten, der den Kranken weder bei Tag noch bei Nacht allein lassen darf. In der iibergrossen Mehrzahl der Falle und selbstverstandlicb in alien Fallen, wo agitirte Angst vorliegt, wird der Arzt die Einlieferung in eine ge- schlossene Anstalt moglichst zu beschleunigen suchen. In der Zeit, welche bis zur Ueberfiihrung in die Anstalt verfliesst, empfiehlt sich folgende Ordination:

312

Melancholie.

1 . Absolute Bettrube.

2. Standige Ueberwacbung durch eine zuverlassige Person.

3. Einleitimg einer Opiumtherapie.

Letztere begmnt man ausserbalb der Anstalt mit einer Tagesdosis von 0,2—0,24 g, vertheilt auf 4 Einzeldosen. Weiterhin steigt man taghch urn mindestens 0,05 g. Erlauben es die Verbaltnisse, so kann man Abends eine hydropathische Einpackung (24 «, 1 St.) oder ein pro- longirtes Bad (26-28 «, 1 St.) anordnen. Bei scbwerer angstlicher Agitation giebt man eine subcutane Einspritzung von Morpbium (0,015 —0,02) und, wenn diese nicht ausreicbt, von Morpbium mit Hyoscin (0,015 Morph, -f- 0,0005 Hyoscin). Vergl. Allgem. Tberapie. S. 265!

So bereitet der Arzt die Anstaltsbehandlung am besten vor. In der Anstalt wild die absolute Bettrube beibebalten. Hie Opiumdosis wird, da eine stetigere arztlicbe Controle moglicb ist, rascber gesteigert. Die Ueberwacbung hinsichtlich eines Selbstmordversuches wird selbst- verstandlich erst recht genau durcbgefubrt. Anfangs beschaftigt man die Kranken garnicht oder hbcbstens viertelstundenweise mit leichten Handarbeiten. Im weiteren Verlauf der Psycbose steigt man mit der Opiumdosis bis auf 1,2 und selbst bis auf 1,5 und 1,8 pro die. Keines- falls halt man mit der Steigerung der Opiumdosis ein, sobald der Kranke einmal einen Tag etwas ruhiger gewesen ist. Vielmebr gilt es als Regel, dass man durcb Steigerung der Opiumdosis dem kommenden neuen Augstaffect gewisseimaassen vorauseilt und vorbeugt. Eine regelmassige hydropathische Behandlung (tagliche Einpackungen, tagliche pro- longirte Bader) ist meist nicht angebracht. Vielmebr ist es in der Regel zweckmassiger, nur bei besonders heftigen Angstparoxysmen eine Ein- packung oder ein Bad zu verordnen ; dann pflegt der Erfolg selten aus- zubleiben. Eventuell wird man auch in der Anstalt bei tobsiichtiger angst- licher Erregung dann und wann Hyoscin mit Morpbium injiciren miissen. Isolirung ist jedenfalls zu vermeiden.

Wenn sich die Psycbose dauernd bessert, so geht man langsam etwa alle 3 Tage um 0,05 g mit dem Opium zuriick, gestattet all- mahlich dem Kranken stundenweise aufzustehen und sich langer und mannigfaltiger zu beschaftigen und erlaubt Correspondenz mit den Angehorigen, welche bis zum Eintritt der Reconvalescenz jedenfalls zu untersagen ist, und schliesslich auch Besuch der Angehorigen. Nach- dem der letztere stattgefunden hat, ist die Entlassung bezw. Beurlau- bung aus der Anstalt nicht mehr lange hinauszuschieben. Ueberhaupt kann ein in der Reconvalescenz auftretendes iibermassiges Heimweh zu- weilen zu einer noch friihzeitigeren Entlassung nbthigen, weil dasselbe geradezu die vollige Heilung und weitere Besserung verhindert. Der Arzt muss bier scharf zwischen einem physiologischen, aus der Gemiiths-

Melancholie.

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anlage und der Situation des Kranken verstandlictien Heimweh und einem auf pathologisclier Angst beruhenden Heimdrangen unterscbeiden.

Besondere Schwierigkeit ergiebt sich iin Einzelnen wabrend des Krankheitsverlaufs namentlicb bei Regelung des Stuhlgangs und der Nabrungsaufnahme. Alle Vorschriften, welcbe in der allgemeinen Tbera- pie zur Bekampfung der Obstipation und Abstinenz gegeben wurden, kommen bier in besonderem Maasse in Betracht. Man lasse eine Ob- stipation niemals iiber 48 Stunden bestehen. In schweren Fallen, wenn Leibmassage, Klystiere, Drastica, hobe Eingiessungen, Glycerineinspritzun- gen u. dgl. versagen, wird man sicb scbliesslicb zur manuellen Ausraumung des Rectums entscbliessen mussen. Besondere Aufmerksamkeit ist aucb der Mundpflege zu widmen. In der Diat vermeidet man griine Gemuse und Beerenfriicbte am besten vollstandig. Zur Milcb fugt man vortbeil- baft Kalkwasser (1 Essloffel pro Liter) binzu: sie wird dann vom Magen erbeblicb besser vertragen. Ausser Milch reicbe man namentlicb Fleiscb und Eier. Bei nicbt agitirten Formen warte man mit der Scbbmdsondenfiitterung moglicbst lange, bei agitirten muss man zu- weilen scbon am 3. 'Tage der Abstinenz eingreifen.

Besonders zu bemerken ist, dass Obstipation in keiner Weise den Gebraucb des Opiums contraindicirt. Nicbt selten beobacbtet man sogar, dass unter dem Einfluss der Opiumbebandlung die Obstipation allmablicb weicbt. Viel unangenebmer sind die bartnackigen Diarrbben, welcbe allerdings selten im Gefolge einer Opiumbebandlung auftreten, Man bekampft dieselben mit Tct. Goto und Argentum nitricum, obne die Opiumdosis berabzusetzen. Erregt der Gescbmack des Opiums Ekel bei dem Kranken, so verabreicbt man es in Pillen. Erregt es Uebelkeit, so giebt man es zusammen mit Eispillen. Klagen die Kranken nacb dem Einnehmen des Opiums iiber Aufstossen und Magendruck, so verabfolgt man das Mittel subcutan (als Extractum Opii aquosum oder Morpbium). Meist ist es zweckmassig, da Opium wie Morpbium die Salzsauresecretion des Magens berabsetzt,*) von Anfang an Ac. hydrocbloricum (3,0 : 200,0, Ya St. nacb jeder albuminbaltigen Mablzeit 1 Essloffel) zu geben. Falls das Opium das Traumleben sebr steigert und bypnagogiscbe Visionen bervorruft, verbindet man es mit kleinen Bromdosen (2,0 g Natr. bromat.). Bei scbwacber Herztbatigkeit fiigt man etwas Campber (0,01 auf 0,05 Op.) binzu. Dasselbe empfieblt sicb iiberbaupt bei der passiven Form der Melancholie.

Fur die psycbiscbe Bebandlung gilt weiterbin Alles, was in der allgemeinen Tberapie bieriiber gesagt wurde. Namentlicb biite man

0 Es tritt dies auch bei subcutaner Injection ein, da das injicirte Morpbium zu einem grossen Theil von der Magenschleimbaut wieder ausgeschieden wird und bei seinem Weg durch die Magenschleimbaut die Secretion derselben labmt.

314 Neurasthenic (Neurasthonisches Irresein).

sich, auf ein'e Discussion iiber die Wahnvorstellungen mit dem Kranken sich emzulassen. Oft verweist man ihn am besten darauf, dass die korperliche Untersuchung des Nervensystems ergeben babe, dass wenigstens aiich Krankheit vorlieg-e; die Entscheidung, ob zugleich Ver- schuldung bestehe, sei erst zu fallen, wenn die Krankheit beseitigt sei es sei doch moglicb, dass nur die korperliche Angst und Unruhe ihn auf solcbe Gedanken bringe. Jammert der Kranke weiter iiber seine angeblichen \ erbrechen u. s. w., so hort man ihn geduldig an, antwortet aber nicht. Wiederholt der Kranke bei jedem Besucbe dieselben Klagen, so schneidet man schliesslich dieselben ab. Besonderer Vorsicht bedarf die psycbische Behandlung des hypochondrischen Melancholikers. Der- selbe muss zunacbst einmal sehr griindlich und eingehend unter Be- riicksicbtigung aller wahnbaften Klagen korperlicb. untersucht werden, die immer wiederkebrende Bitte um neue Untersuchungen scblagt man bei den folgenden Visiten mit dem Hinweis auf die erste eingehende Untersuchung consequent ab.

Pathologische Anatomie. Dieselbe ist noch ebenso wenig aufgeklart wie diejenige der Manie. Hypothetisch hat man haufig eine Storung der Blutzufuhr der Hirnrinde angenommen.

c. Neurasthenie (Neurasthenisches Irresein).

Das neurasthenische Irresein ist eine sehr vielgestaltige Krankheit, deren Hauptsymptome folgende sind:

1. Krankhafte affective Reizbarkeit.

2. Wechselnde Storungen des Vorstellungsablaufs.

Zu diesen Grundsymptomen kommen dann weiterhin noch zahlreiche korperliche Symptome,*) welche fast nie vollig fehlen. Man kann daher das neurasthenische Irresein auch mit Fug und Recht als eine Psycho- neurose bezeichnen. Es liegt von diesem Standpunkt aus sehr nahe, die Neurasthenie in Analogie mit den hysterischen und epileptischen psychischen Degenerationen zu setzen. Dieser Vergleich ist auch in der That bis zu einem gewissen Grade zutreflfend und man hat daher oft das neurasthenische Irresein mit dem epileptischen und hysterischen Lresein zu einer Gruppe vereinigt. Dabei ist jedoch zu beachten, dass das Verhaltniss des psychopathischeu Symptomencomplexes zu der Neurose in den 3 Fallen wesenthch verschieden ist. Bei der Epilepsie lasst sich zwischen der Neurose und den psychopathischen Symptomen eine scharfe Grenze ziehen; wir kennen die Neurose auch ohne psycho- pathische Symptome. Bei der Hysterie ist die Verbindung der neuro-

*) Mitunter hat man diese korperlichen Symptome auch als Neurasthenic der Cerebrasthenie, d. h. den psychischen Symptomen gegenubergestellt.

Nenrasthenie (Nourasthenisches Irresein).

315

piithischen mit den psycliopathischen Symptomen bereits enger, jedocb kann man noch iminer diese von jenen trennen ; gelegentlich kommt die Hysterie mit ihren typisclien kbrperliohen Symptomen ohne psychisclie Yeranderungen vor. Anders bei der . Neiirasthenie. Hier treten stets und vom Beginn des Leidens an somatisclie und psycbisebe Symptome untrennbar verwoben auf, etwa ahnlicb, wie auf dem Gebietei der orga- nischen Psycbosen die Dementia paralytica eine iinlosliche Verbindung somatiscber und psycliiscber Symptome zeigt. Bei der Hysterie und namentlicb bei der Epilepsie entsteht die psychisclie Veranderung erst auf dem Boden der Neurose, bei der Neurasthenie kann von einem solchen zeitlichen bezw. ursachlicben Verhaltniss nicht die Rede sein: psycbisebe und korperlicbe Symptome treten gleicbzeitig und coordinu’t' auf. Wabrend daber die psycbisebe Degeneration der Epileptiker und der Hysteriseben in die allgemeine Aetiologie verwiesen werden konnte, gebbrt die Besprechung des Neurastbeniseben Irreseins in die specielle Patbologie. Innerbalb der letzteren hat man ihr bald diese bald jene Stellung zugewiesen. Da die Neurasthenie enorm vielgestaltig ist und Beziebungen und Uebergange zu fast alien anderen Psycbosen zeigt, so kann diese Versebiedenbeit der Auffassung ihrer Stellung im System der Psycbosen niebt Wunder nebmen. Da die constantesten und frubesten psyebiseben Symptome des neui’astbeniscben Irreseins das Affectleben und den formalen Ablauf der Vorstellungen betreffen, so baben wir dasselbe den affectiven Psycbosen zugesellt, beben aber ausdriicklicb, wie eben gesebeben, bervor, dass das neurastbenisebe Irresein in einzelnen Ab- arten und namentlicb in maneben Weiterentwicklungen aus dem Typus der affectiven Psycbosen beraustritt. Einen entsebeidenden Anstoss wird man bieran niebt nebmen diirfen : traten docb aucb zu der Melan- cbolie gelegentlich Wabnvorstelbmgen, Sinnestausebungen , Zwangsvor- stellungen u. s. f. binzu. Aucb das Vorkommen zablreicber korperlicber Symptome bei dem neurastbeniseben Irresein wird uns in dieser Auf- fassung niebt beirren; ist docb aucb die Melancbolie von vasomotoriseben und splanchniscben Symptomen u. s. w. begleitet.

Symptomatologie.

Affectstorungen. Enter diesen stebt die krankbafte Reizbar- keit obenan. Der Neurastbeniker ist im Ganzen weder krankbaft traurig wie der Melancbobker, nocb gar krankbaft beiter wie der Maniakaliscbe. Seine Affectstbrung ist durcb die Reizbarkeit gekennzeicbnet. Der kleinste Anlass lost abnorm intensive und abnorm nacbbaltige Unmuthsaffecte aus. Liegt die Abnormitat mebr in der Nacbbaltigkeit des Unmutbs- affects, so spricht man von dem neurastbeniseben Aerger, liegt sie in der Intensitat des Unmutbsaffects, so spriebt man von dem neurasthe-

316 Neurasthenie (Neurasthenisches Irresein).

nischen Zorn. Die 1 raiirigkeit des Melancholikers kniipft oft an aussere Objecte an, wird aber von dem Kranken dann ganz anf sein Ich iibertragen. Der Unmutli des Neurasthenikers richtet sich direct gegen die ausseren Objecte imd gegen die Personen seiner Umgebung. Darin untersclieidet sich eben die krankhafte Reizbarkeit von der krank- haften Traurigkeit. Die Anlasse, welche die Stimmung des Neurasthe- nikers verderben, sind oft so geringfiigig, dass der Kranke hinterher selbst erstaunt ist, wie er sich liber eine Kleinigkeit so vollstandig ver- gessen konnte. Bei der Hausfraii spielt der Dienstbotenarger eine Haupt- rolle: sie ist nicht mehr im Stande, ruhig einen Verweis zu ertheilen und dann das kleine Versehen eines Dienstboten zu vergessen, sondern gerath in unverhaltnissmassigen Zorn, kommt immer wieder auf das Versehen zuriick und vergisst dasselbe selbst Nachts nicht. Aehnlich geht es dem Beamten; er kann weder den kleinsten Verweis seiner Vorgesetzten noch den harmlosesten Fehler eines Untergebenen ruhig ertragen und verwinden. Jeder Widerspruch im Familienkreise oder im Bekanntenkreise versetzt den Kranken in Aufregung. Selbst die Un- gezogenheit seiner Kinder lost Zornausbriiche aus.

Die Irradiation dieser pathologischen Gefiihlstbne bleibt nicht aus. Schliesslich argert den Kranken die Fliege an der Wand. Kein Essen schmeckt ihm, kein Gegenstand liegt da, wo er ihn sucht, keine Be- schaftigung behagt ihm. Er mag sich setzen, wie er will: er fiihlt sich nicht wohl. Nachts findet er keine Lage, in der er einschlafen konnte. „Aus der Haut mochte ich fahren^^ resumiren viele Kranke diesen Affect- zustand in fast wortlicher Uebereinstimmung. Dass die spater zu erwah- nenden Hyperasthesieen und pathologischen Sensationen hierzu noch viel beitragen, liegt auf der Hand; andererseits lehrt die klinische Beobach- tung unzweifelhaft, dass die Kranken nicht etwa nur in Folge dieser Hyjierasthesien und Sensationen reizbar verstimmt sind.

Gegeniiber dieser Reizbarkeit treten alle andern Affectstorungen des Neurasthenikers in den Hintergrund. Ungemein haufig ist eine Misch- form zwischen der Melancholie und dem neurasthenischen Irresein. Bei dieser findet sich auch unmotivirte primare Depression und Angst. Zu dem typischen Bild der Neurasthenie gehoren beide nicht. Compli- cirende Zwangsvorstellungen und hypochondrische Vorstellungen be- dingen sehr haufig eine secundare Depression. Zugleich fiihren sie zu einer Einschrankung des Interessenkreises des Kranken auf seine Krank- heit. Er wird oft zum starrsten Egoisten. Alle zu seiner Krankheit nicht in Beziehung stehenden Dinge interessiren ihn nicht mehr.

Empfindungen. Zuniichst besteht bei vielen Neurasthenikern eine ausgesprochene Hyperaesthesie. Die Reizschwelle scheint nach untcn

Neurasthenie (Nourastlienisches Irresein).

317

versclioben, die Empfindungsintensitat iinverlialtnissmassig gesteigert. Dies gilt niclit uur von der Hautempfindlichkeit, sondern in nocli hoherem Maasse von den hdheren Sinnesorganen (Hyperaesthesia retinae, Hyper- aknsinie, Hyperosmie). Oft ist init dieser Hyperasthesie aucli eine ausgesprochene Hyperalgesie verbimden. Eine etwas starkere Beriibrung wil'd scbon als Scbmerz empfunden. Scbon ein massiges Licbt wird als nnangenebm blendend, ein massiges Gerauscb als scbmerzbaft gellend empfunden nnd gefiiblt. Aucb die abnormen Enniidungserscbeinungen, liber welcbe viele Nenrastbeniker klagen, beruben wabrscbeinlicb nicbt allein anf tbatsacblicbem Versagen des motoriscben Apparats, sondern zuweilen aucb anf einer Hyperastbesie nnd Hyperalgesie der Muskel- Sebnen- imd GelenkempfindungenA)

Ein weiteres sebr constantes Symptom der Neurastbenie stellen die Parastbesien dar. Die Kranken klagen liber Taubbeits- nnd Kriebel- empfindimgen, namentlicb in der Kopfbaiit nnd in den Extremitaten, Dazn kommt anf dem Gebiete der boberen Sinnesorgane Funkenseben, Hanfung von Moucbes volantes, Obrensausen nnd Obrenklingen. Letzteres wird bald in die Obren selbst bald in die Mitte des Kopfes verlegt („Kopf- sausen"). Zum grossten Tbeil entspringen diese mannicbfaltigen Parastbe- sien wabrscbeinlicb abnormen Keizzustanden der peripberen Nerven- babnen oder vasomotoriscben Storungen, zum kleineren Tbeil mag es sicb urn ballucinatoriscbe oder urn illusionare Processe bandeln, also um Vorgange, an deren Zustandekommen eine krankbafte Erregbarkeit der Hirnrinde betbeiligt ist. Entwickeln sicb bei der Neurastbenie bypocbon- driscbe Wabnvorstellungen, so wirken diese baufig verstarkend nnd modi- ficirend anf die Parastbesien zuriick. Es kommt zu zablreicben illusio- naren Auslegungen nnd Illnsionen. Entscbieden als Illusionen sind die bypnagogiscben Visionen des Neurastbenikers aufzufassen. Bei Augen- scblnss siebt er allerband Gestalten (Gesicbter, Landscbaften), welcbe beim Oeffnen der Augen sofort verscbwinden.

Eine grosse Kobe im Krankbeitsbild der Neurastbenie spielen aucb die spontanen Scbmerzen. Sie treten am baufigsten unter dem Bilde der Topalgien anf (vergl. allgemeine Symptomatologie S. 180). Der baufigste Sitz dieser Topalgien ist der Hu’nscbadel, docb kommen aucb Topalgien in der Herzgegend, der Magengegend und in den Extremitaten vor. Von den Topalgien wobl zu unterscbeiden ist der sog. „Kopfdruck" der Neurastbeniscben. Dieser berubt in den meisten Fallen auf Ermiidungs- empfindungen des M. frontalis und der Nackenmuskeln, welcbe der Neu- rastbeniker entsprecbend der Erscbwerung seiner Aufmerksamkeit und

*) So entsteken wakrsckeinlicli aucb die qualvollen Oppressionsempfindungen welcbe das Atbmen mancber Neurastbeniscber begleiten.

318

Neurasthenie (Neurasthenisches Irresein).

Heenassociation oftei- und starker bei jedem geistigen Process mitin- nervirt als der Gesunde.

In ihrer Pathogenese ganz unaufgekliirt sind die mannichfachen bchwindelsensationen, uber welclie viele Neurasthenische klagen. Meist

ste len sich dieselben anfallsweise und ohne Scheinbewegung der Ob jecte ein.

In enger Beziehung zu den soeben aufgefuhrten Sensibilitiitsstbrun- gen stehen auch die sog. Druckpunkte der Neurasthenie. Im Gegen- satz zu denjenipn der Idysterie sind sie meist (nicht stets!) symmetrisch ausgebildet. Mit dem Verlauf der grossen Nervenstamme haben sie nichts zu thun. Eine der haufigsten Druckempfindlichkeiten ist diejenige der Dornfortsatze der Wirbel, die sog. Spinalirritation. Friiher be- zeichnete man das ganze neurasthenische Krankheitsbild auch geradezu als Spinalirritation. Ueber die Localisation der einzelnen Druckpunkte sind die Lehrbiicher der Neuropathologie sowie der einschlagige Ab- schnitt der allgemeinen Symptomatologie nachzulesen.

Eine nicht seltene Complication des neurasthenischen Irreseins stellt die Migrane dar.

Vorstellungen. Der Vorstellungsablauf der Neurastheniker zeigt fast stets erhebliche Stbrungen. Dieselben entbehren jedoch des ein- heitlichen CJiarakters, wie wir ihn bei der Melancholie und der Manie finden. Schon der Act der Aufmerksamkeit ist gestort. Es fehlt dem Neurastheniker an Concentrationsfahigkeit. Sein Vorstellungsablauf wird selteu langere Zeit von einer Empfindung resp. einem Empfindungs- complex beherrscht. Zwischenvorstellungen oder gleichzeitige Empfindun- gen stbren ihn beim Aufmerken fortgesetzt. Spater, wenn hypochondrische Wahnvorstellungen sich gebildet haben, kommt es zu einer einseitigen Concentration der Aufmerksamkeit auf das eigene korperliche Befindeu. Aehnliche Storungen machen sich auch im Vorstellungsablauf geltend. Der Neurastheniker vermag einen Gedankengang nicht langere Zeit fest- zuhalten und zu verfolgen. Zwischenvorstellungen und Zwischenemiifin- dungen storen auch den Gang der Ideenassociation fortwiihrend. Bei dem Gesunden beherrscht eine Zielvorstellung eine langere Vorstellungsreihe, bei dem Neurastheniker sind solche Zielvorstellungen nicht vorhanden oder ganz ohpmachtig. Zuweilen kommt es in Folge dessen zu einer voll- standigen Incoharenz des Vorstellungsablaufs. Der Kranke vermag keinen Gedanken zu Ende zu denken. Zu dieser Incoharenz kommen Storungen in der Geschwindigkeit der Ideenassociation hinzu. Bald iiberstiirzt sich das Denken im Sinn einer Ideenflucht .bald reisst der Gedankenfaden „wie vor einer Barriere“ ab (im Sinne einer Denkhemmung). Gerade dieser Wechsel der formalen Associationsstbrung ist fiir die Neurasthenie charakteristisch. Bald iiberwiegt die krankhafte Beschleuuigung, bald die krankhafte

Neurastbenie (Neurastheniscbes Irresein).

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Hemmung. Der Kranke driickt dies auch haiifig so aus, dass er klagt, er babe die Herrscbaft uber sein Denken verloren. Diese Klage be- deiitet nicbts anderes, als dass die Ideenassociation ibre normale Ge- scbwindigkeit imd ibre Abbiingigkeit von Zielvorstellungen verloren bat. Der Kranke fiiblt diese Erscbwerung seines Denkens, er spannt die sog. Iiitentionsmuskeln aiif das Hocbste an, urn seine Zielvorstellung zu ver- folgen, indess vergebens: zu der Storung der Ideenassociation tritt nun das qiiiilende Gefubl des Kopfdruckes binzu. Im weiteren Verlauf kann es aucb zu ausgesproebenem Zwangsdenken kommen. Scbon bei den leicbten Formen ist dies insofern angedeutet, als der Kranke ge- wisse Erlebnisse nicbt vergessen kann. Namentlicb Nacbts qualen ibn die Nacbbilder der Scenen, die er am Tage geseben, und der Worte, die er gebort. In anderen Fallen sind es Reminiscenzen aus der Langst- vergangenbeit, die den Kranken nicbt loslassen. Kommt es zur Ent- wickelung bypocbondriscber Vorstellungen, so engt sicb das ganze Denken des Kranken auf Grubeleien uber seinen korperlicben Zu- stand ein.

Der Inbalt der Vorstellungen des Neurastbenikers bleibt zunacbst durcbaus normal. Er, ist sicb der Krankbaftigkeit seiner Affect- und Associationsstorungen durcbaus bewusst. Erst nacb und nacb stellen sicb aucb inbaltlicbe Storungen ein. Diese geboren bald den sogenannten Zwangsvorstellungen an das neurastbeniscbe Irresein gebt in das an andrer SteUe ausfubrlicb besebriebene Irresein aus Zwangsvorstellungen iiber bald entwickeln sicb wirklicbe Wabnvorstellungen. Es entspricbt nun durcbaus der eigenartigen Affectstorung, der Nem’astbenie, dass diese secundaren Wabnvorstellungen fast niemals wie bei der Melancbolie den Cbarakter der Selbstanklage tragen. Der Neurastbeniker ergebt sicb nicbt in Versundigungsideen, sondern seine ersten Wabnvorstellungen sind fast stets bypocbondriscben Inbalts. In seinen patbologiscben Sensa- tionen, in seinen Associationsstorungen und in den weiter unten .anzu- fubrenden korperlicben Symptomen im engeren Sinne findet er zabllose Anknupfungspunkte fur bypocbondriscbe Wabnvorstellungen. An Ge- birnerweicbung, Hirntumor, Ilerzfebler,, Tabes u. s. w. furcbtet er zu leiden, je nacbdem seine Aufmerksamkeit mebr auf seinen Kopfdruck oder auf seine vasomotoriscben Storungen (s. u.) oder auf seine Spinal- irritation u. s. w. gericbtet ist und aucb je nacbdem Lecture, Ge- spracbe u. s. f. ibm den Gedanken an diese oder jene Krankbeit naber gelegt baben. Man bezeicbnet diese Weiterentwickelung der Neurastbenie aucb als bypocbondriscbe Neurastbenie. Die fur die bypocbondriscbe Neurastbenie cbarakteristiscben bypocbondriscben Vorstellungen ent- wickeln sicb meist allmablicb. Zunacbst baben sie nocb garnicbt die Dignitat von Wabnvorstellungen: so unricbtig sie aucb, objectiv genom-

^20 Neurasthenie (Neurasthenisches Irresein).

men, sind, so liaben sie zuniichst docli eine ausreichende subjective Motivinmg in den scbweren, tbatsacblicben neurastbeniscben Bescbwerden. Erst ganz allmabbcb macben sicli die bypocbondriscben Vorstellungen unabbimgig von den Symptomen, an welcbe sie zunacbst ankniipften und kdnnen danu als ecbte Wahnvorstellungen gelten. Diese hypochon- driscben Vorstellungskreise beeinflussen das Krankbeitsbild insofern wesentlicb, als sie zu einer secundaren Depression und Angst fubren. Der secundare Cbarakter dieser Depression und Angst des bypocbon- driscben Neurastbenikers spricht sich aucb darin aus, dass die Depression und Angst des neurastbeniscben Hypocbonders selten continuirlicb ist, vielmebr sofort nacblasst, sobald voriibergebend die neurastbeniscben Bescbwerden nacblassen oder durcb Geselligkeit sein Denken von den bypocbondriscben Vorstellungen abgelenkt wird. Dass zu den bypocbon- driscben Vorstellungen des Neurastbenikers spater aucb Wabnideen der Verfolgung und selbst Grossenideen binzutreten konnen, wird bei der Darstellung des Verlaufs des neurastbeniscben Irreseins zur Spracbe kominen.

Handl ungen. Dieselben Associationsstorungen, welcbe den Vor- stellungsablauf befallen, beeinflussen aucb die Handlungen. Der Neu- rastbeniker vermag seine Tbatigkeit ebensowenig wie sein Denken zu concentriren. Er zersplittert sicb und scbweift von einer Tbatigkeit zur anderen ab. Bald arbeitet er iiberbastig, bald versagt seine Tbatki-aft vollstandig. Dazu kommt der Einfluss der Affectstorungen. Der Kranke fiiblt sicb in keiner Tbatigkeit und in keineni Beruf zufrieden, Seine Unmutbsaffekte reissen ibn zu allerband Handlungen des Jabzorns bin : er missbandelt seine Angeborigen, zerstort Mobiliar, stosst Drobungen und Scbimpfworte aus, verwickelt sicb in Anklagen und Processe, kiin- digt uniiberlegt Stellungen und Freundscbaften auf. Viele sucben Be- taubung in Alkobolexcessen und namentlicb aucb in unmassigem Bau- cben. Wenn voriibergebend die reizbare Verstimmung nacblasst oder die Geselligkeit den Kranken fortreisst, kann er die ausgelassensten Streicbe veriiben und an den tollsten Excessen tbeilnebmen. Gewinnen bypocbondriscbe Vorstellungen die Oberband, so kann sicb das typiscbe Gebabren des Hypocbonders einstellen, wie wir es friiber gescbildert baben, Bei weiblicben Individuen kommt es zu fortwabrendem Dienst- botenwecbsel. Der ebelicbe Friede leidet ebenso wie die Erziebung der Kinder. In den niederen Volksscbicbten fitbrt die Neurastbenie nicbt selten zur Vagabundage, und die neurastbeniscben Symptome pflegen dann scbliesslicb von den Veranderungen, welcbe die Landstreicberei an Kbrper und Seele bervorbringt, vollig verdeckt zu werden.

Selbstverstandlicb wird aucb die Leistungsfabigkeit der Neurastbe- . niker in bohem Maasse durcb die oben erwabnten abnormen Ermiidungs-

Neurasthenie (Neurasthenisches Irresein).

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sensationen sowie namentlich durcli die thatsachliche abnorm rasche Erscbopfung des motorischen Apparats, welcbe unten nocb besprochen werden wird, beeintracbtigt.

Korperliche Symptome. DerSchlaf der Neurastbenischen ist fast stets mangelhaft. Agrypnie ist nicht selten eines der friihesten Kranklieitssymptome. Bald lassen den Kranken seine motorische Unrube, seine Gedankenunrube und seine reizbare Verstimmung nicbt scblafen bald ist die Scblaflosigkeit vbllig primar. Jedenfalls macben sicb in den scblaflosen Nacbten die qualenden Symptome der Neurastbenie doppelt bemerkbar: Nacbbilder, Keminiscenzen , bypnagogiscbe Visionen , Obr- gerauscbe, Zwangsvorstellungen und bypocbondriscbe Gedanken kdnnen zu einem wabren Hexensabbatb fiibren. Bald jagen sicb die Vorstellungen obne jeden Zusammenbang, bald klebt die Association an einer Vor- stellung'fest, bald reisst der Faden ganz ab. Dazu kommt die durcb Parastbesien und Unmutbsaffecte gesteigerte motoriscbe Unrube. Statt des normalen Scblafes stellt sicb zuweilen aucb ein fortgesetzter Halb- scblaf ein. Das Traumleben ist oft excessiv gesteigert. Damit bangt es denn aucb zum Tbeil zusammen, dass selbst nacb einer leidlicb durcbscblafenen Nacbt die Kranken sicb garnicbt erquickt fiiblen. Viele Kranke fiiblen sicb nacb einer guten Nacbt geradezu doppelt elend.

DieErnabrung der Neurastbeniscben leidet gleicbfalls sebr oft er- beblicb. Docb beobacbtet man gelegentlicb aucb die qualvollsten Formen der Neurastbenie bei sebr woblgenabrten Individuen. Es sind Ab- magerungen bei Erwacbsenen bis auf 30 Kilo und weniger bekannt. Die Gewicbtsabnabme im Laufe der Erkrankung belauft sicb sebr oft auf 10—20 Kilo, zuweilen auf nocb mebr. Diese Ernabrungsstorungen beruben baufig auf mangelbafter Nabrungsaufnabme und letztere bald auf dem Feblen des Hungergefiibls bald auf dem Feblen des Appetit- gefubls. In letzterem Falle spricbt man von neurastbeniscber Anorexie. Gefordert wird diese Anorexie baufig durcb leicbte cbroniscbe Magen- katarrbe, wie sie die Neurastbenie sebr baufig begleiten. Nicbt selten ist aucb die Salzsauresecretion der Magenscbleimbaut gestbrt (bald Hyper- bald Hypocblorbydrie), desgleicben ofters die Motilitat des Magenmus- kels. Beides tragt zur Entstebung von Magenbescbwerden (namentlicb in Folge abnorm langen Verweilens der Speisen im Magen) und Magen- katarrben bei. Dazu kommen Storungen in der Darminnervation, bald iiberwiegt cbroniscbe Obstipation (mit oder obne cbroniscben Darm- katarrb) bald iiberwiegen Durcbfalle, bald bestebt ein unregelmassiger Wecbsel zwiscben Obstipation und Durcbfallen. Den Gesammtcomplex dieser Symptome von Seiten des Digestionstracts , zu dem endlicb namentlicb nocb der pelzige Belag der Zunge zu recbnen ist, bat man

Zielien, Psychiatrie. 21

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Neurasthenie (Neurasthenisches Irresein).

oft in unzweckmassiger 'W eise als nervose Dyspepsie bezeichnet. Jedenfalls erklart sicli aus den angefiibrten Innervationsstdrungen in ausreichender Weise, weshalb die Ernabrung bei der Neurasthenie oft so sebr darniederliegt. Ob daneben auch nocb der Stoffwecbsel als solcher gestort ist, ist nocb nicht mit genugender Genauigkeit fest- gestellt.

Vasomotorische Storungen kommen bald neben den soeben erorterten Digestionsstdrungen vor, bald obne dieselben. In letzterem Falle bat man von „vasomotoriscber Neurasthenie gesprocben. Die vasomoto- riscben Stdrungen bescbranken sicb zuweilen auf dauernde oder anfalls- weise auftretende Tacbykardie.^) Haufig kommt bierzu eine eigenartige Unregelmassigkeit des Pulsscblags: die Frequenz der Pulsscblage und ibre Wellenbdbe ist einem unregelmassigen Wecbsel unterworfen. Von der Arbytbmie, wie sie bei organiscben Herz- und Gefasserkrankungen beobacbtet wird, unterscbeidet sicb diese neurastbeniscbe Arbytbmie sebr bestimmt dadurcb, dass bei letzterer jede abnorme Bescbleunigung oder Verlangsamung der Herztbatigkeit und jede abnorme Erbdbung oder Erniedrigung der Pulswelle sicb uber eine grdssere Reibe (mindestens 6 bis 10) Pulsscblage verfolgen lasst. Ein Aussetzen nur eines oder nur zweier Pulsscblage gebdrt bei der Neurasthenie, vorausgesetzt dass Com- plicationen z. B. mit Atheromatose feblen, zu den allergrossten Selten- heiten. Differentialdiagnostisch ist dies von erheblicbster Bedeutung. Meist treten aucb die Storungen der Gescbwindigkeit und die Veran- derungen der Wellenbobe bei der Neurasthenie nicbt so unvermittelt auf wie bei organiscben Erkrankungen des Circulationsapparats : so folgt z. B. eine tacbykardiscbe Reibe von Pulsscblagen nicbt ganz plotz- licb auf eine bradykardiscbe oder normalscbnelle Reibe, sondern man fiihlt, wie die Gescbwindigkeit sicb von Scblag zu Scblag allmablich steigert, bis die voile Tacbykardie erreicbt ist.

Die Pulsform variirt im Einzelnen sebr. Am baufigsten fallt im Spbygmogramm die tiefe Einsenkung vor der dikroten Elevation auf. Die Dikrotie erscbeint dadurcb stark gesteigert. Die erste Elasticitats- elevation ist eber scbwacb. Jedenfalls ist der Contractionszustand der peripberen Arterien ungemein schwankend. Ein leiobter Sinnesreiz oder Affect genugt bald krampfartige Contraction bald labmungsartige Er- weiterung der Arterien hervorzurufen. Hiermit bangt aucb die abnorme Neigung dieser Neurastbeniker zum Errdtben sowie die selten fehlende Steigerung des vasomotorischen Nacbrdthens zusammen.

Die tacbykardischen Anfalle der Neurasthenie sind aucb insofern be-

*) Bradykardie deutet fast stets auf eine Complication mit Herzerkrankung (Myocarditis) oder Arterienerkrankung.

Neurasthenie (Neurasthenisches Irresein). 323

merkenswerth, als sie oft von einem ausgepragten Gefuhlston der Angst begleitet sind.

Die Pup i lien der Neurastheniker sind hMg erweitert, die Licht- reactionen prompt, aber oft sebr wenig ausgiebig und sehr wenig nacb- haltig.

Die grobe motorische Kraft der Extremitaten ist herabgesetzt, und zwar aussert sich diese Herabsetzung weniger in der Geringfiigigkeit der momentanen Leistung als in der rascben Erschbpfung der Leistungs- fabigkeit, V erfolgt man die Abnabme der Leistungsfabigkeit genauer mittelst eines Dynamometers, so beobacbtet man, dass auch im Stadium der Er- scbbpfung der Kranke im Gegensatz zu den mit organiscber Parese Bebafteten bei Aufljietung aller Energie momentan wieder bobe Druck- wertbe erreicbtj diese Wiederkebr der Leistungsfabigkeit ist nur momen- tan, jedenfalls soil man in Anbetracbt derselben bei Neurastbenikern stets eine fortlaufende Reibe von dynamometriscben Druckwertben (etwa in Zwiscbenraumen von 25") aufnebmen.

Diese abnorme Erscbopfbarkeit der motoriscben Innervationen aussert sicb aucb beim Sprecben, Scbreiben, Geben und Steben. Stimme, Hand und Fiisse versagen nacb kurzen Anstrengungen, Instinktiv sucbt sicb der Neurastbeniscbe anzulebnen, wenn er nur einige Augenblicke steben muss. Ganz besonders sind aucb die sog. Accomodations- und Intentionsmuskeln betroifen. Es giebt Neurastbeniker, welcbe kaum 10 Zeilen bintereinander lesen konnen, weil der Ciliarmuskel und die Musculi recti interni versagen. Die Kranken klagen dann, dass die Bucbstaben vor ibren Augen verscbwimmen und dass ein Ermiidungs- scbmerz in den Augen sicb einstellt. Mitunter kommt es sogar zu Doppelbildern, indem eine leicbte congenitale Dilferenz der Innervation der inneren Augenmuskeln bei zunebmender Ermiidung sicb starker geltend macbt. Mitunter mag dies neurastbeniscbe Doppelseben aucb darauf beruben, dass die corticale Verscbmelzung leicbt getrennter Doppelbilder , welcbe der normalen, nicbt ermiideten Hirnrinde leicbt gelingt, von der neurastbeniscben, abnorm rascb erscbopften Hirnrinde nicbt mebr zu Stande geb^acbt wird. Die abnorm rascbe Ermudung der Intentionsmuskeln (M. frontalis, Nackenmuskeln), deren Innervation das angestrengte, sog. willkiirlicbe Aufmerken und Denken begleitet, macbt sicb besonders stark geltend, da der Neurastbeniker in dem Be- miiben seine Associationsstorung zu iiberwinden gerade diese Muskeln besonders in Ansprucb nimmt. Zu der Entstebung des oben erwabnten Kopfdrucks tragt dies natiirlicb viel bei.

Zu diesen Ermiidungsparesen des Neurastbeniker s kommen nocb andere Motilitatsstbrungen binzu, so namentlicb oft ein lebbafter Tremor, der sicb sowobl bei statiscben Innervationen wie bei Bewegungen geltend

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Neurasthcnie (Neurasthenisches Irresein).

macht. Bald ist er direct ein Ermiidungsplianomen bald auf die affective Erregung zuriickzufiibren. In seltenen Fallen kommt es aucb zu Co- ordinationsstorungen ; dieselben machen sich erst dann geltend, wenn der Kranke langere Zeit eine motorische Leistung ohne Pause fort- zusetzen gezwungen ist. Es kommt dann soweit, dass der Kranke fehl- greift und fehltritt, sich verspricht und verschreibt u. dgl. m. Auch bierbei wirkt die affective Erregung meist mit. Differentialdiagnostisch sind diese Symptome sebr wichtig.

Die Sensibilitatsstorungen, Schmerzen und Druckpunkte wurden im Interesse der Uebersicbtlichkeit bereits unter den Storungen des Em- pfindungslebens, also unter den psychiscben Symptomen besprochen. Es sei nur noch erwabnt, dass das Gesicbtsfeld intact ist ; dock schwanken seine Grenzen unter dem Einfluss der Ermiidung in sebr auffalliger Weise.

Die Sebnenpbanomene sind meist gesteigert, in mancben Fallen findet sicb sogar beiderseitiger Fussklonus.

Die Hautreflexe sind zuweilen gesteigert, zuweilen normal, mitunter sogar berabgesetzt ; fast stets sind sie auf beiden Seiten gleich (im Gegensatz zur Hysteric).

Besonderer Erwabnung bedarf endlicb nocb das sexuelle Leben des Neurastbeuikers. Im Allgemeinen berrscbt sexuelle Uebererregbarkeit vor. Bei beiden Gescblecbtern kommt es ofter zu Pollutionen, bei dem mannlicben zu qualenden Priapismen. Sebr baufig gebt Masturbation der Neurastbenie scbon voraus, in anderen Fallen fubrt erst die Neurastbenie zu masturbatoriscben Excessen. Sexuelle Frigiditat findet sich fast nur bei scbwer erblicb belasteten Neurastbenikern. Dasselbe gilt von sexuellen Perversitaten. Impotenz bald auf Grund der Erschopfung durcb sexuelle Excesse bald auf Grund bypocbondriscber Vorstellungen ist nicbt seiten.

Verlauf. Die Neurasthenic entstebt fast stets cbroniscb. Seiten entwickeln sicb ibre Symptome acut im Anschluss an eine beftige Ge- miitbserscbiitterung oder ein Trauma oder eine scbwere fieberbafte Erkrankung. Bei der typiscben Neurastbenie kann man zwei Stadien unterscheiden. Im ersten iiberwiegen die korperlicben Symptome, die krankhafte Keizbarkeit und die Associationsstorung, im zweiten treten , Zwangsvorstellungen oder hypocbondriscbe Vorstellungen hinzu. Im Ein- zelnen ist die Reibenfolge und Combination der Symptome den aller- * grossten Scbwankungen unterworfen.

Die Ausgange der Neurastbenie sind:

1. Cbronische Neurastbenie

2. Irresein durcb Zwangsvorstellungen

3. Hypocbondriscbe Paranoia

4. Hypocbondriscbe Melancholic

5. Heilung.

Neurasthenie (Neurasthenisches Irresein).

325

Tod und secundare Demenz kommen nicM vor; hochstens fiihrt Inanition in sehr schweren Fallen bei unzweckmassiger Bebandlung den Tod herbei. Heilung tritt hochstens in 20 Vo aller Falle ein. Ruckfalle sind haufig. Zum Theil beriiht diese ungiinstige Prognose _^rauf, dass die Kranken oft erst sehr spat in sachverstandige arztliche Behandlung eintreten. Bleibt Heilung aus, so kommt es meist zu einer chronischen Neurasthenie mit secundaren hypochondrischen Vorstellungen und Zwangs- vorstellungen. Seltener kommt es zu einer typischen hypochondrischen Paranoia (mit Verfolgungs- und ev. auch mit Grossenideen), etwas haufiger verdrangen die Zwangsvorstellungen die urspriinglichen neu- rasthenischen Symptome mehr und mehr, so dass ein typisches Irresein aus Zwangsvorstellungen sich entwickelt. Selten ist schliesshch der Aus- gang in hypochondrische Melancholie ; derselbe vollzieht sich, indem zu den neurasthenischen Symptomen und hypochondrischen Vorstellungen eine primare, selbststandige Depression und Angst hinzutiitt.

Varietaten. In vielen Beziehungen nimmt das neurasthenische Irresein eine centrale Stellung ein. In seinen zahlreichen Varietaten bietet es Uebergange und Beziehungen zu fast alien Psychosen dar. Dazu kommt, dass diejenige psychische und korperliche Veiandeiung, welche wir in der allgemeinen Pathologie als neuropsychopathische Con- stitution kennen lernten, ungemein haufig unter dem Bilde der Neu- rasthenie sich aussert. So ist die neuropsychopathische Constitution, welche Kopftraumen, geistige Ueberanstrengungen, sexuelle Excesse, Heerderkrankungen des Gehirns hervorrufen, mit der Neurasthenie in wesentlichen Punkten identisch. So wil'd es verstandlich , dass viele Psychosen sich geradezu auf dem Boden der Neurasthenie entwickeln. Namentlich gilt dies von den chronischen Psychosen. Von diesem Stand- punkt aus erscheint die Neurasthenie geradezu als die Stammmutter zahl- reicher Psychosen und Psychoneurosen.

Die wichtigsten Varietaten des neurasthenischen Irreseins sind, abge- sehen von der schon besprochenen Weiterentwicklung zu hypochondrischen Vorstellungen und Zwangsvorstellungen folgende:

1. Die depressive Form. Bei dieser treten von Anfang an oder schon sehr friih nehen der reizharen Verstimmung primare Angstaffecte und primare Depression auf. Offenbar handelt es sich hier um eine Uebergangs- form zur Melancholie. Namentlich im jugendlichen Alter begegnet man ihr sehr haufig. Auch auf dem Boden der Hysterie ist sie nicht selten.

2. Die paranoische Form. Bei dieser ist die reizbare Verstimmung zwar das friiheste und dominirende Symptom, aber es fallt auf, dass die hypochondriscben Wahnvorstellungen schon sehr friihe und sehr selbst- standig auftreten sowie dass ein unbestimmtes Misstrauen, welches den

320 NGurftsthcnic (NGurasthGnischcs Irrcscin).

spateren Verfolgungswahn gewissermaassen ankiindigt, sclion fruhe der affectiven Keizbarkeit beigemischt ist.

3. Die Neurastbenie mit friiben Zwangsvorstellungen. Wabrend die typiscbe Neurastbenie iiberbaupt nicbt oder erst in einem zweiten Stadium zu Zwangsvorstellungen fiibrt, sind bei dieser Varietat scbon sebr friibe neben der dominirenden reizbaren Verstimmung Zwangsvor- stellungen vorbanden. Namentlicb auf dem Boden der erblicben Degene- ration ist diese Uebergangsform von der typiscben Neurastbenie zu dem typiscben Irresein aus Zwangsvorstellungen sebr baufig. Die Prognose dieser Varietat sowie der unter 2 aufgefiibrten ist im Gegensatz zu der- jenigen der depressiven Form sebr ungiinstig,

4. Die stupide Form. Hier iiberwiegt unter den Stbr ungen der Ideenassociation entscbieden die Denkbemmung. Neben der reizbaren Verstimmung macbt sicb eine merklicbe Apatbie geltend. Die Kranken klagen, dass „sie sicb nur nocb argern, aber nicbt mebr frob und nicbt mebr traurig sein konnten''. Diese Varietat, welcbe offenbar eine Ueber- gangsform von der typiscben Neurastbenie zur Stupiditat darstellt, ist ebenso wie die depressive Form im jugendlicben Alter am baufigsteii. Ibre Prognose ist eber gunstiger als diejenige der typiscben Neurastbenie.

Auf Grund der somatiscben Symptome der Neurastbenie konnte man nocb mancbe andere Varietat unterscbeiden. >) Da solcbe Varietiiten jedocb mebr in das Gebiet der Neuropatbologie als in dasjenige der Psycbopatbologie gebbren, werden sie bier iibergangen.

Aetiologie. Erblicbe Belastung spielt bei dem neurastbeniscben Irresein eine geringere Eolle als bei den meisten anderen Psycbosen. Nur in etwa 35 % s-Hsr Falle ist sie nacbweisbar. Die Neurastbenie ist relativ baufig eine obne vorausgegangene Pradisposition erworbene Krankbeit. Da andererseits ibr belastender Einfluss auf die Descendenz meist sebr erbeblicb ist, so wird es begreiflicb, dass in den Stammbaumen der verscbiedenen Psycbosen verbaltnissmassig oft die Neurastbenie eines Ascendenten zuerst in die Familie die Belastung bineintragt. Aucb in dieser Beziebung erscbeint die Neurastbenie oft als die Stammmutter der „famille nevropatbique et psycbopatbique", wie franzosiscbe Psychi- ater es ausgedriickt baben.

Fast alle intra vitam einwirkenden Scbadlicbkeiten kbnnen gelegent- licb eine Neurastbenie bervorrufen. An dieser Stelle sollen nur die wirk- samsten und baufigsten aufgefiibrt werden:

a) Intellectuelle Ueberarbeitung. Hierber gebbrt z. B. die Neur- astbenie der Gymnasiasten, Studenten und Gelebrten.

*) So sei z. B. nur an die Uebergangsformen zwischen Neurastbenie und Hysterie erinnert.

Neurasthenie (Neiirasthenisches Irresein).

327

b) Affective Erregungen. Es ist kein Ziifall, das gerade diejenigen Individuen, deren Thatigkeit verantwortungsvollist, besonders oft an Neurasthenie erkranken. Zu den intellectuellen Strapazen kommen die afiectiven Strapazen hinzu. In vielen anderen Fallen sind es die un- mittelbaren Sorgen im Kampf uni’s Dasein, welche das Grleichgewicht des Nervensystems storen. Aerger fiber Untergebene, Zuriicksetzungen und Krankungen seitens Vorgesetzter, politische und sociale Konflikte, Geschafts- und Nahrungssorgen, hausliche Differenzen, Prozesse und litterarische Streitigkeiten sind bald einzeln bald in mannichfachen Gom- binationen wirksam.

c) Sexuelle Excesse. Enter diesen steht die Masturbation obenan. Gewiss ist dieselbe baufig bereits ein Symptom einer neuropathischen Constitution, gewiss ist dieselbe ferner auch bei solchen Individuen, welche niemals irgendwie erkranken, ungemein haufig; ebenso gewiss ist jedoch auch, dass in einer nicht kleinen Reihe von Fallen die Masturbation die Ent- stehung von Psychosen begiinstigt. Enter diesen Psychosen ist neben der Melancholie und Paranoia in erster Linie auch die Neurasthenie zu nennen. Freilich ist die Masturbation fast niemals die einzige Ersache einer Neurasthenie, aber ihre Mitwirkung ist oft unverkennbar.

d. Alkoholexcesse. Der chronische Alkoholismus fiihrt weitaus am haufigsten zu der in der allgemeinen Aetiologie beschriebenen psychischen alkoholistischen Degeneration. Gelegentlich beobachtet man jedoch auch statt Oder neben derselben eine ausgesprochene Alkoholneurasthenie. Ge- rade diese Alkoholneurasthenie ist oft schon sehr friihe mit Zwangsvor- stellungen verkniipft.

e. Traumen. Seit der Enfallgesetzgebung ist die sog. „trauma- tische Psychoneurose" sehr haufig Gegenstand der Beobachtung und Behandlung geworden, Sieht man von den Fallen ab, wo das Trauma eine Hysterie oder eine schwerere Psychose erzeugt, so bleiben noch immer mindestens % aller Falle fiir die traumatische Neurasthenie iibrig. In der Regel tritt die letztere unter dem Bild der hypochon- drischen Neurasthenie auf, Doch kdnnen auch hypochondrische Vor- stellungen zuweilen vollig fehlen. Die Localisation des Traumas bedingt sehr haufig eine eigenartige Modification des Krankheitsbildes. Nicht selten leitet eine Topalgie, welche dem Angriffsort des Traumas entspricht, die Neurasthenie ein. Man hat in diesen und ahnlichen Fallen geradezu von einer „localen peripherischen Neurasthenie" gesprochen. Auf die Topalgie folgen erst weiterhin die ubrigen typischen Symptome des neu-

') Eine solche locale peripherische Neurasthenie mit entsprechender Topalgie kann sich z. B. auch an ein Ulcus ventriculi, an eine Dysenteric, einen Typhus, eine hartnackige Conjunctivitis u. dgl. anschliessen.

328

Neurasthenie (Neurasthettisches Irresein).

rasthenischen Irreseins. Unzweifelhaft wirken bei der Entstehung dieser tramnatischen Neurasthenie ausser dem directen mechanischen Effect des Traumas (Schmerz, Erschiitterung u, s. w.) auch allerhand Affecte und Vorstellungen mit, so namentlich die Sorge um die Wiederkehr der Ar- beitsfahigkeit und die durch die heutige Unfallgesetzgebung geradezu provocirte Hinlenkung der Aufmerksamkeit auf das Trauma und seine Folgesymptome. Dies fiibrt die Kranken auch zu unbewussten Ueber- treibungen ihrer Krankheitserscheinungen. Andrerseits lassen sich die Kranken durch die Furcht, keine oder eine zu niedrige Rente zu er- halten, und durch das Bestreben, ihren Unfall zur Erlangung einer mog- lichst hohen Rente zu fructificiren, auch verleiten in bewusster Weise ihre Symptome zu iibertreiben und oft auch neue Symptome geradezu hinzuzusimuliren.

f. Constitutionelle bezw. chronische Krankheiten. Soweit solche eine allgemeine Ernahrungsstbrung bedingen, kbnnen sie zur Neura- sthenie fiihren. So erscheint denn die Neurasthenie haufig als Begleit- krankheit eines chronischen allgemeinen Siechthums. So kann z. B. die Syphiliskachexie das typische Bild einer Neurasthenie hervorrufen, Be- sonders fiihren auch chronische Erkrankungen des Digestionstractes oft zu Neurasthenie. Die constitutionelle Anaemie in ihren verschiedenen Formen spielt namentlich bei der Neurasthenie des zweiten und dritten Lebensjahrzehnts eine grosse Rolle.

g. Acute Krankheiten, Die schwere Ernahrungsstbrung, welche ein Typhus, ein Empyem u. s. f. hinterlasst, kann gleichfalls eine Stbrung im Nervensystem bedingen, welche sich garnicht oder sehr langsam aus- gleicht und sich in den Symptomen der Neurasthenie aussert.

Ausser der Ernahrungsstbrung sind in diesen und in den unter f erwahnten Fallen oft auch periphere Reize wirksam, deren dauernde Einwirkung das Nervensystem schadigt. So kann eine Lageveranderung des Uterus oder eine chronische Endometritis oder die Narbe eines Ty- phusgeschwiirs auch auf diesem Wege ganz abgesehen von der Er- nahrungsstbrung — eine Neurasthenie hervorbringen (vergl. auch Anm. auf der vorigen Seite).

h. Puerperale Schadigungen : Gehaufte Geburten, protrahirte Lac- tation.

Diagnose. In Anbetracht der eigenartigen centralen Stellung, welche oben fixr die Neurasthenie nachgewiesen wurde, wird man von Anfang an auf zahlreiche Uebergangsformen gefasst sein miissen. Am wichtigsten sind folgende Unterscheidungen :

1. von der hypochondrischen Melancholie. Der typi- schen Neurasthenie fehlt die p r i m a r e Depression und Angst des hypochondrischen Melancholikers. Der Neurastheniker ist in erster

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Neurasthenie (Neurasthenisches Irresein).

329

Lillie nicht traurig imd angstlich, sondern argerlich und missrautLig. Erst spater stellen sich mit den hypochondrischen Vorstellungen auch De- pression und Angst, aber secundar, ein. Das Scblussbild ist dann aller- dings ein sehr abnliches. Docb bleibt insofern immer noch ein Unter- scbied, als der bypochondriscbe Melancboliker niemals beiter zu sein vermag, wabrend, wie oben erwabnt, der bypochondriscbe Neurastbeniker gelegentlicb nocb ausgelassen lustig ist.

2. von der bypocbondriscben Paranoia. Diese beginnt diiect mit wabnhaften Ausdeutungen der Beobacbtungen, welcbe der Kranke an seinem eigenen Korper macbt. Die affective Reizbarkeit des Neurastbe- nikers feblt oder ist ganz nebensacblicb. Der Neurastbeniker bleibt zunacbst immer nocb tbeilweise iiber seinen bypocbondriscben Vorstellungen steben, der Paranoiker geht in ibnen auf. Bei Ersterem bleibt lange Zeit das Verbaltniss zwiscben den bypocbondriscben Vorstellungen und den sub- jectiven Bescbwerden des Kranken ein annabernd pbysiologiscbes, bei dem Letzteren steben von Anfang an die bypocbondriscben Wabnvor- stellungen ausser allem Verbaltniss zu den Bescbwerden des Kranken. Zudem nebmen die Sensationen des bypocbondriscben Paranoikers scbon friib den Character ecbter Illusionen und Hallucinationen an. Der Pa- ranoiker, welcber an eine leichte tbatsacblicbe Abmagerung die Wabn- vorstellung scbwindsiicbtig zu sein gekniipft bat, fiiblt, wie sein Riicken sicb verscbmalert, sein Leib einfallt und seine Glieder scbrumpfen. Der Neurastbeniker deutet eine leichte tbatsacblicbe Abmagerung scbliesslicb aucb als „beginnende Scbwindsucbt", er beruft sicb dabei vielleicbt auch auf Topalgien und Paraestbesien in der Brust und im Riicken. Darauf aber bescbrankt sicb die Empfindungsstorung. Die Paraestbesien balten sicb in engen Grenzen.*) Bei dem Paranoiker sind daraus complicirte Rlusionen und Hallucinationen geworden, welcbe bei dem Aufbau der bypocbondriscben Vorstellungen wesentbcb mitwirken. Weiterbin ist bei der bypocbondriscben Paranoia von Anfang an ein patbologiscbes Misstrauen vorbanden, welches scbon friibe in Verfolgungsideen formulirt wird. Der Kranke aussert : „Icb werde krank gemacbt".

Nun ist allerdings zuzugeben, dass diese Abgrenzung der bypo- cbondriscben Neurasthenie von der bypocbondriscben Melancbolie und der bypocbondriscben Paranoia keine absolut scbarfe ist. Das Zustands- bild kann in gewissen Pbasen bei alien drei Krankbeiten sebr ahnlicb sein. Aucb wurde ausdriicklicb bervorgeboben, dass die bypochondriscbe

*) Man darf sich nur dutch die Vergleiche und Ausmalungen, in welchen sich die Neurastbeniker bei der Schilderung ihrer Paraestbesien und Topalgien gefallen, nicht zu einer irrthUmlichen Annahme von Illusionen oder Hallucinationen verleiten lassen.

330 Neurasthenic (Nenrasthenisches Irresein).

Neurasthenie in ihrem weiteren Verlauf einerseits in die hypochondrische Melancholie und andererseits in hypochondrische Paranoia iibergehen kann , ferner wurde erwahnt, dass Zwischenformen einerseits zwischen der hypochondrischen Neurasthenie und der hypochondrischen Melancholie und andererseits zwischen ersterer und der hypochondrischen Paranoia existiren. Ant Grund dieser Thatsachen hat man oft eine besondere Krank- heitsform aufgestellt, welche man als Hypochondrie bezeichnete. Als Hauptsymptome derselben fuhrte man an: pathologische Empfindungen I (Paraesthesien u. dgl.), hypochondrische Vorstellungen, einseitige Concentra- tion des Denkens auf den Gesundheitszustand des eigenen Korpers, traurig- reizbare Verstimmung und endlich ruckwirkende Beeinflussung desEmpfin- dungslebens und der Bewegungen durch die Vorstellungen (vgl. S. 117 und 160). Offenbar stellt dieser Symptomencomplex lediglich einZustands- bild dar, welches im Verlauf der verschiedensten Krankheiten vorkommen kann. Die genauere Betrachtung lehrt, dass nicht nur die Entwicklung, sondern auch der psychologische Connex der Symptome, Verlauf, Pro- gnose und therapeutische Indicationen bei den einzelnen hypochondrischen Zustanden sehr verschieden sind. Die Hypochondrie ist somit keine Krankheitsform, sondern ein Krankheitszustand.

3. von dem Irresein aus Zwangsvorste llungen. Die enge Verwandtschaft desselben mit der Neurasthenie wurde bereits mehr- fach betont. Die typische Neurasthenie fiihrt garnicht oder erst in ihrem spateren Verlauf zu Zwangsvorstellungen, das typische Irresein aus Zwangs- vorstellungen entwickelt sich unabhangig von der fiir die Neurasthenie characteristischen reizbaren Verstimmung und unabhangig von neura- sthenischen Paraesthesien.

4. von der Dementia paralytica. Die Beschwerden der letz- teren im Initialstadium ahneln denjenigen der Neurasthenie in hohem Maasse. Nur eine sehr genaue korperliche Untersuchung kann sicher vor Verwechslungen schiitzen. Die beginnende Dementia paralytica ver- rath sich bald durch Pupillenstarre, bald durch Fehlen der Kniephano- mene oder Achillessehnenphanomene, bald durch einseitige Steigerung derselben, bald durch allgemeine cutane Hypalgesie, bald durch Paresen des Mundfacialis, bald durch hesitirende Sprache. Da Syphilis in der Aetiologie der Dementia paralytica eine sehr erheblich grossere Rolle spielt als in derjenigen der Neurasthenie, wird man bei einem Syphili- tiker mit der Diagnose einer Neurasthenie doppelt vorsichtig sein. Wichtig ist auch die anamnestische Feststellung sog. paralytischer An- falle. Die psychische Untersuchung liefert dem Erfahrenen weitere Merk- male. Das Krankheitsbewusstsein des Paralytikers ist verschoben, oft fehlt es vollig. In seinen Urtheilen verrath sich allenthalben Kritik- losigkeit, in seinen Handlungen Taktlosigkeit. Oft irrt er sich ganz

Neiirasthenie (Neurasthenisches Irresein).

331

auffallig in der Angabe des Datums. Alles dies trifft bei dem Neurastbe- niker nicbt zu.*) Sebr vorsicbtig muss man mit der Verwerthung der Gedachtnisspriifung sein. Auch der Neurastbeniker beantwortet oft ein- facbe Fragen in Folge seiner Associationsstorungen langsam oder gar nicbt. Man muss sicb biiten, in solcbem Falle obne Weiteres die Ge- dacbtnissscbwacbe des Paralytikers anzunebmen.

1st es zur Entwicklung bypocbondriscber Wabnvorstellungen ge- kommen, so liegt die Verwecbslung mit dem depressiven oder bypocbon- driscben Stadium der Dementia paralytica nabe. Hier kommen diiferen- tialdiagnostiscb abgeseben von dem kbrperlicben Befund alle die 'Merkmale in Betracbt, welcbe bei Besprecbung der Diagnose der Me- lancbolie als cbaracteristiscb fiir die Wabnideen des paralytiscben Hy- pocbonders angegeben wurden.

5. von der Hysteric resp. der psycbiscben bysteriscben Degene- t ration. Entscbeidend ist die korperlicbe Untersucbung. Man fabnde stets auf die Cardinalsymptome der Hysteric (Krampfanfalle, bysterogene ?Zonen, balbseitige Druckpunkte, gemiscbte Hemianastbesie, Anastbesie : en plaques oder mit sog. manscbettenformiger Abgrenzung, concentriscbe I Gesicbtsfeldeinengung , Dyscbromatopsie , bysteriscbe Labmungen und 1 Contracturen). Auf psycbiscbem Gebiet ist die Labililat der Affecte das ibeste Kriterium der Hysteric gegeniiber der Neurastbenie. Namentlicb Ibeim weiblicben Gescblecbt sind Zwiscbenformen zwiscben Neurastbenie ;und Hysterie nicbt selten.

6. von den Vorstadien mancber Psycbosen. So kommt , z. B. bei der acuten ballucinatoriscben Paranoia, bei der acuten inco- ibarenten Paranoia und namentlicb bei der Manie sebr oft ein neura- : stbeniscb-bypocbondriscbes Prodomalstadium vor. Erst der Verlauf giebt iin diesen Fallen eine sicbere Aufklarung.

Simulation der Neurastbenie ist seit der Unfallgesetzgebung ; ziemlicb baufig geworden. In vielen Fallen bandelt es sicb allerdings nur lum bewusstes oder unbewusstes Uebertreiben bezw. Hinzusimuliren. In teinigen liegt vollstandige Simulation vor. Von der korperlicben Un- itersucbung ist eine Entlarvung nicbt zu erwarten. Das Wogen der ent- Iblossten Muskulatur, die Bescbleunigung der Pulsfrequenz bei activen i Bewegungen, die Veranderung des Gesicbtsfeldes und der faradiscben Er- : regbarkeit der Muskeln, welcbe man als beweisende Symptome fiir trauma- i tiscbe Neurastbenie ausgegeben batte, baben sicb bis jetzt nicbt geniigend Ibewabrt. Man wu’d sicb daber bemiiben, jede einzelne angeblicbe Be- i scbwerde des Kranken genau aufzunehmen und durcb allerband Vexir-

*) Wenn der Neurastbeniker ja einmal taktlos ist, so beruht dies auf Jahzorn, I nicbt auf Urtbeilsscbwacbe.

332 Neurasthenie (Neurasthenisches Irresein.)

versuche (ev. durch leichtes Ancliloroformiren) auf ihre Thatsaclilichkeit ; zu priifen. Gelingt es, ein einzelnes Symptom als iibertrieben oder gar als simulirt nacbzuweisen, so ist damit noch nicht iiber a 1 1 e Symptome bezw. die ganze Krankheit entscbieden (s. o.). Sebr wesentlich ist auch die Beachtung der Gruppirung und des Connexes der Symptome. Ge- rade bierin greift der Simulant oft febl.

Tberapie. Aus der Aetiologie und Symptomatologie ergeben sich in den meisten Fallen zunacbst zwei Hauptindicationen fur die Bebandlung i der Neurasthenie. Dem Kranken muss erstens intellectuelle und affective i Rube verschafft und zweitens muss seine Ernahrung gehoben werden. Der ersten Indication kann in der Regel nur dadurch Geniige geleistet i werden, dass man den Kranken fiir mebrere Wocben oder Monate aus I seinem Beruf und seiner Familie entfernt. In leicbteren Fallen wird i eine Einscbrankung der Beruftstbatigkeit und eine tbeilweise Fernbaltung | von der Familie genii gen. Die Hebung des Ernabrungszustandes gelingt am sicbersten, wenn man einerseits die Bettruhe vermebrt, ev. auch absolute Bettruhe anordnet, um so den Krafteverbraucb moglicbst ein- zuscbranken, und wenn man andererseits die Nabrungsaufnabme mbg- licbst steigert. Um diese Steigerung der Nabrungsaufnabme dem Kranken zu ermoglicben, fiigt man zur intellectuellen, affectiven und korperbcben Rube und zur Ueberernahrung eine regelmassige allgemeine Massage hinzu. So gelangt man dazu, bei vielen Neurastbenikern eine sog. Mast- kur anzuordnen. Im Allgemeinen bewiibrt sicb dieselbe in alien den- jenigen Fallen, in welcben eine scbwere Ernabrungsstorung der Neura- stbenie zu Grunde liegt oder sie auch nur begleitet. In anderen Fallen wird man von der allgemeinen Massage abseben und sie durch kbrper- licbe Spiele, Spaziergange, Gartenarbeit und Gymnastik ersetzen. Dabei kommt sebr viel auf einen regelmassigen Wecbsel von Rube und Be- wegung bezw. Bescbaftigung an. Auch der Neurastbeniker muss streng nacb einem vom Arzte vorgeschriebenen Stundenplane leben. In diesem ist balbstiindlicb oder stundlicb zwiscben Rube, kbrperlicber Arbeit und geistiger Arbeit abzuwecbseln. Jedenfalls muss auf jede halbe Stunde kbrperlicber und ebenso auf jede balbe Stunde geistiger Arbeit minde- stens je eine balbe Stunde absoluter kbrperlicber und geistiger Rube kommen. Die genauere Abmessung wird selbstverstandlicb von der Scbwere des Einzelfalles abbangig sein. Ganz besonders empfehlenswerth ist regelmassiges Zeicbnen und Excerpiren bei vielen Neurastheniscben, insbesondere bei solcben, wo starkere Associationsstbrungen besteben.

In der Ernahrung ist das Hauptgewicht auf Milch und Eier zu legen. Genaueres bieriiber ist in der allgemeinen Tberapie angegeben. Der Genuss von Spirituosen sowie Rauchen ist in den meisten Fallen zu verbieten.

Neurasthenie (Neurasthenxsches Irresein).

333

Eine medicamentose Behandlung ist abgesehen von einigen unten zu envahnenden symptomatischen Indicationen im Allgemeinen nicht angezeigt. Vor methodischer regelmassiger Behandlung mit Opium und Brom ist zu warnen. Wenn die affective Erregbarkeit trotz Bettruhe, Fernhaltung aller Reize und trotz der alsbald zu besprechenden hydro- therapeutischen Maassregeln zu hohe Grade erreicht, so darf man even- tuell eine einmalige Bromdosis (5 g Bromnatrium oder Bromammonium) Oder, wenn Depression und Angst im Spiele sind, eine einmalige Opium- dosis (0,05 g Opium, am besten mit 1,0 g Bromnatrium) geben. Die Gefahr der Opiophagie bezw. des Morphinismus ist bei Neurasthenie er- heblich grosser als bei Melancholic. Die Melancholic ist eine acute Psychose: mit ihrer Heilung, mit dem Schwinden der Angst wird dem Kranken selbst das Opium uberfliissig ; die Neurasthenie ist ein chroni- sches Leiden, daher die Gefahr der Gewohnung.

Unter den hydrotherapeutischen Maassnahmen steht die laue hydro- pathische Einpackung und das warme prolongirte Bad obenan, wenn es sich darum handelt, eine bestehende affective Erregung zu beseitigen. Genaueres ist hieriiber in der allgemeinen Therapie angegeben. Bald bewahrt sich jene, bald dieses besser. Allgemeingiiltige Indicationen lassen sich fiir die Wahl zwischen beiden nicht aufstellen. Dringend empfiehlt sich diese lauen Einpackungen und warmen prolongirten Bader nur so lange fortzusetzen, als wirklich affective Erregungszustande be- stehen. Die latente affective Erregbarkeit wird viel zweckmassiger durch kalte Abwaschungen (mehrmals taglich) und eventuell auch durch kalte Bader bekampft. Man geht mit der Temperatur dieser Abwaschungen und Bader allmahlich herunter. Keinesfalls sind sie auf den Abend zu verlegen, wahrend umgekehrt der Abend fiir die Einpackungen und warmen Bader am zweckmassigsten ist. Mitunter empfiehlt sich eine Com- bination der vcrschiedenen Maassnahmen (s. allg. Therapie). Auch bei schweren Zornanfallen wirkt die kalte Abreibung oft im Sinne eines Gegenreizes sehr zweckmassig (so namentlich bei jugendlichen Individuen).

Zahllos sind die einzelnen symptomatischen Indicationen, welche der Arzt des Neurasthenikers zu erfiillen hat. Die Besprechung derselben gehort in das Gebiet der Neuropathologie. Es soli daher hier nur zweier Hauptsymptome, der Topalgien und der Schlaflosigkeit gedacht werden. Fiir beide verlangen die Kranken eine raschere Linderung, al^ sie das allgemeine Kurverfahren selbst bei sehr giinstigem Erfolg zu erzielen vermag. Gegen die Topalgien empfiehlt sich entweder locale Anoden- behandlung (stabil mit schwachen Strbmen) oder energische locale Fara- disation. Auch Effleurage ist oft wirksam. Gegen die Schlaflosigkeit versuche man, wenn hydropathische Einpackungen und prolongirte Bader versagen, zunachst Quergalvanisation des Kopfes (1 Yg M. A.) und

334

Neurasthenie (Neurasthenisches Irresein).

Effleurage der Stirn und des Plinterhauptes. Nur im Nothfall greife man zu Medicamenten. Am zweckmassigsten wendet man unter diesen

llcr'l Schlf Keinesfalls gebe man allabend-

ein Scblafmittel Aucb wecbsele man mit den Mittelri, falls sich

langeie Zeit bindurcb die Verabreichung von Scblafmittein notbwendig

weist. Bei weiblicben Individuen reicbt oft eine Flascbe starken Bieres aus, urn Schlaf zu erzielen.

Zu alien diesen tberapeutiscben Maassnahmen kommt nun als wicb- tigste noch die personlicbe psycbische Beeinflussung durcli den Arzt mzu. Die meisten Neurastbeniker miissen geradezu vom Arzt erzogen werden und zwar sowobl zur Beherrscbung ibrer Affecte, wie zu einem rubigen, consequenten Denken und Handeln. Das Vertrauen des Neur- astben^ers wird am besten durcb ein geduldiges Anbbren und eine grundbcbe Priifung seiner Bescbwerden , namentlicb aucb durcb eine emgebende korperbcbe Untersucbung gewonnen. Gerade bei dieser Krankbeit wird der Arzt aucb genau sicb iiber die Lebensverbaltnisse und Interessenkreise seines Patienten unterricbten mussen. Bei keiner anderen Psycbose ist die Krankbeit so eng mit dem ganzen Leben des Kranken verwacbsen. Nur wenn der Arzt den ganzen Menscben kennt, wird er den ricbtigen Weg fur diese psycbiscbe Tberapie finden. Diese psycbiscbe Tberapie muss weiter eine bestandige und stetige sein. Scbon aus diesem Grunde wird man aucb den Neurastbeniker meist einer Anstalt, sei es der Nervenabtbeilung einer Irrenanstalt, sei es einer speciellen Nervenbeilanstalt uberweisen. Nur wenn der Arzt im Hause wobnt und den Kranken mindestens zweimal taglicb zu den verscbieden- sten Zeiten siebt, wird die psycbiscbe Bebandlung in vollem Umfange durcbfubrbar sein.

Patbologiscbe Anatomic. Die patbologiscbe Anatomic lasst uns bei der Neurastbenie ebenso wie bei der Melancbolie und Manie im Sticb. Nicbt einmal vasomotoriscbe Hypotbesen baben Anbanger in er- beblicber Zabl gefunden (Sympatbicusneurose?). Es bandelt sicb, wie wil- es meist ausdrucken, um ein functionelles Leiden. Am wabrscbeinlicbsten ist nocb die Annabme, dass die Erbolungsprocesse innerbalb der einzelnen Nervenelemente den Zersetzungsprocessen nicbt mebr das Gleicbgewicbt balten und dadurcb die Function der Elemente beeintracbtigt ist. Was fur die einzelne Zelle und Faser gilt, gilt wabrscbeinlicb aucb fiir das Faser- bundel. Wir wissen, dass aucb bei dem normalen Menscben fortwabrend Fasern degeneriren und andere regenerirt werden. Bei dem Gesunden balten sicb Degeneration und Regeneration das Gleicbgewicbt. Man kbnnte vermutben, dass bei dem Neurastbeniker dies Gleicbgewicbt ge- stbrt ist. Dabei ist natiirlicb keineswegs ausgescblossen, dass nebenber aucb vasomotoriscbe Stbrungen wirksam sind.

Stupiditat.

335

2. Intellectuelle Psyehosen. a. Stupiditat.

Die Stupiditat (unzweckmassig auch „acute heilbare Demenz“ ge- nannt) ist eine Psychose, deren Hauptsymptom die mebr oder weniger Yollstandige Hemmung der ganzeu Ideenassociation ist. Die Hemmung ist oft so ausgesprochen, dass von einer vollstan digen Aufhebung der Ideenassociation gesprocben werden kann. Dass es sicb dabei docb nur um Hemmung und nicbt etwa um einen wirklicben Verlust von Er- innerungsbildern und associativen Verknupfungen bandelt, ergiebt sicb daraus, dass der ICranke bei seiner volligen Genesung nicbt etwa seine Erinnerungsbilder und Associationen neu erwerben muss : er tritt vielmebr mit dem Nacblass der Hemmung obne Weiteres in seinen alten Besitz- stand wieder ein. Ob zwiscben der Denkbemmung der Melancbolie und derjenigen der Stupiditat aucb ein qualitativer Unterscbied bestebt, ist nocb nicbt entscbieden. Der allgemeine Eindruck gebt dabin, dass bei der Melancbolie lediglicb der Associationsprocess als solcber, das Fort- scbreiten von Erinnerungsbild zu Erinnerungsbild, verlangsamt ist, wab- rend bei der Stupiditat die Erinnerungsbilder selbst und zwar nament- licb die complexeren gebemmt zu sein oder mit anderen Worten ibre Erregbarkeit eingebusst zu baben scbeinen.*) Zu dieser Denk- bemmung kommt als zweites Hauptsymptom eine bocbgradige moto- riscbe Hemmung binzu.

Sebr regelmassig ist mit der Hemmung der Stupiditat endlicb nocb eine bocbgradige Apatbie verkniipft. Docb bleibt es zweifelbaft, ob diese nicbt einfacb durcb das Ausbleiben aller compbcirten Vorstellungen bedingt ist. Man konnte denken, dass alle lebbafteren Gefiiblstbne nur dessbalb feblen, weil die sie tragenden Erinnerungsbilder feblen. Nur mit einem Vorbebalt in diesem Sinne werden wir sonacb die Apatbie als drittes Hauptsymptom der Stupiditat auffiibren.**)

Symptomatologie.

Storungen der Vorstellungen. In den leicbteren Fallen klagen die Kranken nur, dass die Gedanken ibnen fortwabrend entscbwinden.

*) Eine andere Deutung lassen die klinischen Symptome gleichfalls zu: man konnte namlich annehmen, dass bei der Stupiditat im Gegensatz zu der krankhaften Verlangsamung des Associationsprocesses bei der Melancbolie die Energie des Associationsprocesses in krankhafter Weise herabgesetzt sei.

**) Wollte man der Apatbie den Rang eines selbstandigen Primarsymptoms ein- raumen, so konnte man der Stupiditat sebr wobl einen Platz unter den affectiven Psycbosen zuweisen. In der That bildet sie in mancber Beziebung einen Uebergang von diesen zu den intellectuellen Psycbosen.

336

Stupiditat.

Mit dem Buch, welches sie lesen, mit der Landschaft, welche sie sehen, mit den Worten, welche sie hdren, verbinden sie keine Vorstellung mehr. Der Vorstellungsablauf ist dementsprechend verarmt. Durch die allge- meine Hemmung sind alle complicu'ten Vorstellungen aus der Ideen- association ausgeschaltet. Aber aucb die einfachsten concreten Er- innerungsbilder sind von der Hemmung betroffen. Der Kranke klagt, dass er sicb abwesende Personen und Gegenstande nicbt mehr vorstellen konne: aucb diese Erinnerungsbilder baben ibre Erregbarkeit verloren. So < kann sicb der Kranke nicbt vorstellen, wie die Strassen seiner Heimatb- . stadt, wie sein Zimmer aussiebt; mitunter weiss er nicbt einmal anzu- t geben, wie die Mobel in letzterem steben. Dabei bandelt es sicb nicbt | etwa um einfacbe Schwerbesinnlicbkeit, aucb bei langerem Besinnen ver- mag der Kranke das gebemmte Erinnerungsbild in der Kegel nicbt zu reproduciren. Scbon diese leicbteren, Kranken fassen ibre intellec- tuelle Storung in der bezeicbnenden Klage zusammen: „Mein Kopf ist so leer."

In den scbwereren Fallen ist die Aufbebung des intellectuellen Lebens fast total. Selbst das Wiederkennen der bekanntesten Gegen- stande und Personen bort auf. Dem Kranken kommt daber alles „so traumhaft, so verandert, so entfernt" vor. Ratblos steben sie umber. Die Orientirung uber Zeit und Raum gebt ibnen verloren. Die gebildet- sten Kranken konnen sicb nicbt mehr auf die Jabreszahl, zuweilen sogar nicbt einmal auf das Jabrbundert besinnen, in welcbem sie leben. Man kann den Kranken zebnmal den Namen ihres Aufenthaltortes angeben, nacb einigen Minuten, zuweilen aucb scbon nacb einigen Secunden weiss der Kranke ibn bereits nicbt mehr anzugeben: das Erinnerungsbild bat seine Erregbarkeit scbon wieder eingebiisst. In bobem Maasse leidet in Folge des Ausbleibens associirter Vorstellungen aucb die Aufmerksamkeit. Die Aussenwelt scbeint fiir diese Kranken uberbaupt nicbt mehr zu existiren. Von einer fortlaufenden Ideenassociation kann uberbaupt 1 garnicbt die Rede sein. Das zu einer solchen erforderlicbe Vorstellungs- material feblt vollig. Nur in grossen Zwiscbenraumen tauchen ab und zu einige abgerissene Vorstellungen auf. In sebr seltenen Fallen konnen solcbe abgerissene Vorstellungen zu einer vorubergehenden, ganz isolirt dastebenden Wahnidee zusammentreten. Sonst kommt es zu inbalt- : lichen Stbrungen des Denkens nicbt, denn das Denken dieser Kranken ' hat im Allgemeinen gar keinen Inbalt.

Storungen des Empfindens. Die Empfindungen selbst siud^ meist normal. Nur ibre Verwertbung ist eine mangelbafte, die Vor- ^ stellungen feblen, welche an die Empfindungen angekniipft werden konnten. Retrospectiv geben die Kranken nacb ibrer Genesung meist . , an, alle Gegenstande waren ibnen so gross und so fern erscbienen. Oft

Stupiditat.

337

klageu sie auch iiber Verscliwommenheit cler Gesichtsempfindungen ; docli mag diese z. Th, niclit auf primaren Empfindungsstorungen, son- dern auf uugeniigender Accommodation beruben. Ebenso erscbeinen alle Klange und Gerauscbe den Kranken „weit entfernt und seltsam un- bestimmt". Illusionen und Hallucinationen treten bei der typischen Stupiditat hbcbstens gelegentlicb intercurrent auf. Meist handelt es sich

urn selir unbestimmte, einfaclie Gesichts- und Gehbrstauschungen.

Der sebr ausgepragten Hypalgesie wird unten zu gedenken sein.

Affect storungen. In den leicbteren Fallen ist die erste Affect- reaction des Kranken eine leicbte Verwunderung. Es kommt ihm selbst seltsam vor, wie sein Denken plotzlicli verarmt ist. Dieser Verwunderung kann sich in leichten Fallen gelegentlicb eine leicbte, sebr wobl verstandicbe Depiession oder aucb ein leicbter Missmutb beimiscben. \Veiterbin uber- wiegt mit der zunebmenden Verarmung des Bewusstseinsinbalts die Apatbie. Die krankbafte Tbeilnabmlosigkeit bescbriinkt sicb in den leicbteren Fallen auf die Gefiiblstone, welcbe die comj)licu’teren Begriffe begleiten : sie sind mit diesen verloren gegaugen. Die verwandtscbaft- licben Gefuble sind daber meist erbalten, hingegen die Interessen fur V issenscbaft, die idealen Gefuble fur Kunst, die zusammengesetzteren und abstracteren moraliscben Gefuble erloscben.

In den scbwereren Fallen wird die Apatbie total. Aucb das Gefuhls- lebeu ist abgestorbeu. Der Kranke vegetirt nur nocb. Derjenige Affect, welcber nocb am langsten erbalten zu bleiben pflegt, ist eine gelegentlicbe kindliche oder bfters kindiscbe Heiterkeit. Ein glanzender Gegenstand (Ubr, Flamme) wird lacbelnd angestaunt. Seltener werden flucbtige Angstaffecte beobacbtet. Bei den weiter unten zu besprecbenden inter- currenten Erregungszustandeu kommen vorubergebend lebbaftere Affecte der Heiterkeit und des Zorns vor.

Storungen des Handelns. Auf dem Gesicbt der Kranken malt sich die Gedanken- und Affectleere. Blode starreu die Kranken vor sicb bin oder in die Luft. Nur gelegentlicb fiiegt ein kindiscbes Lacbeln oder ein Ausdruck des Erstaunens uber das scblaffe, tote Antbtz. Die gesammte Korpermuskulatur ist meist fast ohne jede Spannung. Passive Bewegungen stossen oft auf keinen Widerstand. Alle activen Bewegungen sind auf ein Minimum reducirt. Stunden- und tagelang steben die Kranken auf einem Platz oder bocken zusammengesunken auf einem Stubl oder liegen regungslos im Bett. Mitunter beobacbtet man ein monotones Wiegen des Rumpfes, sebr selten katatoniscbe Spannungen. Urin und Koth lassen die Kranken meist unter sicb. Auf Anruf bbnzeln sie kaum. Aufgetragene Bewegungen werden langsam, oft garnicbt aus- igefiibrt. Zuweilen malt sich dabei eine deutlicbe Verlegenbeit auf dem (Gesicbt des Kranken: offenbar ist ibm das Erinnerungsbild der auf-

Ziehen, Peychiatrie. 99

338

Stupiditiit.

getragenen Bewegung garnicht gegenwartig. Spracliliche Aeusserungen sind gleiclifalls selir selten. Oft beschrankt sich der Wortschatz auf einige Interjectionen. Ziiweilen wird immer derselbe Satz ohne jeden Ausdruck in der Betonung wiederbolt (z. B. kaun ich denn nicht beim?). Fast stets sprecben die Kranken iiiisserst leise, fast aphonisch. Mit- imter erinnert ihre Sprecliweise und ihre Articulation an diejenige der Kinder.

Diese motoriscbe Hemmung der Kranken wird zuweilen ganz plbtz- licli durch kiirze Bewegimgen unterbrochcn. So springt z. B. eine Kranke plbtzlicb auf und giebt auf Befragen an, sie wolle im Heind in den Garten gelien. Zuweilen beruhen diese plotzlichen Bewegungen auf Stiramen, haufiger auf den oben erwabnten bier und da vereinzelt auf- taucbenden Vorstellungen bezw, Einfiillen. Nicbt selten kouimt es aucb zu stundenweisen intercurrenten motoriscben Erregungszustanden, in welcben der Kranke singt, pfeift, tanzelt, umberspringt, zusammenbangs- los spricbt, seine Umgebung neckt und zupft und gelegentlicb aucb sicb ernst an ibr vergreift. Dabei berrscbt eine krankbafte Heiterkeit vor. Zuweilen besteben zugleicb Hallucinationen oder Illusionen.

Die soeben entworfene Scbildernng gilt von den scbwereren Fallen. In den leicbteren Fallen klagen die Kranken nur iiber rascbe Ermudung. Ueber der Arbeit scblafen sie ein oder versinken in ein leeres Traumen. Die Vorstellungsarmutb giebt sicb in der Planlosigkeit des Tbuns und Treibens des Kranken kund. Viele liegen stundenlang auf dem Sopba. Zwingt man sie zur Bescbilftigung, so stellen sie sicb bbcbst uugescbickt an. Die einfacbsten Handarbeiten macben sie verkebrt. Die Bewegungs- - vorstellungen sind in Folge der Hemmung unerregbar : daber die Uii- gescbicklicbkeit bei jeder complicirteren Bewegung.

K 0 r p e r 1 i c b e S y m p t o m e . Die Ernabrungsstorung ist meist nicbt sebr erbeblicb, wofern der Kranke regelrniissig gefuttert vdrd. Die Hauttemperatur ist stets, die centrale Korpertemperatur oft berab- gesetzt. Die Herztbatigkeit ist meist verlangsamt, die Pulswelle niedrig und leicbt unterdruckbar. Der Blutdruck ist erbeblicb berabgesetzt. Stauungserscbeinungen (Oedeme u. dgl.) sind baufig. Bei Fraiien ist Amenorrboe baufig. Oft ist aucb die Atbmung verlangsamt und abnorm oberflacblicb.

Die Pupillen sind meist weit, die Reactionen zwar prompt, aber un- ausgiebig und wenig nacbbaltig.

Die Convergenzeinstellung beider Augen ist oft sebr mangelbaft.

Die grobe motoriscbe Kraft der Extremitaten scbeiut berabgesetzt, docb ist die Herabsetzung wobl uamentlicb auf die geringe Euergie der associativen Impulse zuruckzufiibren. Dem entspricbt aucb die Scblaff- bcit und Ausdruckslosigkeit der Gcsicbtszuge, Die Zunge vfird kaiim

Stupiditat.

339

bis iiber den Eand der Zahne vorgestreckt. Statisches Zittern und In- tentionszitteru ist zuweilen vorhanden.

Die Beriibrimgsempfindlicbkeit liisst sicb nicht sicker priifeu. Die Sckmerzempfindlichkeit ist meist hochgradig herabgesetzt oder vollig aufgekoben*) Zuweilen treten leichte, wakrsckeinlich mit den Circu- lationsstorimgen zusammenkangende Parasthesien auf, welcke ihrerseits stundenlange automatische Kratzbewegungen bedingen konnen.

Die Gaiimen-, Conjunctival-, Palpebral- und Plantarreflexe sind fast stets stark herabgesetzt oder aufgehoben, die Cornealreflexe hingegen normal (Unterschied gegen soporose Zustande). Das Verhalten der Sehnen- plianomene schwankt sehr.

Verlauf. Zuweilen entwickelt sick die Krankkeit pldtzlick (z. B. im Anschluss an einen Alfectskock oder einen sckweren Blutverlust) j kaufiger geken monatelang leichte Prodromalsymptome geistige und korperlicke Aliidigkeit, weckselnde Stimmungsanomalien voraus. In letzterem Falle steigt auch die Denkhemmung und Apatkie allmaklick zu ibrer maximalen Hoke an. Im weiteren Verlauf erfakrt das Zustands- bild nur durck die oben erwaknten voriibergekenden Erregungszustande gelegentlick eine Unterbreckung. Der Verlauf ist fast stets ein sekr langwieriger. Auck bei giinstigem Ausgang dauert die Krankkeit einige Monate, mitunter 1 Jakr und nock langer. Gerade auck die leickteren Falle bessern sick oft sekr langsam. Nack der Genesung bestekt meist ein erkeblicker Erinnerungsdefect,

A u s g a n g e u n d P r 0 g n 0 s e. In ca. 60 % aller Falle tritt Heilung ein. Nickt selten ist Heilung mit Defect, etwas seltener secundare De- menz. Auck ein Uebergang in secundare Paranoia (okne Intelligenz- defect) kommt gelegentlick vor. Durck iutercurrente oder kinzutretende Kiankheiten (Tuberculose !) kann es zu todtlickem Ausgang kommen. In einigen Fallen kommt es auck zu einem Ausgang in ckronische Stu- piditat, d. k. ein Intelligenzdefect stellt sick nickt ein, aber die geistige und korperlicke Ermiidung und Hemmung sowie die krankkafte Apatkie sckwinden nickt vollig, sondern bleiben dauernd (meist mit mannig- facken Remissionen) besteken, Solcke Kranke sind dann oft ausser Stande ikren urspriinglicken Beruf (z. B. einen gelekrten Beruf) fest- zukalten.

"Varietaten. Enter diesen kommen namentlick die Uebergangs-

*) Sehr bezeichend fur den ganzen Zustand sind folgende wdrtlich nachge- schriebene Aeusserungen in einem mittelscbweren Fall: „Kaum hab’ ich einen Gedanken

1, 2, 3, so ist er fort ich weiss garnicht, was mein Kind fur Augen hat

nichts fuhr ich meine Hand war doch schlimm (NB. bezieht sicb dies auf ein Tags znvor ohne jede Schmerzausserung erdffnetes Panaritium), nichts hab’ ich gefuhlt, Ich weiss garnicht, wer mich hergebracht hat“.

22*

340

Stiipiditat.

formen zur Melancholie, zur halliicinatorischen stuporcisen Paranoia und zur Neurastlienie in Betracht. Die depressive Varietat ist durcli hiiufiges Auftreten von Angstaffecten und Depression, die hallucina- torisclie Varietat durcli liaufigeres Auftreten von Sinnestauschungen, die neurastlienisclie Varietat durcli Hinzutreten einer krankliaften affectiven Reizbarkeit ausgezeiclinet.

Aetiologie. Erbliche Belastung findet sicli in 60 % aller Fillle, Vorwiegend ist das jugendliclie Alter der Kranklieit ausgesetzt. Nacli deni 35. Lebensjabr ist Stupiditiit selten. Sebr baufig ist geistige Ueber- anstrengung (bei Gymnasiasten, Studenten u. s. w.) von liervorragender atiologisclier Bedeutung. Meist bandelt es sicli dabei zugleich uni sclilechtgenalirte oder durcli Masturbation erscbopfte und minder ver- anlagte Individuen. Gerade bei jungen Leuten, welclie trotz geringerer Veranlagung zu eineiii gelehrten Beruf gezwungen werden, flibrt die intellectiielle Insufficienz oft zum Ausbrucb dieser Psycbose. In anderen Fallen uberwiegeii kbrperlicbe Schadlichkeiten. So ist z. B. korperliclie Ueberanstrengung bei jugendlichen Dienstboten und Lehrlingen baufig das entscheidende iitiologiscbe Moment. Ungeniigende Ernabrung, un- geniigende Luft und ungeniigender Scblaf kommen oft binzu. Aiicb das Puerperium und namentlicb gebaufte Geburten bedingen zuweilen Er- krankung an Stiipiditat. In diesen Fallen lassen sicb die Prodronial- symptonie der Krankbeit meist bis in die Mitte der Graviditiit zuiiick- verfolgen. Endlicb kann ein plotzlicber Affectsbock oder ein einmaliger scbwerer Blutverlust einen ganz acuten Ausbrucb der Stiipiditat be- dingen.

Diagnose. Fine Verwecbslung ist bocbstens niit der apatbiscben Form der Melancbolie (sowobl der Melancbolia passiva wie der Melan- cbolia attonita) und mit der stuporosen Form der ballucinatoriscben Paranoia moglicb. Man wird daber, wenn man einen Kranken findet, welcher theilnabmslos ist, sicb kaum bewegt und einfacbe Fragen nicbt beantwortet, stets zunacbst durcb directe Fragen und Beobacbtung des Gesicbtsausdrucks und der Gesticulation feststellen mussen, ob Angst oder Hallucinationen dauernd besteben und dem stuporosen Verbalten zu Grunde liegen. Nur wenn Angst und Hallucinationen nicbt vorbanden sind, wird man Melancbolie und Paranoia ausscbliessen und die Diagnose auf Stupiditat stellen konnen. Genaueres fiber die Differentialdiagnose zwiscben apatbiscber Melancbolie und Stupiditat ist unter Melancbolie angegeben.

Der Verwecbslung mit angeborenem Scbwacbsinn ist durcb ana- mnestiscbe Erbebungen leicbt vorzubeugen. Die Dementia paralytica scbliesst man durcb eine genaue korperliclie Untersucbung aus. Audi konimt in Betracbt, dass die Dementia paralytica in der Regel nur bei Indivi-

Paranoia.

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duen, welche das 30. Lebensjahr iiberscliritten baben, vorkommt sowie dass die Syphilis bei ihr eiue erhebliche atiologische Rolle spielt.

Bekommt man den Kranken zufallig gerade in einem Erregimgs- zustande zu Gesicht, so wird man sich ohne genaue Angaben der Ange- hbrigen liber den sonstigen seitherigen Krankheitsverlauf vor der Ver- wechslung mit Manie oder mit hallucmatorischer Paranoia nicht schiitzen konnen.

Therapie. Bei sehr giinstigen hauslichen Verhaltnissen und bei Aiisbleiben der erwahnteu intercurrenten Erregungszustande kann der sachverstandige Arzt in seltenen Fallen die hausliche Behandlung ver- suchen. Meist ist die Ueberfiibrung in eine Anstalt erforderlich. Bei der Behandlung ist das Hauptgewicht auf Bettruhe und Ueberernahrung zu legen. Eventuell empfiehlt sich eine Mastkur. Von jeder korperlichen Oder geistigen Beschaftigung, von jedem langeren Gesprach, jedem Wechsel der Sinneseindriicke ist zunachst durchaus abzusehen. K u r z e warme Bader wirken zuweilen glinstig. Medicamentos kommen eventuell Kampher, Eisen, Chinin, Digitalis in kleinen Dosen in Betracht. Die inter- currenten Erregungszustande sind durch langere warme Bader oder hydroj)athische Einpackungen zu bekampfen, Bei sehr leichten Fallen kann es geniigen den Kranken an einen Waldort oder auf das Land Zu schicken und einen regelmassigen Wechsel von kbrperlicher Kuhe (IV2 Stunde) und geistiger Arbeit Stuude) und kbrperlicher Be- wegung (% Stunde) anzuordnen. Oft wird man einen Berufswechsel empfehlen miissen (s. Aetiologie).

Pathologische Anatom ie. Die Stupiditat ist eine functionelle Psy chose. Weder makroscopisch noch mikroscopisch hat man post mortem constante Befunde feststellen konnen. Nur bei Ausgang in secundare Demenz finden sich die dieser entsprechenden pathologischen Veranderungen der Hirmunde.

b. Paranoia.

Wir fassen unter dem Begriff der Paranoia alle diejenigen functio- nellen Psychosen zusammen, deren Hauptsymptome primare Wahnvor- stellungen oder Sinnestauschungen sind. Sind primare Wahnvorstellungen das Hauptsymptom, so bezeichhet man die Paranoia als Paranoia sim- plex; sind Sinnestauschungen das Hauptsymptom, so bezeichnet man die Paranoia als Paranoia hallucinatoria. Sowohl die Paranoia simplex wie die Paranoia hallucinatoria theilt man weiter in eine acute und in eine chronische Form ein. So ergeben sich zunachst 4 Hauptformen der Paranoia :

342

Paranoia hallucinatoria acuta.

1. Paranoia hallucinatoria acuta.

2. Paranoia hallucinatoria chronica.

3. Paranoia simplex acuta.

4. Paranoia simplex chronica.

Dazu kommen noch 3 wichtige Varietaten der acuten Paranoia, welche im Anschluss an die Paranoia acuta hallucinatoria besprochen werden sollen, namlich die ideenfliichtige, die stuporose und die inco- harente Form der acuten Paranoia.

I. Paranoia hallucinatoria acuta.

Die acute hallucinatorische Paranoia (Verriicktheit) ist eine functio- nelle acute Psychose, deren dominirendes Symptom Hallucinationen und Illusionen sind. Aus den Hallucinationen und Illusionen entwickeln sich Wahnvorstellungen.*) Bei der typischen Form fehlen alle paimilren Affectstorungen und Associationsstdrungen. Nur secundare Affectstorun- gen, welche dem Inhalt der Hallucinationen entsprechen (z. B. Angst iiber drohende Stimmen) und secundare Associationsstdrungen (z. B. secundare Ideenflucht in Folge massenhafter Haufung von Sinnestauschun- gen) sind sehr haufig. Desgleichen sind die Stdrungen des Handelns bei der typischen Form ausschliesslich von den Hallucinationen und den aus ihnen hervorgegangenen Wahnvorstellungen abhangig.**)

Specie lie. Symptom at ologie.

Stdrungen des Empfindens. Das Hauptsymptom der acuten hallucinatorischen Paranoia sind die Sinnestauschungen, Hallucinationen - wie Illusionen. Sie treten in der ganzen Mannigfaltigkeit auf, welche '

die allgemeine Pathologie kennen gelehrt hat. Meist iiberwiegen Ge- *

sichtstauschungen. Die Mehrzahl der Hallucinationen ist den „unver- mittelten'' zuzurechnen, d. h. der Inhalt der Hallucinationen entspricht den momentanen Vorstellungen des Kranken meist nicht. Audi steheu die Hallucinationen meist unter sich in keinem engeren Zusammenhang.

Oft sind die Sinnestauschungen so massenhaft und so wechselnd, dass jede Orientirung dem Kranken unmdglich wird. Der Inhalt der Sinnes- tauschungen ist ausserst verschieden: Flammen, Grimassen, Schatten,

*) Oder vielmehr sind die Hallucinationen und Illusionen bereits der Ausdruck latenter Wahnvorstellungen.

**) Ueber die systematiscbe Stellung der Paranoia acuta hallucinatoria bestehen grosse Meinungsverschiedenheiten. Manche recbnen sie zur Manie, andere fiihren sie unter den verscbiedensten Namen (hallucinatorisches Irresein, ballucinatoriscber Wahn- sinn, Amentia etc.) als selbstandige Psychose getrennt von den iibrigeu Paranoia- formen auf.

Paranoia hallucinatoria acuta.

343

nackte Gestalten iiberwiegen imter den Visionen, Drohungen, Schimpf- worte, Anklagen imter den Akoasmen.

Aiisser den Sinnestausclinngen beobaclitet man baiifig aucb Hyper- astbesie nnd Hyperalgesie. Statt letzterer kommt in sebr schweren Fallen sowie namentlich bei den epileptiscben nnd hysteriscben Formen der aciiten ballucinatoriscben Paranoia (den sog. epileptiscben nnd bysteriscben Dammerzustanden) aucb ausgesprocbene Hypalgesie nnd Analgesic vor.

Storungen des Vorstellungsablaufs. Bei der typiscben Form bangen dieselben ausscbliesslicb vom Inbalt der Hallucinationen ab. Der Einfluss der letzteren anf die Ideenassociation ist in der allgemeinen Patbologie ausfiibrlicb gescbildert worden (S. 29). Bald uberwiegt die secundare Hemmung so namentlicb bei scbreckbaften, fascinirenden und mancben imperativen Hallucinationen , bald die secundare Ideen- flucbt so bei sebr wecbselnden, beiteren Hallucinationen , bald endlicb die secundare Incobarenz bei massenbafter Haufung disparater, widersprucbsvoller Hallucinationen. In letzterem Fade kommt es oft zu volliger ballucinatoriscber Unorientirtbeit : der Kranke weiss weder

Monat nocb Jabr anzugeben, glaubt scbon Jabrbunderte in der Anstalt zu sein, und wabnt sicb bald in dieser, bald in jener Stadt. Oft kommt ballucinatoriscbe Aprosexie binzu, seltener wenn namlicb die secun- dare Ideenflucbt vorberrscht ballucinatoriscbe Hyperprosexie. Bei Besprecbung der Varietaten der ballucinatoriscben Paranoia wird ber- vorzubeben sein, dass mitunter nicbt nim intercurrent (d. b. gelegentlicb und voriibergebend) und secundar, sondern zuweilen aucb dauernd und primal’ formale Storungen des Vorstellungsablaufs als dominirendes Haupt- symptom in das Krankbeitsbild eintreten.

Storungen des Vorstellungsinbalts. Mitunter sind die Sinnestauscbungen des Kranken so abgerissen, flucbtig und zablreicb, dass eine Verarbeitung derselben zu Wabnvorstellungen ausbleibt. Haufiger fiibren die Sinnestauscbungen zur Bildung zablreicb er Wabnvorstellungen. Der Kranke glaubt, eine Feuersbrunst bedrobe das Haus, seine Angebbri- gen wurden gefangen gebalten, in sein Essen sei Gift gemiscbt, oder er sei Kaiser geworden, Gott babe ibn zum Werkzeug ausgewablt, seine Hocb- zeit werde gefeiert u. dgl. m. Im Ganzen iiberwiegen die Verfolgungs- ideen uber die Grossenideen. Sebr baufig ist aucb ein allgemeiner Vernicbtungswabn : die Kranken glauben, allentbalben wiitbe Krieg, alles sei gestorben, die Welt gebe unter, das jungste Gericbt brecbe an. Dazu kommen zabllose Personenverwecbslungen. In Folge von Illusionen werden Fremde fiir Angeborige gebalten. Ebenso werden die Gegen- stande verkannt: das Gaslicbt des Krankenzimmers wird zur „ewigen Lampe einer katboliscben Kircbe", das Haus zu einem Scbloss oder zu

344

Paranoia hallucinatoria acuta.

einem KeAer, rlie Ventilationsoffnungen zu den Ausmundungen unter- irdischer Gange, aus dencn Stimmen schallen, loetaubeiide GerUclic aus- stromen, elektrische Entladungen erfolgen. Je nacli dem Aiifentlialt c er Bddimg, den Lebenserfahrungen des Kranken wechselu diese secun- dar aiis den Sinnestaiischungen hervorgegangenen Wahnvorstellungen in der allermannigfaltigsten Weise.

Lassen die Sinnestauschungen deni Kranken nocli raelir Zeit so kniipft er an die immittelbar aus den Sinnestauschungen hervorgegange- nen Wahnideen weitere Wahnvorstellungen an. Zu einer logischen System- bildung kommt es nicht; dazu ist der Wechsel der Sinnestauschungen bei der acuten hallucinatorischen Paranoia viel zu gross. Daher stehen auch die Wahnvorstellungen oft in grellem Widerspruch zu einander. Eben glaubt die Kranke noch, sie sei ^Tanzlehrerin^ weil sie fortwahrend > elektrische Strome empfindet und zugleich allerhand hallucinatorische Bewegungsempfindungen in ihren Gliedern fiililt Oer sollen durch ' Elektricitat Circustanze eingeiibt werden"); ini nachsten Augenblick glaubt sie, sie sei eine Pestkranke („Stimnien haben es mir gesagt'^) und solle in einen Thurm gesperrt werden u. dgl. ni.

Aufmerksame Beobachtung lehrt weiterhin, dass neben diesen direct ; Oder indirect aus Sinnestauschungen hervorgegangenen secundaren Wahn- ' vorstellungen doch auch primare ab und zu auftreten. Namentlich sind ^

primare wahnhafte Auslegungen, bei welchen Illusionen oder Hallucina-

tionen in keiner Weise mitwirken, nicht so selten. So sieht eine weib- liche Ki anke in der Badestubc’ auf einem Handtuch die Initialen K. W.

(= normale Sinnesempfindung) ; alsbald wahnt die Kranke, welche vorher in ganz anderen, hallucinatorischen Wahnideen befangen war, K. W. bedeute „Kaiser Wilhelm‘S, das Bad sei „ein Hohenzollernbad'^, sie sei „eine natiirliche Tochter des Kaisers (= primare wahnhafte Aus- legungen). Schon im nachsten Augenblick andert eine Hallucination wiederum die Richtung der Wahnbildung : sie riecht Theer (= Hallucina- tion) und wiihnt nun, sie solle in Theer gebadet werden, urn die Wirkung solcher Theerbader festzustellen (= secundare hallucinatorische Wahnidee).

Viele Kranke gelangen auch zu dem Gesammturtheil, dass urn sie her Theater gespielt werde, dass die Mitkranken verkleidete Persbnlich- keiten sind und sammtlich eine bestimmte Rolle spielen.

Zwischen der zuerst beschriebenen Form der hallucinatorischen Paranoia, bei welcher die Massenhaftigkeit der Hallucinationen keine Wahnbildung aufkommen lasst und selbst den Zusammenhang des Vor- stellungsablaufs vollig aufhebt, und der zuletzt erwahnten Form, bei welcher im Anschluss an die Sinnestauschungen eine ausgiebige Wahn- bildung stattfindet, existiren die fliessendsten Uebergilnge.

Affectstor ungen. Wie die Associationsstdr ungen sind auch die

Paranoia hallucinatoria acuta.

345

Affectstorungen bei cler tj^jiscben Form sammtiich secundar. Hire Kichtung bangt von dem luhalt der Halliicinationen ab. Daher findet man die schwer- sten Angstaffecte neben der ungebundensten Heiterkeit, brutale Zornaffecte uebeu religioser Verziiclmng, Auch bei einem iind demselben Kranken kom- men entsprechend dem wechselnden Inhalt der Sinnestauschungen nacbein- ander die verschiedensten Affecte vor. Unter den Angen des Arztes konnen die jabesten Affectscbwankiingen stattfinden. In vielen Fallen ist allerdings unverkennbar, dass die Hallucinationen vorziigsweise stets eine und dieselbe Gefiiblsbetonimg zeigen, dass also z. B, dauernd bei- tere Sinnestauschungen oder dauernd angstvolle Sinnestauschungen vor- berrscben. In diesen Fallen ist selbstverstandlicb auch die secundare Afifectstorung eine einbeitlicbere : wocben- und monatelang berrscbt secundare beitere Exaltation oder secundare Angst oder religiose Ver- zuckung u. s. w. vor. Scbon in diesen Fallen konnte man vermutben, dass die einbeitlicbe Gefiiblsbetonung der Sinnestauschungen darauf bindeutet, dass docb neben den Hallucinationen eine primare Affectstorung mit- wirkt, dass die Affectveranderungen mitbin nicbt lediglicb als secundare Folgeerscbeinungen der Hallucinationen anzuseben sind. Ganz unzweif el- baft ist dies in anderen Fallen, in welcben vom Beginn der Krankbeit an entweder gelegentlicb oder dauernd eine krankbafte Exaltation oder Depression auftritt, fur die eine ausreicbende Erklarung in den jeweili- gen Sinnestauschungen nicbt aufzufinden und die desbalb als primar aufzufassen ist. Namentlicb ist das intercurrente Auftreten primarer Angstaffecte nicbt eben selten. Das dauernde (mitunter geradezu das Krankbeitsbild beberrscbende) Auftreten primarer Exaltation bezw. Depression ist am baufigsten bei der ideenflilcbtigen Varietat bezw. bei der stuporosen Varietat der acuten Paranoia (siebe unten). Die primare Exaltation verbindet sicb bier mit primarer Ideenflucbt, die primare Depression (und. Angst) mit Denkbemmung.

Stbrungen des Handelns. Das ausserlicbe Bild, welches Kranke mit ballucinatoriscber Paranoia darbieten, ist ungemein verscbieden. Bei der typiscben Form bangt das motoriscbe Verbalten ganz von dem Inbalt der Hallucinationen und Wabnvorstellungen ab. Am baufigsten iiberwiegt der agitirende Einfluss. Daber findet man ungemein ban fig eine continuirliche oder remittirende tobsiicbtige Erregung. Bald ist dabei Angst, bald* Zorn, bald Heiterkeit der treibende Affect. Dement- sprecbend iiberwiegen bald Jammerscbreie und Flucbtversucbe , bald Tbatlicbkeiten gegen die Umgebung, bald Singen und Tanzen. Oft ist die motoriscbe Agitation auch lediglicb auf die Massenbaftigkeit der zu- strbmenden patbologiscben Empfindungen zuriickzufiibren, obne dass Affecte in erbeblicberem Maasse mitwu’ken. Ebenfalls sebr baufig ist eine ausgepriigte motoriscbe Hemmung und zwar fast stets in katatoni-

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Paranoia hallucinatoria acuta.

schei Foim, einfacliG RGSolution ist selir sslten. DIgsg IlGniniung ist bald durch HallucinationGn dGS MuskGlgGfiihls bGdingt, bald handGlt gs sich urn bGangstigGndG odGr fascinirGiidG VisionGu*) odGr droliGndG StimiiiGn. WGnn diG SinnGstauscliungGn massGnhaftGr aufti'GtGn und zu- glGich aiissGr allGin ZusaiirniGnbang untGiGinandGi- stGbGn, so kommt gs zii GiiiGr liocbgradigGn SGCundarGu IncoharGiiz dGr BGWGgungGn und HaudlimgGn dGS Kraukon. Planlos irrt gi- umliGr. Er fasst unzahligG DingG obuG ZwGck an. KatatoniscliG StGllungGn wGchsGln I’GgGllos mit sinnlosGr Agitation. Oft kommt gs zu dGn wildGstGn JactationGii, wgIcIig aiif dGn UnGrfabrGUGn gGradGzu dGn Eindruck dGr AtaxiG odGr dGr ChorGa macliGn konnGn.

Aussgi' diGSGn SGCundarGn StbrungGn dGr motoriscliGn AssociationGn (sGcundai-G BGSchlGimigung, sGcundarG HGmmung und sGcundarG Inco- liarGnz) kommGn bGi bGstimmtGu VariGtatGu dGr acutGn Paranoia dio- SGlbon formalon Storungon dor motoriscbon Association auch primar, d. li. unabliangig von SiijnGstauschungGn und WabnvorstGllungGn, dauGrnd im KrankboitsYGrlauf vor. So kommt dor idGGnfliiclitigGn Form dor Paranoia primarG Agitation, dor stuporosGU Form primarG motoriscbG HGmmung und dGr incoharGutGu Form primarG Dissociation zu. Audi iutGrcurrcnt wcrdcn voriibGrgGbGndG primarG motoriscliG Associations- storungGn bGi dGr hallucinatoriscliGn Paranoia ab und zu boobachtot.

Dio GinzGluGn Handlungon und Bowogungon dos acuton ballucinato- riscliGn Paranoikors zoigGu SGlbstvorstandlicli Gutprochond dGm mannig- faltigGn Inhalt dGr zu GrundG liGgGudGu SinnGstauschungGn und Wahn- vorstGllungGn din allGrGrhGblichstGn VGrschiGdGuhGitGn. WahrGud das allgGiiiGinG OGbahrGu allGr ManiakaliscliGn (und GbGnso allGr MGlancho- liscliGn) sGlir ahnlich ist, glGicht kaum Jg Gin ParanoikGr GinGm andGi’Gn und auch cin und dcrsclbc Paranoikcr handdt und bcwGgt sich oft hcutc ganz andcrs wic morgen. Wenn trotzdem der aufmerksaniG BGohachter gGwisse Typen aus der MannigfaltigkGit der motorischen Bilder abzuson- dern und oft auch bei dem einzelnen Paranoiker bei allem Wechsel der Handlungeu und Bewegungen manche constante Ziige in dem motori- schen Bilde zu erkennen vermag, so beruht dies darauf, dass einerseits die soeben erwahnten formalen motorischen Associationsstorungeu den verschiedenen motorischen Bildern ein gemeinsames Geprage verleihen und dass andrerseits bestimmte Hallucinationen bei Individuen ahnlichen Bildungsgangs und ahnlicher socialer Stellung immer wiederkehren und auch bei dem einzelnen Individuum entsjirechend seinem Bildungsgange, seiner socialen Stellung und seiuen letzten Erlebnissen im Verlauf der Krankheit oft eine gewisse Constanz zeigen.

K or perl idle Symptome. Die Ernahrung des Kranken leidet

*) Vergleiche Fig. 5 der i)hysiognomisclien Tafehi.

Paranoia halliicinatoria acuta.

347

iu cler Regel sehr erheblich. Aiich ohne class es zii Nahrungsver- weigeriiug oder zu schwerer Tobsuclit kommt, uimmt das Korpergewicht zuweileu iu der Woche um 2 Kilo ab. Die vasomotoriscben Erscheinungen sind sehr wechselnd. Das Piilsbild deutet meist aiif eine vermehrte Spauuuug der Arteriemvande (Erregungsaffecte), zuweileu auf eiue spasti- sohe Coutractiou der periphereu Arterieu. Die Tagescurve der Korper- teuiperatur zeigt sehr uuregelmassige Schwaukuugeu. Iu deujeuigeu Fallen, welche iiuter schwerer lucoharenz, Uuorieutirtheit iiud Agitation verlaufeu, kommt es oft zu hoheu Fieberbewegungen (bis liber 40°). Das Zustandsbild, welches solche Kranke darbieten, wire! auch als Delirium acutum bezeichuet.

Nicht selten besteht nameutlich bei jugeudlicheu ludividueu auch Starke Salivation. Die Salzsauresecretiou des Magens ist bfter ge- steigert als herabgesetzt. Stuhlgaug imd Menstruation zeigeu grosse Unregelmiissigkeit.

Reflexe, Motilitat imd Seusibilitat sind iu uncomplicirteu Fallen meist normal. Die Sehnenphauomene sind oft stark gesteigert ; zu Fuss- klonus kommt es jedoch selten. Druckpunkte sind von der Compli- cation mit Hysteric oder Neurasthenie ganz abgesehen ofter anfzu- finden, namentlich bei jugeudlicheu ludividueu. Das Gesichtsfeld ist zuweileu erhebhch eiugeschrankt. Der Analgesic, welche die epileptischeu uud hysterischeu Dammerzustande begleitet, wurde obeu bereits gedacht. Bei uicht-epileptischen uud uicht-hysterischeu ludividueu ist dieselbe selten.

Verl auf. Die acute halluciuatorische Paranoia wird fast stets von eiuem Prodromalstadium eingeleitet. In diesem kommt dem Kranken seine eigeue Person uud seine Umgebung verandert vor. Geheimniss- volle Beziehungeu scheineu ihm zu bestehen. Mehr uud mehr beschleicht ihn ein Gefiihl der Unheimlichkeit. Jeden Vorgang in der Ausseuwelt bringt er mit seiner Person in irgend eine Verkniipfung ; er fiihlt sich allenthalben beobachtet und bedroht. „Es war mir, als ginge unsichtbar und schweigend eine Gestalt immer neben oder hinter mir her.^^ Schon in diesem Stadium treten illusionare Falschungen der Empfindungen auf. Die Phantasie des Kranken spielt ihm allerhand Streiche. Er glaubt in unbekannten Personen verldeidete Bekannte zu sehen und traumt sich in allerhand phantastische Situationen hinein. Dabei wird der Schlaf mangelhaft. Oft stellen sich heftige Kopfschmerzen und Con- gestionen ein. Die Traume sind mitunter in ganz auffalliger Weise vermehrt und krankhaft lebhaft. Oft aussert der Kranke selbst, er fiirchte wahnsinnig zu werden.

Dies Prodromalstadium zieht sich mitunter eiuige Monate hin, ab und zu dauert es nur wenige Tage. Das Hauptstadium der Krankheit entwickelt sich meist im Anschluss an diese Prodromalsymptome ausserst

348

Paranoia hallucinatoria acuta.

rascli. Massenliafte Hallucinationen und Illusionen setzen ein, Nicht selten siud dieselben schon am ersten oder zweiten Tage so zahlreich und so iiberwaltigend, dass die Orientirimg des Kranken vollstaiidig aiiigelioben wird. So kommt es, dass die Kranken sich oft verlaufen, planlos foitreisen oder vagabundiren. Auf Grund der Hallucinationen stellt sicli nun entweder ein katatonischer Ilemmungszustand ein oder es kommt zu einem Ausbruch scliwerer Agitation. Im ersteren Falle verlauft die Psychose unter dem Bilde des Pseudostupors, im letzteren steigert sicli die Erregung oft zu ausgepragter Tobsucht. Eine scharfe Grenze existirt nicht. Nicht selten wird der Pseudostupor von Erregungs- anfallen und die Agitation von episodischen Zustanden eines Pseudo- stupors unterbrochen.

Der Gesammtverlauf erstreckt sich durchschnittlich iiber etwa sechs Monate. Doch existiren Falle ganz ahgesehen von den oft peracut

verlaufenden hallucinatorischen Dammerzustiinden der Epileptiker ,

in welchen die Psychose innerhalb einiger Tage oder Stunden, also ganz unter dem Bild des sog. transitorischen Irreseins ablauft. Andrerseits dauert die Psychose zuweilen iiber ein Jahr und geht schliesslich doch noch in vollstandige Heilung iiber. Sehr oft ist der Verlauf ein remit- tirender. Ungemein haufig kommt es auch noch im Verlauf der Recon- valescenz zu schweren Riickfallen.

Aus gauge und Prognose. Die acute hallucinatorische Paranoia geht aus in

1. Heilung

oder 2. Heilung mit Defect

oder 3. secundare Demenz

oder 4. chronische hallucinatorische Paranoia

oder 5. Tod.

Heilung ohne Defect tritt in fast 70% aller Fiille ein. Aller- dings ist hierzu zu bemerken, dass Recidive bei der acuten hallucina- torischen Paranoia ungemein haufig sind. Nicht selten beobachtet man dass bereits 1 2 3 Jahre nach vollstandiger Heilung die Psychose wiederkehrt. Ein solches Recidiv kann wieder heilen, aber haufig er- folgt schliesslich bei dem 3. oder 4. Recidiv doch der Ausgang in secun- dare Demenz oder chronische hallucinatorische Paranoia.*) Dauernd gesund hleiben kaum 30% (liber zehn Jahre ca. 40%). Heilung mit Defect beobachtet man namentlich bei Individuen, deren geistige Ver- anlagung von jeher etwas minderwerthig war, ferner nach sehr lang- wierigem Krankheitsverlauf. Mitunter gleicht sich iibrigens ein solcher

*) In dem ausgesprochen remittirenden Character der letzteren verrilth sich dann zuweilen noch lange diese Entstehung aus successiven Recidiven einer acuten hallucinatorischen Paranoia.

Paranoia hallucinatoria acuta.

349

Defect bei sorgfaltiger arztlicher Erziehung allmablich wenigstens theil- weise wieder aus.

Se cun dare Demenz beobacbtet man bei wenigstens 15% aller Falle. Dieser ungiinstige Ausgang kiindigt sicb bei der tyiDischen Form meist dadurch an, dass die Kranken auch ausserhalb ibrer ballucina- toriscben Erregimg verwirrt sprechen und albern antworten. Das Handeln und die Affecte der Kranken stehen mit iliren Sinnestauscbungen und Wabnvorstellimgen nicht mehr im Einklang. Das Kbrpergewiclit nimmt zu, obne dass psychisclie Besserung bemerklich wird. Der auf- merksame Beobacbter entdeckt diese Spuren des intellectuellen Verfalls oft scbon sebr friih.*) Gerade bei jugendlichen Individuen ist der Ausgang in secundare Demenz besonders zu fiirchten.

Der Uebergang in chronische ballucinatoriscbe Paranoia vollzieht sick entweder in der oben erwabnten Weise durch fortwabrenden, in immer klirzeren Zwiscbenraumen erfolgenden Eintritt von Kecidiven Oder aucb direct im Anschluss an einen einzelnen acuten ballucinatoriscben Anfall. Im letzteren Fall fallt auf, das der Kranke auch in Stunden, wo die Hallucinationen nacblassen, ganz unter dem Einfluss der aus den Hallucinationen abgeleiteten Wabnvorstellungeu stebt. Die unmittelbare und intensive Wmkung der Hallucinationen auf die Alfecte erliscbt. Die Wabnbildung iiberwiegt iiber die ballucinatoriscben Vorgiinge. Unter den Hallucinationen selbst erlangen bei Uebergang in cbroniscben Verlauf oft die Geborstauscbungen in ganz auffalliger Weise das Uebergewicbt iiber die Gesicbtstauscbungen,

Todtlicber Ausgang ist bei den unter dem Bild des Delirium acutum verlaufenden Fallen sebr baufig, Aucb Abstinenz fiibrt ge- legentlich zum Tode. Endlicb ist der Selbstmord aucb bei dieser Psy- cbose unter den Todesursacben aufzufubren.

Varietaten. Die wicbtigsten Varietiiten der acuten ballucina- toriscben Paranoia kommen dadurch zu Stande, dass zu den Haupt- symptomen der Psychose, den Sinnestauscbungen und Wabnvorstellungen entweder primare Associationsstorungen oder prim are Affectstorungen hinzutreten. Diese primaren Associationsstorungen sind. Ideenflucbt, Denkhemmung und Incobarenz; sie sind stets mit den entsprecbenden motoriscben Storungen (Agitation, motoriscbe Hemmung, motoriscbe In- coharenz) verbunden. Die primaren Affectstorungen sind: Exaltation und Depression; zu ersterer treten baufig Zorn-, zu letzterer Angst- affecte binzu. Das Cbaracteristiscbe dieser Varietaten liegt nicbt darin, dass uberbaupt Ideenflucbt oder Denkhemmung oder Incobarenz oder Exaltation oder Depression bei einer acuten ballucinatoriscben Paranoia

*) Mitunter ist der Psychose geradezu von Anfang an der Stempel eines pro- gressiven intellectuellen Verfalls aufgedruckt.

3f)0

Paranoia liallncinatoria acnta.

aiiftreten, sonilern dariu, dass diese Storungen primar auftreten, d. h imabhangig von Halluciiiationen iind Wahnvorstellungen. Oben wurde aus- driicldicb betont, dass seen n dare Associations- und Affectstdrungen ungemein liaufig und gewissermaassen selbstverstiindlich entspreebend dem Inhalt der jeweiligen Hallucinationen und Wahnvorstellungen auftreten. Dass dem Kranken, welchem eine Stimme den Tod droht, ^die Gedanken stillstehen, und eine schwere Angst ankommD', ist aus der Hallucination ohne Weiteres verstandlich : Denkheminung und Angst sind hier nicht als neues Krankheitssymptom aufzufassen, sondern . lediglich secundar. Solche Falle bleiben durchaus im Rahmen der typischen hallucina- torischen Paranoia. Nun wurde jedoch schon oben erwiihnt, dass ab und zu inter cur rent auch primare Associationsstdrungen und pri- mar e Affectstdrungen auftreten. Der Kranke hat z. B. einen mehr- stiindigen Angstanfall, ohne dass irgend eine Sinnestauschung oder Wahn- vorstellung fiir denselben verantwortlich gemacht werden kdnnte. Auch dies in ter cur rente Auftreten primarer Associations- und Affect- stdrungen ist uoch nicht wichtig genug, urn auf Grund desselben be- sondere Varietiiten der acuten hallucinatorischen Paranoia aufzustellen. Nun kommen jedoch eben dieselben primar en Associationsstdrungen und Affectstdrungen nicht nur intercurrent, sondern nicht selten auch dauernd im Krankheitsbild neben den Hallucinationen und Wahnvor- stellungen vor. So entstehen einige wichtige Varietaten der acuten hallucinatorischen Paranoia. Es sind dies:

1. Die ideenfluchtige Form: mit dauernder primarer Ideenflucht (Associationsbeschleunigimg)

2. Die stupordse Form: mit dauernder primarer Denkhemmung (Associatiousverlaugsamung)

3. Die incoharente Form: mit dauernder primarer Incohiirenz (Dissociation)

4. Die exaltirte Form: mit dauernder primarer heiterer Ver- stimmung

5. Die depressive Form: mit dauernder primarer trauriger Ver- stimmung.

Da die dauernde primare heitere Exaltation fast nie ohne eine dauernde Associationsbeschleunigimg und die dauernde primare Depression fast nie ohne eine dauernde Associationsverlangsamung vorkommt, so fiillt die Varietiit 4 im Wesentlichen unter die Varietilt 1, die Varietiit 5 unter die Varietiit 2. Es sollen daher auch die primare dauernde Exal- tation und Depression in die Besprechung der Varietaten 1 und 2 bereits hineingezogen werden.

1, Die ideenfluchtige Varietiit, Ihre Hauj)tsymptome sind nach Obigem Hallucinationen nebst secundiiren Wahnvorstellungen und

Paranoia hallncinatoria acuta.

351

primare Ideeufliiclit nebst entsprecliender motorisclier Agitation. Dazii Ivommt oft, aber nicht stets, eiue ausgesprocbene primare Exaltation. Der Inhalt der Hallncinationen entspricht im Ganzen der heiteren Affect- lage; unter den Wahnvorstellimgen iiberwiegen daher Grbssenideen. Zuweilen kommt es bei hochgradiger Steigerimg der Associationsbe- schleunigimg zn secimdarer sog. ideenfliichtiger Incoharenz. Oft kommt es zn Verbigeration und Keimen. Offenbar stellt diese ideenfliichtige Varietiit der acuten hallucinatorischen Paranoia eine Uebergangsform von der letzteren ziir Manie dar. Stellt man sich vor, dass die Hallu- cinationen mehr nnd mehr zuriicktreten und die primare Ideenflucht und die Exaltation mehr und mehr das Krankheitsbild allein beherrschen, so ist der Uebergang in Manie gegeben. In der That werden zwischen der hallucinatorischen Varietat der Manie und der ideenfliichtigen Varietat der Paranoia ganz fliessende Uebergangsfalle beobachtet.

2. Die stupo rose Varietat. Ihre Hauptsymptome sind Hallu- cinationen nebst secundaren Wahnvorstellungen und primare Denkhem- mung nebst entsprechender motorischer Hemmung. Dazu kommt zuweilen, aber nicht stets eine ausgesprochene primare Depression (mit oder ohne Angst). Der Inhalt der Hallncinationen entspricht in letzterem Falle im Ganzen der Depression; unter den Wahnvorstellungen iiberwiegen Verfolgungs-, Verarmungs- und Verschuldungsideen. Die motorische Hemmung ist meist eine katatonische.*) Oft wird sie plotzlich durch ein Aufspringen des Kranken, welchem z. B. eine Stimme einen Befehl zu- ruft, unterbrochen. Oft besteht tagelang Mutismus. Nur langsam, unter ofterem Stocken fiihrt der Kranxe den Loffel zum Mund, oft absti- nirt er. Auf Fragen antwortet er garnicht oder ausserst langsam. Ganz einfache Eechenbeispiele werden oft nicht gerechnet. Schwer- besinnlichkeit und Aprosexie fehlen niemals. Bald stellt diese stuporose Varietat eine Uebergangsform der acuten hallucinatorischen Paranoia zur Melancholie bald eine solche zur Stupiditat dar, je nachdem die Hemmung mehr die Association selbst betrifft und Depression vorherrscht oder die Hemmung mehr die Erinnerungsbilder betrifft und Apathie vor- herrscht. In der That beobachtet man oft genug Falle, welche zwischen der hallucinatorischen Varietat der Melancholie und der stuporosen Varietat der acuten hallucinatorischen Paranoia, oder andere, welche zwischen der hallucinatorischen Varietat der Stupiditat und der stuporosen Varietat der acuten hallucinatorischen Paranoia fliessende Uebergange darstellen.

Sehr haufig tritt die ideenfliichtige Form mit der stuporosen Form zu einem sog. Zirkel zusammen. Bald hat es mit einem solchen Zii-kel sein Bewenden, bald wiederholt sich derselbe regelmassig in be-

*) Fig. 9 der physiognomischen Tafeln giebt den Gesicbtsausdruck und die Haltung einer acuten stuporosen Paranoia wieder.

352

Paranoia hallucinatoria acuta.

stimmten Intervallen. Man bezeichnet diese Form des circularen Irreseins aiich kurz als ,;Circulare Paranoia^^ In der Pubertat beobachtet man nicbt selten eine circuliire Paranoia, bei welcber sich imregelmassig stets ideenfliicbtig-heitere und stuporos-depressive Phasen ablosen. Intervalle feblen moist ganz. Aucb ist die Prognose im Gegen- satz zu der eigentlichen regelmassigen circularen Paranoia giinstig.

Die Prognose der ideenfliiclitigen und der stuporosen Varietat ist eber glinstiger als diejenige der typischen acuten liallucinatorisclien Paranoia, Namentlicli ist bei der ideenfliichtigen Form der Ausgang in secundare Demenz sebr selten,

3, Die incobarente Varietat, Ihre Hauptsymptome sind Hallu- cinationen nebst secundaren Wabnvorstellungen und prim are Inco- barenz des Vorstellungsablaufs nebst entsprecbender motoriscber Inco- barenz, Stets besteht eine ausgesprocliene primare Unorientirtheit, Die motorische Incoharenz fiibrt oft aucb zu Paramimie und zu Pseudopara- pbasie. Die alfectiven Erregungen zeigen ganz regellose Scbwankungen. Zuweilen berrscbt im Ganzen Exaltation, zuweilen Depression vor, Aucb Ideenflucbt oder Denkbemmung konneu als complicirende Symptome bin- zutreten, Im Ganzen kommt ofter motoriscbe Agitation als motoriscbe riemmung zu der Incobareuz binzu, Daber kommt es baufig zu den in der allgemeinen Patbologie genauer besprocbenen sinnlosen und rtick- sicbtslosen Jactactionen, welcbe fruber aucb als Cborea magna bescbrieben wurden, Gerade in diesen Fallen scbwerster Incobarenz mit Agitation tritt oft aucb Fieber auf (bis uber 40 ”) : so kommt die scbon ofter er- wiibnte lebensgefiibrlicbe Symptomtrias des sog. Delirium acutuni zu Stande, Nicbt selten tritt die primare Incobarenz ganz in den Vorder- grund, Sinnestauscbungen und Wabnvorstellungen treten mebr zuriick und konnen sogar tage- und wocbenlang wabrend des Krankbeitsverlaufs ganz ausbleiben,

Aucb der Verlauf der incobarenten Form bat viel Eigentbiimlicb- keiteu. Oft gebt monatelang dem Ausbrucb der Krankbeit ein excentri- scbes, exaltirtes Gebabren voraus. Von jenem eigentbiimlicben Gefiibl des Misstrauens und der Unbeimlicbkeit, mit -welcbem die typiscbe Form einsetzt, ist keine Rede, Die eigentlicbe Krankbeit d, b, ibr Haupt- stadium setzt in der Regel sebi’ plotzlicb mit einer rascb zunebmenden Incobarenz ein, Dem gebildeten Kranken „fallt die Correspondenz scbwer^O ©i’ verliert den Faden und versetzt, verwecbselt und verscbreibt die Worte, Die gewobnlicben Handlungen des Tages verlieren ihren Zusammenbang und ibr Ziel, Angst wird meist bestimmt in Abrede gestellt, ofter wird iiber „Hitze und Unrube im Kopf“ geklagt, Ein unbeimlicbes paramimiscbes Lacben erscbeint dem Kranken selbst ratbselbaft auf dem Gesicbt, Am nacbsten Tage spricbt der Krauke

I’iiranoia ballucinatoria acuta.

auiTiillig viol. Dabei verliert er den Fadeu oft. Er fiirclitet, nicht ver- standeu zii werden. Um sich siclier verstaudlich zu machen und Zeit zu rich tiger Gedankenbildung zii gewinnen, spreohen die Kranken in abgesetztem saccadirteni Ton, oft auffallig laiit, keineswegs rasch; alle Silben werden seltsain scharf ansgesprochen. Der Kranke ruft den Arzt imnier wieder zuriick : er will ihm seinen Zustand erklaren und vermag es nicht. Hallucinationen und Illusionen fehlen oft vollkommen. Die Wiinsche des Kranken sind ganz zusammenhangslos, zum Theil widersprechen sie sich , direct. In die Satzbildung schleichen sich mehr und mehr Anako- luthe ein. In deni rathlosen Gesicht des Kranken malt sich Verzweiflung hber den rapid zunehmendeu Zerfall des Denkens. Um die Gedanken zusammenzuhalten, will der Kranke alles niederschreiben, aber das Ge- schriebene verliert gleichfalls alien Ziisammenhang. Fortwahrend drangen sich Zwischengedanken ein. Manche Siitze bleiben bereits unverstandlich. Es „grant" dem Kranken „vor sich selbst^^ Er bittet den Arzt, ihm wieder in den Gedankengang, ja selbst in die Satzconstruction hinein- zuhelfen. Bald entstehen minutenlange Pausen, bald fliessen die Worte rasch, aber zusammenhangslos. Das Mienenspiel verandert sich: die. Stirn wil'd motivlos gernnzelt, der Mund gespitzt, die Nasenfliigel zucken ofter. Die Gesticulation entspricht dem Affect und den Worten nicht mehr. Oft hat sie etwas Theatralisches. Nach eiuigen Tagen spricht der Kranke nicht mehr immer in Satzen. Oft ist der Sinn kanm zu erkennen. Anfangs sucht der Kranke durch Saccadiren oder scheinbar katatonisches Wiederholen vergebeus den Ziisammenhang wiederziigewinuen. Mutismiis mid iiberhastetes Sprechen losen sich ab. Das Geberdenspiel wird ganz similos ; der Kranke zerrt an der Lippe, er schliigt mit dem Arm in die Liift, er verbiegt den Kiimpf. Den Arzt erkeniit er noch. Auf Fragen erfolgeii die ersten Worte der Antwort noch correct, aber schoii gegen das Ende des Satzes geht Construction und Sinn verloren. Viele Siitze und selbst Worte bleiben imvollendet. Der Schlaf flieht den Kranken vollstiindig. Er isst noch nothdiirftig. Spatestens nach acht Tagen hat die Krankheit ihre voile Hohe erreicht. Die Ideenassociation ist in ein ziisammenhangsloses Nebeneinander von Worten aufgelost. Assonauzen und paraphasische Storimgen finden sich gelegentlich. Sinn- lose Silbenzusammenstellungen werden fast stets gebildet. Hallucinatio- nen iind Illusionen konnen fast vollig fehlen. Die iinziisammenhangend- sten Affecte spielen auf dem Gesicht des Kranken sich ab : oft ist auf dem verzerrten Gesicht ein bestimmter Affect iiberhaupt nicht mehr zu erkennen. Ein liingeres Fixiren der Augen auf einen Gegenstand kommt kanm mehr vor. Die Jactationen steigern sich ins Maasslose. Erzwingt man einen Gehversuch, so tanmelt der Kranke. Bei Drehungen verliert er vollends das Gleichgewicht, Den ihm gereichteii Becher mit Wasser Ziehen, I’sycliiatric. 23

354

Paranoia hallucinatoria acuta.

fasst er iingescliickt an und bringt ihn nicht allein an die Lippen; schliesslicli fallt er ihin aus der Hand. Er saugt am Betttucli, krallt sich an den Bettwiinden fest und zerreisst die Wasche. Einnassen, Spucken und Zalmeknirsdien fehlen selten. Jetzt stellt sich auch Unorientirtheit ein. Der Kranke nennt eine falsclie Jahreszalil oder noch haufiger ant- wortet er auf die Frage nacli dem Monat mit „sechs Uhr“ oder „Sommer“ oder „1?00“ u. dgl. Er weiss nicht, wie lange er in der Anstalt ist.

Der Arzt wird nicht inehr erkannt, jetzt mit diesem, im nachsten Augen-

hlick mit jenem venvechselt. Selbst den eigenen Namen geben die Kranken oft falsch an; verheirathete Frauen geben zuweilen ihren Madchennamen an. Nicht alle Fade erreichen diese Akme, sondern

bleibon in friiheren Stadien stehen. Im Stadium akmes tritt haufig der Tod ein Die Heilung, in anderen Fallen, vollzieht sich schubweise, meist sell!’ langsam. Die Stimmung ist monatelang sehr labil, Motivlos

wechseln die entgegengesetztesten Stimmungen. Oft treten anfallsweise schwere Hemmungen der Ideenassociation ein. Die weinerliche Reizbar- keit des genesenden Maniacus oder ausgesprochene reactive Hyperthymie sind selten. Noch wochenlang verschreiben und versprechen die Kranken sich ofter. Eine eigenthiimliche korperliche Unruhe fehlt fast nie: „Ich habe ein Vibriren vom Kopf bis zu den Zehen." „Es ist etwas Unge- wisses, ein Gedankendurcheinander.'^ Die Orientirung erfolgt namentlich bei den weniger gebildeten Kranken ausserst langsam. Vereinzelte Wahnvorstellungen und Hallucinationen konnen in einigen Fallen aus dem Stadium akmes mit hiniibergenommen werden. Die genesenen Kranken zeigen meist einen partiellen Erinnerungsdefect. Ueber Hallu- cinationen wissen die Kranken meist sehr wenig zu erzahlen, ebensowenig iiber Wahnvorstellungen ; die meisten erschopfen sich in Beschreibungen „des narrischen Wirrwarrs^^ in ihrem Kopf. Ausgang in secundare Demenz ist sehr selten. In fast einem Drittel der Falle endet die Krankheit todtlich. Die heilenden Falle verlaufen bald peracut in zwei bis drei Wochen, bald ausserst langsam; noch nach I '/a Jahren kommeu Heilungen vor.

Andere Varietiiten der acuten hallucinatorischen Paranoia treten auf dem Boden bestimmter Intoxicationen und auf dem Boden bestimmter functioneller Neurosen auf. Die wichtigsten sind die alkoholistische, die epileptische und die hysterische acute hallucinatorische Paranoia.

1. Die alkoholistische Varietiit. Bald tritt diese peracut auf und heisst dann auch Delirium tremens, bald a cut und heisst dann acute alkoholistische hallucinatorische P aranoia s. str.

Das Delirium tremens tritt bei chronischeu Trinkern*) auf

*) Meist handclt es sich urn chroiiische Schnapstrinker, sehr selten ist Delirium tremens bei clironiscbem excossivem Biergenuss.

Paranoia ballucinatoria acuta.

355

entweder in Folge plotzliclier Abstineuz oder in Folge eines einzelnen besonders starken Alkoliolexcesses oder endlich in Folge intercurrenter Krankbeiten (z. B. einer acuten Exacerbation des chronischen Magenkatarrlis der Trinker oder einer Pneiimouie oder einer Knocbenfractur). Selten ist eine Gemiitbserscbntterung das auslosende Moment. Der Verlauf und die Symptome weichen von der typischen acuten hallucinatorisclien Para- noia in einigen Punkten ab. Meist geht ein mebrtagiges Prodromal- stadium voraus, in welchem die Kranken iiber motorische Unruhe und Miidigkeit , starkeres Zittern , Angstaffecte , elementare Sinnes- tauscliungen (Ohrensausen, Funkensehen, eigenartige Kopfsensationen), beangstigende Traume, Scblaflosigkeit, Schwindel und Unfiihigkeit zu concentrirtem Denken klagen. Den Angehorigen fallt eine gesteigerte Reizbarkeit auf. Meist ganz plotzlich scbliesst sich hieran das Hohe- stadium der Krankheit. Dies dauert 2—10 Page. Es entspricbt im Wesentliclien ganz der typisclien hallucinatorisclien Paranoia. Enter den Hallucinationen iiberwiegen die Visionen. Dieselbeu zeigen die Eigenthiimlichkeiten , welche die alkoholistischen Hallucinationen iiber- liaupt haben (vgl. allgemeine Pathologie) : Buntheit, schreckhaften In- lialt, Beweglichkeit und Multiplicitiit der visionareu Figuren. Kleine und grosse Thiere in zahlloser Menge wimmeln umber und beissen nach dem Kranken. Etwas seltener sind Visionen von Flammen und Fratzen. Gelegentlicb stellen sicb aucb Visionen obsconen Inbalts ein. Die Ge- borstauscbungen besteben in ^,Concerten^^, Scbimpfworten, brausendem Farm einer ,,das Haus bestiinnenden" Menscbenmenge u. dgl. Dabei watet der Kranke oft in Wasser, fiiblt sicb in Netze verstrickt oder liegt in S^iinnweben. Entsprecbend der Massenbaftigkeit und namentlicb der rascben Haufung der Hallucinationen kommt es verbiiltnissmassig bald zu einer volligen Unorientirtbeit. Der Kranke glaubt sicb bald in einem Wirtbsbaus bald in seiner Wobnung, bald in einem Kerker u.s.w. Er giebt Monatsdatum und Jabreszabl oft falscb an. Unzablige Personenver- kennungen kommen binzu. Allentbalben glaubt er Bekannte zu er- kennen. Hierzu kommt eine bocbgradige tbeils ballucinatoriscbe tbeils primare Incobarenz und eine beftige gleicbfalls tbeils ballucinatoriscbe tbeils primare Angst. Die Handlungen des Deliranten entsprecben diesen psycbiscben Storuugen. Fast ausnabmslos kommt es zu scbwerer motorischer Agitation, oft zu ausgesprocbener Tobsucbt. Auf Grund der Hallucinationen kommt es zu gefabrlicben Angriffen auf die Um- gebung, Brandstiftungsversucbeu, planlosem Umberirren, mitunter aucb zu Selbstmordversucben. Aucb stereotype Bewegungen, z. B, stunden-

langes Zupfen des Drabtes, den der Kranke um sicb aufgetbiirmt siebt, isind sebr haufig,

Zu diesen psycbiscben Symptomen, welcbe sammtlicb Nacbts starker

23*

356

Paranoia liallncinatoria acuta.

entwickelt zu sein pflegen als am Tage, kommeii zalilreiche somatische Symptome. Die wiclitigsten abgeselien von den gewolmlichen Zeichen des chronisclien Alkoholismiis sind :

a. Fiebertemperaturen (bis iiber 43"), Pulsarhytlimie, Herzscliwacbe ; letztere giebt sich in der Dicrotie des Pulses, in der Unhdrbarkeit des erster Tons an der Herzspitze und in der Kiilile und Cyanose der peri- plieriscben Kdrpertbeile kund. Meist besteht Hyperidrosis.

p. Die Zunge ist borkig belegt. Zuweilen bestehen profuse Durch- falle. Ilaufiger ist hartnackige Obstipation. Dei-Urin ist bochgestellt und enthalt oft Propepton und Eiweiss. Appetit und Scblaf feblen voll- stilndig.

y. Oft besteht ausgesprocbenes Ptomberg’scbes Schwanken. Der alkoholistisclie Tremor erreicbt die bocbsten Grade. Seltener kommt es zu ecbten epileptiscben Anfallen. Der Gang ist taumelnd. Die Sehnen- pbanomene sind gesteigert, die Hautreflexe bald gesteigert bald lierab- gesetzt. Selir haufig ist hocbgradige Hypalgesie, viel seltener Ilyper- algesie und Hyperiistbesie. Die Gesicbtsfelder sind eingeengt.

Dies Akmestadium des Delirium tremens endet meist kritisch mit einem vielstiindigen Scblaf. Aus diesem erwaclien die Kranken frei von Angst und Hallucinationen. Nur ein „wiistes Gefiibl im Kopf^^ liiilt noch einige Zeit an. Audi kduneu in den niicbsten Nachteu noch ver- einzelte Hallucinationen oder Illusiouen auftreten. Zuweilen persistiren einige auf der Kranklieitsbohe auf Grund voii Hallucinationen concipirte Wabnvorstellungen noch einige Woclien; scbliesslicb werden dieselben meist vollstiindig corrigirt und der Kranke ist bis auf seine psy- cbiscbe Degeneration wieder genesen. Die Erinnerung fiir die lialluci- natorischen Erlebnisse ist meist wenigstens tbeilweise erhalteu.

Die Aiisgiinge des Delirium tremens sind Heiluug oder Tod. Aus- gang in cbronisclie Paranoia ist selten. Der Tod erfolgt in ca. 10 % aller Fiille bald durcli intercurrente Krankheiten (Pneumonie, Darm- katarrb u. dgl.) bald durcli Herzschwilcbe.

Von dieser peracuten ballucinatoriscben Paranoia der Alkobolisten, derm eben bescbriebenen Delirium tremens, unterscbeidet sich die acute hallucinatorische Paranoia (s. str.) der Alkobolisten nur durcli den langsameren Krankheitsanstieg , die langere Dauer (drei Woclien bis vier Monate) und das langsaniere Abklingen. Entsprecliend der geringeren Menge und der langsameren Entwicklung der Halluci- nationen ist die Unorientirtheit und die Incoharenz erlieblicli geringer. Desgleiclien sind die korperliclien Symptome weniger ausgesproclieu. Die Gefabr eines tbdtliclien Aiisgangs ist geringer, diejenige eines Aus- gangs in chronische Paranoia grosser.

2. Die epileptisclie Varietat. Die acute hallucinatorische

Paranoia liallucinatoria acuta.

357

Paranoia der Epileptiker zeigt eiue grosse Eeihe von Eigenthiimlich- keiten. Dieselbe wird auch kiirz als e p i 1 e p t i s c h e r D a m m e r z u s t a n d bezeichnet. Die charakteristiscbsten Merkmale sind bereits in der all- gemeinen Patliologie (Seite 242) angegeben worden. Es ist bier noch nacbzutragen, dass das Auftreten dieser Dammerziistande oft eine be- stimmte zeitliclie Beziehung zu den Krampfanfallen des Kranken erkennen las'-t. Bald gelit namlich der Dammerzustand einem Krampfanfall un- niittelbar voraus, bald folgt er einem solcben unmittelbar nacli, bald endlicli bleiben ein oder mehrere Krampfanfalle aus, und statt dessen tritt ein Dammerzustand ein. Im ersten Fall spricbt man von einem praepileptischen, im zweiten von einem postepileptisclien Dammerzustand, im dritten von einem psycbischen Aequi- valent. Erbebliche Verschiedenheit in den Symptomen und im Verlaiif zeigen diese drei Formen nicht. Auch kommen Dammerzustande vor, welche keinerlei Beziehung zu den Krampfanfallen erkennen lassen ; zu- weilen treten letztere auch im Verlauf des Dammerzustandes noch auf.

Im Ganzen tiberwiegt bei den epileptischen Dammerzustanden die Denkhemmung. Bald tritt sie dauernd bald episodisch auf. Zuweilen bestehen zugleich schwere primare Angstalfecte mit ungemein qualvollen Oppressions- und selbst Erstickungsgefiihlen in der Brust. Erheblich seltener wird der Dammerzustand von krankhafter primarer Heiterkeit und Ideenflucht begleitet. Am haufigsten begegnet man dieser Form noch bei Kranken, welche hereits an ausgesprochener epileptischer De- menz leiden. Demeutsprechend fiillt meist das liippische, kindisch-heitere Gebahren und die alberne Geschwatzigkeit in diesen Aufallen auf. Die Hallucinationen zeigen bei aller Lebhaftigkeit und Buntheit eine gewisse Monotonie. Auch kehren eiuige wenige Hallucinationen in be- merkenswerther Uebereinstimmung bei alien Epileptikern wieder. Die Kranken sehen den Himmel offen, Gott, Christus, die Jungfrau und Engel erscheinen ihnen, oft trostet sie eine gottliche Stimme liber ihre Krankheit. Andere sehen wilde Thiere, drohende Gestalten, Feuer- flammeu , zerfallene , Einsturz drohende Hauser , iiberschwemmende Wasserfluthen, aufgetlilirmte Maschinen, Blutlachen. Auch bei den Akoasmen iiberwiegt religibser oder schreckhafter Inhalt; die Kranken horen gottliche Befehle, gellendes Getose, Kanonendonner, Drohungen u. dgl, m. Die Unorientirtheit und Incohareuz ist die grosste, welche liberhaupt bei Geisteskranken beobachtet wird. Theils ist sie primar, theils hallucinatorisch bedingt. Die Handlungen und Be- wegungen variiren im Einzelnen enorm. Manche Epileptiker verharren bei alien ihren halluciuatorischen Erlebnissen in Eolge starker moto- rischer Hemmung wochenlang fast regungslos; Abstinenz und Mutismus sind in solchen Fallen haufig. Mitunter wird ein solcher Stupor plotz-

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Paranoia liallucinatoria acuta.

licli von eiuer j alien, impnlsiven Gewaltthat unterhrochen. In anrleren Fallen iiberwiegt die Agitation : es kommt zu planlosem Fortlaufen, schweren Gewaltthatigkeiten*) (sowolil gegen die eigene Person wie gegen die Umgebung) imd sinnlosem Wiitlien gegen leblose Objecte (Zerstbren von Mobiliar, Zerreissen der Kleider). Sehr baufig ist aucb das Gebahren der religiosen Extase. Seltener sind complicirtere Handlungen wie Dieb- stiible, Scbwindeleien u. dgl. Die meisten Danimerzustande setzen briisk ein nnd enden plbtzlich. Fast stets besteht bochgradige Amnesie. Die Daner schwankt zwiscben einigen Stunden nnd mehreren Monaten. Je

langei dei Anfall clauGrt, um so ■vveniger plotzlicli pflogt er abzuschliGssen, Die meisten epileptischen Dammerzustande gehen in Heilung iiber. Aeusserst selten ist Ansgang in cbronische halluciuatorische Paranoia. Recidive sind sehr baufig. Tbdtlicher Ansgang durcb intercurrente Krankbeiten oder in einem plotzlicb die Psycliose unterbrechenden scbweren Krampfanfall kommt gelegentlich vor.

3. Die bysterische Varietat Oder der bysteriscbe Dammer-

zustand. Aucb der bysteriscben Dammerzustande wurde bereits in der allgemeinen Patbologie gedacbt. Namentlicb wurde der romanbafte Cbaracter und Zusammenbang der successiven Sinnestauscbungen ber- voi geboben. Neben scbreckbaften und religiosen Sinnestauscbungen kommen baufiger erotiscb gefarbte vor. Oefter als in den epileptischen Dammerzustanden kommt es zu complicirten ballucinatorischen Erlebnissen : die Kranke wallfabrtet nacb Rom oder nacb Jerusalem, predigt in der Wiiste, baut Tempel, wandert fiber Scblacbtf elder, wird in Kerker ge- worfen, kampft mit wfitbenden Stieren, bait Hocbzeit, wird von See- raubern geraubt und missbraucbt u. s. f. Enter den Stimmen fiberwiegen Scbimpfworte, namentlicb sexuelle Verdiicbtigungen. Hallucinationen auf dem Gebiete der Gerucbs-, Gescbmacks-, Haut- und Organempfindungen (Scbwangerscbaftssensationen) spielen eine grossere Rolle. Auf dem Ge- biete des Gesicbtssinns sind namentlicb Illusionen (fratzenbafte Ver- zerrungen der Gesicbter der Umgebung) baufig. Stuporose Zustande sind nicht so baufig wie in den epileptiscben Dammerzustanden. Je nacb dem Inbalt der Hallucinationen und secundaren Wabnvorstellungen wecbselt das Gebabren sebr: bald singen die Kranken Chorale, bald vergreifen sie sich an ibrer Umgebung, bald entkleiden sie sicb und machen dem Arzt obscone Antrage, bald kommt es zu impulsiven Fbicbt- versuchen (Sprung aus dem Fenster). Dabei zeigt sicb, dass die von den wirklicben Objecten ausgelosten Empfindungen mit in die ballucina- toriscben Erlebnisse verflochten Averden. So windet sicb die Kranke, welche ihre Hocbzeit zu feiern wabnt, Brautkranze aus dem Seegras, welches

*) Viele derselbcn boruhcn auf jivb wechselnden Personenvcrkenmingcn.

Paranoia ballucinatoria acuta.

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ihr iu die Zelle gegeben worden ist, u. dgl. m. In dem jaheu Affect- wechsel giebt sicb die bysterische Stimmungslabilitat oft aucb wahrend des Diimmerzustandes kund. Analgesie ist fast ebenso b.aufig wie bei den epileptiscben Dammerzustiinden.

Eine bestimmte Bezieliung des Auftretens der bysterischen Dammer- zustiinde zu den bysteriscben Krampfanfallen lasst sicb oft nicbt er- mitteln. Oft ist eine Gemutbserscbutterung das auslosende Moment. Nicbt selten scbliesst sicb in solcben Fallen an den Affectsbock zunacbst ein bysteriscber Krampfanfall and an diesen der bysteriscbe Dammer- zustand. Sebr baufig beobacbtet .man aucb wabrend des bysteriscben Dammerzustandes einzelne Krampfanfalle oder aucb einzelne Rudimente eines Krampfanfalls. Die Dauer scbwankt zwiscben einigen Stunden und mebreren Monaten. Ausgang in cbroniscbe Paranoia ist selten, des- gleicben todtlicber Ausgang („ acute todtlicbe Hysterie^^). Letzterer erfolgt meist, indem ein dem Delb’ium acutum verwandter Zustand sicb entwickelt.

Aucb mit der alkobolistiscben, epileptiscben und bysteriscben Varietat sind die wicbtigsten Varietaten der acuten ballucinatoriscben Paranoia nocb nicbt erscbopft. Es bleibt nocb eine Varietat zu betracbten, welcbe man als die periodiscbe Paranoia bezeicbnet. Diese entspricbt durcbaus der periodiscben Manie und der periodiscben Melancbolie. Wie diese entwickelt sie sicb am baufigsten auf dem Boden scbwerer erblicber Belastung, Die einzelnen Anfalle entsprecben zuweilen der typiscben Form, baufiger der ideenflucbtigen, seltener der incobarenten Form der acuten balluci- natoriscben Paranoia. Ab und zu beobacbtet man aucb, dass die einzelnen Anfalle der periodiscben Paranoia nicbt identiscb sind. Der erste kann der typiscben ballucinatoriscben Form, der zweite und dritte der ideenflucb- tigen, der vierte der incobarenten Form entsprecben u. s. f. Zuweilen kann sogar eine ballucinatoriscbe Manie vicariirend fur einen paranoiscben Anfall eintreten. Gerade dieser Polymorpbismus beweist am scbarfsten, dass zwiscben der Paranoia ballucinatoria acuta und namentlicb zwiscben der ideenflucbtigen Varietat derselben und der Manie eine enge \er- wandtscbaft bestebt. Der einzelne Anfall der periodiscben Paranoia ist meist durcb bruskes Einsetzen ausgezeicbnet. Seine Dauer belauft sicb meist auf ein bis zw^i Monate. Selten ist ubrigens die Periodicitiit so strong eingebalten, wie man dies oft bei der periodiscben Manie findet. Heilungen kommen fast nie vor.

Aetiologie. Erblicbe Belastung ist nur bei der Hiilfte aller Falle nacbweisbar. Bei weiblicben Individuen ist die acute ballucinatoriscbe Paranoia etwas baufiger als bei mannlicben. Epilepsie und Hysterie scbafifen eine besondere Priidisposition flir diese Psycbose. Die besonderen Eigentbumlicbkeiten der epileptiscben und bysteriscben acuten ballucina-

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Paranoia halliicinatoria acuta.

torischen Paranoia sind unter den Varietaton hervorgehol)en worden. Die chronisclie Alkoliol-, Blei- und Cocainvergiftung prildisj)ouiren zu der Erkrankung an acuter liallucinatorischer Paranoia. Weiter gehoren die meisten febrilen und postfebrilen Psycbosen hierher. Ueberhaupt ist die acute balliicinatorisclie Paranoia die Ersclibpfungsjisychose xat’ s^oxYjV. Dalier begegnet man ibr nacb intellectueller Ueberanstrengimg, nach kbrperlichen Strapazen, bei ungeniigender Erniilirung, auf deni Boden scliwerer Anamie, nach gehauften Puerperien oder einer schweren Entbindung , bei protrabirter Lactation , im Gefolg’e scbwerer sexueller Excesse n. s. f.

Die typiscbe Form der acnten ballucinatorischen Paranoia kommt in jedeni Lebensalter vor. Im Pubertatsalter sowie im Senium tritt sie besonders biiufig auch ohne ganz specielle Gelegenbeitsveranlassung (Entbindung, fieberbafte Erkrankung u. dgl.) auf, im mittleren Lebensalter lasst sich fast stets eine erheblicbere specielle Gelegenbeitsveranlassung fiir clen Ausbrucb nachweisen.

Diagnose. Die Diagnose stiitzt sicb vor Allem auf den Nacbweis primarer Hallucinationen und den weiteren Nacbweis, dass diese Hallu- cinationen dauernd das Krankbeitsbild beberrscben. Fiir diesen Nach- weis kommmn die Ausfiihrungen in der allgemeinen Pathologie S. 30 und 34 ff. namentlich in Betracht.

Verwecbslungen sind moglicb mit:

1. Manie. Ueber die entscbeidenden differentialdiagnostiscben Merk- male ist unter Manie nachzulesen.

2. Melancholie. S. Differentialdiagnose unter Melancbolie.

3. Stupid it at. S. Differentialdiagnose unter Stupiditat.

4. Dementia paralytica. Hallucinationen nebst secundaren Wahnvorstellungen sind bei der Dementia paralytica sebr biiufig. Da- mit ist die Gelegenbeit zu Verwecbslungen mit acuter ballucinatoriscber Paranoia gegeben. Um zu einer sicheren Entscbeidung zu gelangen, bedarf es vor Allem einer genauen korperlichen Untersucbung. Vor allem wird man peinlicb genau nacb den scbou mebrfacb erwiilmteu, fiir Dementia paralytica characteristiscben Symptomen resp. auamnesti- scben Daten (Eacialisparesen, Verlust oder Ungleicbbeit der Kuiepbano- mene oder Acbillessebnenpliiinomene, Licbtstarre der Pupillen, besitireude Spracbarticulation , paralytiscbe Anfiille*) forscben. Eiu eiuziges dieser Merkmale geniigt, um die Diagnose auf Dementia paralytica bin- zulenken. Wiederum gilt aucb bier der Satz, dass man bei sypbilitiscb

*) Die friiher bei analogen Diffcreiitialdiagnoscn angefiihrte cutanc Analgesic ist bier nicbt beweisend, da die hysterischc, epileptische und alkobolistische Paranoia cine solche Analgesic gleicbfalls zeigen.

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Paranoia halincinatoria acuta.

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geweseneii Mannern im mittleren Lebensalter mit cler Diagnose einer acuten halluciuatorischeu Paranoia besonders vorsichtig sein soil. Weiter- bin kiiine differentialcliaguostiscli anch der Intelligenzdefect in Betracht, den die Dementia paralytica stets aufweist. Indess lasst eine Intelligenz- priifung auf der Hobe der Krankheit ineist im Stich, bald wegen der Agitation bald wegen des Stupors bald wegen der Incoharenz. Nur bei gelegentlichen Bemissionen wird eine exacte Beurtheilnng der In- telligenz des Kranken moglicb sein. Viel werthvollere Aufscbliisse giebt in dieser Ricbtnug die Anamnese; diese ergiebt bei der Dementia para- lytica, dass dem vollen Krankheitsausbrucb bereits liingere Zeit Ver- gessliclikeit vorausgegangen ist sowie, dass der Kranke schon seit langerer Zeit sicb ofter auffallige Taktlosigkeiten bat zu Scbulden kommen lassen.*) Bei der acuten ballucinatoriscbeu Paranoia kommen solche Prodromal- symptome im Allgemeinen nicbt vor.

5. Dementia senilis. Anch bei dieser sind Hallucination en nebst secundaren Wabnvorstellimgen nicbt selten. Die korperliclie Untersucbimg lasst bilufig im Stick ; denn einerseits verlanft die senile Demenz nicbt selten (jedenfalls erbeblicb baufiger als die Dementia para- lytica) lange Zeit obne ansgesprocbene kbrperlicbe Symptome, und andererseits findet man gerade bei der acuten ballncinatoriscben Para- noia des Seninms ab und zu gleicbfalls einzelne kbrperlicbe Symptome, wie sie bei der senilen Demenz vorkommen, so z. B. fliicbtige Facialispareseu, parapbasiscbe Stbnmgen, Scbwindelanfalle u. dgl. m. Man ist also in viel bbberem Maasse als bei der vorausgegangenen Differentialdiagnose auf die Priifimg der Intelligenz angewiesen. Diese begegnet jedocb bier den- selben Scbwierigkeiten, wie sie oben erortert wurden. Hat man daber nicbt Gelegenbeit in einer Remission einen sicberen lutelligenzdefect nacbzuweisen oder anamnestiscb festziistellen, dass dem vollen Krank- beitsausbrucb erbeblichere Vergesslicbkeiten oder ein auffalliger Verfall der etbiscben Begriffe und Gefiihle (sexuelle Verirriingen!) vorausge- gangen sind, so lasst man meist besser die Diagnose vorlaufig in suspense.

Mit der Feststellung der acuten ballncinatoriscben Paranoia ist die diagnostiscbe Arbeit nocb nicbt erledigt. Man bat sicb stets die weitere Frage vorzulegen, ob die typiscbe Form oder eine der oben aufgezablten Varietiiten vorliegt. Namentlicb ist es flir die Stellung der Prognose wie fill- die Bebandluug wicbtig festzustellen, ob etwa cbroniscber Alko- bolismus , Epilepsie oder Hysterie der acuten ballncinatoriscben Er- krankung zu Grunde liegt. Diese Feststellung wird erbeblicben Scbwie- rigkeiten nicbt begegnen, wenn man einerseits die dauernden Merkmale

*) Wo es sich um cinen Alkoholisten handelt, lassen aus Griinden, welche sich ohne Weiteres aus den Aiigaben iiber psycbiscbe alkoholistische Degeneration (S. 223) crgeben, diese Merkmale ofter im Stich.

362

Paranoia balludnatoria acuta.

des Alkoliolismus, der E^iilepsie und der Hysterie und die anamnestisclien Dateu (Abusus spirit., Krampfanfalle) in Betracht zieht und anderer- seits die Eigenartigkeiten der Symptome und des Verlaufs, welche oben fiir jede Varietat angegeben wurden, beriicksiclitigt.

Tberapie. Die Bebandlung der acuten hallucinatoriscben Para- noia ist fast stets nur in einer Anstalt durcbfiihrbar. Selbst bei den stuporosen Formen sind plotzliclie gefahrlicbe Erregungszustande, denen ausserhalb der Anstalt nicht zweckmassig begegnet werden kann, zu liaufig, als dass der Arzt hausliche Bebandlung versucben konnte. Hochstens bei dem Delirium tremens wird die Einlieferung in eine ge- schlossene Anstalt oft iiberflussig, well die Psycbose oft scbon abge- laufen ist, wenn die leider oft sebr umstandlichen Formalitaten bebufs Erlangung der Aufnabmegenebmigung sammtlicb erfiillt sind.

Die Bebandlung bis zur Einlieferung in die Anstalt wird in vielen Fallen namentlicb die bocbgradige Erregung der Kranken beriicksicbtigen miissen. Jeder Hallucinant ist unberecbenbar. Man ordne daber stets eine standige Ueberwacbung des Kranken bei Tag und beiKacbt an. Ausser- dem treffe man Vorkebrung, dass die Person, welcbe den Kranken be- wacbt und pflegt, im Nothfall rascb Hulfe zu erbalten vermag, obne dass sie zu diesem Zwecke den Kranken im Sticb lassen muss. Ebenso be- darf es namentlicb wenn zugleicb Angstaffecte besteben sorg- faltiger Vorscbriften, um Selbstmordversucbe zu vereiteln. Man kann sicb die Beaufsicbtigung des Kranken dadurcb sebr erleicbtern, dass man Bettrube verordnet. Gegen die ballucinatoriscbe Erregung ist Opium am wirksamsten (liber die Dosen ist die allgemeine Tberapie nacbzulesen). Bestebt tobsucbtige Erregung, so greife man zu Hyoscin- oder Duboisineinspritzungen.

In der Anstalt ist in den meisten Fallen gleicbfalls absolute Bett- rube wabrend der acuten Krankbeitserscbeinungen indicirt. In den- jenigen Fallen, welcbe sicb auf dem Boden scbwerer korperlicber oder geistiger Erscbopfung entwickelt baben, bewabrt sicb eine metbodiscbe Opiumbebandlung. Man beginnt mit einer Tagesdosis von 0,2 g und steigt bis zu Tagesdosen von 0,6 g. Es ist dabei nicbt vortbeilbaft, wie es bei der Melancbolie empfoblen wurde, unbeklimmert um jeweilige Exacerbationen und Keniissionen dieselbe Dosis welter zu geben, sonderu man muss die Hobe der Tagesdosis entsprecbend der Steigerung und der Abnabme der ballucinatoriscben Erregung modificiren. Oft bewabrt sicb die Zufiigung kleiner Dosen Cbinin oder Arsen, obne dass wir bislang fur diese Mittel bestimmte Indicationen aufstellen konnten. Audi die gel eg exit lie be Zufiigung von Brom (4—6 g) ist zuweilen vortbeilbaft. llyoscin und Duboisin sind im Allgemeinen unzweckmiissig, da sie namentlicb in Folge der Accomniodationsstorung die Entstebung von

Piiriinoia halhicinatoria acuta.

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Illusioneu imcl Verkeunuugen begiinstigen. Versagt das Opium auch bei langerer Auvveuduug durcbaus, so karm man einen Versucb mit Chloral (4 mal tiiglich 0,5 g) machen.

Hydropathisclie Eiupackiingen und prolongirte Bader erweisen sich gelegentlich zur Bekiimpfiing schwererer Erregungszustande zweckmassig.

Das Hauptgewicht ist auf Ueberernahr ung zu legen. Auch bei der halluciuatoriscbeu Paranoia kommt eventuell eine Verbindung der Ueberernahrung mit Massage in Betracht. Mit leichten Beschaftigungs- versuchen beginne man, wenn nicht liochgradige Erschbpfung vorliegt, schon friib.

Die Behaudliing der einzelnen Symptome (Abstinenz ii. s. w.) ergiebt sich aus der allgemeinen Therapie. Eine speciellere Besprechung bedarf nur die Behandlung jenes lebensgefahrlichen Zustandes, welcher sich ofters bei der acuten hallucinatorischen Paranoia (namentlich bei der inco- hiirenten Form) entwickelt und als Delirium acutum bezeichnet wird. Zuweilen entwickelt sich derselbe so rapid, dass der tbdtliche Ausgang eintritt, bevor die Einlieferung in die Anstalt ermoglicht werden kann. Hier bedarf es eines energischen Einschreiteus. Opium, Brom u. dgl. ver- sagen fast stets, hingegen wirkt Hyoscin oft geradezu lebensrettend. Die Dosii'ung ist in der allgemeinen, Therapie angegeben. Auf der Hohe der Erreguug siud taglicli 2, eventuell auch 3 Einspritzungen zu machen. Man muss rasch mit den Dosen steigen. Auch Ergotin (0,4 g pro die) bewahrt sich zuweilen. Man dulde bei diesem Zustand eine Abstinenz nicht langer als 24 Stunden, sondern greife mit ernahrenden Klystiereu Oder eventuell sofort mit Sondenfiitterung ein. Bei den ersten Zeichen von Herzschwache ist Wein in grossen Dosen zu geben, ev. auch Campher einzuspritzen (erste Dosis 0,05). Vor jedem erheblichen Warmeverlust sind die Kranken durch Decken oder feste Anziige oder, wo auch diese versagen, durch Ueberheizung des Krankenzimmers zu schiitzen. Dabei achte man darauf, dass die Luft im Zimmer feuclit gehalten wird. Die Ventilation bezw. Liiftung ist von einem Nebenraum aus zu besorgen. Iso- lirung ist, wenn irgend moglich, vollig zu vermeiden. Peinliche Sorg- falt ist auf Eeinigung der Mundhohle zu verwenden (ev. im Hyosciu- schlaf). Die Hautpflege wird am besten durch kurze warme Bader gesichert. Auch jede Obstipation ist alsbald zu bekampfen (Zufiigung von Ricinusol bei der Schlundsondenfiitterung).

Im Speciellen kommt fiir die einzelnen Varietaten der acuten hallu- ciuatorischen Paranoia noch Folgendes in Betracht. Bei der ideen- fiiichtigen Form kann man eine methodische Hyoscinbehandlung vom Beginn der Krankheit ab versuchen. Durch hohe Anfangsdosen und rasche Steigerung der Dosen gelingt es nicht selten den Krankheitsver- lauf erheblich abzukiirzen. * Bei der stuporbsen Form verzichtet man

Paranoia halludnatoria acuta.

ciin bestGii aul alle MGclicanientG und spart solcliG fiir etwaigG intGr- cuiTGntG EiTGgungszustanclG auf. DagGgGn bGwalirGii sich hiGr taglicliG warmG bydropatliiscliG biinpackiingGu (28 % St.).

OGgGu das I)Glirium trGmGiis iGistct das Opium wGitaus diG bcstGu und sicliGi-stGn DiGustG. Am vorthGilhaftGstGn injicirt man 3-4 mal innGrbalb 24 StundGn 0,05 Extr. Op. aqiios. DanGbcn vGrabrcicht man, sobald irgGiidwGlchG AnzGicliGii von IlGi-zscliwiichG bGstGhGn, Cognac in grossGron Doson. EvontuGll kommon CampliGrinjoctionGn und kalto UobGrgiGssungGn in Botracbt. Aussciiialb dor Anstalt wird man boi schwGrGii En-GgungszustandGn, wGiin Gin IsolirzimmGr niclit improvisirt wGi’dGn kann, Hyoscin injicirGn; diG bocbstG Anfangsdosis ist in diGSGii FallGii auf 0,6 mg zu bGiiiGSSGn. DiG Ernabrung bGdarf gGnauGstGr Con- trollG.

DiG GpilGptiscliGn DammGrzustandG sind wiG jGdG acutG ballucina- toriscliG Paranoia zu bohandoln ; WGgon dor impulsivGn GowalthandlungGn diGSGr Krankon bodarf gs ganz bGsondGi’Gr Vorsicht. Isolirung ist jGdGu- falls GinGi’ balbgGuligGndGn Bcwacbung vorzuziGhGn. DiG rGiuG Brom- bGbandlung, von wgIcIigi’ man auf Grund dor Erfabrungon boi dor Bg- bandlung dGr GpilGptiscbGn KrampfanfallG ErfolgG sicb vGi’spi’GcbGu. mocbtG, vGrsagt inGist vollstilndig. EbGr bGwabrt sicb die Verbindung von Opium mit Brom (crstG TagGsdosis 0,2 Opium + 6,0 Natr. bromat.). BGi iibGrbandnGbniGndGr Eri'Ggimg kommt wiGderum Hyoscin in Botracbt. Aucb kurzG kaltc Bader wirken zuweilen vortbeilbaft. Im Ganzen ist die Tberapie selten im StandG den Verlauf des Diimmerzustandes er- beblicb zu mildern oder abzuklirzen.

Die bysteriseben Dammerzustande ergeben keine besonderen Indi- cationen. Mit der Anwendung von Opium und namentlicb von Morpbium wird man bei der grossen Tendenz der Hysteriseben zu Missbraucb dieser Mittel sebr vorsiebtig sein. Lieber greife man daber in diesen Fallen zu einer Brombebandlimg. Wenn irgend moglicb, versuebe man die Kranken schon sebr friibe zu besebaftigen. Kalte Uebergiessungeu und kurze kalte Bader leisten oft gute Dienste. Der erfabrene Arzt wird zuweilen aucb mit Vortbeil die Hypnose (mit oder obne Suggestion) in Anwendung bringen konnnen.

Patbologiscbe Anatomie. Aucb die acute ballucinatoriscbe Paranoia gebort zu den functionellen Psyebosen. In sebweren, todtlicb verlaufenen Fallen, namentlicb also bei dem sog. Delirium acutum ergiebt die Section ofters eine venose Hyperamie des Gebirns, ofter aucb Hirn- odem. Beide Befunde sind wobl erst in den letzten Lebenstagen oder Lebensstunden des Kranken zu Stande gekommen. Eine directe ursacb- licbe Beziebung zu dem ganzen Krankbeitsprocess ist unwabrscbeinlicb. Eber diirften die mikroskopiseben Veranderungen der Gangbenzelleu

Paranoia hallncinatoria chronica.

365

(triibe Schwellung), welche man zuweilen gefimclen liat, imd die Faser- veranderungen, welclie auf dem Riickenmarlcsquerschnitt sich ab uud zu scbon fiir das blosse Auge durcb graue Fleckimgen zu erkennen geben, zu dem Krankheitsprocess selbst in Bezieliiing zu setzen sein.

II. Paranoia hallncinatoria chronica.

Die cbronische liallucinatoriscbe Paranoia ist eine functionelle cbronisclie Psycliose, deren Hauptsypmtome Hallucinationen imd secun- diir aus diesen hervorgegangene Wahnvorstellungen sind. Bei typiscbem Yerlaufe kommen primare Affectstorungen oder primare formale Associa- tionsstorungen (primare Ideenflucht, primare Denkbemmung, primare Incoharenz) nicbt vor, vielmehr sind die etwa auftretenden Aifecte und Associationsstorungen ausscbliesslicb secundar, d. b. durcb den Inbalt der Sinnestauschungen bezw. Wabnvorstellungen bedingt.

S p e c i e 1 1 e S y m p t o m a t o 1 o g i e.

Stoning en des Emp fin dens. Diese bescbriinken sich fast aus- scbliesslich auf Hallucinationen und Illusionen. Nur wenn Complicationen (z. B. mit Hj^sterie) vorliegen, beobachtet man aucli Aniisthesien, Hyp- iistbesien und Hyperilsthesien. Die Hallucinationen und Illusionen stimmen im Einzelnen ganz mit denjenigen der acuten ballucinatorischen Paranoia iiberein. Dock ilberwiegen im Ganzen die Geborstauscbungen, wahrend die Gesichtstauschungen mehr zuriicktreten. Bald ilberwiegen verniittelte bald unverniittelte Hallucinationen. Hire sinnlicbe Lebbaftig- keit ist nicbt geringer als bei der acuten ballucinatoriscben Paranoia. Auf andere Besonderbeiten der Sinnestauscbungen der cbronischen Form wil’d bei der Darstellung des Verlaufes der Krankbeit einzugeben sein. Im Ganzen treten die Hallucinationen nioht so massenbaft auf, nur bei intercurrenten Exacerbationen biiiifen sie sicb ab und zu in einer an die acute Form erinnernden Weise.

Storungen des Vorstellens. Der formale Ablauf der Ideenassociation ist meistens vollig normal. Die Hallucinationen sind meist nicht massenbaft und nicbt iiberrascbend genug, um erbeblicbe secundare Storungen der Ideenassociation bervorzurufen. Da die Sinnestauschungen sich allmablich entwickeln (s. unter Verlauf), so ist der Einfluss auf die Gescbwindigkeit und den Zusammenbang der Associationen meist gering. Nur in den bereits erwahnten intercurrenten Exacerbationen kommt es entsprecbend der massenbaften Haufung von Sinnestauscbungen aucb oft zu secundarer Ideenflucht, secundarer Hemmung (meist in katatoniscber Form) oder secundarer Incoharenz, Noch seltener sind primare Associationsstorungen, Dauernd kommen solcbe fast niemals vor. Etwas ofter begegnet man ihnen in den cr-

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Paranoia hallucinatoria chronica.

walinten intercurrenten Exacerbationen oder in einzelnen Phasen des Kranklieitsverlaufs. So kann z. B. eine mehrere Monate anhaltende primar-stuporose Phase den typisclien Krankheitsverlauf unterbrechen. Mitunter findet man geradezu einen mehr oder weniger regelmassigen Wechsel zweier Phasen, einer ideenfliichtigen und einer stupordsen.

Viel wichtiger sind die inhaltliclien St d run gen des Vor- stellens. Die Sinnestauscliungen der chronischen hallucinatorischen Paranoia fiihren stets zu zahlreichen secundiiren Wahnvorstellungen. Enter diesen uberwiegen in der Regel die Verfolgungsideen sebr ent- schieden. Die Hallucinationen haben meist von Anfang an eine feind- liche Bezieliung zu dem Ich des Kranken, und im Sinne dieser feind- lichen Beziehung verscbiebt sich nun seine Auffassung der Aussen- welt. Erheblich seltener entwickeln sich direct aus den Hallucinationen Grdssenideen. Ebenso sind hypochondrische Vorstellungen nicht gerade haufig ; w^o sie bei der chronischen hallucinatorischen Paranoia vor- kommen, kniipfen sie meist an Plallucinationen der Haut- und Organ- empfindungen an und verbinden sich meist auch schon friih mit Ver- folgungsideen. So empfindet der Kranke z. B. eine eigenthiimliche Schwere im rechten Bein; an diese Sinnestauschung kniipft er die hypochondrische Wahnvorstellung, das rechte Bein sei gelahmt. Mit dieser hypochondrischen Vorstellung verbindet sich aber meist alsbald die weitere, ein unsichtbarer Feind babe durch magnetische Einwirkung das rechte Bein gelahmt oder ihm das Riickenmark „ausgenommeiP^ u.s.w. Versiindigungsvorstellungen kornmen am seltensten vor. Den anklageuden Stimnien gegeniiber behauptet der Kranke in der iibergrossen Mehrzahl aller Ealle, er sei unscbuldig; nur sebr selten bekennt er sich schuldig und verlangt selbst seine Bestrafung.

Zu diesen ersten hallucinatorischen, d. h. direct den Hallucinationen entstammenden Wahnvorstellungen kornmen in den selteneren Fallen noch weitere complementare Wahnvorstellungen hinzu. Auch diese sind vorwiegend verfolgenden Inhalts, z. Th. haudelt es sich urn complemen- tare Grossenideen.

Endlich findet man neben den secundaren und complementareu Grdssenideen ab und zu auch vereinzelte primare Wahnvorstellungen, wiederum meist Verfolgungsideen oder auch Grdssenideen. Bei Be- trachtung der Varietaten der chronischen hallucinatorischen Paranoia wire! auf diese primare Wahnvorstellungen zuriickgekommen werden.

Affectstdrungen. Von ihnen gilt Aehnliches wie von den forinalen Associationsstdrungen. Im Allgemeinen entwickeln sich die Halluciua- tionen zu allmahlich und zu sparlich, um schwerere secundare Aftect- stdrungen zu bedingen, Der Kranke hat gewissermaassen Zeit sich an seine Hallucinationen zu gewdhnen und bis zu einem gewissen Grad

Paranoia hallucinatoria chronica.

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sich gegeii sie abzustumpfen. Der Kranke ist allerclings traurig, angst- lich und erziirnt, wenn feindliche Hallucinationen iiberwiegen, and stolz and heiter, wenn freandlicbe Hallacinationen iiberwiegen. Aber diese Affectschwankangen bleiben meist innerhalb eager Grenzen. Oft erstaant man geradeza, mit welcber Rahe der Patient seine Verfolgangsideen, mit welcber Harmlosigkeit er seine Grossenideen vortragt. Nar in den mebrfacb erwahnten inter carrenten Exacerbationen kommt es ent- sprecbend der Plaafang der Hallacinationen regelmassig za schwereren secandaren Affectstorangen,*) Noch seltener sind primilre Affectstorangen. Daaernd kommen solclie niemals vor. Zaweilen begegnet man ihnen intercarrent wahrend der erwahnten Exacerbationen oder aach wahrend einzelner Phasen der Krankbeit. Aacb ein periodiscber Wecbsel einer exaltirten Phase and einer depressiven Phase kommt gelegentlich vor.

Die Handlangen des chronischen hallacinatorischen Paranoikers bieten oft garnichts Aaffalliges. Die langsamere Entwickelang der Halla- cinationen lasst dem Kranken genag Zeit sich in der Selbstbeherrschang za iiben. Oft dissimalirt der Kranke. Oft verrath er darch sein gauzes Gebahren oder darch eine gelegentliche Aeasserang, dass er hallacinirt. Andere sind mittheilsamer. Sie klagen dem Arzt iiber ihre fortgesetzten hallacinatorischen Belastigangen. In den selteneren Fallen, in welchen daaernd gehaafte Hallacinationen bestehen, ist das motorische Ver- halten daaernd in entsprechender Weise veriindert. Bald beobachtet man dann jahrelang einen ananterbrochenen Pseadostapor, wenn die hallacinatorische Hemmang iiberwiegt, bald eine fast ananterbrochene tobsiichtige Erregang, wenn der agitirende Einfluss der Hallacinationen vorherrscht. In der iiberwiegenden Mehrzahl der Fillle begegnet man einer erheblichen hallacinatorischen Agitation bezw. einem erheblicheren hallacinatorischen Stapor nar wahrend der oben genannten intercarren- ten Exacerbationen. In diesen kommt es allerdings oft za den schwer- sten Zastanden der Attonitat and za den hochsten Graden der Tob- sacht.**)

Mitanter beobachtet man aach eine Art Sammation der hallacina- torischen Affecte. Der Kranke hallacinirt Monate lang, ohne darch ein iiasseres Zeichen innere Erregang za erkennen za geben, bis dann plotzlich einmal ohne wahrnehmbare besondere Haafang der Hallacina-

*) In den selteneren Fallen der chronischen hallucinatorischen Paranoia, in welchen dauernd gchaufte Hallucinationen bestehen, findet man selbstverstandlich auch dauernd eine entsprechende secundare Affectstdrung.

**) Vergleiche hierzu Fig. 10 der physiognomischen Tafel, welche den Zornaffect einer tobsQchtig erregten chronischen hallucinatorischen Paranoia darstellt, sowie Fig. 4, auf welcher die katatonische Stellung eines Pseudostupors bei derselben- Krankheit wiedorgegebcn ist.

Paranoia halliicinatoria chronica.

ai)8

tionen die seit langer Zeit aufsummirte hallucinatorische Erregung in einer Gewaltliandlung sick entliidt.

Primare motoriscke Stiirungen, also priniare motorischo Agitation, primare motoriscke llemmnng und primare motoriscke Incokarenz sind ekenso selten wie primare formale Associationsstdrungen des Vor- stellungsaklaiifs.

K dr perl idle Symptome. Constante kdrperlicke Symptome feklen vollstandig.

Verlauf. Bald entwickelt sick die ckroniscke kallucinatoriscke Paranoia aus einer acnten kallucinatoriscken Paranoia bald entwickelt sie sick von Anfang an ckronisck. Die erstere Entwicklungsweise ist bereits bei Besprechnng der acnten kallucinatoriscken Paranoia be- sckrieben worden. Weit haufiger ist die an zweiter Stelle genannte Entwicklung : ganz allmaklich stellen sick Illusionen und Hallucinationen bei dem Kranken ein. Sekr oft ist das ' erste Auftreten von Sinnes- tauschungen von einem unbestimmten allgemeinen Beeintracktigungs- wahn begleitet. Meist ist zunackst nur eine corticale Sinnesspkiire von der kallucinatoriscken Erregung betroffen , und erst allmaklich schreitet letztere auf die ubrigen Sinuesspbaren fort. Am klarsten tritt dies in denjenigen Fallen kervor, in wmlcken die Krankkeitsentwickelung an die subjectiven Geriiusche eines seit kiirzerer oder liingerer Zeit be- stekenden ckroniscken Paukenkdhlenkatarrks ankniipft. So hdrte z. B. ein chroniscker Paranoiker, welcker seit dem 12. Lebensjakr an ckro- nisckem Paukenkdklenkatarrk. mit subjectiven Gerauscken litt, im 27. Lebensjakr aus dem Okrenklingen allmaklick Worte keraus (,.komm!-^ „Sckwindsuckt, Sckwindsuckt" „dummer Jiid^^ u. dgl). Im Laufe der niichsten Monate warden aus diesen vereinzelten Worten complicirtere Gespriicke: Der Kranke kdrte, wie llivalen seine Geliebte bethdrten. Oft riefen ikm die Stimmen auck die Bezeicknungen von Korpertkeilen zu, z. B. „UnterleilP^, „Zunge^^ Bald danack spiirte er auck ein Zittern und Zwicken in der Zunge. Weiterkin kamen auck zaklreicke Gesickts- und Geruckstauschungen kinzu. Es katten sick also im Anschluss an die subjectiven Gerauscke zunackst Akoasmen, dann kaptiscke Halki- cinationen und schliesslick Gesickts- und Geruchstausckungen eingestellt. Die Keikenfolge dieses Fortschreitens weckselt von Fall zu Fall sekr,

Gerade in diesen auf einem einzigen Sinnesgebiet zunackst einsetzen- den und an langgewoknte peripkere Sensationen (Okrgerauscke, Mouckes volantes u. dgl.) ankniipfenden Fallen bleibt oft lange Zeit das Krank- keitsbewusstsein erkalten. Erst ganz allmaklick gekt oft diesenlvranken das Bewusstsein von der subjectiven Entstekung ikrer Sinnestausckungen verloren. Mit dem Verlust des Krankkeitsbewusstseins ist auck die AVaknvorstellung da. Meist ist dies zweite Stadium der M aknbildung

Paranoia hallucinatoria chronica.

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gegen das erste nicht scharf abgegrenzt. Oft kehrt jahrelang ab und zu fiir einige Tage oder Monate das verloren gegangene Krankbeits- bewusstsein ganz oder theilweise zuriick. In denjenigen Fallen, welcben von Anfang an das Krankbeitsbewusstsein fiir die Sinnestauscbungen feblt, kann obnebin von zwei Stadien nicbt die Rede sein.

Die Wabnvorstellungen selbst wecbseln entsprecbend dem InbaR der Hallucinationen, Da nun diese wieder im Gegensatz zur acuten balliicinatoriscben Paranoia imtereinander in gewissem Zusammen- bang steben und langere Zeit bindurcb abnlicben Inbalt zeigen, so ist die Wabnbildung nicbt nur erleicbtert, sondern die Wabnideen zeigen aucb iiber langere Zeitrauine bin oft eine grosse Constanz, Zu der Bildung eines Wabnsystems - wie bei der cbroniscben einfacben Paranoia kommt es jedocb selten; dazu ist docb wieder die Veranderlicbkeit der Hallucinationen zu gross. Meist beobacbtet man daber bei der cbroniscben ballucinatoriscben Paranoia, dass die einzelnen Wabn- vorstellungen einige Monate und selbst ein Jabr anniibernd constant bleiben, dann aber allmablicb entsprecbend den neu binzugetretenen Hallucinationen modificirt werden. Der Uebergang von einer Wabn- vorstellung zur anderen ist oft ein ganz continuirlicber. Mit den direct aus den Hallucinationen bervorgegangenen Wabnvorstellungen wecbseln langsam aucb die complementaren Wabnvorstellungen. Heute legt sicb der Kranke die vermeintlicben , aus Hallucinationen erscblossenen Ver- folgungen dabin zurecbt, dass man nacb einem Vermogen, welcbes ibm zustebt, aber vorentbalten wird, tracbtet; ein Jabr spater erganzt er andere Verfolgungsballucinationen und entsprecbende Verfolgungsvor- stellungen durcb die wabnbafte Annabme, ein bober Titel stebe ibm zu und werde ibm streitig gemacbt. Im Allgemeinen ist iibrigens die Bildung solcber complementaren Wabnvorstellungen im Gegensatz zur cbro- niscben einfacben Paranoia bei der cbroniscben ballucinatoriscben Paranoia selten.

Unterscbeidet man 2 Stadien, zablt man also das Stadium der Hallucinationen obne ausgiebige Wabnbildung als erstes, das Stadium der ausgiebigen Wabnbildung bei fortbestebenden Hallucinationen als zweites, so ist das Scblussstadium der cbroniscben ballucinatoriscben Paranoia als drittes zu bezeicbnen. In diesem besteben zwar die Halluci- nationen und Wabnvorstellungen nocb fort, aber sie baben an Leb- baftigkeit und Mannigfaltigkeit eingebusst. Die krankbafte Pbantasie und Associationskraft des Patienten hat sicb erscbopft: ballucinatoriscbe Neuscbopfungen und Wabnbildungen gelingen nicbt mebr. Entsprecbend der grosseren Monotonie der Hallucinationen sind die Wabnvorstellungen jetzt stabiler und man konnte erwarten, dass sie jetzt zu einem System verkniipft werden; docb wird diese Erwartung durcb die Erfabrung

Ziehen, Psychiatrie. , nj

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Paranoia hallucinatoria chronica.

widerlegt: die geistige liiiergie der Kranken reicht zu solchen System- bilduugen niclit mehr aus. Die Kranken haben sich mit ihren Halluci- nationen bis zu einem gewissen Grade abgefunden. Haufen sich die schimpfenden hallucinatorischen Stiinmen einmal wieder starker, so ant- worten die Kranken mit einem Schimpfparoxysmus. Diese intercurrenten Exaceibationen werden iibrigens seltener. Die Affecte und Handlungen des Kranken werden bis auf gewisse Eigenbeiteu von den Hallucinationen kaum nocb erbeblich beeinflussf. Oft verbindet sich damit eine Ein- engnng der ganzen Interessensphare des Kranken. Dies Scblussstadium tritt mitunter erst 20—30 Jabre nacb Beginn der Krankheit ein, in seltenen Fallen bleibt es ganz aus.

Finer besonderen Erwalinung bedarf es nocb, dass der Verlauf der chronischen Paranoia ungemein baiifig ein remittirender ist. Ptemis- sionen von mehrmonatlicher und liingerer Dauer sind durchaus nicht selten. Oft sind sie so erbeblich, dass dem Unerfahrenen eine Inter- mission vorgetauscbt wird.*) Andrerseits kommen fast nocb baufiger acute intercur rente Exace rbationen vor. Diese dauern mitunter nur einige Stunden, baufiger mebrere Page oder Wocben, zuweilen einige Monate. Fast ausnabmslos sind sie auf eine voriibergebende Haufung der Hallucinationen zurilckzufiibren. Das Benebmen des Kranken in diesen intercurrenten Exacerbationen stimmt mit demjenigen des acuten hallucinatorischen Paranoikers in alien wesentlicben Punkten iiberein. Dass in diesen intercurrenten Exacerbationen secundare und seltener aucb primare Associations- und Affectstorungen so-s\fie ent- sprecbende motoriscbe Storungen erbeblichen Grades vorkommen, ist in der specielleii Symptomatologie bereits auseinandergesetzt worden.

A us gauge und Prognose. Der Ausgang und die Prognose der chronischen hallucinatorischen Paranoia ergiebt sich bereits aus der Darstelbmg des Verlaufs. Ein intellectueller Defect tritt fast niemals ein. Durch die Einengung der Interessensphare im Scblussstadium wird ein Intelligenzdefect zuweilen vorgetauscbt. Ein tbdtlicber Ausgang wird in seltenen Fallen und dann stets . im Verlauf einer mit scbwerer Er- regung verknlipften intercurrenten Exacerbation beobacbtet. In iiusserst seltenen Fallen ist ab und zu eine ausgesprocbene cbroniscbe ballucina- toriscbe Paranoia nacb jabrelangem Verlauf nocb zur Heilung gelangt (Spatheilung) ; meist scbloss sich die Heilung dann an eine scbwere korperliche Krankheit (Typhus, Erysipel u. dgl.) oder nocb seltener an eine scbwere Gemiithserschutterung an.

*) Zwischen der recidivirenden und der periodischen acuten hallucinatorischen Paranoia einerseits und dieser remittirenden Form der chronischen hallucinatorischen Paranoia andrerseits bestehen fliessende Uebcrgange.

Paranoia hallucinatoria chronica.

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Varietaten.

1. Die subacute*) Varietiit. Zwischen der acuten und der chronischen liallucinatorisclien Paranoia giebt es fliessende Uebergangs- formen. Man kann fiir diese die Bezeichnung ,, subacute hallucinatorische Paranoia" verwenden. Die Entwicklung der Krankheit ist bier subacut. Die Haufimg der Hallucinationen vollzieht sicli langsamer als bei der acuten, rascber als bei der chronischen Form. Die Krankbeitshohe wird meist erst nach einigen Monaten erreicht. Die Dauer der Krankheit belauft sicli meist auf ein Jabr und mehr. Bald erfolgt Heilung, bald Ausgang in chroniscbe hallucinatorische Paranoia, Secundare Demenz ist selten. Entsprechend der Zahl der Hallucinationen sind die secun- diiren Associationsstorungen und Affecterregungen grosser als bei der chronischen und geringer als bei der acuten Form,

2, Die Uebergangsform zur chronischen einfachen Para- noia: nehen den Sinnestauschungen treten primare Wahnvorstellungen in grosser Zahl auf. Oft iiberwiegen bei dieser Varietat unter den Sinnestauschungen die Illusionen und illusionaren Auslegungen iiber die Hallucinationen. Die Prognose ist ebenso ungiinstig. Bildung von Wahnsystemen ist haufiger.

Die hysterische, epileptische und alkoholistische Form der chronischen liallucinatorisclien Paranoia unterscheiden sich von der typischen Form nur in denjenigen Merkmalen, welche in der allgemeinen Aetiologie als charakteristisch fiir Hysterie, Epilepsie und chronischen Alkoholismus aufgefiihrt wurden. Die chronische epileptische Paranoia ist selten; wo bei Epileptikern chronische Geistesstorung eintritt, bleibt auch der Intelligenzdefect nicht aus und handelt es sich somit uni epileptische Demenz . Die chronische hysterische hallu- cinatorische Paranoia zeichnet sich gegeniiber der typischen Form durch die Haufigkeit von Gesichtshallucinationen aus (Leichen, Thiere, zahllose Kopfe, zuweilen auf eine Halfte des Gesichtsfelds beschriinkt). Dazu kommen zahlreiche Illusionen und illusionare Auslegungen auf dem Gebiet der Haut- und Organempfindungen (nanientlich auch der Genitalempfindungen). Zuweilen berichten die Kranken iiber vollstiindige Coitushallucinationen und erheben gegen ihre Aerzte oder andere Per- sonen ihrer Umgebung diesbeziigliche Anklagen. Sehr haufig findet man unangenehme Geruchshallucinationen. Sehr typisch fiir die hysterische Form sind auch die sog. Situationshallucinationen : die Kranke ist ahn- lich wie im Traum in einer ganz anderen Umgebung und macht eine grosse Reihe complicirter, zusammenhangender Erlebnisse durch, ahnlich wie in den acuten hysterischen Dammerzustanden. Beriicksichtigt man

*) D. h, subacut entstanden. Vgl. allg. Pathologic.

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Paranoia halliicinatoria chronica.

weiter die Labilitiit der Affecte, das Impulsive der Handlungen, die Haufig- keit kataleptisclier Zustande, so kann man zuweilen schon aus diesen psychisclieu Kennzeiclien auf den hysterisclieu Charakter einer chronischen liallucinatorisclien Paranoia schliessen. Die somatische Untersucliung liefert weitere Anhaltspunkte. Die alkoliolistische chronische halluci- natorische Paranoia ist nicht gerade haufig. Meist hat sie ausgesprochen remittii’enden Charakter. Die Kranken halluciniren oft nur, wenn be- sondere Schadlichkeiten (z. B. besonders starke Excesse, Strapazen, Ge- muthserschiitterimgen u. dgl.) auf sie einwirken. Es giebt solche Kranke, welche nie ein Delirium tremens durchgemacht haben, aber zeitlebens bald am Tage, bald in der Nacht halluciniren. Bald horen die Kranken . Schimpfvrorte, bald sehen sie allerhand Thiere, bald glauben sie auf dem Velociped in der Stube umherzufahren oder durch die Luft zu fliegen (Bewegungshallucinationen). Zuweilen wird auch namentlich in der Anstaltsbehandlung die Krankheit nach langerem Verlauf schliesslich stationar: die Kranken halluciniren nicht mehr, halten aber ' an den aus friiheren Hallucinationen entstandeuen Wahnvorstellungen fest.

Aetiologie. Erbliche Belastung ist bei der typischen chronischen hallucinatorischen Paranoia in mindestens 60 % aller Falle nachzuweisen.

In der Anamnese stosst man auffallig oft auf die Angabe, dass excessive Masturbation stattgefunden habe. Sehr haufig erkranken Individueu, welche schon in der Jugend durch scheues, argwohnisches , zuriick- gezogenes Wesen aufgefallen sind. Die ersten Anfange der Krankheit liegen meist im 3. Lebensjahrzehnt. Bei weiblichen Individuen erfolgt der Krankheitsausbruch auch sehr haufig im Klimakterium. Auch bei verwittweten Frauen ist die Krankheit auffallig haufig (und zwar auch diesseits des Klimakteriums). Unter den Affecten kommt weiterhin namentlich die Sorge und der Aerger im Kampf urns Dasein und speciell in den Conflicten mit der Umgebung in Betracht. Korperliche Erschopfung und auch geistige Ueberarbeitung spielen eine geringere Rolle. Der atiologischen Bedeutung der Hysterie wurde schon oben gedacht. End- lich sind alle diejenigen chronischen kdrperlichen Leiden oft in erheb- lichem Maasse an der Entwickelung des Leidens betheiligt, welche das fortdauernde Zustromen intensive!’ pathologischer Beize zuni Central- nervensystem involviren. Hierher gehoren namentlich viele chronische gynakologische Erkrankungen , ferner chronische Erkrankungen des Intestinaltracts und namentlich auch der chronische Paukenhohlen- katarrh.

Diagnose. Bei der Unterscheidung von Melancholie, Manie, De- mentia paralytica, Dementia senilis kommen differentialdiagiiostisch die- selben Kriterien in Betracht, welche bei Besprechung der Diagnose der acuten hallucinatorischen Paranoia angegeben wurden. Somit bleibt nur

Paranoia hallucinatoria chronica.

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die Frage zu erledigen, wie die chronische Form der hallucinatorischen Form von der acuteii unterschieden werden kann. Bei dieser Differential- diaguose ist ausschliesslich die Entwicldimg des Leidens maassgebend. Je langsamer die Hallucinationen sich im Beginn des Leidens eingestellt haben, urn so wabrscheinlicher bandelt es sich um die chronische Form. Da zwischen der acuten und der chronischen Form Zwischenformen vor- kommen, wird man zuweilen erst nach liingerer Beobachtung zu einer sicheren Diagnose gelangen. Fiir chronischen Verlauf spricht das Ueher- wiegen von Akoasmen, desgleichen ausgiebige Verarheitung der Halluci- nationen zu Wahnvorstelhmgen und geringe Beeinflussung der Affecte und des formalen Vorstellungsablaufs durch die Hallucinationen. Je ofter man beobachtet, dass der Kranke an relativ wenige Hallucinationen viele Wahnvorstellungen kniipft und seinen Hallucinationen gegeniiber eine auffallige Euhe der Affecte, des Denkens und der Bewegungen be- wahrt, um so grosser ist die Wahrscheinlichkeit , dass es sich um eine chronische Form handelt. Dieselben Kriterien geben uns auch zu er- kennen, ob oder wann eine acute hallucinatorische Paranoia, statt zu heilen, in chronische hallucinatorische Paranoia iihergeht.

Die Unterscheidung von der einfachen, d. h. nicht-hallucinatorischen Form der Paranoia beruht auf dem Nachweis, dass die wesentlichen Wahnvorstellungen des Kranken aus Hallucinationen entstanden, mithin nicht primar sind. Auch hei dieser Differentialdiagnose ist namentlich die Entwicklung des Leidens zu beachten.

Therapie. Die Therapie ist der chronischen hallucinatorischen Paranoia gegeniiber fast vollig ohnmachtig. Nur zweierlei kommt in Be- tracht. Erstens wird man den atiologischen Indicationen genligen, also chronische Magendarmerkrankungen , gynakologische Leiden , Pauken- hbhlenkatarrhe u. s. w. zu beseitigen suchen, den Alkohol entziehen, der Masturbation steuern u. s. f. Zweitens kommt zweckmassige Be- schaftigung in Betracht. Wenn diese auch keine Heilung erzielt, so macht sie doch dem Kranken das Leben ertraglicher und den Kranken fiir seine Umgebung weniger liistig. Je nach dem Stand des Kranken wird man der kbrper lichen oder der geistigen Arbeit den Vorzug geben. Am besten ist es, mit beiden regelmassig (z. B. stundenweise) abzu- wechseln. Auf Discussionen fiber die Bealitat der Hallucinationen lasse man sich nicht ein ; der einzige Rath, den man dem Kranken auf seine Klagen und Fragen geben soil, ist der, er solle lernen seine Halluci- nationen zu ignoru’en. Da die Hallucinationen das Handeln des Kranken ganz unberechenbar machen und jeden Tag eine Grewaltthiltiglceit gegen die Umgebung oder einen Selbstmordversuch zeitigen kbnnen, sind die Kranken stets der Anstalt zuzuweisen. Nur im Schlussstadium wird oft eine Beuidaubung in die Familie mbglich seiu.

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Paranoia simplex acuta.

Die intercurrenten Exacerl)ationen, namentlich soweit sie mit heftiger Erregung verlaufen, sind ebenso wie die acute hallucinatorische Paranoia zu behandeln.

Pathologische Anatom ie. Irgendwelcbe constante Sections- befunde, makroskopische oder mikroskopische, feblen vollstandig.

III. Paranoia simplex acuta.

Die acute einfacbe d. b. nicht-hallucinatoriscbe Paranoia ist eine acute functionelle Psychose, deren Hauptsymptom , das Auftreten zahl- reicher primarer Wabnvorstellungen ist. Primare Affect- und Associa- tionsstorungen feblen in der Eegel vollstandig, einzelne Hallucinationen kommen zwar vor, spielen aber bei der Bildung der Wabnvorstellungen keine Rolle.

Verlauf und Symptomatologie. Meist setzt die Krankbeit ganz plotzlicb ein und zwar direct mit massenbaften, meist maasslosen, jeden Scbeins einer Motivirung entbebrenden, oft untereinander in grellem Widersprucb stebenden Wabnvorstellungen. Grossenideen sind mindestens ebenso baufig wie Verfolgungsideen ; aucb bypocbondriscbe Wabnvor- stellungen konnen auftreten. Der Kranke ist plotzlicb der Sobn Wil- helms I. und zugleicb Wilbelm I. selbst und Friedricb III. und Karl der Grosse, sein Hoden ist Cbristus, das Knacken des Strobsacks ist eine Flamme, in der er verbrennen soli u. s. w. Dem jaben Wecbsel der Wabnideen entspricbt ein abnlicber Wecbsel der Affecte: bocbste Angst und bocbste Exaltation losen sicb ab. Im Ganzen iiberwiegt eine secundare Bescbleunigung der Ideenassociation. Die Orientirung des Kranken ist durcb die massenbaften Wabnideen und Personenver- kennungen wesentlicb beeintracbtigt. Auf motoriscbem Gebiet iiberwiegt meist die Agitation. Auf Grund der Verfolgungsideen kommt es oft zu plotzlicbem, planlosen Fortlaufeu oder Fortreisen. Stundenlang de- clamiren die Kranken oft mit grossem Patbos. Oft erreicbt die Er- regung tobsiicbtige Grade. Hallucinationen feblen in vielen Fallen ganz, in anderen treten sie als Begleiterscbeinungen der Wabnvorstellungen auf. Oft lassen sicb einzelne Anfiille unterscbeiden ; zwiscben denselben bestebt relative Klarbeit und Rube. Auf korperlicbem Gebiet feblen oft alle Symptome. Hyperalgesie ist mindestens ebenso baufig wie Hyp algesie.

Die meisten FiLlle der acuten einfacben Paranoia verlaufen iiusserst acut. Aucb mancbe Fiille des transitoriscben Irreseins geboreu bierber. Meist verscbwinden die Symptome ebenso plotzlicb, wie sie aufgetreten sind. Selten erstreckt sicb die Krankbeitsdauer fiber mebr als 3 Wocben. Die Frinnerung fiir die Erlebuisse und Wabnvorstellungen wabrend der Krankbeit ist in der Regel erbalten, wenu aucb zuweilen etwas liickenbaft.

Paranoia simplex acuta.

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Der Ausgaug cler Kraukheit ist stets Heilung. Recidive oft schon nach kurzem Zwisclienraiim sind sehr hMg.

Diagnose. Verwechslnugen sind namentlich moglich mit folgenden Psychosen :

1. Dementia paralytica. Gerade der widerspruchsvolle, zusammen- hangslose und maasslose Charakter der Wahnvorstellungen der acuten einfachen Paranoia tauscht ofters einen beginnenden Intelligenzdefect vor und verfiihrt zur falschlichen Annabme einer Dementia paralytica. Dilferentialdiagnostisch kommen die oft hervorgehobenen korperlichen Symptome der letzteren in Betracht (Pupillenstarre u. dgl.) sowie der anamnestische Nachweis eines der augenblickliclien Erregung voraus- gegangenen, fiir Dementia paralytica cbarakteristischen Intelligenzdefects. Aiisserdem wird man beriicksichtigen, dass die Dementia paralytica vor- wiegend bei sypbilitisch gewesenen Mannern im mittleren Lebensalter auftritt, wahrend die acute einfache Paranoia fast ausschliesslich auf dem Boden der erblichen Degeneration und meist vor dem 30. Jahr zum ersten Mai auftritt.

2. Manie. Besteht bei einer acuten einfachen Paranoia neben Grbssenideen Ideenflucht und Agitation, so ahnelt das Bild demjenigen der Manie oft in hohem Maasse. Dilferentialdiagnostisch ist zu be- riicksichtigen, dass die primar-heitere Verstimmung der Manie der acuten einfachen Paranoia fehlt. Im Gegentheil pflegen bei letzterer stets auch Angstaffecte (auf Grand von Verfolgungsideen) vorzukommen.

3. Paranoia hallucinat oria acuta. Der Unterschied beruht darauf, dass bei der einfachen acuten Paranoia die Wahnideen primar und Hallucinationen uebensachlich sind, wahrend bei der acuten hallucinatorischen Paranoia die Hallucinationen das Hauptsymptom dar- stellen und die Wahnideen aus ilmen erst secundar hervorgehen. Im Einzelfalle ist allerdings bei erregten Kranken oft recht schwer fest- zustellen, ob die Wahnideen hallucinatorischen Ursprungs sind oder nicht. Namentlich die epileptische Varietilt der acuten hallucinatorischen Paranoia, der sog. epileptische Dammerzustand ist oft kaum von der acuten ein- fachen Paranoia zu unterscheiden. ' Eindet man sehr ausgesprochene Analgesie oder lallende Sprache, so wird man an eiiien epileptischen Dammerzustand zu denken liaben. Der anamnestische Nachweis der Epilepsie lasst oft im Stich. Besonders wird man stets auch auf nacht- liche Epilepsie fahuden und dalier sich z. B. erkundigen miissen, ob gelegentlich nachtliches Einnassen vorgekommen ist oder ob der Kranke friiher zuweilen Morgens Blutspuren auf seinem Kopfkissen ge- funden hat u. s. f. Selbstverstaudlich wird man die Zunge und Wangen- schleimhaut stets auf Bissnarben untersuchen. Eiu negative!’ Befund ist jedoch hierbei nicht gegen Epilepsie zu verwerthen , da manche Epi-

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Paranoia simplex chronica.

leptiker sich iiberhaupt niemals in die Zunge oder Wange beissen, und die Bisswunden anderer so vollkommen heilen , dass eine Narbe nicht sicber zu constatiren ist. Der bruske Schluss ist dem epileptiscben Dammerzustand mit der acuten einfacben Paranoia gemeinsam. Die Amnesie ist in der Kegel (nicht stets) nach dem ersteren viel erheblicher.

Ausdiiicklich ist iibrigens zu betonen, dass zwischen der acuten hallucinatorischen und der acuten einfachen Paranoia Zwischenformen existiren, bei welchen Hallucinationen und primare Wabnvorstellnngen sich ungefahr das Gleichgewicht halten. Gerade auch auf dem Boden der Epilepsie begegnet man solchen Zwischenformen zuweilen.

Aetiologie. Die acute einfache Paranoia kommt fast nur auf dem Boden schwerer erblicher Belastung vor. Sie gehbrt durchaus zu den sog. „vorzugsweise degenerativen Psychosen". So selten sie sonst ist, so haufig ist sie bei Degenerirten. Eine Gelegenheitsveranlassung fur den Ausbruch fehlt oft ganz und gar. Zuweilen giebt eine Gemiiths- erregung den letzten Anstoss, z. B. ein zufalliger Wortwechsel oder eine Ortsveranderung. Sehr haufig handelt es sich urn Individuen, welche mit einem leichten Grad angeborenen Schwachsinns behaftet sind.

Therapie. Einlieferung in die Anstalt ist wegen der tobsiichtigen Erregung stets nothwendig. Bei dem rapiden gunstigen Verlauf, welchen die Krankheit immer nimmt, ist eine besondere Behandlung ganz iiber- fliissig. Nimmt die Erregung zu sehr iiberhand (Gewaltthatigkeiten, Kothschmieren, Kleiderzerreissen u. s. w.), so kann man mit gelegent- lichen Hyoscineinspritzungen eingreifen. Nach der Heilung entlasse man den Kranken nicht zu friih aus der Anstalt, da erfahrungsgemass an den ersten Krankheitsanfall sich oft unmittelbar noch ein zweiter und dritter anschliesst. Die Prophylaxe gegen Kecidive ist ziemlich ohn- machtig; man kann nur versuchen, dem Gen esenen eine Lebensthatigkeit zu verschaffen, bei welcher er Conflicten, Sorgen und Neuerungen mbg- lichst wenig ausgesetzt ist.

Pathologische Anatomie. Constante Sectionsbefunde sind nicht vorhanden.

IV. Paranoia simplex chronica.

Die einfache chronische Paranoia ist eine chronische functionelle Psychose, deren charakteristisches Symptom primare Wahnvorstellungen sind. Hallucinationen, Illusionen, primare Affect- und primare Associa- tionsstorungen kommen hochstens gelegentlich als nebensachliche Sym- ptome voriibergehend vor.

Specielle Sy mptomatologie.

Inhaltliche Stdrungen des Vorstellens. Die Wahnvor- stellungen der chronischeu einfachen Paranoia sind primar, insofern

Paranoia simplex chronica.

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sie nicht aus Sinnestausclumgen oder Affectstorungen hervorgegangen sind . Hire Entsteliimgs weise ist im Einzeluen selir verschieden. Viele werden direct an eine einzelne normale Sinnesempfindung angekniipft und sind somit als walinhafte Auslegungen zu bezeiclinen. Andere lassen sicli auf Tranmempfindungen zuriickfiihren, Manche tauclien, im- abliiingig von einer einzelnen Empfindung, als plotzlicbe Einfiille auf. Sehr viele sind das Product einer langeren Associatioustbatigkeit. Ein Individuum z. B., das jahrelang in Processe verwickelt war, gelangt im Laufe der Jabre scbliesslicb nacb langem Hin- imd Heriiberlegen zu dem Eesultat, dass sammtliche Richter gegen ihn zu einem Complott sich zusammengethan haben. Dazu kommen endlich die in der allgemeinen Pathologie bereits ausfiihrlich behandelten complementaren Wahnvor- stellungen. Indem der Kranke die erstgenannten Wahnvorstellungen combinirt und weiter ausdenkt, gelangt er zu neuen Wahnvorstellungen. So entsteht schliesslich ein logisch geordnetes System von Wahnvor- stellungen.

Der Inhalt der Wahnvorstellungen wechselt im Einzelnen ausser- ordentlich. Bei Besprechung der Varietiiten der einfachen chronischen Paranoia werden wir die wichtigsten Richtungen kennen lernen, in welchen sich der Inhalt der Wahnvorstellungen bewegt. Gemeinsam ist alien diesen Wahnideen, dass sie die Beziehungen des Kranken zu der Aussen- welt in feindlichem oder freundlichem Sinn verschieben. Die beiden Pole, zwischen denen sich alle Wahnideen bewegen, sind der Verfolgungswahn und der Grossenwahn. Versiindiguugsvorstelluugen sind ausserst selten. Es ist dies aus dem psychologischen Mechanismus der Krankheit sehr wohl verstandlich. In letzter Linie gehen alle Wahnvorstellungen der chronischen einfachen Paranoia auf normale Empfindungen zuriick. Die Auslegung und Verarheitung der letzteren ist falsch. Welche Em- pfindung oder Erfahrung kbnnte nun das Material fiir Versiindigungs- vorstellungen liefern ? Der Melancholiker findet das erforderliche Material fiir seine Selbstanklagen in seinen primaren Angstaifecten , der halluci- natorische Paranoiker findet dasselbe ah und zu in anklagenden Stimmen. Der einfache Paranoiker hingegeu findet seiches Material nicht. Er ist auf eine Summe an sich normaler Erfahrungen angewiesen. Er andert an dem thatsachlichen Inhalt dieser Erfahrungen zuniichst nichts. Das einzige Gebiet, was ihm somit fiir seine wahnhaften Auslegungen bleibt, sind die Beziehungen der Aussenwelt zu seinem Ich. Jeder Selbstanklage wiirde seine eigene Erfahrung, das Bewusstsein der Unschuld, sofort entgegentreten und die Selbstanklage wiirde, da kein Angstaffect und keine anklagende Hallucination sie stiitzt, sofort erstickt werden. Anders verhalt es sich mit der wahnhaften Construction feindlicher oder freund- licher Beziehungen der Auss(5nwelt zum Ich. Solche wahnhaften An-

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nahmen konnen im Erfahrungsschatz des Kranken keine directe Wider- legimg finden. Wenn er sick vorstellt, dass er aus furstlichem Hause stammt und ein untergeschobenes Kind ist, oder wenn er sich vorstellt, dass eine Magenverstimmung auf einer Vergiftung durcb seine Hans- leiite beruht, so steht eine solche Wahnvorstellung, so falsch und unwahr- scheinlich sie aucb ist, mit dem Erfahrungsschatz des Kranken dock nicht in directem Widerspruch. Der Paranoiker erganzt die Erfahrung durch wahnhafte V orstellungen , aber er falscht sie wenigstens ini Beginn seines Leidens nicht und setzt sich nicht direct in Wider- spruch mit ihr. Dies schiitzt ihn vor Selbstanklagen und beschrankt seine Wahnbildung auf das Gebiet des Verfolgungs- und Grbssenwahns. Spater freilich kommt es zuweilen auch zu directen Falschungen der Sinneserfahrung, dann aber ist die Kichtung seines wahnhaften Denkens bereits bestimmt : fiir Selbstanklagen ist es dann gewissermaassen zu spat. Auch den Hang des Mensehen, die Schuld eher bei anderen als bei sich zu suchen, kann man zur Erklarung der Seltenheit von Selbstanklagen bei unserem Leiden heranziehen

Verfolgungs- und Grossenideen dominiren somit durchaus. Ihr gegen- seitiges Yerhaltniss wird bei Darstellung des Krankheitsverlaufs genauer erbrtert werden. Hypochondrische Wahnvorstellungen sind namentlich bei der sog. hypochondrischen Varietiit haufig. Sie verkniipfen sich fast ausnahmslos mit Verfolgungsideen: der Patient wahnt sich nicht nur „krank^^, sondern auch „krank gemacht^^ Seine Krankheit ist nicht natiirlich, sondern „kunstlich^b

For male Stor ungen des Vorstellungsablaufs, sowohl primare wie secundare, fehlen in der Regel vollstandig. Nur wahrend der spater anzufiihrenden gelegentlichen hallucinatorischen Anfalle kommen sie ab und zu vor.

Erheblichere Affectstor ungen sind ebenso selten. Der Kranke ist allerdings iiber die vermeintlichen Verfolgungen erbittert und auf seine vermeintlichen Xitel u. s. w. stolz. Aber diese Stimmungen fiihren nicht zu acuten Affectschwankungen. Nur vermoge einer Summation, wie wii’ sie auch bei der hallucinatorischen Form der chronischen Para- noia beschrieben haben, kommt es ab und zu zu heftigen Affectausbriichen. Desgleichen pflegen sich solche einzustellen , sobald wie z. B. in den unten erwahnten, seltenen hallucinatorischen Anfiillen einmal aus- nahmsweise zahlreichere Hallucinationen auftreten.

S t b r u n g e n des E m p f i n d e n s konnen im typischen Krankheits- bild der einfachen chronischen Paranoia ganz fehlen. Dock beobachtet man im Verlauf der Krankheit bfters, dass zu den rein-wahnhaften Aus- legungen auch ilhisionare Auslegungen und Hallucinationen hinzutreten. Vereinzelte Ilhisionen und Hallucinationen kommen fast bei jeder

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einfachen chronischen Paranoia walirend cler langen Krankheitsdaner gelegentlich einmal vor. Irgeud welchen wesentlichen Einfluss auf den Kranklieitsverlauf haben sie nicht. Sie bestarken den Kranken nur in seinen Wahnideen. Die Hallucinationen geboren grosstentbeils zu den sog. „vermittelten Hallucinationen". Nicbt zu selten kommen aucb im Verlauf des Leidens einzelne, kurze ballucinatoriscbe Anfalle vor. Diese dauern bochstens einige Wocben und erinnern in ibrem ganzen Ablauf durcbaus an die acute ballucinatoriscbe Paranoia. Wabrend der- selben kommt es oft zu scbweren secundaren Affectscbwankungen und Associationsstorungen. Mit dem Scbwinden der Hallucinationen kebrt der friibere Zustand in jeder Beziebung zuruck.

Die Besprecbung der Handlungen des einfachen cbroniscben Paranoikers wire! in die Darstellung des Verlaufs eingefloebten werden. Einfacbe Bewegungsstdrungen (Hemmung, Agitation u. s. w.) kommen im Allgemeinen nicbt vor, die complicirteren krankbaften Handlungen sind ganz von den jeweiligen Wabnvorstellungen abbangig.

Kbrperlicbe Symptome weist die einfacbe ebronisebe Paranoia nicbt auf.

Verlauf. Die typisebe Eorm der einfachen cbroniscben Paranoia verlauft in 4 Stadien. Es sind dies

1. das Prodromalstadium,

2. das Stadium der Verfolgungsideen,

3. das Stadium der complementaren Grossenideen,

4. das Stadium der Pseudodemenz.

Man bat diese typisebe Eorm aucb als Paranoia completa bezeiebnet.

In dem Prodromalstadium kommt dem Kranken seine Um- gebung verandert vor. Es sebeint ibm, als begegne man ibm weniger freundlich, als beobachte man ibn sebarfer, als fiihre man etwas gegen ibn im Scbilde. Nicbt die leblosen Objecte wie dem acuten balluci- natorischen Paranoiker im Incubationsstadium , sondern das Benehmen der Personen seiner Umgebung fallt ibm auf. Er griibelt nacb, was vor sich gegangen sein, was gegen ibn vorliegen konne. Zugleicb be- obachtet er seine Umgebung sebarfer. Bei dieser einseitigen Sebarfung seiner Aufmej-ksamkeit maebt er bald neue Beobaebtungen. Er glaubt zu ahnen, dass er der Mittelpunkt eines Gebeimnisses ist. Sein Beruf, seine Familie und Alles, was ibn sonst interessirte, ist ibm jetzt gleicb- giltig geworden. Er will feststellen, „was in der Luft ist". Er fiiblt sich von Spionen umgeben und verlegt sich seinerseits auf das Spioniren. Die barmloseste Geberde der Frau oder des Nacbbarn oder eines Fremden, dem er auf der Strasse begegnet, muss eine Bedeutung baben. Er fiiblt die Unruhe der Ungewissheit. Er erscheint seiner Umgebung verstort und zerstreut. Seine Grubeleien und Beobaebtungen lenken ibn von

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jeder Arbeit ab. Misstrauiscb geht er seinen Bekannten aus dem Weg. Scblaf und AjDpetit verlieren sich, Nicht nur die geistige Leistungs- fahigkeit hat gelitten, sondern aucb das kbrperliche Woblbefinden leidet. Diese Beobachtung erfiillt den Kranken mit neuem Argwobn. Er ergebt sicb in hypocbondriscben Befurcbtungen und grubelt iiber die Entstebungs- nrsacbe seines korperlicben Uebelbefindens nach.

Das zweite Stadium des Verfolgungswahns entwickelt sicb aus dem Prodromalstadium zuweilen ganz allmablicb. Der Kranke formulirt seine Verfolgungsideen Monat fur Monat bestimmter. Auf der Strasse verfolgen ibn Gebeimpolizisten in Civil. Wenn er in ein Restaurant eintritt, verstandigen sicb alle Anwesenden sofort durcb Zeicben. Die Predigt des Geistlicben, das Scbauspiel im Theater, die Annoncen in der Zeitung sind auf ibn gemunzt. Seine Angeborigen stecken mit im Complott; sie „tuscbeln^^ und ziscbeln untereinander. Aucb glaubt er zu bemerken, dass man seine gebeimsten Gedanken erratb und beeinflusst. Wenigstens kann er es sicb nur so erklaren, dass die Bewegungen und Geberden der Umgebung oft in Beziehung zu seinen Gedanken steben. Der Circulus vitiosus, den der Kranke bierbei begebt, liegt auf der Hand, aber er selbst bemerkt ibn nicbt. Man greift direct seine Ebre oder sein Lebftn an. Ein barmloses Unwoblsein erweckt in ibni die feste Ueberzeugung, dass sein Essen vergiftet war. Geht er mit seiner Frau uber die Strasse und wird von einem Bekannten gegriisst, so weiss er jetzt bestimmt, dass der Gruss seiner Frau gilt und dass sie in einem verbotenen Verbaltniss zu dem Grussenden steht. Das Grauwerden seiner Haare, das Carioswerden seiner Zabne, das Ausbleiben von ge- schlecbtlicben Erregungen und Pollutionen ebensowobl wie eine Steigerung der gescblecbtlicben Erregbarkeit und Haufung von Pollutionen, das Abtragen seiner Kleider berubt auf Beeinflussung und Vergiftung („die Quacksalber werden mir scbon Nacbts etwas eingeflosst und meiue Scbube zerscbnitten baben“). Hat der Kranke etwas vergessen, so baben ibm seine Feinde auf „telepatbiscbem“ Wege die Gedanken gestoblen. Jetzt weiss er aucb, wober die Umgebung seine Gedanken und Gebeimnisse weiss: er wird Nacbts im Scblafe zum Sprechen gebracbt und dann aus- geborcbt und ausgefragt.

In anderen Fallen erfolgt der Uebergang in das zweite Stadium ganz jab. Plotzlich komnit dem Kranken „wie eine Erleucbtung" der Gedanke; „Du bast Feinde, man will dich aus dem Wege raumen, du hast die Freimaurer einmal beleidigt, jetzt verfolgen sie dicb.“ Im Licbte dieser Wabnvorstellung erscbeint nun plotzlich alle Ungewissbeit be- seitigt, das ganze Getriebe entbullt, Mit einem Schlag ist ibm Alles verstandlicb geworden. Diese neue Erkenntniss wirkt nun befrucbtend auf das Griibeln und Beobacbten des Kranken. Wenn er im Prodromal-

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stadium noch zuweileu an die Moglichkeit daclite, er tausche sich, so bestiitigeu ihm jetzt zalilreiche Erinnenmgen *), zahlreiche neue Beob- achtimgen, dass er die riclitige Losung gefunden bat. Das Griibeln ist voriiber : ungezwungen reilit sich jetzt Schluss an Schluss, Walinvorstellung an Wahnvorstellung. Mitunter haben die Kranken jetzt in wenigen Tagen ein Gebiinde des Verfolgungswahns vollendet. Gerade in dieser Phase koinmen oft einzelne Illusionen und Hallucinationen (Schimpf- worte!) dem Kranken bestiirkend imd bestatigend zu Hiilfe.

Im dritten Stadium, im Stadium des complementaren Grossenwahns, vollzieht sich die Kronung des Gebaudes. Haufig schlummert schon im zweiten Stadmm hinter den Verfolgungsideen die Grossenidee: tendirt doch einerseits der Beobachtungswahn des Kranken und die unausgesetzte Beschaftigung mit seinem Ich diesem eine exceptionelle Stellung zu ver- schaffen. Mit den Verfolgungsideen drangt sich unvermeidlich die Frage auf : weshalb verfolgt man dich ? Der Kranke ist sich keiner Schuld be- wusst, hbchstens voriibergehend taucht der Gedanke in ihm auf, man kbnne ihm friihere sexuelle Siinden ansehen und begegne ihm deshalb so verachtlich. Viel naher liegt die Annahme, dass man ihn beneidet; man gbnnt ihm sein Geld, sein Ansehen, seine Frau nicht. In den meisten Fallen geniigt jedoch das, was der Kranke an Beneidenswerthem sein Eigen nennt, nicht zur Erklarung dieser maasslosen Verfolgungen. Es bedarf dazu grbsserer Objecte des Neides. So gelangt der Kranke dazu, falschlich beneidenswerthe Rechte und Anspriiche, Leistungen und Aus- sichten fiir sich in Anspruch zu nehmen. Man „zieht ihm Nachts den Samen ab", um seine Heirath mit einer hochgestellten Dame, welche ihm ihre Gunst zugewendet hat, zu hintertreiben. Man fiirchtet, er konne auf einen fiirstlichen Titel, auf ein grosses Vermogen begrlindeten An- spruch erheben und will ihn deshalb aus dem Wege raumen. Man gonnt ihm nicht, dass er durch wissenschaftliche Entdeckuugen, technische Er- findungen, politische oder religiose Reformen unsterblichen Ruhm ge- winnt. Wie die Verfolgungsideen des zweiten Stadiums entwickeln sich diese complementaren Grbssenideen bald allmahhch, bald iiberkommen sie den Kranken plotzlich wie ein gliicklicher Einfall, als die endliche Losung eines complicirten Problems. Auch im ersteren Fall geht der Kranke selten so logisch Schluss fiir Schluss vor, wie die allgem eine Darstellung oben schilderte. Eine zufallige Constellation der Empfindungen und Vorstellungen leitet ihn oft auf den „richtigen^^ Weg, Unbewusste Associationen bereiten die bestunmte Formulirung der Grossenidee vor.**) Seltener fiihrt eine Hallucination, welche ihrerseits wieder auf entsprechende unbewusste Associationen hinweist, den Kranken auf die erste Grossenidee.

*) Z. Th. an Ereignisse, welche vor dem Krankkeitsausbruch liegen.

**) Vgl. auch den allgemeinen*Theil S. 102.

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Wie der Verfolguugswahu beeinflusst nun auch der Grdssenwalin die Auffassung der Aussenwelt. Zalillose walmbafte Auslegungen alter Erinnerungen iind neuer Beobachtungen bestatigen ihm die Bichtig- keit seiner Grbssenvorstellungen. Auch sein Handeln ilndert sicb. Das Gebahren des Verfolgungswabns und des Grossenwahns ist in der all- gemeinen Pathologie gescbildert worden. Je bestimmter die Verfolgungs- ideen werden, je niebr complementare Grossenideen sicb einstellen, urn so zielbewusster werden die krankbaften Handlungen. Der Patient fixirt seinen Verfolgungswabn auf bestimmte Personen. Anfangs fliebt er sie, bocbstens in der vermeintlicben Notbwebr ist er gefabrlicb. Sobald der Grossenwabn binzutritt, nimmt sein Handeln weit mebr einen aggressiven Cbarakter an. Ini erotiscben Grossenwabn sCbreibt er zudringlicbe Brief© an die Dame, welcbe ibn angeblicb liebt, und deren Verwandte. Glaubt er Ansprucbe auf Xitel und Geld zu baben, so beginnt er Processe oder vergreift sicb an den vermeintlicben Verfolgern, die ibn verdriingt baben oder verdrangen wollen (vgl. S. 163).

Das vierte Stadium ist dasjenige der Pseudodemenz. Der Kranke bat jabrelang fur seine Wabnvorstellungen gekampft. Die wabn- bildende Kraft ist erscbopft, die Gefublsbetonung der Wabnvorstellungen versiegt und damit die Energie zuni Handeln erloscben. Der Kranke bait auf Befragen uocb an seinen Wabnvorstellungen fest: er ist nocb Messias oder Erfinder oder Fiirst oder Reformator. Aber er verzicbtet darauf, seine Ansprucbe geltend zu macben. Mit deuselbeu Satzen ent- wickelt er fast mecbaniscb sein Wabnsystem. Er ist apatbiscb geworden. Die anderen Interessen, welcbe er vor seiner Krankbeit batte, sind scbon im ersten Verlauf der Krankbeit von den \\ abnideen verdrangt worden und vollig erloscben. So ist denn sein Gefiiblsleben auf das Hocbste eingeeugt. Kauni um die I'agesereignisse kiimmert er sicb nocb. Dabei bestebt keinerlei Intelligenzdefect. Die Demenz wird nur vorgetauscbt.

Der soeben dargestellte Verlauf der cbroniscben einfacben Paranoia ist nicbt der einzige, aber der baufigste. Zumicbst erfalirt er zuweilen eine bedeutsame Unterbrecbung durcb mebrwocbentlicbe acute Krankbeits- erscbeinungen. Diese besteben bald in einer voriibergebenden Haufung von Hallucinationen, bald in einem vorubergebenden Aufscbiessen massen- bafter primarer Wabnvorstellungen. Im ersteren ball abnelt dei Anfall einer acuten ballucinatoriscben , im letzteren eiiier acuten einfacben Paranoia. Der Verlauf der Krankbeit im Ganzen wu-d durcb diese

intercurrenten Anfalle kaum beeinflusst.

Aber aucb die Reibenfolge und die Zabl der Stadien wecbselt. Zu- nacbst bleibt das 4. Stadium nicbt selten ganz aus. In anderen Fallen kommt das dritte nicbt zur Entwicklung. Es giebt Paranoiker, welcbe niemals zu einer Grbssenidee gelangen. Unigekebrt stellen sicb inandeien

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Fallen Grossenideen sclion im Beginn cler Kraukheit ein unci beherrsclien daiiernd das Kranklieitsbild, wabrend die Verfolgungsideen nur nebenber auftreten. Endlicb kominen Falle vor, in welchen das 2. und 3. Stadium 7Aisaminenfallen d. li. Grossenideen und Verfolgungsideen von Anfang an untrennbar verbunden und coordinirt auftreten. Je genauer man nacb- forscbt, um so baufiger findet man die Grossenideen wenigstens in Budi- menten aucb scbon im 2. Stadium vor.

Ausgiinge und Prognose. Aus dem Vorigen ergiebt sicb be- reits die Unbeilbarkeit cler cbroniscben einfacben Paranoia; Bemissionen und Stillstancle der Krankbeit kommen gelegentlich vor, Heilungen ge- boren zu den aussersten Seltenbeiten.

Varietaten. Zuniicbst bat man nacb dem Inbalt cler Wabn- vorstellungen zablreicbe Varietaten unterscbieclen. So bat man eine religiose Paranoia, eine erotiscbe Paranoia, ein Querulantenirresein u. s. w. aufstellen zu mussen geglaubt. Diese Unterscbeiclungen sincl ganz ausser- licb und wertblos. Nicbt auf den Inbalt der Wabnvorstellungen kommt es an, sonclern auf ibre psycbologiscbe Entwicklung. So ist z. B. das sog. Querulantenirresein nur cladurcb ausgezeicbnet, class die ersten Ver- folgungsicleen an einen unglucklicben Process oder Aebnlicbes anknupfen. Diese Niederlage kann der Kranke nicbt verwinclen. Alle seine Interessen geben in den Griibeleien uber das vermeintlicb erlittene Unrecbt unter. Er appellirt und appellirt wiecler. Neue Verurtbeilungen erfolgen. Bald ist cler Instanzenzug erscbopft. Der pecuniare Verlust bei clem fort- ' wabrenden Processiren sowie cler Buin seines vernacblassigten Gescbaftes steigern seine Erbitterung. Er scbopft Verclacbt, class es „nicbt mit recbten Dingen zugegangen ist^^ Aus cler Becbtbaberei entwickelt sicb ein patbologisches Misstrauen. Er stuclirt selbst die einscblagigen Gesetzes- paragrapben. Seitber glaubte er nocb , class die Bicbter sicb nur geirrt batten; jetzt wird ibm klar, class die Bicbter personlicbe Motive batten. Eigennutz, Cliquenwirtbscbaft und Bestecbung bestimmen sie, wider besseres Wissen ibn ungerecbt zu verurtbeilen. Er ist das Opfer eines Complotts. Er sucbt bei Parlament unci Kaiser Scbutz. Er scbreibt Petitionen und Eingaben mit den spitzfindigsten Auseinandersetzungen. Vergebens. Nun folgen Beamten- und Majestatsbeleicligungen. Er wird I bestraft. Jecle neue Verurtbeilung bestiirkt ibn in seinem Verfolgungs- wabn. Er weiss, warum man gegen ibn in clieser ungerecbten Weise vorgebt ; man will ibn zum Scbweigen bringen, man fiircbtet ibn, er bat den wunden Punkt aufgedeckt, Gott bat ibn auserseben, das Becbt wieder zu Ebren zu bringen, man will ibn bindern, seine grosse Mission i zu erfullen.

In diesem Verlauf erkennt man obne Scbwierigkeit den typiscben Verlauf cler cbroniscben einfacben Paranoia wieder.

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Auf besseren Griinden beruht die Unterscheidung der hypocbon- drisclieu Paranoia. Die Wabnvorstellungen dieser Form kniipfen an Empfindungen des eigenen Korpers an, namentlicb an die sog. Organ- empfindungen. Es sind dies in vielen Fallen ganz normale Empfindungen, in anderen sind es neurastbenisclie Sensationen. Aiis diesen entwickelt der Kranke zuniicbst rein-hypocliondrisclie Vorstellungen. Dieselben gehen jedoch von Anfang an iiber die bypocliondrisclien Besorgnisse des Neurastbenikers weit binaus. Das Wabnbafte des Gedankenganges fallt auf: der Patient construirt die abenteuerlicbsten Krankbeitsvorgange in seinem Korper. Sein Gebirn „kotbet^% ganze Eingeweide sind ver- scbwunden, seine Genitalien sind in weiblicbe verwandelt. Gerade bei dieser Form treten Illusionen und zuweilen aucb Hallucinationen auf dem Gebiet der Orgauempfindungen in grosserer Zabl binzu. Dem aus- gesprocben wabnbaften Cbarakter der bypocbondriscben Vorstellungen entspricbt die weitere Entwicklung. Solcbe abenteuerlicbe Veranderungen, sagt sicb der Kranke, konnen nicbt durcb Krankbeit auf natiirlicbem Wege zu Stande gekommen sein. Gebeimnissvolle, unbeimlicbe Einflusse miissen im Spiele sein. Er beobacbtet sicb und seine Umgebung mit misstrauiscben Augen und bald bat er das Ratbsel gelost: durcb Gift, Elektricitat, Magnetismus oder andere Gebeimkrafte bat man kiinstlicb diese Veranderungen bervorgerufen. Die weitere Entwicklung entspricbt nun ganz dem oben gescbilderten typiscben Verlauf.

Viel wicbtiger nocb ist die Abgrenzung einiger Varietaten vom iitiologiscben Gesicbtspunkt aus. Vor allem ist bier einer Form zu ge- denken, welcbe sicb auf dem Boden scbwerer erblicber Belastuug ent- wickelt, der sog. originilren Paranoia. Die Krankbeitsanfange reicben bier bis in die Jugend zuriick. Scbon im Pubertiitsalter treten aben- teuerlicbe Vorstellungen auf. Viele derselben -werdeu wieder vergessen. ;

Das Gebirn des Kranken ist nocb nicbt reif, eine einzelne Vorstellung ;

festzubalten und auszubauen, Endlicb findet sicb eine Constellation, der ! eine bleibende Wabnvorstellung entspringt. Meist ist diese erste Wabn- | idee eine Grossenidee und meist beziebt sie sicb auf die Abkuuft des Kranken. Er best eine Bibelstelle und plotzlicb tagt ibm, dass sie sicb auf ibn beziebt, dass scbon im Testament sein Kommen angekiindigt wird, dass er Gottes Sobn ist. Oder er siebt das Bild seines Landes- r

berrn, eine Aebnlicbkeit fallt ibm auf, er weiss, dass er ein Furstenkind ;;

ist, Oder er siebt den Fiirsten selbst, der Blick des Fiirsten sagt ibm, dass er sein Sobn ist. Diese Grossenidee wird nun festgebalten und ,

weiter ausgebaut. Er ist seinen wabren Eltern gestobleu worden, seine sogenannten Eltern sind seine Pflegeeltern, er sollte in Niedrigkeit und Armutb verkommen. Grosse Kriege (70/71) sind seinetwegen gefiibrt worden, Man bat ibm Bomane in die Hand gegebeu, urn seine Liisternbeit

S

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zu erwecken imd ihn auch moralisch zu verderben. Der Kranke glaubt sicli zu erinnern, dass seine Eltern ihm nie mit wahrer Liebe begegnet sind. Zahllose Ereignisse aus seiner Kindheit werden ihm jetzt im Lichte seiner Walinidee verstandlich. Er glaubt sich zu erinnern, dass er selbst sicli bei seinen sogenannten Eltern nie wohl gefiiblt babe.*) Oft ver- steigt sich die romanhafte Wahnbildung noch weiter, Der Kranke ist auf dem Mars geboren oder er hat die Welt geschaffen oder er ist iiber- haupt nicht geboren, sondern auf wunderbare Weise „ausgefallen^^ u. dgl. m. Verfolgungsideen spielen meistens eine mehr nebensachliche Rolle. Doch wissen manche Kranke iiber Vergiftungen zu berichten, welche die sog. Eltern in der friihesten Kindheit an ihnen versucht haben. Meistens bleiben diese Wahnvorstellungen das ganze Leben des Kranken hindurch mit geringen Modificationen stationar.

In einer anderen Reihe von Fallen aussert sich der modificirende Einfluss der erblichen Degeneration darin, dass besonders haufig wahn- hafte Einfalle auftreten. Neben systematisirten Wahnvorstellungen treten vollig zusammenhangslos sinnlose Urtheilsassociationen auf. So aussert z. B. der Kranke plotzlich: „Das Weltall wird fett schwarz ist nicht schwarz Te deum laudamus.^^ Die Bezeichnung „Wahu- idee'^ ist hier selbst im weitesten Sinn kaum mehr zutreffend. Es han- delt sich um bizarre Vorstelhmgsverbindungen , iiber deren Begriindung der Kranke selbst keine Rechenschaft zu geben vermag.

Auf dem Boden der Epilepsie, der Hysterie und des chronischen Alkoholismus kommt gleichfalls ab und zu eine einfache chronische Paranoia vor. Die epileptische Form ist am seltensten; die chronische epileptische Psychose ist die epileptische Demenz. Auch die alkoholi- stische Form ist nicht haufig ; der Alkoholismus erzeugt meist die hallucinatorische Form der chronischen Paranoia, Sehr haufig ist hin- gegen die hysterische Form. Die hysterischen Sensationen und Anasthesien geben, auch ohne Illusionen und Hallucinationen, ein vorziigliches Materia^ fiir wahnhafte Auslegungen ab. Die Wahnideen bewegen sich namentlich in der sexuellen Sphare. Die Kranken berichten fiber die complicirtesteu Vorgange in ihren inneren Organen. Haufig ist Schwangerschaftswahn. Auch die Verfolgungsvorstellungen sind vorzugsweise sexuellen Inhalts. Die Grossenideen schlagen meist eine mystisch-religiose Richtung ein.

Aetiologie. Nicht nur bei der originaren Form, sondern auch bei der typischen Paranoia completa ist erbliche Belastung haufiger als bei den meisten anderen Psychosen, Die originare Form entsteht in 90 % aller Ealle auf dem Boden erblicher Belastung und zwar meist

*) Durch diese retrospectiven Umdeutungen wird man oft verleitet, den Krank- heitsbeginn noch frUher anzusetzen, als er thatsachlich stattgefunden hat,

Z i e h en , Psychiatric. 2,b

38fi

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schwerer erblicher Belastung. Bei der typisclien Form findet sicli Be- I

lastung in ilber 70 “/q aller Falle. Meist handelt es sicli urn Individuen, |

welcbe scbon von Kindbeit auf durcb Absonderlicbkeit (scheues Wesen, ; Misstrauen, Reizbarkeit, Unwabrbaftigkeit, sexuelle Perversitaten, Hang zum Griibeln u. s, w.) auffielen. Die geistige Veranlagung liegt gewohn- j lich iinter dem Durcbscbnitt (namentlicli bei der originaren Paranoia)

Oder sie ist auffallig einseitig. Die ersten Krankheitsanfange fallen meist bereits in das 3. Lebensjalirzehnt, bei der originaren Form in das zweite. Im lioberen Alter zeigt das Klimakterium eine besondere Prii- disposition (Wabn ehelicber Untrene des Mannes !). Unter den sonstigen intra vitam einwirkenden Schadlichkeiten sind namentlicb chroniscbe Aftecteinfliisse von atiologiscber Bedeiitung. Kummer und Zuriicksetzung spielen oft eine grosse Rolle. Auch einsame Lebensweise scheint die Entstebung der Krankbeit zu begiinstigen; dock fragt es sich, ob der Hang zur Isolirung nicht in vielen Fallen bereits Krankbeitssymptom ist. Aebnlicbes gilt von der Masturbation, deren Bedeutung ebenso oft iiber- wie unterschatzt worden ist. Der atiologischen Bedeutung der Hysterie wurde scbon oben gedacbt.

Diagnose. Verwecbslungen sind mbglicb mit:

1. Dementia paralytica. Ernstere Scbwierigkeiten ergeben sicb nicbt, wenn man die korperlicben Symptome und den cbarakteri- stiscben erworbenen Intelligenzdefect der Dementia paralytica beriick- sicbtigt.

2. Paranoia hallucinatoria cbronica. Die Unterscbeiduno-

o

berubt auf dem Nacbweis von Hallucinationen. Wo solcbe von Anfang an aufgetreten sind und die Wabnbildung wesentlicb veranlasst baben, liegt die cbroniscbe ballucinatorische Eorm vor, im anderen Falle die cbroniscbe einfacbe Form. Zwiscben beiden kommen jedocb alle uberbaupt denkbaren Uebergangsformen vor. Hallucinato- * rische Wahnvorstellungen und primare Wahuvorstellungen konnen von Anfang an sich ungefabr die Wage halten. Namentlicb bei der hyste- riscben und bei der hypochondrischen Form sind solcbe gemiscbten Fiille nicbt selten.

Ueber die Abgrenzung der cbroniscben einfachen Paranoia gegen pbysiologisches Misstrauen und pbysiologiscben Hochmutb ist das Capitel uber Wahnideen in der allgemeinen Pathologic nachzulesen.

Tberapie. Die Bebandlung der cbroniscben einfachen Paranoia ist bezuglich volliger Heilung aussicbtslos. Remissionen treten aucb ' obne jede Bebandlung bfter ein, docb vermag eine sacbverstandige Bcr bandlung entscbieden den Eintritt und den Grad der Remissionen zu fordern. Die beste Chance gewabrt die Versetzung des Kranken in vollig neue Verbaltnisse und zweckmassige Bescbaftigung in den neuen Yer-

Geistesstorung tlurcli Zwangsvorstellungen.

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lialtnissen. Wenu irgend moglich, wird man einen Wechsel des Wohnorts veranlassen. Haufig empfiehlt sicli auch ein Berufswechsel. An dem neuen Wohnort muss die Beschaftigung auf das Genaueste iirztlich iiber- wacht und regulirt werden. Der Kranke darf zum Griibeln keine Zeit haben. Sein tagliclies Benifsleben muss ihm bestimmte Aufgaben stellen, die sein Interesse und seine Aufmerksamkeit ganz in Ansprucb nehmen. Seine Wabnvorstellungen ignorire man *) Ueber hypocbondrische Be- sorgnisse berubige man ibn durcb kurze, biiudige, einmalige Erklarungen. Die Scblaflosigkeit und innere Unrube des Prodromalstadiums ist mit Brom, die Appetitlosigkeit durcb G5annastik, Gartenarbeit u. dgl. m. zu bekiimpfen. In den spateren Stadien ist diese Tberapie begreiflicber AVeise viel weniger erfolgreicb. Das Hauptgewicbt wird im spateren Verlauf stets auf Arbeit zu legeu sein.

In alien Fallen ist eine genaue Beaufsicbtigung des Kranken be- zuglicb der Gemeingefabrlicbkeit notbwendig. Wenn die Umgebung solcbe gewabrleisten kann und wenn der Arzt auf Grund genauer Kenntniss des Cbarakters und der Wabnideen des Patienten zur Ueberzeugung ge- langt, dass Gewalttbatigkeiten nicbt zu befiircbten sind, so kann man Bebandlung ausserbalb der gescblossenen Anstalt versucben (entweder im eigenen Hause oder besser in einer fremden Familie z. B. auf dem Land!). In alien anderen Fallen ist die Ueberfubrung in eine ge- scblossene Anstalt notbwendig.

Patbologiscbe Anatomie. Irgendwelcbe Sectionsbefunde liegen nicbt vor; die cbroniscbe einfacbe Paranoia gebbrt gleichfalls zu den functionellen Psycbosen.

c. Geistesstorung durcb Zwangsvorstellungen.

Das Hauptsymptom dieser Psycbose sind Zwangsvorstellungen, d. b. unricbtige Urtbeilsassociationen, welcbe dem Kranken sicb immer wieder anfdrangen, obwobl die bericbtigenden Urtbeilsassociationen iiberwiegen. Oft kommt es zu scbweren secundaren Affectstorungen (Angstaffecten).

*) Ein Beispiel wird dies illustriren. Ein Paranoiker weigert sich zu essen : im Essen sei Gift. Ganz unzweckmassig ware es in solchem Fall , dem Kranken dies ausreden, die Unwahrscheinlichkeit ihm nachweisen zu wollen. Erst recht verkehrt ware es, mit der Schlundsonde zu drohen. Sondern man wird ganz nebenbei, ohne durcb besondere Worte die Aufmerksamkeit des Kranken zu erregen, unter seinen Augen reichlich von der Speise geiriessen und, ohne selbst die SchlUsse zu ziehen, unter anderweitigem Gesprach den Kranken verlassen.

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Geistesstorung durch Zwangsvorstellungen.

Specielle Symptomatol ogie,

Inlialtliclie Storungen des Vorstellens. Wahnideen be- stehen nicht, die inhaltlichen Storungen bescliranken sich ausscbliesslich auf Zwangsvorstellungen. Diese sind in der allgemeinen Pathologie be- reits ausfiihrlich beschrieben worden (S. 120 ff.) Von den dort unter- schiedenen Zwangsvorstellungen sind die Zwangsvorstellungen in Urtheils- form am baufigsten. Die Entstehungsweise der einzelnen Zwangsvor- stellung ist meist die S. 122 angegebene, d. h. die Zwangsvorstellung kniipft an eine normale Empfindung an. Angstatfecte sind in den typischen Fallen bei der Entstebung nicbt betbeiligt. Im Speciellen sind folgende Zwangsvorstellungen am baufigsten:

1. Zwangsvorstellungen eines ganz unwabrscbeinlicben Unfalls, der bald durcb die Situation, bald durcb eine Handlung des Kranken selbst herbeigefiibrt ist oder berbeigefiibrt werdeu konnte: so fiircbtet der Kranke z. B. einen Brand durcb ein weggeworfenes Streicbbolz (Pyro- pbobie) oder einen Unfall* **)) in einem abgescblossenen, Flucbt oder Zuriick- zieben nicbt gestattenden Kaume (Claustropbobie) oder eine Bescbmutzung bei Beriibrung irgend eines Gegenstandes (Mysopbobie, delire du toucher) oder eine Ansteckung, Verletzung oder Vergiftung in gleicbem Falle (Abtritte, spitze Gegenstande, Pbospborstreicbbolzcben u. s. w.).

2. Zwangsvorstellungen einer ganz widersinnigen Handlung: der Kranke wabnt, in sein Gebet einen Flucb einfiigen, seinen Angeborigen gemeine Scbimpfworte zurufen, sicb selbst oder einen Anderen umbringen, irgend eine compromittirende Handlung (z. B. in Gesellscbaft) begeben, alle Ladenscbilder auf den Strasseu auswendig lernen zu miissen u. dgl. m.*) oder er wabnt eine solcbe widersinnige Handlung bereits begangen zu baben.

3. Zwangsvorstellungen im Sinn einer zwangsmassigen widersinnigen symboliscben Umdeutung einer normalen Handlung: der Kranke wabnt, wenn er seine Kleider aufbiiugt, so bange er seinen Vater auf, oder wenn er einen Knoten scbiirzt, er ziebe eine Scblinge um den Hals eines Angeborigen zu, oder wenn er sein Fleiscb scbneidet, er scbneide in den Korper eines Verwandten u. s. f.

Fast an jede Situation kann sich eine Zwangsvorstellung kniipfen: der Kranke denkt sicb, die Situation kbnne entweder an sicb oder durcb

*) Der gefiirclitete Unfall kann plotzlicher Stuhlgang mit Kothverunreinigung (z. B. im Schulzimmer, in der Gemeinderathssitzung) oder plotzliches Feuer (z. B. im Theater) u. s. w. sein.

**) Die Zwangsvorstellungen unter 1 und 2 gehen zuweilen in einander ilber: der Kranke furchtet, durch eine ganz widersinnige Handlung ein Ungluck angerichtet zu haben oder anzurichten, so z. B. glaubt er bei dem Voriiberstreifen an Passanten auf der Strasse demand lebensgefahrlich verletzt zu haben.

Geistesstorung durch Zwangsvorstellungen.

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sein Verschulden (eine bestimmte Unterlassung oder eine bestimmte Thatigkeit) zu schwereu Folgen fiihren oder schon gefiibrt haben. Es ist jedoch fiir die uns beschaftigende Krankbeit sebr charakteristisch, dass der Kranke in der Kegel sich auf eine oder einige wenige Zwangs- vorstellungen bescbrankt. Nur an einige ganze bestimmte Empfindungen kniipfen die pathologiscben Associationen an. So bleibt z. B. nicht selten die Mysophobie oder Beriibrungsfurcht jabrelang, mitunter zeit- lebens die einzige Zwangsvorstellung , welcbe neben sich keine anderen Zwangsvorstellungen aufkommen lasst.

Nicht stets ist der Inhalt der Zwangsvorstellungen bei der in Rede stehenden Krankbeit ein unangenehmer, nicht selten ist er auch trivial, und der Kranke fiihlt nur das stete Aufdrangen der Zwangsvorstellungen eben wegen ihrer Trivialitat unangenehm. So konnen dem Kranken ganz sinnlose Satze sich fortwahrend aufdrangen, welcbe an sich des Ge- fiihlstons vollig entbehren. Hierher gehbrt auch die in der speciellen Pathologie erwahnte Griibelsucht (S. 126).

Formale Storungen des Vorstellens. Primare derartige Vorstellungen fehlen vollstandig, dagegen kommt es mitunter zu einer 1 secundaren Hemmung und Incoharenz des Vorstellungsablaufs. Erstere ist auf die Angst, welcbe die Zwangsvorstellungen begleitet, letztere auf j das storende, fort und fort sich wiederholende Zwischentreten der Zwangs- : vorstellungen selbst zuriickzufiihren.

I Storungen desEinpfindens fehlen in den uncomplicirten Fallen

i zunachst voUstandig; erst in den spateren Stadien des Krankheitsverlaufs ' kommt es zuweilen zu Illusionen und Hallucination en im Sinn der Zwangs-

i vorstellungen. So sieht der Kranke, welcher jabrelang von der Zwangs-

j vorstellung beherrscht war, er babe einen Voriibergehenden von der Briicke,

I welcbe er taglich passirt, herabgestossen, schliesslich, wenn er iiber die I Briicke geht, einen unbestimmten Schein, als fiele eben eine Gestalt in den Fluss". Aeusserst selten erlangen diese Sinnestauschungen eine er- j heblichere sinnliche Lebhaftigkeit (s. auch S. 123).

I Affectstorungen. Bei der typischen Form der Krankbeit j kommen primare Affectstorungen nicht vor. Die Zwangsvorstellung

fiihrt erst secundar in der S. 122 beschriebenen Weise zu Angstaffecten. Diese Angstaffecte erst verleihen der Zwangsvorstellung ihren enormen j Einfluss auf das Handeln des Kranken. Nur wenn der Kranke seiner Zwangsvorstellung nachgiebt, lasst die Angst momentan nach. In Stunden bezw. in Situationen, welcbe von Zwangsvorstellungen verschont bleiben, ist der Kranke in normaler Stimmung, weder krankhaft traurig noch i krankhaft reizbar.

I

! DieHandlungen entsprechen durchaus dem Inhalt der Zwangs-

II vorstellungen sowie der die Zwangsvorstellungen begleitenden Angst.

390

Geistesstorung dnrch Zwangsvorstellungen.

Sie tragen den Charakter der sogenannten Zwangshandlungen (vgl. S. 122, 125, 164). Meist erlahmt der Widerstand der Kranken gegeniiber ihren Zwangshandlungen schon sehr bald. Entweder geht er dem Kampf ganz aus dem Wege, indem er keine geschlossenen Raume mehr besucht, alle spitzen Gegenstande aus seinein Hause verbannt, kein Kleid mehr in seinem Schrank aufhangt, von anderen das Essen sich vorschneiden lasst u. s. w., Oder er unterliegt im Kampf; kaum hat er sein Kleid an den Nagel gehangt, so zwingt ihn die Zwangsvorstellung und die Angst, welche sie begleitet, das Kleid wieder herunterzunehmen. Oft wird der Kranke vollstandig unfahig, seinen Beruf weitef auszufiillen , weil die Zwangsvorstellungen seine ganze Thatigkeit absorbiren. Weil er glaubt, in seinem Brief einen Scbreibfehler oder einen falschen Ausdruck gebraucht zu haben, bffnet er das Convert immer wieder, um sich zu iiberzeugen, dass Alles richtig geschrieben ist. Aber kein Augenschein hilft ; oft genug reclamirt der Kranke den Brief, den er schliesslich doch noch in den Kasten geworfen hat, nachtraglich auf der Post: die Zwangs- vorstellung, er kbnne sich versehen haben, ist machtiger als sein ge- sundes Urtheil und die normale Sinnesempfindung.

Korperliche Symptome stellen sich in den uucomplicirten Fallen erst mit dem Angstaffect ein. Dieser zeigt fast stets eine Reihe korperlicher Begleiterscheinungen, so namentlich allgemeines Zittern, arte- riellen Gefasskrampf, Cardiopalmus, zuweilen auch Gesichtsfeldeinengung, Schwindel und Uebelkeit.

Verlauf. Die erste Zwangsvorstellung tritt meist ganz plbtzlich auf und zwar gewohnlich bei einer ganz bestimmten Constellation der ausseren Umstiinde, der Empfindungen und Vorstelluugen. Sehr haufig kniipft die erste Zwangsvorstellung an irgend eine bedeutsamere Situa- tion Oder ein bedeutsameres Erlebniss an. Der Kranke soil z. B. zum ersten Male als Prediger die Kanzel betreten oder eine grossere Ge- sellschaft besuchen u. dgl. m. Fast stets liisst sich nachweisen, dass in dem Augenblick, wo der Kranke zum ersten Mai einer Zwangsvorstellung anheimfiel, seine Widerstandskraft durch irgend ein Moment (Nachtwache, Ueberarbeitung, Affectspannung, Ueberraschung) geschwiicht war. Hat die Zwangsvorstellung erst ein Mai von ihrem Opfer Besitz ergrilfen, so bedarf es kiinftig solcher pradisijonirenden Momente nicht mehr: sobald sich dieselbe Situation wiederholt, tritt alsbald die Zwangsvor- stellung wieder auf. Mit jedem Auftreteu nistet sie sich fester ein. Schliesslich bedarf es auch keiner bestimmten Situation mehr. Der Kranke furchtet ein brennendes Streichholz ‘haben fallen zu lassen, ohne dass er ein Streichholz gesehen hat, geschweige denn ein Streichholz angesteckt hat.

Der weitere Verlauf der Krankheit ist meist remittirend. Auch spontane Intermissionen kommeu gelegentlich vor.

Geistesstoning (lurch Zwangsvorstellungen.

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Aiisgiinge unci Prognose. Heilungen sind in den uncompli- cirten Fallen selten. Man kann sie niir in solchen Fallen erwarten, wo die Zwangsvorstellungen auf dem Boden einer ganz acut einwirkenden rasch voriibergelienden Schadlichkeit sicli entwickelt haben (z. B. nacli scbweren Blntverlnsten oder in der Graviditat). In alien anderen Fallen bleiben die Zwangsvorstellungen bis zum Lebensende bestehen. Fast niemals gehen die Zwangsvorstellungen in Wahnvorstellungen iiber. Das IG-ankbeitsbewusstsein bleibt auch nacli Jahrzehnten nocli vollig erhalten. Auch. ein Uebergang in secundare Demenz kommt nickt vor. Ein solclier wil'd zuweilen allerdings dadurch vorgetauscht , dass die Kranken nach jahrelangem Verlauf schliesslicli des Kampfes miide werden ibid meclianiscli den gauzen Tag ihren Zwangsvorstellungen und Zwangsliandlungen nacli- bangen. Darliber gehen sckliesslicli alle anderen Interessen und Affecte des Kranken unter. Viele verlassen ibr Zimmer kaum, scbeu zieben sie sicb von alien Menscben zuriick und vernacblassigen ihren Beruf und ihre bauslicben Pflicbten vollstandig. Eine aufmerksame Untersucbuug lebrt jedocb sofort, dass diese Apatbie mit keinerlei Intelligenzdefect verknlipft ist.

Varietaten. Die uncomplicirte „Geistesstorung durcb Zwaugs- vorstellungen" ist nicbt gerade baufig. Haufiger ist sie mit Neurastbenie oder Hysterie complicu’t. Speciell ist die Complication mit Neurastbenie so gewobnlicb, dass man zuweilen die Geistesstoning durcb Zwangsvor- stellungen vollig gestricben und alle bierber gezablten Falle zur Neur- astbenie gerecbnet bat. Damit ist man nun allerdings zu weit gegangen, da es nicbt wenige Falle giebt, wo alle neurastbeniscben Symptome fehlen, aber die Tbatsacbe, dass im Verlauf der Neurastbenie iingemein baufig typiscbe Zwangsvorstellungen auftreten, ist unzweifelbaft ricbtig. Es ist dies offenbar so aufzufassen, dass die Zwangsvorstellungen selbst nur ein Symptom darstellen. Dieses Symptom kommt bei den ver- scbiedensten Psycbosen vor, so z. B. aucb bei Melancbolie, im Anfangs- stadium der Dementia paralytica, bei Hysterie u. s. f. und namentlicb bei Neurastbenie. Dasselbe Symptom tritt aber aucb isolirt auf d. b. als einziges Hauptsymptom einer bestimmten Krankbeit, namlicb der im Obigen beschriebenen Geistesstoning aus Zwangsvorstellungen

Aetiologie. Erblicbe Belastung ist sowobl bei der typiscben wie bei der mit Neurastbenie complicirten Form ausserst baufig (ca. 80 %). Oft liegt scbwere erblicbe Degeneration vor. Der Ausbrucb fiillt am baufigsten in die Zeit der Pubertat. Gelegentlicb zeigen sicb die ersten Zwangsvorstellungen scbon in der Kindbeit. Ab und zu fallt der Krank- beitsbeginn mit dem Klimakterium zusammen. Masturbation, Abusus Nicotianae, Alkobolexcesse , intellect uelle Ueberanstrengung, korperlicbe Strapazen, gebaufte Affecterregungen kommen oft zu der erblicben Ver-

392

Geistesstorung durch Zwangsvorstellungen.

anlagung hinzu. Die Gelegenlieitsveranlassungen zum Auftreten cler ersten Zwangsvorstellung warden oben bcreits erwahnt, desgleichen wurde der wichtigen Rolle der Neurasthenie bei der Genese von Zwangsvor- stellungen gedacht.

Diagnose. Entscbeidend fiir die Diagnose ist zunachst stets der Nachweis, dass der Kranke von der Krankbaftigkeit seiner Vorstellungen durcbaus iiberzeugt ist und ihr Auftreten als einen qualvollen Zwang fiiblt. Impulsive Handlungen, d. h. plbtzliche, dem Spiel der Motive scbeinbar gar nicbt entsprecbende Handlungen kornmen aucb auf Grand von Hallucinationen vor, ferner auf Grand plotzlicher' Stimmungsschwan- kungen bei der Hysterie und auf Grand plotzlicher Einfalle bei der Paranoia der Erblicb-Belasteten und konnen bei ausserlicher Beobach- tung Zwangsvorstellungen bezw. Zwangshandlungen vortauschen. Ge- nauere Untersuchung ergiebt obne Scbwierigkeit, worum es sich bandelt. Die Zwangsbandlung, welcbe auf einer Zwangsvorstellung berubt, tritt ein, obwohl der Kranke aucb im Augenblick des Handelns nicbt im geringsten an der Krankbaftigkeit, Widersinnigkeit und Unfreiwilligkeit seiner Handlung zweifelt. Die impulsive Handlung des Hallucinanten, Hysterikers u. s. f, erfolgt bingegen in einem Augenblick, wo eine plotz- licbe Sinnestauscbung oder eine plotzlicbe Wabnvorstellung vom Kran- ken als Wirklicbkeit angenommen wird. Ein sacbgemasses Befragen des Kranken selbst fiibrt bier stets zum Ziel.

Sobald einmal feststebt, dass wirklicb Zwangsvorstellungen vorliegen, sO erbebt sicb die weitere Frage, ob es sicb um die fiir unsere Krank- beit typiscben Zwangsvorstellungen bandelt, welcbe, wie oben bervor- geboben, obne wesentlicbe Mitwirkung von Angstaffecten entsteben. Man bat somit den Kranken direct zu befragen : Ueberfallt Sie erst die Angst und kornmen Ibnen dann die Zwangsgedanken ? Oder kornmen Ibnen letztere zuerst und stellt sicb mit und nacb ibnen erst die Angst ein? Meist beantworten die Kranken diese Frage ganz pracis. Man muss nur die Frage ausdriicklicb auf die erste Zeit der Krankbeit be- schranken. Spater verscbiebt sicb niimlicb der psycbologiscbe Zusammen- bang oft. Namentlicb kommt spater zu der durcb die Zwangsvorstellung direct bervorgerufenen Angst nocb „die Angst vor der Zwangsvorstellungs- angst^^, wie eine Kranke es in sebr bezeicbnender Weise nannte. Der Kranke gerath spaterbin scbon in Angst, wenu er nur ein Kleid liegen siebt; er furcbtet die Zwangsvorstellung mit ibren Angstqualen. Enter diesen Umstanden kann es dann scbeinen, als gebe die Angst der Zwangs- vorstellung voraus. Diese Angst ist jedocb eine nacbtraglicb einge- scbobene. Im Krankbeitsbeginn bestand nur die der Zwangsvorstellung nacbfolgende Angst. Daber ist bei der Befragung des Kranken stets auf die erste Zeit der Krankbeit Bezug zu nebmen.

Geistesstoriing (lurch Zwangsvorstellungen.

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Aiich mit der Feststellung typischer d. h.primarer Zwaugsvorstellungen ist die diagnostisclie Arbeit nocb niclit vollstiindig getban. Man wird vor Allem nocb eruiren miissen, ob Symptome der Neurastbenie oder der De- mentia paralytica besteben. Finden sicb Symptome der letzteren, so sind die Zwangsvorstellungen nur ein Vorlaufersymptom der Dementia para- lytica. Viel baufiger werden sicb psycbiscbe und somatiscbe Symptome der Neurastbenie (event, aucb der Hysterie) finden. Dann bandelt es sicb um eine Neurastbenie complicirt mit Zwangsvorstellungen. Endlicb wird in einer gewissen Zabl von Fallen ausser den typiscben Zwangsvor- stellungen und einigen Degenerationszeicben ein erbeblicberes kbrper- licbes Oder seeliscbes Krankbeitssymptom iiberbaupt nicbt vorbanden sein: in diesen Fallen liegt die uncomplicirte „Geistesstorung durcb Zwangsvorstellungen'^ vor.

Tberapie. Bei den typiscben Zwangsvorstellungen ist Gemein- gefabrlicbkeit fast niemals, Selbstmordverdacbtigkeit selten vorbanden. Trotzdem ist die Bebandlung in der Familie nicbt anzuratben, weil nur dann, wenn der Arzt in der Lage ist, das ganze Leben des Kranken selbst zu iiberwacben und eventuell in jeder Stunde persbnlicb einzu- greifen, irgendwelcber Erfolg zu erwarten ist. Es empfieblt sicb daber, den Kranken entweder einer Nervenheilanstalt oder der otfenen Ab- tbeilung einer Irrenanstalt zuzuweisen. In der Anstalt ist, abgeseben von der Erfiillung atiologiscber Indicationen (Entziebnng des Nicotins, des Alkobols, Hebung der Ernabrung, Abbartnng des Nervensystems durcb kalte Wascbungen u. s. w.) und abgeseben von der Bebandlung complicirender neurastbeniscber Symptome, vor Allem die Lebensweise durcb einen geeigneten Stundenplan genau zu regeln. Wenn es irgend tbunlicb ist, vermeidet man zunacbst jede Bescbaftigung und jede Situa- tion, an welcbe die Zwangsvorstellungen des Kranken anzuknlipfen pflegen. Erst wenn einige Wochen und in scbwereren Fallen einige Monate auf diesem Wege das Auftreten der Zwangsvorstellungen vermieden oder y^enigstens eingescbrankt worden ist und damit die associative Verkniipfung der Empfindung mit der zugebbrigen Zwangsvorstellung sicb etwas ge- lockert bat, beginnt man mit metbodiscben Uebungen. Man lasst den Kranken mit den leicbtesten Versucben beginnen. Man begniigt sicb z. B. damit, dass die Kranke ein Kleid aufbangt und 30 Secimden bangen lasst, oder man fangt damit an, dass man selbst unter ibren Augen ein Kleid aufbangt oder ibre Hand bei dem Aufbangen fiibrt. Den Kranken mit Feuerfurcbt wird man in analoger Weise zunacbst ein Streicbbblzcben erfassen und erst in spateren Tagen anstecken lassen; das angeziindete Streicbbblzcben wird man zunacbst dem Kranken aus der Hand nehmen und ibm erljlaren: die Verantwortung sei von ibm abgenommen, man iibernebme sie selbst und werde das Streicbbblzcben

394 Geistesstorung durch Zwangsvorstellungen.

selbst beseitigen. Erst spater muss cler Kranke das Streichbolz selbst auslbsclien und wiederum spater es selbst wegwerfen lernen. So ge- wohnt man den Kranken allmablicli an den Kampf mit seinen Zwangs- vorstellungen. Bei den ersten Versucben muss der Arzt stets selbst zu- pgen sein, und nur langsam gewohne man den Kranken allein seine Zwangsvorstellung zu unterdriicken. Selbstverstandlich muss der Kranke das vollste Vertrauen zum Arzt haben; die autoritative Versicherung des letzteren: ,jich iibernebme die Verantwortung fiir alle Folgen" er- leichtert dem Kranken den Kampf oft ungemein. Leider bleiben bei der praktischen Durchfiihrung dieser Metbode zablreicbe -Ruckfalle nicbt aus. Es gilt dann immer wieder mit unermiidlicber Geduld den Weg von vorn zu beginnen. In vielen Fallen trotzt freilicb die Krankbeit alien Be- miibungen, in mancben aber erzielt man nacb balbjabriger oder ganz- jabriger Bebandlung scbliesslicb docb eine erbeblicbe Remission oder gar eine Intermission.

Besonders grosse Scbwierigkeiten bietet meist die psycbiscbe Be- bandlung der B e r ii b r u n g s furcbt. Bei dieser speciellen Form empfieblt es sicb zunacbst mit Bettrube zu beginnen und dem Kranken die krank- baft gebiluften Wascbungen vollig zu verbieten; statt dessen lasst man ibn zunacbst durcb einen Pfleger regelmassig und zwar zunacbst ziemlicb baufig (z. B. stiindlicb) wascben. Ganz allmablicb scbi’ankt man diese Wascbungen ein und ganz allmablicb libertriigt man eine Wascbung nacb der anderen dem Kranken selbst. Dabei ist die Zeit und die Dauer jeder einzelnen Wascbung auf die Minute genau vor- zuscbreiben. Spater lasst man vorsicbtig den Kranken aufsteben, bringt ibn mit immer mebr Gegenstanden zunacbst in seinem Zimmer und scbliesslicb aucb ausserbalb desselben in Beriibrung.

Starkere Angstanfalle sind mit kalten Abwascbungen oder bydro- patbiscben Einpackungen und namentlicb mit Bettrube zu bekampfen. Opium und aucb Alkobol wirken zwar sebr prompt, ibre Anwendung fiibrt jedocb leicbt zu cbroniscbem Abusus. Man greife daber nbtbigen- falls lieber zu den Bromsalzen.

Zerstreuung, namentlicb Geselligkeit, wirkt in vielen Fallen giinstig. Aucb die Versetzung in eine ganz andere Umgebung und Tbiitigkeit bat oft einen iiberrascbend giinstigen und plotzlicben, leider aber meist nur voriibergebenden Erfolg.

Patbologiscbe Anatomie. Sectionsbefunde liegen nicbt vor, die Krankbeit ist somit als functionell zu bezeicbneu.

Zusammengesctzte Psychosen.

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B. Zusammeugesetzte Psychoseu.

Die zusammengesetzten Psychosen ohne Intelligenz defect sind er- heblich seltener als die einfachen. Ihre Abgrenzung ist im Einzelnen noch sehr wenig sicher. Es sollen daher niir einige wichtigere Formen ganz kurz besprochen bezw. genannt werden.

a. Die secundare hallucinate rische Paranoia.

Diese Psychose ist dadurch charakterisirt , dass auf ein melan- cholisches oder maniakalisches Stadium ein hallucinatorisch-wahnhaftes Stadium folgt. Das melancholische bezw. maniakalische erste Stadium entspricht in alien wesentlichen Punkten der typischen Melancholie bezw. Manie, das zweite paranoische Stadium verlauft meist unter dem Bild einer typischen hallucinatorischen Paranoia. Haufiger ist der melan- cholisch-paranoische Verlauf. Den Uebergang aus dem melancholischen in das paranoische Stadium vermitteln ofters hypochondrische Wahnvor- stellungen. Im paranoischen Stadium kommen Verfolgungsvorstellungen und Grossenvorstellungen und die entsprechenden Hallucinationen gleich- massig vor, einerlei ob das erste Stadium melancholischen oder mania- kalischen Charakters war. Die Dauer des ersten Stadiums belauft sich auf 2—6, diejenige des zweiten auf mindestens ebensoviele Monate. Heilung tritt hochstens in der Halfte aller Falle ein, in der anderen Halfte entwickelt sich allmahlich secundare Demenz. Die Therapie ge- staltet sich im paranoischen Stadium ganz wie diejenige einer acuten hallucinatorischen Paranoia.

b. Die postmanische und postmelancholische Stupiditat.

Zuweilen kommt es nach einer typischen Manie oder Melancholie zu einer typischen Stupiditat. Man muss sich hiiten, letztere mit einer secundaren Paranoia in stuporoser Form zu verwechseln. Auch bei diesem Verlauf ist die Gefahr eines Ausgangs in secundare Demenz gross. Fiir die Behandlung kommen specielle Indicationen nicht in Betracht.

c. Die postneurasthenische hypochondrische Melancholie und einfache hypochondrische Paranoia.

Bei Besprechung des neurasthenischen Irreseins wurde dieses Ver- laufes bereits gedacht. Es wurde hervorgehoben, dass die hypochon- drische Neurasthenie entweder durch Auftreten primarer Angstaffecte und primarer Depression in hypochondrische Melancholie oder durch wahnhafte Weiterbildung der hypochondrischen Vorstellungen in ein- fache hypochondrische Paranoia , iibergehen konne. Der ersteren Even- tualitat kann man oft mit giinstigem Erfolg durch eine energische Opium-

396

Zusammengesetzte Psychosen.

therapie vorbeugen, cler letzteren Eventualitat steben wir macbtlos gegen- iiber; doch wird man durch einen vblligen WechsM der Lebensbedingungen und energiscbe Beschaftigung die Entwickelung einer einfachen Paranoia aufzuhalten versucben.

d. Die postmelancholiscbe hyp ochondrische einfache

Paranoi a.

Die Melancholie mit secundaren hypochondrischen Wahnvorstellungen nimmt zuweilen folgenden bereits bei Besprechung der Melancholie kurz erwahnten Verlauf: die Depression und die Angsfaffecte verschwinden, die hypochondrischen Wahnvorstellungen machen sich von den Affect- stbrungen, aus welchen sie hervorgegangen sind, unabhangig und im Anschluss an sie treten Wahnvorstellungen der Verfolgung u. s. w, auf. Von der unter a. erwahnten Form der Secundarparanoia unterscheiden sich diese Formen durch die Abwesenheit aller Hallucinationen. Die Therapie ist gegeniiber dieser Weiterentwicklung fast vollig machtlos. Fine sehr energische Opiumbehandlung mit gleichzeitiger inten- sive r Beschaftigung wirkt zuweilen giinstig.

e. Das melanch olisch-maniakalische Irresein (Folie a double forme).

Es wurde schon friiher erwahnt, dass das hypertbymische Reactions- stadium nach einer in Genesung iibergehenden Melancholie zuweilen bis zu der Hbhe einer zweiten Psychose, einer Manie, sich entwickeln kann. Ebenso kommt es vor, dass das depressive Reactionsstadium nach einer in Genesung iibergehenden Manie zuweilen bis zu einer secundaren Melancholie sich steigert. In beiden Fallen spricht man von einer Folie a double forme oder einem melancholisch - maniakalischen bezw. mania- kalisch-melancholischen Irresein. In seltenen Fallen ist die Psychose mit einem derartigen Verlauf in 2 Stadien erledigt und von definitive!*, dauernder Heilung gefolgt. Me ist ist der Verlauf circular, d. h. nach einem klirzeren oder langeren Intervall wiederholt sich der Anfall mit seinen 2 Stadien, und in der Regel setzen sich diese Anfalle bis zum Lebensende des Kranken fort. Von den verschiedenen circularen Irre- seinsformen (s. allgem. Psychopathologie S. 197) ist diese melancholisch- maniakalische bezw. maniakalisch-melancholische Form weitaus die hau- figste. Wenn man daher schlechtweg von circularem Irresein spricht, so meint man in der Regel eine dieser beiden Formen.

Das gewbhnliche circulare Irresein zeigt also folgenden schema- tischen Verlauf: Melancholie, Manie, Intervall, Melancholie, Manie, Inter- vall, Melancholie, Manie, Intervall u. s. w. oder nicht ganz so baufig den schematischen Verlauf: Manie, Melancholie, Intervall, Manie, Melan-

t

f

Zusammengesetzte Psychosen.

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cliolie, Intervall u. s.w. Die maniakalisclie Phase entspriclit durchaus einer typischen Manie, die melancholische einer typischen Melancholie. Die Dauer einer Phase schwankt zwischen einigen Tagen und einigen Jahren. Meist betragt sie 3 6 Monate. Meist dauert die melancholische Phase etwas liinger als die maniakalische. Das Intervall ist in der Hegel kiirzer als eine der Krankheitspliasen. Ab und zu fehlt es ganz. Audi in einem und demselben Fall kann die Dauer der einzelnen Phasen im Yerlauf des Leidens sich allmahlicb verlangern oder verkiirzen. Die erste Krank- heitsphase setzt meist sehr briisk ein (namentlicb wenn sie maniakalischer Natur ist). Der Uebergang von der ersten Phase zur zweiten ist meist sehr jah; etwas langsamer klingt die zweite Phase in das Intervall ab. Die maniakalischen Phasen der verschiedenen Anfalle zeigen untereiu- ander oft eine fast photographische Aehnlichkeit und ebenso auch die melancholischen. Im spateren Verlauf der Krankheit findet man oft dass die beiden Phasen des Anfalls nicht mehr so scharf wie Anfangs geschieden sind. Ein episodisches Auftreten einer mehrstiindigen oder selbst mehrtagigen Depression innerhalb der maniakalischen Phase oder einer ebenso voriibergehenden Exaltation innerhalb der melancholischen Phase kommt auch bei den ersten Anfallen schon oft vor und giebt oft schon friih einen Fingerzeig, dass es sich nicht um eine einfache Manie oder Melancholie, sondern um die Theilphase eines circularen Irreseins handelt.

Die Prognose dieses circularen Irreseins ist sehr ungiinstig. Selbst die sorgfaltigste Behandlung in einer Anstalt vermag die Wiederkehr neuer Anfalle gewbhnlich nur hinauszuschieben, nicht aber zu verhindern. Erbliche Belastung fehlt selten, in liber 60 ®/u Falle liegt schwere

erbliche Belastung vor. Gelegentlich tritt die Krankheit auch im Ver- lauf des chronischen Alkoholismus auf. Der erste Ausbruch erfolgt meist in der Pubertat oder im Klimakterium.

Die Diagnose ist mit Sicherheit erst moglich, wenn bereits mehr als ein doppeltheiliger Anfall beobachtet worden ist bezw. anamnestisch bereits ein solcher sich feststellen lasst. Ist der zu beurtheilende An- fall der erste iiberhaupt vorgekommene, so wird man, solange nur eine Theilphase, eine melancholische oder eine maniakalische, eingetreten ist, eine sichere Diagnose kaum stellen konnen. Hbchstens konnte das oben erwahnte Auftreten von Anfallen entgegengesetzter Stimmung den Ver- dacht auf circulares Irresein erwecken. Aber auch wenn man auf die erste Phase eine entgegengesetzte folgen sieht, wenn also ein Zirkel bereits fast vollstandig vorliegt, muss man mit der Diagnose eines circularen Irre- seins sehr vorsichtig sein. Es bleibt immer die Moglichkeit olfen, dass die zweite Phase lediglich ein Beactionsstadium darstellt, wie es auch nach der einfachen Melancholie rund nach der einfachen Manie so sehr oft vorkommt. Je ausgesprochener und selbststancliger die zweite Phase

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Zusammengesetzte Psychosen.

auftritt, um so dringender wird der Verdaclit, dass circulares Irresein vorliegen kdnnte.

Tlierapie. Austaltsbehandlung ist fast stets nothwendig, in der melancliolisclien Phase wegen der Selbstmordversuche , in der maniaka- lischen wegen der Neigung zii Excessen, der Streitsucht und der moto- rischen oft bis zu ausgesprochener Tobsucht sich steigernden Erregung. In den ersten Intervallen beliisst man die Kranken am besten in der Anstalt, um einen Versiicli zu machen durch rechtzeitiges Eingreifen den nachsten Anfall zu coupiren und so die Krankheit zur Heilung zu bringen. Spater wird man, wenn eine Heilung ausgeschlossen scheint, die Kranken im Intervall aus der Anstalt entlassen und nur Sorge tragen, dass auf die ersten Zeichen eines neuen Anfalls genau geachtet und am besten der Kranke sofort wieder eingeliefert wird.

In den beiden Phasen ist die Behandlung ganz so durclizufiihren, als handle es sich um eine gewohnliche Melancholie bezw. Manie. Die Coupirung der maniakalischen Phase kann durch Bettruhe und Hyoscin versucht werden. Von letzterem sind grosse Dosen, mindestens 0,0009 g zu geben, sob aid die ersten maniakalischen Symptome sich zeigen. Die Bettruhe ist schon einige Wochen vor dem muthmaasslichen Datum des Ausbruches der Manie durchzufiihren, Zur Coupirung der melan- cholischen Phase empfiehlt sich ausser Bettruhe die prophylaktische Ver- abreichung von Opium. Man beginnt mit dieser langsam schon einige Wochen, bevor die Wiederkehr der melancholischen Phase zu gewartigen ist. Eventuell ist auch eiu plotzlicher Coujjii'ungsversuch angebracht, sobald die allerersten melancholischen Symptome sich zeigen, man muss dann sofort sehr hohe Dosen (mindestens 0,12 Op. per os) geben. In vereinzelten Fallen gelingt auch eine Coupirung des Anfalles durch sub- cutane Injectionen von Chinium bisulfur.

f. K a t a 1 0 n i e.

Als Katatouie oder Spannungsirresein hat Kahlbaum eine eigen- artige Psychose beschrieben, welche 3 Stadien durchlauft, ein melan- cholisches, ein maniakalisches und ein stuporoses und dann in secundare Demenz iibergeht. Allen Stadien der Krankheit ist die Neigung zu kata- tonischen stereotypen Innervationen gemeinsam. Diese stereotypen kata- tonischen Innervationen bestehen in sonderbaren monotonen Handlungen, Haltungen und Einzelbewegungen. Die Krankheit ist selten. Wo kata- tonische stereotype Stellungen und Bewegungen auftreten, handelt es sich meist um Melancholia attonita oder Paranoia hallucinatoria oder irgend eine Form des Schwachsinns. Das Vorkommen einer eigenartigen Katatonie im Sinne Kahlbaums ist daher oft bestritten worden. Der Ausbruch erfolgt meist in der Pubertiit. Meist liegt schwere erbliche

li

"I’

Idiotie.

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Belastung vor. Der Verlauf cler 3 ersten Stadien erstreckt sicli iiber 1 2 Jahre. Dann beginut der Uebergang in secundare Demenz. Spureii der letzteren lassen sicb iibrigens zuweilen bis in das 1 . Stadium zuriick- verfolgen. Heiliingen sind sebr selten.

II. Defectpsjcliosen.

Cbarakteristiscb fiir die Defectpsychosen ist der Intelligenzdefect (= Gedacbtnissscbwacbe -)- Urtbeilsschwache), welcber vom Beginn der Krankheit an nacbweisbar ist.

A. Aiigeboveiie Defectpsycliosen.

Bei diesen ist der Intelligenzdefect angeboren und erfabrt im Lauf des Lebens keine wesentliclie Steigerung. Nacb dein Grade des Intelli- genzdefects unterscbeidet man folgende Formen des angeborenen Scbwach- sinns: 1. Idiotie, 2. Imbecillitat, 3. Debilitat.

a. Idiotie.

Die Idiotie stellt die scliwerste Form des angeborenen Scbwach- sinns dar.

Specielle Symptomatologie.

Empfindungen. Die Empfindiingen selbst sind bei dem Idioten, soweit nicbt Complicationen vorliegen (Retinitis, Sehnervenatropbie, H}'per- metropie u. s. w.), normal. Die Geringfiigigkeit der motoriscben Reac- tionen auf Sinneseindriicke berubt meist nicbt auf Hypastliesie, sondern auf Hypoprosexie, also auf einer Storung der Association und der Vor- stellungen, nicbt auf einer Empfindungsstorung.

Vorstellungen. Die Empfindungen des Idioten binterlassen keine Oder nur sebr wenige Erinnerungsbilder, welcbe langer als einige Minuten baften. So oft ibm Gegenstande und Personen begegnen und gezeigt wer- den, prilgt sicb ibm docb ibr Erinnerungsbild nicbt ein. Keine Aenderung des Gesicbtsausdruckes verratb, dass die eine Empfindung ibm scbon oft begegnet ist, die andere nocb niemals oder selten. Seine nacbsten Angebbrigen, seine Kleider, sein Bett erkennt er nicbt wieder. Er unter- scbeidet keine Farben, meist aucb keine Speisen: die Erinnerungsbilder welcbe zum Unterscbeiden von Empfindungen unerlasslicb sind, feblen ibm. Nur bei etwas bober stebenden Idioten findet man zuweilen einzelne concrete Erinnerungsbilder und zwar meist optiscbe : ein Lacbeln verratb dass sie das Licbt, die Suppe, das Kleid, das man ibnen zeigt, kennen!

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Idiotie.

Spracliliche Begrifie, sowohl akustische wie motorisclie, gehen dem j Iclioten vollig ab. Hdchstens lernt er abnlich wie das dressirte Thier aiif gewisse Zurufe bestimmte Bewegungen machen. Etwas hoher | stebende Idioten verfiigen entsprecbend ihrem Besitzstand an Vor- stellungen iiber einige wenige Spreclibewegungen. :

Ideenassociation. Die Storung des Wiederkennens wurde be- reits bervorgeboben : die Idioten erkennen fast nichts wieder, da Er- innerungsbilder ibnen feblen, Hocbgradig ist meist aucb die Aufmerk- samkeit gestort: es giebt viele Idioten, welcbe bei dem lautesten Larm binter ibrem Riicken sicb nicbt umdreben, obwobl sie nacbweislicb nicbt taiib sind. Zu associativen Verkniipfungen und somit zu einem Ablauf der Vorstellungen kommt es bei dem Idioten nicbt. Eine Ideenassocia- tion feblt ibm vollstiindig.

Affecte. Die sensoriellen Gefiiblstone sind baufig ganz aufgeboben.

So bestebt bei den meisten Idioten eine volljge Analgesie. Nur Sattigung und Hunger sind ofter von Gefublstonen begleitet. Aucb scbeint das Seben glanzender Gegenstande zuweilen von einem positiven Gefiiblston begleitet zu sein. Sexuelle Wollustgefiible sind sebr baufig vorbanden. Auf welcbe Empfindungen die gelegentlicben scbeinbar spontanen Wutbaus- ^ briicbe mancber Idioten zuruckzufiibren sind, lasst sicb nicbt feststellen. Intellectuelle Gefiiblstone feblen vollig. Entsprecbend der Armutb an Affecten feblen bei scbwerer Idiotie aucb die Ausdrucksbewegungen des Lacbens und des Weinens.

Han dl ungen im engeren Sinne kommen bei den Idioten sebr selten vor. Nur die Essbewegungen kfinnten zu denselbeu gerecbnet werden. Bei boberstebenden Idioten kommt aucb das Fixiren glanzender 4i Gegenstande vor. Andere stecken alles Greifbare in den Mund. Nur ''*■ wenige Idioten lernen gehen und steben. Desgleicben sind sie fast nie- mals an Pteinlicbkeit zu gewobnen. Maucbe idiotiscbe Kinder lernen nicbt einmal an der Mutterbrust zu saugen. Um so starker sind bei dem Idioten die automatiscben Acte entwickelt: viele wackelu Tag aus Tag ein mit dem Kopf oder wiegen den Rumpf in dieser oder in jener Richtung. Aucb eine triebartige, d. b. von irgendwelcben Vor- stellungen nicbt begleitete Masturbation tritt zuweilen scbon im 4. Lebens- jabre und selbst nocb friiher auf. Bei etwas holier stebenden Idioten kommt es spater zu bewusster Onanie und zu sexuellen Attentaten auf die Umgebung.

Korperlicbe Symptome. Unter diesen steben die sog. De- generationszeicben obenan; es erklart sicb dies daraus, dass die Idiotie sicb fast stets auf dem Boden scbwerer erblicber Degeneration entwickelt.

In anderen Fallen, fiir welcbe Rachitis oder hereditare Syphilis die Haupt- rolle spielen, wird man die Symptome dieser constitutionelleu Leiden

idiotie.

401

fiuden. In einer dritteu Reihe von Fallen scliliesst sicli die Idiotie an eine circumscripte infantile Heerderkrankung oder Entwickliingshemmung des Gebirns an: dann findet man die typisclien Symptome, wie sie der Localisation der Heerderkrankung entsprechen (z. B. eine Hemiplegie mit Atrophie und Contractur iind obne Entartungsreaction u. s. w.) Haufiger sind die neuropatbologisclien Symptome entsprecbend einer gleichmassigeren Allgemeinerkrankimg des Gebirns dilfuser. Allentbalben finden sicb Ausfallserscbeinungen : die grobe motoriscbe Kraft ist berabgesetzt, die passive Beweglicbkeit durcb Contracturen eingescbrankt , die Coordination der activen Bewegungen bald durcb ecbte Ataxie, bald durcb cboreatiscbe Zwiscbenbewegungen , bald durcb allerband Mitbewegungen gestort. Ungemein baufig ist Complication mit genuine!’ Epilepsie oder mit Jackson’scber Epilepsie. Complicirtere Bewegungscoordinationen erlernt der Idiot fast niemals. Dementsprecbend ist aucb die Spracbe, soweit solcbe iiberbaupt bei dem dlirftigen Vor- stellungsleben sicb entwickelt bat, gestort. Selten bestebt eine motoriscbe Apbasie, baufiger eine Anartbrie, bald das sog. Stammeln. Stottern und Silbenstolpern kommt fast niemals vor. Labmungen einzelner oder mebrerer Augenmuskeln mit oder obne Nystagmus sind sebr baufig. Endlicb bestebt oft eine Labmung der Spbincteren. Pupillenstarre und Aufbebung der Knie- resp. Acbillessebnenpbanomene sind nur in solcben Fallen baufiger, wo bereditare Syphilis im Spiele ist. Allgemeine sensible Storungen sind nicbt so baufig wie motoriscbe Stbrungen. Ibr Umfang ist iibrigens in Anbetracbt der Aprosexie scbwer festzustellen.

Tropbiscbe Storungen werden selten vermisst. Zu denselben sind jedenfalls aucb mancbe der sog. Degenerationszeicben zu recbnen. Speciell sei bier aucb nocb erwabnt, dass die Pubertat oft gar nicbt oder sebr verspatet eintritt. Besonders auffallig sind die tropbiscben Storungen bei einer endemiscben Form der Idiotie, dem sog. Creti- nism us. Bei diesem bestebt meist Zwergwucbs und Kypboskoliose. Die Kleinbeit des Bumpfes, dessen Wacbstbum mitunter scbon mit dem 5. Lebensjabr aufbort, stebt in auffalligem Contrast zu der Makro- cepbalie. In Folge von Lipomatose oder Myxoedem kommt es zu selt- samen Hautwulstungen, namentlicb an den Lippen und Augenlidern. Die Glandula tbyreoidea ist bald verkiimmert, bald erbeblicb vergrossert.

Verlauf, Ausgange, Prognose. Die Idiotie bleibt wabrend des ganzen Lebens stabil. Die Erziebung vermag nur sebr wenig Ein- fluss auf den Zustand zu gewinnen.

Aetiologie. In mancben Fallen liegt der Idiotie lediglicb scbwere erblicbe Belastung zu Grunde. In anderen lasst sicb der Einfluss der Bacbitis oder der Syphilis naebweisen. Erstere fiihrt wabrscheinlicb indirect zur Idiotie, indem sie Missbildungen des Scbiidels bedingt (s. u.).

Ziehen, Psychiatrie. 26

402

Idiotie.

Ij6tztci6 wiikt, iiidGiu sic cntwcdSr spccifiscdic IlccrderkrcUikungen des (jcliirus (s. u.) Oder diffuse die llirnentwicklung scliadigende Processe hervoiTuft. And ere atiologische Momeute sind; Kopftraumen wahreud

ersten Lebensjahren, schwere fieberhafte Krank- heiten in der frubesten Kindheit (Typbus u. s. w.), endlicb infantiler Alkoholismus. Sj)eciell letzterer ist in manchen Gegenden sehr ver- breitet: den Kindern wird zur Berubigung von den Eltern bezw. Ainnien Branntwein verabreicbt. Endlicb baben Heerderkrankungen des Gebirns, welcbe intrauterin oder in den ersten Lebensjabren auftreten, nicbt selten Idiotie zur Folge. Meist berubt die in der Idiotie sicb kundgebende all- gerueine Scbiidigung der ganzen Hirnrinde auf der bereits in der all- gemeinen Aetiologie erwabnten secundaren Sclerose, welcbe in der Um- gebung des Krankbeitsbeerdes beginnt und allmablicb sicb iiber den grossten Tbeil des Gebirns ausbreitet. Aucb die acute Encepbalitis der Kinder sowie Aleningitis in den Kinderjabren verinag, indem sie die Hirnrinde in Mitleidenscbaft ziebt, Idiotie zu erzeugen.

Eine ganz besondere Beziebung bestebt zwiscben den Verbildungen des Scbadels und der Idiotie. In vielen Fallen ist die Defiguration des Scbadels nur eine Folge der abnormen Bildung des Gebirns. Oefter nocb ist das Verbaltniss umgekebrt. Die abnorme Bildung des Scbadels fiibrt zu Wacbstbumsstor ungen des Gebirns. Viele dieser abnormen Scbadelbildungen sind durcb Rachitis bedingt. In anderen Fallen bandelt es sicb um entzundlicbe Ernabrungsstorungen an den Nahten. In Folge derselben koinnit es zu pramaturen Nahtverknocherungen. Betreffen diese Synostosen alle Schadelniilite gleicbmassig, so resultirt der einfacbe Kleinscbadel (Mikrocephalie). Haufiger ist nur ein Tbeil der Nabte be- troffen. Dadurcb entsteben die mannigfachsten Defigurationen und Asymmetrien des Scbadels. Sind vorwiegend die Nabte des Scbadel- grundes einer verfrlibten Synostose verfallen, so resultirt der sog. Cretinentypus*): die Nase erscbeint aufgeworfen, die Nasenwurzel tiefliegend und breit, die Augen steben daber weit von einander ab, ihre Hohlen sind breit, aber nicbt tief, die Kiefer und Jocbbeine er- scbeinen stark vorgescboben (Prognatbismus). An der Scbadelbasis er- kennt man diese Form sofort an der abnormen Steilbeit des Clivus. Die Convexitat des Scbadels kann dabei in normaler Weise sicb ent- wickeln oder compensatorische Ausweitungen erfabren (Spitzkopf u. s. w.) Oder endlicb wenigstens bis zu einem gewissen Grade an der verfrubten Verknocherung tbeilnebmen. In letzterem Falle tritt zu dem Cretinen- typus Mikrocephalie binzu. Betriftt die verfriibte Synostose aus-

*) Derselbe ist nicht stets mit Cretinismus vcrbundeii, auch komrut letzterer ohne ersteren vor.

tdiotie.

40ii

scliliesslicli oder vonviegend die Niilite der Convexitat, so kommt es zu dem sog. Aztekeutypus : Stirn und Nase liegen in einer Liuie, der Scliadel ist stets selir kleiu und zwar vor allem sehr niedrig, die Stirn steigt sehr wenig an, die ganze Physiognomie ist von Griesinger treffend init der eines Vogels verglichen worden.

Ausser diesen beiden Haupttypen giebt es nocb zahlreicbe andere; jeder einzelne Idiotenschadel bietet seine speciellen Eigentbiimlicbkeiten. Eine scbarfe Unterscheidung bestimmter scharf abgegrenzter Scbadel- anomalien ist durcbaus umnoglicb. Ebenso ist es unmoglicb, einer be- stimmten Scbadelanomalie eine bestimmte Varietiit der Idiotie zuziiordnen. Besonders ist endlich bervorzubeben, dass keine einzige Scbadelverbildung (abgeseben von sebr bocbgradiger Mikrocepbalie) zu Idiotie liihren muss. Gelegentbcb findet man aucb bei scbweren Scbiidelverbildungen relativ leicbte Grade des Scbwacbsinns oder sogar Vollsinn.

Diagnose s. Imbecillitat,

The rap ie. Wenn die Diagnose friib genug gestellt wird, istjeden- falls nocb ein Erziebungsversucb in einer Anstalt zu macbeu. Ist ein solcber wegen vorgeriickten Alters aussicbtslos oder gescbeitert, so ist der weitere Verbleib in der Idiotenanstalt nur notbwendig, wenn im Hause nicbt die erforderlicbe Pflege und Aufsicbt zu bescbaffen ist oder wenn scbwerere Erregungszustiinde besteben. Bei bereditarer Syphilis ist eine spezifiscbe Tberapie zuweilen erfolgreicb.

Patbologiscbe Anat omie. Fast stets ergiebt scbon die mikro- skopiscbe Untersucbung ausgesprocbene Veranderungen im Centralnerven- system. Die baufigsten Befunde sind :

1. Kleinbeit im Ganzen. Gelegentbcb findet man bei Idioten ein Hirngewicbt von weniger als 900 g (statt 1380 g beim Mann und 1270 g beim Weibe). Sebr viel seltener ist allgemeine Hypertrophie des Gebirns mit Erbobung des Hirngewicbtes.

2. Partielle Entwicklungsbemmungen, meist durcb partielle Scbadel- verengungen bedingt.

3. Abnormitaten des Aufbaus. Hierber geboren Abweicbungen des Furchenverlaufs, Feblen einzelner Hirntbeile (z. B. des Balkens), Hetero- topien der grauen Substanz.

4. Chroniscber Hydrocephalus internus und externus. Er verbindet sicb meist mit Makrocepbalie*) und scbeint meist primar zu sein.

5. Heerderkrankungen: meist Erweicbungsbeerde mit secundarer Skle- rose, zuweilen mit porencepbaliscbem Defect.

Nicbt selten finden sicb aucb im Kiickenmark abnlicbe patbologiscbe Processe.

*) Die Fontanellen schliessen sich auffallig spilt.

26*

404

Imbccillitiit.

1). Imbecillitilt.

Die Imbecillitiit stellt die mittelschwere Form des angeborenen Schwachsinns dar.

Specielle Symptomatologie.

Em pfiudungsstor ungen bestelien in der Regel nicht.

Vorstellungen. Der Imbecille verfiigt iiber eine grosse Zahl von concreten Eriunerungsbildern. Zalilreicbe Personen und Gegenstande untersclieidet er und oft erkennt er sie wieder, auch wenn der Sinnes- eindriick sich viele Wochen und Monate nicht wiederbolt hat. Die meisten Imbecillen wissen Geldstiicke richtig zu unterscheiden. Roth, Gelb, Weiss imd Schwarz werden meist imterschieden, Griin, Blau, Braun, Grau haufig nicht. Diesem Vorstellungsschatz entspricht ein grosserer Schatz von motorischen und acustischen Sprachvorstellungen, d. h. Sprechbewegungen und Wortklangbildern. Complicirtere Vorstellungen, namentlich abstracte Vorstellungen erwirbt der Imbecille nur in sehr beschranktem Maasse.

Das Zahlenverstandniss reicht kaum bis 10, wenn auch der Kranke mechanisch bis 100 zu zahlen vermag.

Ideenassociation. Das Wiedererkennen ist haufig fast normal. Erheblich gestort ist fast stets die Fahigkeit zu anhaltendem Aufmerken. Jede anhaltende Aufmerksamkeit setzt die Existenz von Zielvorstellungen voraus ; diese z. Th. sehr complexen Zielvorstellungen bedingen , dass langere Zeit hindurch von vielen gleichzeitigen Empfindungen nur eine einzige den Gang der Ideenassociation bestimmt. Kurz kann man dies so ausdriicken: auf eine Empfiudung „richte ich meine Aufmerksam- keit die anderen ignorire ich. Dem Imbecillen fehlen solche Zielvor- stellungen vollstandig, oder dieselbeu sind zu schwach, um auf die Aus- wahl der Empfindungen Eiufluss zu gewinnen. Daher ist er unaufmerk- sam. Jeder neue Eindruck zieht ihn ab.

Die Verwendung der speciellen concreten Begriffe beschrankt sich auf das Wiedererkennen und Unterscheiden, die freie d. h. von Sinnes- i eiudriicken unabhangige Phantasiethatigkeit ist fast ausuahmslos hochst diirftig. Daher ist auch das Traumleben meist sehr wenig lebhaft. Das i

Urtheilen des Imbecillen beschrankt sich meist auf die Verkuiipfung von Emj)findungen mit einfachen concreten Partialvorstelluugen und Begrifi’en (z. B. Rose roth). Urtheile, welche auf der Association vieler Erinnerungs- bilder beruhen und von actuellen Empfindungen unabhiingig sind, sind selten. Addiren wird von Manchen gelernt, Subtrahii’en sehr selten, Multipliciren (abgesehen von mechanischer Dressur auf Worte) niemals.

At feet e. Verglichen mit denjenigen des Idioten, sind sie sehr mannigfaltig , verglichen mit denjenigen des Vollsinnigen, noch sehr monoton. Auch ohne Motiv lachen und weinen die Kranken oft. Hyper- .}

Trabecillitiit.

405

algesie ist haufiger als Hypalgesie. Unverhaltnissmassig heftige oder auch ganz motivlose Wutliausbriiche sind haufiger als bei dera Idioten. Die sexuellen Gefuhlstone sind oft gesteigert, ab imd zii auch pervers. Fast alle Aftecte sind egoistisch. Schadenfreude und Rachsucht iiberwiegen durchaus fiber Mitleid und Dankbarkeit. Zuneigung zu Angehorigen koinmt wohl vor, ist aber meist sehr oberfiachlich. Geffihl ffir Recht und Unrecht besteht nicht. Bei hoherstehenden Imbecillen wird dasselbe zuweilen bis zu einem gewissen Grad durch die Furcht vor Strafe und die Hoffnung auf Belohnung ersetzt. Bei dem Gros der Imbecillen sind auch diese beiden Affecte sehr wenig nachhaltig.

Die Handl ungen des Imhecillen sind wiederum im Gegensatz zu denjenigen des Idioten sehr mannigfaltig. Actuelle Empfindungen werden oft sehr geschickt verwerthet (vgl. S. 138 und 139). Bezeichnend ist, dass zwischen Empfindung und Handlung sich nur sehr wenige Er- innerungsbilder schieben. Was man als Ueberlegung oder Spiel der Motive bezeichnet, fehlt gewohnlich ganz. Die Handlungen erhalten da- durch den Anstrich des Triebartigen. In hohem Maasse werden sie durch Nachahmung beeinflusst. Vagabundage und Betteln sind sehr haufig. Grosse forensische Bedeutung haben die sexuellen Excesse (Pader- astie, Tribadie, Sodomie, Stuprumversuche u. s. w.) Imbecille Madchen ergeben sich nicht selten der Prostitution ; andere locken Manner an und behaupten nachher vor Gericht, sie seien vergewaltigt worden. In den Zornaffecten kommt es nicht selten zu brutalen Gewaltthaten , Brand- stiftungen (z. B. wegen Verweigerung eines Almosens) u. a. m.

Die Quantitat der motorischen Actionen ist sehr verschieden; meist ist sie von der Affectlage abhangig. Oefters hat man daher einen apathischen (torpiden) und erregten (agitirten) Schwachsinn unterschieden.

Die kb r per lie hen Symptome decken sich mit denjenigen der Idiotic. Die Missbildungen sind jedoch im Ganzen nicht so zahlreich und nicht so ausgesprochen. Einen wesentlichen Unterschied begrfindet nur die Entwicklung der Sprache. Der Imbecille verffigt nicht nur fiber zahlreiche Worte, sondern er verbindet seine Worte auch zum Satz (s. o.). Die Articulation ist allerdings oft durch Stammeln gestbrt. Mitunter be- schrankt sich letzteres auf einzelne Consonanten (Sigmatismus , Para- sigmatismus , Rhotacismus u. s. f.). Mitunter aussert es sich auch nur darin , dass lediglich bei zusammenhangendem Sprechen die Aus- sprache der Consonanten undeutlich wird und einzelne Silben ganz ab- geworfen werden. Stets wird das Sprechen sehr spat gelernt. Viele Imbecille lernen auch lesen und schreiben.

Die Coordination und Kraft der sonstigen Bewegungen ist meist, wofern nicht Complicationen mit Heerderkrankungen vorliegen, intact. Sehr haufig sind gelegentliche epileptische Insulte. Im Uebrigen finden

406

Imbecillita,t.

sicli ahnliche motorische, sensible im4 trophische Stbrimgen wie bei der Idiotie, nur in erbeblicb geringerer Aiisprilgung.

Verlauf, Ausgiinge, Prognose. Aucb die Imbecillitat ist un- beilbar. Die bn’zielmng vermag jedoch erbeblicb inebr zu leisten als bei dem Idioten; es ist dies wobl namentlicb auf die Sprecbfabigkeit und das Spracbverstandniss zuruckzufiibren, welcbe dem Idioten feblen, dem Imbecillen aber last stets zukommen. Viele Imbecille lernen sogar ein Handwerk oder Feklarbdit mit leidlicber Gescbicklicbkeit treiben.

Aetiologie. Diese deckt sicb mit derjenigen der Idiotie. Die- selbeii Ursacben sind in geringerem Grade und in geringerer Zabl wirksam.

Diagnose. Die Unterscbeidung der Imbecillitat von den leicbteren Giaden des Scbwacbsinns wird bei Darstellung der Debilitiit besprocben werden. Die Unterscbeidung von der Idiotie findet in der Entwicklung der Spracbe einen bequemen Anbaltepunkt. Spracbstorung bezw. Wort- armutb und Intelligenzdefect geben im Allgemeinen parallel. Wo die Spracbe gar nicbt oder nur wenig entwickelt ist, wird man daber im All- gemeinen auf Idiotie zu diagnosticiren baben. Docb wu’d man angesicbts der Tbatsacbe , dass in seltenen Fallen aucb bei starkem Spracbdefect der Scbwacbsinn minder erbeblicb sein kann und umgekebrt, vor Allem aucb alle die Unterscbiede des Intelligenzdefects selbst beriicksicbtigen miissen, welcbe sicb aus der obigen Darstellung der Idiotie und der Imbecillitat ergeben. Da diese Unterscbiede quantitative sind, so liegt es auf der Hand, dass zwiscben Idiotie und Imbecillitat zablreicbe Zwiscben- stufen besteben. Oft wird man einen Fall ebensogut als leicbte Idiotie wie als scbwere Imbecillitat- bezeicbnen konnen. Die Bezeicbnungen Idiotie und Imbecillitat sind fiir eine grosse Zabl von Fallen sebr be- quem, insofern sie unmittelbar einen Hinweis auf den Grad des Scbwacb- sinns entbalten ; scbarf getrennte Krankbeitsformen entsprecben ibnen jedocb nicbt.

Tberapie. Mebr nocb als bei der Idiotie empfieblt sicb bei der Imbecillitat, wofern der Arzt den Kranken in der Kindbeit kennen lernt, ein Erziebungsversucb in einer Anstalt fiir Scbwacbsinnige. Ist es fiir einen solcben zu spilt oder scbeitert derselbe, so kann zuweilen ein Ver- sucb mit Familienpflege gemacbt werden. Docb bedarf es dabei grosser Vorsicbt, da die Gemeingefabrlicbkeit des Imbecillen, entsprecbend seiner grosseren Befabigung zu complicirteren Handlungen, meist grosser und die Ueberwacbung meist scbwieriger ist als diejenige des Idioten.

Patbologiscbe Anatomie. Die Befunde decken sicb im W esent- licben mit den fiir die Idiotie bescbriebenen ; nur sind die Veranderungen im Centralnervensystem meist nicbt so scbwer und nicbt so gebauft wie bei der letzteren.

j

)

I

I

Debilitat.

407

c. Debilitat.

Die Debilitat stellt den leiclitesten Grad des angeborenen Scbwach- siuus dar.

Specielle Symptomatologie.

Coustante Empfindiingsstorungen fehlen.

Vorst ell ungen. Die concreten Begriffe sind bei dem Debilen in normaler Menge imd Beschaffenheit vorhanden. Audi allgemeinere und zusammengesetztere concrete Begriffe kommen in grosser Zabl zur Ent- wdcldung. Der Wissensscbatz der meisten Debilen ist ziemlich gross. Die gewbhnlichen Fragen, welche der Arzt zur Feststellung des Wissens- umfanges voidegt (Geburtsjabr, Heiniathsort, Landeszugeborigkeit, Eegent des Heimathlandes, Gemeindebeborde, gegenseitiges Yerhiiltniss der land es- iiblicben Mtinzen, Preis der gewohnlichen Lebensmittel, einfache geschiclit- licbe Daten n. s. w.) werden oft sammtlicb ricbtig beantwortet. Aller- dings kommt beziiglicb dieses Punktes sehr viel darauf an, ob ein sacb- verstandiger Unterricbt stattgefnnden bat. In der Scbule fallt meist die ungleicbmassige Leistungsfabigkeit in den verscbiedenen Facbern auf. Fill’ ein einzelnes Facb ist bei dem Debilen mitunter geradezu eine ansser- ordentlicbe Begabung vorbanden (Recbenkiinstler, Virtuosen). Abstracte Begriffe sind nur sparlicb vorbanden ; meist verfiigt der Debile nur iiber die Worte und gebraucbt dieselben in gewissen pbrasenbaften Satzver- bindungen, welcbe er von anderen gebort bat. Der Inbalt bleibt ibm fremd.

Ideenassociation. Das Wiedererkennen ist durcbaiis normal. Das sog. sinnliche Gedacbtniss ist sogar oft enorm scbarf. Unfabigkeit zu anbaltender Aufmerksamkeit oder Concentration auf einen Gegenstand fallt fast stets auf. Die Urtbeilsassociationen sind normal, soweit sie sicb an concrete Dinge anlebnen. Soweit abstracte Begriffe in Frage kommen, sind die Urtbeile des Debilen meist kritiklose, un- verstandene Plagiate von Anderen. Oft verbirgt sicb die Fabigkeit zu eigenem Urtbeil binter einem fortwabrenden Citiren. Einwanden gegen- iiber verbarrt er mit grossem Eigensinn, aber wenig Griinden auf diesen entlebnten Urtbeilen. Ueberall libersiebt er die logiscbe Pointe der Ein- wiinde, welcbe ibm entgegengebalten werden. Besser gelingen ibm Asso- ciationen, welcbe auf einer mecbaniscben Anwendung gewisser Begeln be- ruben: so recbnen z. B. viele Debilen rascb und ricbtig.

Affect e. Sowobl die sensoriellen wie die intellectuellen Gefiibls- tbne erscbeinen zunacbst normal. Erst genaue Beobacbtung lebrt, dass mancbe intellectuellen Gefiible vollig feblen oder nur ganz rudimentar entwickelt sind. Es sind dies speciell die abstracten und altruistiscben Gefiible. Die Kranken fiibren die Worte Recbt, Ebre, Vaterlandsliebe u. s. w. im Munde, die Begriffe, d. b. die Partialvorstellungen, welcbe

408

nebilitiit.

sie mit cHesen Worten verbinrlen, sincl schon sehr diirftig, vollends die Gefiildstone, welclie diese Begriffe begleiten imd ilinen Einfluss auf die Ilandlimgen verscbafifen sollten, fehlen ganz und gar. Die egoistiscben

Affecte sind last ebenso mannigfaltig wie bei dem Gesunden und meist abnorra intensiv.

Handl ungen. Der Debile ist sehr complicirter Ueberlegungen und daher aucli sehr complicirter Handlungen fahig. Wenn schon der Imbecille zuweilen eine gewisse Schlauheit zeigt, so steigert sich diese bei dem Debilen oft zu einer ausgesprochenen Kalfinirtheit. Nicht selten ist er Meister in der Intrigue. Manche haben ein entschiedenes Talent zum Schauspieler. In ihrer Berufsthatigkeit lasst die Qualitat der einzelnen Leistung oft nichts zu wiinschen iibrig. Der Mangel ethischer Begriffe und Gefiihle bezeichnet das Betragen des Debilen schon in der friihesten Kindheit. Schon in fruheren Lebensjahren fallt auf, dass die Kinder alle Kleider zerreissen, ihre Spielsachen zertriimmern, excessiv und scham- los onaniren, geradezu geflissentlich sich verunreinigen (auch Koth- schmieren und Koprophagie sind nicht selten), Thiere und Geschwister (jualen, liuchen, schimpfen, liigen und stehlen. Gegen Liebkosungen, Ermahnungen und Strafen sind sie gleich unempfanglich. Zu Gespielen suchen sie sich meist jungere Kinder aus. Im Spiel fallt ihre Hinter- listigkeit und Bosheit auf. Die sorgfaltigste Erziehung wird dieser pathologischen Ungezogenheit nicht Herr. Mit der Pubertat haufen sich die sexuellen Excesse. Haufig laufen sie aus der Schule oder aus dem Elternhause fort. Durch abgelauschte, auswendig gelernte Phrasen und aussere Routine verdecken sie- ihrer Umgebung gegeniiber den in- tellectuellen Defect oft vollstandig. Die weitere Lebensentwicklung hiingt nun sehr von der socialen Stellung ab. Der debile Sohn des Reichen ist niemals regelmassig bei der Arbeit, spielt den Eleganten, ergiebt sich dem Spiel, macht Schulden und vergreift sich gelegentlich auch an der Kasse seines Principals. Der Sohn des Aermeren verfallt der Vagabon- dage. Meist gelangt er schon friih auf die Verbrecherlaufbahn, da schon friiher eine gesetzliche Befriedigung seiner egoistischen Affecte in Folge seiner pecuniaren und socialen Lage, welche ihm Borgen und Schulden- machen nicht gestattet, unmoglich ist. Alkoholexcesse fehlen sehr selten.

Korperliche Symptome. Haufig fehlen solche durchaus. In anderen Fallen begegnet man ganz denselben Symptomen, wie wir sie bei der Idiotie und Imbecillitat gefunden haben, jedoch meist in \fiel geringerer Zahl und Auspriigung.

Verlauf, Ausgange und Prognose. Auch die Debilitat bleibt in der Mehrzahl der Falle stationar. Nur in einer Minderzahl gelingt es einer langjahrigen, friih eingreifenden iirztlich-padagogischen Be- handlung, eine wesentliche Besserung und selbst eine Heilung zu erzielen.

Dcbilitat.

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1

So ist mir eiu Inclivicliunn bekannt, welches unzweifelhaft an ausge- sprocheiier Debilitat litt imd jetzt seit 12 Jahren von jeder Abnorinitat frei ist, einen gelehrten Beruf ansubt imd aiicb altruistischer Gefiible fiihig ist.

V a r i e t a t e n. Die wichtigste Varietiit der Debilitat ist die erblich- degenerative Modification Unten wird ausdriicldich hervorzuheben sein, dass unter den Ursachen der Debilitat erbliclie Belastung und speciell aiich schwere erbliche Belastung eine grosse Rolle spielt. In maiicben Fallen liisst sich sogar ausser erblicher Belastung keine andere Ursache uachweisen. Es ist nun in der allgemeinen Aetiologie bereits hervor- gehoben worden, dass schwere erbliche Belastung die gewohnlichen Psychosen haufig, aber keineswegs stets in bestimmter Bichtung modi- ficirt. Dies triift auch fiir die Debilitat zu. Wo dieselbe auf deni Boden schw erer erblicher Belastung auftritt, findet man haufig, aber nicht stets eine bestimmte Modification der Debilitat im Sinne der sog. erblichdegene- rativen Modification, welche friiher (S. 215 ff.) eingehend besprochen worden ist. Bei dieser Varietiit der Debilitat kommen also zu den oben geschilderten Symptomen der Debilitat noch die S. 217 ff. erwahnten psychischen und somatischen Degenerationszeichen in grosserer Zahl.

Ausser dieser erblich-degenerativen Varietiit der Debilitat, welche ungeniein haufig ist, giebt es noch eiuige andere weniger wichtige und auch weniger haufige Varietiiten. So kann z. B, der chrouische Alkoholismus , dem mancher Debile yerfiillt, das klinische Bild durch Hinzufiigung der fiir ihn charakteristischen Symptome in erheblicher Weise modificiren. Soldier Complicationen giebt es noch sehr vide. Da es sich meist urn einfache Supraposition zweier Krankheitsbilder handdt, ist eine specielle Beschreibung nicht erforderlich.

Aetiologie. Die Ursachen der Debilitat sind dieselben wie die- jenigen der Idiotie und Imbecillitat, nur sind sie im Einzelfalle nicht so gehauft und nicht so intensiv vorhanden wie bei diesen schwereren Formen. Schwere oder leichte erbliche Belastung findet sich in 70 % aller Falle. Nicht selten lassen sich mehrere atiologische Schadlichkeiten nachweisen.

Diagnose. Ebensowenig wie zwischen Idiotie und Imbecillitat eine scharfe Grenze vorhanden ist, lasst sich eine solche zwischen Imbecillitat und Debilitat ziehen. Die leichte Imbecillitat deckt sich mit der schweren Debilitat. Im Allgemeinen wird man bei der Frage, ob Imbecillitat oder Debilitat, vor Allem den Beichthum des Kranken an allgemeineren (aber nicht-abstracten) Begriffen, den Schatz an positivem Wissen und endlich die Fahigkeit zu complicirteren Urtheilsassociationen priifen miissen. Bei dem Imbecillen findet sich in alien drei Bichtungen ein erheblicher Defect: er hat wohl die Begriffe „Bose" und „Baum'^, aber der Begriff „Pflanze“ fehlt ihm, die Geschichte ist ihm ein Buch mit 7 Siegeln,

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Debilitat.

Urtlieilsassociationen , welclie eiu ocler gar ein ,,obgleich“ ent-

lialten, sincl ihm iinverstiindlich. Der Debile /eigt in alien diesen Ricb- tungen keinen oder nur einen nnerlieblicben Defect, Ausdriicklich ist jedocli bervorzuheben , dass man bei der Einreiliung eines Schwacb- sinnigen in die Scala Idiotie, Imbecillitat, Debilitat sicb niemals auf ein einzelnes oder einige wenige der oben genannten Symptome stiitzen dark Gelegentlicb finden sicb die auffalligsten Coinbinationen scbwerer Defecte niit fast glanzenden Talenten oder Fertigkeiten. Die Diagnose kann daber nur anf Grund des Gesammtbildes des intellectiiellen und affectiven Lebens gestellt werden. Dabei wird man selbstverstandlicb seine An- forderungen an den intellectuellen und etbiscben Besitzstand nacb der socialen Stellung und Umgebung des Kranken bemessen miissen.

Audi zwischen der Debilitat und dem Vollsinn bezw. einer im Be- reicb des Normalen bleibenden intellectuellen Bescbranktbeit finden sicb fiiessende Uebergange. Der Reicbtbum an abstracten Begriffen, nament- licb etbiscben Begriffen und entsprecbenden etbiscben Gefublen ist fiir die Unterscbeidung in erster Linie maassgebend. Sebr scbwer wird die Diagnose besonders in denjenigen Fallen, wo die Erziebung sowobl in intellectueller wie in etbischer Beziebung mangelbaft gewesen ist. Es erbebt sicb dann die scbwierige Frage, ob der intellectuelle und etbiscbe Defect krankbaft ist und mitbin Debilitat vorliegt, oder ob der Defect ausscbliesslicb auf die mangelbafte Erziebung zuriickzufiibren ist. Im Allgemeinen soil man die Diagnose nur dann auf Debilitat stellen, wenn sicb nacbweisen lasst, dass trotz zweckmassiger Erziebungsversucbe eine intellectuelle und etbiscbe Entwicklung bis zur Durcbscbnittsbbbe nicbt stattgefunden bat, wenn somit feststebt, dass vermoge einer krankbaften Ilirnorganisation das Individuum nicbt fa big ist, intellectuelle und etbiscbe Begriffe zu erwerben. Man wird daber aucb bei Individuen, deren Erziebung verwabrlost worden ist, sicb durcb eigene Versucbe stets erst liberzeugen miissen, dass die bez. Person diese Fiibigkeit nicbt besitzt, dass sie somit aucb bei besserer Erziebung nicbt oder nur wenig anders sicb entwickelt batte , als sie sicb tbatsacblicb entwickelt bat. Die vom Gesetz in Fallen zweifelbafter Zurecbnungsfabigkeit vorge- scbriebene secbswocbentlicbe Anstaltsbeobacbtung giebt ausreicbend Zeit, festzustellen, wie viel auf mangelbafte Erziebung und wie viel auf krank- bafte Hirnorganisation (speciell also angeborenen Scbwacbsinn) zuriick- zufiibren ist.

Die grbssten Scbwierigkeiten ergeben sicb fiir die psycbiatriscbe Beurtbeilung in denjenigen Fallen, in welcben die abstracten und etbiscben Begriffe als -solcbe leidlicb entwickelt sind und nur die etbiscben Ge- fiibl stone feblen. Fragt man solcbe Individuen; Wie nennt man den- jenigen, der Gutes mit Bosem vergilt?, so antworten sie sofort: „un-

Debilitat.

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dankbar^‘ unci manche geben aucb iimgekebrt auf die Frage : was ist Undankbarkeit? sofort eine befriedigende Erklarung des Begriffes. Aber der Gefiiblston dieses Begriffes feblt ihnen vollstandig. In der entsprechen- den Situation bleibt bei ibnen das Dankgefiihl ganz aus. Ebenso verhalt es sicb niit den iibrigen etbischen Begriffen. Sie steblen, obwobl sie Mein und Dein unterscheiden, well der Gefiiblston des Eigentbumsbegrifts, die Scbeu vor fremclem Gut, ibnen feblt. Wie soil man nun diese patbo- logiscben etbiscben Defecte, welcbe sicb mit der leicbtesten Form der Debilitat verbinden, von denjenigen etbiscben Defecten unterscheiden, welcbe scblecbte Erziebung, scblecbte Gesellscbaft und die Zufalligkeit ausserer Umstande*) bei zabllosen normalen Individuen, den sog. Ver- brecbern bervorbringen ? Man bat neuerdings ofter bebauptet, class Ver- brecben aucb eine Krankbeit sei, also nicbt gelten lassen, class die zweitgenannte Kategorie normal sei. Man kann zu Gunsten clieser Be- hauptung anfiibren, class bei den Verbrecbern die sog. korperlicben Degenerationszeicben etwas baufiger gefunclen werclen und dass erblicbe Belastung etwas baufiger nacbzuweisen ist als bei den nicbt-verbrecbe- rischen Geistesgesunden. Diese Argumente sind nicbt sticbbaltig, wenn sie beweisen sollen**), dass der Verbrecber geisteskrank ist. Korper- liche Degenerationszeicben und erblicbe Belastung kommen aucb vor, obne dass irgencl ein psycbiscbes Krankbeitssymptom vorbanden ist. Der etbiscbe Defect, lecliglicb fiir sicb betracbtet, kann noch nicbt obne Weiteres als patbologiscb bezeicbnet werclen. Aucb bier bedarf es be- bufs Feststellung seiner patbologiscben Natur des Nacbweises, dass aucb bei besserer Erziebung, besserem Umgang und in anderen ausseren Um- stanclen etbiscbe Gefiible sicb nicbt in normaler Weise entwickelt batten. Wo clieser Nacbweis nicbt zu erbringen ist, mag man wobl von an- derem Standpunkte aus den Verbrecber mit seiner verwabrlosten Erziebung, Verfiibrung durcb bbses Beispiel und andere Umstande, erb- licber Belastung und korperlicben Degenerationszeicben entscbuldigen : die Psycbiatrie im engeren Sinne wird sicb nicbt einmiscben , sie ist nicbt in der Lage, ibr Votum fiir Geisteskrankbeit auszusprecben , so- lange die erblicbe Belastung nicbt aucb ausgesprocbene psycbiscbe Krankbeitssymptome (psycbiscbe Degenerationszeicben) bervorgebracbt bat und nicbt nacbgewiesen ist, class der etbiscbe Defect auf der Hirn- organisation selbst berubt. Die Unterscbeiclung der leicbten Debilitat mit vorzugsweisem Defect auf clem Gebiet der etbiscben Gefiiblstone***)

*) Hierher gehoren die Gelegenheitsverbrecher , welcbe scbliesslicb zu Gewobn- beitsverbrecbern werden.

**) Dass sie die sog. Verantwortlicbkeit des Verbrecbers in ein neues Licbt riicken, gebort nicbt bierber.

***) Nicbt sebr zweckmassig ist diese F orm aucb als Moral insanity bezeicbnet worden.

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Debilitat.

vou deni ethischen Defect cles Geistesgesundeu hat daher namentlich Folgendes ins Aiige zu fassen;

1. Nacliweis eines Defectes nicht nur der ethischen Gefiihlstone, sondern auch der ethischen Begriffe selbst; allerdings ist der letztere Defect, also der Intelligenzdefect s. str. bei den leichtesten Formen der Debilitat sehr gering.

2. Nachweis, dass ethische Begrilfe und Gefuhlstone von dem bez. Individuum vermoge seiner Gehirnorganisation nicht gebildet werden konnten, resp. konnen, dass z. B. schon in friiher Kindheit ganz unab- hiingig von Verwahrlosung, Verfuhrung und besonderen Umstanden auf- fallige moraliscbe Defectbandlungen vorgekomnien sind.

3. Nachweis psycbiscber Degenerationszeicben.

4. Nachweis atiologischer Krankbeitsmomente (erbliche Belastung, Eacbitis, Heerderkrankiingen des Gebirns u. dgl.)

5. Nachweis korperlicber Degenerationszeicben (Scbadelverbildung, einzelne epileptiscbe Anfalle u. s. w.)

Der Nachweis unter 1 und 2 ist unerlasslich zur Diagnose einer Debilitat, der Nachweis unter 3 5 wird in mancben allerdings seltenen Fallen nicht zu erbringen sein.

Der Nachweis unter 2 ist selbstverstandlich oft nicht leicht zu er- bringen. Es bedarf dazu einer sehr genauen Beobacbtung. Man soil daher auch iiber solche Fiille nie ein Attest auf Grund einer ein- oder zweimaligen Beobacbtung ausstellen. Scbliesslich ist stets im Auge zu behalten, dass Misch- und Uebergangsfalle auch zwiscben Debilitat und sittlicher Verwahrlosung vorkommen.

Fine besondere Complication erfahrt die Diagnostik der Debilitat und z. Tb. auch der Imbecillitat dadurcb, dass bei Scbwacbsinnigen nicht selten anderweitige Psychosen voriibergehend vorkommen. Es ist dann also ein melancholischer oder maniakalischer oder paranoischer Zustand dem Schwachsinn supraponirt. Der Intelligenzdefect verleiht diesen libei- lagerten Psychosen bezw. Zustanden eine eigenartige Farbung. Die me- lancholischen bezw. hypochondrischen Wahnvorstellungen sind aufifallig unbestimmt und inhaltsarm, die Angst auffallig weinerlich. Die mania- kalische Heiterkeit hat etwas Albernes, die Ideenflucht ist ausserst monoton. Witzige Pointen fehlen ganz. Bei den paranoischen Zustanden zeigt sich der Phantasiemangel des Schwachsinnigen in der Monotonie und Unbestimmtheit der Hallucinationen. Die Wahnvorstellungen werden nicht in ausgiebige logische Verbindung gebracht. Besonders haufig ent- wickelt sich die sog. originare Paranoia auf dem Boden der Debilitat. In der Systembildung dieser debilen originaren Paranoiker verriith sich die Associationsschwache sofort. Auch Zwangsvorstellungen kommen bei Debilitat zuweilen vor. In alien diesen Fallen wird die Debilitat bezw.

Dementia paralytica.

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Imbecillitat leiclit iiberselieu, es ist daher dringend auziiratben, dass der Arzt bei jeder Psycbose weuigstens eiue kurze Frage nacb der intellectu- ellen Befabigiing vor Ausbrucb der Psycbose (Scbulleistungen, Alter des Sprecbenlernens) tbut, um eine solcbe Complication mit angeborenem Scbwacbsiun niclit zu liber selien.

Die Simulation der Debilitat bezw. Imbecillitat verratb sicb meist diircli allerband Uebertreibimgen. Die Kranken bebaupten einfacbe Ge- geustande (Munzen u. s. w.) nicbt zu kennen , wabrend sie bei Gelegenbeit im Spontansprecben sogar allerband Worte fur abstracte Begriffe gebraucben und aucb versteben. Das Genauere liber die Ent- larvung solcber Simulanten gebort in die gericbtlicbe Psycbopatbologie.

T b e r a p i e. Frllb beginnende, langjabrige Erziebung und Bebandlung in einem mediciniscben Padagogium bietet die einzige Cbance auf Besserung und eventuelle Genesung. Die bauslicbe Erziebung und der jede Individuali- sirung vollig ausscbbessende Unterricbt in fast alien offentlicben Scbulen bindern geradezu jede Besserung, Leider giebt es bis jetzt lediglicb private mediciniscbe Padagogien, welcbe nur dem Reicben zuganglicb sind. Die Armen sind daber darauf angewiesen, ibre debilen Kinder entweder der Idiotenanstalt oder dem Correctionsbaus zuzuscbicken. Beide sind wenig ge- eignet. In der ersteren feblen Abtbeilungen fur Scbwacbsinnige leicbteren und leicbtesten Grades, Das Zusammensein mit Imbecillen und Idioten wirkt geradezu scbadlicb, Im Correctionsbaus feblt die arztlicbe Leitung, ausserdem scbadigt die kranken Kinder bier der Verkebr mit gesunden, moraliscb verkomnienen Altersgenossen,

Die specielle Bebandlung der Debilitat in dem mediciniscben Pada- gogium muss sicb mindestens liber 3—4 Jabre erstrecken. Hire Eiuzel- beiten entzieben sicb einer Besprecbung an dieser Stelle,

B. Erworbeiie Defectpsychosen.

a. Dementia paralytica.

Die Dementia paralytica ist eine cbroniscbe organiscbe Psycbose des mittleren Lebensalters, deren Hauptsymptome ein progressive!’ Intelli- genzdefect und fortscbreitende corticale motoriscbe Labmungen sind, Durcb die Complication mit Erkrankungen anderer Tbeile des Centralnervensystems, namentlicb des Ruckenmarks wird das kliniscbe Bild in der mannigfacbsten Weise modificirt, Ferner treten im Verlauf der Dementia paralytica sebr baufig nacbeinander neben dem zunebmenden Intelligenzdefect die verscbiedensten psycbopatbiscben Zustande, neu- rastbeniscbe, melancboliscbe, maniakaliscbe, paranoiscbe etc, auf, Man

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Dementia paralytica.

spricht daher von einem neurasthenischen Stadium, eiuem Exaltations- iiiid Depressiousstadium und einem liallucinatorisclicn Stadium. Die Krankheit endet stets nach einigen Jaliren todtlicli. Das Schlussbild ptlegt das eines allgenieinen liochgradigeii Schwaclisinns zu sein. Specielle Symptomatologie.

V 0 r s t e 1 1 u n g e n. Der Schatz an concreten und abstracten, speciellen und allgemeinen Vorstellungen nimmt bei der Krankheit fortgesetzt ab. Es gelten fiir diese zunehmende Gedachtnissschwache alle diejenigen Kegeln, welche in der allgemeinen Symptomatologie (S. 54 und 55) an- gegeben wurden. Die complicirtesten Begriffe und die-jungst erworbenen Erinnerungsbilder gehen zuerst verloren. So kommt es, dass dem Para- lytiker schon sehr friih die abstracten Begrifife verloren gehen, denn diese sind stets zugleich besonders complex. Ebenso leidet das Ge- dachtniss fiir die Jiingstvergangenheit schon friih. Daher weiss schon im ersten Stadium der Krankheit der Paralytiker oft nicht das Datum anzugeben. Ueber seine gestrigen und vorgestrigen Erlebnisse weiss er nur liickenhaft zu berichten, wahrend seine Jugenderinnerungen zu- nachst noch intact sind. Damit hangt auch hiiufig das mangelhafte Kopfrechnen des beginnenden Paralytikers zusammen. Soil er 7 X 18 rechnen, so beginnt er richtig „7 X 10 ist 70^^ und „7 X 8 ist 56“ ; wenn er nun aber addiren will, so hat er das erste Theilproduct schon wieder vergessen oder er verwechselt es und kommt so zu keiuem oder zu falschem Kesultat.

In den spateren Stadien der Krankheit gehen mehr und mehr auch die einzelnen concreten Erinnerungsbilder und schliesslich auch die bereits in der Jugend erworbenen verloren. Im Beginn der Krankheit vergisst der Paralytiker den Besuch, den er vor einigen Tagen von seinen Verwandten erhalten hat, also ein complicirtes Erinnerungsbild mit vielen raumlichen und zeitlichen Associationen. Am Schluss der Krankheit er- kennt er seine Verwandten iiberhaupt nicht mehr: auch die einzelnen concreten Erinnerungsbilder sind ihm verloren gegangen. In den meisten Fallen ist dieser Verlust der Erinnerungsbilder ganz gleichmiissig iiber die ganze Hirnrinde verbreitet. Mitunter tritt der Ausfall einer be- stimmten Gruppe von Erinnerungsbildern besonders friih und intensiv auf. So kann z. B. der Verlust der optischen Erinnerungsbilder

(fiir eine oder auch fiir beide Gesichtsfeldhalften) , also Seeleublind- heit, lange Zeit iiber die anderweitigen Verluste sensorischer und sensibler Erinnerungsbilder iiberwiegen. Ebenso ist der Verlust der Wortklangbilder zuweilen anfangs das hervorstechendste Symptom der allgemeinen Gedachtnissschwache (sensorische Paraphasie). In den End- stadien der Krankheit ist die Gedachtnissschwache oft so hochgradig, dass der Kranke nichts mehr wieder erkennt. Er erkeunt seine Frau

Dementia paralytica.

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iiiclit, fiudet seiii Belt iiiul seine Kleider niclit, verwecliselt Gabel und Boffel, Hose imd Roek u. s. f.

Ideeu association. Parallel init dieser Gedachtnissscliwadie gelit eiue zimehmende Urtlieilsscbwaclie. Beide zusainmen machen das eine Cardinalsymptom der Dementia paral}4ica, den Intelligenzdefect aus. Die Urtbeilsschwache Liusserst sich zuerst in den complicirtesten Urtheils- associationen. Das, was man Kritik zu nennen pflegt, gelit dem Kranken melir und mebr ab. Kritiklos ist er zuniicbst gegeniiber seiner Krank- lieit. Er iibersieht die Tragweite seiner zunehmenden Gedachtniss- schwaehe und Leistungsfahigkeit vollstandig. Ebenso kritiklos ist er in der Beurtbeilung seiner geschaftliclien Situation, seiner socialeu Stellung, seiner beruflichen Unternelimungen. Er vermag complicirteren Um- standen nicht mebr gereebt zu werden. Wenn er aucb die einzelnen Tbatsacben riebtig auffasst, so ist er docb der complicirten associa- tiven Verarbeitung a Her Tbatsacben zu einer Urtbeilsassociation niebt gewacbsen. Allentbalben entgeben ibm einzelne wiebtige Factoren (vgl. S. 132 und 133). Spater steigert sich diese Kritiklosigkeit zu einer vollstandigen Urtbeilslosigkeit. Die einfaebsten Associationeu ver- sagen. 7x8 wird niebt mebr gereebnet. Der Kranke weiss von den einfaebsten Gegenstanden Form und Farbe niebt mebr anzugeben.

Gegeniiber diesen schweren Storungen des Gedaebtnisses und der Urtbeilskraft treten die anderweitigen Storungen der Ideenassociation mebr zuriick.

Was zunaebst die Gescbwindigkeit der Ideenassociation an- langt, so ist dieselbe im Ganzen verriugert. Es ist diese zunebmende Langsamkeit im Denken im Allgemeinen niebt als primare Denkbemmung aufzufassen, sondern sie berubt auf der Einbusse von Erinnerungsbildern und associativen Verkniipfungen. Der Kranke wird daber in seinem Denken ausserst umstandlicb. Er brauebt zu einer geistigen Arbeit, welcbe ibn fruber kaum 1 Stunde kostete, jetzt einen ganzen Tag. Diese direct mit dem Intelligenzdefect zusammenbangende Denklangsamkeit wird in einem gewissen Stadium der Dementia paralytica, in dem an Manie erinnernden sog. Exaltationsstadium, dm-ch eine primare ideenfluebt, welcbe einer primaren beiteren Verstimmung parallel gebt, verdrangt. Wabrend dieser ideenfiuebtigen Phase der Krankbeit ist der Intelligenzdefect lediglicb an dem scbwacbsinnigen Inbalt der ideen- fluchtigen Associationen zu erkennen, die Denklangsamkeit ist vbllig verscbwundeu. Andererseits tritt in dem an Melancbolie erinnernden sog. Depressiousstadium zu der durcb den Scbwachsinn bedingten Denk- langsamkeit nocb eine primare Denkbemmung hinzu, welcbe einer pri- maren Depression und Angst parallel gebt. Der Kranke beantwortet die Erage, wieviel ist 7x8, erst nacb einigen Minuteu. Liisst spater die

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Dementia paralytica.

Angst imd die Depression nach und schwindet damit zugleich die Denkhem- mung, so rechnet der Kranke 7x8 rascher riclitig aus, wofern nicht sein Schwachsinn inzwischen soweit vorgescliritten ist, dass die ganze Asso- ciation ihm verloren gegangen oder unsiclier geworden ist.

Der Zusammenhang der Ideenassociation leidet in Folge des Schwachsinns gleiclifalls erheblich. Nicht selten komint es zu aus- gepragter secundarer, durch den Verlust an Erinnerungsbildern und associativen Verkniipfungen bedingter Verwirrtheit des Denkens. Aucb hallucinatoriscbe und primare Incoharenz kommt zuweilen intercurrent in bestimmten Krankbeitsphasen vor.

Mit dem Intelligenzdefect und diesen formalen Stdrungen bangt aucb die Unorientirth eit vieler Paralytiker zusammen. Meist beruht sie auf dem Intelligenzdefect. Der Kranke bat Datum, Aufenthaltsort, die Namen seiner Umgebung und seine eigenen Personalien vergessen. Seltener ist primare Denkbemmung oder primare oder hallucinatoriscbe Incoharenz die Ursacbe der Unorientirtbeit.

Wabnvorstellungen sind auf der Hobe der Paralyse ungemein baufig. Im Exaltationsstadium sind es vorzugsweise Grossenideen, im Depressionsstadium Verarmungsvorstellungen und namentlicb hypoebon- drische Wabnvorstellungen, im ballucinatoriscben Stadium Verfolgungs- und Grossenideen. Allen i3aralytischen Wabnvorstellungen ist der scbwacb- sinnige Inbalt gemeinsam: Der Kranke bat „Milliarden Elepbanten'' erlegt, versebenkt zabllose Villen und Xitel, er selbst ist Kaiser, Roth- schild, Gott und Obergott in einer Person oder andererseits ist er auf Millimetergrosse zusammengescbrumpft , Herz, Lunge und Leber sind fort, Mund und After sind zugewacbsen. Am wenigsten markant pflegt der scbwachsinnige Charakter der Verarmungs- und Verfolgungsideen ber- vorzutreten, docb iiberwiegt aucb bier das Maasslose und Ungebeuer- licbe: „was er einatbmet, ist lauter Eserin und Strychnin und Nicotin, taglich wird ihm Sypbilitis eingepustet, die Milch ist lauter Quecksilber und Quadrillionenmal bat der Arzt seine zahllosen Sdbne todtge- schossen". Entspreebend dem Intelligenzdefect des Kranken und dem zusammenbangslosen Charakter der Wabnvorstellungen kommt es fast niemals zur Bildung von Wabnsystemen. Die Grossenideen des Exal- tationsstadiums sind atfectiven Ursprungs, ebenso aucb die Verarmungs-, Krankbeits- und die selteneren Versundigungsvorstellungen des Depressions- stadiums. Die Verfolgungsideen und Grossenideen des ballucinatoriscben Stadiums beruben grosstentbeils auf Hallucinationen , sebr viel seltener tauchen sie primar auf. Sebr selten kommt es aucb zu complemen- taren Wabnvorstellungen. Sebr baufig sind wabnbafte Erinnerungs. tausebungen (ungebeure Jagden, enorme Reisen, selbst auf audere Welt- kdrper, grosse Kriegsthaten, unglaublicbe sexuelle Abenteuer).

Dementia paralytica.

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Emp find uugsstorun gen sind, wofern Complicationen mit infra- corticalen, spinalen oder peripherisclien Erkrankungen des Nervensy sterns fehlen (s. u.), selir selten. Insbesondere bleibt die Beriilirungsempfind- licbkeit im Gegensatz zu der Schinerzeinpfindlichkeit (s. u.) meist bis in die spiitesten Stadien der Krankheit, solange die Intelligenz des Kranken uberliaiipt eine Priifung erlaubt, intact. Audi der Locali- sationsfebler fiir Hauteinpfindungen ist meist nur wenig vergrossert.

Hallucinatione n und 1 11 us ion en sind sebr baufig. Sie be- schranken sich keineswegs auf das mebrfacli erwahnte hallucinatoriscbe Stadium, sondern konnen im ganzen Verlauf der Krankheit auftreten. Nur im Schlussstadium pflegen sie, entsprechend der hochgradigen Reduction aller corticalen Leistungen, wegzubleiben. *) Meist stehen sie inhaltlich in enger Beziehung zu den jeweiligen Wabnvorstellungen: bald gehen sie begleitend, gewissermaassen illustrirend neben denselben her (so oft im Exaltations- und Depressionsstadium), bald geben sie selbst erst zu entsprechenden "Wahnvorstellungen Anlass. Am haufigsten sind Akoasmen: Fiirstliche Personlichkeiten fliistern dem Kranken allerhand zu, dazu kommeu haufig Droh- und Schimpfworte. Nicht selten beziehen sich letztere auf die friiher iiberstandene Syphilis. Bei den hypochon- drischen Wahnvorstellungen spielen jedenfalls oft auch Hallucinationen und Illusionen auf dem Gebiete der Organempfindungen eine bedeut- same Rolle.

Affectstor ungen. Unter den sensoriellen Gefiihlstonen leidet der Gefiihlston des Schmerzes bei intensiven Hautreizen schon sehr friih. Hypalgesie und oft auch Analgesic ist eines der friihesten Krankheits- symptome bei sehr vielen Paralytikern. Lachend lassen sie sich die Nadel his zum Knopf in die Waden einstossen. Die sexuellen Gefiihlstone sind oft und zwar haufig schon im Beginn der Krankheit gesteigert, dem entspricht die pathologische sexuelle Begehrlichkeit vieler Para- lytiker ; spater erloschen sie oft.

Unter den intellectuellen Gefiihlstonen leiden diejenigen der ethi- schen und asthetischen Interessen zuerst (vergl. allgemeine Pathologic S. 70). Das Pflichtgefuhl erlischt: der Kranke vernachlassigt Geschaft undFamilie; stellt man ihn zur Rede, so beweist er durch sein albernes Lachen, dass ihm Gefiihl und Verstandniss fiir seine Pflichten ganz ab- handen gekommen sind. Der Charakter sinkt Stufe um Stufe tiefer. Schliesslich geht dem Kranken jedes Schamgefiihl verloren: er reisst Zoten, urinirt vor Damen, masturbirt schamlos, vernachlassigt seine Toilette und verliert schliesshch auch jeden Sinn fiir Reinlichkeit.

*) Auch die Production von Wahnideen hort aus demselben Grunde im Schluss- stadium meist auf. Der Kranke plappert hochstens noch mechanisch seine Wahn- ideen her.

Ziehen, Psychiatrie.

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Dementia paralytica.

Zu dieser Ei.nbusse der intellectuellen Gefiihlstdne, welche dem In- telligenzdefect parallel geht und schliesslich mit volliger allgemeiner Apathie endet, treten im Verlauf der Krankheit die verschiedensten primaren Affectstdrungen. Im Prodromalstadium iiberwiegt meist eine krankbafte Keizbarkeit; der Kranke argert sich iiber Kleinigkeiten un- verbaltnissmassig lange und intensiv. Spater iiberwiegt meist langere Zeit eine mit Ideenfiucht verkniipfte primare Exaltation (= Exaltationsstadium) und nach dieser gleichfalls langere Zeit eine mit Ideenflucht verkniipfte primare Depression und Angst (= Depressionsstadium). Die Angst- affecte sind sehr oft pracordial, in anderen Fallen wird die Angst in den Kopf lokalisirt; an Heftigkeit geben sie denjenigen der scbwersten Me- lancbolie oft nicbts nach. Im Scblussstadium verscbwinden alle Affect- stdrungen vdllig; nur eine mit dem kdrperlichen und geistigen Verfall des Kranken auffallig contrastirende heitere Zufriedenheit, die so'g. Eu- phorie, bleibt oft bis zum Tode bestehen.

Die primaren Affectstdrungen des Paralytikers sind meist durch ibre Oberflachlichkeit und Labilitiit ausgezeichnet (vergl. S. 71,72). Ein Scherzwort fiibrt den Kranken im Augenblick vom Lachen zum Weinen und vom Weinen zum Lacben biniiber. Aucb ist der Stim- mungsausscblag meist unverbiiltnissmassig gross. Scbon und gerade im Beginn der Krankbeit fallt oft auf, dass eine traurige Erzablung den Kranken, der sonst gar nicbt weicbmiitbig war, gleicb bis zu Tbranen riibrt; ebenso iiberscbwanglich ist er oft in seiner Be- geisterung.

Hand lunge n. Ibre Besprecbung wird in die Darstellung des Krankbeitsverlaufs eingeflocbten werden.

Kdrperlicbe Symptome. Diese sind flir die Diagnose oft von entscbeidender Bedeutung und sollen daber eingebend an der Hand des S. 201 gegebenen Schemas besprochen werden.

Zunacbst leidet die Ernabrung bei der Dementia paralytica sehr erbeblicb. Namentlicb im Exaltations- und Depressionsstadium sinkt das Korpergewicht ganz rapid, so z. B. in einem Fall in einer Wocbe um mehr als 10 Kilo*). Im Scblussstadium findet man oft wieder eine auflfallige Zunabme des Fettpolsters.

Die Haut ist oft auffallig unelastisch.

Das vasomotorische Nachrothen ist in den Erregungspbasen ge- steigert.

Die centrale Kbrpertemperatur ist in vielen Fallen durcbaus normal. Defter ergeben tagliche Messungen, dass in unregelmassigen Abstiinden leichte Fieberbewegungen auftreten, fiir welche weder eine Magenver-

*) Die Nahrungsaufnahrae war hochstens auf die Halfte reducirt.

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stimmimg noch ein Brouchialkatarrh nocli eine Obstipation oder eine Urinreteution eine ausreicbende Erklarung liefert. Wahrscheinlicli sind diese Temperatursteigerungen auf den centralen Kranklieitsprocess selbst zii beziehen. Kobe Fieberbewegungen (bis iiber 41”) treten in den sog. paralytischen Anfallen auf, welche unten ausfiihrliclier besprochen werden- Endlich beobacbtet man bei der Dementia paralytica zuweilen aucb epi- sodische Zustande, welche ganz dem Delirium acutum der functionellen Psychosen entsprechen, also namentlich hochgradige Unorientirtheit, Dissociation des Vorstellungsablaufs und incoharehte motorische Agi- tation aufweisen; in diesen sind ebenso wie bei den functionellen Psychosen Temperaturen iiber 39 haufig.

Erhebliche Temperaturerniedrigungen, bis unter 30 ”, oft progressiven Characters kommen selten und fast nur im Endstadium der Krankheit vor.

Die Herzthiitigkeit ist dfters leicht unregelmassig, bald verlangsamt, bald beschleunigt. Zum Theil sind diese Storungen jedenfalls auf die coexistirende Atheromatose der Arterien, insbesondere der Kranzgefasse des Herzens zuriickzufiihren. Zuweilen lasst sich p. m. auch eine De- generation der Vagusbahn oder des Vaguskerns nachweisen.

Die Pulswelle ist in den verschiedenen Stadien sehr verschieden. Im Depressionsstadium entspricht sie oft einem ausgesprochenen arteriellen Gefasskrampf. In den Endstadien findet man oft tarden Puls. Meist bestehen dann auch verbreitete Oedeme.

Vergrosserungen der Leberdiimpfung (foie paralytique) kommen zu- weilen vor (mitunter mit Urobilinurie). Bei weiblichen Individuen kommt es oft zu Amenorrhoe, resp. verfriihter Menopause. Die Salzsaure- seCretion des Magens nimmt oft progressiv ab; in den Endstadien ent- halt der ausgeheberte Mageninhalt oft gar keine Salzsaure mehr (weder freie noch gebundene). Erbrechen ist haufig. Die Darmthatigkeit ist oft gelahmt. Namentlich im Depressionsstadium und im Schlussstadium sind schwere Obstipationen nicht selten. Andererseits kommen schwere Diarrhoen vor; ob letztere auf Innervationsstorung beruhen oder eine Folge des hastigen Hinunterschlingens unverdaulicher Stoffe sind, lasst sich oft nicht entscheiden. Die Speichelsecretion ist oft gesteigert.

Der Urin der Paralytiker ist selten dauernd normal. Ganz abge- sehen von der nicht seltenen Complication mit Nephritis und von der finalen Cystitis findet man haufig eine intermittirende Albuminurie mit oder ohne hyaline Cylinder. Andere geformte Elemente fehlen in diesen Fallen. Auch Propeptonurie ist nicht selten. Das Auftreten dieser Storungen fallt meist mit hallucinatorischen Erregungszustanden zu- sammen. Unabhangig von letzteren kommt Glycosurie und Acetonurie vor, bald jahrelang dauernd, bald intermittirend. Auch Polyurie ohne Glycosurie ist zuweilen beobachtet worden (auch als Friihsymptom!).

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Dementia paralytica.

Unter den trophisclien S torn n gen spielt der Decubitus die Haupt- i’(dle. In mancheu L alien beruht derselbe ausscbliesslich auf der Un- reinlichkeit der Krahken und auf ibrer durcb die Lahmungen bedingteu regungslosen Kiickenlage. Oft kommt als auxiliares Moment die Tragbeit der periplierisclien Circulation binzu. Endlicb mag in einer kleineren Reihc von Fallen, namentlich solcben, wo eiu ausgebreiteter Decubitus inner- halb 24 Stuudeu sich entwickelt, eine tropboneurotiscbe Storung vorliegen.

Zu den tropbiscben Storungen ist vielleicht auch das rasche Ergrauen des Haupthaares zu recbnen. Endlicb ist in mancben Fallen eine auf- fallige Briicliigkeit der Knocben und Knorpel beobachtet worden. Frak- turen sind bei Paralytikern ungemein baufig, unci niclit stets lasst sich im Einzelfall die Fraktur in geniigender Weise aus rober Bebandlung seitens der Umgebung oder aus der motorischen Schwache und Unge- gescbickbchkeit des Kranken erklaren. Besonders baufig sind auch Zerreissungen und Blutergiisse im Ohrknorpel. Traumatiscbe Insulte geben den Anlass, es liisst sich jedocb fe'ststellen, class das Trauma oft unverhaltnissmassig gering ist: man wire! daher zu der Annabme gedriingt, class eine patbologisclie Briicbigkeit des Knorpels selbst und der Wan- dungen der Gefasse bei clem Zustanclekommen dieser sog. Otbaematome sowie der anologen Rhinhaematome betbeibgt ist.

Die Pupil len geben oft den wichtigsten Anhalt fur die Diagnose auf Dementia paralytica. Zunachst sind sie sebr baufig ungleicb. Hierauf ist jedocb wenig Gewiebt zu legen, da solcbe Ungleicbbeiten auch bei functionellen Psycliosen vorkommen. Bald sind sie abnorm weit, bald abnorm eng. Die Mydriasis ist bald durcb Sympatbicusreizung , bald durcb Oculomotoriuslalimung, die Miosis bald durcb Sympatbicuslabmung bald durcb Oculomotoriusreizung bedingt. Viel becleutsamer sind Ver- ziebungen der Pupille, namentlich wenn sie nur einen Quadranten be- treffen. Am wichtigsten ist die Priifung der Pupillarreactionen. Bei mebr als 60 % aller Paralytiker stellt sich im Verlauf des Leiclens reflec- torische Pupillenstarre ein. In ancleren Fallen kommt es nur zu Triig- beit der Lichtreaction , in seltenen Fallen ist die clirecte Licbtreaction erbalten und nur die synergisebe aufgeboben oder trage. Nur in etwa 20 Vo ^ller Falle bleiben die Lichtreactionen wahrend des ganzen Krank- beitsverlaufs volbg normal. Viel seltener als Storungen der Licbtreaction sind Storungen der Convergenzreaction. Wo letztere vorkommen, sind sie oft mit Accommoclationslahmung verkniipft.

Auch die Augenbewegungen sind sebr baufig gestbrt. Zunachst bort man in der Anamnese oft von Doppelseben. Bei genauer Untersuebung kann man in mindestens der Hiilfte aller Falle leiebte Defecte der Be- wegbchkeit eines oder beicler Bulbi in dieser oder jener Richtung fest- stellen. Oft verrath sich ein solcber Defect nur durcb eine Ungleichbeit

Domcntia paralytica.

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tier sog. secundaren Innendeviation aiif Iteiden Augen. Zuweileii findet man eine ausgesprochene Lahmimg eiues Abduceng oder eines Oculo- motorius oder aucb nur eines Astes des letzteren (go z. B. des Levator- zweiges). Etwas seltener ist ein an multiple Sclerose erinnernder Nystagmus.

Der Stirn- und Augenfacialis ist haufig paretisch. Begreiflicher- , weise ist die Parese meist nur auffallig, wenn sie einseitig ist. Oft verrath sich die einseitige Parese scbon durch eine abnorme Weite des einen Augenspalts (Parese des Orbicularis oculi) und ein Herabhangen des unteren Lids. Dabei ist jedocli zu beacbten, class aucb eine asym- metriscbe Innervation des Sympathicus gerade bei der Dementia para- lytica eine Ungleicbbeit der Augenspalten bedingen kann. Man findet in diesem Falle auf der Seite des weiteren Augengpalts aucb Mydriasis und Protrusio bulbi (also anderweitige auf Sympatbicusreizung deutende Symptome).

Wicbtiger sind die Innervationsstbrungen des Mu nd facialis. Zu- weilen sind alle Innervationen des Mundfacialis auf einer Seite paretiscb: bei dem Mundspitzen, dem Zabnefletscben, dem Vorstrecken der Zunge, dem Lacben, dem Sprecben bleibt die eine Mundbajfte zuriick und aucb in Rube ist auf der einen Seite die Nasolabialfalte seicbter*) und der Mund- winkel berabbangend. Nocb baufiger sind lediglicb ein z eine Inner- vationen balbseitig gescbadigt. So ist z. B. die Parese sebr baufig auf die spracblicben Innervationen des Mundfacialis bescbrankt. Am biiu- figsten bleibt das Mundspitzen symmetriscb. Zuweilen verratb sicb die Parese aucb nur darin, dass die Innervation rascb ermudet oder von Anfang an zitternd erfolgt. In letzterem Fall kommt es zu dem sog. Flattern der Gesicbtszlige. Endlicb fallt in einer grosseren Reibe von Fallen auf, dass die Innervation des recbten und des linken Mundfacialis nicht syncbron vollzogen wird. Bald wird z. B. beim Sprecben der eine, bald der andere Mundwinkel fruber innervirt, bald dieser bald jener starker contrabirt. Oft, aber nicbt stets, ist die Parese des Augenfacialis und des Mundfacialis auf derselben Seite gelegen. Abnorme Mitbewe:- gungen im Bereicb der Gesicbtsmuskeln begleiten oft die Inneryationen paretiscber Muskeln.

Asymmetriscbe Gaumenbebung ist gleicbfalls baufig. Oft bedingt eine beiderseitige Gaumenparese eine eigentbiimlicbe naselnde Aussprache.

Zun genabweicbungen sind sebr baufig. Oft entspricht die Seite der Abweicbung der Seite der Mundfacialisparese ; dann ist also der Hypoglossus aitf derselben Seite betroffen wie der Mundfacialis. Oft verratb sicb die Innervationsscbwacbe aucb darin, dass die Zunge bei dem Vorstrecken fortgesetzt in sagittaler Ricbtung vor- und zurlickscbne|lt.

*) Aufj Fig. 6 der physiognomischen Tafeln ist ein Paralytiker im ExaltatiQns- stadium dargestellt; die linke Nasolabialfalte ist vdllig verstrichen, , - .-[(. j

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Dementia paralytica.

Die grobe motoriscbe Kraft der Extremitaten ist fast stets herab- gesetzt. Bei dynamometriscber Messung ergeben sich oft schon im ersten Stadium der Krankheit Wertbe, welche mit der Muskelentwicklung ganz auffallig contrastiren und kaum ’/g der Norm betragen. Sehr baufig iiberwiegt diese Parese auf einer Kbrperhalfte, so dass das Bild einer Hemiparese zu Stande kommt. Im Gang spricbt sich eine solche Hemi- parese in einem Ueberhangen nach der Seite der Hemiparese aus. Das bez. Bein wird etwas nacbgezogen, die bez. Schulter steht etwas tiefer.

Die Parese der Rumpfmuskeln spricbt sich in der gebiickten Haltung, die Parese der Nackenmuskeln in dem Herabsinken des Kopfes auf die Brust aus.

Alle diese Paresen sind, wie die Intactbeit der elektriscben Erreg- barkeit ergiebt, corticalen Ursprungs, Seltener sind sie mit Atropbie und partieller oder vollstandiger Entartungsreaction verkniipft. So kommt z. B. in seltenen Fallen eine balbseitige Zungenatropbie vor: die Unter- sucbung p. m. ergiebt alsdann eine graue Degeneration des peripberen Hypoglossus oder einen Schwund des Hypoglossuskerns. Sehr bezeichnend fiir die Labmungen ist aucb ibre geringe Intensitat absolute Lah- mungen sind sehr selten und ibre Fliichtigkeit : heute ist der linke, ; nacb einigen Wocben der recbte Mundfacialis paretisch. i

Die Coordination der willkiirlicben Extremitatenbewegungen i leidet meist erst in den spateren Krankheitsstadien erbeblicb. Die j Kranken linden bei geschlossenen Augen die Nasenspitze mit den Fingern | nicht mebr. Oft vereinigen sich Ataxie und Intentionstremor , um die Sicherheit der Bewegungen zu stbren. Vereinzeltes, gelegent- licbes Versagen der Coordination fiir feinere Bewegungen beobacbtet man schon sehr friib: die Kranken treten fehl beim Tanzen, greifen febl beim Essen, stolpern auf der Treppe u. a. m, Bei der sog. Tabes- paralyse d. h. einer Form der Dementia paralytica, welche mit den typiscben Symptomen einer Tabes beginnt, ist ausgesprocbene Ataxie selbstverstandlicb eines der ersten Symptome.

Sehr erbeblicb und sehr friib leidet fast stets die Coordination der Sprech- und Scbreibbewegungen. Am characteristiscbsten fiir die Spracb- Storung ist die Hesitation bei den Anfangsconsonanten der Worte und aucb der einzelnen Silben. Namentlicb wenn mehrere Consonanten zu- sammenstossen, „stolpert‘' der Kranke. Zu der Hesitation kommt oft eine Weglassung und Versetzung einzelner Consonanten: der Kranke spricbt Artilleriebrigarde oder Artilleriebrigrade statt Artilleriebrigade.

In vorgeruckten Stadien werden ganze Silben theils weggelassen, tbeils versetzt („Dampfschliffschleppfahrt“ statt „DampfschiffscbleppscbifffahrC'). ' Zugleich leidet aucb die Aussprache bezw. Articulation der einzelnen Vo- cale und Consonanten. Die Vocale werden tremulirend ausgesprocben

Dementia paralytica.

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(Inteutionszittern der Stimmbander), die Consonanten undeutlich ai’ticulirt. Durcli das Zusammentreffen aller dieser Storungen wird schliesslich die Sprache des Kranken ganz unverstandlich. In anderen Fallen ist der Endeffect der, dass der Kranke iiberhaupt kein hbrbares Wort her- vorbringt: aiis der atactischen Spracbstorung bat sich eine Spracb- labmung, eine atactische Aphasie, entwickelt. In anderen Fallen entsteht die Aphasie plotzlich: d. h. ohne dass eine Coordinationsstorung des . Sprechens vorausgegangen ware, stellt sich plotzlich eine mehi odei weniger vollstandige Aphasie ein. Der Kranke findet fiir seine Empfin- dungen und Vorstellungen die Worte nicht mehr*). Diese motorische Aphasie ist von der erwahnten atactischen Sprachstorung nur durch die Entstehungsweise (bei letzterer langsame, bei ersterer rasche Entwicklung) und durch die Intensitat (letztere unvollstandig, erstere vollstandig) ver- schieden. Beide entstehen durch Zerstbrungen in demselben Rinden- gebiet, namlich der sog. Broca’schen Stelle, erstere durch rasche voll- standige Zerstbrung dieses Gebiets, letztere durch langsame unvollstandige. Durch allmahliche Zunahme dieser langsamen Zerstbrungen kann hegreif- licher Weise und entsprechend dem oben angegebenen klinischen That- bestand aus der atactischen Sprachstbrung schliesslich eine vollstandige atactische Aphasie werden.

Ausser diesen auf einer Laesion der Broca’schen Stelle selbst be- ruhenden Sprachstbrungen findet man nicht selten auch transcorticale Aphasien, so nicht selten einfache Paraphasie, ab und zu auch optische Aphasie u. dgl. m. Diese Stbrungen beruhen auf Leitungsunterbrechungen der zu der Broca’schen Stelle fiihrenden langen Associationsbahnen.

Endhch sind auch nicht selten die Sprachkerne des Pons und der Oblongata erkrankt. Es kommt dann zu ahnlichen Sprachstbrungen, wie man sie z. B. bei der Bulbarpai’alyse beobachtet. Es ist nicht un- Avahrscheinlich , dass die oben schon erwahnten Stbrungen in der Arti- culation der einzelnen Consonanten zu einem grossen Theil auf solchen

infracorticalen Laesionen beruhen.

In seltenen Fallen beschrankt sich die Sprachstbrung auf eineVer- langsamung der Articulation. Selir selten kommt es zu scandirender Articulation. Durch Paresen einzelner Muskeln kommt es zu weiteren speciellen Stbrungen (naselnde Sprache bei Gaumenparese u. dgl.).

Zur Priifung der Sprache genugt es nicht, den Kranken einige be- sonders schwer auszusprechende Worte nachsprechen zu lassen, sondern

*) Auch auf anderen Muskelgebieten findet man Aehnliches. Manche Kranken haben die Bewegung des Zungenvorstreckens oder des Mundspitzens u. s. w. verlernt. Sollen sie eine seiche Bewegung ausfiihren , so kommen sie entweder iiberhaupt zu keiner Bewegung (corticomotorische Akinesie) oder sie machen eine ialsche (run- zeln z. B. die Stirn statt den Mund zu spitzen, Parakinesie).

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Demontia paralytica.

man muss vor allem die Sprache des Kranken beobachten, wenn er sich imbeobachtet glaubt und keine besondere Sorgfalt auf das Sprechen verwendet. Es gelingt namlich manchen Paralytikern eine leichte Sprach storung bei Aufwendung grosser Aufmerksamkeit vorubergebend aucb bei scbwereren Worten zu unterdriicken. Aucb ist zu beacbten, dass durcb Uebung der Paralytiker einzelne Worte fliessend articuliren lernt. Endbcb tritt ofters unter dem Einfluss atfectiver Erregung eine leicbtere

Spracbstdrung zuriick. Man vermisst sie daber namentlicb oft im Exal- tationsstadium.

Schriftprote eines Para- lytikers ; dictirt war das Wort „Schwalbe“.

Die Scbreibstdrung ist der Spracbstorung durcbaus analog. Eine plbtzbcbe vollstiindige Agrapbie ist ausserst selten. Meist bandelt es sicb um eine allmablicb sicb entwickelnde atactiscbe Scbreibstorung. Der EndefFect ist allerdmgs scbliesslicb oft entweder eine vollige Unleserlicb- keit des Gescbriebenen oder aucb ein volliges Versagen der Scbreib- bewegungen. Die einzelnen atactiscben Storungen des Scbreibens ent- sprecben ganz denjenigen des Sprecbens: man findet zitternden Verlauf del Haar- und Grundstricbe , stockendes Ansetzen der einzelnen Bucb-

staben, Bucbstaben- und Silben-auslassungen, -wieder- bolungen und -versetzungen. Nicbt selten beobacbtet man, dass der Kranke, nacbdem er ein Wort gescbrie- ben bat, bei dem Versucbe ein neues Wort auf Dictat zu scbreiben , immer wieder in die Bucbstaben und Silben des ersten Wortes bineingeratb*).

Eine specielle Beacbtung verdienen aucb die Storungen des Gebens. Corticale und spinale Storungen- treffen bier zusammen. Liegt Compli- cation mit Tabes vor, so findet man den typischen atactiscben Gang des Tabikers. Liegt Complication mit Seitenstrangserkrankung des Rucken- marks vor, so bat der Gang spastiscben Character. In vielen Fallen ist der Gang einfacb paretiscb; die Kranken beben die Fiisse nur wenig, macben nur kleine, langsame Scbritte und setzen die Fiisse breitspurig’ d. b. in weitem Querabstand auf. Die corticale Storung tritt nocb deut- licber bei complicirteren Gebbewegungen bervor, so z. B. beim Steigen, beim Kebrtmacben u. s. f. Die Gebbewegungen werdeii der Situation nicbt angepasst, daber kommt es zu Febltritten, Scbwauken etc.

Die sensiblen Storungen sind, abgeseben von den mit Tabes complicirten Fallen sowie abgeseben von der sebr cbaracteristiscben Hyp- algesie, wiebereitserwabnt, sebrgeringfiigig. Druckpuiiktefinden sicb selten.

*) Solche Nachwirkungserscheinungeii boobachtet man aucb bei anderen Be- wegungen des Paralytikers. Hat der Kranke eben auf Befehl die Zunge vorgestreckt, so wiederholt er zuweilen zu seinem eigencn Verdruss die Bewogung des Vorstreckens, wenn ihm eine andere Bewegung, z. B. Augenschliessen, aufgetragen wird.

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Spontane Schmerzen siud sehr haufig, so namentlich heftige anhaltende Kopfschmerzen. Meist sind letztere symmetrisch, am hau- ligsten werden sie in die Stirn verlegt. Die Supraorbitalneuralgie und Occipitalneuralgie, welche der Krankheit oft vorangehen, sind meist direct auf Syphilis zu beziehen. Bei der Taboparalyse findet man lancinirende Schmerzen (namentlich in den Beinen). Parasthesien in alien Haiitgebieten sind auch in Fallen, welche mit Tabes nicht complicirt sind, haufig.

Hbr-, Seh- und Eiechstorungen konnen in jedem Stadium der Dementia paralytica eintreten. Meist beruhen sie auf einer grauen Degeneration der peripherischen Sinnesnerven. Die Horstorungen beginneti' in der Regel mit der Einbusse der Horfahigkeit fiir die hoheren Tone. Die craniotympanale Leitung ist auffallig oft erloschen. Die Degene- naration des Sehnerven verrath sich oft schon bei ophthalmoskopischer Untersuchuilg durch eine ausgesprochene Atrophie der Papille. In an- deren Fallen findet man nur eine ganz characteristische Triibung def Papille und der angrenzenden Netzhautpartien. Ausgesprochene Stau- ungspapille findet sich fast nur dann, wenn . eine Complication mit Haematom der Dura mater oder ein sehr hochgradiger innerer Hydro- cephalus vorliegt. Anosmie resp. Hyposmie ist haufig. Geschmacks- stbrungen sind seltener.

An dieser Stelle sei auch nochmals hervorgehoben, dass durch den' circumscripten Ausfall der Erinnerungsbilder einer Sinnessphiire gelegefit- lich die Symptome der Seelenblindheit u. s. w. zu Stande kommen konnen. Hierher gehort auch die Worttaubheit und Wortblindheit mancher Pa- ralytiker. Haufiger als Worttaubheit ist iibrigens ein auffalliges Miss. verstehen aller Worte. Ebenso ist ausgesprochene Alexie selten. Oefter zeigt sich die Lesestbrung darin, dass die Kranken Worte auslassen, andere einfiigen und viele Worte phantastisch ohne jede Riicksicht auf den Sinn durch andere halbwegs ahnlich klingende ersetzen.

Die Hautreflexe sind zuweilen gesteigert, ofter herabgesetzt, und zwar bald einseitig, bald doppelseitig. '

Die Sehnenphanomene sind bei der tabischen Form erloschen. Nicht selten findet man sie auch herabgesetzt bezw. erloschen in solchen Fallen, wo anderweitige tabische Symptome ganz fehlen. Bei sehr vielen Paralytikern sind umgekehrt die Sehnenphanomene gesteigert, so z. B. namentlich auch in den Fallen, welche spastischen Gang zeigen. Nicht selten verbindet sich diese Steigerung mit Fussclonus. Ungemein haufig ist auch halbseitige Verschiedenheit der Sehnenphanomene.

Blasen- und Mastdarmlahmung bleiben im Schlussstadium selten aus ; erstere kommt auch nicht selten als Friihsymptom vor. Auch Impotenz pflegt sich im Verlauf des Leidens sehr oft einzustellen.

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Dementia paralytica.

Verlauf. Man unterscheiclet im Verlauf cler Dementia paralytica am zweckmassigsten clrei Stadien:

1. Ein Prodromalstadium: die Bymptome desselben tauschen eine Neurasthenie vor.

2. Das Hohestadiura der Krankheit (auch als Stadium der Wakn- bildung zu bezeichnen) : bald verlauft dasselbe unter dem Bild einer aus- gesprocbenen Exaltation (Exaltationsstadium), bald unter dem Bild einer ausgesprochenen Depression (Depressionsstadium) , bald unter dem Bild einer ballucinatorischen Erregung (hallucinatorisches Stadium), bald endlich losen sick diese Stadien in regelmassigem oder unregelmassigem Wecksel gegenseitig ab.

3. Das Scklussstadium: einfacher, kockgradiger Sckwacksinn ist eingetreten.

Das Prodromalstadium entwickelt sick meist ganz ^ckleickend. Der Kranke klagt liber dumpfen Stirnkopfschmerz. Oft leidet der Schlaf. Appetitlosigkeit und Verdauungsbesckwerden stellen sick ein. Die Stim- mung ist im Ganzen triib, abnorm labil und zugleick abnorm reizbar. Die Patienten kaben selbst das Gefiihl, dass sie einer schweren Krankkeit entgegengeken. Geistige Arbeit fallt iknen sckwer: sie versckreiben, versprecken und verrecknen sick oft. Ikr Gedacktniss lasst sie oft im Stick. Der Umgebung fiillt bereits ausser der Langsamkeit bei geistiger Arbeit auch ein Mangel an Umsicht und Kritik auf. Auck mackt sich bereits eine Gleichgiltigkeit gegen friiker gepfiegte kokere Interessen geltend. Die kbrperliche Untersuckung fallt zuweilen negativ aus, zu- weilen findet sich schon jetzt Hypalgesie oder Pupillenstarre oder eine leichte Facialisparese oder auck eine leichte Storung der Spracke.

Im Laufe der weiteren Entwicklung tritt der intellectuelle Defect immer deutlicker hervor: der Kranke verlegt wicktige Documente, irrt sich in Geldangelegeukeiten um erkeblicke Summen, steigt bei Reisen auf falscken Stationen aus, vergisst Verabredungen , lasst auf Briefen die Angabe des Wohnorts des Adressaten weg, verweckselt Personen und Gegenstande. Zugleick andert sick die Affectlage: der Kranke setzt sick liber seine geistige Veranderung jetzt leickter kinweg. Das Krank- heitsbewusstsein nimmt in ganz ckaracteristiscker Weise ab. Riikrselig- keit und Jahzorn Ibsen sick ganz unvermittelt ab. Der Defect der ethischen Gefiihlstbne kommt zur Geltung: ganz gegen seine friikere Gewohnkeit gekt der Kranke jeden Abend und bfter auck mitten wakrend seiner Geschaftszeit in das Wirthshaus. Er lasst sick mit allei'kand Frauenzimmern ein und genirt sick nicht wenn auch verkeiratket am hellen Tage mit einer Dime iiber die Strasse und selbst an seiner eigenen Wohnung vorbeizugeken. Auck zu iibereilten Verlobungen mit social viel tiefer stebenden Personen (Kellnerinnen , die der Kranke in

Dementia paralytica.

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schwachsinniger Weise idealisirt u. s. w.) kommt es nicht selten. Mitunter kommt es direct zii sexiiellen Delicten. Ueber allerhand VergniiguDgen vernacblassigt der Kranke seinen Beruf. Um seine Familie kiimmert er sich nicht mehr. Im ehelichen Leben fallt die Schamlosigkeit und Un- massigkeit seiner Forderungen auf. Seinen Vorgesetzten gegeniiber ver- gisst er den Kespect, seinen Untergebenen gegeniiber die Keserve. Er macht sich mit Jederraann gemein und gefallt sich in Zoten und Cynis- men. Fremden gegeniiber fallt seine Taktlosigkeit auf. Auch vernach- lassigt er seine Toilette; ohne Kravatte, die Kleider nicht zugeknbpft geht er in Gesellschaften und in das Theater. Oft schlaft er wahrend eines Diners oder wahrend der Vorstellung ein.

Auf kbrperlichem Gebiet sind jetzt fast stets schon deutlichere Symptome vorhanden. Insbesondere ist die Sprachstorung jetzt meist schon nachzuweisen.

Das Hohestadium der Dementia paralytica ist am haufigsten ein Exaltationsstadium. Man bezeichnet diesen Verlauf daher auch als den „klassischen“. Eine krankhafte Heiterkeit iiberfallt den Kranken. Zugleich stellt sich Ideenflucht und Bewegungsdrang ein. Auffallig rasch kommt es zu secundaren (afifectiven) Grbssenideen. Diese tragen bereits das Geprage eines hochgradigen Intelligenzdefects (s. o.). Der Kranke lasst sich in enorme Speculationen ein, macht sinnlose Waareneinkaufe, beschenkt alle Welt, verschwendet fiir sinnlosen Putz in wenigen Tagen Tausende. Ohne entsprechende Mittel tritt er grosse Keisen an und bestellt allenthalben feine Diners und Sect. Theils in Folge der weiteren Steigerung des Bewegungsdrangs , theils in Folge des Widerstandes, welchen die Umgebung schliesslich dem Kranken ent- gegensetzt, stellt sich voile Tobsucht ein. Der Kranke schreit, singt, zerstbrt. Der Intelligenzdefect und die Ideenflucht vereinigen sich seinen Vorstellungsablauf ganz des Zusammenhangs zu berauben. Er zerreisst seine Kleider, schmiert „herrliche Gemalde" mit seinem eigenen Koth an die Wand, trinkt seinen Urin „als Champagner". Bald will er alle Welt begliicken und umarmen, bald ist er in hbchstem Maasse aggressiv. Der Schlaf fehlt oft wochenlang vollstandig. Die korperlichen Symptome sind z. Th. weniger ausgesprochen, wie z. B. die Sprachstorung (s. o.), theils entziehen sie sich in Anbetracht der Erregung des Kranken einer genaueren Feststellung. Das Exaltationsstadium klingt meist allmahlich ab und geht oft direct in das Schlussstadium des einfachen Blbdsinns iiber.

In anderen Fallen findet man statt des Exaltationsstadiums ein aus- gesprochenes Depressionsstadium. Meist schliesst sich ein solches direct an die hypochondrische reizbare Stimmung des Prodromalstadiums an. Mehr und mehr beherrscht eine primare Depression den Kranken. Schwere Angstaffecte kommen hinzu. Die gleichzeitig sich einstellende Denkhem-

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Dementia paralytica.

lining llisst den Kranken noch defecter erscheinen, als er thatsachlich ist. belli’ raseh stellen sicli aucli entsprechende Walmvorstellungen ein und zwar vorwiegend schwachsinnige liypochondrische Wahnideen (s. o.). Bald bedingt die Angst ein katatonisches Verhalten, bald fiihrt sie zu schwerer Agitation. Selbstmordversncbe sind in diesem Stadium (und auch im ersten Absebnitt des Prodromalstadiums) nicht selten. Manche Kranken besebranken sicb aiif ein ununterbroebenes monotones Jammern. Trotz der bypoebondriseben Vorstellungen kommt es selten zu einer consequenten Nabrungsverweigerung. Masturbation, welcbe im Exaltationsstadium sebr baufig ist, wird ziiweilen aucb im Depressionsstadium beobaebtet. Aucb dies Depressionsstadium klingt meist allmablicb ab und gebt oft direct in die terminale vollige Demenz iiber. Die korperlicben Symptome sind meist leiebt nacbzuweisen.

Seltener sebliesst sicb an das Vor stadium ein bal lucinatorisebes Stadium. Auf Grund zablreicber, pldtzlicb oder allmablicb auftaueben- der Sinnestausebungen gelangt der Kranke zu zablreicben Verfolgungs- ideen und Grossenideen. Wenn die Sinnestausebungen sicb sebr scbnell baufen oder iiberbaupt sebr massenbaft auftreten, kommt es zu beftigen ballucinatoriscben Erregungszustanden. In anderen Fallen findet man einen ballucinatoriscben Pseudostupor. Aucb dies ballucinatoriscbe Sta- dium kann, allmablicb abklingend, direct in voile Demenz ubcrgeben.

In den seitber betraebteten Fallen war das Hobestadium insofern einfacb, als es aussebliesslieb entweder unter dem Bild einer Exal- tation oder unter dem einer Depression oder unter dem einer balluci- natoriscben Erregung verlief. Sebr oft beobaebtet man, dass innerbalb des Hobestadiums versebiedene Pbasen, in regelmassiger oder unregel- massiger Reibenfolge, sicb ablosen. So kann z. B. an die exaltirte Phase eine Depression sicb ansebliessen oder umgekebrt. Mitunter kommt es zu einem mebrmaligen Wecbsel eines Exaltations- und eines Depressionsszustandes. Man spriebt dann von circularem Verlauf. Ferner sebieben sicb ballucinatoriscbe Erregungszustande niebt selten in das Exaltations- oder in das Depressionsstadium oder zwiseben beide binein. Zuweilen gebt wabrend der ganzen Exaltation bezw. Depression eine entspreebende ballucinatoriscbe Erregung nebenber.

Sebr ebarakteristiseb fiir den Verlauf im Hobestadium sind aucb die sog. Bemissionen. Aucb im Prodromalstadium kommen sie ab und zu vor, selten im Scblussstadium. Hire Dauer scbwankt zwiseben einigen Woeben und mebreren Monaten. Selten sind Bemissionen von iiber Jabreslange. In denselben sebwinden niebt nur die Aftectstbrungen, die Wabnvorstellungen und Sinnestausebungen vollstandig, sondern aucb der Intelligenzdefect und die korperlicben Ausfallserscbeinungen geben bis zu einem gewissen Grade zuriick. Oft bedarf es einer sebr genauen

Dementia paralytica.

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Uutersuchung, urn Krunklieitss])ureu noch aufzufiucleu. Ain hartniickigsten trotzt auf psychiscliem Gebiet in der Regel der Defect der complicirteren intellectnelleu (jefiihlstoue ancli der weitgehendsten Remission. Nacli Ablaiif einer solchen Remission Icann sich uochmals ein Depressions- oder Exaltationsstadium einstellen oder es kann direct der Uebergang in das Scblnsstadium erfolgen.

Das S c h 1 u s s t a d i u m entwickelt sich meist allmalilich aus dem vorhergehendeu. Nicht selten beobachtet man jedoch auch, dass es zu einem ausgesprochenen Hohestadium nicbt kommt, sondern dass nach dem oben geschilderteu Prodromalzustand ohne erheblicbere alfective, halliicinatorische, wabnhafte iind motorische Erregung iinmittelbar, bald rascher bald langsamer eine progressive Demenz sich entwickelt, welche zu volliger Verblodung fiihrt. Das Terminalstadium gelit in diesen Fallen aus dem Prodromalstadium ganz allmahlicli entsprechend dem zunehmenden intellectuellen und motorischen Yerfall hervor.

Ab und zu nimmt der Kranke noch einige Wahnvorstellungen in dies Schlusstadium mit hiniiber. So murmelt mancher trotz seiner Hilf- losigkeit, fast sterbend, noch etwas von Kronen und Milliarden. Seltener persistiren Rudimente der hypochondrischen Vorstellungen. Meist herrscht eine leichte Euphorie vor, oft besteht auch voUige Apathie. Bald herrscht vollige motorische Triigheit, bald besteht bis zum Schluss ein grosserer Bewegungsdrang. In letzterem Fall nestelt und reisst und knopft der Kranke den ganzen Tag an seinen Kleidern oder er macht mit den Handen Bewegungen, als iibte er seinen friiheren Beruf aus. Andere laufen ruhelos umher und sammeln allerhand Unrath (Kiesel, welke Blatter, Papierschnitzel u. dgl.). Ein klares Motiv ist fiir diese sog. Sammelsucht oft garnicht festzustellen ; jedenfalls messen die Kranken den gesammelten Scherben oft grossen Werth bei. Die Verunreinigungen haufen sich.

Zugleich treten jetzt die korperlichen Ausfallserscheinungen mehr und mehr in den Vordergrund. Eine constante Reihenfolge ihres Auf- tretens existirt nicht, nur der progressive Charakter wird nie vermisst. Bald leidet die Sprache zuerst und in besonderem Maasse, bald der Gang, bald die Schrift, bald das Greifen der Hande u. s. w. Zum Schluss kommt es oft auch zu Lahmungen der Schlundmuskeln und zu Zahneknirschen. Meist sind die Kranken wahrend der letzten Zeit an das Bett gefesselt, da sie weder zu steheu noch zu gehen vermogen.

Der Gesammtverlauf der Krankheit erstreckt sich beim Manne iiber ca. 3 4 Jahre, bei der Frau iiber 5 6 Jahre. *) Durch inter- currente Krankheiten (Pneumonie u. dgl.) kommt es sehr haufig schon

*) Ganz ausnahmsweise hat man eine mehr als lOjahrige Dauer beobachtet.

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viel friiher zu einem todtlichen Ende. In manchen Fallen beobachtet man auch einen acuteren Verlauf der Hirnkrankbeit selbst. Meist ge- horen diese Falle der sog. klassischen Form an. Prodromalerscheinungen gehen nur kurze Zeit und nur in geringer Zahl und Intensitat voraus. Jail bricht eine bochgradige Ideenflucht, ein maassloser Grbssenwahn und eine scbwere Tobsucbt aus. Dieser Erregungszustand dauert einige Wochen. Geht der Kranke nicbt in ihm zu Grunde, so findet man bei seinem Abklingen bereits einen bochgradigen Schwachsinn und ausge- breitete Lahmungen, kurz einen Verfall, wie man ihn sonst meist nur nach jahrelangem Verlauf im Scblussstadium beobachtet. Man bezeicbnet diese Form auch als die galoppirende Form der Paralyse.

Der Verlauf der Krankheit erleidet sehr haufig eine wichtige Unterbrechung durch die sog. paralytischen Anfalle. Man versteht darunter mehrtagige fieberhafte Zustande, welche mit schweren corti- cal en Keiz- und Ausfallserscheinungen einhergehen. Das Bewusstsein ist haufig aufgehoben. In anderen Fallen sind alle psychischen Vor- gange nur verlangsamt und reducirt. Auf Stiche und Anruf reagiren die Kranken daher garnicht oder nur sehr schwach. Koth und Urin lassen die Kranken unter sich gehen. Die Sprache ist aufgehoben oder auf ein Lallen beschrankt. Meist besteht eine sehr deutliche Schluck- storung. Das Fieber steigt bisweilen fiber 40®. Meist ist es wahrend der Dauer des Anfalls continuirlich ; die Morgenremissionen sind meist sehr gering. Die Pulswelle zeigt eine auffallige Dikrotie. Das Gesicht ist oft stark gerothet,*) zuweilen jedoch auch blass. Die Pulsfrequenz ist nicht im Verhaltniss zur Fiebertemperatur gesteigert. Die Reiz- und Ausfallserscheinungen spielen sich namentlich auf dem motor ischen Gebiet ab. Man kann zwei Typen des Anfalls unter scheiden. Bei dem ersten Typus findet man zunachst und vorwiegend Ausfallserscheinungen, Plotz- lich oder auch im Laufe einiger Stunden stellt sich eine halbseitige vollige Lahmung oder Parese ein. Hebt man die Glieder der paretischen Kor- perhalfte in die Hohe und lasst sie dann los, so fallen sie lediglich der Schwerkraft folgend auf die Unterlage zurfick. Auf der anderen Korper- halfte stossen hingegen passive Bewegungen auf einen merklichen Wider- stand, und die erhobenen Extremitaten sinken, wenn man sie loslasst, langsam auf die Unterlage zurfick, da der Kranke durch willkfirliche Innervation der Schwerkraft entgegenwirkt. Oft beobachtet man gerade- zu gesteigerte Spannung in der Muskulatur der nicht-gelahmten Korper- halfte. Bei vblligem Coma findet man selbstverstandlich beiderseits ab- solute Resolution. Erst im weiteren Verlauf konnen in den gelahmten

*) Congestionen sind bei Dementia paralytica aucb ohne paralytischen Anfall Sehr haufig- Oft ist dabei die centrale Temperatur sogar auffallig niedrig.

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Muskeln auch Reizerscheinungen iiud zwar meist clonische Krampfe auf- treten. Ihr corticaler Charakter verrath sich clarin, dass der Clonus meist in einem bestimmten Muskelgebiet beginnt und allmahlich erst anf die iibrigen Muskelgnippen derselben Korperhalfte iibergebt. Die Reibenfolge, in welcher die einzelnen Muskelgruppen ergrifFen werden, entspricbt der raumlichen Anordniing ibrer Centren in der Hirnrinde. Nacbdem der Krainpfanfall die eine Korperhalfte ganz durchwandert bat, ergreift er zuweilen aucb nocb die nicbt-gelabmte Korperhalfte. Der Orbicularis oculi und einige andere Muskeln, welcbe neben der ge- kreuzten Rindeninnervation aucb eine ausgiebige gleicbseitige Rinden- innervation besitzen, betbeiligen sich meist von Aufang an beiderseits am Krampf, nur auf der gelahmten Seite etwas starker als auf der nicbt-gelabmten. Statt des cloniscben Krampfes oder aucb neben dem cloniscben Krampf beobacbtet man baufig aucb einen toniscben Krampf. Letzterer ist an die Reibenfolge des cloniscben Krampfes nicbt gebunden. Die Augen zeigen oft einen lebhaften Nystagmus oder aucb eine con- jugirte toniscbe Deviation nacb der krampfenden, gelahmten Seite. Der Kopf ist gleichfalls nacb dieser Seite gedrebt (fast stets toniscb). Wenn der Krampf spater auf die andere Korperhalfte uberspringt, wecbselt aucb die Drebung der Augen und des Kopfes: d. b. Kopf und Augen wenden sich der jetzt krampfenden nicbt-gelabmten Korperhalfte zu. Der einzelne Krampfanfall dauert meistens einige Minuten, zuweilen uber eine Viertelstunde. Gewbbnlicb wiederbolt er sich bfter. Mit- unter folgen die einzelnen Anfalle so rascb auf einander, dass man von einem epileptiformen Status sprechen kann. Seltener beobacbtet man wabrend des ganzen paralytiscben Anfalls vereinzelte , unregel- massig vertbeilte clonische Krampfbewegungen. Sebr baufig ist ununter- brocbenes Zabneknirscben.

Bei dem soeben bescbriebenen paralytiscben Anfall ging die Lab- mung dem epileptiformen Krampfbewegungen voran. Haufig ist es um- gekebrt. Bei den Anfallen des zweiten Typus stiirzt der Kranke plotz- lich unter Krampfbewegungen zu Boden. Der Ablauf des Krampfanfalls entspricbt ganz der oben fiir den ersten Typus gegebenen Bescbreibung. Nacb dem Krampfanfall kann man fast stets eine ausgesprocbene Hemi- parese in der von den Convulsionen zuerst und am intensivsten be- troffenen Korperhalfte feststellen. Kopf und Augen zeigen unmittelbar nacb dem Krampfanfall oft eine conjugirte Deviation nacb der nicbt- gelabmten Seite. Die Krampfanfalle kbnnen sich beliebig oft wieder- bolen.

Zwiscben den paralytiscben Anfallen des ersten Typus und den- jenigen des zweiten Typus bestebt kein scbarfer Unterscbied. Zuweilen bat man die ersteren aucb als apoplectiforme, die letzteren als

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epileptiforme Anfalle bezeichnet. Oft lasst sicli garnicht feststelleu ^

ob zuerst die Labmung oder zuerst der cloniscbe Krampf aufgetreten ^ ist. Man spricbt daber besser nur von paralytiscben Anfallen scblecbt- i

weg und fiigt je nacb deni Tbatbestand binzii , mit“ oder obne eni- leptifornie Kl•ampfe^^ ^ -

Vergleicbt man die Acbseltemperatur der gelabmten und der nicbt gelabmten Kbrperbalfte, so findet man diejenige der ersteren oft um ' mebr als 1“ bober. Ebenso ist die Hauttemperatur in der Kegel auf dei gelabmten Seite etwas bober als auf der nicbt gelabmten. Nacb i jedem epileptiformen Anfall ist die Korpertemperatur (im Rectum ge- messen) fast stets erbeblicb gestiegen, zuweilen um mebr als S®. Er- folgen keine neuen Anfalle, so gebt diese Steigerung bald wieder zuriick.

l)ie Hautreflexe und Sebnenpban omene sind nur in den allerscbwersten Anfallen beiderseits erloscben. In den meisten Anfallen |i sind die &ebnenpbanomene auf der Seite der Labmung gesteigert, die Hautreflexe auf der Seite der Labmung berabgesetzt oder erloscben. Aucb kann auf derselben Seite Fussclonus bestehen. So ist man oft in der Lage aucb bei vollig bewusstlosen Kranken auf der Hohe des An- falls zu entscheiden, welcbe Seite vorzugsweise von der Labmung ^ betrofien ist. Die Cornealrefiexe sind in den scbwersten Fallen er- loscben.

Die Beriibrungsempfindlicbkeit liisst sicb nur in den leicbteren Fallen prufen. In diesen ist, wie aus den lallenden Ant- worten des Kranken bezw. seiner Gesticulation zu entnebmen ist, auf der gelabmten Seite die Berubriingsempfindlicbkeit nicbt vollig aufgeboben. Dagegen vermag der Kranke Berubrungen dieser Korperbalfte gar nicbt oder nur ganz unvollkommen zu localisiren.

Die Scbmerzempfiudlicbkeit ist in den scbwersten Fallen beiderseits aufgeboben. In alien anderen Fallen ist sie nur auf der Seite der Labmung berabgesetzt: es ergiebt sicb dies daraus, dass die mi- miscbe Verziebung des Gesicbts sowie die Abwebrbewegungen Gel scbwacber sind, bezw. iiberbaupt erst bei viel tieferen Sticben erfolgen.*)

In leicbteren Fallen lasst sicb aucb eine Herabsetzung der Ge- rucbs- und Horscbarfe und eine Hemiamblyopie entsprecbend der Seite der Labmung feststellen: der Kranke kommt Aufforderungen nicbt nacb, wenn ibm das Obr auf der nicbt-gelabmten Seite zugebalten wird, und er blinzelt nicbt, wenn man von der Seite der Labmung ber mit dem Finger auf das recbte oder linke Auge zufabrt.

*) Hierin lediglich eine motorische Stoning zu erblicken verbietet sicb deshalb, weil die Gesichtsverziebung oft ganz symmetriscb ist und bei Sticben in die nicbt- gelabmte Korperbalfte oft aucb in der paretiscben Gesicbtsbalfte prompt eine Ver- ziebung eintritt.

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Zuweilen sind diese balbseitigen sensiblen und sensorischen Er- scbeinungen aiiffallig stark aiisgesproclien , wiilirend die motorischen Symptome ziiriicktreteu. Es besteht dann eiue complete Hemianalgesie, Hemianosmie und Hemianopsie. Audi macbt der Kranke oft eigen- tliiimlicbe Bewegungen mit dem gesunden Arm, als sucbte er den Arm der bemianalgetiscbeu Korperhalfte : aucb das Muskelgefiihl ist lialbseitig erloscheii. In diesen sensorischen paralytischen Anfiillen treten aucli bfters balbseitige Hallucinationen auf: der Kranke fiihlt sich auf der hemianalgetisclien Seite gezwickt, sieht Gestalten in dieser Hiilfte des Gesichtsfeldes und hort sich von derselben Seite her rufen.

Die Dauer des einzelnen paralytischen Anfalls sowie seine Inten- sitiit ist sehr wechselnd. Manche sind so leicht, dass der Kranke kaum mehr als einen leichten Schwindel, eine voriibergehende Schwache der einen Korperhalfte oder auch nur ein voriibergehendes Versagen der Sprache bemerkt. Namentlich im Prodromalstadium sind diese leichten Anfiille sehr haufig und diagnostisch von grosser Bedeutung. Die spateren Anfalle sind geivobnlich intensiver und langer dauernd. Die Durchschnittsdauer vom Beginn des Fiebers bis zum Schwinden des- selben belauft sich auf 2—3 Tage. Doch kommen auch Anfalle von mehr s t ii n d i g e r Dauer vor.

Nach dem Anfall bilden sich die Erscheinungen ausserst rasch zuriick. Man ist erstaunt, wie eine fast vollige Lahmung binnen 24 Stunden wieder fast ganz verschwindet. Es hilngt dies damit zusammen, dass diesen Anfallen lediglich Circulationsstorungen , keine groberen anatomischen Lasionen zu Grunde liegen. Die Section ergiebt wenigstens oft keine an- deren Befunde bei Paralytikern, welche im Anfall gestorben sind, als bei Paralytikern, welche nie Anfalle gehabt haben und auch nicht im Anfall gestorben sind. Untersucht man iibrigens den Zustand nach dem Anfall genauer, so ergiebt sich doch, dass der Status quo ante nicht vbllig zuriickgekehrt ist : eine leichte Parese des einen Mundfacialis oder Hypo- glossus Oder Armes u. s. w. ist zuriickgeblieben, die Sprache stockt etwas mehr, die Intelligenz ist wieder um eine Stufe tiefer gesunken.

Ausser den eben beschriebenen paralytischen Anfallen beobachtet man gelegentlich auch fieberhafte Zustande, welche in ihrem iiusseren Bild ihnen sehr gleichen, fiir welche jedoch die Section eine acute Pachymeningitis haemorrhagica interna als Ursache nach- weist. Verlangsamung und Unregelmassigkeit des Pulses, Stauungspapille, Miosis sind fiir die schwereren Falle charakteristisch. Auch die mo- torische Agitation der liranken (allerhand anscheinend zweckmassige Greifbewegungen), ihr Irrereden, die Unorientirtheit, der mehr taumelnde als hangende Gang deuten auf Pachymeningitis. Die Riickbildung der Symptome ist stets eine langsamere.

Ziehen, rsychiatrie.

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Dementia paralytica.

Zuweilen kommen im Verlauf einer Dementia paralytica auch echte epileptische Anfalle vor; meist bestand in diesen Fallen schon vor AuSbruch der Dementia paralytica eine syphilitiscbe genuine Epilepsie. Auch echte choreatische Bewegungsstbrungen kommen zuweilen zur Beobachtung; meist halten sie einige Wochen oder Monate an und verschwinden dann vollstandig oder machen anderen Bewegungsstorun- gen Platz,

Eine besondere Verlaufsweise zeigen manclie Falle, in welchen peri- pheriscbe oder spinale Erscheinungen lange Zeit isolirt bestehen und erst spat cerebrale bezw. corticale Symptome hinzutreten. So kann z. B. eine peripherisclie Peroneus- oder Abducenslahmung jahrelang dem Aus- bruch’der corticalen Stbrungen vorausgehen. In anderen Fallen geht z. B. eine spinale Paraparese der Beine, welche geradezu eine Trans- versalmyelitis vortauschen kann, der Dementia paralytica voraus. Die haufigste dieser Varietaten ist die sog. Tabesparalyse. Bei dieser besteht jahrelang zunachst eine Tabes in typischer Form und erst nach Jahren schliesst sich an die Tabes der Symptomencomplex der Dementia paralytica an. Der ganze Verlauf erstreckt sich dementsprechend zu- weilen iiber 10 und mehr Jahre.

Ausgange und Prognose. "Die Dementia paralytica ist un- heilbar.*) Die Remissionen tauschen, wenn sie erheblich sind und langer wahren, mitunter Heilung vor. Stets endet die Krankheit binnen der oben angegebenen Zeit todtlich. Der Tod erfolgt bald in Folge einer Lungenentzundung (Schluckpneumonie u. dgl.) bald in Folge einer Cystitis und Pyelonephritis , bald in Folge eines schweren Darm- katarrhs. Bei anderen fiihrt der Decubitus zum Tode. Auch ein all- gemeiner Marasmus kann im Schlussstadium zu tbdtlicher Herzschwache fiihren. Nicht wenige Kranke gehen schon vor dem Schlussstadium zu Grunde, so namentlich in einem paralytischen Anfall; letzterer fiihrt mitunter ohne weitere Complication an sich zum Tode, bald zieht sich der Kranke im Anfall eine tbdtliche Pneumonie zu.

Varietaten. Zahlreiche Varietaten sind bei der Besprechung des Krankheits V e r 1 a u f s bereits erortert worden. Die iibrigen werden im Anschluss an die Aetiologie (s. u.) behandelt.

Aetiologie. Erbliche Belastung ist in 40% Falle nachweisbar, schwere erbliche Belastung kaum in 10 %. Das Auf- treten der Krankheit fallt am haufigsten in das 4. und5. Lebens- jahrzehnt. Im 3. Lebensjahrzehnt sowie im 6. ist sie bereits er- heblich weniger haufig. Vor dem 20. Lebensjahr, also im ersten und

*) In der ganzen Literatur finden sich nur etwa 12 Heilungeii, welche der Kritik einigermaassen Stand halten.

Dementia paralytica.

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zweiten Lebeusjahrzelmt siud iu cler ganzen Literatur nur etwa 40FalIe bekauut. Diese sog. infantile Paralyse zeigt sehr selten den klassischen Verlaiif; aucli schwere Depressionsstadien sind selten. In zwei Drittel der zugehorigen Falle ist liereditare Syphilis nachweisbar. Es handelt sicli fast um ebensoviele Madchen wie Knaben.

Die Paralyse des mittleren Lebensalters ist bei dem inannlichen Geschlecht 7 bis 8 mal hanfiger als bei dem weiblichen. Bei dem Manne ist sie im mittleren Alter fast ebenso haufig wie die Paranoia. Der Verlauf der Dementia paralytica bei der Frau deckt sich im Ganzen mit dem oben beschriebenen bei dem Manne. Die Grossenideen haben oft einen sehr stereotypen Inhalt. Die Kranke hat zahllose Kleider, viele Geliebten, tansend Kinder u. dgl. Depressive Zustande sind etwas seltener. Die sexuelle Schamlosigkeit tritt meist schon friih in den Vordergrund.

Die Hauptursache ist imzweifelhaft die Syphilis. In mehr als 50 % aller Falle lasst sich mit Sicherheit eine vorausgegangene Infection nachweisen. Auf Grund einer anderen statistischen Berechnung hat man die atiologische Bedeutung der Syphilis auch durch folgenden Satz aus- gedruckt: Der Syphilitische ist 16 mal mehr der Gefahr ausgesetzt an Paralyse zu erkranken als der Nicht - Syphilitische. Zwischen der In- fection and dem Ausbruch der Dementia paralytica liegen oft mehr als 10 Jahre. Die Secundarerscheinungen sind oft auffallig geringfiigig. Ausser der Syphilis scheint auch die Rachitis eine Pradisposition fiir Paralyse zii schaffen.

Chronischer Alkoholi smus findet sich bei ca. 20 %.*) Kopftraumen spielen gleichfalls ab und zu eine atiologische Rolle. Von grosser atiologischer Bedeutung sind intellect uelle Ueber- anstrengung und affective Erregung. Letztere ist namentlich dann wirksam, wenn es sich um chronische Gemlithsbewegungen handelt. Rheumatische Schadlichkeiten und sexuelle Excesse spielen eine geringere Rolle.

In den meisten Fallen entsteht die Dementia paralytica auf Grund

mehrerer atiologischer Momente. Selten geniigt ein einziges.

Aus der obigen Darstellung lasst sich ohne Schwierigkeit verstehen, dass manche S t a n d e besonders zur Paralyse zu disponiren scheinen. So ist z. B. unzweifelhaft, dass Offiziere, Grosskaufleute u. s. w. in besonders grosser Zahl erkranken. Alkoholexcesse, Syphilis, mangel- hafte Nachtruhe treffen bei beiden zusammen; Zuriicksetzungen und Krankungen im Dienst kommen bei den ersteren, die Sorgen der Con- currenz und das iiberhastete Arbeiten im Affect bei letzteren hinzu.

*) Man muss sich httten, die Alkoholexcesse 'im Exaltationsstadium mit chroni- schem Alkoholismus zu verwechseln. Auch der'Abusus Nicotianae kommt zuweilen als Mitursache in Bctracht.

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Dementia paral3'tica.

In friiheren Jahrliuuderten sclieint die Dementia paralytica iiberhaupt niclit oder nur liochst selten vorgekommen zu sein, in manchen ausser- europixischen Liindern (z. B. Japan) ist sie nocli jetzt sehr selten. In anderen (z. B. Algier) ist sie von Jalirzehnt zu Jahrzehnt mit dem Ein- dringen der Syphilis und des europaisclien Culturlebens haufiger gevvorden.

Diagnose. Im Brodromalstadium ist namentlich die Verweclislung mit Neur astlienie naheliegend und gefahrlich, letzteres namentlich deshalb, xveil der Kranke, wenn der Arzt ihn falschlich fiir einen Neur- astheniker halt und daher nicht der geschlossenen Anstalt iiberweist, durch Excesse sich und seine Eamilie um Ruf und -Vermogen bringt. Differentialdiagnostisch ist Folgendes zu beriicksichtigen. Ein acuter, pldtzlicher Zusammenbruch der intellectuellen Leistungsfahigkeit spricht im Allgemeinen fiir Neurasthenie, eine schleichende Entwicklung der Symptome fiir Paralyse. Die Denkhemmung des Neurasthenikers ist nicht mit dem Defect der asthetischen und .ethischen Gefiihlstdne ver- kniipft, welch er fiir die beginnende Demenz des Paralytikers bezeichnend ist. Verdachtig auf Paralyse ist stets auch eine erheblichere Stimmungs- labilitat. In der Zeitrechnung irrt sich der Neurastheniker hochstens um drei Page, der Paralytiker oft um mehr. Unter den korperlichen Symptomen sind Parasthesien, Schwindel, Kopfschmerz, Schlaflosigkeit beiden Krankheiten gemeinsam. Schwindelanfalle mit voriibergehender Aphasie sprechen in hohem Maasse fiir Dementia paralytica. Bei der Verwerthung einer Sprachstorung fiir die Diagnose bedarf es einiger Vorsicht, da Neurastheniker im Affect und in der Ermiidung zuweilen stockend und zitternd sprechen und gelegentlich selbst auch Worte und Konsonanten versetzen. Auch die hypochondrische Besorgniss, die para- lytische Sprachstorung sei vorhanden, kann bei dem Neurastheniker ge- legentlich Articulationsstorungen bedingen. Facialis- und Hypoglossus- paresen sind nur zu verwerthen , wenn ihr e r w o r b e n e r Charakter feststeht (s. S'. 170). Hypalgesie spricht sehr entschieden fiir Paralyse. Noch beweisender sind Pupillenstarre und WestphaPsches Zeichen: aus beiden ist direct auf organische Lasion zu schliessen, Neurasthenie kommt nicht mehr in Frage, und nur die Moglichkeit der Hirnsyphilis (s. u.) •bedarf noch der Erwagung. Auch einseitige Steigerung der Sehnen- phiinomene sowie Aufhebung des Achillessehnenphanomens ist stets sehr verdachtig. Auf der Krankheitshohe sind Verwechslungen mit Manie (im Exaltationsstadium)*), mit Melancholie (im Depressionsstadium) und mit Paranoia im hallucinatorischen Stadium moglich. Die eiuschla-

*) Hierzu ist auch Fig. 1 und Fig. 6 der physiognomischen Tafeln zu vergleichen. Erstere stellt eine Manie, letztere eine Paralyse dar. Der Gesichtsausdruck der Exal- tation ist beiden gemeinsam, die Mundfacialisliihmung lasst den Paralytiker erkennen.

Dementia paralytica.

437

gigen Differentialdiagnosen sincl bei Darstellung cler Manie , Melan- cholie unci Paranoia bereits eingebeud erortert worden.

Die Unterscheidung von H e e r d e r k r a n k u n g e n des Gehirns bietet zuweilen grossere Schwierigkeit. Es giebt Ealle cler Dementia para- lytica, in welcben im Beginn cler Krankheit zu einer Zeit, wo cler In- telligenzclefect noch ganz imerbeblich ist, ein isolirtes, markantes Heercl- symptom, z. B. eine motoriscbe Apbasie ocler eine Paraphasie ocler eine isolirte Hemianopsie besteht. Der weitere Verlauf lehrt in diesen Fallen iinzweideutig , dass es sich um eine Dementia paralytica lianclelt. Die Section liefert spater fiir den eigenartigen Beginn des Leiclens oft keine Erklarung, unci nur in seltenen Fallen ergiebt die makroskopische ocler mikroskopische Untersuchnng neben cler diffusen Rinclenerkrankung eine circumscripte , besonclers scbwere Rinclenerkrankung an cler erwarteten Stelle (z. B. eine Sclerose cler linksseitigen Temporalwindimgen bei ini- tialer sensoriscber Apbasie). Diese monoplegisch beginn en den Formen der Dementia paralytica nun tanschen begreiflicber Weise leicbt eine Heerclerkrankung vor. Nur eine genaue anamnestiscbe Erbebung iiber das Verbalten cler Intelligenz unci eingebende Priifung des gegen- wiirtigen intellectuellen Besitzstancles scbiitzen vor Verwecbslung.

Specielle Scbwierigkeit macbt die Unterscbeiclung von der Syphilis des Gebirns, cl. b. einer organiscben Erkrankung des Gebirns, bei wel- cber nur specifiscbe gummose Processe an circumscripten Stellen des Gebirns sicb vorfinclen. Da die sypbilitiscbe Heerclerkrankung Fern- wirkungen auf die ganze Hirnrincle ausiiben kann, so kommt es oft zu scbwerer Incobarenz und Unorientirtbeit, zu allerband Wabnvorstellungen unci ballucinatoriscben Erregungszustanclen , in ancleren Fallen zu pro- trabirten soporosen Zustiinden mit auffalliger Apatbie und Denkbem- mung. Damit ist offenbar die Gelegenbeit zu Verwecbslungen gegeben. Differentialcliagnostiscb ist zu beriicksicbtigen, class bei der Syphilis des Gehirns nur Hemmung und Incobarenz vorliegen, wabrend fiir Dementia paralytica cler Defect charakteristiscb ist. Lasst bei ersterer die Er- regung bezw. in ancleren Fallen die Hemmung etwas nacb, so ist man uber die auffallige Klarbeit mancher Urtbeile erstaunt, wabrend in den freieren, rubigeren Pbasen cler Dementia paralytica cler Defect meist ge- rade erst recbt zu Tage tritt. Dazu kommt die Stabilitat der Lahmungs- erscbeinungen bei cler Syphilis des Gebirns, cler Wecbsel derselben bei der Dementia paralytica. Fncllich kommt besitirende Spracbe nur ,der letzteren zu. Freilicb reicbt in manchen Fallen dies alles zu einer sicberen Diagnose nicht aus. Entscbeidend ist clann cler Ausfall der antisyphilitischen Tberapie. Aucb ist zu beriicksicbtigen , class im An- schluss an eine sypbilitiscbe Heerderkrankung (Syphilis cerebri) eine diffuse Rindenveranclerung sicb entwickeln kann, welcbe ganz derjenigen

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Dementia paralytica.

der Dementia paralytica entspriclit ; demeiitsprecheud beobachtet man klinisch, dass zu den uncomplicirten Symptomen eines Syphiloms bezw. einer gummosen Meningitis spater die typischen Symptome einer Dementia paralytica hinzutreten: *) die Hirnsypbilis ist in Dementia paralytica iiber- gegangen. Schliesslicli kommt nocb in Betracbt, dass auch anatomiscb von Anfang an zwiscben der diffusen paralytischen Rindenerkrankung und der sog. gummosen Infiltration Uebergangsformen existiren. Man wird daher selbst aiif Grund des ganzen klinischen Verlaufes und des Sectionsbefun- des nicbt in alien Fallen eine absolut scharfe Diagnose stellen konnen.

Auch im Prodromalstadium der Dementia paralytica ist mitunter eine Verwechslung mit Hirnsyphilis und zwar mit der sog. Forme cephalalgique moglich. Man findet Pupillenstarre, Kopfschmerzen und geistige Erschbpfung. Handelt es sich nun urn Dementia paralytica incipiens oder urn eine Form der Hirnsyphilis? Maassgebend ist, ob die Sprache hesitirend ist und ein ethischer Defect, eine Charakterveran- derung nachweisbar ist. Ist die Sprache intact, sind keine Tactlosig- keiten und selbstverstandlich auch keine groben Gedachtniss- und Urtheils- defecte vorgekommen, so wird man vorlaufig Dementia paralytica ausschliessen vorlaufig: denn eine weitere Beobachtung solcher Falle lehrt, dass viele schliesslich nach Jahren doch noch der Dementia paralytica verfallen.

Mit Dementia senilis konnen diejenigen Formen der Dementia paralytica verwechselt werden, welche jenseits des 60. Jahres beginnen. Die Spatformen der Dementia paralytica und die Friihformen der De- mentia senilis (bei Senium praecox) gehen fliessend in einander iiber sowohl hinsichtlich des klinischen Symptomencomplexes wie beziiglich des anatomischen Befundes. Im Allgemeinen wird man sich, wenn aus- gesprochene Riickenmarkssymptome, hesitirende Sprache, Pupillenstarre Oder Grossenideen vorliegen, fiir Dementia paralytica entscheiden.

Schwer ist zuweilen auch die Unterscheidung der Dementia para- lytica von der Demenz, mit welcher der chronische Alkoholismus zuweilen abschliesst. Die psychische Degeneration des Alkoholisten (S. 223) steigert sich zuweilen zu einer volligen Verblbdung; der Sec- tionsbefund ist negativ oder wenigstens von demjenigen der Dementia paralytica verschieden. Der klinische Symptomencomplex kann mit demjenigen der Dementia paralytica grosse Aehnlichkeit zeigen. Speciell kommen Lahmungen auch bei chronischem Alkoholismus vor. Nur

*) Hiermit ist die eigenartige intellectuelle Abschwachung nicht zu verwechseln, welche sich im Gefolge der Hirnsyphilis (s. d.) oft einstellt. Von dem Defect der Dementia paralytica unterschieidet sich dieser Defect durch stationares, (d. h. nicht- progressives) Verbal ten sowie durch das Fehlen der fiir Dementia paralytica be- zeichnenden ethischen Charakterveranderung (s. o.). Auch fehlt die hesitirende Sprache.

Dementia paralytica.

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die Spraclistdruug ist meist die tremulireude des Alkoliolisten, nicht die hesitirende des Paralytikers. Der Verlauf klart die Diagnose insofern auf, als bei der alkoholistischen Demenz*) Defectheilungen und dauernde Stillstande des Leidens bei Entziebimg des Alkobols vorkommen: der progressive Charakter der Dementia paralytica fehlt. Dabei ist jedoch zu betonen, dass auf dem Boden des chronischen Alkobolismus sich nicht selten auch eine typische Dementia paralytica mit alien ihren charakteristischen Symptomen imd fast vollig gleichem Sectionsbefunde entwickelt.

Therapie. Sobald die Diagnose Dementia paralytica sicherge- stellt ist, ist die Ueberfuhrung in eine geschlossene Anstalt in der iiber- grossen Mehrzahl der Falle geboten, um den Excessen des Kranken ein Ende zu machen, bezw. vorzubeugen. In zahlreichen Fallen zogert der Arzt mit diesem Schritt zu lange und lasst so dem Kranken Zeit sich und seine Familie zu compromittiren und finanziell zu ruiniren.

In der Anstalt empfiehlt sich in alien noch nicht zu weit vor- geschrittenen Fallen, in welchen atiologisch Syphilis in Frage kommt, dringend eine energische Quecksilberkur (10 12 Calomelinjectionen zu je 0,1 in 1 2 wbchentlichenZwischenraumen oder 80 100 Inunctionen zu je 5,0 Ung. ciner.) mit gleichzeitiger oder nachfolgender Jodbehandlung (3,0 Natr. jodat. p. die). Dieser Versuch empfiehlt sich, wenn er auch nur eine Kemission und fast niemals eine Heilung herbeizufiihren vermag, schon deshalb, weil, wie oben erwahnt, eine Verwechslung mit Hirnsyphilis zuweilen nicht sicher zu vermeiden ist.

Vesicantien, kalte Bader, Ergotin sind auch neuerdings noch oft, jedoch ohne Erfolg, angewendet worden. Alkoholica verbietet man am besten vollstandig. Das Rauchen ist einzuschranken. Im Uebrigen sorge man fiir korperliche und namentlich fiir geistige Rube.

Gegen die depressiven Erregungszustande ist Opium, gegen die Exaltationszustande Hyoscin anzuwenden. Im paralytischen Anfall ist die Controle der Ernahrung am wichtigsten; eventuell wird Schlund- sondenfiitterung nothwendig. Bei epileptiformen Convulsionen hewahren sich Chloralklysmen. Bei hallucinatorischen Erregungszustanden ist Chloral mit Morphium am wirksamsten.

Im Schlussstadium der Krankheit ist bei giinstigen ausseren Ver- haltnissen oft Familienpflege moglich. Es bedarf dann namentlich grosser Sorgfalt zur Verhiitung des Decubitus (taglich warme Vollbader!), genauer Ueberwachung der Ernahrung (Gefahr des Erstickens durch Eindringen grbsserer Bissen in die Kehle und Trachea!) und steter Fiir- sorge fiir regelmassige Urinentleerung (ev. Katheterismus).

*) Auch alkoholistische Pseudoparalyse genannt,

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Uenientia paralytica.

Audi in cten Remissionon ivircl man oft den Kranken wieder seiner Familie libergeben konnen. Dabei ist jedocb eine genaue arztliche Uebeiwacliuiig erforclerlich , clamit cler Wiederausbruch der Krankheit

rechtzeitig bemerkt und die Wiedereinliefcrung in die Austalt reclitzeitig veranlasst wird. ^

Patliologische Anatomie. Die Section ergiebt bei Dementia paralytica folgende makroskopische Befimde : *)

1. Pachymeningitis haemorrhagica interna: dieselbe findet sich nur etwa in der Halfte aller Falle. Zuweilen findet man umfangreiche friscbe oder alte Haematome der Dura mater.

2. Leptomeningitis chronica: man erkennt sie an der weisslichen Triibung und Verdickung der weichen Hirnhaut (namentlich langs der Gefasse). In den Maschen der Arachnoidea findet sich abnorm viel Iliissigkeit (Hydrocephalus externus).

3. Verkleinerung des Gehirngewichts (bis auf 1000 und weniger).

4. Erweiterung der Ventrikel (Hydrocephalus internus)**) und Gra- nulirung des Ependyms.

5. Verschmalerung der Hirnrinde, Klaffen der Sulci.

6. Giaue Degeneration im Centrum semiovale, im Hirnstamm und namentlich auf dem Eiickenmarksquerschnitt in sehr variabler Aus- dehnung.

7. Graiie Degeneration einzelner spinaler Wurzeln und einzelner peripherer Nerven (z. B. des N. opticus).

Die mikroskopische Untersuchung der Hirnrinde ergiebt namentlich vier pathologische Processe:

1. Veranderungen der Gaiiglienzellen selbst (Verlust des Kern- kbrperchens und Kerns , triibe Schwellung , Schrumpfung der Proto- plasmafortsatze).

2. Untergang markhaltiger Nervenfasern sowohl in der Markleiste wie in der sog. Rand zone wie auch im Inneren der Rinde.

3. Vermehrung der Gliazellen (,,Spinnenzellen^^).

4. Veranderungen der Gefasswande, Erweiterung der perivascularen Raume, Auswanderung weisser und rother Blutkorperchen.

Bald iiberwiegt dieser bald jener Process. Die gegenseitige Be- ziehung derselben festzustellen ist noch nicht mit Sicherheit gelungen. Am ausgesprochensten sind die Veranderungen meist im Gyrus rectus (Faserschwund) und im Lobulus paracentralis (Ganglienzellenverander-

*) Die Bezeichnung des Laien „Gehirnerweichung“, ist ganz unzutretfend. Die Consistenz des paralytischen Gehirns ist oft sogar grosser als diejeuige des nor- malen.

**) Zuweilen ist er einseitig. Intra vitam fallt dann die gekreuzte gemischte Hemianasthesie auf.

Dementia senilis.

441

ungen). Dock ist stets die ganze Hirnrincle*) ergriffen und die Ver- theilung der Veriinderung im Einzelneu grossen Schwankimgen nnter- worfen.

Aus diesem Befunde erklaren sick die Hauptsymptome der Dementia paralytica, der Verlust der Erinnerungsbilder und der Urtkeilsdefect, sowie die corticomotoriscken Storungen in ausreickender Weise (s. Einl. S. 5 und 6). Die iibrigen Syinptome sind auf die infracorticalen Zer- storungen, welclie wir oben aufgeziihlt haben, zuriickzufiikren.

b. Dementia senilis.

Die Dementia senilis ist eine ckroniscke organiscke Psyckose des Greisen alters , ' deren Hauptsymptom ein progressiver Intelligenz- defect ist.

Specielle Symptomatologie.

Vorstellungen und Urtkeilsassociationen. Die Erin- nerungsbilder geken dem Kranken ganz ahnlich verloren wie dem Paralytiker. Auck die Urtkeilssckwiicke kommt in ganz akn- licker Weise zu Stande wie bei der Dementia paralytica. Die Gedackt- nissschwacke fiir die Jiingstvergangenkeit tritt nock sckarfer kervor. 5 Minuten, nackdem man dem Kranken seinen jetzigen Woknort ge- nannt kat, kat er ikn oft bereits wieder vergessen. Mancke Kranke wissen nickt einmal anzugeben , in welchem Jakrkundert sie leben. Kindkeitserinnerungen werden oft nock reckt genau reproducirt, wakrend die letzten Jakre in den Kranken iiberkaupt keine Erinnerung zurilck- gelassen kaben.

Enter den Waknvorstell ungen iiberwiegen V erfolgungsideen. Tkeils sind sie primaren, tkeils affectiven oder kallucinatoriscken Ur- sprungs. Nackstdem findet man kypockondriscke Vorstellungen sckwack- sinnigen Eikalts am kaufigsten. Sekr oft begegnet man auck Ver- armungsvorstellungen, welcke sick zuweilen zu allgemeinem Verarmungs- wakn steigern. Am seltensten sind Grossenideen.

Der Vorstellungsablauf zeigt gewoknlick nur secundare Storun- gen. Bei patkologiscker Heiterkeit kann er besckleunigt , bei patko- logischer Depression und Angst gekemmt sein. Zu der durck den In- telligenzdefect bedingten Incokarenz kommt oft nock eine kallucinatorische Incokarenz kinzu.

Empfindungsstorungen. Illusionen und Hallucinationen sind sekr kaufig. Meist sind sie sckreckkaften Inkalts. Am massenkaftesten treten sie Nackts auf.

Affectstorungen. Primare Aifectanomalien feklen selten. Die

*) Auch in clen infracorticalen Ganglien findet man a,hnliche Processe.

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Dementia senilis.

Grundstimmung des Kranken ist sehr labil, bald mehr reizbar, bald mehr weinerlich, zuweilen auch kindisch heiter. Sehr haufig sind schwere Angstaifecte. Auch diese treten wie die Sinnestauschungen vorzugsweise Nachts auf. Oft sind sie typiscli pracordial.

Sehr ausgesprochen ist stets der Verfall der hoheren ethischen und asthetischen Gefiihlstone. Die Kranken verlieren den Sinn fiir Rein- lichkeit. Die egoistische Einengung des Gefiihlslebens , welche schon iinter physiologischen Verhiiltnissen sich oft genug im Alter einstellt, ist eine totale. Der Mangel an ethischen Begriffen und Gefiihlstonen fuhrt besonders haufig zu Eigenthumsvergehen und Verstdssen gegen die Sittlichkeit (unziichtige Handlungen mit kleinen Madchen, welche sich mitunter auf einfaches Betasten der Genitalien beschranken u. dgl). Bei dem Zustandekommen der letzteren wirkt oft eine pathologisch ge- steigerte geschlechtliche Erregbarkeit mit.

Handlungen. Stuporbse bezw. katatonische Phasen sind seltener. Im Allgemeinen iiberwiegt eine ausgesprochen’e motorische Unruhe, welche sich besonders Nachts geltend macht. Am Tage liegen die Kranken viel im Halbschlaf und Nachts irren sie ruhelos umher. Bald verwechseln sie Ort und Tageszeit und wollen mitten in der Nacht diese oder jene Tagesarbeit thun, bald werden sie von Sinnestauschungen oder Angst- affecten aufgejagt. Oft verlaufen sich die Kranken. Da sie mit dem Licht sehr unvorsichtig umgehen, kommt es nicht selten zu fahrlassigen Brandstiftungen. Der Eigenthumsvergehen und Sittlichkeitsverbrechen wurde schon gedacht. In Folge ihrer Vergesslichkeit verlegen sie ihre eigenen Sachen fortwahrend und wahnen sich, wenn sie dieselben nicht finden, bestohlen. Sucht und zeigt man sie ihnen, so haben „die Diebe sie inzwischen wieder rasch hingestellt^^ Manche Kranke wiihlen fort- wahrend in ihren Habseligkeiten umher. Andere in vorgeriickteren Stadien machen den ganzen Tag stereotype, ihrem friihern Beruf entsprechende Gewohnheitsbewegungen (Wasch-, Nahbewegungen u. s. f.). Die Angst bedingt nicht selten Suicidversuche.

Korperliche Symptom e. Die co r ti co motorischen Storungen sind ahnliche wie bei der Dementia paralytica, nur ist die Sprache fast niemals hesitirend. Aphasische und paraphasische Storungen sind haufiger. Der senile Tremor kommt hinzu. Spin ale motorische Storungen sind selten. Romberg’sches Schwanken kommt ab und zu vor. Hypalgesie ist Sehr haufig, gelegentlich kommt auch Hypaesthesie vor. Pariisthesien, Ohrensausen und Funkensehen sind ungemein haufig. Oft liisst sich schwer entscheiden, wieviel auf senile Veranderungen der peripheren Organe (chronischer Paukenhbhlencatarrh , senile Hautveranderungen u. s. w.), wieviel auf periphere senile Neuritis und wieviel auf die Rindenerkrankung zuriickzufiihren ist. Oft klagen die Kranken fiber

Dementia senilis.

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allerhancl Scbmerzen, so in der Stirn, in den Extremitaten , im Leib („seniles Giirtelgefiihb^). Selten fehlt Schwindel. Die Sehnenpha- nomene sind meist gesteigert (ziiweilen einseitig), die Hautreflexe dfter herabgesetzt , die Pupillarreflexe zuweilen triig, aber sehr selten er- loscben. Die Piipillen zeigen fast stets die senile Miosis. Sphincter- labmung ist sebr haufig.

Sehr haufig complicirt sich die senile Demenz, d. h. die diffuse senile Rindenerkrankung mit senilen II e e r d erkrankungen (Hamorrhagien, Erweichungsheerden). Dann addiren sich selbstverstandlich die bez. Heerdsymptome zu den soeben^geschilderten Symptomen. Mitunter ist es infra vitam nicht mbglich bestimmt zu entscheiden, ob z. B. eine Hemi- parese auf einer H e e r d erkrankung oder einer diffusen, aber in der motorischen Region einer Hemisphare vorzugsweise localisirten Rindenerkrankung beruht.

V e r 1 a u f. Die senile Demenz entwickelt sich meist ganz allmahlich aus der senilen psychischen Veranderung^'^, welche in der allgemeinen Aetiologie (S. 232) beschrieben worden ist. Die Dauer betragt 3 bis 5 Jahre. Acuter Verlauf binnen einiger Monate ist sehr selten. Re- missionen kommen vor, aber nicht so haufig wie bei Dementia para- lytica. Paralytische Anfalle, welche denjenigen der Dementia paralytica vollig gleichen, *) kommen im Verlauf des Leidens ofter vor. Bestimmte Krankheitsstadien lassen sich nicht unterscheiden. Angstzustande, hallu- cinatorische Erregungszustande , Exaltationszustande, primare Wahn- bildungen und Phasen uncomplicirten Defects losen sich in unregel- massiger Reihenfolge ab.

Ausgange und Prognose. Das Leiden ist progressiv und tbdtlich, die Prognose durchaus ungiinstig. Der Tod erfolgt aus ganz denselben Ursachen wie bei Dementia paralytica. Remissionen kommen zuweilen vor.

Aetiologie. Erbliche Belastung findet sich bei 50%. Nicht selten lasst sich gleichartige Hereditat feststellen. Intellectuelle, affective und korperliche Strapazen spieleu neben und bei der senilen In- volution die Hauptrolle. Vor dem 60. Lebensjahr ist senile Demenz selten (Senium praecox), vom 60. Lebensjahr ab nimmt ihre Haufigkeit stetig und rasch zu. In sehr vielen Fallen ist Arteriosklerose bei dem Zu- standekommen der Krankheit in entscheidender Weise betheiligt (vgl. S. 236). Aucb senile Erkrankungen des Herzens sind, insofern sie die Thatigkeit des Herzens und damit die Circulation beeinflussen, von Be- de utung.

D i a'g n 0 s e. Alle in Betracht kommenden Differentialdiagnosen sind bereits an anderer Stelle besprochen worden. Vgl. unter Manie,

*) Epileptiforme Convulsionen sind nicht so haufig.]

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Dementia secundaria nach Heerderkranknngen des Gehirns.

Melancholie , Paranoia hallucinatoria acuta und Dementia paralytica ! Das siclierste Kriterium gegeniiber den functionellen Psychosen ist der ethische Defect. Facialisparesen sind niclit beweisend fiir senile Demenz, auch wenn ilir erworbener Charakter feststeht, weil sie im Senium zuweilen aucli bei functionellen Psychosen vorkommen. Dasselbe gilt von voriibergehender Paraphasie. Gedachtniss- und Urtheilsschwiiche wil’d im Senium sehr leicht mit Denkhemmung und prirnarer Incohilrenz verwechselt.

Therapie. Da die Ueberwachung in Folge der Altersschwache leichter ist als bei der Dementia paralytica, so wird bfter als bei dieser Fcvmilienpflege moglich sein. Jedenfalls ist genaue Ueberwachung mit Bezug auf sexuelle Vergehen, fahrlassige Brandstiftung und Suicid ge- boten. Bei dem ersten Angstaffect und bei der ersten Hallucination verfiigt man am besten die Einlieferung in eine Anstalt. Regelmassiger Wechsel von Ruhe und Bewegung, kraftige Ernahrung und Verab- reichung von Wein halten den korperlichen und geistigen Verfall etwas auf. Gegen Angstaffecte und hallucinatorische Erregungen bewahrt sich Opium, gegen die Schlaflosigkeit aiisser Bromnatrium namentlich auch Paraldehyd (nach einem halbstiindigen lauen Bad zu nehmen).

Pathologische Anatomic. Die Befunde im Grosshirn decken sich mit denjenigen der Dementia paralytica in alien wesentlichen Ziigen. Die Atrophic der Rincle ist meist noch augenfalliger. Ependym- granulation findet sich nicht so regelmassig. Pachymeningitis haemor- rhagica ist erheblich haufiger. Ungemein oft findet man alte und frische H-amorrhagien und Erweichungsheerde als Complication. Die grosseren Hirnarterien zeigen fast ausnahmslos vorgeschrittene Athero- matose. Auf der Lamina interna der Schadelknochen fallen die starken osteophytischen Auflagerungen auf. Die Verauderungen im Riickenmark und in den peripheren Nerven sind, wenn auch ziemlich verbreitet, doch nicht so ausgesprochen wie bei der Paralyse. Der mikroskopische Be- fund ergiebt wie bei der letzteren den Untergang zahlreicher Ganglien- zellen und zahlreicher corticaler Associationsfasern.

c. Dementia secundaria nach Heerderkranknngen

des Gehirns.

Im Anschluss an Heerderkranknngen des Gehirns, z. B. an Hamor- rhagien entwickelt sich zuweilen eine pathologische Veranderung der Hirnrinde, welche sich von derjenigen der Dementia paralytica dadurch unterscheidet , dass sie gar nicht oder nur sehr w e n i g pro- g r e s s i V ist und zu keinerlei weiteren somatischen Symptomen (Lah- mungen u. s. f.) fiihrt. Die psychischen Symptome dieser secundaren Demenz sind :

Dementia secundaria nach Heerderkrankungen des Goliirns. ,

445

1 . Ein Intelligeuzclefect, welclier sicli jeclocli fast stets in engen Grenzen halt: das Gediichtniss fiir Jlingstvergangenes und die Weitsichtigkeit des Urtlieils haben gelitten. Der Defect der ethischen und altruistisclien Begriffe ist niemals so ausgepriigt wie bei der Dementia paralytica.

2. Eine krankhafte R e i z b a r k e i t und zugleicli eine krankbafte Labilitat der Stimmung.*) Jabzornsausbriiche sind baufig. Der Kranke lacbt und weint leichter als friiher. Namentlich seine Rubr- seligkeit fallt auf. Die boberen Gefiiblstone des Kranken sind oft etwas abgestumpft, aber sebr selten kommt es zu dem fiir Dementia paralytica cbarakteristiscben volligen Untergang derselben. Der sog, Cbarakter des Kranken gebt nicbt vollig unter. Nicbt selten beobachtet man ein krankbaftes Misstrauen (vgl. S. 240).

Eine Folgeerscbeinung dieser intellectuellen und affectiven Veran- derungen ist die Abnabme der Energie im Denken und Handeln. Die Kranken denken langsamer und bandeln triiger. Jeder Ebrgeiz scbeint verscbwunden. Viele zeigen bei allem Eigensinn und aller Reizbarkeit eine fast kindlicbe Unselbstandigkeit und Lenksamkeit.

Am einfacbsten und typiscbsten beobachtet man diese secundare Demenz bei Hamorrbagien und Erweicbungsbeerden**). Sie stellt sicb in den meisten Fallen wenigstens andeutungsweise ein. Wo sie aus- gesprocbener auftritt, fallt sie meist erst 3 bis 5 Jabre nacb dem Insult den Angeborigen auf. Sie nimmt dann einige Jabre langsam zu, bleibt aber in der Regel scbliesslich mit mancben Scbwankungen stationiir.

Eine ganz besondere Stellung nimmt die Syphilis des G e h i r n s ein. Die Syphilis kaun zu functionellen Scbadigungen des Gebirns fubren, also z. B. eine Melancbolie bervorrufen. Haufiger ruft das Sypbilisgift organiscbe Veriinderungen bervor. Letztere sind bald dilfus, bald beerdartig. Im ersteren Falle bedingt die Syphilis eine Dementia paralytica, im letzteren eine sypbilitiscbe Heerderkrankung , die Hirn- sypbilis im engern Siune. Wir versteben unter der letzteren also ausscbliesslicb die beer dar tig en sypbilitiscben Hirnerkrankungen. Meist bandelt es sicb um eine Gumma oder um eine circumscripte gummose Meningitis. Oft sind die Heerde multipel. Die Symptome zerfallen in drei Reiben:

1. Durcb den Heerd direct bedingte Ausfallssymptome, z. B.

*) Die Affectanomalien treten namentlich bei Alkoholgenuss starker hervor. Die Resistenzlosigkeit gegen denselben ist fiir diese Kranken sehr charakteristisch.

**) Hirngeschwiilste fiihren zum Tode, bevor eine secundare Demenz sicb ent- wickelt. Die Unorientirtheit, Schwerbesinnlicbkeit und Apathie der Tumorkranken beruht auf Hemmung, nicbt auf Defect. Uebrigens kommen auch ballucinatorische Erregungszustande vor.

446

Dementia secundaria nach functionellen Psychosen.

Hemiplegie mit gekreuzter Oculomotoriuslahmung. Da auch im Riicken- maik guminose Processe auftreten uud oft zugleich peripherische Nerven (z. B. die Aiigeumuskelnerven) einer syphilitischen Degeneration ver- fallen, so kommen oft sehr complicirte, den Heerdcharakter verdeckende Bilder zu Stande.

2. Von dem Heerd ausgehende functionelle Fernwirkungen.

a) Reizerscheinungen: hierher gehoren schwere acute hallu- cinatorische Erregungszustande mit zahlreichen Grossen- und Verfolgungs- ideen und volliger Unorientirtheit , ferner Krampfanfalle , welche bald denjenigen der genuinen Epilepsie, bald denjenigen der sog. Jackson- sclien Epilepsie gleichen. Auch plbtzliche impulsive Handlungen kommen gelegentlich vor.

b) Hemmungserscbeinungen. Diese iiberwiegen namentlicb dann, wenn der syphilitiscbe Process im Gebirn in besonderem Maass raumbescbrankend wirkt. Solcbe Kranke liegen wocben- und monate- lang in einem stuporbsen, schlafabnlicben Zustand, welcber zuweilen in volliges Coma iibergebt. Die einfachsten Fragen werden falsch beant- wortet. Meist ist der Kranke vollig unorientirt. Kotb und Urin lasst er unter sich geben. Oft tritt in diesem Zustande der Tod ein.

3. Im Anschluss an den Heerd auftretende diffuse organiscbe Rindenveranderungeu. Bald entsprecben diese ganz denjenigen der Dementia paralytica es tritt dann also scbliesslicb docb nocb dies Leiden zu der Heerderkrankung binzu , bald entsprecben sie, insofern sie nicbt progressiv sind und die motoriscbe Region im Wesent- licben verscbonen, der oben bescbriebenen ,,secundaren Demenz nacb Heerderkrankungen". In letzterem Falle spricbt man von einer post- gummosen Demenz: leicbte Gedacbtniss- und Urtbeilsscbwacbe, Reizbarkeit und Labilitat der Stimmung und leicbte Abstumpfung der complicirteren Gefiiblstone sind die Hauptsymptome. Ueber die differentialdiagnostiscbe Abgrenzung derselben gegen die Dementia para- lytica ist in der Besprecbung der letzteren nacbzulesen.

Die Diagnose auf Hirnsypbilis im Allgemeinen abgeseben von dieser postgummosen Demenz ist sebr oft mit Sicberbeit nicbt zu stellen. Es ist dann in letzter Linie der Erfolg einer energiscben antisypbiliti- scben Tberapie (vgl. unter Dementia paralytica) fiir die Diagnose ent- scbeidend.

d. Dementia secundaria nacb functionellen Psycbosen.

Die Melancbolie, Manie, Stupiditat und die acute ballucinatoriscbe Paranoia enden zuweilen mit einer progressiven intellectuellen Ver- blbdung. Diese wird als secundare Demenz s. str. bezeicbnet. Ueber die Haufigkeit dieser secundaren Demenz und die Ueber gangs-

Dementia secundaria nacli functionellen Psychosen.

447

weise der geuannten functionellen Psychosen in secundare Demenz ist unter Melancholie, bezw. Manie, bezw. Stupiditat, bezw. Paranoia nachzulesen.

Die Symptome sind diejenigen einer jeden Demenz: Urtheils- schwache und Gedaclitnissschwache. Meist verriitb sich erstere zunachst darin, dass der logische Zusammenbang des Denkens sich lockert. Die Kranken sprechen incoharent (vgl. S. 98 und 99). Manche plappern sehr viel; das einzige Band der successiven Vorstellungen ist die Aehn- lichkeit des Wortklangs. Andere hocken Monate lang stumm in einer Ecke; die vorstellungsarme Hirnrinde fiihrt dem Sprachcentrum keine Erregungen mehr zu. Die Vergesslichkeit tritt in vielen Fallen zu- nachst nicht so deutlich hervor wie z. B. bei der Dementia paralytica. Im weiteren Verlauf kann sie fast ebenso hohe Grade erreichen wie bei dieser.

Sinnestausch ungen treten haufig auf, namentlich im Beginn der Entwicklung der secundaren Demenz, und zwar auch in solchen Fallen, wo die primare Psychose ohne Sinnestauschungen verlief. Die Wahn- vorstell ungen der primaren Psychose werden in die secundare De- menz mit hiniibergenommen. Aber der Kranke vermag sie weder logisch zu verbinden noch zu motiviren. Einzelne werden vergessen. Schliess- lich murmelt der Kranke nur noch mechanisch einige Schlagworte, in denen nur derjenige, welcher ihn friiher gekannt hat, die Keste ehe- maliger Wahnvorstelluugen wieder erkennt.

Die Affecte nehmen einen kindischen Charakter an : albernes Lachen, weinerliches Greinen, brutale Zornausbriiche Ibsen sich ohne ausreichende Motive ab. Die Einheitlichkeit der Affectstbrung der primaren Psychose ist verloren gegangen. Die complicirteren Gefiihlstbne gehen zu Grunde. Es entwickelt sich ein ahnlicher ethischer Defect wie bei der Dementia paralytica. Wenn er bei der secundaren Demenz oft weniger auffallt, so ist dies darauf zuruckzufiihren , dass er von der gleichzeitigen Ver- wirrtheit verdeckt bezw. flir die Beobachtung in den Hintergrund ge- drangt wird, wahrend er bei der Dementia paralytica isolirter, oft zu- nachst als einziges psychisches Krankheitssymptom auftritt. In den Schluss- stadien der secundaren Demenz kommt es oft zu einer vblligen Apathie. Auch jede Freude und Trauer erlischt. Dementsprechend ist schliesslich das Gesicht vblhg ausdruckslos. In anderen Fallen bestehen bis zum Tode zornige, heitere und depressive Affecte, fiir welche sich im Einzelnen gar keine oder ganz unbedeutende Anlasse nachweisen lassen. Die erstere Form bezeichnet man auch als apathischen Blbdsinn, die letztere als agitirten Blbdsinn.

Bei der kbrperlichen Untersuchung fallt meist nur die mehr oder weniger hochgradige allgemeine Hypalgesie auf. Alle sonstigen

448 Dementia epileptica.

Stoningeii, wie wir sie bei cler Dementia paralytica kennen gelernt haben, febleii.

Die Handlungen des Secundar-Schwachsinnigen sind, je nachdem Apatliie oder Erregungsaffecte vorherrsclien, sehr verschieden. Im apa- tliischen Blodsinn hocken die Kranken stumm, zusammengesunken und regungslos in einer Ecke. Der Speichel tropft aus dem Mund, Kotb und Urin gehen unbeachtet ab. Die Kranken kleiden sich nicht selbst an und essen nur , wenn ibnen der Loffel in die Hand gedriickt und das Fiibren des Loffels zum Munde ibnen erst als passive Bewegung vorgemacbt wird ; sind so die Essbewegungen erst einmal ausgelost, so geben sie nocb lange Zeit automatiscb fort, aucb wenn der Teller liingst leer ist und der zum Mund gefubrte Ldlfcl keine Speise mebr entbalt. Triebartiges Onaniren, stereotype wiegende Bewegungen des Rumpfes, M ackelbewegungeu des Kopfes und andere Gewobnbeitsbewegungen, stereotypes Wiederbolen derselben Pbrasen und eigentbiimlicbe kata- toniscbe Stellungen sind nicbt selten. Zuweilen besteben ausgesprocbene Gewobnbeitscontracturen, baufiger ist vdllige Resolution.

Wesentlicb anders gestaltet sicb das Bild des agitirten Blod- sinns. In diesem scbwatzt der Kranke stundenlang. Mitunter kommt es zu ausgesprocbener ideenfllicbtiger Incobarenz (Verbigeration). Bald tanzen die Kranken umber, bald necken und scblagen sie ibre Um- gebuug. Andere sammeln scbmutzige Papierstuckcben , stecken sicb Gras in die Knopflocber u. dgl. m. Aucb Kotbscbmieren ist baufig.

Zwiscben dem agitirten und dem apatbiscben Blodsinn existiren zablreicbe Zwiscbenformen und Uebergange.

Der Verlauf der secundaren Demenz ist cbrouiscb. Anfangs scbreitet der intellectuelle Verfall in der Regel rascber fort, spater lang- samer; mitunter bleibt er, nacbdem er eine gewisse Stufe erreicbt bat, fortan stationar. Zu todtlicbem Ausgang fiibrt die Krankbeit als solcbe niemals. Remission en sind sebr selten. In der Regel erreicben die Kranken bei langsam zunebmendem Intelligenzdefect ein bobes Alter.

Die Tberapie ist vollig obnmacbtig. Bei den agitirten Formen ist Einlieferung in die Anstalt notbwendig. Die Agitation ist ev. mit Hyoscin zu bekiimpfen. Weitaus die wicbtigste Aufgabe der Bebandlung ist die Gewobnung des Kranken an regelmassige korperlicbe Arbeit (Feldarbeit) und an Reinlicbkeit.

Die patbologiscb-anatomiscbe Untersucbung bat bis jetzt nur den Untergang corticaler Associationsfasern sicber festgestellt.

e. Dementia epileptica.

Die secundare Demenz, welcbe in 20 % aller Fiille voii Epilepsie scbliesslicb den Epileptiker befallt, gebt continuirlicb aus der friiber

Dementia epileptica.

449

beschriebenen epileptisclien psycbischen Degeneration bervor (S. 241). Aus der Erscliwening bezw. Verlangsamung des Vorstellungsablaufs wird allmahlich ein intellect iieller Defect. Dieser ist meist progressiv. Meist hangt die Schnelligkeit imd Intensitat der intellectuellen Abnahme gauz von der Zabl der Anfiille ab. In manchen Fallen kommt es schliesslicli zu einer totalen Verblddung, d. h. auch zum Verlust der einfachsten concreten Erinnerimgsbilder. Der Kranke erkennt die nachsten Augeborigen nicbt mebr. Er weiss weder Jabreszabl nocb Aufentbalts- ort. Das Einmaleins bat er vergessen. Seine Ideenassociation bescbrankt sicb auf einige Interjectionen.

Fine abnlicbe Zusammenscbmelzung wie die Erinnerungsbilder er- fabren aucb die Gefiiblstone. Die Kranken werden scbliesslich gegen alles gleicbgiiltig. Tiefe Hautsticbe fiiblen sie kaum. Die meisten bocken Tag aus Tag ein auf derselben Stelle und lassen Kotb und Urin unter sicb geben. Triebartige Masturbation wu’d oft bis in die letzten Stadien der Krankbeit binein beobacbtet. *)’ Im Anfang des Leidens beobacbtet man oft aucb einen sebr labilen Wecbsel bypocbondriscber Weinerlicbkeit und kindiscber Heiterkeit. Scbwere Zornausbriicbe kommen im ganzen Verlauf der epileptisclien Demenz sebr baufig vor. Wegen ibiei Plotzlicbkeit und Riicksicbtslosiglceit erbeiscben sie die sorgfaltigste Ueberwacbung des Kranken. Bald treten sie ganz obne erkennbare Veranlassung, bald auf Grund einer vereinzelten Hallucination, bald auf Grund einer plotzlicben Wabnvorstellung auf. Plotzlich steigt in dem Kranken die Vorstellung auf, sein Nacbbar verziebe bobniscb oder di obend das Gesicbt , und alsbald kommt es zu einer scbweren impul- siven Gewaltbandlung.

Intercurrente ballucinatoriscbe Damme rzustande kommen aucb im Verlauf der epileptiscben Demenz nocb oft vor.

In den Scblussstadien der Krankbeit leiden aucb die Bewegungen der Kranken. Sie werden schwerfallig und ungescbickt, Complicirtere Bewegungen (Stricken, Zeicbnen u. s. w.) verlernt der Kranke. Ganz be- sonders macbt sicb diese Stbrung der complicirteren Bewegungscombi- nationen auf dem Gebiet der Spracbe geltend, Im Beginn der epi-‘ leptiscben Demenz fallt der Kranke nocb durcb seine Gescbwatzigkeit auf. Spater gebt die Gelaufigkeit der Spracbe verloren. Der liranke spricbt sebr langsaPa, oft setzt er zwiscben den Worten und Silben und scbliesslicb sogar innerbalb der Silben ab. Die Pbonation ist ausserst monoton, zuweilen etwas singend. Eine ausgesprocbene Hesitation wie diejenige der Dementia paralytica ist selten. Im Endstadium der Krank-

*) Auch tribadische Eegungen werden wie bei alien weiblichen Schwach- sinnigen sebr haufig beobacbtet.

Ziehen, Psychiatrie,

29

450

Dementia alcoholica.

heit finden die Kranken viele Worte nicht mehr. Die Einschmeizung des Wortschatzes gelit scliliesslich so weit, dass dem Kranken auch fiir concrete Gegenstande die Worte fehlen (epileptische Aphasie). Auf die sinnlosen Gewalthandlungen ist oben bereits hingewiesen worden.

Der Verlauf der epileptischen Demenz ist zuweilen selir rapid, meist erstreckt er sicb jedoch liber mehr als ein Jabrzebnt. Ein bbberes Lebensalter erreicben die Kranken meist nicht. Darmkatarrhe , Pneu- monien , Blasenkatarrbe fiihren meist vor der Zeit zum Tode. Auch im Krampfanfall oder in einem Status epilepticus geht mancber Kranke scbliesslich doch einmal zu Grunde.

Therapie. Sobald epileptische Demenz besteht, ist Anstalts- behandlung wegen Gemeingefahrlichkeit indicirt. In der Anstalt be- schrankt sicb die Behandlung auf Ueberwachung, Beschaftigung und im Scblussstadium auf sorgfaltige Pflege. Ist die Demenz noch nicht weit vorgeschritten, so kann man versuchen durch eine energische Brom- behandlung die Zahl der Anfalle zu vermindern und so den intellectuellen Verfall aufzuhalten.*)

Pathologische Anatomie. Die Untersuchung p. m. ergiebt in den schwereren Fallen oft (nicht stets) Verkleinerung des Hirngewichts, Verschmalerung der Hirnrinde, Erweiterung der Ventrikel und ent- sprechenden Markschwund , zuweilen auch Ependymgranulation. Die Associationsfasern der Hirnrinde erweisen sich bei mikroskopischer Unter- suchung an Zahl verringert.

f. Dementia alcoholica.

Wie die Epilepsie flihrt auch der chronische Alkobolmissbrauch oft schliesslich zu einer ausgesprochenen secundaren Demenz. Diese geht continuirlich aus der friiher (S. 223) beschriebenen „alkoholistischen psy- chischen Degeneration" hervor. Der Intellig enzdefect selbst unter- scheidet sich in keiner Weise erheblich von demjenigen der epileptischen Demenz. So verschieden die Anfangsbilder, die alkoholistische und die epileptische psychische Degeneration, sind, so ahnlich sind oft die Schluss- bilder in Bezug auf den Intelligenzdefect. Im Ganzen erreicht er jedoch bei dem Alkoholisten selten so hohe Grade wie bei der epileptischen Demenz. Es hangt dies wohl meistens damit zusammen, dass die meisten dieser Kranken noch vor dem volligen intellectuellen V erfall der An-

*) Zu diesem Zwecke wie tiberhaupt zur Behandlung der Epilepsie empfiehlt sich auch die Flechsig’sche Behandlungsmethode. Man verordnet den Kranken zunachst 6 Wochen lang Opium bis zu einer Tagesdosis von 1,2 g, lasst dann plbtzlich das Opium weg und ersetzt es durch 6 bis 8 g Bromnatrium. Letzteres ist mindestens 6 Monate lang zu verabfolgen.

Dementia alcoholica.

451

stalt zugefiihrt werden iind in dieser durch die Entziehung des Alkohols dem weitereu Fortschreiten des Krankheitsprocesses Einhalt gethan wird.

Der affective Verfall ist demjenigen der epileptischen Demenz gleichfalls ahnlich, aber gleiclifalls gewohnlich nicht so hochgradig. Auch die Zornmiithigkeit ist nicht so ausgesprochen.

Vereinzelte Halliicinationen und aiich zusammenhangendere interciirrente hallucinatorische Erregungszustande sind sehr haufig.

Korperliche Symptome konnen, abgesehen von den S. 223 aufgezablten , welche dem Alkoholismus chronicus mehr oder weniger stets zukommen, vollig fehlen. Man spricht dann von einfacher alkoholistischer Demenz. In anderen Fallen fallt die grosse In- tensitat und die Zahl der dort aufgezablten Bewegungsstorungen auf. Diese Form bezeichnet man als pseudoparalytische alkoholisti- sche Demenz.*) In den Symptomen bietet sie sehr viel Aehn- lichkeit mit der echten Dementia paralytica, in deren Aetiologie, wie friiher erwahnt, der chronische Alkoholismus auch oft eine Eolle spielt. Nur die hesitirende Sprache und die Pupillenstarre der typischen De- mentia paralytica fehlen dieser sog. pseudoparalytischen alkoholistischen Demenz fast stets. Im Verlauf besteht ein wesentlicher Unterschied, insofern bei der pseudoparalytischen Demenz wie bei der einfachen Demenz des Trinkers Defectheilungen und dauernde Stillstande nicht selten vorkommen. Endlich ist der Sectionsbefund von demjenigen der Dementia paralytica verschieden. Zunachst ist er bei der alkoho- listischen Demenz zuweilen auch bei genauer mikroskopischer Unter- suchung negativ ; in anderen zahlreicheren Fallen findet man allerdings pathologische Veranderungen der corticalen Ganglienzellen und ihrer Axencylinderfortsatze, sowie einen erheblichen Schwund der intracorti- calen und subcorticalen Markfasern. Makroskopisch findet sich Ver- schmalerung der Hirnrinde und Hydrocephalus externus et internus. Dagegen fehlen die Veranderungen der Neuroglia und der Blutgefass- wandungen, welche bei der typischen Dementia paralytica fast niemals fehlen, und meistens auch die fiir Dementia paralytica charakteristischen Ependymgranulationen. Dabei ist anzuerkennen, dass zwischen der auf chronischem Alkoholismus beruhenden typischen Dementia paralytica und der soeben skizzirten pseudoparalytischen Dementia alcoholica sowohl beziiglich der Symptome wie beziiglich des \ erlaufes , wie endlich be- ziiglich des makroskopischen und mikroskopischen Sectionsbefundes Ueber- gangsformen vorkommen.

'*) Auch das Kopftrauma fhhrt mitunter zu ahnlichen Defectpsychosen und zwar gleichfalls bald zu einer einfachen traumatischen Demenz, bald zu einer pseudopara- lytischen traumatischen Demenz, bald zu einer echten Dementia paralytica.

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452

Dementia alcoholica.

Beziiglicli ties Verlaufs ist noch liervorzuheben, dass gelegentlich aucli epileptiforme imd apoplectiforme Aufillle, welche denjenigen der Dementia paralytica gleiclien, vorkommen. Selir haufig ist auch die Complication mit Pachymeningitis haemorrhagica interna. In solchen Anfiillen oder durcli solche Complicationen kommt es zuweilen friih zu tddtlichem Ausgang. Wird der Alkohol entzogen, so kommt es, wie erwahnt, ofter zu dauerndem Stillstand oder Defectheilung ; im Ganzen ist dieser glinstigere Ausgang bei ca. 50% zu beobachten.

Die Beliandlung deckt sich mit derjenigen ties chronischen Alko- bolismus iiberhaupt. Die Plauptaufgabe ist Entzieliung ties Alkohols. Erfahi ungsgemass lasst sich diese ebenso wie die Entziehung aller an- deren Gewohnheitsgifte (Morphium u. dgl.) nur in einer geschlossenen Anstalt Oder einem sog. Trinkerasyl mit geniigender Sicherheit durch- fiihren. Nur wenn die Umstande erlauben, einen zuverliissigen Privat- warter fiir den Kranken zu halten, wird man in seltenen Fallen auch einen Entziehungsversuch im Hause oder in einer offenen Anstalt machen kbnnen. Leider kann nach Page der heutigen Gesetzgebung der Ge- wohnheitstrinker als soldier nicht zu einer solchen Entziehungskur ge- zw ungen werden. Die zwangsweise Einlieferung in die Anstalt wird erst mbglich, wenn eine alkoholistische Psychose (Paranoia) zu tier alko- holistischen psychischen Degeneration hinzugetreten ist, bezw. these letztere sich zu einer die Dispositionsfahigkeit aufhebenden alkoholistischen De- menz entwickelt hat.

Die Entziehung selbst kann bei kriiftigen Personen plotzlich er- folgen, bedarf aber tlann einer genauen stetigen Controle (Collaps!). Bei schwachlichen Indivitluen empfiehlt sich eine allmahliche Entziehung, welche man je nach dem Zustande tier Herzthatigkeit auf einige Tage Oder selbst auf einige Wochen ausdehnen kann. Dringend ist tier Ge- brauch irgendwelcher Narcotica gegen die mit der Abstinenz sich ein- stellende motorische Unruhe, Angst untl Schlaflosigkeit zu widerrathen. Man setzt sich damit nur der Gefahr aus an die Stelle des Alkoholis- mus die Gewohnung an ein narcotisches Mittel (Morphinismus u. s. w.) zu setzen. Man beschranke sich also tlarauf durch hydrotherapeutische Maassnahmen (prolongirte Bader, Einpackungen) und korperliche Arbeit, wenn auch langsam, korperliche und geistige Kuhe sowie Schlaf wietler zu erzielen.*)

*) Ganz dasselbe gilt im AHgemeinen aucb fiir. die Beliandlung des cbronischen Morphinismus. Nur kommt es bei diesem niemals zu einer ausgesprochenen Demenz. Auch bei der Morphiumentziehung ist es durchaus contraindicirt andere Narcotica Oder Alkohol ausser im dringendsten Nothfall zu verabreichen. Nur zu oft wird der Morphinist durch Verabreichung von Spirituosen wahrend |der Entziehung zum Alkoholismus geradezu tibergefiihrt.

Aetiologische Uebersicht tiber die Psychosen.

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1st die Entziehiing beendet, so ist der Kranke jedenfalls noch min- desteus ein Jabr in der Anstalt bezw, dem Asyl zu belassen und auf das Genaneste zu iiberwacben. *) Entlasst man die Kranken friiber, so kommt es in Folge der krankbaften Willensscbwache dieser Individuen stets zu Kiickfallen. Freilich wird auch jetzt wieder die zwangsweise Festbaltung an der Mangelbaftigkeit unserer Gesetzgebung scheitern.

Selbstverstandlicli sind die Kesultate einer solcben Bebandlung um so besser, je weniger vorgescbritten die Erkrankung ist. Bei der psy- cbiscben Degeneration des Alkobolisten erzielt man wenigstens ab imd zu noch eine leidlich vollkommene und einige Jabre dauernde Heilung. Bei der alkoholistischen Demenz muss man sicb begniigen, einen Still- stand des Leidens oder eine Defectbeilung zu erzielen.

Die patbologische Anatomie ist oben bereits erortert worden, vergl. ausserdem S. 224 und 225.

Aetiologische Uebersicht iiber die Psychosen.

Ein Ueberblick iiber die zahlreicben Psychosen, welche im Vorher- gehenden besprochen worden sind, lehrt, dass zwischen den einzelnen Psychosen allenthalben fliessende Uebergange und Zwischenformen vor- handen sind. Ein anderes Resultat war kaum zu erwarten. Die Func- tionen der Hirnrinde stehen untereinander in den engsten Beziehungen, und ebenso stehen die anatomischen Elemente der Rinde untereinander in durchgangigem Zusammenhang. Jeder atiologische Factor wirkt daher mehr oder weniger auf alle Functionen bezw. alle Elemente der Hirn- rinde. Lediglich der Grad dieser Einwirkung auf die einzelnen Functionen ist bei den verschiedenen Psychosen verschieden. Bei dieser Sachlage lag es und liegt es natiirlich sehr nahe, auf Grund des Starkeverhalt- nisses, in welch em die einzelnen Functionen von der Schadlichkeit be- troffen sind , eine atiologische Classification der Psychosen zu ver- suchen. Eine solche ist nun allerdings, wie auch die Geschichte der Psychiatrie gelehrt hat, verfehlt; dieselbe Schadlichkeit bezw. Gruppirung von Schadhchkeiten kann sehr verschiedene Psychosen hervorbringen und andererseits kann dieselbe Psychose auf Grund sehr verschiedener Schadhchkeiten bezw. Gruppirungen von Schadhchkeiten zu Stande kommen. Immerhin aber wird man der Bedeutung, welche die Aetiologie gerade fiir die Erkennung der Psychosen hat, Rechnung tragen mussen. Es soli daher im Folgenden eine Uebersicht fiber die wichtigsten atio- logischen Factoren gegeben und bei jedem einzelnen sollen diejenigen Psychosen aufgezahlt werden, welche vorzugsweise, d. h. am haufigsten auf dem Boden der bez. Schadlichkeit vorkommen.

*) Dasselbe gilt fiir die Bebandlung des Morphinismus.

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Aetiologische Uebersicht Uber die Psychosen.

1. Erbliche Degeneration: Idiotie, Imbecillitat, Debilitat,~ein- facbe acute Paranoia, einfache chronische originare Paranoia, periodische Manie, periodische Melancholie, periodische Paranoia, circulares Irreseinj Irresein durch Zwangsvorstellungen.

2. Trauma capitis: Hallucinatorische acute Paranoia (oft mit primaren Angstaffecten und Schwindelsensationen verkniipft), incoharente Varietat derselben Psychose, neurasthenisches Irresein, einfache trau- matische Demenz (S. 221), pseudoparalytische traumatische Demenz (S. 221, 451), Dementia paralytica.

3. Chronischer Alkoholismus: peracute, acute, subacute, chro- nische hallucinatorische Paranoia, ideenfliichtige Form der acuten und subacuten hallucinatorischen Paranoia (sog. Alkoholmanie, seltenerjreine Manie), Melancholie, Neurasthenic, Irresein durch Zwangsvorstellungen, einfache alkoholistische Demenz , pseudoparalytische alkoholistische De- menz, Dementia paralytica.

4. Pubertat: Manie, Melancholie, circulares Irresein, acute hallu- cinatorische Paranoia, ideenfliichtige und circulare Form der letzteren.

5. Senium: Melancholie, acute hallucinatorische Paranoia, inco- harente Form der letzteren, senile Demenz.

6. Climakterium: Melancholie, chronische hallucinatorische und chronische einfache Paranoia, circulares Irresein.

7. Graviditat: Melancholie.

8. Puerperium: Acute hallucinatorische Paranoia, incoharente Form derselben.*)

9. Lactation: Subacute hallucinatorische Paranoia, stuporose Form derselben, Stupiditat, Manie.

10. Acute fieberhafte Krankheiten: Acute hallucinatorische Paranoia, ideenfliichtige und stuporose Form derselben.

11. Syphilis: Dementia paralytica, postsyphilitische Demenz, sowie die S. 446 unter a und b aufgefiihrten Storungen.

12. Epilepsie: Peracute und acute hallucinatorische Paranoia (sog. epileptische Dammerzustande), Dementia epileptica.

13. Hysterie: Peracute und acute hallucinatorische Paranoia (sog. hysterische Dammerzustande), chronische hallucinatorische und einfache Paranoia (sog. hysterische Paranoia).

14. Erschopfung: Manie, Stupiditat, acute hallucinatorische Para- noia, ideenfliichtige, incoharente und stuporose Varietat derselben.

*) Meistens tritt das Puerperalirresein, bei welchem iibrigens die verschiedensten Schidlichkeiten zusammenwirken (Schmerzen, Blutverluste, Gemutbserschutterungen, Mastitis, Parametritis, Sepsis u. s. w.), in der Zeit vom 3. bis 12. Tag nach der Ge- burt auf. Aucb nach Aborten kommen ahnliche Psychosen vor. Zuweilen kniipft der Ausbruch der Psychose auch an die erste Wiederkehr der Menses an.

Aetiologische Uebersicht liber die Psychosen.

455

Entsprechend dieser Uebersicht, welche sich noch leicht auf das Dreifache vergrossern liesse, hat man auch von „puerperalem Irresein", „Pubertatsirresein“, „epileptischem Irresein" u. s. w. gesprochen, Dabei ist zu beachten, dass die einzelnen Psychosen oft, aber keineswegs stets unter dem Einfluss eines bestimmten atiologiscben Moments eine cha- rakteristiscbe Modification ibrer Symptome oder ibres Verlaufs zeigen (hebepbrene, erblicb-degenerative Modification u. s, w.).

Ausser der Aetiologie ist aucb der zeitlicbeVerlauf oft znr Abgrenzung bestimmter Psychosen benutzt worden: Dabei ergiebt sich Folgendes :

Periodisch*) treten auf am haufigsten: Manie, Hypomanie, zu- weilen auch Melancholic und acute hallucinatorische Paranoia. Eine Varietat dieses periodischen Irreseins ist das polymorphe periodi- sche Irresein: bei diesem tritt in regelmassigen Zwischenraumen eine Geistesstorung auf, diese wechselt aber sehr. Bald ist es eine Manie, bald eine typische hallucinatorische, bald eine ideenfliichtige hallucinatorische Paranoia.

Circular*) losen sich am haufigsten Manie und Melancholic ab. Vgl. auch circulare Paranoia.

Recidivirend verlauft namentlich die Manie und die Melancholic, haufig auch die acute hallucinatorische Paranoia. Aus leicht ersicht- lichen Griinden neigen namentlich auch die acuten hysterischen, epilep- tischen und puerperalen Psychosen zu Recidiven. Auf dem Boden der erblichen Degeneration folgen sich oft in unregelmassigen Zwischenraumen die verschiedensten Psychosen: man spricht in diesem Falle von poly- morphem recidivirenden Irr.esein.

Transitorisches, d. h. fiber wenige Stunden und hochstens fiber einen Tag sich erstreckendes Irresein findet man am haufigsten in folgenden Gestalten:

1. Als sog. Raptus melancholicus. Dem Anfall gehen zu- weilen ReizRarkeit , Schwindel, Kopfschmerz und Herzklopfen voraus. Das Hauptsymptom des Anfalls selbst ist eine extreme Angst; meist ist sie von ausgesprochenen Pracordialempfindungen und schwerem Gefass- krampf begleitet. Zuweilen bestehen auch schreckhafte Sinnestauschun- gen. Die Dauer betragt 5 Minnten, selten mehr als 1 Stunde. Nachher besteht Amnesic. Vgl. S. 306.

2. Als sog. Mania s. Paranoia hallucinatoria transi- toria. Selten handelt es sich wirklich urn eine transitorische Manie, vielmehr meist um eine transitorische hallucinatorische Paranoia. Ab

*) Namentlich die erblich degenerativen Psychosen neigen zu periodischem und circularem Verlauf (s. o.).

456

Aetiologische Uebersicht uber die Psychosen.

und zu geht em leichtes Schwindelgefuhl imd Congestion zum Kopfe voraus_ Das Hauptsympt6m , die Hallucinationen , setzt ganz pldtzlfch em. Entsprechend ihrer Massenhaftigkeit kommt es zu einer volligen norientirtheit. Schreckhafte Hallucinationen scheinen vorzuherrsclien. as n 1 z es ^^^^^ken ist meist hochrotli, wahrend im Raptus melan- chohcus die Leichenblasse des Gesichts auffallt. Meist schliesst der

Anfall nach einigen Stunden mit einem tiefen Scblaf ab. Der Kranke erwacht mit Amnesie.

T-f simplex transitoria. Auf Grand einer

plotzhch aufschiessenden Wahnvorstellung, welche den Kranken vbllig beberrscbt, begebt er scbwere Gewaltbandlungen (Todtscblag wegen ver- memtbcber Vergiftung u. s. w.). Meist scbliesst der Anfall mit langerem bcmat. Die Amnesie ist bfter nur partiell.

Aetiologiscb kommt fiir das transitoriscbe Irresein meist erbliche Be- astung Oder cbroniscber Alkobolismus in Betracbt.*) Haufig ist es auch ei Epilepsm und Hysterie (als transitorischer Dammerzustand) , des- gleicben bei Neurastbenie. Aucb Herzleiden spielen eine Robe. Mitunter begleitet es oder vicarirt es fur einen Migraneanfall oder aucb fur einen Intermittensanfall. Die Gelegenbeitsveranlassung ist bald ein Alkobol- excess, (namentlicb in beisser Stube bei gleicbzeitigem Raucben scbwerer igarren), bald ein beftiger Affect, bald eine scbwere kbrperlicbe Strapaze (Marscb in der Sonnenbitze). Aucb im Anschluss an den Geburtsact wird es beobacbtet. Oft lasst sicb namlicb fur den Raptus melan- cbobcus eine besondere Gelegenbeitsveranlassung nicbt nacbweisen. Wegen der HaufigkeR scbwerer impulsiver Gewaltbandlungen bat das transitoriscbe Irresein vorzugsweise forensiscbe Bedeutung. Wir verweisen daber beziiglicb genauerer Bescbreibung auf die Lebrbucber der gericbtlicben Psycbopatbologie.

*) Die transitoriscbe „Manie“ ist am haufigsten bei Mannern im 20. bis 30 Le bensjahr.

Register.

Abasie 160.

Aberglaube 100.

Abreibungen 262.

Abstinenz 149, 150, 159, 162, 184, 260, 302, 387 Amn.

Abulie 149, 300.

Acetonurie 184, 419.

Acbillessebnenphanomen 178.

Acusticusatrophie 10, 425.

Acute Psychosen 198 ff.

Aehnlichkeitsassociation,Princip der 75,99.

Aetiologie, allgemeine 208 ff., atiologische Debersicbt 453 ff.

Affecte, Definition 58; Einfluss auf Ideen- association und flandeln 58, 147, 139 ff., 152, 157 ; auf den Puls 186 ff.

Affective Psychosen 273, 276 ff.

Affectkrisen 144.

Affectstbrungen bei Manie 276; bei Me- lancholie 297; bei Neurasthenie 316; bei Stupiditat 337 ; bei Paranoia 349 ff., 353, 366, 374, 378; bei Irresein durch Zwangsvorstellungen 389; bei ange- borenem Schwachsinn 400, 404, 407 , bei Dementia paralytica 417, bei De- mentia secundaria 447, bei Dementia senilis 442.

Affecttremor 174.

Ageusie 10.

Agitation, Definition 137, 139, 146; hallu- cinatorische 31, 147 : cler Angst 62, 93, 140, 143, 147 ; der Exaltation 65 ; des Zorns 147; Beziehung zur Ideenflucht 86 ; primare 147, secundare 147 ; Unter- scheidung beider 148; incoharente 156; als Ursache secundarer motorischer Inco- harenz 157 ; Temperatursteigerung bei Ag. 187, 188; Urinzusammensefzung 183, 184.

Agoraphobie s. Platzangst.

Agrammatismus s. Akataphasie.

Agraphie 424.

Agrypnie s. Schlafstbrungen.

Aichmophobie 125.

Akataphasie des Zorns J 67 Anm. ; bei In- coharenz 97, 353 ; bei Urtheilsschwache 133.

Akinesie 423.

Akoasmen s. Gehbrstauschungen.

Albuminurie 183, 356, 419.

Alexie 425.

Alkohol, Resistenzlosigkeit gegen 217, 221, 240, 445.

Alkoholexcesse, pathologische 140, 218, 281, 435 Anm. S. auch Dipsomanie.

A] koholintoxi cation, acute 222, 456.

Alkoholismus chronicus, Naehweis 222; atiologische Bedeutung 209 ff., 222 ff., 226, 3.J1, 402, 435, 451, 454, 456; Sensi- bilitatsstbrungen 10, Hallucinationen 21, 32, 354, 372 ; Personenverwechslungen 81, 82; Erinnerungstauschungen 81; Tremor 174; Menses 191; nach Morphinismus 229 Anm. ; belastender Einfluss 211 ff. ; Behandlung 452; Differentialdiagnose gegenuber Dementia paralytica 438; alkoholistiscbe Demenz 439; alkoholi- stische Pseudoparalyse 439 Anm.

Alkoholmanie 290.

Alkoholmelancholie 307.

Alkoholneurasthenie 327.

Alkoholparanoia 372.

Alter, Einfluss auf die Morbiditat 210.

Amblyopie 223, 229, 432.

Amenorrhoe 191.

Amentia 342 Anm.

Amnesie 67, 145, 156 Anm., 163, 221, 242. 358, 455, 456.

Amylenhydrat 265.

Anamie, atiologische Bedeutung 231, 247.

Anasthesie 9, 223.

Analgesie 13, 14, 243, 400, 432 ; scheinbare bei motorischer Hemmung 149, 150.

Anamnese 205 ff.

Anarthrie s. Stammeln.

Anconeussehnenphanojmen 178.

Angina pectoris s. Stenokardie.

Angst 60, 194; Localisation 60, 61 ; kbrper- liche Begleiterscheinungen 61 ; Angst- bewegungen 62, 139, 143; Einfluss auf die Kbrpermuskeln 62 ; auf das Handeln 139, 147, 152, 157 ; auf den Puls 186 ff.; Angstvorstellungen 63 ; Ausdrucksbewe- gungen der Angst 143; Zittern 174;

458

Register.

Angst bei Zwangsvorstellungen 122, 123, 124, 389, 392 ; bei Melancholie 297 ; bei Trinkern 224; im Senium 232; bei He- retlitariern 218; bei Bleivergiftung 225 ; bei Morphinismus 227, 229.

Anhedonie 15, 227, 228.

Anknupfungssymptome 108, 117.

Anorexie 15, 227, 283.

Anosmie 10, 425.

Anstaltsbehandlung 259 fif., 294.

Apathie 68 ff. ; allgemeine 68 ; circum- scripte 69 if.; scbeinbare 69; Einfluss auf das Handeln 140 ; Ausdrucksbewegun- gen 145 ; Apathie bei Stupiditat 336 ff. ; bei Melancholie 298; bei Dementia paralytica 429; bei Dementia secundaria 447 ; bei Dementia epileptica 449.

Aphasie, motorische 173 ; sensorische 53, 425, 437 ; optische 55, 80 ; Folgen fiir das Denken 50; bei Dementia paraly- tica 423, 436, 437 ; bei Dementia senilis 442, bei Dementia epileptica 450.

Apoplectiforme Anfalle 431.

Apperception 5.

Aprosexie 83; Beziehung zur Denkhem- mung 89 ; Theilerscheinung des Stupor 90; bei angeborenem Schwachsinn 404, 407.

Arteriosklerose 183, 232, 236, 443.

Arthralgie 225.

Articulationsstorungen 97, 160, 173, 174, 241, 243, 338; bei Dementia paralytica 422 ff.

Associative Verkniipfungen, Verlust der 55, 132.

Associative Verwandtschaft 76.

Astasie 160, 161.

Asthenische Psychosen 247, 454.

Asymmetrie, congenitale 169, 192, 193.

Ataxie, scbeinbare* 96, 97, 128, 155, 161, 353 ; echte 172 ff, 228, 229, 401, 422, 449.

Atremie 159.

Atropinpsychosen 229.

Attonitat 62, 89, 90, 93, 149, 367.

Audition colorde 19.

Aufmerksamkeit 5, Storungen der A. 82 ff. ; Herabsetzung 83, Steigerung 84; Disso- ciation 85.

Augenflimmern 21, 179, 181, 223, 228.

Augenmigrane 180.

Aura, hallucinatorische 36, 241 ; illusio- nare 43.

Ausdrucksbewegungen s. Gesichtsausdruck.

Automatische Acte 2, 400, 448.

Azoospermie 192, 220.

Aztekentypus 403.

Bader 261, 295.

Bauchreflex 175.

Beach tun gswahn 110.

*) d. h. psychisch-bedingte.

Begriff, concreter 47; allgemeiner 48; Beziehungsbegriffe 49; abstracte 48, 138.

Beriihrungsfurcht s. Mysophobie.

Beruhrungshallucinationen 22, 26, 30, 40.

Beriihrungsillusionen 39, 40.

Beriihrungszwang 127.

Beruf, Einfluss auf die Morbiditat 210,

211.

Beschaftigung, kbrperliche 257, 295, 332, 363, 373, 386, 448, 450, 452; geistige 286 ff, 295, 332, 363, 373, 386, 450.

Beschranktheit 135.

Bettruhe 257, 295, 312, 332, 341, 362, 394, 398.

Bettsucht 159.

Bewegungsdrang s. Agitation.

Bewegungsempfindungen 4 ; hallucinato- rische 23; illusionare 39.

Bewegungsvorstellung als Glied des psycho- physischen Processes 4 ; als Zwangsvor- stellung 165.

Bewusstlosigkeit 175, 171.

Bewusstseinsstorung 96 Anm.

Blaseninnervation 191, 425, 461.

Bleivergiftung, atiologische Bedeutung 225, 360.

Blinzelreflex auf Belichtung 177.

Blutbildung 184, 227.

Blutsverwandtschaft der Eltern, belasten- der Einfluss 215.

Blutverlust, Hallucinationen bei schwerem 36.

Bradykardie 185, 227, 322.

Bromsalze 266, 295, 364, 363, 394, 444, 450.

Bulimie 14, 283.

Buzzardscher Kunstgriff 178.

Calorische Schadlichkeiten 221, 456; Hallucinationen bei 36.

Canipher 313, 341, 364.

Carcinose, atiolog. Bedeutung 235 fl.

Castration 237.

Cerebrasthenie 314.

Charakter 59; -veranderung b. erworbenem Schwachsinn 70 ; bei Alkoholismus 223 ; bei Morphinismus 228 ; senile 232, 442 ; bei Dementia paralytica 417 ff., 426, 438 ; bei Dementia secundaria 445, 447.

Charakterabsonderlichkeit 211, 214, 386.

Chinin 341, 362, 398.

Chloralhydrat 265, 363, 439.

Chorea, Sensibilitatsstorung 10; Halluci- nationen 36 ; Chr magna 96, 156, 352 ; scbeinbare 155; Beziehung zu Psychosen 247; choreatische Bewegungsstbrungen 170, 171 Anm. ; bei Dementia paralytica 246, 434; bei Idiotie 401.

Chronische Psychosen 199 ff.

Circulare AffectstSrungen 66, 367.

Register.

459

Circulare Associationsstorungen 366.

Circularer Vcrlauf 197, 455; bci Dementia paralytica 428 ; bei Paranoia 351 ; Be- ziehung zu erblicher Belastung 216.

Circulares Irresein, Klinische Darstellung 396; Diagnose 287 , 309, 351, 397; Prognose 397 ; Therapie 398.

Claustropbobie 125, 388.

Cocainpsychosen 229, 360.

Colobom 192.

Coma 177, siehe aucb Sopor.

Commotio cerebri 220 ff.

Commotionsirresein 220 ff.

Complicirende Symptome 167.

Coniunctivalreflex 175, 339.

Constellation 77, 83, 120, 132, 163, 381, 390.

Contracturen, Definition 172; Unterscbei- dung organischer von katatonischen Zustanden 154; active 172; passive 172; bei Lahmungen 170; hysterische 243.

Coordinationsstdrungen, siehe Ataxie.

Cornealreflex 175, 339, 432.

Corollarsymptome, Definition 193 Anm.

Corticale Lahmungen 168, 170, 422; c. Convulsionen 170, 171, 431.

Craniotympanale Leitung 425.

Cremasterreflex 175.

Cretinismus 401.

Cultur, atiologische Bedeutung 209.

Cumulative (convergente) Belastung 213, 215.

Cylinder, hyaline 184, 283, 419.

D ammerzustande, epileptische 242, 357 ff., 364, 375, 456; hysterische 244, 358 ff., 364, 456.

Darminnervation 190, 229, 321.

Darmkatarrh, atiologische Bedeutung 236, 372.

Darmkatarrhe, bei Psychosen 177, 229, 230, 253, 321.

Darmsaftabscheidung 182.

Debilitat, klinische Darstellung 407 ff., Symptome 407, 52; Verlauf, Ausgange, Prognose 408 ; Varietaten 409 ; Aetiologie 409; Diagnose 409, 294; Beziehung zur erblichen Belastung 219.

Decubitus 420, 439.

Defecthandlungen 138, 166.

Defectpsychosen 272, 399 ff.

Degeneration, psychische alkoholistische 223 ff. ; erbliche 217 ff. ; epileptische 240 ff. ; hysterische 243 ff. ; morphini- stische 228 fl. ; neurasthenische 245 ff. ; traumatische 221 ff.

Degenerationszeichen, psychische 217 ff.; korperliche 192 ff., 217.

Degenerative Psychosen 215 ff.

Ddlire d’emblde 101.

Ddlire d’dnormitd 111.

Ddlire de negation 111.

Ddlire du toucher 125, 388, 394.

Delirium 156 Anm.

Delirium acutum 156, 183, 189, 253, 347, 352, 363, 419.

Delirium tremens, klinische Darstellung 354 ff. ; Albuminurie 183; Therapie 364.

Dementia, Definition 273.

Dementia acuta 335.

Dementia alkoholica 450 ff. ; einfache 451 ; pseudoparalytische 451, paralytische An- falle 452.

Dementia epileptica 242, 448 ff.

Dementia paralytica, klinische Darstellung 413 ff. ; Symptomatologie 414 ff.; Vor- stellungen 414; Associationsstorungen 415; Wahnvorstellungen 416; kdrper- liche Symptome 418 ff. ; Verlauf 425; klassische Form 427 ; circulare 428 ; galoppirende 430 ; Remissionen 428 ; paralytische Anfalle 430 ff. ; Ausgange und Prognose 434; Aetiologie 434; Diagnose 436, 445, 451; Dift'erential- diagnose gegenuber Manie 292 ; gegen- iiber Melancholie 308 ; gegenuber Neur- asthenie 330; gegenuber Paranoia hallu- cinatoria acuta 360; gegenuber Paranoia simplex acuta 375; gegenuber Paranoia simplex chronica 386 , monoplegischer Beginn 54, 437; Verhaltniss zu Tabes 238; Haufigkeit 209; Therapie 439 ff., in den Anfallen 439; pathologische Anatomie 433, 437, 440 ff. ; Halluci- nationen 37, 39, 417; Fragesucht 126; primare Agitation 147 ; Rindenconvul- sionen 171,431; Sehnenphanomene 177 ff., 425; Pupillen 176, 420; idiomusculare Erregbarkeitl79; Parasthesien 179, 425; Schmerzen 180 ; Migrane 181 ; Speichel- secretion 181, 419; Albuminurie u. s. w. 183, 184, 419; Blutbildung 184; Hypo- chlorhydrie 182, 419; Mageninnervation 189; Polyurie 182, 420 ; Pulsveranderung 186, 419 ; Temperatur 187 ff., 418. Ueber andere Symptome s. unter Symptomato- logie 414 ff.

Dementia secundaria nach Herderkran- kungen 444 ff., postsyphilitische 446.

Dementia secundaria s. str. (nach func- tionellen Psychosen) 200, 252 ; klinische Darstellung 446 ff.; nach Manie 286; nach Melancholie 304; nach acuter hallucinatorischer Paranoia 349; nach Stupiditat 339; Kdrpergewicht bei 185.

Dementia senilis, klinische Darstellung 441 ff.; Symptomatologie 441 ff . ; Ver- lauf 443; Ausgange und Prognose 443; Aetiologie 443; Diagnose 443; Difte- rentialdiagnose gegenuber Melancholie 309 ; gegenuber Paranoia hallucinatoria acuta 361, gegenuber Dementia para- lytica 438 ; Therapie 444 ; pathologische Anatomie 444; paralytische Anfalle 443;

460

Register.

Verneinungswahn 111; Sehnenphano- mene 178; Pupillen 176 ; Schmerzen 180.

Dementia traumatica 221, 451 Anm.

Denkhemmung, Wesen der - 89 fl. ; pri- mare 91; secuudiire balluciiiatorisclie 29, 90, 94: secundare affective 62; Ein- fluss auf das Wiedererkennen 79; Be- ziehimg zur Aprosexie 83; Beziehung zur Depression und Angst 92, 297; Unterscheidung vom Intelligenzdefect 93, 135; nach Commotio cerebri 221; bei Epilepsie 241 ; bei Melancbolie 298; bei Stupiditat 335; bei Paranoia 351; bei Dementia paralytica 415.

Dentition 217.

Depression, Wesen 59 ff. ; primare 60; secundare 59 ft'.; Einfluss auf Ideen- association und Handein 58, 62; auf die Korpei-musculatur 62; secundare Wabnvorstellungen bei D. 63; Thranen- secretion bei D. 182; Oligurie 182; Ausdrucksbewegungen der D. 141; Vor- kommen 63.

Ddsdquilibration 218, 219.

Diabetes, atiologische Bedeutung 237.

Diagnostik, allgemeine 201 ff.

Digitalis 341.

Diplopie, ballucinatoriscbe 21 ; neurastbe- niscbe 323 : paralytische 420.

Dipsomanie 302, 310.

Dissimulation 35, 118, 119, 129.

Dissociation s. Incobarenz.

Druckpunkte 11, 14, 180, 245, 282,318, 347.

Duboisin 265, 295, 362.

Dyspepsie, iiervose 236, 322.

Dystbymie s. Depression.

Echokinese 165.

Ecbolalie 166.

Eifersucbtswahn 101, 124.

Einfacbe Psychosen, Definition 272; Be- sprechung 276 ff.

Einfalle, wahnbafte 112, 113, 72, 116, 118, 131, 163, 385; paradoxe 218. .

Einfallsbandlungen 163.

Einpackung, hydropathiscbe 262, s. auch Hydrotberapie.

Eintheilung der Psychosen 272 ff.

Elektriscbe Erregbarkeit bei Lahmungen 170, 422.

Elektrotberapie 263, 333.

Empfindung 3, 5 ; Eigenschaften der nor- malen E. 7 ; Intensitatsstorungen 8, 9 ; allgemeine Pathologie der Empfindung 9 ff. ; inhaltlicbe Storungeu 16; Sto- rungen des Gefiiblstons 12; Stbrungen bei Manie 277; bei Melancbolie 298; bei Stupiditat 336 ; bei Neurastbenie 317; bei Paranoia 342, 365, 374, 378; bei angeborenem Schwachsinn 399 ; bei Dementia paralytica 417 ; bei Dementia senilis 441.

Emprosthotonus 90.

Empyem, flallucinationen bei 36.

Encephalitis 402.

Entbindung, Hallucinationen bei 36.

Entwicklungsbemmungen 191 ff., 403.

Enuresis 217, s. auch Blaseninnervation.

Ependym 440, 444, 450, 451.

Epigastriscbe Reflexe 175.

Epilepsie, Analgesie 14 ; Affecte242 ; Denk- hemmung 241; Hallucinationen 21. 36, 240 ff. ; Illusionen 38, 39, 43; identi- ficirende Erinnerungstauscbungen 82; ballucinatorischer Stupor 91; Tremor 174; Pupillen 176; Sehnenphanomene 177 ff. ; idiomusculare Erregbarkeit 179; Albuminurie 183 ; A-cetonnrie 184; Tem- peratur 188; einzelne epileptische An- falle 171, 217, 405; belastender Einfluss ffer 214 ; atiologische Bedeutung 240 ff., 454; epileptische Degeneration 241 ; epileptische Dammerzustande 242 ff., 357 ff., 376, 456; Beziehung zur Idiotie 401 ; zu Dementia paralytica 434.

Epileptiforme Anfalle 171; bei Dementia paralytica 431 ff.

Erblicbe Belastung, Feststellung 206 ; atio- logische Bedeutung 211 ff. ; Formen der erblichen Belastung 212; Hauptgesetze 213; Grade 214; specieller Einfluss auf die Psychose des Descendenten 215; gleicbartige 220.

Erblicbe Degeneration, atiologische Be- deutung 215, 454, 4.56; Einfalle bei 113 ; impulsive Zwangsbandlungen 129: be- lastender Einfluss 214: erblicb dege- nerative Modification 215 ff., der Debi- litat 409; Zeicben der 217 ff. ; Ein- fluss auf die Prognose 251 ; progressive erblicbe D. 219.

Erbrechen 181, 189 ff., 419.

Ergotin 363, 439.

Ergotismus, atiologische Bedeutung 230.

Erinnerungsbild s. Vorstellung.

Erinnerungsentstellungen 56, 114, 243.

Erinnerungsballucinationen 116.

Erinnerungstauscbungen 56, 114 ff.; iden- tificirende 81; affective 114; im Zu- sammenbang mit anderen Wabnvorstel- lungen 115; unvermittelte 115; bei De- mentia paralytica 416.

Ermtidbarkeit 91, 169, 173, 228, 245, 317, 323.

Ernahrung (tberapeutiscb) 259 ff'., 296, 321.

Erscbopfung, atiologische Bedeutung 247, 454; Erscbbpfiingspsycbosen 247; Er- schbpfungsstadien nach schweren Psy- cbosen 248 ; identificirende Erinnerungs- tauscbungen bei 82; Pupillen 176; Tre- mor 174.

Erscbopfungsdelirium s. Inanitionsdelirium.

Erytbropsie 38.

Euphorie bei Tuberkulosen 235 ; bei Dem. paralytica 418, 429.

Register.

461

Exaltation, Einfluss auf Ideenassociation und Handlungen 58, (35, 147 ; primare 64, secundare 64, Vorkommeii 65; re- active 66; Beziehung zurldeenflucht88: Ausdnicksbewegungen 144.

1* acialislahmiingen bei functionellen Psy- cboseu 169, and Salivation 181 ; bei Alkobolismus 223 ; bei Morpbinisnius 228 ; senile 232 ; bei Dementia paralytica 420, 433, bei Dementia senilis 444.

Farbenbegriffe 51, 404.

Fasciculare Labmimg 168, 170.

Fechnersebe Formel 9.

Fernwirkungen 167.

Fieber. llallucinationen bei 36; iitiolo- gisclie Bedeutung 454; Fieberdelirien 233 If.; siehe auch Temperatur.

Flechsig'scbe Behandlung 450.

Flexibilitas cerea 90, 150, 151, 153.

Flimmerskotom 181.

Folie a deux 250.

Folie a double forme 396.

Folie communiquee 250.

Folie de doute 126.

Folie intermittente 216.

Forensisebe Beziebungen 144, 146, 147, 158, 159, 162, 163, 164, 138, 140, 141, 118, 67, 69, 70, 129, 221, 218, 281, 302, 345, 355, 358, 368, 382, 400, 405, 408, 400 ff.. 427, 442, 447, 449, 456.

Fragesuebt 126.

Funkenseben 412.

Fussklonus 178, 425, 432.

Gang bei Beschleunigung der motoriseben Actionen 146 ; bei motoriseber Inco- barenz l55; bei Grossenwabn 158; Sto- rungbei bypoebondriseben Vorstellungen 160; Coordinationsstorung 173; Stoning durcb Tremor 174 ; verspatetes Ler- nen 217 ; bei Alkobolismus 223 ; bei Hirntumor 239 ; bei Manie 281 ; bei De- mentia paralytica 422, 424.

Ganglienzellenveranderungen 440, 444, 451.

Gaumenbildung, Storungen der 192.

Gaumeninnervation 421.

Gaumenreflex 176.

Gedacbtnisspriifung 203.

Gedaebtnissstdrungen 53, 54 If., 135, 223, 232, 414, 441, 445, 447, 449.

Gedankenlautwerden 306.

Gefiiblstdne , der normalen Empfindung 7, 56; Abbangigkeit von der Empfin- dungsintensitat 13, Irradiation 16, 57; Reflexion 16, 58 ; qualitative Versebieden- beit 58; Einfluss auf die Ideenassocia- tion 77, 78; auf die Aufmerksamkeit 83; Storungen der sensoriellen G. 12; Std- rungen der intellectuellen 56, 289;

etbisebe G. 59; Defect der etbiseben Gefublstdne 69, 219, 223, 228, 242, 252, 407, 410, 417, 442, 447 ; Einfluss des Defects der etbiseben Gefiiblstdne auf das tlandeln 140, 219,426; bebepbrene Veranderung der G. 231; Veranderung der G. bei cerebraler Erscbdpfung 247 ; bei llysterie 243, bei Idiotie 40ft; bei Manie 16, 276: bei Melancbolie 16, 297; pathologiscbe Reflexion und Irradiation 74, 123.

Gcfublsvermdgen 5.

Gebirnerweiebung 440 Anm.

Gebirntumor 445 Anm.; llallucinationen bei 17, 239; Denkbemmung 75, 239; Erbrecheii 189.

Gebdrsballucinationen 21, 24, 25. 26, 27,

30, 31, 37, 373.

Gebdrsillusionen 38.

Gelbseben 38.

Gelenkrbeumatismus, atiologiscbe Bedeu- tung 233.

Gemeingefahrlicbkeit 254.

Gemisebte Psyeboseu 275.

Genitalien, Bildungsanomalien 192. Genitalerkrankungen , weiblicbe , atiolo- giscbe Bedeutung 237, 328, 372. Geograpbisebe Verbreitung der Psyebosen

209, 436.

Gerucbsballucinationen 22, 30, 41, 239. Gerucbsillusionen 39, 41.

Gescblecbt, Einfluss auf die Morbiditat

210, 213 unten.

Geschmackshallucinationen 22. 30, 40. 181.

Gescbmacksillusionen 39, 40. Gesicbtsausdruck bei motoriseber Hem- mung 90, 149; paramimiscber;,G. 96, 352, 155, 231 ; der Depression'141 ; der Angst 143; der Heiterkeit 144; des Zorns 144; der Apatbie 145 ; der Labi- litat 145 ; bei motoriseber Incobarenz 155; bei Grossenwabn 158; bei Ver- siindigungswabn 158 Anm.; bei Trin- kern 223; bei Stupiditat 338;'J'bei iu- cobarenter Paranoia 353; gesteigerte Beweglicbkeit des G. 146, siebe aucb unter Grimassiren.

Gesicbtsfeldeinengung, concentrisebe bei Hysterie 10; bei Morpbinismus 228- bei Alkobolismus 356.

Gesicbtsballucinationen 21, 24 25 30

31, 37. . . , ,

Gesicbtsillusionen 37 ff.

Gestikulation, Storungen der 86, 143 144

146, 149.

Gleicbzeitigkeitsassociation. Princio der 75, 99.

Gliazellen 440.

Globus hystericus 190.

Glykosurie 184, 419.

Gonorrboe 235.

Gottnomenclatur 105, 242.

462

Register.

Gouvernantcnwahnsinn 249.

Graviditat, atiologische Bedeutung 210, 307, 340, 391, 454.

Graviditiitsgeliiste 12.

Grimassiren 127, 146, 155, 156, 165, 231. Grdssenwahn 104 II. 119; atfectiver G. 65, 104; scliwachsinniger G. 105; Ein- fluss auf die Handlungen 158 ; bei Manie 279 ; bei Paranoia simplex chronica 381 ; bei Dementia paralytica 416. Griibelsucbt 126, 389.

Gurtelgefiibl 443.

Gynakologische Behandlung 237, 373.

Haarwuchs, Anomalie des 192.

Hamatom der Dura mater 440.

Hamopbilie, bei Morphinismus 227.

Hasslicbkeitswabn 106.

Haufigkeit der Psychosen 208 ff.

Hallucinationen, Definition 17 ; Qualitat 20; haptische 22, 26, 30; der Organ- empfindungen 23, 108, 358, 371 ; optische 21, 24, 25, 30 31; acustische 21, 24, 25, 26, 27, 30, 31 ; des Geruchs 22, 30, 239; des Geschmacks 22 30; der Be- wegungsempfindungen 23, 30, 31, 372; zusammengesetzte 23 ; Gefiihlston der H. 24; Localisation 24; unilaterale 33, 433; Entstehungsbedingungen 25; func- tionelle 25 ; •willktirliche 26 ; vermittelte (begleitende) 27 ; im vermittelte 27 ; Sug- gerirbarkeit 28; Einfluss auf die Auf- merksamkeit 84; auf die Ideenassocia- tion 28, 87 ; auf das Handeln 30, 137, 147, 151, 156; Verhaltniss zuden Wahn- vorstellungen 28, 30, 101, 108. 116; pir Incoharenz 97; fascinirende 31, 90; im- perative 31, 91 ; hypnagogiscbe 36, 317 ; Tbeorie der H. 31; Diagnose 34; Vor- kommen 35; bei Commotio cerebri 221 ; bei Bleivergifturtg 225 ; bei Alkoholisten 224, 355, 372 ; bei Dementia paralytica 417, 433 ; bei Dementia senilis 441 ; bei Manie 277 : bei Melancholie 298, 306; bei Morphinismus 228, 229; bei Epi- lepsie 241 ff., 357 ff. ; bei Hysterie 21, 36, 358, 371; bei Paranoia 342 ff. ; bei Zwangsvorstellungen 123; bei Neuras- thenie 317 ; bei Hereditariern 217 ; bei Schwachsinn 412 ; bei transitorischem Irresein 455.

Handlungen 2, 5 ; Storungen des Handelns 136 ff.; bei Manie 280; bei Melancholie 300; bei Irresein durch Zwangsvorstel- lungen 389 ; bei Stupiditat 337 ; bei an- geborenem Schwachsinn 400, 405, 408 ; bei Dementia paralytica 426 ff. ; bei De- mentia senilis 442; bei Paranoia 345, 367, 379; bei Irresein durch Zwangs- vorstellungen 389 ; Beeinflussung durch Hallucinationen 30, 137, 147, 151, 156, 367; durch Affecte 58, 65, 139 ff., 147,

152, 1.57; impulsive 221, 242, 118, 129, 163; Beeinflussung durch Wahnvor- stcllungen 177 ff., 157 ff. ; Beeinflussung durch Zwangsvorstellungen 126, 164; durch Storungen der Ideenassociation 145 ff. ; Beschleunigung 145 ff. ; Ver- langsamung 148 ff. ; Incoharenz 154 ff.; Defecthandlungen 138, 166.

Hautreflexe 175 ff., 324, 389, 425, 432, 443; Beziehung zu Hyperasthesie 11; bei Alkoholisten 223 ; bei Dementia pa- ralytica 425, 432.

Hebephrene Modification 231.

Heilung mit Defect 252, 286, 304, 348.

Heimweh 249, 259, 307.

Heitere Verstimmung, s. Exaltation.

Heiterkeit, krankhafte, s. Exaltation.

Hemianasthesie, hysterische 10, bei com- plicirter Augenmigrane 181, bei Demen- tia paralytica 433, 440 Anm.

Hemianopsie, hysterische 10; choreatische 10; paralytische 432, 437 ; Erkennung 177.

Hemmung, motorische 148 ff., 182; durch Affecte 58, 62,139, 152; in Verbindung mit Denkhemmung 89, 94. 139; kata- tonische 89, 90, 93, 149; primare mo- torische Hemmung 151, secundare 151; Unterscheidung der primaren und se- ‘cundaren 152; hallucinatorische 151.

Herderkrankungen des Gehirns, Beziehung zu Psychosen 54, 238 ; Convulsioneu bei H. 171; Sehnenphanomene 178; Schmer- zen 180; Urinsecretion 183; infantile 219 Anm.; multiple 239, 401 ff. ; Be- ziehung zu Dementia senilis 443 ; secun- dare Demenz nach - 444 ff.

Hernien 192.

Herzinnervation , s. vasomotorische Sto- rungen und Pulsstorungen.

Herzkrankheiten, atiologische Bedeutung 236, 443, 456.

Hesitation 422.

Hexen 23, 209.

Hippus 176.

Hirngewicht 403, 440, 450.

Historische Entwicklung der Psychosen

209, 436.

Hydrocephalus 403, 440, 444, 450, 451. Hydrotherapie 261 ff., 311 ff, 333, 341, 363, 364, 439, 452.

Hyoscin, therapeutische Anwendung 264, 265, 295, 296, 312, 362, 363, 398, 439, 448.

oscinpsychosen 229.

pasthesien 9, 228, 356.

palgesien 14, 220, 228, 337, 339, 447,

442, 436, 356.

peraesthesia retinae 11.

perasthesien 11, 220, 223, 317.

fperalgesien 13, 220, 317.

fperchlorhydrie 182.

'perhedonie 15.

Register.

463

Hypermnesie 279.

Hyperosniie 11, 317.

Hyperprosexie 84, 86, 278.

Hyperthymic, s. Exaltation.

Hypliedonie 15.

Hypnose 268, 364.

Hypochlorhydrie 182, 227, 419.

Hypocbondrie 330.

Hypochondrische Wahnvorstellungen 106, in, 113, 116, 120, 180; affective 63, 106; Einfluss auf die Handlungen 17, 159, 170; Ki’ampfbewegungen bei h. W. 161; Sprachstorung 173, 161.

Hypomaiiie 284, 292.

Hypomelancholie 305, 310.

Hypsophobie 123.

Hysterie, atiologische Bedeutung 243 ff., 245 , 454 ; hysteriscbe Psycbosen 244 ; hysterische psychische Degeneration 243 ff, 245 Anm. ; hysterischer Dam- merzustand 358, 456 ; hysteriscbe Me- lancholic 306 ; hysterische Paranoia hal- lucinatoria chronica 371; hyst. Paranoia simplex chronica 385; traumatische Hysterie 221 ; alkoholistische 223 ; Blei- hysterie 226; Quecksilberhysterie 226; Morphiumhysterie 228 ; belastender Ein- fiuss 214, erbliche Belastung bei H. 216; Affecte bei H. 243; Stimmungslabilitat 72; Launenhaftigkeit 73; Handlungen 244; Hypasthesien 9, 10; Hyperasthesien 11; Hypalgesien 14; Hyperalgesien 14; Paralgesien und Parhedonien 12; Hal- lucinationen 21, 36, 358; Illnsionen 43; Einfalle 72; hallucinatorischer Stupor 91; Erinnerungsentstellungen 114; Con- tracturen 172. Erbrechen 190; Krampf- anfalle 162, 243; Lahmungen 161, 170; Migranel81; Parasthesien 179 ; Pupillen 176; Reflexe 175 ff. ; Sehstdrung 10, 243; Sehnenphanomene 178 ; Temperatur 188 ; Tremor 174; Urinsecretion 183; Re- tentio urinae 191; Urindrang 191; Differentialdiagnose gegeniiber Neuras- thenie 331.

Jackson’sche Epilepsie 401, 446.

Jactation 96, 156, 171; Anm. 282, 346, 353.

Ideenassociation, Definition 3, 5, 74, Re- einflussung durchHallucinationen28; all- gemeiner Gang 44 ; Beeinflussung durch Affecte 58, 78; Gesetze 75; Geschwin- digkeit 78; Storuiigen 74 ff; Einthei- lung der Storungen 78; allgemeine Associationsstbrungen 85 ff. ; Beschleu- nigung 85; Verlangsamung 89 ; Stbrun- gen des Zusammenhangs 95; specielle Storungen 99 ff. ; bei Morphinismus 227, 228; bei Paranoia 365, 378, 370, 374, 343, 349 ff. ; bei epileptischen Dammer- zustanden 357 ; bei Irresein durch

Zwangsvorstellungen 389; bei Manie 278; bei Melancholic 298; bei Neur- asthenic 319; bei Stupor 336; bei Im- becillitat 404; bei Dementia paralytica 415; bei Dementia senilis 441.

Ideenflucht, Wesen und Definition 85 ff'. ; Eintheilung 87 ; secondare , hallucina- torische 129, 87 ; secundare, affective 65; Einfluss auf die Aufmerksamkeit 84; Beziehung zur Exaltation 88; Be- ziehung zur Incoharenz 97 ; bei Manie 278; bei Neurasthenic 88, 318; bei Pa- ranoia 350.

Ideenfliichtigkeit 85.

Idiomusculare Erregbarkeit 178, 179.

Idiotie , klinische Darstellung 399 ff. ; Symptome 399; Aetiologie 401 ; The- rapie 403; Diagnose 406; pathologische Anatomic 403; Defect der Vorstellungs- bildung 51; Zahneknirschen 171; Phan- tasiemangel 218.

Jendrassik’scher Kunstgriff 178.

Illusionare Auslegung 41, 103*) als Ur- sache von Personenverwechslung bO.

Hlusionen, Definition 17, 37 ff. ; Ent- stehungsbedingungen 39; unvermittelte 40, 116; vermittelte 40, 116; Theorie 40; Diagnose 40; Vorkommen 42; als Ursache von Personenverwechslung 80.

Imbecillitat , klinische Darstellung 404; Symptome 404; Verlauf und Prognose 406; Aetiologie 406; Diagnose 406, 409; Therapie 406; pathologische Anatomic 406 ; Defect e der Vorstellungsbildung 51.

Imitation 249.

Impotenz 191, 228.

Impulsive Handlungen, Unterscheidung von Zwangshandlungen 392; bei De- mentia secundaria 446; bei Hysterie 244; bei transitorischem Irresein 456.

Inanition, Hallucinationen bei 36; Manie bei 290.

Inanitionsdelirien 233 ff.

Incoharenz, Wesen 95; secundare, halhi- cinatorische 29, 97 ; secundare ideen- fliichtige 65, 87, 97, 278; secundare affective 98; bei Zornafl'ecten 67, Ein- fluss auf das Wiedererkennen 79 ff. ; Ursache von Personenverwechslung 81; Einfluss auf die Aufmerksamkeit 84; bei Intelligenzdefect 98, 133; incoha- rente Einfalle 113 ; Unterscheidung von Intelligenzdefect 98, 135; motorische 146, 136, 154 ff'., 171 Anm.; Tempe- ratur bei motorischer Incoharenz mit Agitation 188; bei Commotio cerebri 221; bei Morphinisten 228; senile 232; bei Paranoia 352, bei Dementia para- lytica 416.

*) S. 35 ist falschlich illusionare Auslegung statt wahnhafte Auslegung ge- druckt.

464

Register.

Incontinentia vesicae et alvi 191 401

425.

Incubus 23.

Inclucirtes Irresein 250.

Infection, psycbische 249 fF. Infectionskrankbeitcn, acute, Sensibilitats- storungen 10; atiologische Recleutung 233 ff.

Insolation 221, 289, 456.

Intellectuelle Psychosen, Definition 273- klinische Darstellung 335 ff.

Intelligenzdefect, Wesen 132; Beziehung zur Stimniungslabilitat 72; nach Denk- hemraung 92 ; Unterscheidung von Denk- hemmung 93, 135; Incoharenz des In- telligenzdefect 98, 133, 135; Unter- scheidung von primarer Incoharenz 98; nach primarer Incoharenz 99; patho- logisch - anatomische Grundlage 134- Einfiuss auf das Handeln 152, 138, 157 ; secundarer 199, 200; bei Alkoholisten 223 ff.; bei Traumatikern 221 ; bei Here- ditariern 218 ff.; bei Bleivergiftung 225; bei Ergotismus 230, bei multiplen Herd- erkrankungen 239 ff.; bei Dementia epileptica 449 ; bei Dementia paralytica 416; bei Dementia senilis 441; bei se- cundarer Demenz 447.

Intelligenzpriifung 203, 204.

Intensitat der normalen Empfindung 7 ; Einfiuss auf die Aufmerksamkeit 82.

Intentionspsychosen 73, 123, 160.

Intentionszittern 174, 228, 422, 423.

Intermissionen 198.

Intoxicationen, Hallucinationen bei acuten 36; Tremor 174; Migrane 181; atio- logische Bedeutung 222 ff. ; Alkoholis- mus 222 ff. ; Metalle 225 ff. ; Alkaloide 226 ff'.

Iris 192.

Irradiation der Gefiihlstdne 16 ; s. Gefuhls- tdne.

Irrthum 99 ff , 118, 119.

Isolirung 258, 295.

Isolirzimmer 258.

luvenile Psychosen, Sensibilitatsstdrungen 11, 14; Zahneknirschen 172; Salivation 181, 435.

Kohlenoxydvergiftung 226.

Kdrpergewicht 184 ff'.

Korpcrliche Krankheiten, atiologische Be- deutung 233 ff. ; acute 233 ff. ; chroni- sche 234 ft. ; Krankheiten des Nerven- systems 238 ff.

Kopfdruck 317, 323.

Kopfgalvanisation 263.

Kopfleere 95, 204.

Kopfsausen 317.

Kopfschmerzen 180 ff., 228, 425, 426.

Kopfverletzungen, atiologische Bedeutung 221, 290, 402, 435, 451 Anm., 454.

Koprolalie 127, 165.

Koprophagie 158, 408.

Krampfbewegungen 170 ff., 223, 225 ; hy- pochondrische 161.

Krankheitsbewusstsein 8, 117, 120, 130 137, 164, 165, 369, 279.

Krankheitswahn 106; s. hypochondrische Wahnideen.

Ijabilitat der Stimmung 71 ff. 243; Ein- fluss auf das Handeln 141 ; Ausdrucks- bewegungen 145 ; bei Hereditariern 218, bei Dementia paralytica 418; bei De- mentia secundaria 445.

Lachweinen 145, 231.

Lactation , atiologische Bedeutung 210, 307, 328, 340, 454.

Lahmungen 168 ff. ; bei Bleivergiftung 225 ; bei Alkoholismus 223; bei Morphinismus 227; bei Dementia paralytica 420 ff.; im paralytischen Anfall 430 ff. ; hypo- chondrische 117, 160; hysterische 161; auf Grund von Zwangsvorstellungen 128.

Launenhaftigkeit 73, 243; Einfiuss auf das Handeln 141.

Lautwerden der Gedanken 27.

Leptomeningitis, chronische 440.

Lesestdrungen 425.

Localisationsfehler fiir Beriihrungen 223.

Logorrhoe 65, 86, 87, 144, 146, 280.

Lugenhaftigkeit 70, 114, 216, 224, 228, 244, 408.

Lust und Unlust 5.

Kalteempfindungen, subjective 228. Kampf urn’s Dasein , atiologische Bedeu- tung 209.

Katalepsie 154, 372.

Katatonie 398.

Katatonische Bewegungen 31, 149, 151; Spannung 62, 143, 149. 152, 153, 182, 346; Hemmung 89, 90, 93. Kleinheitswahn 106.

Klimakterium. atiologische Bedeutung 210, 372, 391, 397, 454.

Kniephanomene 177 ff., 425. Kochsalzinfusionen 296.

Mageninnervation 189 ff., 227, 321, 419. Magenkatarrhe bei Psychosen 188, 189, 321, atiologische Bedeutung 236, 328. Magensaftsecretion 182.

Maisvergiftung 230.

Makrocephalie 403.

Makropsie 38.

Maladie des tics 127, 165.

Malaria 198, 233, 456.

Maniakalische Exaltation 284, 292.

Manie, klinische Darstellung 276 ft’, Sym- ptomatologie 276 ff. ; Verlauf 283 ff. ; Therapie 294 ; Prognose 285 ; patho- logische Anatomie 296 ; hallucinatori-

Register.

465

sche Form 278, 287; rasonnirende Form 282; periodische 287, 288 ff., 294; tran- sitorische 287 , 455 ; chronische 287, 288; Mania levis 284; Mania gravis 284 ; Aetiologie 289 ff. ; Alkoholmanie 290; erbliche Belastung 216; Diagnose 290, 375; Hyperasthesien im Prodro- malstadium 11, Veranderung der Ge- fiihlstone 16; Personenverwechslungen 81 ; Temperatiir 188 ; ZahneknirscEen 171.

Massage 260, 261, 313, 332, 363.

Mastication 181 ; s. auch Zahneknirschen

Masturbation 140, 158, 191, 231, 247, 270, 271, 281, 299, 302, 307. 327, 340, 372, 386,391, 400, 408, 417, 428, 448, 449.

Medicamente 263 ff

Melancbolie, klinische Darstellung 297 ff. ; Symptomatologie 297 ff. ; Varietaten 305; Verlauf 302; Ausgange und Pro- gnose 303; Aetiologie 306; Diagnose 307 ; Therapie 310 ; pathologiscbe Ana- tomie 314; apathische Form 298; agi- tirte 301 ; bypochondrische 299, 305, 325, 328; periodische 301, 306; chro- niscbe 304; hallucinatorische 305, tran- sitorische 306, 310, 455; M. passiva 300, attonita 300; postneurasthenische M. 395 ; Blutzusammensetzuug 184 ; Gefass- innervation 186; Menstruation 190; Ob- stipation 190; Speichelsecretion 182; Thranensecretion 182; Urin 184; erb- liche Belastung bei M. 216.

Melancholische Verstimmung 305, 310.

Meningitis, atiologische Bedeutung 402.

Menstruationsstbrungen 190; Beziehungen der Menstruation zum periodischen Irre- sein 198; zur Manie 290; bei Stupidi- tat 338; bei Dementia paralytica 419.

Merycismus 189.

Metallgifte 225 ff.

Metamorphopsie 38.

Meteorismus 190.

Migrane 180, 190, 217, 228, 456.

Mikrocephalie 402.

Mikropsie 38.

Minderwerthigkeit, psychopathische 219.

Mitbewegungen 175, 401.

Moralisches Irresein 70, 219, 294, 411 Anm.

Morbiditat, psychische 208 ff.

Morbus Basedowii 174.

Morphinismus 226 ff. ; Tremor 174, 227 ; Pupillen 176, 227; Menses 191; Pro- gnose 251; Behandlung 452.

Morphium, therapeutische Anwendung 264, 265, 312, 439.

Morphiumpsychosen, acute 229.

Mortalitat 252.

Motilitatsstbrungen 168 ff. ; Lahmungen 168 ff. ; Reizerscheinungen 170 ff. ; Stb- rungen im Ablauf der willkurlichen Be- wegungen 172 ff.

Ziehen, Psycbiatrie.

Muskelatrophie, progressive 177 ; bei Lah- mungen 170.

Mutismus 89, 150 ; des Zorns 141 ; der Angst 143; hypochondrischer 160. Mydriasis 176, 227.

Mysophobie 125, 388, 394.

Myxoedem 401.

Nachahmung 165 ff., 405, 407.

Nachstadien 196.

Nachwirkungserscheinungen 424 Anm.

Nahrungsverweigerung, s. Abstinenz.

Nephritis, atiologische Bedeutung 236.

Nervositat s. Neurasthenic.

Neuralgic 180; Beziehung zu Halluci- nationen 25; bei Trinkern 223'; Ur- sache von Morphinismus 226; bei Mor- phinismus 228 ; bei Dementia paralytica 425; Behandlung 263.

Neurasthenic, klinische Besprechung 314 ff. Symptomatologie 315 ff. ; hypochondri- sche Form 319 ; vasomotorische 322:'; dys- peptische 322; Verlauf 324; Ausgange 324; chronische N. 324; Varietaten 325; locale 327; traumatische 221, 327; Diagnose 328, 436; Therapie 332;' pa- thologische Anatomic 334; Beziehung zu Psychosen 244 ff. ; Beziehung zum transitorischen Irresein 456; Hyper- asthesie 11; Hyperalgesie 14; secundare Stimmungslabilitat 72; Stbrung der Auf- merksamkeit 85; Ideenflucht 88 ; Denk- hemmung 91, hypochondrische 'Vorstel- lungen 108; Parasthesien 108, 117, 179; Zwangsdenken 121; Tic convulsif 172; Sehnenphanomene 178; Topalgien 180; Pulsfrequenz 185 ; Darminnervation 189 ; Urindrang 191.

Neuritis multiplex, Sensibilitatsstbrungen 10, 223, 225 ff'. ; Lahmungen 168; Sehnen- phanomene 177; Parasthesien 179; Be- ziehung zu Psychosen 238 ; bei Demen- tia paralytica 440; bei Dementia se- nilis 442; bei Syphilis cerebri 446.

Neuritis optica 223, 225.

Neuropathische Constitution, erblich de- generative 219 ; traumatische 221, alko- holistische 223 ff. ; saturnine 225 ; mor- phinistische 228; bei Herderkrankungen des Gehirns 240; Beziehung zur Neur- asthenic 246, 325.

Nicotianamissbrauch, atiologische Bedeu- tung 174, 229, 391, 435, 456.

Nucleare Lahmung 168, 170.

Nystagmus 174, 193, 401, 420, 431.

Obsession par un mot (Onomatomanie) 121, 128.

Obstipation 188, 190, 225, 227, 302; Be- handlung 260, 311.

30

466

Register.

Ohr, Bildungsanomalien 192.

Ohrensausen u. s. w. 17, 21, 179, 223.

225, 228, 229, 317, 355, 442.

Oligurie 182.

Opisthotonus 90.

Opiophagie 227.

Opium, therapeutische Anwendung 263 ff., 266, 270, 295, 312, 313. 333, 362, 364 396, 398, 439, 444 450.

Opticiisatrophie 10, 230, 399, 425. Organemphndungen, hallucinatorische 23, 108, 401; illusionare 39, 40, 41, 108. Othsematom 420.

Ovarie 11.

Oxyakoia 11.

Palpebralreflex 175, 339.

Papille des Sehnerven 192, 223, 425.

Paragraphie 155.

Paraldehyd 444.

Paralysis agitans 174.

Paralysis progrediens, siehe Dementia pa- ralytica.

Paramimie 96, 155, 231, 352.

Paranoia, Stellung im System 273; Ein- theilung 341.

Paranoia hallucinatoria acuta ; klinische Darstellung 342 ff ; Symptomatologie 342; Verlauf 347; Ausgange und Pi’o- gnose 348 ; Varietaten 349 ; ideenfliichtige Form 350; stuporose Form 351; circu- lare Form 351; incoharente Form 352; exaltirte Form 350; depressive Form 350; alkoholistische Form 354; epi- leptische Form 242 ff , 357 ; hysterische Form 244, 358; periodische Form 359; transitorische Form 455; Diagnose 360. 372, 375; Differentialdiagnose gegen- iiber Manie 293 ; gegentiber Melan- cholie 308; Therapie 362; pathologische Anatomie 365; Hyperasthesien im Pro- dromalstadium 11; Zahneknirschen 171; Speichelsecretion 181, 182; Puls 186; Temperatur 188; Labilitat derStimmung 72 ; bei fieberhaften Erkrankungen 233 ; bei Nephritis 236; bei Chorea 247.

Paranoia hallucinatoria subacuta 371.

Paranoia hallucinatoria chronica 349, 365 ff.; Symptomatologie 365; Verlauf 368; Ausgang und Prognose 370; Va- rietaten 371; hysterische Form 371; alkoholistische 372; Diagnose 372, 386; Aetiologie 372; Therapie 373; patho- logische Anatomie 374.

Paranoia simplex acuta 374 ff. ; Sympto- matologie und Verlauf 374; Ausgang 375; Diagnose 375; Aetiologie, Thera- pie, pathologische Anatomie 376; erb- liche Belastung 216; secundare Stim- mungslabilitat 72; transitorische Form 458.

Paranoia simplex chronica, Definition 376; klinische Darstellung 376 ff'. ; Sympto- matologie 376 ff.; Verlauf .379; Aus- gange und Prognose 383; Varietaten 383; hypocbondrische Form 384, 325; originare Form 384. 216; hysterische Form 385; Aetiologie 385; Therapie 386 ; Diagnose 386 ; Differentialdiagnose gegentiber Neurasthenie 329; patho- logische Anatomie 387.

Paranoia secundaria hallucinatoria 395; nach Manie 286; nach Melancholic 305 ; nach Stupiditat 339.

Paranoia secundaria simplex, postneur- asthenische hypocbondrische Form 395 ; postmelancholische hypocbondrische Form 396.

Paraphasie, transcorticale 80, 155 ff. ; sen- sorische 414; motorische bei Dem. pa- ral. 437; bei Dementia senilis 442.

Parapraxie 95, 155.

Paukenhohlencatarrh 368, 372, 442.

Pavor nocturnus 218.

Periodiscber Verlauf 197, 219, 233.

Periodisches Irresein 197, 216, 359, 287 ff., 294, 301, 306, 455.

Personenverwechslung 80 ff., 95, 358.

Phantasie 217, 218, 244, 404.

Pbimose 192.

Plantarreflex 175, 339.

Plattfuss 192.

Platzangst 124, 128.

Pneumonic, atiologische Bedeutung 233.

Polydactylie 192.

Polymorpher periodiscber Verlauf 198,

359, 455.

Polymorpher recidivirender Verlauf 455.

Polymorphes Irresein 198, 216.

Polymorphismus der Vererbung 220.

Porencephalie 403.

Primarsymptome, Definition 193 ff.

Prodromalstadien 196.

Prognose 195, 196.

Pseudoflexibilitas cerea 150, 153.

Pseudoparaphasie 95, 80, 96, 353.

Pseudostupor 91, 151.

Ptosis, scheinbare 145.

Pubertat , atiologische Bedeutung 210,

360, 391, 397, 454; bei erblich Be- lasteten 217, 218; verspatetes Ein- treten 401.

Puerperium, atiologische Bedeutung 210, 307, 328, 340, 360, 454.

Pulsstdrungen 185 ff.

Pupille im Schlaf und im apathischen Scheinschlaf 145; Reflexe 176 ff., 223; Verbildung 192; bei Idiotic 401; bei Morphinismus 227 ; bei Neurasthenie 323; bei Stupiditat 338; bei Dementia paralytica 420 ; diagnostische Bedeutung bei Dementia senilis 443.

Register.

467

Qualitat der normalen Empfindung 7, Stdrungen der Qn. der Empfindung 16 fi:

Qnecksilbcrvergiftung , chronische 226 ; Tremor 174.

Querulantenwahn 219 ; Querulantenirre- sein 383.

Rachitis 192, 400, 435.

Rasonnirender Charakter 282, 289, 306.

Raumliche Eigenschaften der Empfin- dung 7.

Raptus melancholicus 306, 310, 455.

Rathlosigkeit 149, 155, 336.

Rauschzustande, pathologische 222.

Reactive Aflectstdrungen 196, 285, 303.

Rechnen 404, 407, 414, 203, 415, 449.

Rechthaberei 100, 383.

Recidive bei Morphinismus 229 ; bei Manie 287; bei Paranoia 348 Anm.

Recidivirender Verlauf 197, 455.

Reflexe, Definition 1.

Reflexion der Gefiihlstone 16.

Reimende Association 87, 144.

Reizbarkeit, krankhafte 66 ff., 315 S'. ; Vorkommen 68, 240; Einfluss aiif das Handeln 141; bei Epilepsie 242; bei Alkobolismus 224; bei Dementia secun- daria 445.

Reizhdhe 8.

Reizsch Welle 8; Herabsetzung der R. bei Neurasthenie 11.

Reminiscenzenflucbt 88, 319.

Remittirender Verlauf 198, 370.

Resolution 62, 89, 90, 93, 141, 145, 148, 149, 151, 152, 153.

Respiration bei Zorn 67; bei Angst 61, 143.

Retrospective Auslegung 112, 385.

Rheumatiscbe Scbadlicbkeiten 435.

Rhinhamatom 420.

Rbotacismus 405.

Ribot’scbes Gesetz 55, 135.

Rinde, Sitz des psycbopbysiscben Pro- cesses 5; pathologische Anatomie 440, 444, 446, 450, 451.

Rindenconvulsionen 170, 171.

RombergschesSchwanken 223, 228 ; schein- bares 155, 356, 442.

Rothsehen 38.

Ruckenmark, Erkranknng bei Dementia paralytica 440, 413, 424 ; s. aucb Tabo- paralyse.

Rumination 189.

Salivation, s. Speichelsecretion. Salzsauresecretion 182, 227, 302, 419. Sammeltrieb 429, 448.

Santoninrausch 38.

Schadelbildung 192, 201 Anm., 402 fip.

Schema, allgemeines des psychophysischen Processes 4, der kdrperlichen Unter- suchung 201 flf. ; der psychischen Unter- suchung 202 if. ; der Anamnese 206 If.

SCblaf, apathischer Scheinschlaf 145 ; Untei> scheidung von Resolution 153; hysteri- scher 153; epileptischer 153; willkiir- licher Scheinschlaf 153 ; Schlafstdrungen 191, 225, 227, 228, 283, 302, 333, 426, 427.

Schlingkrampfe 190.

Schlundsondenfiitterung 260.

Schmerzen, spontane 180 if., 228.

Schrecken 307, 251.

Schreiberscher Kunstgriff 178.

Schreibstorungen 424; bei Incoharenz 97.

Schiittelkrampfe, hypochondrische 161.

Schwachsinn, angeborener 273, 399 ff. ; apa- thischer und agitirter 405, 447 ; erbliche Belastung 216 flf.; Difl'erentialdiagnose gegeniiber Stupiditat 340; Hypalgesie 14; Hypochlorhydrie 182; Erbrechen 189; Aprosexie 84; Hyperprosexie 85; Erinnerungsentstelliingen 114; Frage- suchtl26; Nacbahmungstrieb 166; De- fect der Vorstellungsbildung 51 ; Defect der ethischen Gefiihlstdne 69, 140.

Schwachsinn, erworbener 413 ff. ; Defect der ethischen Gefiihlstone 70, 140 ; Dr- theilsschwache 133; vergleiche auch De- mentia paralytica. Dementia secun- daria u. s. w.

Schwangerschaftswahn 107, 190, 385.

Schwebehaltung des Kopfes 90.

Schwefelkohlenstoffvergiftung 226.

Scbweisssecretion 283, 356.

Schwerbesinnlichkeit 93, 221, 239, 241, 247, 445.

Schwindel 220, 225, 232, 318, 436, 445.

Secundare Sinnesempfindungen 17, 18 if., 217.

Secundarsymptome, Definition 193 ff.

Seelenblindheit 53, 414, 425.

Seelengefiihllosigkeit 53.

Seelentaubheit 53.

Seelenvermogen 5.

Sehnenphanomene 177 ff. ; bei Contracturen 172 ; bei Lahmungen 170 ; bei Alkoholis- mus 223; bei Dementia paralytica 425; bei Dementia senilis 443; bei Idiotie 401; im paralytischen Anfall 432; bei multipler Sclerose 178.

Sehstdrungen 10, 425.

Selbstbewusstsein 96.

Selbstmord 140, 144, 152, 158, 159, 162, 164, 218, 233, 301, 305; Vorbeugung 240, 268, 311.

Senium, atiologische Bedeutung210, 231 ff., 305, 307, 360, 443 ; S. pracox 454, 438, 443; physiologische psychische Veran- derung im S. 71, 232; Tremor 174.

Sensibilitatsstorungen 10, 179 ff. ; bei Lahmungen 170; bei Dementia para- lytica 424; im paralytischen Anfall 432.

30*

468

Register.

Sexualgefiihl, contrares 12, 57; Herab- setzung 15, 228; Steigerung 15; Hal- lucinationen 23, 107 ; Illusionen 39, 238 ; Storungen bei erworbenem Schwachsinn 70 ; bei Hysterie 243 ; bei Neurasthenie 3M; bei Dementia paralytica 417; bei Dementia senilis 44^

Sexuelle Excesse, atiologische'Bedeutung 210, 247, s. auch Masturbation.

Sigmatismus 405.

Simulation 331, 328.

Sinnestauscbungen 18.

Sklerose, multiple, Sensibilitatsstorungen 10 ; Tremor 174; Sebnenphanomene 178 ; Intelligenz 239.

Sklerose, secundare 134, 240, 402, 403.

Skotome 228.

Sodomie 401.

Somatiscbe Symptome 166 ff., 346, 400, 405, 408, 442, 282, 302, 321, 338.

Sopor 175, 177, 339.

Speichelsecretion 181, 283, 302, 419.

Spbygmographiscbe Untersuchung 185 ff.

Spiel der Motive, Definition 3.

Spinalirritation 11, 318.

Spinnenzellen 440.

Sprachstorungen 173 ff. ; bei traumatischem Irresein 221 ; bei alkoholistiscber Manie 293 Anm.; bei Dementia paralytica 423 ff. ; bei Dementia epileptica 449; bei Idiotie 401, 405, 406, vergleicbe auch Aphasie und Anarthrie.

Sprechbewegungen, Antheil an den con- creten Begriffen, 46 ; Bedeutung fiir die zusammengesetzten Begriffe 49, s. auch Articulationsstorungen.

Sprechenlernen, verspatetes 217, 405.

Sprechweise bei Zorn 67, 141, 144; bei Denkhemmung 89; bei Incoharenz 96, 173, 353; bei Exaltation 144; bei Angst 143 ; bei Depression 142 ; bei Grbssen- wahn 158 ; bei hypochondrischen Vor- stellungen 160; des Alkoholisten 224; hebephrene 281 ; bei Epilepsie 241, 243 ; bei Manie 280 ; bei Stupiditat 338 ; bei Paranoia 352.

Stammeln 193. 401, 405.

Stenocardie 62, 229.

Stereotype Bewegungen 89, 31, 149, 151.

Stil bei Grossenwahn 119, 158 ; bei Inco- harenz 353.

Stimmung, Definition [58, vgl. Gefiihlstbne und Affecte.

Stottern 175.

Strabismus 193.

Stupiditat, klinische Darstellung 335 ; Symptoruatologie 335; Verlauf 339; Ausgange7i|und Prognose 339; Varie- taten 339'; Aetiologie 340; Diagnose 340 ; Therapie 341 ; pathologische Ana- tomic 341 ; Differentialdiagnose gegen- iiber Melancholie 309; Denkhemmung bei St. 92, 335 ff. ; nach Typhus u. s. w.

233; postmanische und postmelancho- lische St. 395.

Stupor, Definition 90, 149; primarer 91; secundarer (hallucinatorischer , wahn- hafter) 29, 90. 151, 152, 193, motorischer 137, 139, 149 ff, ; apathischer 140 ; Re- flexe im St. 175 ft‘. ; Oligurie 182 ; Tem- peratur 187 ; Pulsverlangsamung 185.

Suggestion 268.

Sulfonal 265, 295, 334.

Sympathicus, s. vasomotorische Storungen, Darminnervation u. s. w.

Syndactylie 192.

Syphilidophobie 107, 120.

Syphilis, atiologische Bedeutung 209, 234 ff,, 328, 435, 454 ; hereditare 235, 400, 435.

Syphilis des Gehirns, klinische Darstellung 445 ; Forme cdphalalgique 438 ; Differen- tialdiagnose gegeniiber Dementia para- lytica 437; Sensibilitatsstorungen 10; Sebnenphanomene' 177; Pupillen 176; Polyurie 182, 183; Glycosurie 184; Schadelbildung 192; Therapie 439.

Ti abes, Verhaltniss zur Dementia para- lytica 238; Sensibilitatsstorungen 10, 14; Pupillen 176; Sebnenphanomene 177; Parasthesien 179 ; Schmerzen 180; Bradycardie 185 Anm.; Impotenz 191.

Taboparalyse 185, 422, 424, 425, 434.

Tachycardie 185, 322.

Temperaturveranderungen 156, 187 ff. ; bei Dementia paralytica 418, 432; bei Manie 283; bei incoharenter Paranoia 352.

Therapie, allgemeine 253 ff., specielle 294, 310, 332, 341, 362, 373, 376, 386, 393, 398, 403, 406, 413, 439, 444, 448, 450, 452.

Thranensecretion 142, 144, 182.

Tic convulsif 172.

Tobsucht 65, 146; bei Zorn 67, 144; bei Dementia paralytica 427, bei Paranoia simplex acuta 374, bei chronischer hal- lucinatorischer Paranoia 367 ; bei Epi- lepsie 358; Temperatur bei drohendem Collaps 187 ; bei Manie 282 ; bei acuter hallucinatorischer Paranoia 345; in der Morphiumentziehung 229; Behandlung 269 ff.

Topalgien 327, 180, 317; Behandlung 263.

Traume 355, 404, 103, 217, 321. 347.

Transitorische Geistesstorungen 180, 199, 287, 310, 348, 455.

Traumatisches Irresein 220 ff. ; trauma- tische Neurose 327.

Traurigkeit, krankhafte, s. Depression.

Tremor 174 ff. ; Intentionstremor 174, 202; statischer 174, 202; bei Alkoho- listen 223; bei Stupiditat 339, bei Neur- asthenie 323; bei Bleivergiftung 225; bei Quecksilbervergiftung 226, bei Mor-

Register.

469

phinismus 228 ; bei Ergotismus 230 ; bei Zwangsvorstellungen 390.

Tribadie 449, 405.

Trional 265, 295, 334.

Trismus, scheinbarer 90, 144, 150.

Trophische Storungen 184 tf., 227, 401, 420.

Tuberkulose, Flalluciiiationen bei 36 ; atio- logische Bedeutung 235; bei Geistes- kranken 235 Anm.

Typhus, atiologische Bedeutung 233, 328, 402.

Ueberburdung 209, 247, 326, 340, 391, 435.

Unorientirtheit 80, 94, 156 Anm., 221, 225, 232, 242, 336, 354, 355, 416, 446, 456.

Unreinlichkeit 449, 150, 270, 446, 448.

Unschltissigkeit 149.

Dntersuchungsmetboden, s. Diagnostik.

Urinretention 188, 191.

Urinsecretion 182 ff, 419.

Urobilin urie 182, 184, 419.

Urtheilsassociation 78, 94, 98; inhaltliche Storungen 99 ff.; Defect 132 ff., 166; Verlangsamung 223 (s. auch Denkhem- mung).

Urtheilsschwache 132 ff. ; Incoharenz bei 133 ; pathologisch - anatomische Grund- lage 134; Verlaufl34; Erkennung 135 ; bei Dem. paral. 415; bei Dem. senil. 441, bei Hirnsyphilis 445 ff. ; bei Dem. sec. 447.

Dterusatrophie 191.

Vagabondage 146, 144, 155, 218, 221, 289, 306, 320, 405, 408.

Vaginalsecretion 191.

Vaginismus 191.

Valleix’scher Punkt 11.

Vasomotorische Storungen 185 ff. ; bei der Angst 61, 62; bei Zorn 67 ; bei Atremie 159; bei Manie 283; bei Melancholie 302; bei Neurasthenie 322; bei Stupi- ditat 338; bei Paranoia 347; bei Mi- grane 180, 217 ; bei Morphinismus 227 ; bei Raptus melancholicus 306; bei Neur- asthenie 322 ; bei Dementia paralytica 419; im paralytischen Anfall 430, 455, 456.

Verarmungswahn 109; affectiver 63; Ein- fluss auf die Handlungen 159; bei Me- lancholie 299 ; bei Dementia senilis 441; bei Dementia paralytica 416.

Verbigeration 87, 97, 156, 278, 351, 448.

Verbrecher 410 ff.

Verfolgungswahn 109 ff., 119, 225; Ein- fluss auf die Handlungen 162 ; affectiver 63; bei Paranoia spl. chron. 379 ff.; bei Melancholie 299; bei Dementia para- lytica 416.

Vergessen 53.

Verkennung, s. Personenverwechslung.

Verlauf der Psychosen 193 ff. ; Ueber- sicht nach dem Verlauf 455 ff.

Verneinungswahn, allgemeiner 111.

Verriicktheit s. Paranoia.

Versundigungswahn, affectiver 63, 106; Einfluss auf die Handlungen 159; bei Melancholie 299 ; bei Paranoia 377 ; bei Dementia paralytica 416.

Verwirrtheit 97, 155; s. Incoharenz.

Vesania typica 198.

Visionen s. Gesichtstauschungen.

Vollsinnig, Definition 113 Anm.

Vorstellung 3, 5; Normale Reproduction 44 ; Zusammengesetzte V. 45 ff. ; Eigen- schaften 50; Storungen der Vorstellungs- bildung 51 ff. ; Defect der Vorstellungs- bildung 51 ff, 132, 399, 404, 407; Bildung falscher V. 52; Verlust von Vorstellungen 52 ff., 79, 81, 132; Ver- lust von Vorstellungsreihen 55; Fal- schung von Vorstellungen 56 ; mangel- hafte Aufnahme 55; Hemmung von V. bei Stupiditat 336.

Vorurtheil 100.

Wahnhafte Auslegung 34, 35, 40 ff.

Wahnhandlungen 157 ff.

Wahnsinn, hallucinatorischer 342 Anm.

"Wafinvorstellungen, 99 ff. ; primare 101, 109, 195 ; secundare hallucinatorische 30, 102 ; secundare der Depression und Angst 63, 103; secundare der Exaltation 64, 103, 117; complementare 102, 109, 112 ; affective 103, 195; contrastirende 106; megalomanische 104 ff. ; mikromanische 106 ff. ; Entstehung 101 ff. ; Diagnose 118, 130; Unterschied vom Irrthum 101; Entstehung aus Traumen 103 ; Fixirung, Systematisirung 112, 199; Einfluss auf die Aufmerksamkeit 84 ; auf die Ideen- association 87 ; auf die Empfindungen 116; auf Bewegungen und Handlungen 117, 152, 156, 157 ff. ; Beziehung zur Incoharenz 97 ; als Drsache von Stupor 91; als Ursache von Pseudodemenz 71; von Personenverwechslung 81 ; bei Com- motionsirresein 221; bei Alkoholismus 224; bei Paranoia simplex chron. 377; bei Paranoia hallucinatoria acuta 343; bei Paranoia hallucin. chron. 366, 369; bei Paranoia simplex acuta 374; bei Dementia paralytica 416 ; bei Dementia senilis 441; bei Dementia secundaria 447 ; bei Manie 279 ; bei Melancholie 299 ; bei Neurasthenie 320. Vergl. ausser- dem Verfolgungswahn, Verarmungswahn u. 8. w.

Weiner lichkeit 240, 277.

Westphal’sches Zeichen 177, 230, 436.

470

Register.

Wiedererkennen, Definition 75, Storungen 79 ff.

Wiederkauen 189.

Willenshandlung 2.

Willensvermogen 5, 136.

Wirbelsaule, Verbiegungen der 192. Wortbesessenheit 121.

Worttaubheit 53.

Zahneknirschen 156, 171, 282, 354, 429.

Zablbegrifie 51, 52.

Zahnbildung, Anomalien 192.

Zangengeburt 192.

Zelle 258.

Zornaffecte bei Exaltation 65, 277; bei krankliafter Reizbarkeit 66; korper- liche Begleiterscheinungen 67 ; Einfluss auf Ideenassociation und Handlungen 67, 141, 147, 154; Ausdrucksbewegungen des Zorns 144; Zittern 174; bei Here- ditariern 218 ; bei Epileptikern 242, 449 ; bei Chorea 247.

Zungenlahmung 201 Anm., 223, 421.

Zusammengesetzte Psychosen, Definition 272; klinische Darstellung 395 fif.

Zustande, psychopathische 193 ff., 196.

Zwangsbewegungen, hallucinatorisQbe 31; isolirte, nicht - hallucinatorische 165; imitatorische 166.

Zwangsdenken 121, 131, 319.

Zwangshandlung 112, 127ff., 129, 164ff., 390.

Zwangsjacke 270.

Zwangssprecben , hallucinatorisches 31 ; als Zwangsvorstellung 127.

Zwangsstellungen, hallucinatorische 31.

Zwangsvorstellungen, Wesen. 101, 120 ff.; einzelne 121; in Urtheilsform 121 ff.; Entstehung 122; Inhalt 125 ff. ; in Frageform 125; Beziehung zu Angst- affecten 122, 123; Einfluss auf die Hand- lungen 126 ff. ; auf die glatte Muskuiatur 128, 181; als Ursache von Pseudodemenz 71; Vorkommen 129; Diagnose 129, 392; bei Dementia paralytica 393; bei Melancholie 306 ; bei Neurasthenie 320.

Irresein durch Zwangsvorstellungen, klinische Darstellung 387; Symptomatolo- gie 388; Verlauf 390; Ausgange und Prognose 391 ; Varietaten 391 ; Aetiologie 391 ; Diagnose 392 ; Therapie 393 ; patho- logische Anatomie 394 ; Differential- diagnose gegeniiber Neurasthenie 330; Beziehungen zur Neurasthenie 325, 326, 391; zur erblichen Belastung 216.

Figurenerklarimg.

Die Figuren 1 10 stellen die charakteristischsten Formen des Gesichts- ausdrucks und der Korperhaltung bei psycbopathischen Zustanden dar, so- weit sie auch diagnostisch verwerthbar sind.

Fig. 1 und 2. Fine 45jahrige Patientin, welcbe an circularem Irresein s. str. (melancholisch-maniakalisches Irresein S. 396) leidet, ist links in der maniakalischen, recbts in der melancholischen Phase dargestellt. Vergleiche hierzu S. 141 und 144. In der ersteren liegt der reine Ausdruck der primaren heiteren, in der letzteren der reine Ausdruck der primaren traurigen Ver- stimmung vor.

Fig. 3 stellt die primare Angst einer Melancholic mit secundarem Ver- armungs- und Versundigungswahn dar. Vgl. S. 143. Im Augenblick der Aufnahme iiberwiegt der hemmende Einfluss der Angst auf die Bewegung.

Fig. 4, Einfache katatonische Spannung einer chronischen hallucinato- rischen Paranoia. Die motorische Hemmung ist vorzugsweise durch Hallu- cinationen bedingt, also secundar. Vgl. S. 150 und 152.

Fig. 5. Acute hallucinatorische Paranoia mit beangstigenden und z. Th. fascinirenden Hallucinationen. Vgl. S. 308.

Fig. 6. Dementia paralytica im Exaltationsstadium. Der Kranke ist ausgesprochen heiter verstimmt und wird von zahlreichen Grossenideen („Weltingenieur“ u. s. w.) beherrscht. Beides spiegelt sich im Gesichtsausdruck wieder. Derselbe erinnert ebenso wie die Haltung an Fig. 1, doch verrath die Verstreichung der linken Nasolabialfalte (Mundfacialisparese), dass keine Manie, sondern Dementia paralytica vorliegt. Vgl. S. 292.

Fig. 7. Paranoia simplex chronica mit vereinzelten Hallucinationen. Die Wahnideen sind grosstentheils erotischen Inhalts. Die Kranke glaubt Kaiserin zu sein und schmilckt sich fiir den Brautigam, den sie erwartet (sog. erotische Form der chronischen Verriicktheit). Die heitere Verstim- mung ist secundar, d. h. durch Wahnvorstellungen bedingt. Vgl. S. 383.

Fig. 8. Imbecillitat mit rechtsseitiger cerebraler Kinderlahmung. Vgl. S. 401 und 404. Die Lahmung ist mit Contractur*) und Atrophic verkniipft. Letztere betrifft auch das Knochengeriist (Hemiatrophie). Der Gesichtsaus- druck verrath den Intelligenzdefect.

*) Daher erscheint auch die rechte gelahmte Nasolabialfalte eher tiefer.

Figurenerkl&rung.

Fig. 9. Stuporose Form der aciiten halliicinatorischen Paranoia. Neben Hallucinationen und Wahnvorstellungen besteht bier eine ausgepragt primare Hemmung. Die Kranke verharrt oft stundenlang in der auf der Figur wiedergegebenen Stellung. Bis uber 5 Minuten blieb oft in den weit auf- gerissenen Augen das Blinzein aus. Hallucinationen und Wahnvorstellungen traten zeitweise ganz zuriick und doch bestand die dargestellte motorische Hemmung. Vgl. S. 351.

Fig. 10. Recidivirende Formj^der^acuten Paranoia. Auf Grund massen- hafter Verfolgungsideen besteht ausgepragte tobsiichtige Erregung. Der Ge- sichtsausdruck ist der typische des Zorns. Vgl. S. 144.

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