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CAßL m umt

ALS AHZT

MD SEINE BEDEUTUNG FÜR DIE MEDICINISCHE WISSENSCHAFT.

EIN BEITRAG ZUß GESCHICHTE DEE MEDICIN

VON

DR OTTO E. A. HJELT

PROFESSOR DER MEDICIN AN DER UNIVERSITÄT ZV HELSIN6F0RS.

LEIPZIG

VERLAG VON WILHELM ENGELMANN 1882.

Das Ueherselznngsrecld vorbe/iaÜeti,

In Ii alt.

I. Linne als Arzt und Lehrer. Seite

Beziehung Linne's zu Boerhaave 2

Medizinische Studien und Beschäftigungen in Holland 5

Linne's Praxis in Stockholm (i

Ruf nach Holland und Göttingen !)

Medizinische Vorlesungen Linne's zu Upsala 10

Seine Beziehung zu und Briefwechsel mit Sauvages 12

Das Verhältniss Linne's zu dem Collegium medicum 21

Medizinische Verhältnisse in Stockholm 22

n. Das medizinische System Linne's.

Allgemeine Betrachtungen 24

Das pathologische System Linne's und Genera Morborum .... 28

Seine Ansichten von den Gegensätzen in der Natur 34

Die Krankheitsursachen . '. . . . 39

Die Entstehung der ansteckenden Ki'ankheiten 41

Plethora und der Puls 43

Das Stillen und die Erblichkeit der Krankheiten 46

Das intermittente Fieber 47

Der Scorbut 52

Rachitis 53

Schwindsucht 54

Keuchhusten . 56

Gehimleiden 57

Die Kriebelkrankheit 57

Hautkrankheiten imd Krätze 59

Der Aussatz 60

Elephantiasis. Panaritium. Perniones 61

Die Verdienste Linne's um die Kenntniss der Droguon und die Pluir-

makologie 62

Sein Pharmakodynamisches System 71

Linne's Eintheilung der medizinischen Pflanzen mit Rücksicht auf Geschmack und Geruch 73

IV

Seite

Materia medica 80

Pharmakologische Abhandlungen Linn^'s 82

Einzelne Arzneimittel 84

Vegetabilische Heilmittel gegen Syphilis 86

Die Lehre Linn6's von den Giften 88

Allgemeine therapeutische Ansichten 89

Linn^'s Verdienste um die allgemeine Gesundheitspflege .... 90

Clavis Medicinae 92

Collegium diaeteticum Linne's 95

Die physische Erziehung der Jugend 96

Aus dem Gebiete der öfifentlichen Gesundheitspflege 97

Als die Universität in Upsala im September 1877 ihr 400jäh- riges Jubelfest feierte, veröffentlichte der Verfasser als Ausdruck seiner Ehrerbietung vor dieser ältesten Hochschule des Nordens, der Heilkunst und Naturforschung auch in Finnland so grossen Dank schulden, die vorliegende Abhandlung Uber einen ihrer ausgezeich- netsten Männer, Carl von Linne. Das Wohlwollen , womit diese Schilderung der Thätigkeit Linne's als Arzt und seiner Bedeutung flir die medizinische Wissenschaft in Schweden aufgenommen wurde, hat den Verfasser bewogen, vielseitigen Aufforderungen zu ent- sprechen und dieselbe, wenn auch etwas verkürzt, in deutscher Sprache herauszugeben. Linne's Einfluss auf die Entwicklung der Naturforschung ist von so durchgreifender Bedeutung gewesen, dass sein Name für alle Zeiten mit der Geschichte der menschlichen Cultur verwachsen bleibt. Aus diesem Gesichtspunkt ist zu hoffen, dass auch ein grösserer Leserkreis Linne's Thätigkeit als Arzt und medi- zinischer Schriftsteller gern kennen lernen werde. Die Forscher in der Geschichte der Medizin haben sein Verdienst bisher fast gänzlich Ubersehen, obgleich er auch auf diesem wie auf allen anderen Ge- bieten der gesammten Naturwissenschaft seiner Zeit in vielfacher Beziehung weit voraus war. Möchte dieser Beitrag zur Kenntniss der medizinischen Wissenschaft im Norden wohlwollende Aufnahme finden.

Es ist überflüssig , die Jugend Linne's zu schildern und zu er- zählen, wie viele und schwere Entbehrungen seine Liebe für wissen- schaftliche Forschung Uberwinden musste. Eine solche Schilderung wäre zunächst Aufgabe der Geschichte der botanischen Wissen-

HJelt, hinni als Arzt, 1

2

Schaft. Wir erwähnen hier nur, dass Carl von Linne als Sohn eines armen Greistlichen zu Räshult in Smäland am 13 Mai 1707 geboren wurde und dass er erst an den Hochschulen zu Lund und Upsala studirte, bis er nach damaliger Sitte sich im Jahre 1735 auf Reisen begab, um an einer ausländischen Universität den Grad eines Doktors der Medizin zu erlangen.

Als Heimat der medizinischen Wissenschaften stand damals Holland vor anderen Ländern in hohem Ansehen. Besonders lockte der weltberühmte Name Boerhaave Schaaren wissbegieriger Jüng- linge aus allen Ländern Europas nach den Hörsälen Leydens. Das Studium der Anatomie und der Botanik wurden mit Vorliebe ge- trieben, aber auch die klinische Unterrichtsmethode war bereits früh aus Italien nach Holland verpflanzt worden. Die reichen, Blumen liebenden Holländer besassen prachtvolle Gärten , wohin aus ent- fernten Weltgegenden Pflanzen gebracht wurden; dort war somit eine seltene Gelegenheit zu Forschungen auf dem Gebiete der Bota- nik geboten. Hierher lenkte der junge schwedische Gelehrte, dessen Ruhm bald ganz Europa erfüllen sollte, seine Schritte. Nachdem er die vorgeschriebenen Prüfungen bestanden und eine Abhandlung „Hypothesis nova de febrium inter mittentium causa" herausgegeben, erhielt Linnö in Harderwyk am 24 Juni 1735 den Grad eines Doktors der Medizin. Das von seinem Promotor Johannes de Gorter ausgefeiügte Doktordiplom enthält unter anderem die Worte:

„Ut Omnibus constaret, me in viro docto et nunc Medicinae Doctore, Carolo Linnaeo, Sueco, singularem, non solum in Omni- bus Medicinae partibus , verum etiam in Botanica invenisse peri- tiam et doctrinam, adeo ut inter praecipuos Medicinae Doctores sit habendus, meum nomen cum felicitatis precatione in curandis aegris apponere non dubitavi." Die von Linne herausgegebene Abhandlung über eine neue Theorie der Ursache der intermittenten Fieber ist die erste medi- zinische Arbeit, die er herausgegeben hat. und in mehrfacher Be-

zieliuug bemcrkenswerth. Obgleich durch den Zwang der Umstände im fremden Lande veröffentlicht, berührt sie doch viele einheimische Verhältnisse und stützt sich auf Beobachtungen , die er bereits in Schweden gemacht hatte. Auch ist sie ohne Zweifel zum grössten Theil ausgearbeitet, beVor Linnö seine Reise antrat. Da diese Ab- handlung sehr selten und im Allgemeinen wenig bekannt ist, dürfte es für die Beurtheilung von Linne's wissenschaftlich-medizinischem Standpunkt nicht ohne Interesse sein, später, wenn wir uns mit der Darstellung seiner medizinischen Lehrsätze beschäftigen werden, die wichtigsten darin ausgesprochenen Ansichten mitzutheilen , um so mehr, da jene Arbeit einige Jahre später, als davon die Rede war, Linne an der Universität zuUpsala anzustellen, plötzlich Gegen- stand heftiger Angriffe ward.

Es ist allgemein bekannt, dass das eingehende Studium der Botanik imd die rastlosen, grossartigen Arbeiten, in der gesammten Naturgeschichte, welche Linne bereits in Schweden begonnen hatte, ihn schnell zum ersten Vertreter dieser "Wissenschaft erhoben Weniger bekannt dagegen ist, dass Linne zu einer Zeit , als er mit der ganzen Lebhaftigkeit seines Geistes die Durchführung der gross- artigsten Reformen in den verschiedenen Zweigen der Naturgeschichte anstrebte , sich doch dem Studium der Medizin widmete und eine jede Gelegenheit zur Ausbildung in dieser Wissenschaft mit Freuden begTüsste. Er besuchte während seines dreijährigen Aufenthaltes in Holland fleissig Boerhaave's sowohl öffentliche als private Vor- lesungen, wohnte seinen Ronden im Krankenhause bei und beglei- tete ihn auf seinen Krankenbesuchen. Während Linnö sich bei Clifford in Hartecamp aufhielt, reiste er oft nach Leyden, um Boer- haave zu hören und aus seinem lehrreichen Umgange und seiner gi'ossen Erfahrung Nutzen zu ziehen. Boerhaave , dessen Freund-

'i ,,Ego infclix peregrinus omnia citissime corradere debeo, aliia ciiram preli cominittere, hinc ut fit, non miriim." „Mea oninia opuscula sunt parva et qiialia exsiiiis vel peregrinatoris esse solent, qui oninia sccuni portaro tlo- bet. Im Brief an A. von Haller vom 8. Oct. 1737 (bei Stoever).

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Schaft von Vielen gesucht ; von Wenigen aber erworben wurde, be- gegnete seinerseits Linnö mit warmer Liebe und besonderem Ver- trauen, ja zeichnete ihn vor Allen aus. In einem Briefe, den er Linne mitgab, als dieser den berühmten Sloane in London besuchte, schreibt Boerhaave :

„Linnaeus qui has tibi dabit litteras , est unice dignus te vi-

dere, unice dignus a te videri: qui vos videbit simul, videbit ho-

minum par, cui simile vix dabit orbis."

Es ist rührend zu lesen , was Linne selbst vom Abschiede bei dem sterbenden Boerhaave erzählt, welcher sich seiner Kränklich- keit und grossen Leiden halber den Empfang von Besuchen Fremder längst hatte versagen müssen.

„Linnaeus war der einzige, welcher hineingelassen wurde, um mit einem traurigen Vale die Hand seines grossen Lehrmeisters zu küssen , als der schwache Greis noch so viel Kraft in seiner Hand besass, dass er Linnaei Hand zu seinem Munde zurückführen konnte, mit den Worten :

„Ich habe meine Zeit und meine Jahre gelebt und gewirkt, was ich veimocht und gekonnt. Gott schütze Dich, dem dieses alles be- vorsteht. Was die Welt von mir gefordert, hat sie erhalten, sie for- dert aber weit mehr von Dir. Lebe wohl, mein geliebter Linnaeus" .

Der Einfluss , den Boerhaave auf Linne's medizinische wissen- schaftliche Entwicklung ausübte, war nicht gering. Alle seine Schriften enthalten mehr oder weniger Spuren desselben. Der natur- wissenschaftliche Charakter, den die ärztliche Bildung Schwedens im vorigen Jahrhundert erhielt, und welcher sie vor der Einseitigkeit, deren die medizinische Wissenschaft in anderen Ländern sich später schuldig machte, bewahrte, hat, wie wir später sehen \verden , zum nicht geringen Theil seine Wurzel in den Lehren, welche Linnö wäh-

Eigenh. Aufzeichn. S. 31 (Schwed. Orig.-Ausg.) . ,.In Boerhaavio amisi amicum integerrimuin, praeceptorem fidelissinium, proniotorein optimunv. Im Brief an Sauvages vom 21. Jan. 1740, gedruckt in Lettres in^dites de Linne ä Boiasier de la Croix de Sauvages. Alais 1860.

rend seiner Berührung mit ßoerhaave sich aneignete. Es war natür- lich, dass ßoerhaave's mechanische Krankheitstheorie und seine Heilmethode Linn6 interessiren mussten, denn seine umfassende Kenntniss der Natur und sein scharfes Auge für die Erscheinungen derselben Hessen ihn die nahe und innige Verbindung zwischen der wissenschaftlichen Medizin und der exacten Naturforschung klar einsehen.

Es gehört nicht hierher, die Arbeiten und sonstigen Erfolge Linn6's in Holland zu schildern. Es liegt ausserhalb der Grenzen dieser Abhandlung die Bedeutung zu untersuchen, welche sein Aufenthalt in dem genannten Lande und die nahe Bekanntschaft, die er dort, sowie in England und Frankreich mit Grelehrten, wie einem Gronow, Burmann, vanRoyen, Dillenius, Ant. und Benih. de Jussieu, Reaumur u. A., anknüpfte, auf seine künftige Thätigkeit als Naturforscher ausübten. Solches muss Dem überlassen bleiben, welcher künftig Linne's säculare Bedeutung für die Naturgeschichte ihrem inneren Zusammenhange nach darstellen will. Wir wollen hier nur einige Beiti'äge zur Kenntniss der Verdienste Linne's um die ärztliche Wissenschaft zu liefern versuchen.

Als Linn6 im Herbst 1738 nach Schweden zurückkehrte, war sein Name von den Gelehrten des Auslandes hoch geachtet. Das Ansehen, welches der junge Naturforscher erworben und welches er während seines ganzen Lebens sich erhielt, stand in voller Blüthe. „lam tuum nomen", schreibt Sauvages , „per ora doctoruiu nostratium frequens volitat ; undique Tua expetuntur et advocau- tur scripta; ea, quicunque possidet, celat et sibi servat sedulo. Candide dixerim , Tu in naturali Scientia verus es Carolus XII, ut ipse Rex in militia, eo discrimine, quod totum orbem Botanicum Tibi in aeternum subjicis". ^)

In seinem Vaterlande unbekannt und unbeachtet Hess sich Linne in Stockholm nieder, in der Absicht, sich der praktischen

1) Im Brief an Linnt; vom 12. Aug. 1740 (bei Stoever).

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Ausübung der Heilkunst zu widmen. Er selbst schreibt hierüber: „Linuaeus beabsichtigte, sich hier als Doktor zu versorgen; da er aber Allen unbekannt war, wagte es Niemand, sein kostbares Leben, ja nicht einmal seinen Hund in die Hände dieses unbekannten Arztes zu geben, so dass er oft an seinem Fortkommen im Lande zweifelte. Er. der überall im Auslande als ein princeps Botanicorum geehrt ward, war zu Hause als wie ein Klimius aus der Unterwelt gekommen, so dass, wenn Liunaeus nicht verliebt gewesen wäre, er sich unfehlbar von neuem ins Ausland begeben und Schweden verlassen hätte. Nach- dem Linnaeus gesehen , dass er in keiner Weise eine praxis medica erhalten konnte , begann er Speiseanstalten zu frequentiren , wo er junge Cavaliere in castris Veneris blessirt abstemios sitzen sah, wobei er ihnen räth, guten Muths zu sein und ein Maass Rheinwein zu trinken, mit der Versicherung, er wolle sie binnen 14 Tagen cu- riren; zwei endlich, die vergeblich medizinirt, wagten ihr Leben in seiue Hände zu geben. Er heilte sie sofort und hatte binnen eines Monates sehr viele junge Leute in Behandlung. In Folge dessen stieg sein Ansehen, und während der damals herrschenden Pocken und Wechselfieber hatte er bereits im März „die ansehnlichste prac- tique erhalten", Diese Art von Krankenpflege scheint anfangs die Hauptbeschäftigung Linne's und zugleich eine recht gewinnbringende gewesen zu sein. Er erkundigt sich sogar bei ausländischen Aerzten über die Behandlungsweise derartiger Krankheiten. Seinen Freund Sauvages bittet er schriftlich um Rath wegen der Behandlung von Gonorrhoe.

„Olim in Belgio morbum hunc centies debellavi: sed vix amplius valeo. Audivi Monspelienses vestros in hujus cura ex- cellere; pro amore tuo in me summo, doceas me hunc tollere mor- bum, non generali theoria, sed formulis et medeudi methodo; quod si feceris, mihi mille nummos aureos unico in anno dederis". "^l

1) Eigenh. Aufzeichn. S. 36, 37.

-) Im Brief an Sauvages vom 21. Jan. 1740. In einem späteren Briefe vom 20. Sept. dankt Linne für die Antwort.

In demselben Jahre 1739 ward Linu6 durch die Vermittelinig des Grafen Carl Gustav Tessin zum Admiralitätsarzt in Stockholm ernannt. Da das Krankenhaus der Marine täglich 100 bis 200 Kranke enthielt, hatte Linne die beste Gelegenheit, seine medizi- nische Erfahrung zu erweitern, und beschäftigte sich namentlich, wie er selbst erzählt , mit Untersuchungen Uber die Wirkungen ein- facher Arzneimittel. Die solcherart erworbene Erfahrung war ihm später, wie wir sehen werden, bei der Ausarbeitung seines phar- mako-dynamischen Systems von grossem Nutzen, Auch die patho- logische Anatomie war ein Gegenstand, dessen Bedeutung Linne während der praktischen Ausübung der Arzneikunst einzusehen be- gann, und dem er seine Aufmerksamkeit widmete. Er suchte und erhielt die Erlaubniss, im Krankenhause Leichenöffnungen, die früher nur in ausserordentlichen Fällen gestattet waren, vorzu- nehmen.

„Tandem obtinui Privilegium dissecandi demortuorum cada- vera in nosocomiis classis navalis, nec antea. Si per annum vixero, responsum dabo ad causam proximam febrium nec prius ; ne hy- potheses dabo ullas, sed veiitates aeternas".^)

Zu den Verdiensten Linne's um die Entwickelung der Arznei- kunst in seinem Vaterlande gehört auch sein Bestreben, die wissen- schaftliche Untersuchung der krankhaften Veränderungen im mensch- lichen Körper nach dem Tode einzuführen. Von dieser Zeit au findet man in den in Schweden herausgegebenen medizinischen Schriften einen weit grösseren Reichthum an pathologisch-anatomischen Beo- bachtungen und ein weit tieferes Verständniss für die Nothwendig- keit, die Auffassung der Krankheitserscheinungen auf die Kenutniss der pathologischen Vorgänge im Organismus zu gründen, als in der an Umfang reicheren I^iteratur vieler anderer Länder. In den eige-

', ,.In specificis multuiii profeci per nosoconiia." Im Brief an Sauvages vom 21. Jan. 174(1.

2) Im Brief an Sauvages vom 21. Jan. 1740.

nen Schriften Linne's trifft man Beobachtungen von gTossem Inte- resse, die er in Bezug hierauf gemacht hat.

Unter diesen Verhältnissen wuchs das Ansehen Linn6's als Arzt von Tag zu Tag, und seine Praxis vergrösserte sich in demselben Maasse. Die Umstände fügten es , dass er vorzugsweise mit denen bekanntwurde, die der sogen. Hutpartei angehörten. In Folge dessen nannte man ihn scherzweise den Archiater dieser Partei. Er selbst erzählt, dass seine Praxis ebenso gross war, wie die aller übrigen Aerzte zusammengenommen, und dass er damals in Stockholm 9000 Daler K. M. jährlich verdiente. ^) Dass Linne, so hoch er auch die medizinische Wissenschaft stellte, doch nicht von seiner Thätigkeit als praktischer Arzt befriedigt war, sondern gern damit aufgehört hätte, geht aus vielen seiner Briefe hervor. Er fühlte sich unwiderstehlich zu seiner Jugendliebe, der Botanik, hingezogen, die vor den so ganz verschiedenartigen Berufsarbeiten des praktischen Arztes hatte zu- rücktreten müssen.

Si Upsaliam pervenero, praxin medicam interdicam : solum plantas tum tractabo" . 2)

Ja, viele Jahre später schreibt Linn6 noch :

„Aurea jjraxis medica multum valet, cumque duae habeutur amicae, alterius vires subtrahit alter amor".^) Tief und bitter schmerzte ihn diese Zersplitterung seiner Kräfte und Neigungen , und liebliche Bilder schwebten seinem Auge vor, wenn er der Tage gedachte, die er unter den duftenden Schätzen in dem Garten seines Freundes Clifford zugebracht hatte. Er sehnte sich zurück nach seinen wissenschaftlichen Beschäftigungen, und der Gedanke, doch vielleicht eine Anstellung im fremden Laude suchen zu müssen, begann festere Gestalt anzunehmen.

Bereits während seines Aufenthaltes in Holland war Linne

I) Eigenh. Aufzeichn. S. 39. -j Im Brief an A. von Halier vom 15. Sept. 1739. 3) Im Brief an P. D. Giseke vom 20. Dec. 1774 (bei Stoever).

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mehrfach aufgefordert worden, zu bleiben , und seine Freunde be- nutzten jede Gelegenheit, ihn zu überreden, sich dort niederzulassen. Das feuchte Klima Hollands sagte indessen seiner Gesundheit nicht zu und hatte ihn schon mehrmals aufs Krankenlager geworfen, vor allem aber zog ihn die Liebe zu seiner Braut mit unwiderstehlicher Kraft ins Vaterland zurlick. Jetzt, wo die Aussichten auf eine selb- ständige Thätigkeit und ein gutes Auskommen unsicher waren und die Hoffnung, sich gänzlich wissenschaftlichen Forschungen widmen zu können, mehr und mehr in die Ferne zu rücken schien, erwachte von Neuem der Gedanke, sich in der Fremde niederzulassen. Linnö schreibt darüber an A. von Haller :

,, Sin vero Botanices Professio Upsaliae mea non fiat , et me

tum 'post tres menses) vocares , accederem , si cum uxorcula da-

retur". ')

Haller scheint nämlich seine Professur nebst der Aufsicht über den botanischen Garten in Göttingen Linne angeboten zu haben, weil er an Heimweh litt. 2)

„Tu, a quo Flora sperat plura quam ab omni alio Botanico, utere quaeso felicibus fatis et aliquando ad mitiora climata redi. Si unquam me patria repetit et spero repetituram Te qui- dem, si tunc placuerit conditio, destinavi Horti heredem et qualis- cunque honoris , et eam in sententiam coram eis loquutus sum, in quorum manibus sunt omnia." „DeHorto eadem mihi sententia est: ego quidem paucis annis hic (Goettingae) versabor, neque unquam tradere potero digniori."

Glücklicherweise gingen diese Pläne nicht in Erfüllung, und Schweden war es beschieden, einen der grössten Männer seiner Ge- Hchiclite, seinen Linn6 zu behalten.

') In Brief an A. v. HaUer vom 12. Sept. 1739.

-j In Briefen an Linn6 vom 24. Nov. 17.38 und 12. Jan. 173t) (bei Stoever, S. 108). In meinem Aufsatz „Carl von Linne in seinen Beziehuuf^en zu Albrecht von Hall er" 'im Arch. f. Gesch. d. Med. III) findet man näheren Aufschluss hierüber.

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Nach dem Tode des Prof. Koberg zu Upsala wurde Liuu6 am 5 Mai 1741 zum Professor der theoretischen und praktischen Medi- zin ernannt und begann im Herbst desselben Jahres seine Vor- lesungen über das System der Krankheiten (historia morborum . , ein Gegenstand , den er später oft behandelte . Im folgenden Jahre fand jedoch, mit Genehmigung des Kanzlers der Universität , ein Tausch der Lehrfächer mit dem damaligen zweiten Professor der medizinischen Fakultät, Dr. Nils Rosen (später geadelt, Rosen von Rosenstein) , statt. In Folge dieser Uebereinkunft übernahm Rosen Anatomie, Physiologie, Aetiologie und pharmazeutische Chemie, nebst der Aufsicht Uber das akademische Krankenhaus , wogegen Linne Botanik, Materia medica, Semiotik, Diätetik und Natur- geschichte vortragen und den botanischen Garten beaufsichtigen sollte.

Obgleich Linne von dieser Zeit an sein Interesse hauptsächlich der Naturgeschichte widmete, so war er doch , nicht allein in Folge seiner früheren Thätigkeit und seiner Berufsgeschäfte, sondern auch wegen der nahen Verbindung, in welcher die Botanik und die Heil- kunde in damaliger Zeit zu einander standen, stets mit der Erörte- rung und Bearbeitung medizinischer wissenschaftlicher Fragen be- schäftigt. Nach damaliger Sitte, die Ergebnisse der Forschungen in ölfentlichen Disputationen darzulegen, gab Linne eine grosse Menge akademischer Abhandlungen heraus , und diese sind es hauptsäch- lich , aus denen wir die Kenntniss seiner medizinischen Ansichten und Lehren schöpfen können. Diese Abhandlungen entstanden ge- wöhnlich in der Weise , dass er einen seiner Schüler, der eine Ab- handlung zur Erlangung des Doktorgrades herauszugeben hatte, einen Gegenstand, welcher in der Vorlesung beliandelt worden war, näher ausarbeiten, die auf ihn bezügliche Literatur durchgehen und der Darstellung die nöthige Form geben Hess. Viele solche Abhand-

') „Nunc totus 8um in historia niovboi'mn, quam publice doceo" im Brief «an A. von Huller vom 10. April 1747.

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lungeu tragen zwar den Namen der betreffenden jungen Verfasser, sind aber grösstentheils aus der Feder Linne's hervorgegangen oder bestehen aus Aufzeichnungen während seiner Vorträge. Sie sind die wichtigste Quelle für das Studium der medizinischen schriftstelleri- schen Thätigkeit Linne's und geben uns das sicherste Zeugniss seines medizinischen Standpunktes. Von den verschiedenen medizinischen Wissenscliaften waren es namentlich die systematische Krankheits- lehre (Nosologie), die Pharmakodynamik und die Diätetik, welche Linne interessirten und seine Thätigkeit als Lehrer und Verfasser in Anspruch nahmen. Einen nicht geringen Theil des Jahres wid- mete er dem Unterricht in den ihm obliegenden medizinischen Fächern. Während Linne im Frühjahr imd Sommer Vorlesungen in der Botanik hielt und seine fröhlichen Excursionen in die Um- gebungen Upsalas unternahm , trug er im Herbst und Winter ge- wöhnlich Diätetik, Nosologie und Materia medica vor. Seinen Ein- fluss als Lehrer auf die Entwickelung und Förderung der ärztlichen Bildung in Schweden kann man kaum hoch genug schätzen. Wir werden weiterhin die sprechendsten Beweise finden für die ausser- ordentliche, bisher fast übersehene Bedeutung , welche Linne auch in dieser Hinsicht für sein Vaterland hatte.

Linne verstand es , ein zahlreiches und aufgewecktes Audito- rium um sich zu versammeln. Seine Vorlesungen zeichneten sich durch Klarheit und praktische Richtung aus. Gern und oft wandte er die Lehren der medizinischen Wissenschaft auf die Verhältnisse des täglichen Lebens an. Dadurch erregte er nicht nur bei den Stu- denten der Medizin , sondern auch bei dem weiteren Publikum In- teresse und Lust , seinen Vorlesungen beizuwohnen , und weder vor noch nach seiner Zeit dürfte irgend ein Professor der Medizin in Schweden einen so zahlreichen Zuhörerkreis wie Linne gehabt haben. Besonders hoch geschätzt und berühmt waren seine Vorträge Uber Diätetik oder, wie man sie jetzt nennen würde, spezielle Ge- sundheitspflege. Er schreibt hierüber selbst im Jahre 1743 :

„Publice Diaeteticen doceo: nullus Professor Upsalieusis ä 60

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annis plures auditores habuit, quam hodie ego. Demonstro Diae- teticen solis observationibus. Si hoc aliquando juris publici facere liceret, non dubito quin multis prodesset et arrideret." ') Die Diätetik war übrigens ein Gegenstand , welcher Linn6 im höchsten Grade interessirte^ und für dessen Bearbeitung er lange Zeit hindurch Material sammelte. Er schreibt darüber an A. v. Haller: Avidissime evolvo Tua commentariainBoerhaavium; quaeso ne desistas nobis dare sequentes partes de diaeta; in his meae deliciae ; in his plura collegi quam quod novi ullus alius ; et aug- menta habebo ex Tuo libro in Boerhaavium."

„Quid in diaeteticis colligo, tandem videbis; in his per de- cem annos laboravi."^)

Unter den vielen Aerzten und Naturforschern seiner Zeit, mit denen Linne in Avissenschaftlichem Briefwechsel stand, giebt es keinen, zu welchem er grösseres Vertrauen und innigere Freund- schaft hegte, als Boissier de la Croix de iSauvages, Professor an der medizinischen Schule in Montpellier (geb. 12 Mai 1706, gest. 19 Febr. 1767). Dreissig Jahre hindurch unterhielten diese Männer, welche einander persönlich nie gekannt oder gesehen hatten, einen lebhaften und fleissigen Austausch von Ideen und Er- fahinngen. Für die Beurtheilung Linne's als Arzt und medizinischer Schriftsteller giebt es keine ergiebigere Quelle, als diesen Brief- wechsel mit Sauvages ; er gestattet uns, einen tiefen Einblick in diese Seite seiner Thätigkeit zu werfen. In seinen Briefen spricht Linne seine unbegrenzte Bewunderung der Verdienste Sauvages' um die wissenschaftliche Medizin aus.

„Tu inter medicos solus es systematicus ; tu glaciem fregisti solus , tu viam detexisti. Ego inter medicos infimi subsellii me ipsum numero; non sufficimus onmibus. Tibi palmam dabunt hodierui omnes medici, ut pace ipsius invidiae hoc dicam "■'').

1) Im Brief an Saiivages vom 3. April 1743.

2j In Briefen vom 29. Mai 1744 und 15. Sept. 174U :bei Stoever).

3) Im Brief vom 11. Nov. 1748.

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8i verum est , uti in aeteruum verum erit , quod medicina innita- tur duobus pedibus, cog-uitione morborum et medicameutonim : si etiam verum est, quod ipsa iuvidia concedat, quod tu solus mor- borum coguitiouem pi'imus denudasti , utique et tibi soli debetur alterum fuiidamentum medicinae : si enim cogiiitio medicamento- rum innitatur cognitioue plantarum , a qua prima et praestautis- sima medicamiua desumuntur, et si tibi debeam ego et omnes rariorum plantarum Grallicarum cognitionem, utiqne et in bis magnus eris ! Sed nullus propbeta in patria. Felices agricolae, bona si suanorint". ^) „Precor immense, mittas mibi Pathologiam; tu mihi unicus auetor, quidquid alii contrarientur, sed homines rüdes nesciunt quid sit methodus. Tu nnicus es mortalium, qui viam aperuisti; negant eam ingredi caecae talpae".^]

Von dem Augenblick an, als Linne zum ersten Mal Sauvages' Schrift erblickte, erfasste ihn eine tiefe, herzliche Freundschaft für den Mann , bei welchem er dasselbe systematisireude Genie , den- selben ordnenden Geist wie bei sich selbst wiederfand. Obgleich er gerade damals rastlos und mit Hingebung an der Herausgabe der- jenigen botanischen Schriften arbeitete, die seinen Ruf begründeten und ihn plötzlich auf den Standpunkt erhoben , den er seitdem in der Geschichte der Wissenschaft eingenommen ; so war doch seine Liebe zur Heilkunst gross genug, um alle literarischen Erscheinungen auf deren Gebiet freudig zu begrüssen. Die Arbeiten von Sauvages besonders erregten Linne' s Aufmerksamkeit und Bewunderung in so hohem Grade, dass er sofort arii 20. Febr. 1737 an diesen schrieb, die Bekanntschaft mit ihm einleitete und ihn um sein Buch bat. 3)

„Tuam, vir illustris, exspecto gratiam peregrinus licet et igno- tus; sum enim ex iis, qui in eodem quo tu triumphasti campo flores lego. Methodum tuam morborum quaesivi huc usque frustra

') Im Brief vom 14. Oct. IT.5.5. -j Im Brief vom 20. Oct. 1758,

3) Nouvelles Classes des Maladies. Paris 1731, in 12".

per Sueciam , Lapponiam , Norvegiam , Daniani , Geimaniam, Belgiiim, Angliam. cujus modo titulus antea innotuit. Nuper au- tem , eandem Lugduni Bat. apud medicum vidi, inspexi, obstu- pui, praecovdiaque intima sentii attonitus novis iutumuisse curis ; observavi quam felicissimo successu scientiam difficillimam red- didisti facillimam tu solus. Doleo tyronum turbam te ignorare, tua methodo destitui, in qua plus purae methodi atque exculti ju- dicii latet quam in practico uunquam ullo. Nulla fuit unquam me- thodus antea m historia morborum; qui alias leges methodos vocant, carent cerebro vel caecutiunt; a signis exposcenda est omnis iudicatio generica. Tuo libro ego absolute carere nequeo; me torquet omnis dies eo destitutus." „Obtusum meum ingenium nil capit , nil intelligit , nisi quod systematlce concipiat : an alii, nescio, haereo."

Linne erlaubt sieh sogar, Sauvages gute Ratbschläge bezüglich seiner Schrift zu geben , und bittet ihn , Synonyme und Citate aus anderen Verfassern , wie die Botaniker zu thun pflegen, hinzuzu- fügen. Schliesslich bedauert er, dass diese Arbeit nicht lateinisch herausgegeben worden, und fordert Sauvages zu wiederholten Malen auf, dieselbe in die genannte Sprache zu übersetzen,

Nächst Boerhaave hat es wohl Niemanden gegeben, der auf die Stellung Linne's zur medizinischen Wissenschaft einen grosseren Einfluss ausgeübt hat, als Sauvages. Er war es, der Linne s Liebe und Interesse für die Medizin stets wach erhielt. Es ist sogar wahr- scheinlich, dass ohne die innige und herzliche Freundschaft, welche diese grossen Männer der Wissenschaft mit einander vereinigte, Linne imter der wachsenden Last seiner naturwissenschaftlichen

1) „Si preces ineae apud te valeant, iinice efflagito, ut edas Classes tuas Morborum romana veste indiitas. Certe si feceris, non mihi soli, non academiis nostris Sueciis, sed toti orbi te obstrictum et veneraudum imo et aeteraura facies." „Has enim publice docere, has mihi tironibus imo doctis commendare animus est, non novi alium librum dignum. Promisisti, quaeso et promissis tene; per sacra medicinae obsecro. In den Briefen vom 21. Jan. und 20. Sept. 1740.

Arbeiten, seine Beschilftigung mit der Medizin aufgegeben hätte. Der Einfluss der Schriften Saiivages' auf Linne's medizinische Arbeiten ist unleugbar, und dieser Einfluss offenbart sich noch stärker in Hinsicht auf seine Thätigkeit als Lehrer einiger Zweige der medizinischen Wissenschaft. In den Vorlesungen Uber Nosologie folgte Linne, wenigstens zu Anfang seiner Thätigkeit als Lehrer, Sauvages' System und der von ihm entAvorfenen Klassifikation der verschiedenen Krankheiten. Da diese Eintheiluug von der bisher gebräuchlichen Methode gänzlich abwich , erregte sie grosse Aufmerksamkeit und Linne schreibt darüber :

„Ridebat primo collega mens, cum in prima lectione morbos secundum classes, genera, species, Synonyma etc. me traditurum dicebam ; dixit me non aliter morbos cognoscere posse , quam uti Botanicus plantas ; nunc minus ridet , me cum facile omnes Stu- diosi audiunt, illum vero pauci. Fateor me Semeioticen tuo desti- tutus opere noUe profiteri."

Die von Sauvages in die Pathologie eingeführte systematische Kichtung, welche der Darstellung der Lehre von den Krankheiten so grosse Aehnlichkeit mit der Methode der beschreibenden Natur- wissenschaft verlieh, musste Linne's lebhaftes Interesse erwecken. Es kommen zwar auch frühere Aeusseruugen in dieser Hinsicht vor. Bereits Sydenham stellte die Forderung, die Krankheiten nach dem Beispiele der Botaniker zu ordnen 2), und auch Baglivi fand es noth- wendig, dass alle Krankheiten , um sie leichter und sicherer von einander unterscheiden zu können, nach botanischer Methode in ge- wisse Geschlechter und Arten gebracht werden mUssten". Sauvages gebulirt indessen das Verdienst, den Versuch gemacht zu haben, die Krankheiten auf Grundlage gemeinschaftlicher Symptome in gewisse

') In einem Brief an Sauvages vom 2. Dec. 1741. „Prinio expedit, iit morbi omnes ad definitas ac certas species vevo- centur, eadem prorsiis diligentia ac 7.-/tpißeia, qua id factum videmus a bota- nicis scriptoribua in suis pliytologiis". Opera nni versa. Liigd. Bat. llhi, S. J:5.

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Klassen, Ordnungen und Familien nach ihrer grösseren oder ge- ringeren Uebereinstimmung mit einander zu gruppiren. 80 unsicher auch diese Grundlage in Folge der damals mangelhaften Keuntniss der Natur der Krankheiten thatsächlich war, und so oft eine solche Eintheihmg wesentlich verschiedene Leiden theils trennte, theils zu- sammenlegte , so musste doch dieses System Sauvages' Linne s Be- dürfniss nach gewissen leitenden Grundsätzen bei der Systemati- sirung der Krankheitserscheinungen befriedigen. Mit grossem Eifer begann er selbst die Ausarbeitiing eines medizinischen Systems und suchte, wie wir weiterhin zeigen werden, eine Erklärung der krank- haften Störungen in dem Organismus zu geben, gestützt nicht allein auf eine mechanische Auffassung der verschiedenen Spannungsver- hältnisse der festen Theile, sondern auch auf die chemische Zu- sammensetzung der Flüssigkeiten. Linne hatte die Absicht , diese seine Vorlesungen Uber die Nosologie als einen Wegweiser für seine Zuhörer herauszugeben, und es erschien auch in Folge dessen später seine Arbeit „Genera morborum".')

Linne folgte mit grosser Aufmerksamkeit der wissenschaftlichen Thätigkeit Sau vages' und den von ihm herausgegebenen Schriften. Physiologiam lego quotidie; Semper assequi nequeo, non

satis in mathematicis versatus ; ubi intelligo, miror quomodo po-

tuisti penetrare interius, quam ante te ullus."-)

Als Sauvages sein medizinisches System weiter entwickelte und die Ergebnisse seiner Forschungen und Erfahrungen zusammen- fasste in seiner grossen Arbeit „Pathologia methodica", die in vielen Auflagen erschienen ist und später unter dem Titel „No- sologia methodica sistens morborum classes" heraus- gegeben wurde, schrieb Linne :

1) „Hocce autumno 1741 publice Classes tuas morborum docebo, tua venia; si exigant studiosi, seorsim has edere vellem, uti morbos definitos dedisti in Pathologia.'- Im Brief vom 2. Dec. 1741.

2) Im Brief vom 14. Oct. 1755 an Sauvages, der kurz vorher seine . Phy- siologiae Elementa", Amstelodami (Avenione) 1755, herausgegeben hatte.

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„Novere omnes, novi et ego te fuisse maxime eruclitum mer dicum et facile omnium antesiguanum ; sed ego neqiie alii credi- deruut imquam te. velalium mortalem, tauta gaudeve eruditioue medica, quanta hoc opus extra aleam prodit. Nou dabo quidquam auribus tiüs, nee sinit hoc sincera amicitia, sed certum quam cer- tissimum est, quod ab hoc tempore novum adeatur medicinae exer- citium , cum jam aperuisti omnes medicorum oculos, ut videant viam, et incedaut clara in luce quousque datur mortalibus. Quidquid unquam didici ab aliis habeo omne, sed millena nec mihi nec aliis antea nota. Incipiam jam e novo studere, et inci- piant quotquot sapiunt, etiam solidissimi medici ; et, si vixero per annum, omnia tua in sanguinem vertam" . i) Die grosse Bedeutung für das Studium der Medizin , welche Linne an Sauvages' Arbeiten knüpfte, ergiebt sich deutlich daraus, dass er den Studenten der Medizin dieselben zum Lesen empfahl und Sauvages aufforderte , eine grössere Anzahl Exemplare seiner Pathologie nach Schweden zum Verkauf zu senden. Er sagt, er brauche bis zu hundert Exemplaren , und verspricht , sie an einem einzigen Tage zu verkaufen. Die Kenntniss von Sauvages' System verbreitete sich dadurch allgemein unter den Schülern Linne's und sein Einfluss auf die ärztliche Bildung Schwedens wurde ein sehr bedeutender. In keinem Lande, sein Vaterland ausgenommen, dürfte der französische Gelehrte grösseres Ausehen , als in Schwe- den, genossen haben.

Seinerseits fand sich Sauvages durch die Anerkennung . die Linn6 ihm widerfahren Hess, in hohem Grade geschmeichelt. Nicht nur in seinen Briefen spricht er seine Dankbarkeit für den Beifall aus, den Linne seineu Arbeiten und Forschungen spendete, sondern er äussert zugleich , dass dieses beifällige Urtheil um so höher zu schätzen sei, als es von einem Manne herrühre, der fähig sei, den Werth einer wissenschaftlichen Methode zu beurtheilen .

') Im Brief an Sauvages vom 3. August 17G4. -j Im Brief 1751).

^) „Quod autem lianc spartam foliciter a me fuisso exoruatam putet Hl.

Hjelt, Linnö als Arzt. 2

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Diii-eli Linn6's Vermittlung wurde der Name Sauvages' sogar der schwedischen Literatur einverleibt. Als 1745 in Schonen eine epidemische Seuche (Dysenteria boum febrilis) ausbrach, theilte Sauvages auf Linne's Bitte seine Erfahrungen über die Natur und Behandlung dieser Seuche, die auch in Stidfrankreich geherrscht hatte, mit. Linne Ubersetzte den betreffenden Brief und veröffent- lichte ihn in den Akten der schwedischen Akademie der Wissen- schaften 1746. Er schreibt hierüber :

„Litterae tuae ita omnibus arrisere, ut te ad invidiam usque colant. Jure et sancte testor me nunquam audivisse exterum, qui majorem apud nos famam obtinuit, quam tu, pro hac unica ob- servatione." *)

Aber nicht nur in Fragen, welche die systematische Nosologie und die medizinischen Theorien betrafen, fand zwischen beiden Gelehrten ein Austausch ihrer Erfahrungen und Ansichten statt. Einerseits giebt Linne dem gelehrten Forscher im Süden wichtige und werthvolle Angaben über die nordischen Krankheitsverhält- nisse 2) , andererseits kommen unaufhörlich gegenseitige Mitthei- lungen über die Natur und Behandlung einzelner Krankheiten vor. Durch Sauvages erhielt Linne Kenntniss von der Behandlung ge- wisser Krankheiten vermittelst Elektricität. Es scheint, als ob Sau- vages längere Zeit hindurch sich mit diesem Gegenstande beschäftigt habe , denn er theilt Linne als Beweis für den Werth seiner Heil- methode eine Menge von ihm gemachter Beobachtungen mit. ^] Diese

Eques Linnaeus Avchiater suecicus, ut refert in suis Amoenitatibus aca- demicis, Vol. VI, quod, inquam, Nosologiain magnificis extollat verbis in suis Epistolis , hoc certe tribuo benevolo ejus animo. Cum autem ille vir in multis, sed maxime in raethodis dijudicandis praestantissimus sit, non parum mihi gratulor, quod haecce mea methodus ipsi potissimum arriserit.'' In der Vorrede zur Nosologia methodica. I. Amstel. 1768. S. 90. ») Im Brief 1 747.

-) In Briefen vom 21. Januar 1740, 1744, 1753, vom 20. Dec 1754, vom 24. Febr. 1756.

3) Im Brief vom 12. April 1740.

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Mittheilimg interessirte Linn6 aufs, höcliste und er antwortet Sau- vages :

„Pulclira erant, quae sciubis de Electrisatione ; adhuc nullus ineipit hanc medicinam apud nostrates adliibere; sed ego quam- primiim instituam." „Observationes tuae de Electrisatione pul- cherrimae sunt, et lectae fuere in societate, omnium adplausu et approbatione et admiratione. Te laudant qui aliquoties ad nos mittis observationes, dum alii multi nunquam."^)

Aus dieser Veranlassung scheinen Versuche Uber die Wirkung der Elektricität auf gewisse Krankheiten angestellt worden zu sein, denn die Fakultät erhielt auf ihren Antrag , dass derjenige Student der Medizin, welcher hiermit beauftragt werden sollte, ein höheres Stipendium erhalten könnte , einen königlichen Brief vom 28 Sept. 1752, der da gestattet, .. dass doppeltes Stipendium regium ertheilt werden darf dem- jenigen Studiosus medicinae, welcher zur Anstellung von Elektri- sirversuchen an Kranken angenommen wird und während der Beobachtungen darüber gebührende Controle führt und Notizen macht." -

Man hat gemeint , dass Linne , nachdem er den Lehrstuhl der Botanik übernommen, seine Thätigkeit als Arzt gänzlich aufgegeben habe. Freilich äusserte er selbst: „entweder müsste die Professur oder die Practique versäumt werden, und bediente von nun an nie andere, als Freunde und Arme" 3), wir besitzen aber eine Menge Be-

)) Im Brief vom 22. August 1749.

2) Im Brief vom 21. Aug. 1750. Diese Aeusserung bezieht sich auf eine kurz vorher von Sunvages der Gesellschaft der "Wissenschaften in Upsala über- reichte Abhandlung „Usus clectricitatis in rheumatismo", gedr. in Acta Soc. reg. Scient. Upsal. 1744—1750. Stockholm 1751. S. 1—8. In den Akten der Societiit 1742, gedruckt in Stockholm 1748, befindet sich ein früher veröffentlichter Aufsatz von Sauvages, „Observationes physicae", enthaltend Beobachtungen Uber Catalepsis delirans und Aer lethalis.

3) Eigenh. Aufzeichn. S. 201.

2*

weise dafür, dass Linnö sich der Ausübung des ärztlichen Berufs nicht ganz entzogen habe.

In seinen Schriften Stessen wir nämlich auf zahlreiche Spuren, die zeigen , dass er sich fortwährend für die praktische Heilkunde interessirte und ihren Fortschritten folgte. In seinen Briefen theilte er nicht selten die Erfahrungen mit , welche er am Krankenbett er- worben, und zieht in schweren und verwickelten Fällen bei seinen medizinischen Freunden Erkundigungen ein.

Mit ungetheilter und inniger Hingebung hatte Linne während seiner langen Lebenszeit sich dem Lehrerberuf gewidmet. Es war ihm eine Lust und Freude gewesen, lauschenden Zuhörern die Früchte seiner Forschungen und den Reichthum seines Wissens mit- zutheilen. Das Unterrichten war ihm stets die liebste Beschäftigung, Erweckung von Interesse und Lust zu Studien betrachtete er immer als eine der wichtigsten Pflichten des Universitätslehrers. Wegen Rosen von Rosenstein s ausgedehnter Praxis und seiner Anstellung bei Hofe , sowie wegen seiner in Folge dessen oft vorkommenden Abwesenheit von der Universität, scheint die Besorgung der Fakul- tätsgeschäfte hauptsächlich Linne's Sache gewesen zu sein.

Nur sein eiserner Fleiss und die ungewöhnliche Leichtigkeit, mit welcher er arbeitete , machten es ihm möglich , die Last der mannigfachen und verschiedenen Beschäftigungen zu bewältigen. Doch klagte er selbst, wie angestrengt er arbeiten müsse.

In einem vertraulichen Brief an einen Freund giebt er folgende Schilderung seines täglichen Lebens:

Doceo quotidie una hora publice , una privata multis , una Danis, duabus Ruthenis adeoque cum locutus sum ante meridiem quinque horis, post meridiem correxi typographi impressiones, scripsi quotidie mss. pro typographo nova, literas ad Botanicos plurimos, curavi hortum, negotia curiosorum et studiosorum, quae hic plura quam alibi, nec non curavi praedia mea, certe vix mihi tempus edendi multis diebus adest, ut si me videres , doleres sor- tem meam, qui deinde cinctus vasta familia, et debeo ^dvere cum

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popiilaribiis et nobilibus et Peregrinis, qui huc api)ellimt." „Dum mecum repetii, quam misere transactum aevum absolvi, eonstitui festiuanter eolligere sarcinas meas, ne mors inopinata exhaustum corpus sutfocet. Dum socii mei quotidie gustarunt delicias hujus vitae , ego dies noetesque consumsi in artem extricandam , quam mille non absolverent : ne dicam quod quotidie in commercio litera- rio die impendi meos et sie praecocera senectutem adscivi corpori meo. Si concedatmihiD. T. 0. ulteriores aliquot dies, solvam sene- scentem equum, ne currat ad extremum ridendus et ilia dueat ; et si quae mihi contingant in horto aliquot rariores plantae , iis de- leetabor." ')

Der Abend seines Lebens wurde leider getrübt durch Streitig- keiten zwischen der medizinischen Fakultät zu Upsala und dem Collegium medicum in Stockholm. Die nächste Veranlassung zu ihnen scheint gegenseitige Unzufriedenheit über stattgefundene Examensprüfungen gewesen zu sein. Linne beklagte sich über die schwankenden und geringen Forderungen an medizinischen Kennt- nissen, mit denen das Collegium sich zuweilen bei Ernennung von Aerzten begnügte. Er fürchtete, dass diese Streitigkeiten eine Ab- nahme der medizinischen Studien zur Folge haben müssten. Das Ansehen der Fakultät machte es für ihn zur Nothwendigkeit , die Bedingungen zur Erlangung des medizinischen Grades hoch zu stellen. 2] Als dieses Ansehen in Stockholm nicht mehr unbedingt anerkannt zu werden schien, fand er sich tief verletzt.

' In Briefen an N. J. Jacquin, vom 20. März 1761 und 1. April 1764 , ge- druckt in Caroli Linnaei Epistolae ad Nie. Jacquin, ex autogra- phis ed. C. N. ä Schreibers. Vindobon. 1841.

2; „Gerte si doctores nostri possent maturescerc studia et annos, in majori e.\i8timatione poneretur medicina apud omnes bonos. Memor sum consilii olim beati Carl Gyllenborg, qiii suasit quod nullos adniitteremus ad honores medi- co3, nisi qui etiam annis raaturuore nonniliil, quum nihil magis cedat in oppro- brium artis, quam si pueri admittantur." ..Nisi distinguantur doctores a pseudo- doctoribus, res acta erit de fama et fide doctorum nostratum." In Briefen an A. Bäck vom 27. August 17.54 imd 2. März 1761. Diese Briefe Linne s sind in der Akademie der Wissenschaften in Stockholm aufl)e\v.ahrt, und verdanke

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Ein fernerer Grund zur Uneinigkeit zwischen Linn6 und dem Colleg'ium medicum lag in dem unklaren Verbältniss , welches da- mals zwischen den Jüngern der verschiedenen Zweige der ärztlichen Praxis noch herrschte. Wir mttssen uns erinnern, dass man. wie in anderen Ländern, so auch in Schweden zwischen Aerzten und Chi- rurgen einen scharfen Unterschied machte. Diejenigen, welche sich mit dem operativen Theil der Heilkunst befassten, die sogen. Bart- scheerer, bildeten eine eigene privilegirte Zunft, bestehend aus einer Anzahl Meisterfeldscheerer nebst Gesellen und Lehrlingen , die von ihren Meistern unterrichtet wurden. In Stockholm hatte sich, haupt- sächlich nach französischem Muster, eine ähnliche Koii3oration ge- bildet, welche schliesslich obrigkeitlich bestätigt wurde und 1717 die Benennung Chirurgische Societät erhielt. Dieser Verein von Chirurgen hatte die Befugniss , den Unterricht unter sich zu ordnen, und beanspruchte mithin unbedingt von einem jeden, der als Mit- glied des Vereins anerkannt sein und in den Besitz seiner Gerecht- same gelangen wollte , dass er die bestimmten Lehrjahre und die einzelnen Grade durchmachen müsse. Der oberste Leiter der Chi- rurgie im Reiche war Chef dieser Corporation, welche übrigens nicht als unter dem Collegium medicum stehend betrachtet wurde. In der Mitte des vorigen Jahrhunderts stand die chirurgische Societät in Stockholm auf der höchsten Stufe ihres Ansehens durch die aus- gezeichneten Männer, welche an ihrer Spitze gestanden und ihre Angelegenheiten geleitet hatten, Ewald Ribe, S. Schützer, H. Schützer (geadelt Schützercrantz) und N. Ramström. Unter dem Einfluss mehrerer, der chirurgischen Societät angehörender Männer, welche nicht selten eine recht ausgedehnte Praxis in Stockholm hatten , und von denen einige Sitz und Stimme im Collegium medi- cum besassen, wurden die rein praktischen und empirischen Studien im Gegensatz zu den akademischen begünstigt. Diese „chirurgorum turba" war es, die Linn6 nie anerkennen wollte.

ich die Kenntniss dieser wiclitigen Schriftstücke, so wie andere Mittlieilungeu der Freundlichkeit des Hrn. Dr. E. Ährling zu Örebro.

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Als schliesslich um dieselbe Zeit eine medizinisch-chirurgische Uuterrichtsuustalt in Stockholm schnell zur BlUthe gelaugte, unter- stützt durch tüchtige Lehrkräfte und reiche materielle Hülfsmittel zur Erlerming der praktischen Heilkunst, so war es kein Wunder, dass dieselbe nach und nach als Nebenbuhlerin der medizinischen Fakultät zu Upsala auftrat und gleiche Berechtigung mit ihr bean- spruchte. Und da ausserdem einige der bei Hofe angestellten Aerzte einem der medizinischen Fakultät fremden Kreise angehörten oder als Mitglieder des Collegium medicum die Entmckeluug der Medizi- nalangelegenheitcn des Landes bestimmten, wurde der Einfluss, welcher sich allmählich neben der Fakultät ausbildete und ihre In- teressen nicht th eilte, um so bedeutungsvoller.

Die Selbständigkeit der medizinischen Fakultät ward in be- denklicher Weise gefährdet. Man scheint im Jahre 1776 sogar den Plan entworfen zu haben, der medizinischen Fakultät das Recht zur Verleihung des Doktorgrades zu nehmen und dasselbe auf das CoUe- gium medicum in Stockholm zu übertragen. Man glaubte selbst die Zustimmung des Königs zu diesem Vorschlag erhalten zu körinen. Als der Plan zur Kenntniss des Prof. Jonas Sidren gelangte , über- redete er den hochbejahrten, kränklichen Linne, von dem Könige in Drottningholm eine Privataudienz zu erbitten. Kaum in das Zimmer des Königs eingetreten, stiess Linne, im höchsten Grade erregt, stotternd die Worte aus :

„Es geht nie an, Ew. Majestät. Es richtet die Akademie und die Wissenschaft zu Grunde. Ich kann nie dieses Unglück über- leben."

Der König, der nicht begreifen konnte, worauf Linne anspielte, verlangte von Sidren nähere Auskunft und geht dann mit lächelnder Miene auf Linne zu, klopft ihn auf die Schulter und sagt :

„Das soll nie geschehen, mein lieber Linne. Reiset in Frie- den heim und seid ruhig." Das war der letzte öffentliche Schritt Linne's für die Hochschule, deren Wohl ihm stets so innig am Herzen lag: es war sein Ver-

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raächtniss an eine Fakultät , über Avelche er so hohen Glanz und so viel Ehre verbreitet hatte. Am 10 Jan. 1778 gehörte er nicht mehr der Hochschule in Upsala, nicht mehr den Lebenden an.

n.

Will man eine zusammenhängende Darstellung von Linnö's me- dizinischen Ansichten geben, wie man sie in den zahlreichen aka- demischen Abhandlungen findet, welche seinen Namen tragen, so wird man auf eine Menge bedeutender Schwierigkeiten stosseu. Linne hat nicht, wie einige seiner Zeitgenossen, seine Ansichten und Erfahrungen in einer grösseren, umfassenderen Arbeit selbst zusammengestellt , sondern sich nur begnügt , dieselben vor einem zahlreichen Kreise von Schülern auszusprechen, die er um sich ver- sammelte, und welche später, mit Zugrundelegung seiner Vor- lesungen, eine Menge wissenschaftlicher Gegenstände bearbeiteten. Wer seinen medizinischen Lehrbau zu einem Ganzen verbinden will, muss die verschiedenen Theile, welche dieses System bilden, in seinen zahlreichen Schriften sammeln und aufsuchen. Zwar hat Linnö zwei systematische medizinische Abhandlungen, Genera morborum und Clavis medicinae, selbst herausgegeben, aber die compendiöse, ja aphoristische Kürze, welche er diesen Arbeiten verliehen, zeigt zur Genüge, dass sie nur zur Unterlage derjenigen mündlichen Vorträge bestimmt waren , denen er die für ihn so be- zeichnende, praktische, anziehende Foim zu geben verstand.

Linnö hatte sich in der medizinischen Wissenschaft ein hohes Ziel gesteckt. Ihm, dem unermüdlichen Forscher, war es klar, dass die Medizin , wenn sie einen Platz innerhalb des Kreises der Natur- wissenschaften beanspruchen will , für ihre Entwickelung dieselbe Methode wie diese wählen muss. Er forderte, dass, wie der Phy- siker seine Lehrsätze auf Experimente stützt, ebenso auch der Arzt

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seine Ansichten durch Versuche und Beobachtungen ') begründen muss, denn „die Heilkunst theilt das traurige Loos naheverwandter wissenschaftlicher Zweige, durch leichtsinnige Hypothesen und Vor- urtheile erniedrigt (deturbari) zu werden". 2] Die rein empirische Medizin wendet von der Erfahrung geprüfte Arzneien an , ohne sich auf eine Erklärung ihrer Wirkungsweise einzulassen ; die rationelle Arzneikunst dagegen strebt, sobald in den mechanischen Gesetzen des Baues und der Funktionen des Körpers Störungen auftreten, sie auf dieselben Gesetze zurückzuführen, Durch die Vereinigung anatomischer, botanischer, physiologischer, chemischer und mecha- nischer Wahrheiten mit den Lehrsätzen der Medizin ist die rationelle Heilkunst entstanden. Die wirklich wissenschaftlichen Beobach- tungen bleiben immer bestehen und verändern sich nie , während die Erklärungen ihrer Ursachen und Natur stetem Wechsel unter- worfen und von der zu verschiedenen Zeiten geltenden Auffassung abhängig sind. Die Theorie der Medizin ist so zu sagen der Schlüssel zu den praktischen Beobachtungen , diese aber der lydische Stein, an welchem j ene Theorie geprüft werden muss . Denn hat die Wissen- schaft richtige Anschauungen aufgestellt, so ist der Arzt stets im Stande, sich in dunkeln und zweifelhaften Fällen zurechtzufinden. Fehlt es dagegen einer Methode, die von den Grundwahrheiten der Wissenschaft Gebrauch machen sollte , an einem zuverlässigen und festen Fundament, so wird die ganze medizinische Praxis unsicher und schwankend.^) Man hat zwar behauptet, die Zeit sei für ein medizinisches System noch nicht reif. Das mag wahr sein, aber es müssen die medizinischen Lehrsätze in der Ordnung, wie ihre Natur es gestattet, gebracht und aufgestellt und darauf durch neue und stets wiederholte Beobachtungen verbessert und vervollkommnet werden , denn wo es keinen Anfang giebt, da lässt sich äuch keine

'j Inebnantia (1762).

Circa fervidoniin et gelidonim usuiii paraenesis (l'GöK

Purgantia indigena (ITüO;. *i Sapor medicamentonim (1751).

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Entwickeluug erwarten. Theorie und Erfalirimg bilden somit die ge- meinschaftliche Grundlage, auf welcher das medizinische System erbaut. werden muss. ^) Der rationelle Arzt , welcher diese Benen- nung verdienen will, muss daher lieber ein Eklektiker sein, als den Ansichten einer gewissen Schule blind und einseitig huldigen.

Sache des Arztes ist es, die Art der Krankheit genau zu ))estim- men und, mit Vermeidung zusammengesetzter Arzneien, am liebsten sogen, einfache Heilmittel (simplicia) anzuwenden. Zu diesem Zweck sind, wie es auch an gut organisirten Lehranstalten der Fall ist , an denen das Studium der Medizin mit Ernst und Erfolg getrieben wird, Krankenhäuser und botanische Grärten zum Bedarf des Unterrichts einzurichten. Die medizinische Wissenschaft mrd daraus herrliche Früchte ernten und in bemerkenswerther Weise zunehmen, denn wenn daselbst eine Menge Kranke einer und derselben Art behan- delt werden , wird nicht allein die Natur der Krankheit genau beo- bachtet und beschrieben, sondern auch die Wirkung der Arznei- mittel erforscht und, falls der Tod erfolgt, der Einfluss der Krankheit auf die Organe dargelegt werden können. Hiermit wird jedoch kein unvorsichtiges und kühnes Experimentiren mit neuen und unbekann- ten Arzneimitteln bezweckt, weil jeder umsichtige Arzt genugsam versteht, wo und in welchen Gaben dergleichen Arzneimittel, ohne dem Kranken zu schaden, anzuwenden sind, indem man mit kleinen Dosen beginnt und darauf zu grösseren übergeht , bis ihre Wirkung ^ ermittelt worden. 2)

Eine jede Krankheit muss mit Rücksicht auf ihre Erkennungs- zeichen, ihr Wesen, ihre Ursachen und ihren Beginn betrachtet werden. Die Erkennungszeichen sind die Symptome, wodurch die Krankheiten sich von einander unterscheiden, und über diese kann und muss man einig zu werden suchen. Im Wesen der Krank- heit liegt der Grund der Symptome, und ohne dieselben zu kennen,

') De eflfectu et ciira vitioriim diaeteticorura (17615). -) Purgantia indigena (17G6;.

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vermag man ihre eigenthUmliclie Natur nicht aufzufassen. Die Krankheitsursache, welche Linne als in den meisten Fällen und wesentlich innerhalb des Körpers liegend sich denkt, bildet den Ursprung der krankhaften Störung, und sobald sie gehoben , hört die Krankheit als solche auf. Ihr Beginn steht gewöhnlich mit einer äusseren vermittelnden Veranlassung in Verbindung. ')

Die Krankheitsbehandlung selbst ^ist entweder eine palliative oder rationelle. Während die erstere nur die Symptome und deren Behandlung bezweckt, sucht die letztere den Grund und die Ursachen der Krankheit selbst zu bekämpfen, und da jene leicht zu erlenien, ist es diese, in Bezug auf welche der wirkliche Arzt sich vom Quacksalber und Charlatan unterscheidet. Weder muss eine jede Bemühung der Natur, den Krankheitseinfluss zu beseitigen, be- kämpft werden, noch ist es Hauptsache, die einzelnen Symptome zu lindem. Ein schädliches Gewächs verschwindet nicht, indem man Blätter und Domen entfernt, sondern dadurch, dass es mit den Wurzeln ausgerottet wird; es ist nicht der Rauch, sondern das Feuer, welches gelöscht werden muss, und sobald der Anführer unterliegt, fliehen die Trabanten. 2) Der Arzt muss mindestens, nachdem die Diagnose gestellt und die Krankheitsursachen ermit- telt worden , sie zu beseitigen oder zu vermindern suchen , weil die Arzneikunst sehr oft nicht mehr vermag, als die Zunahme des Uöbels zu verhindern und die Krankheit erträglicher zu machen,

Eine nähere Darstellung von Linne's pathologischem System, die wir nun nach diesen allgemeinen Betrachtungen geben wollen, findet sich in seinen Genera morborum entwickelt. In dieser

Medicamenta graveolentia (1758). ^) a. a. 0. S. 24.

De pnlsu intermittente (175(5). * Genera morborum in auditorum usura edita. Upsallae 17^3. 80 fherausgegeben als akademische Dissertation und umgednickt inAmoe- nitates academicae. VI. Holmiae 1763, S. 452). Von dieser Arbeit giebt 68, so viel ich weiss, folgende Auflagen. Caroli a Linne, Genera mor- borum in auditorum usum publicata. Ed. iterata, foras dedit

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Arbeit sind die Krankheiten in Ordnungen, Klassen und Familien mit Beifügung' ihrer wichtigsten diagnostischen Symptome ein- getheilt. Wie oben bemerkt wurde, übte Sauvages in Mont- pellier einen überwiegenden Einfluss auf Linne's medizinische An- sichten aus; in den Grenera morborum finden wir sprechende Beweise dafür. Nicht allein die Aufstellung der Krankheitsgruppen ist der Hauptsache nach dieselbe, sondern auch die Krankheits- Familien sind im allgemeinen dieselben, wie die von Sauvages an- genommenen. Linne sagt selbst, „dass ein wirkliches medizinisches System fehlte, bis Sauvages ein solches erdachte, welches, meinem Dafürhalten nach, an natürlicher Aufstellung, Charakteren und in- nerer Vollendung alle früheren in dem Grade übertrifft , dass kein anderes sich damit vergleichen lässt. Mehr als zwanzig Jahre habe ich an der Academie in Upsala dasselbe vorgetragen und nach neue- ren Beobachtungen fortwährend zu verbessern gesucht."

Die von Linn6 in dieser Arbeit mitgetheilte Eintheilung der Krankheiten ist folgende :

et nomina teutonica adjecit Joh. Christ. Kerstens. Hamb, et Gnstraw. 3. a. (1774), p. 1 61. Auf Lateinisch und Französisch in „Noso- logie raethodique etc. trad. par Gouvion. Tom. X. Lyon 1772. Caroli ä Linne Genera morborum in auditorum usura pubblicata (!). Editio italica ex unica Upsaliensi iterata. Accedunt Canones quidam med!, nec non suis quaeque locis remedia nonnulla niirabili usurpata successu et idcirco ab eodem expertissimo auctore admirationis signo indicata. Curante Caesare Constantino Genio. Ferrariae 1776. In der Vorrede dieser Ausgabe, die ich nirgends angeführt gesehen, aber in der mediziui^ßchen Bibliothek in Zürich gefunden, schreibt der Herausgeber: „illa praeterea remedia suis quoque locis indicavi, quae Linnaeus ipse longo usu et repetitis experimentis penitilia esse comperit". Eine in Montpellier 1787 von Dr. Gouan herausgegebene Aus- gabe (40) wird von Stoever erwähnt.

Morbi.

Exanthematici

Febriles (e sanguine in medullam)

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l Sensatioüis Dolorosi

X^opvinJ ' Tu H 1 TVTah ti\\ PiR

i.AClVllll l t) Utllvll UXOli tcfclCO

( Motus ( Quietales

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c. i.- 1 Suppressorii Fluidi Secretioms i ^ ..

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Dolorosi

Doloris sensatio.

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IVTrtfns involiitnviiis

Motorii

Motus abolitio.

Suppressorii

Meatuum impeditio.

Evacuatorii

Fluidorum evacuatio.

Deformes

Solidoriim facies mutata.

Vitia

Externa palpabilia.

Dieses pathologisclie System, nach welchem Linne die ver- schiedenen Krankheitsformen aufstellte , ist , wie man sieht , fast gänzlich symptomatologischer Natur. Nur die Fieberkrankheiten, für welche ein anderer Eintheilungsgrund gewählt wurde, sind theils nach ihrer verschiedenen Verbreitungsart, theils nach dem besonderen Charakter, den sie während ihres Verlaufs annehmen, geordnet. Die exanthematischen Fieberkrankheiten werden z. B. in contagiosi (Pestis, Variola, Petechia oder Fleckfieber etc.), sporadici und solitarii eingetheilt, während die kritischen Fieberkrankheiten dagegen ihrem Typus nach in continentes (Synocha, Lenta), intermittentes (quotidiana, tertiana, quartana, duplicana, errana) und exacerbantes (amphimerina , tiiitaea, hemitritaea etc.) zerfallen. Zu den Fieberkrankheiten werden auch die acuten Entzündungen gerechnet, und in dieser Gruppe findet man wieder einen Versuch, hierhergehörende Krankheiten nach den verschiedenen Organen, in denen sie auftreten, zu ordnen.

Linne theilte nämlich die phlogistischen Fieberkrankheiteu (Entzündungen) in membranacei oder solche, welche die serösen oder mucösen Häute angreifen, wie Phrenitis oder Meningitis, Pleu-

3U

ritis, Enteritis etc., und parenchymatici, die sich innerhalb der Organe entwickeln, wie Peripneumonia , Hepatitis, Nephritis etc. ein. Auch Phlegmone wird zu dieser Gruppe gezählt. Stätt den anatomischen Eintheilungsgrund beizubehalten und die verschie- denen Krankheitszustände der besonderen Organe aufzunehmen, soweit dieselben damals bekannt waren , umfassen alle folgenden Gruppen, morbi dolorosi, mentales, quietales, motorii, suppressorii und evacuatorii, eine Menge symptomatischer Leiden , die als selbständige Krankheitsformen betrachtet oder an- geführt werden. Die letzten Gruppen, deformes und vitia, enthalten dagegen eine Menge wirklich anatomisch getrennter und bestimmbarer Krankheiten, HautUbel, Geschwülste und Neubildun- gen. Dass eine grosse Anzahl oft untergeordneter Symptome als eigene Krankheiten aufgestellt wurden, hatte zur Folge, dass man sich mit einer oberflächlichen Auffassung ihrer Natur und Bedeu- tung begnügte. Der noth wendige Zusammenhang zwischen den Symptomen eines und desselben Krankheitsprozesses ging in dem Maasse, wie dieser in seine einzelnen Theile zersplittert wurde, verloren. Diese Betrachtungsweise hing indessen andererseits mit dem allgemeinen medizinischen Standpunkte der damaligen Zeit auf das innigste zusammen und eine solche symptomatische, über- sichtliche und leichtverständliche Aufstellung der Krankheiten be- friedigte die Ansprüche des praktischen Arztes um so mehr, als die Krankheitsbehandlung dadurch in wesentlichem Maasse erleichtert wurde.

Sucht man die theoretischen Vorstellungen näher zu ergründen, von denen Linne bei der Betrachtung des Krankheitsprozesses aus- ging und von denen viele unter anderer Form und in anderem Ge- wände sich in der Pathologie noch erhalten haben , so kann man nicht umhin, den Scharfsinn, der in ihrer Aufstellung sich zeigt, zu bewundern. Es war überhaupt für die Begabung Linne s charakte- ristisch, dass er das Gleichartige und das Ungleichartige in den wechselnden Erscheinungen mit Leichtigkeit unterscheiden konnte,

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wie er auch verstand, die Maunigfaltig-keit der Erscheinungen unter allgemeine Gesichtspunkte zu ordnen. Die scharfe Naturbetrach- tung und die logische Gruppirung der gewonnenen Beobachtungen waren für ihn Hauptsache. Die Grundlagen, von denen er ausging und auf welche er stets zurückkam , sind nicht irgend welche Vor- aussetzungen oder abstracte Sätze , sondern rein empirische Wahr- heiten , obschon sich nicht leugnen lässt , dass auch Linne die da- malige Neigung für das Aufstellen von Theorien und Hypothesen innerhalb des medizinischen Gebiets theilte. Jedoch zeugen sie von dem tiefen Bedürfniss einer wissenschaftlichen Erklärung der Natür und des inneren Wesens der Krankheiten. Die damalige unvoll- ständige Kenntniss des feineren Baues des menschlichen Körpers und namentlich die mangelhafte Bekanntschaft mit dem nothwendi- gen Zusammenhang zwischen den Krankheiten und bestimmten anatomischen Veränderungen, sowie der Abhängigkeit jener von diesen, machte es aber unmöglich, die theoretische Beti-achtungs- Aveise vollständig auf das Gebiet der Erfahrung anzuwenden. Ob- gleich in Linne's Pathologie manche tiefe und wichtige Wahrheiten ausgesprochen werden, war er doch nicht im Stande, seine theoreti- schen Annahmen dem System selbst oder der Eintheilung der Krank- heiten zu Grunde zu legen. Zwischen Theorie und Praxis war eine Lücke entstanden, die man vergebens auszufüllen suchte. Von den verschiedenen Theilen der Pathologie hatte man die Symptomato- logie am meisten bearbeitet, und während Jahrhunderten einen bedeutenden Schatz von therapeutischen Erfahrungen gesammelt. In Anbetracht dieser Richtung der Wissenschaft lässt es sich er- klären, weshalb Linne's allgemeine pathologische Ideen in be- raerkenswerthem Grade von seinen Ansichten über die Wirkungen und Eigenschaften der Arzneimittel beherrscht wurden. Bei der systematischen Darstellung der Krankheit8grui)pen konnte er, in Folge des oben erwähnten Mangels in dem Entwiekelungsgange der Wissenschaft, seine allgemeine pathologische Theorie nicht anwen- den und war daher gezwungen, seine Zufluclit zu einem rein prak-

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tischen , symptomatologischen Eintheiluugsgruiide zu uehmeu , um so mehr, da seine Auffassung des Krankheitsprozesses durchaus auf seiner pharmakodynamischeu Anschauungsweise fusste. Von diesem Gesichtspunkt betrachtet ,. dürfte der scheinbare Mangel an Conse- quenz in Linnö's pathologischem System sich leicht erklären lassen.

So grosse Aehnlichkeit auch Liune's systematische Eintheilung der Krankheiten mit Sauvages' Nosologie darbietet , so findet man doch zwischen ihnen wesentliche Unterschiede, nicht allein in der Grruppirung der Krankheitsformen selbst , sondern auch in ihrer Benennung. Während Sauvages 10 Klassen, 44 Ordnungen und 314 Familien annahm, hat Linne 11 Klassen, 37 Ordnungen und 325 Familien. Mir scheint es, dass Linne's Arbeit sich sogar durch grös- sere Klarheit in der Aufstellung und eine mehr ausgeprägte anato- mische Richtung auszeichnet.

Einer der wichtigsten Grundgedanken in Linne's pathologi- schem System, worauf nicht nur die Auffassung des inneren Wesens des Krankheitsprozesses , sondern auch die Erklärung- der Wirkun- gen der Arzneimittel und die Aufstellung der Indicationen für die Anwendung derselben zum Theil beruht , ist seine Ansicht von der Zusammensetzung des menschlichen Körpers aus einer Cortical- und einer Medullarsubstanz. Unter der Medullarsubstanz (systema nervosum, medulläre) denkt sich Linne das Nervensystem im Gegen- satz zu den übrigen festen und flüssigen Bestandtheilen des Körpers (systema fibrosum et vasculosum , systema corticale corporis) . Der menschliche Organismus wird mit einem aus doppelten Fäden zu- sammengesetzten Gewebe verglichen , wobei die Nerven die Kette (texturae stamen) ausmachen, während die verschiedenen Arten der Fibern nebst den Flüssigkeiten den Einschlag (iutertextum , inter stamina implicatum) bilden.

Auf Grund vergleichender Beobachtungen über die Entwicke- lung des Pflanzenlebens , sowie des Verhaltens der hybriden Ge-

) Fundamenta valetudinis il756).

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wüchse, spricht Linne die Ansicht aus, dass die Bildung des Nerven- systems der Mutter und diejenige der Corticalsubstanz dem Vater angehöre. ') Die Bewegung und das Gefühl des Lebens habßn ihren Sitz in. der Medullarsubstanz, die das Ursprüngliche und zuerst Gebildete im Körper ist. Unter ihrer Einwirkung entstehen später aus dem Nahrungssaft sowohl die flüssigen , als die festen Theile (corticale solidum ac liquidum). Die Ernährung der Medullar- substanz geschieht vermittelst der feinsten Stoffe in dem flüssigen Corticaltheil und wird von der durch die Lungen aus der Luft auf- genommenen Elektricität unterhalten. Wenn das normale Verhält- niss zwischen diesen constituirenden Theilen gestört wird, entsteht Krankheit. Man kann hierbei diejenigen Krankheiten unterschei- den , welche in einer veränderten Beschaffenheit der Flüssigkeiten des Körpers ihren Grund haben, und diejenigen, die den festen Theilen angehören. Das Fieber deutet eine Störung in der Zu- sammensetzung der Flüssigkeiten (des Blutes) an. Die flüssige Corticalsubstanz , woraus die festen Theile gebildet werden , wird nämlich von in Oxydation oder in Verwesung begriffeneu Stoffen, die in den Körper eindringen, aufgelöst und zerstört. Während des Kampfes mit diesen für den Bestand des Lebens schädlichen Ein- flüssen entstehen die verschiedenen Arten Fieber, das kritische Fieber aus säurebildenden und das phlogistische aus septischen Stoffen, während das exanthematische Fieber möglicherweise auf einem lebenden Contagium beruht. Alle diese Stoffe sind dem Kör- per fremd, feindlich und besitzen die Fähigkeit, sich schnell zu vermehren. Die Natur beseitigt aus den Flüssigkeiten schädliche Stoffe auf natürlichem oder künstlichem Wege, je schädlicher sie sind, desto schneller geschieht es; gleichzeitig aber werden die zwei Wege gewöhnlich nicht benutzt. Andererseits wird die feste Corticalsubstanz täglich zerstört und verschlechtert, muss daher

h rA posteriori lioc manifestum est, sed quomodo hoc fiat, altioris indagi- nis est, quod niillus hodie explicet, si non summus Sauvagesius" in einem Schrei- bon an ihn vom 22. November 1759. Generatio ambigena

Hjelt, Linn« als Arzt. 3

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unter Beobachtung der Vorschriften der Diätetik täglich erneuert und wiederhergestellt werden. Versäumt man diese Vorschriften oder entspricht die sonstige Lebensweise den Anforderungen des Körpers nicht, so entsteht ein Mangel im Organismus, entsteht Krankheit. Um eine Krankheit zu heben, ist es erforderlich, in den flüssigen oder festen Theilen des Körpers eine Veränderung hervor- zurufen, entgegengesetzt demjenigen Zustande, in welchem die Krankheit sich entwickelt hat. Zu diesem Zweck benutzt man Arzneimittel. Ihre Fähigkeit, derartige entgegengesetzte Zustände im Körper hervorzurufen , lernt man aus der Wirkung kennen , die sie durch ihren Geschmack auf die flüssigen und festen Bestand- theile des Körpers, oder durch ihren Geruch auf das Nervensystem (Medullarsübstanz) ausüben. Die wichtigsten Arzneimittel werden daher Pflanzen entnommen, die an Geschmack und Geruch einander entgegengesetzt sind (sapida et olida). Darin liegt der Schlüssel zur Materia medica. Analog den oben geschilderten Grund- bedingungen der Pathogenesis der Krankheiten entsteht folgende Einth eilung der Eigenschaftien der Arzneimittel :

I. Sapida.

Agunt in Corticale vitale :

in Fluidis in Solidis.

1. Aquosa Mundificantia, Humectantia

Absorbentia, Exsiccantia

2. Acida Eefrigerantia, Attenuantia

Balsamica, Tonica

3. Dulcia Edulcorantia, Impinguentia

Incidentia, Corrodcntia

4. Viscosa Inviscantia, Lixbricantia

Penetrantia, Abstergentia

5. Pinguia Obtundentia, Emollientia

Inspissantia, Adstringentia

Salsa.

Stiptica.

A ui a r a.

Acria.

Sicca.

') Genera morboruni, S. HO.

Sö-

ll. Olida. Agunt in Medulläre animatüm.

Sensum Excitant Aromatica, Sopiunt _ Vi rosa.

Motinn Spasticant ürgastica, Evacuant Nauseosa.

Judicium Acuunt Spirituosa, Confundunt Tetra.

Libidinem Provocant Ambro siaca, Suffocant Hircina.

Ans dieser Theorie der Gegensätze, wie man sie benennen kann, wird das pathologische und pharmakodynamische System entwickelt, welches mehr oder weniger klar durch Linne's medizini- sche Schriften geht und die man , ohne es zu kennen , nicht ver- stehen kann. Dass Linne das Nervensystem in einen gewissen Gegen- satz zu den übrigen Geweben des Körpers stellte, scheint mir dar- auf zu beruhen , dass sein pharmakodynamisches System , wie wir sehen werden, einen solchen Unterschied forderte. Linne sprach nämlich den allgemeinen Satz aus , dass Pflanzen , die sich durch ihren Geschmack auszeichnen , die festen und flüssigen Theile im Körper verändern, während die riechenden und flüchtigen Stoffe auf das Gehini einwirken. ') Es muss innerhalb des Körpers ein organisches Substrat geben, das allein empfänglich ist für die Eigen- schaften derjenigen Arzneimittel, welche die grosse Gruppe der olida, odorata, volatilia, spirantia u. s. w. bilden. Das Nerven- system, als für sich bestehend, tritt in Linne's pathologischem System nur dann auf, wenn von einer Anordnung der Arzneimittel in ge- wissen grossen Hauptgruppen die Rede ist. Berücksichtigt man diese Inconsequenz , so scheint sein System eine Zusammenfassung solidar- und humoralpathologischer Ansichten zu sein, eine Ver- mittehmg zwischen der iatromechanischen und iatrochemischen Schule , die vor seiner Zeit um die HeiTSchaft in der Medizin ran- gen, In Folge dessen werden die verschiedeneu Span- nungs- und Dichtigkeitsverhältnisse innerhalb der festen

') Inebriantia (1761).

2i ..Qualis chylug, talis sanguig, qualis sanguis, tales fibrae, quales librae, talea oriuntur morbi. (Linne's Vorlesungen 1771).

3*

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und flüssigen Bestandtheile des Körpers der Mittelpunkt, um welchen Linne's patholog-ische Vorstellungen sich drehen. Obgleich die Ansichten Boerhaave's auf die medizinische Theorie, die Linnö in Bezug auf die Natur und das innere Wesen der Krankheiten für sich entworfen, in bedeutendem Maasse eingewirkt haben, finden wir doch, dass sein pathologisches System einen selbständigen und weit entwickelteren Inhalt besitzt. ^) Während Boerhaare bei der Auf- stellung seiner „Fibrillärpathologie" die Ursache der meisten Krank- heitszustände in der Spannung oder Erschlaffung sucht, welcher die Fiber, der gemeinschaftliche Bestaudtheil des Organismus , unter- worfen ist, begnügt Linne sich nicht mit diesem allgemeinen Satze, sondern sucht denselben in seine Details zu verfolgen und will auch in den Flüssigkeiten des Körpers entsprechende Kategorien auf- weisen.

Die festen Bestandtheile des Körpers können in ihren kleinsten Fibrillen, nach Linne's Ansicht, nicht nur im Allgemeinen gespannt oder erschlafft sein (fibrae strictae vel laxae) , sondern sie offenbaren es in fünf verschiedenen Modifikationen. Diese sind:

a) feuchte (fibrae humidae) oder im Gegensatz dazu trockene (fibrae torridae) ;

b) spröde (tenerae) ; z ä h e (tenaces) ;

c fette (pingues) ; magere (macrae) :

dj dicke (turgidae) ; dünne (gracil es) ;

e) weiche (fluxae); steife (rigidae). Die flüssigen Bestandtheile des Körpers, zu denen auch das Blut gehört und welche die eigentliche Bildungsquelle des festen Gewebes ausmachen, können in zweifacher Art verändert sein, näm- lich ihrer Zusammensetzung (crasis) und ihrer Mischung (diathesis) nach. Die Flüssigkeiten können nämlich werden:

' ] .,Boerhaave schrieb die Fehler der Fibera nur zweien Zufällen zu : 1 a x u lu et strictum ; obschon es aber der erste Haspelfaden ist, variirt derselbe doch mehr, als dass man dadurch alle morbi fibrarum begreifen könnte.'' (Linne's Vorlesungen 1771 .)

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a) tenues, „sobald zu viel serum im Verhältniss zum cruor sanguinis vorhanden ist" ; densi, „sobald se- rum, welches das Blut verdünnen miisste, fehlt; dies tritt in hitzigen Fiebeni und bei Bejahrten ein und ent- steht auch durch seri evacuatio ; "

b) aciduli, „alles, was Leben hat, soll wiederum destruirt und zu Erde werden ; solches zu befördern, hat die Na- tur nur zwei Auswege, Säure imd Feuer ; serum neigt sich zur Säure und cruor zur Fäiüniss hin;" phlo- gistici, „in der phlogistischen, putriden Diathesis wird das Blut angegriffen ; stagnirt es, so wird es scharf (acris fit) und eine Inflammation entsteht; tritt eine Resolution nicht ein , so wird das Blut verdorben und die in Folge dessen irritirten Nerven verursachen Fieber ; das Herz bewegt sich schneller , um den schädlichen Stoff zu ent- feraen. und das Blut wird dicker; starke Bewegung bringt dasselbe hervor, indem die Ausleerungen ver- mehrt werden ; "

c) oleosi; acres;

d) plethorici, „sobald die Flüssigkeiten, namentlich das Blut, im Körper überhand nehmen; pauperati, „wenn die Flüssigkeiten schwach und in geringer Menge vor- handen sind;"

e) glutinosi, pituitosi, „durch Ruhe wird im Körper zu viel Schleim gebildet;" muriatici, „Salz dient da- zu, im Köiiier den Schleim zu lösen, vergrössert zugleich den Appetit, starke Salzesser werden steif in allen Glie- dern; Salz ist dem Schleim entgegengesetzt."')

M Nach Linne's Vorlesungen über ,, Clavis medicinae" 1771, welche in der Bibliothek des k. Karolin'schen Instituts zu Stockholm in Abschrift ver- wahrt werden. Herr Dr. Ährling hat diese Aufzeichnungen mir freundlichst mitRetheilt.

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Wirft man einen Blick auf diese verschiedenen , von Linne mit Rücksicht auf die Beschaffenheit der Flüssigkeiten aufgestellten Kategorien, so wird der Gedanke unwillkürlich auf die Lehre von der Crasis gelenkt , welche noch vor einigen Jahrzehnten eine so grosse Rolle in der Wissenschaft spielte, und man fragt sich, ob der Unterschied in der That so gross ist. Zwischen den festen und flüssigen Theilen des menschlichen Körpers findet jedoch ein Wech- selverhältniss statt , und es ist nicht immer leicht zu entscheiden, inwiefern die festen Theile durch ihre verschiedene Spannung die Zusammensetzung der Flüssigkeiten verändern, oder ob es die Flüssigkeiten sind, welche einen grösseren oder geringeren Grad von Spannung und Erschlaffung in den festen Theilen hervorrufen, indem sie auf ihre Bildung einwirken. ^)

Alle diese Verschiedenheiten in den Geweben und Flüssigkeiten des Körpers muss der Arzt erkennen können und zugleich durch seine Heilmittel nach Umständen zu verändern oder zu verbessern suchen. Da die Arzneimittel und namentlich die pharmazeutischen Pflanzen verschiedene Eigenschaften je nach ihrem verschiedenen Geschmack besitzen, muss man darnach streben, diese Wirkung der Arzneimittel auf die festen und flüssigen Bestandtheile im Körper kennen zu lernen. Weil der Geschmack sich leicht zu erkennen giebt '. kann der Arzt im Allgemeinen seine Schlüsse in Beti-eff ihrer Anwendung ohne Schwierigkeit ziehen. So wird die schlaffe Fiber durch bittere Mittel gestärkt und durch zusammenziehende Mittel fester ; die zu stark gespannte Fiber wird feucht durch die Anwen- dung wässriger Mittel (aquosa) , verdünnt durch säuerliche und er- weicht durch fette Stoffe. Die säuerliche Diathesis vermindert man durch bittere Stoffe und arbeitet mit bitteren Arzneien der septischen entgegen. Sind die Flüssigkeiten scharf, so werden sie durch süsse gemildert , durch wasserhaltige gereinigt und durch klebrige (vis-

') ,,Quemadmodiim vero fluida solidas partes progenerant, ita etiam solida vicissim in fluida agunt eaque modificant. (Linne s Vöries. 1771.)

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cidu) Stoffe erweicht. Die dUnue Flüssigkeit wird durch trocknende aufgesaugt uud durch zusammenziehende Mittel dicker. Die Arznei- mittel wirken mithin dadurch , dass sie den kleinsten Partikeln der festen Theile einen grösseren oder geringeren Zusammenhang (ma- jorem vel minorem aduuationem) erth eilen, und auf die Flüssig- keiten des Körpers dadurch, dass sie dieselben entweder verbessern, wenn sie ihrer Zusammensetzung und Schärfe nach (crasis ac acii- monia) verändert worden, oder auf geeignetem Wege sie von schäd- lichen Stoffen befreien, i)

Man kann daher das Gesetz aufstellen , dass man stets ein sol- ches Arzneimittel anwenden muss , welches im Gewebe einen Zu- stand herbeiführt oder heiTorruft, demjenigen entgegengesetzt, welchen man bekämpfen will (contrariorum e contrariis curatio) . Es ist überhaupt ein in Linne' s Schriften oft wiederkehrender Ge- danke , dass die Arbeit der Natur unter Gegensätzen verläuft (nam contrariis fere sua omnia natura operatur) . Ja, es ist eine Grund- ansicht in Linne's ganzer Naturanscbauung, dass das Gleichgewicht der Natur auf dem Kampfe zwischen Gegensätzen beruht (Uni- versum lucta discordium aequilibratur) . ^] Damit hängt die Vor- stellung zusammen, dass die eine Krankheit die andere verdrängt, oder dass der Organismus durch das Vorhandensein eines Krank- heitszustandes gegen einen anderen so zu sagen geschützt oder im- mun yvirä (hinc morbi contrariis morbis saepius curantur) ; eine Ansicht, welcher übrigens, wie bekannt, noch bis in die neueste Zeit in der Medizin gehuldigt wurde.

In der Pathologie hat die Frage wegen der Krankheitsur- sachen immer eine wichtige Rolle gespielt, und sie waren für Linne

'i Sapormedicamentonim (1751). Purgan tia indigena (1766). Ein bei den älteren Aerzten oft wieder- kehrender Satz.

■■') Der Körper des Menschen Itann als eine Wage betrachtet werden ; so- bald sie äquillbrirt, befinden wir uns gut, entstellt aber ein Uebergcwicht auf irgend einer Seite, so sind wir krank. (Linne's Vorlesungen 1771.)

*) Vires plantarum (1747;.

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ntn so bedeutungsvoller, weil die Art der Krankheit, d. h. die Form, in welcher eine Krankheit in dem einzelnen Falle auftrat, seiner An- sicht nach von ihrer Ursache abhing oder mit derselben identisch war. 1)

Gleich den älteren Aerzten nahm auch Linn6 zwei Ursachsver- hältnisse der Krankheiten an, eine nähere und eine entferntere i causa proxima et remota) . Die nächste Ursache liegt entweder in den ver- schiedenen Spannungsverhältnissen der festen Theile oder in der Zusammensetzung der Flüssigkeiten. Die entfernten Ursachen haben gewöhnlich ihre Wurzel und Quelle in der Diät oder der Lebens- weise , in dem verschiedenen Alter, der Körperconstitution oder in Ansteckung (contagium) . 2)

Die Bedingungen für das Wohlbefinden des Menschen oder die Diät in weiterer Bedeutung sind, nach Linnö's Darstellung, gute Luft, genügende Bewegung und Schlaf, passende Nahrung , unge- störter Gang der natürlichen Ausleerungen und gute Beschaffenheit der Gemüthsbewegungen. Man sucht vergebens die nächste Krank- heitsursache aufzuheben, wenn eine schlechte Diät dieselbe fort- während unterhält. Es ist daher eine der wichtigsten Pflichten des Arztes, die vorhandenen Mängel oder Missgriflfe in der Lebensweise mit grösster Sorgfalt zu erforschen , und solches ist nicht möglich ohne genaue Kenntniss der Forderungen der Diätetik. Letztere sind gänzlich abhängig von den Wahrheiten der Naturwissenschaft ; die Medizin und die Naturwissenschaft werden in dieser Beziehung durch ein gemeinsames Band zusammengehalten (utraque veluti la- pides muri firmo nititur vinculo) . ^) Ist es dem Arzt gelungen, diese

') In Linnt^'s Vorlesungen über Pathologia nosologica il756 175S), die in der Bibliothek der schwedischen Akademie der Wissenschaften aufbe- wahrt werden, finden wir z. B. folgende Arten von Phrenitis (Meningitis) an- geführt : a) Phrenitis idiopathica a structura ; b) Phr. syuiptoniatica ; c} Phr. ebriosa; d) Phr. phanatica a meditatione ; e) Phr. aphrodisiaca ; fj Phr. puer- perans ; g] Phr. a retropulsis exanthematicis ; h) Phr. ab hectica; i) Phr. a inorsu venenato ; k) Phr. a febre ; 1) Phr. a pervigilio ; m) Plir. a laeso cranio.

2), 3j De raphania (1763).

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Krankheitsursache zu erforschen oder ihre Quelle aufzufinden,, so wird es ihm auch klar, was er zu thun hat (certior evadit de suo in- dicato) , nnd er kann mit Leichtigkeit zu den Indicationen für die Behandlung gelangen. Wenn er die Arzneimittel kennt, welche an Geschmack und Geruch miteinander tibereinstimmen , kann er die kräftigsten und wirksamsten auswählen und dieselben in einer mit ihrer Beschaffenheit Ubereinstimmenden "Weise verschreiben. Da- durch wird es ihm zwar in vielen Fällen gelingen, die Krankheit zu .. beseitigen , ihre Wiederkehr aber kann er nicht verhindern , sobald er es unterlässt , auf die genannten , in der Lebensweise liegenden Ursachen Acht zu geben und dem Kranken eine entgegengesetzte oder veränderte Lebensordnung vorzuschreiben. Erst dadurch heilt er die Krankheit vollständig. ')

Zu dem Bemerkenswerthesten in Linne's Lehre von den Krankheitsursachen gehört die Theorie von „exanthemata viva" oder die Vorstellung, dass die ansteckenden Krankheiten durch die Einwanderung kleiner Thiere in den Menschenkörper hervorgerufen werden nnd davon abhängen. Linne ist der Ansicht, dass man so- wohl aus Analogie , als auf Grund der Erfahrung zii der Annahme dieser Entstehungsweise verschiedener ansteckender Krankheiten berechtigt ist 2). Zu diesen Krankheiten werden Krätze und epi- demische Ruhr (Dysenterie) , die Linnö „Scabies intestinorum in- teiTia" nennt, Keuchhusten (Tussis ferina), Pocken, Masern, Pest, gerechnet ; später werden in diese Kategorie auch Aussatz (Lepra) , Schwindsucht ') (Phthisis) und Wechselfieber •^) aufgenommen. Ob- gleich die envähnten kleinen Thiere noch nicht entdeckt und be- schrieben worden , ist Linne der Ansicht , dass die Verbreitung der

ij De cffectu et cura vitiorura diaeteticoruni generali (1766). 2, .,Quain hypothesin fjuasi ex tripode dictam alii avide arripuerunt, verum alii nt inscitiae involncrum repudianint.'' 3) Exanthemata viva (1757).

de Lepra 'I76.i;, de viola ipecaciianha (177 Ij, de Ledo palustri (1775).

Miindus invisibilia (1707,'.

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ansteckeucleu Krankheiten eine Ijemerkenswerthe Aehulichkeit hat mit der Art und Weise, wie eine Menge Thiere, uauieutlich Insecten, sich fortpflanzen und vermehren. Die oft plötzliche und fürchter- liche Entwickelung der Contagien schreibt er dieser Ursache zu. Je kleiner ein Thier im Allgemeinen ist, desto zahlreichere Nachkommen- schaft kann es hervorbringen , und man könne daher sich recht gut denken , dass schon eins oder das andere dieser kleinen thierischen Wesen durch seine unerhörte Vermehrung den menschlichen Körper binnen Kurzem zu erfüllen vermöge. Dieser Umstand zeigt sich auch darin , dass es bei der Pockenimpfung nicht auf die grössere oder geringere Menge Eiter ankommt, die man, um Blatterpusteln hervorzubringen , anwendet. Als Beweis für die Ansicht von dem parasitären Ursprünge der ansteckenden Krankheiten führt Linne zugleich an, dass der Ansteckungsstoff durch Kälte zerstört wird, in der Wärme aber sich vermehrt, Er spricht die Hoffnung aus, dass, weun auch „diese lebenden Ursachen" der exanthematischen Krankheiten noch nicht gefunden und entdeckt worden, künftige genaue Forschungen beweisen werden, dass ihr Bau weit künst- licher und zusammengesetzter ist, als man jetzt ahnen kann. Diese kleinen Thiere haben der Menschheit sicherlich bedeutendere Ver- luste zugefügt, als die grössten Kriege. Wer bestimmt, ruft Linne aus, wo die im Grossen und Kleineu bewundernswerthe Entwicke- lung der Natur beginnt oder aufhört? Im Pflanzenreich giebt es eine bemerkenswerthe Analogie für einen ähnlichen Ansteckungs- stofl", nämlich Ustilago. Besonderes Gewicht legt er darauf, dass Arzneimittel , die sich wider Insecten und Krätzethiere wirksam er- wiesen, auch bei Behandlung ansteckender Krankheiten sich als wohlthätig zeigten, z. B. Moschus, Kampher, Mercurialia, Schwe- fel u. s. w. So Hess Linne während einer verheerenden Pocken- seuche seine Kinder Moschussäckchen am Halse tragen (wie es Sitte in Norrland war) und glaubte sie dadurch vor Ansteckung zu

') De Lepra (1765).

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schützen. Bei schwerem Maserahusten hat er kleine und oft erneuerte Gaben von Flor, sulfuris besonders wirksam gefunden.

Unter Plethora versteht Linnö (mit Fr. Hoffmann) den Zustand, wenn die Menge des Blutes grösser ist, als Herz und Blutgefässe fassen oder in regelmässiger Bewegung erhalten köiinen. Man muss diese Zustände von einander unterscheiden. Bei der wirklichen Plethora wird mehr Blut erzeugt, als der Körper bedarf oder verwenden kann ; dem letzteren Zustande dagegen liegt eine gewisse Schwäche des Herzens und der Blutgefässe zu Grunde , und dadurch entsteht eine scheinbare Blutüberfüllung und Erweiterung der Blutgefässe, welche schwer kranken Personen bei Fieberanfällen, sowie kachek- tischen Individuen eigenthUmlich ist. Congestion ist reichlicherer Zufluss von Blut zu einem Theil des Körpers , als zu den übrigen. Sie deutet nicht allein eine Ungleichmässigkeit im Blutumlauf an, sondern kann ausserdem auf einer Schwäche oder einer Heizung (Irritation) in demjenigen Theil des Körpers, wohin der Blutstrom nach mechanischen Gesetzen geführt wird, beruhen ; sie kann ferner durch Verengerung der Blutgefässe innerhalb eines angrenzenden Theils hervorgerufen werden , oder sie kann in Folge von Krampf in den Gefässen entstehen. Wenn nun durch irgend eine zufällige Veranlassung die Blutbewegung zunimmt, so kann Blutergiessung (Haemorrhagia) die Folge sein. 2)

Unter den Hülfsmitteln bei Aufstellung von Krankheitsdiagnosen waren der P u 1 s u n d s e i n e V e r ä n d e r u n g e n f ür die älteren Aerzte von der grössten Wichtigkeit und Bedeutung. Man muss in der That den Scharfsinn und die Genauigkeit bewundern, mit denen die älteren Aerzte , in Ermangelung anderer objectiver Umstände, den Puls studirten. Kann man nicht, äussert Linnö, in einem jeden Falle die Stärke und Beschaffenheit dieses Zeigers und Aufrechthalters des Lebens beurtheilen, so vermag man auch nicht den höheren

'j De haemorrliagiis ex plethora (1772).

2) De haeinorrhagiis uteri sub statu graviditatis (1749).

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oder geringeren Grad von Störung innerhalb der vitalen, natürlichen und animalen Functionen, sowie die fllr den Mechanismus des Kör- pers daraus entstehenden Gefahren berechnen. Es giebt in diagno- stischer und prognostischer Beziehung weder eine mehr heiTor- ragende, noch nothwendigere Lehre, als die von der Bewegung des Blutes, dem Puls. Man kann daher nicht umhin, den Leichtsinn mancher Aerzte zu tadeln, die den Kranken mit so leichter und flüchtiger Hand untersuchen , dass sie kaum zwei Pulsschläge ab- warten nnd , sobald der Kranke Zeit gehabt hat , ein oder das an- dere Symptom zu erwähnen oder sie bloss die Benennung der Krankheit gehört, gleich bereit sind, Arzneien zu verschreiben. Der Arzt muss im Gegentheil in einem jeden Falle die genaueste Prü- fung aller Krankheitszeichen imternehmen und sich daraus ein mehr oder Aveniger sicheres oder mindestens wahrscheinliches Urtheil bilden. ')

In einer besonderen Abhandlung von dem „intermittenteu Puls" findet man die Ursachen seines Entstehens angegeben und sieht daraus, dass es der Arzneikunst bereits damals nicht an Kenntniss derjenigen Krankheitsprozesse fehlte, welche diese Unregelmässig- keit hervorrufen. Die Ursachen des intermittenteu Pulses liegeu vor allem im Herzen, z. B. in einer Entzündung desselben, in einer zu starken Entwickelung seines Muskels, in Aneurysmen. Po- lypen , Geschwülsten und Abscessen im Herzen , in Verknöcherung der Klappen, in der Verwachsung des Herzbeutels und anderen pericardialen Leiden, sowie in unregelmässiger Thätigkeit der Herznerven. Nächstdem beruht der intermittente Puls auf Ur- sachen, die in den Arterien liegen, z. B. paralytischer Zustand oder spasmodische Contractionen der Gefässe, Stasis bei Entzündung"^ ,

1) De pulsu intermittente (1756).

2; ..Durities in tunicas arteriarum inducta, a stagnante liquldo iis in vasis, per quae ei exitus denegatur, hinc minus flectuntur latera, sicque non cedimt motni , sed diamctrum eandem internae superficiei vasis conservant , uti in in- fiammationibus earum evenit "

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Verknöcherimg der Arterien M, Aneurysmen und polypösen Con- eretionen. Schliesslicli können die Ursachen des intermittenten Pulses in der Beschaffenheit des Blutes selbst liegen, Bei der phlo- gistischen Diathese in acuten und entzündlichen Fiebern wird der flüssige Bestandtheil des Blutes vorwärts getrieben, während die festen Theile an den Wandungen der Gefässe haften bleiben. Da- durch kann ein Stillestehen des Pulses eintreten. Sobald Blut in allzu grosser Menge vorhanden ist oder die Gefässe übermässig ausgedehnt werden, wird ihre Thätigkeit gelähmt und die Gefäss- wandungeu sind nicht im Stande, den Blutdruck zu überwinden. Bei Blutmaugel dagegen nehmen die Ventrikel nicht soviel Blut auf, dass das Her/; bis zur vollen Systole stimulirt würde , wie es bei Ohnmächten und nach reichlicherem Blutverlust der Fall ist, ein Umstand, der auch bei starken Aderlässen leicht sich beobachten lässt. Die Zeichen, aus welchen diese besonderen Ursachen diagno- sticirt werden, sind jedoch so mannigfach und so verschiedenen Herzkrankheiten gemeinsam, dass man noch nicht mit Sicherheit sich für das eine oder das andere Leiden entscheiden kann. In dieser Arbeit wird auch erwähnt, dass fibrinöse Ablagerungen innerhalb der Gefässe („Polypen"), von ihrer Ursprungsstelle los- gerissen, plötzliche Erstickung verursachen können, weshalb Ruhe Allen, die daran leiden, uothwendig ist. Die Vorstellung liegt nahe, dass man vielleicht künftighin Arzneimittel finden werde , welche die Fähigkeit besitzen, dergleichen Ablagerungen aufzulösen. Die bei kachektischen und kränklichen Personen auftretende Blässe gilt als Folgeerscheinung davon, dass das Blut entweder an und für sich zu wenig feste Bestandtheile enthält und zu wässrig ist , oder dass es nicht mit der nöthigen Kraft innerhalb der Capillargefässe vorwärts getrieben wird.

Betreffs des Entstehens sog. inflammatorischer Fieber findet man den Gedanken ausgesprochen, dass, sobald das Blut aus irgend

'/ „Succus hic osseus eflfunditur in interiorem arteriarum cellusosam,'-

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einer Veranlassung coagulirt, Verstopfung der kleinsten Gefässe (obsti'uetio vasorum) und auf diese Weise phlogistische Fieber- krankheiten, Pleuritis, Peripneumonia etc., entstehen J) Wenn die resorbirenden Gefässe untkätig sind, so hat dieses Hydrops zur Folge, und wenn die Seihapparate (colatoria) des Körpers die Flüssig- keiten nicht in genügender Menge ausleeren, so hat man Anasarca^) zu befürchten.

Linne schrieb eine besondere Abhandlung über die Nothwendig- keit für Mütter, ihre Kinder zu stillen, und betonte die Wichtig- keit desselben für deren ganze Entwickelung.^) Bei Frauen verschie- dener Körperconstitution ist die Beschaffenheit der Milch verschieden. Wird das Kind einer Amme zur Aufziehung übergeben, so erleidet seine Ernährung eine Veränderung, und ein besonderer Einfiuss auf den Neugebornen wird sich bald zeigen. Nicht nur die Grundlage zur Gesundheit des Kindes wird gelegt , sondern auch zu seinem Temperament, welches später kaum mehr verändert werden kann. ^) Linne ist der Ansicht, dass die Milch einer Amme nicht selten durch die veränderte, fremde Lebensweise und das viele Stillesitzen, wo- zu sie gezwungen wird , verschlechtert wird. Er sagt , er habe grösseren Nutzen als von allen Arzneien davon gehabt , eine Amme sich täglich draussen bewegen oder eine andere körperliche Arbeit vor der Mahlzeit vornehmen zu lassen. Die in Westerbotteu übliche Sitte, kleine Kinder, „bubulo", vermittelst eines Horns aufzuziehen, ist nach Linne eine wichtige Ursache ihrer grossen Sterblichkeit in diesem Theile des Landes. In der bei den höheren Ständen herr-' sehenden Neigung, die Kinder von Ammen aufziehen zu lassenJ

') Spiritiiä frumenti (1764).

-) De effectu et cura vitiorum diaeteticorum generali (I TCti).

Nutrix noverca (1752). Diese Abhandlung findet man ins Französische übersetzt und eingeführt in „Les Chefs-d' Oeuvres de Mr. de Sau-i vages, trad. par M. J. E. G*^*. Tom. II, S. 213—244, ä Lyon 1770. i *] Liberi cum a utero, tum ab uberibus stamina valetudinis repetunt. 1 •'') Derselbe Gedanke wird ferner ausgesprochen in .,Fundamenta valetudi-'

nis (1756).

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glaubt Linne eine Erklärung dafür zu finden, dass viele Familien aus- arten und der sie auszeichnenden körperlichen und geistigen Eigen- schaften verlustig gehen. ^) Ohne dringende Gründe müsste daher eine Mutter sich dem Stillen ihres Kindes nie entziehen. Freilich kann es wirkliche Hindernisse geben. Was Syphilis anbetrifft, so giebt es Beispiele, dass Mütter, obgleich während der Schwanger- schaft angesteckt , doch gesunde Kinder geboren haben , es giebt aber keinen einzigen Beweis dafür, dass ein syphilitisches Weib ein Kind stillen könnte, ohne dass es von dieser Krankheit befallen würde, Nur diese letztere Krankheit, allgemeine Schwäche (Atro- phie) und Schwindsucht können als Hindernisse für das Stillen gelten. Im Zusammenhang hiermit möge erwähnt werden, dass Linn6 die Erblichkeit gewisser Krankheiten und die Bedingungen, unter denen diese eintritt, andeutet. Schwindsucht, Gicht und Nei- gung zum Blasenstein gehen von den Eltern auf die Kinder über. •')

Nach dieser Darstellung von Linne's allgemeinen medizinischen Ideen müssen wir seine Ansichten über einzelne Krankheiten^ insofern dieselben in seinen Schriften enthalten sind, noch, kurz berühren.

Das intermittente Fieber, seine Natur, seine Ursachen und Heine Behandlung hat er mit besonderer Vorliebe behandelt. Bereits während seines ersten Aufenthalts zu Upsala, in dessen Umgebung Wechselfieber endemisch waren, hatte er Veranlassung, dieser Krankheit grössere Aufmerksamkeit zu widmen, und als er nach Holland kam, fand er sie auf den feuchten Ebenen dieses Landes wieder. Er wählte das intermittente Fieber zum Gegenstand seiner in Harderwyk 1735 herausgegebenen Doctorabhandlung , und man

') .,Hic causa, cur nobrlea dej^enerent , acutissimi liebescant tempeiameu- tuinque corporis Optimum plures amittant, nec non quod plurimi infantes , dum primum esse inceperunt, esse desierint."

Nutrix noverca 11102).

Fundamenta valetudinis (1756).

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liest nicht ohne Interesse die klare, von der Wärme der Ueber- zeugung durchdrungene Sprache , mit welcher der junge nordische Arzt sich über eine bisher noch ungelöste Frage der Pathologie ausspricht. •)

In dem südöstlichen Theil Schwedens, sagt Linne, ist das Wechselfieber sehr allgemein. . In Upland giebt es keine verbreite-

o

tere Krankheit , in der Gegend zunächst Abo kommt sie gleichfalls oft vor. Im ganzen Westerbotten dagegen findet man sie nur bei Kaufleuten und Seefahrern , die sich in Stockholm aufgehalten haben. In Lappland ist sie gänzlich unbekannt. Das intermittente Fieber trifft man überhaupt in denjenigen Theilen des Landes, deren Boden Lehm in grosser Menge enthält. Linne meint, dass die im Wasser gelösten Lehmpartikel (intimae solutae particulae argillaceae) in das Blut eindringen und in den feinen arteriel- len Gefässen haften , wodurch eine Störung in der Hautthätigkeit entsteht. Man muss daraus den Schluss ziehen, dass Stoffe, die vermittelst der Hautausdünstung beseitigt werden müssen, bei inter- mittentem Fieber in gewaltsamer Weise zurückgehalten werden, und dass man von demselben befallen wird, sobald die Haut- absonderung verhindert ist und im Körper zugleich eine früher vor- handene Ursache sich vorfindet , sonst nicht. Die Indicationen für die Behandlung des Wechselfiebers sind also 1 . Internum expellens s. vasa intendi debent, 2. Pori cutis calore aperiendi sunt. Ueber- giessungen mit kaltem Wasser nach vorheriger Erwärmung sind daher wohlthuend. Uebrigeus sind starke körperliche Bewegung, sparsame Diät und genügender Schlaf vorzuschreiben. Amara, austera und graveolentia werden als Arzneimittel benutzt.

Während Linn6 in seiner medizinischen Erstlingsarbeit die Quelle des intermittenten Fiebers in unreiner Beschaffenheit des Wassers suchte , steMte er in seinen späteren Schriften eine neue

') Hypothesis nova de febrium intermitteutium causa. Härder. 1735. 40. Von neuem abgedruckt in Amoenitates academicae. Vol. I. Lugd. Batav. 1749. 8». Pag. 1 19 (herausgegeben von P. Camper;.

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Theorie für das Entstehen desselben auf und glaubte die Ursache in der Luft und den dadurch hervorgerufenen Störungen in der HaiitausdUnstuug (perspiratio iusensibilis) zu erblicken, i) In der Attraction , . welche der Körper vermittelst seiner eröifneten Poren auf die mit schädlichen Ausdunstungen und Feuchtigkeit verdor- bene Luft ausübt, sucht er die Ursache jener Störungen. Es ist nicht allein die vereinigte Wirkung der Kälte und der Feuchtigkeit an und für sich, welche die Krankheit hervorbringt. In den Aus- dünstungen, welche aus staguirenden Gewässern, geschlossenen Kellerräumen, verwesenden Thier- und Pflanzenth eilen , Gräbern etc. aufsteigen, finden sich zahlreiche in Fäulniss begriffene Parti- kel vor. Dass die Luft eine eigenthümliche Säure oder einen in steter Oxydation befindlichen Stoff enthalten muss, lässt sich daraus schliessen , dass nicht nur thierische , sondern auch fast alle vege- tabilischen Flüssigkeiten unter dem Einfluss desselben sauer werden. Die nächste Ursache der intermittenten Fieber dürfte daher, nach Linne's Auffassung , gesucht werden müssen in einer Coagulation des serösen Bestandtheils des Blutes , herbeigeführt durch die Wir- kung oxydirter , in der Luft enthaltener Stoffe. Bereits früher war angedeutet worden, dass Linne die Entstehung einer Menge Seu- chen durch das Vorhandensein kleiner, in verdorbener Luft befind- licher Thiere zu erklären sucht. Ist man nicht, so fragt er, berech- tigt, die Ursache der intermittenten exacerbirenden Krankheiten, die vorzugsweise im Herbst herrschen, wo die Luft feucht und ne- belig ist, in dergleichen äusserst winzigen Thieren zu suchen, die ein solches ..acre", von dem hier die Rede war, enthalten? Mau dürfte folglich annehmen können, dass die intermittenten Fieber- krankheiten dadurch entstehen , dass ein in Oxydation begriffener

') De varia febrium interinittentium curatione (1771). In dieser Abhand- lung heiast es S. 12 : „Palinara facile omnibus praeripit haeo ingeniosissinia tanti viri opinio , quae intricatissiinani , in origiue hanim febrimn indaganda , acu quasi, rem tetigisse merito videtur. Indefesso enim studio et iudagatione con- summatissima iliius substituit loco, quam amplexus fuit, noviorem tlieoriam."

H j elt, Linn« als Arzt. 4

Stoff (acre) sich in grösserer Menge in der Luft anhäuft und vom Körper aufgenommen wird, wie man auch nicht leugnen durfte, dass Luft, welche mit verdorbenen pflanzlichen oder thierischen Theilen verunreinigte Dünste enthält, zur Erzeugung derselben bei- trägt.

Diese Theorie Linne's stützt sich hauptsächlich auf folgende Gründe :

1) die intermittenten Fieberkrankheiten herrschen vorzugsweise im Herbst und Frühjahr, wo die Witterung feucht und kühl ist;

2) diese Fieberkrankheiten trifft man endemisch an solchen feuchten und schattigen, dem Luftwechsel weniger ausgesetzten Orten, wo der Boden hauptsächlich aus Lehm besteht, welcher, wie bekannt, Wasser hartnäckig festhält. Trockene, höher gelegene Gegenden sind dagegen von dergleichen Krankheiten fast gänzlich frei.i) Als Beweis für die Schädlichkeit stiller feuchter Luft wird angeführt, dass Linne seine Zuhörer davor warnte, an der nörd- lichen Wand des „Frigidarium" des botanischen Gartens , wo die Vorlesungen gehalten wurden und welche ohne Fenster war, zu sitzen, weil die Luft dort weniger bewegt war. Namentlich warnte er diejenigen, welche eine blasse Gesichtsfarbe und schon früher au zweitägigem Wechselfieber gelitten hatten, diesen Platz zu wählen. Die seinen Rath nicht befolgten, wurden nicht selten vom Wechsel- fieber befallen ; 2)

3) von dieser Krankheit werden vorzugsweise Personen er- gi'iffen , die in einer Pilze oder Schimmel enthaltenden Luft leben, niedrig gelegene Zimmer im untersten Stock bewohnen, im Früh- jahr ihre Winterkleidung allzu früh ablegen oder sonst in erhitztem Zustande sich unvorsichtig kalter, nebeliger Luft aussetzen. Nach starkem Schweiss ist der Körper gegen eine solche feuchte und un- reine Luft mehr als sonst empfänglich , und in Folge dessen sind

1) Respirutio diaetetica (1772). '-) Febris Upsaliensis (1757).

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namentlich Personen, die in solcher Luft sich lange nncl oft auf- halten, dergleichen Krankheiten ausgesetzt; ')

4) da bittere Stoffe im Allgemeinen die Säurebildung im Kör- per vermindern oder erscliweren , sind dergleichen Arzneimittel bei diesen Krankheiten zugleich die wirksamsten, z.B. Cinchona, Gen- tiana, Centaurium, Faha Ignatii, Nux vomica u. s. w.

Der kalten Fieberkrankheiten erwähnt Linnö nicht selten. Von einer schweren Amphimerina duplicata petechizans, an welcher auch seine Gattin erkrankte, giebt er folgende Beschreibung :

„Uxor mea laboravit dira amphimerina duplicata petechi- zante: quae eonvaluit et ego pristino animo restitutus. Febris exa- cerbata quavis vespera hora 5 ; paroxismus durabat in horam 7 vespertinam per duas horas. Alter paroxismus eadem vespera in- surgebat hora noctis undecima: durabat in horam matutinam 7 vel in meridiem. Alternis diebus paroxismi duplo vehementiores fuere. Solvebatur demum morbus vomitu et expectoratus per pul- mones viscosi, glutinosi insigni copia ; quibus , ubi relinquebatur morbus, diarrhoea, quibus vero non diarrhoea, illis petechia."^)

Von dem sogen. Upsaliensischen Fieber schreibt Linne an Sau- vages :

„Hemitriteus frequentissimus ab aliquot annis evasit morbus Upsaliae. Ab eo morbo restitui innumeros. Primis diebus dedi Ipecacuanham pro vomitu; dein infusum vinosum Chinae (non vero in substantia juvat cortex) et omni nocte Laudanum liqui- dum."

'i Morbi expeditionis classicae 1756 (1757). In seinem Briefe an Sauvages vom 20. März 1755. In einem Brief vom 22. April 175f;. Die von Linn6 benutzten Formeln waren, den noch aufbewahrten Reccpten nach, folgende :

Ree. Aqu. fontanae .5ijj , Pulv. Ipecacuanh. gr. xii , Tartari tartarisat. gr. vljj, Oxymel. scillit. 3iii. M. Dr. in vitro. S. Einen Löffel jede 8 Minuten, bis Erbrechen erfolgt.

Ree. Cort. Chinae Vin. rubri .^v, digere per 4 horas, express. filtretur,

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lieber S cor bat giebt es eiue besondere Abhandlung von Linnö. \, Diese Krankheit wird zwar nicht als eine im Norden ende- misch vorkommende angesehen, jedoch eingeräumt, dass sie spora- disch und vielleicht auch im kalten öfter als im warmen Klima vor- kommt. Dass der Scorbut epidemisch auftritt und namentlich auf längeren Seereisen viele Unglücksfälle herbeigeführt hat, ist be- kannt. Die nächste Ursache seines Entstehens glaubt Linne in all- gemeinen diätetischen und äusseren Verhältnissen suchen zu müssen. Von dieser Krankheit werden vorzugsweise solche Personen er- griffen, die ein sitzendes und unthätiges Leben führen, wie die- jenigen, welche an intermittenten oder anderen Fieberkrankheiten gelitten haben. Die kalte Luft macht die Flüssigkeiten des Körpers zur Ausscheidung salzhaltiger Bestandtheile geneigter, und die festen Gewebe desselben werden dadurch steif und rigide, Wenn ausserdem in der feuchten Luft die Poren sich schliessen , wird die Ausdünstung verhindert. Von der Beschaffenheit der Kahrungsmittel und der Geti'änke hängt in hohem Maasse die Zusammensetzung der Flüssigkeiten des Körpers ab ; viel Salz enthaltende Speisen wirken auflösend auf das Blut und die leimartigen Stoffe der Gewebe. Wird eine solche Nahrung oft und lange in grösseren Mengen genossen, so wirkt sie sogar zerfressend. Was körperliche Bewegung anbe- trifft, so ist sie für die Gesundheit ebenso nothwendig, wie die Nah- rung für den Bestand des Lebens unumgänglich ist. Alle körper- lichen Uebungen befördern den Umlauf der Flüssigkeiten , erhöhen die Wärnie und erleichtern besonders die Hautausdünstung. Die im Blute angehäuften scharfen und salzigen oder sonst zur Zersetzung geneigten Partikel werden durch körperliche Bewegung aus dem Organismus entfernt. Wer salzige Speisen in grösserer Menge ver-

reaid. coque in Aqu. fönt. q. s. Colaturae 5vjjj , adele priori Syr. aurant. 5jjj- M. D. S. Jede Stunde eine Tasse voll, sobald das Fieber nachlässt.

12 Tropfen eines Schlafmittel^ werden uni Mitternacht gereicht.

1) De scorbuto (1775).

-) Clavis medicinae, S. 8.

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zehrt, bedarf daher starker Körperarbeit. Unter den gegen Scorbut anwendbaren Arzneimitteln spielen die zur Klasse der Tetradyna- misten gehörenden Pflanzen eine hervorragende Rolle, ebenso vege- tabilische Säuren, Cider, Fruchtsäfte, Chinarinde etc. Speciell wird der Gebrauch von Sauerkohl zur Verhütung von Scorbut auf Schiffen empfohlen und der ausserordentliche Nutzen von Malzinfusion nach der Bereitungsraethode des englischen Arztes Macbride hervorge- hoben. — Schon früher hatte Linne brieflich Sauvages niitgetheilt, dass im J. 1740 nach einem sebr kalten Winter eine grössere Anzahl Menschen an Scorbut gestorben waren , als in den letzten fünfzig Jahren. Namentlich war dies der Fall mit Militärpersonen und Ma- trosen. Alle Säufer und dem Trunk ergebenen Leute waren unrettbar dem Tode verfallen. ')

Rachitis beruht nach Linne auf excessiver Säurebildung im Körper, Avobei die Knochen ihre Festigkeit verlieren und die Mus- keln sowie die Ligamente schlaff werden. Rachitische Kinder heilt man am sichersten durch Kneten (Massage) , Bewegung und solche Mittel, die dem Entstehen von Säure in den ersten Wegen entgegen- wirken. — Was man eine Zeitlang bei Kindern Tabes mesenterica nannte, heisst bei Linne „Hectica puerilis Sy denhamii", ..Febris lenta infantum Junkeri." An dieser Krankheit, die sich durch stark geschwollene Mesenterial drüsen , Wunden im Darm (intestina in- flammata) und Zerstörung der Lungen auszeichnet, sterben in Schweden nach seiner Angabe eine grössere Anzahl Kinder, als an irgend einer anderen Krankheit, mit Ausnahme der Pocken. Linne sagt , er habe in einer recht grossen Menge von Fällen (plusquam centies) ein wirksames Arzneimittel in der Rhabarbertinctur (aniraa rhei) , zu einer Drachme täglich , gefunden , und hält dieses Mittel für specifisch. 2) Gegen Ruhr, sagt Linne, kenne er kein siche- reres Mittel als ein Eigelb , aufgelöst in einem Theelöffel Brannt-

') In einem Briefe vom 20. Sept. 1740. 2) Rhabarbarnm (1752).

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weiu, zwei bis dreiiual täglich geuommen. Soviel er sonst gegen den Missbrauch von Branntwein eifert, so hält er ihn doch für ein Schutz- mittel gegen Kühr und erzählt , dass während einer Epidemie alle diejenigen Mitglieder dreier Familien, die Branntwein l^enutzten, gesund blieben. ') Die Ruhr wirkt nach seiner Ansicht durch die Ausleerungen ansteckend.

Unter den Ursachen der Schwindsucht führt Linne an meh- reren Stellen seiner Schriften das Einathmen feiner Staubpartikel an. Bei Personen, die sich mit dem Behauen von Steinen beschäf- tigen oder sich längere Zeit in stauberfüllter Luft aufhalten, dringen diese Partikel in die Lungen ein und kleben dort durch den Schleim zusammen. Es entsteht ein trockener Husten, wodurch dieselben zwar oft entfernt werden (Tussis calculosa), nicht selten aber bleiben sie in den Lungen zurück und verursachen Schwindsucht. Sprechende Beweise hierfür findet man namentlich unter den Steinmetzen in Orsa in Dalekarlien, die in grosser Anzahl und gewöhnlich vor dem 30. Lebensjahre an dieser Krankheit sterben.'^) Mit welcher Leichtigkeit ein solcher feiner Staub Körper, mit denen er in Berührung kommt, durchdringt, sieht man daraus, dass eine in einer Steinmetz- Werk- stätte aufgehängte , gut geschlossene und fest zugebundene Thier- blase nach einiger Zeit mit Staub gefüllt ist. Die Luft ist überhaupt niemals frei von fremdartigen Bestandtheilen ; sie enthält im Gegen- theil, wie das Mikroskop zeigt, eine grosse Menge winziger, in der- selben schwebender Stoffe, sei es Sandpartikel, Haare, Staub, Feder- chen etc., die beim Athmen in die Lungen eindringen und die erste Veranlassung zum Entstehen von Schwindsucht sind. Man muss da- her vermeiden, mit offenem Munde zu athmen, denn es werden nach Linne's Auffassung diejenigen, .welche sich daran gewöhnt haben, ' nicht selten schwindsüchtig. Daraus erklärt sich zum Theil die Schädlichkeit des Gebrauches von Kleidein und Kissen, welche mit

1) In seinem Brief an Sauvages vom 20. Sept. 1741.

-) Do generatione calculi (1749), Morbi Artificum (1765).

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Federn gefüllt sind, weil sie viel Staub verbreiten, i) Die Auf- fassung der Schwindsuclit als ansteckende Kranklieit ist Linn6's Pathologie nicht ganz fremd. Man findet Spuren davon an mehreren Stelleu seiner Schriften.

Die Ursachen der Blutung aus den Luftwegen sind entweder Praedisposition, sowie natürliche oder erbliche Anlage, übermässige Fleischnahrung, Stillsitzen, Missbrauch geistiger Getränke etc., oder zufallige, z. B. plötzliche Unterbrecliung hämorrhoidaler und men- strueller Blutungen, Ansti'engung der Lungen durch Fallen, Schreien, Tanzen, Laufen und Husten, krankhafte Veränderungen in den- selben oder auch Gemüthsbewegung. Wenn eine Lungenblutung nicht stark ist und schaumiges Blut zusammen mit coagulirtem aus- geworfen wird, so ist Gefahr für das Leben selten vorhanden; ver- bleibt aber das extravasirte Blut in den Luftwegen, so wird es durch die Körperwärme zersetzt und geht in Eiter Uber, welcher das Lungengewebe nach und nach zerfrisst und zerstört, es entsteht Phthisis und ständige Neigung zu Blutungen verbleibt. 2) Um die Blutung zu stillen, wird Aderlass am Fuss vorgeschlagen, und dieser muss erneuert werden, falls der Puls voll und die Körperwärme hoch ist. Linne führt an , dass in kaltes Wasser getauchte und aiif den Hodensack gelegte Schwämme zum Stillen der Blutimg aus den Lungen mit Erfolg angewandt worden seien. Ein besonders wirk- sames Mittel gegen beginnende Schwindsucht sei das Reiten, uam in phthisi incipiente tam certa est medicina, quam cortex peruvianus in febribus intermittentibus", und Linne erzählt, dass er zwei Asth- matikern gerathen habe , aus Stockholm nach Ystad zu reiteu, und dass sie gesund Aviedergekehrt seien. Auf Grund eigener Erfah- rung preist er auch den Gebrauch von Hypericum in gewissen Arten von Schwindsucht.

•) Respiratio cUaetetica (1772).

2) De haemoptyai (1767), de haemorrhagiis ex plethora (1772). •■5) De haeraoptysi (1767).

*) Motns polychreatiis (1763). •'"') Hypericum (1776).

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Schon oben wurde erwähnt , dass Linn6 den Keuchhusten (Tussis ferina) zu denjenigen Krankheiten zählte, deren Ursprung in einem animalischen Ansteckungsstoff zu suchen sei. Nur dadurch glaubt er die epidemische Verbreitung desselben erklären zu können (contagium suum quasi ipsa pestis dispergens) und diese seine An- sicht von „animalcula viva" stand in Uebereinstimmung mit den schon früher von vielen Aerzten ausgesprochenen Gedanken. Es dürfte überflüssig sein, an die gegenwärtige Auffassung der Patho- genesis des Keuchhustens zu erinnern. Als eins der kräftigsten Mittel gegen diese Krankheit empfiehlt er die Anwendung von Le- dum palustre als Infusum oder Decoct.') Bemerkenswerth ist, was Linne sonst von Ledum schreibt :

„Uebrigens hat hier Husten allgemein geherrscht. Ich pro- birte allerhand, auch Extr. Nicotianae, das in Stockholm 1740 half, wo alles andere fehlschlug, es half aber nichts. Endlich Hess ich sowohl die Meinigen, als auch Andere Infusum foliorum Ledi trinken, wodurch alle binnen 3 Tagen total curirt wurden. "2)

Der wesentliche Unterschied zwischen Gehirnhämorrhagie und Gehirncongestionen ist Linne nicht entgangen. Er deutet darauf hin , dass die apoplektischen Anfälle, welche in vollständige Genesung übergehen (ut ne minimi dein percipiat aeger molestiam) , auf einer Blutcongestion nach den Gefässen des Gehirns beruhen, oder auch durch eine seröse Ergiessung in seine Höhlen bedingt werden. 3) Hemicranie kommt nach seiner Ansicht bei gelehrten und stillsitzenden Personen oft vor. Er erzählt von sich selbst, dass er sechszehn Jahre hindurch daran gelitten und alle seine medizi- nischen Freunde in Europa um Rath befrag-t habe. ^) Die Anfälle dauerten stets 24 Stunden und zeichneten sich zugleich durch reich-

1) De Ledo palustri (1775).

2j In einem Brief an Abr. Bäck vom 15». Febr. 1751. 3) De haemorrhagiis ex plethora (1772).

*) :,Hemicrania multoties me excruciat, unde iiic morbus? An novisti medi- cinam, quaeso, communices." In einem Brief an Sauvages vom 22. April 1 750.

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liebes Strömen heisser Thränen aus dem Auge der kranken Seite aus. Selten entging- er einem Anfall innerhalb acht Tagen, und je länger die Zwischenzeit dauerte, desto schwerer waren die Paroxys- men. Durch Trinken guten Quellwassers früh morgens und körper- liche Bewegung v^or der Mittagsmahlzeit glaubte er hergestellt wor- den zu sein.') Aus seiner Praxis theilt Linnö einen Fall von Aphasie mit, in welchem der Kranke während eines halben Jahres „alle Substantiva vergessen, so dass er sich keines einzigen, ja nicht ein- mal des Namens seiner Kinder, seiner Frau oder seines eigenen, geschweige denn anderer Menschen , erinnerte. Bat man ihn nach- zusprechen, so antwortete er : „kann nicht" . Wollte er einen seiner Amtskollegen nennen , so zeigte er auf den Vorlesungskatalog , wo sein Name stand,

In verschiedenen Theilen Schwedens trat während der Jahre 1746 47 und 1754— 55 „die Kriebelkrankheit" auf, die durch ihre eigenthümlichen Symptome und die starken Schmerzen , woran alle von ihr befallenen Personen litten, allgemeine Besorgniss eiTcgte. Linne widmete dieser Seuche grosse Aufmerksamkeit und fasste seine Beobachtungen in folgende Sätze zusammen. Die Krankheit befällt 1 ) nur Bauersleute, 2) nie Kinder, 3) sie tritt nur im Herbst auf, 4] zeigt sich ausnahmsweise bei Hausthieren, 5) dauert oft zwei bis drei Monate , 6) erkrankt Jemand in einem Hause , so werden die meisten , wenn nicht alle Bewohner davon ergriffen , 7) kommt nur in Skdne, Blekinge, Hailand und Westergothland , nie aber in den nördlichen Gegenden Schwedens vor, 8) sie ist nicht an- steckend. Durch seine Untersuchungen der Umstände , unter denen die Krankheit auftrat , fand Linne , dass die Ursache ihres Entstehens in dem Getreide , das die Kranken verzehrten, gesucht

'j Motus polychrestus (17(53).

2j Llnnö'a Aufsatz .,Verges8en aller Substantiva und nament- lich von Namen- in Svenska Vetensk. Acad. Hand). 1842. 116.

^; In einem Brief an Sauvages vom 22. Nov. 1759, worin er schreibt: „quo hunc morbum refers? An vobis etiara innotuitV"

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Averdeu müsse. ^) Er fand zugieicli , dass es vor Kurzem geerutetes Getreide war, welclies die Krankheit meistens hervorrief, je länger es aber lag und trocknete , desto mehr hatte es diese Eigenschaft eingebüsst. Da die Arbeiter damals in Schweden hauptsächlich Gerste zum Brodbacken benutzten , war Linn6 der Meinung , dass die Krankheitsursache in dieser Getreideart läge. Er hatte zugleich beobachtet, dass nasse imd regenreiche Sommer dem Auftreten der Krankheit vorangingen , und schloss daraus , dass dergleichen unreines Getreide mit Unkraut stark vermischt wäre. Er glaubte, dass Raphanus raphanistrum , welches in nassen Sommern bemer- kenswerth scharf wird und auf Gerstenfeldern sehr allgemein vor- kommt, die eigentliche Ursache der Kriebelkrankheit sei. Diese Pflanze erhielt daher den Namen Krampfsamen. 2) Die Samen hielt man in dieser Beziehung für das wirksamste Mittel, und Linne hatte sogar mit Hülsen dieser Pflanze, die er unter die Nahrung von Truthuhnern mischte , Versuche angestellt ; er fand , dass eins der Versuch sthiere von Krampf in den Füssen befallen wurde. Auch Hühner und Schweine, die mit dergleichen unreiner Gerste gefüttert wurden, erkrankten. Weshalb die Krankheit in Paroxysmen auftrat, glaubte Linne ebenso wenig erklären zu können , wie die Ursache der periodischen Anfälle des intermittenten Fiebers, „ubi massa sanguinea acido est infecta. " Die Erscheinungen des Nervensystems sind noch nicht ermittelt, „neiTosi enim systematis historia uondum, quod fatemur, ad umbilicum- perducta est." Auf Grund dieser Beo- bachtungen führte Linn6 den Namen Raphania ein, als die so- genannte Kriebelkrankheit bezeichnend, eine Benennung, die sich in der Pathologie erhalten hat, bis neuerdings eine richtigere Ein- sicht des ursächlichen Verhältnisses der Krankheit ihr einen neuen Namen gab. Dass es aber Linne war, welcher diese Krankheits- foiTO sorgfältig untersucht hat, dürfte ebenso wie die Veranlassung

De raphania (1763). -) Flora Suecica. Ed. altera. Holmiae 17.35. 612.

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ihrer ursprUuglicheu Beueuuung allmälilicli iu Vergessenheit ge- ratheu sein. Unter den wirksamsten Heilmitteln werden genannt Ead. Valerian., minor, und Angel, sylvestris, sowie namentlich Tra Alchemillae vulgaris.

Ebenso dürfte nunmehr fast ganz vergessen oder wenigstens ziemlich unbekannt sein, dass Linne eine genaue Kenntniss des Krätzethiers besass. Während die damaligen Aerzte in den verschiedenartigsten Umständen die Erklärung des Entstehens von Hautausschlägen suchten und die eigentlichen Ursachen derselben in der Schärfe der Flüssigkeiten zu erblicken glaubten, sprach Linn6 mit Bestimmtheit aus , dass das Eindringen des Krätzethiers in die Haut den diese Krankheit begleitenden Ausschlag hervorruft. Die- sen „Acarus humanus subcutaneus" stellt er als eine Abart des Aca- rus Siro auf und schreibt darüber : „habitat sub cute hominis sca- biem caussans, ubi vesiculam excitavit, parum recedit, corporis rugas secutus , quiescit iterum et titillationem excitat ; nudis oculis sub cuticula delitescens observatur ab adsueto, acu facile eximitur, un- gui impositus vix movetur , si vero oris calido halitu affletur , agilis in ungue cursitat."

Da man früher verschiedenartige Formen von Hautkrankheit verwechselt und in der Voraussetzung, dass sie von allgemeinen Störungen in den Flüssigkeiten des Körpers abhingen , alle mit innerlichen Mitteln behandelt hatte , unterschied Linn6 die Krätze als eine eigene Krankheit, und man findet in seinen Schriften mehr oder weniger specifische Mittel gegen dieselbe vorgeschlagen , wie z. B. Ledum palustre. Er, schreibt über diesen Gegenstand an Sauvages :

„Medicamentum tuum conti'a scabiem tentabo, sed mihi suf- fecit Semper unguentum vulgare cum unguent. rosat., quod Sem- per curat, absque repulsionis metu."^)

1) Fauna Suecica. Ed. altera. Stockli. 1761. 482.

2) In einem Briefe an Sauvages 17ti2.

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Im Zusammenhange hiemit kann angeflihrt werden, dass aucli Linn6 die ältere Vermutbiing aussprach, die Eier von Ascaris gingen in den menschlichen Körper mit Trinkwasser oder anderen Geti-änken, in welche sie aus der Erde gelangten, über. ') Dagegen hat die An- sicht, welche in der Mitte des vorigen Jahrhunderts ausgesprochen wurde , dass das Entstehen des Aussatzes auf dem Eindringen eines Wurms in die Haut beruhe , keine Bestätigung gefunden. Da man fand, dass der Aussatz hauptsächlich an der Meeresküste vorkam, glaubte man seine Erscheinung dadurch erklären zu müssen , dass die Bewohner dieser Gegenden fast ausschliesslich von Fischen lebten, und man nahm an, dass eine Made, Gordius fluviatilis, die in verschiedenen Fischarten angetroffen wird, in den Körper ein- dringe und in der Haut und den inneren Theilen harte Geschwülste bilde, welche diese Krankheit charakterisiren. 2) Diese Knoten (tuber- cula) werden als beweglich, schmerzlos, blauroth, hauptsächlich au der Stirn , den Wangen , Armen , Händen und Schenkeln vorkom- mend beschrieben. Knoten von einer mehr gelblichen oder schwach lividen Farbe kommen auch im Munde , Gaumen, Schlünde und au der Zungenwurzel vor ; Geschwüre entstellen die Nase, die Lippen sind dick, Hände und Füsse geschwollen. In einigen Fällen findet man auf der Haut Wunden oder Risse mit geschwollenen, harten, manchmal blutenden Rändern. Bei allen daran erkrankten Perso- nen sind die leprösen Knoten gefühllos, die Umgebung aber ist juckend. 3)

') De Spigelia Anthelmia (1758).

2) Anton K. Martin sprach diese Ansieht in den Akten der Schwed. Aka- demie der Wissensch. 1760, S. 307, zuerst aus. In Linn^'s Abhandlung de Ledo palustri (1775) wird angegeben, dass diese Pflanze von den Kauitscha- daleii als Infusion mit besonders gutem Erfolg gegen Lepra , die unter ihnen sehr allgemein vorkommt, gebraucht wird. Auch J. L. Odhelius lobt in den Akten derselben Akademie 1774. 266, 1779. 218, 1783. 222, die Wirkungen von Ledum palustre gegen Lepra, von welcher er glaubt , dass sie durch über- wiegend salzige Nahrung entsteht.

•') Lepra (1765).

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Linuö erzählt, dass Elephantiasis unter den Fischern sehr allge- mein ist, >Yeil sie auf ihren Fischfangreisen von altem Seehunds- fleisch leben. Die von dieser" Krankheit Ergriffenen werden aus der Gemeinschaft anderer Menschen ausgeschlossen. ^) Ein Zuge- ständniss gegenüber der damaligen Auffassungsweise ist sein Aus- spruch, dass Kinder kränklich werden, falls ulcerirende Ausschläge am Kopf mit kaltem Wasser gewaschen werden, und dass das all- gemeine Vorkommen der Epilepsie im südlichen Smäland seinen Grund in dieser Sitte hat. -)

Betreffs des Entstehens von Panaritium (Paronychia) hatte Linne die Vorstellung, dass dieses Leiden hervorgerufen werde, sobald die Hände starken Temperaturwechseln ausgesetzt werden , und er erzählt von sich selbst, dass er davon befallen wurde, als seine Hand auf der Kückreise aus Frankreich nass ward , nachdem sie sehr warm gewesen war. 3) Gegen nicht ulcerirende Frostschä- den (Perniones) behauptet er'i) mit vielem Erfolg Spiritus salis acidus (Salzsäure) , womit der Frostschaden bestrichen wird . bis er verschwunden , angewandt zu haben. Gegen Hühneraugen wird der Saft vonEuphorbia empfohlen.^) Uebelriechende und bösartige Wunden (Ulcera cachoetica) werden, nach Linne' s Erfahrung, nicht selten mit Feigensaft oder auch Rad. britanicae (Rumex maximus) geheilt. Dergleichen Wunden gehen oft nicht anders in Heilung

ij In eiuem Brief an Sauvages vom 20. Sept. 1710.

-j In Briefen an Sauvages vom 2. Dec. 1741 und 1744. Diese Ansicht findet man fex-ner ausgesprochen in Linnu's Aufsatz ..lieber die Ursache des Vorkommens der Fallsucht in Schonen und dem Kreise Wern in Sm&land", veröffentlicht in den Akten der Schwed. Akad. d. Wissenech. 1742, S. 27».

>*) De morbis ex Iiyeme (1752j.

*) In einem Brief an Sauvages 1753. „Expertus sum in plus, quam centum pernionibus laborantibns.'-

•■') Euphorbia (17.52).

Linne hegte zu dieser Pflanze grosses Vertrauen. In einem Brief an Prof. A. G. Liedbeck vom 7. Sept. 17.50, aufbewahrt in der Universitätsbibliothek zu Lund, von welchem man mir eine Abschrift freundlichst mitgctheilt hat, äussert

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über, als wenn gegen dieselben ein Vesicatorium von Canth ariden, welches die verdorbenen Stoife zerstört und die Wunde reinigt, an- gewandt wird. 1) In der Heilkunst sind nämlich zwei Umstände zu beobachten, welche die Wirkung äusserer Reizmittel erklären, der eine, dass ein Schmerz den andern vertreibt; und der andere, dass zwei Ausleerungen gleichzeitig nicht bestehen können.

Gegen Gangraena , kalten Brand und Scorbutwunden wandte Linne eine Formel an, welcher er grossen Werth beilegte und die, aus der damaligen Zeichensprache in technische Ausdrücke über- tragen, folgendermaassen lautet: Ree. Ciner. Clavell. (= potass. venal.) ^j, Salis ammoniaci ^jß, Calc. vivae ^jV, Urinae tl 120. Distilles per vesicam cupream, evadat aqua coerulea: pro usu externo.2) Rothe und entzündete Augen werden vom Landvolk nach Linne's Angabe vermittelst Decoct von Pyrola uniflora behan- delt , womit die Augen gewaschen werden ; oder die Pflanze "^vird auch gekaut und das kranke Auge darauf mit dem Speichel be- feuchtet. 3)

Von den verschiedenen medizinischen Wissenschaften war es die Kenntniss der Droguen und die Pharmakodynamik oder, wie die älteren Aerzte sie benannten, Materiamedica, welche Linne mit Vorliebe bearbeitete. Der nahe Zusammenhang, in welchem die Botanik und die Pharmakognosie zu einander stehen . macht es erklärlich, weshalb die Mehrzahl seiner medizinischen Arbeiten

Linne : Uns wurde erzählt , dass Sie ein Ulcus oris malignum erhalten haben sollen. Ist es cariosum oder fistulosinn, so muss Ead. Britanicae gebraucht werden , ist es cancrosum , so ist Infusum Belladonnae unverzüglich anzu- wenden."

') De Meloe vesicatorio (1762).

-] „Est mihi formula in magno pretio quam tibi revelabo, sed rogo ipse ex- periaris nec alii nulli reveles." Brief an Sauvages vom 22. Aug. 1754. In einem Brief an Sauvages vom 22. Aug. 1754.

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gerade diese Seite der Wissenschaft umfassen. Die meisten seiner Abhandlungen auf dem Gebiete der Pharmakologie enthalten ge- naue botanische Beschreibungen derjenigen Kräuter, deren Anwen- dung in der Medizin der Gegenstand derselben ist. Zugleich wer- den nicht selten Angaben mitgetheilt über die chemischen Bestand- theile solcher Droguen, soweit sie bekannt waren, und ebenso Uber die verschiedenen pharmazeutischen Präparate, welche in den Apo- theken entweder bereits vorkamen oder in denselben bereitet wer- den konnten. Die Lehre von den Wirkungen und der Anwendung der Arzneimittel in verschiedenen Krankheiten wird überdies aus- führlich behandelt. Es war übrigens damals Sitte, in botanischen Schriften den medizinischen Nutzen der Pflanzen anzuführen, und die älteren Botaniker unterliessen es in ihren Arbeiten selten, län- gere oder kürzere Ausflüge in das Gebiet der Arzneiwissenschaft zu unternehmen. Den medizinischen Schriften Linne's ist überhaupt eigenthümlich , dass er in kurzen bestimmten Sätzen solche Wahr- heiten zusammenzufassen oder auszusprechen sucht, namentlich in der Pharmakodynamik , welche er für allgemein gültig erachtete, und seine Abhandlungen über die medizinischen Eigenschaften und Wirkungen der Pflanzen zeigen daher in ihrer Aufstellung viele Aehnlichkeit mit dem , was er in seiner Philosophia botanica auf die reine Botanik anwenden wollte. Eine Frage, die fast im- mer, sobald Gelegenheit sich dazu bietet, in diesen Abhandlungen wiederkehrt, ist die, inwiefern die theuren ausländischen Arznei- mittel durch gleich kräftige, in Schweden wachsende Kräuter etwa ersetzt werden könnten. Als Fingerzeig für die Entdeckung und Benutzung dieser Succedanea werden diejenigen wild wachsenden Pflanzen angeführt, die den entsprechenden ausländischen am näch- sten verwandt sind, und man muss gestehen, dass in Folge dieser Arbeiten Linne's manche einheimische Droguen mehr Verwendung gefunden und sogar in die nordischen Pharmakopoeen aufgenom- men worden sind, wie Khamnüs franguhi, Solanum Dulcaniara, Pimpinella Saxifraga, Arcto8tai)hylos Ilvae Ursi, Ceti'aria islandica

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u. a. Es ist nämlich ein von Linn6 ausgesprochener und speciell betonter Satz , dass Pflanzen , welche dem Geschlechte nach über- einstimmen, auch den Eigenschaften nach übereinstimmend sind, und dass Pflanzen, die derselben natürlichen Familie angehören, auch in Bezug auf ihre medizinischen Wirkungen einander nahe stehen. Die Eigenschaften der Pflanzen werden daher am sicher- sten nach den natürlichen Familien, denen sie augehören, bestimmt, sobald mau nur den Nutzen der einen oder der andern solcher Pflan- zen durch die Erfahrung kennen gelernt hat. So enthält die Fa- milie Stellatae Pflanzen mit diuretischen Eigenschaften ; zur Familie Luridae gehören eine Menge verdächtiger Kräuter , wie Solanum. Hyoscyamus , Nicotiana , Atropa , Datura : die Umbellatae sind, wenn sie in trockenen Gegenden wachsen, aromaticae, calefacientes et pellentes, werden aber an feuchten Stellen giftig, die Wurzel und die Samen enthalten die wirksamsten Bestandtheile : die zur Classe Polyandria gehörenden Pflanzen sind im Allgemeinen giftig, ebenso diejenigen, deren Blüten einen von den Kronenblättern getrennten Honigkelch besitzen: die Verticillatae sind „fragrantes, nernnae. resolventes et pellentes, folia virtute pollent " : die Pflanzen der Fa- milie Siliquosae sind in frischem Zustande „acres, iucidentes, ab- stergentes et diureticae, " beim Trocknen aber wird ihre Kraft ver- ringert ; die Compositae haben im Allgemeinen einen bittereu Ge- schmack, die Orchideen sind aphrodisiacae, die Coniferae „resiui- ferae et diureticae." Kräuter, die an ti-ockenen Stellen wachsen, sind aromatisch und haben einen eigenthümlichen Geschmack, wie Thymus, Salvia, Origanum, Hyssopus, Lavandula u. a. Saftiger Boden erzeugt geschmacklose Pflanzen (olera pleraque] und an nas- sen Stellen werden die Pflanzen nicht selten scharf und corrosiv. wie Ranunculus, Calla, Nymphaea, Phellandrium, Cicuta u. a. ; Frühlingspflanzen besitzen meisteutheils scharfen Geschmack und die medizinisclien Kräuter haben im frischen Zustande bei weitem

Philosophia botanica. Stockholm 1751. §33".

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nicht denselben Geschmack, den sie nach dem Trocknen erhalten. Alle aromatischen Pflanzen sind im trockenen Zustande am kräf- tigsten. —

Als Linne seine in damaliger Zeit so hoch gepriesene- Materia medica herausgab , welche während einer längeren Reihe von Jah- ren den Verfassern auf diesem Gebiet zum Vorbilde diente, ordnete er die pharmazeutischen Pflanzen nach seinem botanischen System. Sein systematisirendes Genie offenbarte sich hier wie überall, und man dürfte in keiner pharmakologischen Arbeit aus der medi- zinischen Literatur der früheren oder zunächst folgenden Zeit eine solche Klarheit und Uebersichtlichkeit finden, wie in Linne's Materia medica. Die Arbeit trägt freilich den eigenthümlichen Charakter der damaligen Zeit und zeigt die damals herrschende Neigung, eine Menge Pflanzen aufzunehmen , deren Bedeutung und Werth für die praktische Medizin vollkommen illusorisch ist. Je weniger ent- wickelt die Wissenschaft, desto grösser war auch die Mannigfaltig- keit der Arzneimittel, welche sie der leidenden Menschheit bieten zu müssen glaubte. Das Kindesalter der Wissenschaft hatte ihren Jüngern einen Ueberfluss an Stoffen, Arcana und Droguen über- liefert, vor welchem sie rathlos und erstaunt standen. 2) Mit über- zeugender und kräftiger Stimme warnte Linne vor diesem Miss- brauch und drang darauf, dass man lieber die Wirkungen der ein- fachen Arzneimittel kennen lernen müsste, als die in damaliger Zeit so gewöhnlichen zusammengesetzten Formeln zu verschreiben. Hierüber schreibt er:

„Gerade die langen formulae sind es, welche die ganze Me- dizin verdorben haben, ich wundere mich, wie so Viele ohne Hülfe von simplicium eflfectu Aerzte sein können. Ich lehre nun

1) Philosophifi botanica, §§ 339—3.57.

2) „Tanta enim hodierna medicina superbit virium medicinalium copia , ut non arcto libello capiatur, sed potius proprio pondere ruat." Linne, Mate ria medica.

Hjelt, Linne als Arzt.

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diese Sache und glaube mit Nutzen für meine Studiosi, dass sie erfahren, was demonstriret ist und was nicht. ^) Er hat daher eine grosse Menge Pflanzen aus dem Kreise der „offizinellen Kräuter" ausgeschlossen und die Anzahl der Droguen, welche die Apotheker verpflichtet waren zum Gebrauch vorräthig zu halten, in wesentlichem Maasse A^erringert. 2) Ueber diesen Gegenstand schreibt er an Abrah. Bäck :

„Wir können in unseren Apotheken recht gut folgende ent- behren: Rd. Pastinacae, Saxifr. alb., rubr., Herb. Adianthi, Agerati, Beccabungae, Hb. Perfoliatae, Ptarmicae, Pulsatillae, Flores Beilid. minor., Endiviae, Sem. Brassicae, Calend. etc.

Sie, mein Freund, welcher im Collegio medico der Einzige ist, der etwas thun kann, müssten die Pharmacopoeen raffiniren.^) Ich arbeite Tags Uber mit der Materia medica , um simplicia flir das k. Collegium gut aufgestellt zu bekommen, eine Menge schliesse ich aus und viele werden von neuem aufgenommen. " ^) Linnö's Materia medica ist eine seiner wichtigsten medizini- schen Schriften und fand bei seinen Zeitgenossen allgemeine An- erkennung ; er schreibt darüber :

„Ich erhielt heute Briefe von Gronovius und van Royen, mit mehr Schmeicheleien für die Materia medica, als ich von der ganzen Welt jemals zu erhalten hoffte.'- Sogar A. von Haller nennt diese Arbeit „comraodissimum prae- lectionibus compendium, inter optima auctoris". Bei ihrer Ausarbei- tung holte er den Rath seiner gelehrten Freunde ein betreffs mebre-

^1 In einem Brief an Abr. Bäck vom 30. Oct. 1749.

-j „Nostrates medici in eo sunt, ut dispensatorium reformetur, secundum quod phai-macojoolae tenentur medicamenta praestare. Dedi itaque disserta- tionem de simplicibus 1) exchidendis, 2) de introducendis.'' Im Briefe an Sau- vages vom 15. Jan. 1754.

■'') Im Brief vom 23. Oct. 1749.

*] Im Briefe vom 24. Sept. 1753. Vgl. die Abhandlung Linn^'s: Censura medicamentorum simplicium vegetabilium (1753). ■') Im Brief an Abr. Biiclc vom 10. Nov. 1749.

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rer darin aufgeuommenen Püauzen, über deren Platz im System und richtige Bestimmung er nicht sicher war. An Bernhard de Jussieu schreibt Linne :

„Materiam raedicam (absoluta Flora Zeylanica) edam com- pendiosissimam , evitabo omnia quae nec propria experientia nec aliorum fidi casus confirmarnnt. Tu qui in his multrim vales, mihi unicam vel alteram observationem mittas , ut liceat honorificam tuara facere mentionem.

Non novi ad quaenam genera sequentes sunt referendae. Myrobalani indae; Chebulae, Belliorcae, Citrinae; Anisum stella- tum; Gum. elemi, Sagapenum, Carannae, Bdellii, Myi-rhae, Oli- bani, Ammoniac, Opobalsamum, Balsam, penivianum, Copaiva, Lignum Aloes: Sang. Draconis, Lign. rhodium, Simaruba. Si novisti herum aliquam, candide et amice genus mihi dicas ; pu- blicas tibi grates agam." i) Auch an A. von Haller richtet er fast dieselben Fragen : Materiam medicam fere absolvi , sed Agallochum , Lignum Rhodium, Carannam, Elemi. Sagapenum s. Ammonicum, Myr- rham, Thus, Balsamum peruv., Anisum stellatum, Myrobalanus Chebul. Bellirric. citrinum non novi ; scilicet plantas unde desu- mantur : si novisti, quaeso impertias." 2) i -

Linne suchte seine Arbeit fortwährend so vollständig als mög- lich zu machen und derselben eine den Fortschritten der Wissen- schaft entsprechende Form zu geben. Diese Verbesserungen imd Zusätze theilte er jedoch nur bei seinen Vorlesungen öder in einzel- nen medizinischen Abhandlungen mit, hatte aber die Absicht, eine neue Auflage herauszugeben, „die, wie ich hoffe, anders wird als die frühere. "-3)

') Im Brief an Bernh. de Jussieu vom 24. April 17 17, gedruckt in Me moir s of the American Academy of arts and sciences. N. Sor. Vol. V. Cambridge and Boston 1 8.55, S. 200.

'■i; Im Brief vom 2.3. Oct. 1717 /bei Stoever).

Im Brief an J. A. Murray vom 24. Jan. 1765. (Eigenh. Aufzeichn. S. 190.)

5*

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Mit Bemitzung der hiuterlassenen SammluDgeu des Vaterf* beabsichtigte auch sein Sohii; die ..Materia medica" von neuem her- auszugeben, der Plan wurde aber durch seinen frühen Tod ver- eitelt. 1)

Linne's Materia medica gestattet uns: einen tiefen Einblick in seine Auffassung des praktischen Zieles der Arzneikunst zu werfen, und diese Arbeit besitzt für uns ein um so -grösseres Interesse, da sie in wesentlichem Maasse dazu beigetragen hat, die Liebe für und die Einsicht in die medizinische Naturgeschichte und Pharmakologie ins Leben zu rufen, durch welche seit langer Zeit die Aerzte und Apotheker Schwedens in einer so hervorragenden Weise sich aus- gezeichnet haben. Betrachtet man die Entwickeluug der medizini- schen Wissenschaft in Schweden seit der Mitte des vorigen Jahi- hunderts näher, so gelangt man unwillkürlich zu der Ueberzeugung. dass es der überwältigende Einfluss Linne's war, welcher ihr jenes naturwissenschaftliche Gepräge ertheilte, das sie seitdem getreu bewahrt hat. In Folge der Richtung , die der grosse Botaniker der Wissenschaft gab, hat die seit Jahrhunderten existirende Verbin- dung zwischen Naturgeschichte und Medizin sich in Schweden län- ger erhalten, als Adelleicht in irgend einem andern Laude, und zu beiderseitigem Frommen die herrlichsten Früchte getragen.

Linne's Materia medica wurde, wie er selbst sagt, „in gratiam discipulorum studiosorum Upsaliensium" herausgegeben und sollte, weil sie für die Aerzte Schwedens bestimmt war, hauptsächlich die- jenigen offizineilen Pflanzen umfassen, welche in die vom CoUegium medicum 1741 herausgegebene Medizinalverordnung aufgenommen worden waren. ..et eas quidem omnes uulla exclusa, quamvis

1) „Materiam medicam postea edam, sed exspecto adhuc proxima aestate varia ex America, quae emenda commisi Botauicis meis ibi degentibus, vellem quoad ortum ut botanicus nullius pharmaci originem ignorare." Im Brief an P. D. Giseke vom 1. Nov. 1779 (bei Stoever).

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nmltae et excludi possent et deberent." Doch hat Linne geglai^ht, anch einige solche Pflanzen aufnehmen zu müssen, deren wirksame Eigenschaften zwar anerkannt worden, welche aber die Aerzte nicht das Recht hatten , als in den Apotheken vorräthig vorauszu- setzen, weil sie in der eben angeführten Medizinalverordnung fehlten, lieber diese wird ein besonderes Verzeichniss gegeben , in welches unter anderem Rad. Saleb, Stipites Dnlcamarae, Herba Liunaei, Uvae ursi, Muse, islandic., Semina Daturae, Herba Laurocerasi, Bacc. Belladonnae, Rad. Senegae, Cort. Simarubae aufgenommen waren. Linne hat mit der ihm eigenen Klarheit und Kürze bei einer jeden offizineilen Pflanze alles angegeben, was von derselben in pharmakologischer und therapeutischer Hinsicht sich sagen lässt. Dadurch wurde seine Materia medica ein wirkliches Handbuch nicht nur für Schwedens Aerzte, sondern auch für seine Apotheker; es ent- hielt die wichtigsten und zuverlässigsten Aufschlüsse und verhalf, indem es sich auf die „Flora Suecica" berief, den Apothekern zur Kenntniss derjenigen Droguen, die im eigenen Lande zu erhalten waren. Durch die Hinweisung auf den „Hör tu s Upsaliensis" bekamen sie Aufschlüsse über offizineile Pflanzen, die Linne mit mehr oder weniger Erfolg in Schweden einzuführen und zu culti- vireu gesucht hatte, „damit die Apotheker weder die von mir unter- nommenen Versuche vergeblich wiederholen, noch aus fremdem Lande verschreiben möchten , was in unseren Gärten ebensogut wie in den ausländischen wächst und gedeiht." ') Durch sein leb- haftes Interesse für die Einführung ausländischer Medizinalpflanzen und deren Kultur in Schweden, sowie seine fleissigen Versuche.

>; Auf Ersuchen der schwedischen Akademie der Wissenschaften lieferte Linne in den Akten 1741, S. 81 ff., einen „Aufsatz Uber diej enigeu Me - dizinalpflanzen, die in den Apotheken vorräthig sind und bei uns im Vaterlande wachsen." Hierher gehört auch die Abhandlung Plantae officinales (1753). S. A. Hedin erwähnt in seiner Dissertation : ,Quid Linnaeo Patri debeat medicina," Ups. 1784, der einzigen Ab- handlung, welche, soviel mir bekannt, sich mit Linne als medizinischem Schrift- steller beschäftigt, seine Verdienste um die Pharmakologie.

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durch sorgfältige Pflege die Eigenschaften der einheimischen phar- mazeutisch en Kräuter so zu sagen zu verbessern und zu veredehi. wurde die Anlegung sog. Medizinalgärten in den Städten befördert J Auf Grund seiner Erfahrungen ertheilte Linne manche wichtige Auf- schlüsse, wie die offizineilen Pflanzen gesammelt und aufbewahrt werden müssten , damit sie ihre Eigenschaften besitzen oder beibe- halten könnten.-^) Ueber die medizinischen Pflanzen, die botanisch noch nicht genau bestimmt worden , enthält die Materia medica be- sondere Angaben, und unter den Pflanzen kommen Benennungen vor, welche zu ermitteln der Forschung einer späteren Zeit vorbe- halten blieb. Bei einer jeden Pflanze findet sich kurz angegeben : ihr Heimathland , die Art ihrer Kultur und ihres Wachsens , sowie ihre pharmazeutische Benennung, ausserdem die in Apotheken be- nutzten Pflanzentheile und Präparate, als radix, lignum, cortex. folia, flos, fructus, semina et aqua destillata , oleum stillatitium. oleum empyreumaticum , Spiritus, Extracte u. s. w. Die Natur und die Eigenschaften (qualitates) der Pflanzen werden nach ihrem Ge- ruch, Geschmack und äusseren Aussehen bestimmt; ihr höherer oder geringerer offizineller Werth vrird bezeichnet mit den Worten dubia, infida, eximia, heroica, trita, usitata, exoleta etc. Schliess- lich werden die verschiedenen Krankheitszustände , in denen die pharmazeutischen Pflanzen zur Verwendung kommen, genannt. Linne sagt jedoch, er habe nur solche aufgenommen, von denen zu- verlässige Verfasser oder er selbst wirklichen Nutzen gehabt, und erzählt , vne er als Arzt am Krankenhause der Marine so viel als möglich alle Arzneimittel geprüft : „et infida atro carbone, tuta albc calculo notavi." Nichtsdestoweniger sah er sich genöthigt, in zwei- felhaften Fällen ein Fragezeichen hinzuzufügen ; war er aber von der spezifischen Wirkung des Mittels überzeugt, ein Ausrufungs- zeichen. Von allen zusammengesetzten Arzneimitteln hatte Linne,

'/ Hortus Upsaliensis I. Ups. 174S. Horticiiltura acadeiuica J751). -I Obstaciila mcdicinae (1 752).

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wie er selbst sagt, seine besondere Ansicht. Was er sonst von den medizinischen Eigenschaften (vires) der Pflanzen äussert , giebt be- nierkenswerthe Aufschlüsse über seinen hohen wissenschaftlichen Standpunkt in damaliger Zeit. Eine jede darauf sich beziehende Angabe beruht, seinem Dafürhalten nach, ausschliesslich auf der Theorie der Wirkungsart der Arzneimittel , obschon diese Theorie recht oft rein speculativer Natur ist. In seiner Materia medica hat Linne zugleich eine Anordnung der Pflanzen nach therapeutischen Gesichtspunkten in gewissen , von der Erfahrung gut geheissenen Klassen gegeben. Wir wollen hier eine Uebersicht dieses seines pharmakodynamischen Systems mittheilen. ^]

Classes.

Ordines.

Liquida

Evaciiator ia, e corpore exterminantia

massam

Nervina, in nervös agentia

Orgastica. Convulsiva.

Medica- m e n t a agunt vel in

< Excitantia.

Stupefacientia.

Solida

Phantastica, Eelaxantia.

Muscularia, in musculosas fibras agentia

Corrodentia. Si)irituosa.

Corroborantia.

Solido- Liquida

Topica, extei'ne applicabilia

VisccTalia, viscera petentia

Seinen Grundzligen nach liat dieses System grosse Aohnliclikcit mit der Aufstellung Boerhaave's in dessen Tractattis de viribus med! ca- mentorum. Ed. secunda. Parisiis 1726.

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Dieser rein empirische Eintheilungsgrund für ein pharmakody- namisches Pflanzensystem wurde jedoch später von Linn6 aufge- geben, als er den von ihm ausgesprochenen Satz : „was Geschmack hat, wirkt auf die festen und flüssigen Theile des Körpers, was Ge- ruch hat, wirkt auf die Nerven", mehr oder weniger consequent. durchzuführen suchte. ^) In diesem Satz ist eine unbewusste Vor- stellung des nothwendigen und nahen Verhältnisses zwischen den medizinischen Wirkungen der Pflanzen und deren chemischen Be- standth eilen enthalten. Es war, kann man sagen, eine dunkle Ahnung des Zieles, zu dem die Pharmakodynamik streben muss. Zufolge des unentwickelten Standpunktes, auf welchem die Chemie sich noch befand , konnte Linne ebensowenig wie irgend ein An- derer gewisse bestimmte Kriterien aufstellen für die verschiedenen Grappen, in welche die Pflanzen laut diesem Princip hinsichtlich .ihrer Wirkungen eingetheilt wurden. Hier gab es keinen anderen Bestimmungsgrund , als die äusseren , in die Augen fallenden Er- scheinungen bei den einzelnen Pflanzen und eine so zu sagen in- stinktive Auffassung ihrer Eigenschaften. Er ging von der Voraus- setzung aus , dass gewisse Arzneimittel auf die festen Gewebe ein- wirken könnten, indem sie den Zusammenhang zwischen deren kleinsten Theilen verminderten oder vergrösserten, während andere die Fähigkeit besassen, theils die Beschaffenheit der Flüssigkeiten in Bezug auf ihre Zusammensetzung und Schärfe zu verbessern, theils solche Flüssigkeiten, deren Menge für den Organismus schäd- lich wäre, auf geeigneten Wegen zu entfernen.

Da Linne, wie bereits früher erwähnt wurde, fünf verschiedene pathologische Zustände sowohl in den Spannungsverhältnissen der

') „Medicamenta agunt odorc in maternam (seu internam et nerveam) par- tem corporis, sapore in paternam (seu externam et fibrosam)", heisst es in dev Abhandlung ,.,De Menthae usu" (1767). ,,Linnaeus medicamentorum vires sapore et odore dijudicandos primus rite intellexit, evicit ac erudito aperuit orbi. ' 5 Vgl. Medicamenta graveolentia (1758).

■') Sapor medicamentorum (1751).

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festen Theile, als auch in der chemischen Zusammensetzung der Flüssigkeiten des Organismus annahm , fand er auch mit Rücksicht auf die medizinischen Eigenschaften der Pflanzen fünf verschiedene Arten von Geschmack und Geruch, nebst ihren Gegensätzen. Er betrachtete überhaupt die FUnfzahl als den Ausdruck der Vollen- dung der organischen Form, und sowie die Pflanzen, deren einzelne Blütenblätter auf diese Zahl zurückgeführt werden konnten , seiner Auffassung nach die entwickeltsten waren , ebenso suchte er auch in der Gesammtheit aller Krankheiten und der gegen sie ange- wandten Arzneimittel diese bedeutungsvolle Zahl wiederzufinden. Namentlich in seiner „Clavis medicinae" tritt dieser Versuch hervor, die Arzneimittel und speciell die medizinischen Pflanzen in Bezug auf Geschmack und Geruch der FUnfzahl unterzuordnen.

Linne nahm verschiedene Arten von Geschmack an, näm- lich den wässrigen, sauren, fetten, süssen und schleimigen Ge- schmack, sowie deren Gegensätze, den trockenen, bittern, zusam- menziehenden, scharfen und salzigen. Dieser Eintheilung nach zerfallen die Arzneimittel und speciell die Pflanzen in folgende Gruppen :

1 ) A q u 0 s a , welche die Flüssigkeiten verdünnen und reinigen und die festen Theile feuchter machen. Zu diesen Arzneimitteln ge- hören die säuerlichen Getränke (acetaria), die bereitet werden „ex oleribus et fructibus horaeis s. Melo, Chamaemorus, Fraga, Cerasus, Prunus alba und ausgepressten Kräutersäften, sowie unter den Pflanzen Rad. Rapae, Brassicae, Pastinacae, Daucus, Portulaca, Spinachia, Taraxacum etc.

2) Sicca stärken die Fibern des Körpers und saugen Flüssig- keiten auf, wie Lign. Guajacum, Sassafras, Juniperi, Rad. Sarsae- parillae, Chinae, Semina Pisi, Fabae, Phaseoli, Ervi. Sie werden auch äusserlich gebraucht bei schwammigen Wunden , wie Semina Lycopodii, Herbae capillares.

3) Acida wirken auf die festen Theile verkleinernd ein. Ge- braucht man saure Mittel im Uebermaass . so entstehen dadurch

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Bleichsucht, Leucorrlioea, Hydrops und allgemeine kachektische Zu- stände. Auf die flüssigen Bestaudtheile des Körpers wirken sie kühlend. Zu dieser Gruppe gehören unter den Pflanzen Citi'us. Ber- beris, Oxycoccus, Vitis idaea, Kubus, Tamarindus, Acetosa etc.

4) Amara wirken auf die festen Theile stärkend und werden daher tonica genannt: sie befördern den Appetit, die Digestion, die Diaphorese und die Körperwärme und stirauliren das Gefässsystem. Durch ihre balsamischen Eigenschaften verhindern sie Fäulniss und Säurebildung in den Flüssigkeiten , durch welche alle Pflanzen und Thiere aufgelöst und zerstört werden, i) Es ist eine alte Erfahrung, dass Wermuth das Sauerwerden des Bieres verhindert, Hierher gehören Fei tauri , Aloe, Myrrha, Faha St. Ignatii, Nüx vomica. Quassia, China, Pareira, Gentiana, Centaurium, Trifolium aquati- cum, Carduus benedictus, Tanacetüm, Artemisia, Absinthium etc.

5) Pinguia wirken auf die festen Theile erweichend und auf die Flüssigkeiten einhüllend. Durch diese ihre Eigenschaft stossen sie den Wundschorf (Escara) ab und vermindern die Schmerzen in Wunden , sind von Nutzen bei Verbrennungen und lindern Kolik und Husten. Beleibte Menschen sind gewöhnlich froh gesinnt, wäh- rend ältere, magere und trockene Personen (rigidi) oft melancholisch sind und ein unruhiges Gemüth besitzen. Hierher gehören Oele. Sperma ceti, Vitellus, Balsamum copaivae, Tolu. opobalsamum. peruvianum, Terebinthina.

6) Styptica sind zusammenziehende Mittel: zu denselben ge- hören Quefcus, Acacia, Uvaursi, Tamarix, Catechu, Rad. Bistortae, Tormentillae, Caryophyllatae, Pimpinellae. Fructus Granatum. Cy- donia: '

7) Dulcia machen die festen Gewebe nachgiebig relaxando) und versüssen die Flüssigkeiten (edulcorando).''; „Kein Chylus ist

') .,Ainari8 acida et piitrida franguntur." Lign. Quassiae (1763).

2) Sapor medicamentorum (1751).

3) ,,SoIida incrassant non eodem modo ac styptica et amara, crassiores qui- dem reddendo fibras, sed simul laxas. '

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nutrieus, sobald er nicht süss ist." Alte Personen und diejenigen, deren Fibern steif sind , thun gut , Zucker zu essen, wogegen Kin- dern und solchen, deren Gewebe weich und nachgiebig sind, dessen übermässiger Genuss schädlich ist. Je milder die Flüssigkeiten des Körpers sind, desto gesunder ist der Mensch und auf eine desto längere Lebenszeit kann er hoffen.^) Zu den dulcia werden ge- rechnet Lac dulce, Emulsiones, Saccharum, Syrupi, Conserven, Con- fectiones, Mel, Rad; Liquiritiae, Polypodium, Cacao, Amygdala etc.

8) Acria reizen die festen Gewebe. und machen die Flüssig- keiten scharf (coiTodunt solida et incidunt humores). Dieselben finden da Anwendung, wo die Absonderungen träge und die Flüssig- keiten klebrig sind , wie „in gewissen morbi soporosi und Kache- xien, bei Hydrops, Asthma und Scorbut. « In grosser Menge genommen, wirken sie erwärmend, irritirend und sogar zerstö- rend auf die kleinsten Fibern. Aeusserlich angewandt, rufen sie Rothe hervor, und bei innerlichem Gebrauch werden sie aus dem Körper durch dessen Ausfuhrwege ausgeschieden. „Will man die Ausleerungen des Körpers befördern, so muss man Acria hinzu- fügen, wodurch man weniger vom Purgirmittel braucht." Zu dieser Gruppe zählt Linne Euphorbia, Arum, Capsicum, Cicuta, Ledum, Ranunculus, Sinapis, Armoracia, Raphanus, Allium. Porrum, Cepa, Scilla, eine Menge Umbellaten etc.

9) Mucosa wirken einhüllend auf die festen Theile und ver- mindern die Schärfe in den Flüssigkeiten (agunt in solida lubri- cando et in fluida acria involvendo, inviscando) . Sie finden daher Anwendung bei Steinkrankheiten, bei Kolik, Dysenterie, Strangu- rie. Heiserkeit und Husten und werden benutzt als Emulsionen, Gargarismen, Augenwasser etc. Zu diesen Mitteln rechnet Linne Semina Ocymi, Psyllii, Cydonii, Gmi arabicum, Cerasi, Traga- canthae. Radix Pulmonariae, Herb. Malvae, Althaeae, Meliloti, Fructus Caricae.

') Dulcia nntriimt, si simul mucosa s. pinguia.

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10) Salsa irritiren die Gewebe und durchdringen die Flüssig- keiten (agunt in solida irritando et fluida penetrando) . Sie beför- dern die Absonderungen und lösen Schleim ; im Uebermaass an- gewandt, wirken sie auf das Blut, wie bei Scorbut, so dass das- selbe aus den Gefässen herausdringt. Zu dieser Gruppe von Arznei- mitteln gehören Sauerbrunnen (acidulae), Meerwasser, Pisces salsi. Salicornia, Salsola, Chenopodium marit. etc.

Ebenso wie der Geschmack der Arzneimittel, nach Linnes Auf- fassung, einen Fingerzeig für die Beurtheilung ihrer Eigenschaften gab, war auch der Geruch für die Entscheidung ihrer therapeu- tischen Anwendung von grosser Bedeutung. Es ist bereits erwähnt worden, dass Linnö den allgemeinen Satz aufstellte, dass diejenigen Arzneimittel , welche Geruch besitzen , ihre Wirkung auf und durch die Nerven ausüben. Er ging hiebei von der physiologischen Vor- stellung aus , dass der Geruch durch eine Bewegung innerhalb der Nerven hervorgerufen werde.') Analog den verschiedenen Arten de> Geschmacks stellte Linne gleichfalls zehn Kategorien von Ge- ruch auf.

1) Ambrosiaca verbreiten einen starken erstickenden Ge- ruch, wie Ambra, Moschus, Vanilla, Orchis, Abelmosch (Abel- moschus moschatus) , Matrisylva (Asperula odorata) , Balsama plera- (fue. -) Es wird angenommen , dass sie vor Ansteckung schützen, sowie anticontagiös und aphrodisiaca seien. Linne führte in Schwe- den den Gebrauch von Moschus bei der Behandlung exanthemati- scher Fieberkrankheiten ein, und nach seiner Angabe wurde der- selbe später von allen Aerzten mit grösstem Erfolg angewandt,

2) Hircosa haben einen stinlcenden Geruqh , wie Geranium, Vulvaria, Linaria, Valeriana, Mentha, Salvia. Sie sind repellentia.

3) Fragrantia verbreiten einen süssen Geruch , wie Flores citi*i, aurantiorum, tiliae, violae, rosae, Lign. Santali, Lign. Sassa-

') Odorea medicamentoruni (17.52).

2; Ambrosiaca (1759). Im Brief an Sauvages vom 15. Jan. 1754.

fras, Crocus, Rad. Iris florent., Rad. Caryopbyllat., Herb. Meliloti u. 3. w. Sie wirken beruliigeud und scblafbef ordernd.

4) Nidorosa haben einen herben Geruch, wie Humulus, Rosmarinns Sylv., Vitex, Absinthium, Tanacetum, Matricaria, Hys- sopus, Coffea etc. Sie sind grösstentheils bittere Stoffe und ver- ursachen, im Uebermaass gebraucht, Rausch und Kopfschmerzen.

5) Spirantia verbreiten Kräutergeruch, wie Marum, Thy- mus , Salvia , Melissa , sowie eine Menge Verticillatae, fermentata dosi refracta s.Vina, Spiritus destillatus, Spiritus salis ammon. Sie sind Analeptica und vermehren gewisse Absonderungen ; die hier- her gehörenden Pflanzen besitzen vertheilende Eigenschaften , und ihre Wirkung liegt nicht in ihrem Safte oder ihrer Substanz, son- dern darin, dass sie durch ihren Duft (halitus) auf die Nerven wir- ken ; solcherart leiten sie die Aufsaugung in geschwollenen Theileu ein. ') Durch die erhöhte Nerventhätigkeit entsteht in den festen Theilen eine Bewegung vor- und rückwärts , durch welche die in- flammatorische Stasis so zu sagen zerschüttelt und verdünnt wird.-)

6) Tetra zeichnen sich durch einen verdriesslichen und tibelstinkenden" Geruch aus, wie Papaver, Opium, Cimicifuga, Paeonia, Sambucus, Umbellatae s. Coriaudnim, Anethum, Conium, Cicuta, Castoreum. Bei dem Gebrauch grösserer Dosen wird die Pupille erweitert und die Iris paralytisch , wodurch eine Verminde- nmg der Sehkraft entsteht (Scotomia) ; öfter benutzt , wirken sie lähmend, in passenden Gaben aber stillen sie Schmerzen und Spas- men. Namentlich was Opium anbetrifft, müssen bei Bestimmung der Krankheitsfoimen, in denen es benutzt werden kann, stets die Krankheitsursachen berücksichtigt werden. Linnö giebt den wich- tigen Aufschluss , dass man für Narcotica die Dosis nicht vergrös- sem oder deren Gebrauch nicht fortsetzen darf, sobald die Pupille erweitert wird und die Augen einen ungewöhnlichen Glanz erhal-

' De Menthaeusu (1767). ■2) De Maro (1774).

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tenJ) Bereits Kaij hatte die Aufmerksamkeit auf die Wirkung der Belladonna auf die Pupille gelenkt.

7) Aromatica haben einen sog. „Spezerei-Geruch", wie Cinnamomum, Cassia lign., Canella alb.. Laurus, Camphora, Ca- ryophyllus, Myrtus, Piper, Cardamomum, Zingiber, Acorus, An- gelica, Gentiana alba, Carum, Cyminum, Petroselinum mac, Cere- folium, Foeniculum, Anisum stellatum etc. Sie beschleunigen die Blutbewegung.

8) Nauseosa verbreiten einen Ekel erregenden Geruch. Sie sind theils a mar a, wie Aloe, Elaterium, Colocynthis extr., Bryo- nia, Scammonium, Senna, Gratiola, theils acria, wie Veratrum, Helleborus, Jalapa, Ipecacuanha, Sambucus, theils styptica, wie Rheum, Lapathnm, theils acida, wie Tamarindus, theils dulcia, wie Cassia fist. , Polypodium, Dulcamara. Die hierher gehörenden Mittel sind emetica, cathartica, diuretica, sudorifera, errhina.

9; Orgastica haben einen stechenden Geruch, wie Scilla. Allium, Cepa, Porrum, Scordium, Alliaria, Thlaspi, Armoracia. Sinapis, Raphanus, Nasturtium, Erysimum, Asa foetida, Ammo- niacum.

10)''Virosa zeichnen sich durch einen eigenthümlich scharfen Geruch aus, wie Datura, Hyoscyamus, Belladonna, Solanum, Ta- bacum, Arnica, Cannabis.

Ausser dieser, mit Rücksicht auf Geschmack und Geruch ge- ordneten &rüppirung der in der Arzneikunst augewandten Pflan- zen findet man in dem pharmakodynamischen System Linne's noch weitere zehn Abtheilungen, grösstentheils die bereits angeflihrten Kräuter enthaltend, aber theils nach äusseren Kennzeichen auf- gestellt , theils auf Grund gemeinschaftlicher medizinischer Eigen- schaften zusammengesetzt. Schon in der Philosophia bota- nica hatte Linne erwähnt, dass, abgesehen von dem Geschmack und Geruch , die Farbe der Pflanzen bei Beurtheilung ihrer medi-

ij OpiutB (1775).

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zinischen Anwendbarkeit nicht ganz ohne Bedeutung sei. Wir finden daher unter diesen Abtheiluugen eine Gruppe, die Linn6 Colorata nennt, und bei welcher er hinzufügt, dass die rothen Pflan- zen gewöhnlich styptica sind und die Ausleerungen verhindern, wie Catechu, Bistorta, Tormentilla, Rosae rubr. fl. , dass die gelben (lutea) auf die Galle Avirken , wie Berberis , Frangula, Gmi gutta, Crocus, Rheum, Lapathum, und dass die schwarzen Pflanzen Blut- flüsse stillen, wie Hypocistis, Fungus melitensis, Orobus niger, Anacardium. Man wird hiebei unwillkürlich an die Signaturlehre von Paracelsus erinnert. Man dachte sich nämlich, dass die äussere Form- und das Aussehen der Pflanzen ein Ausdruck für die ihnen innewohnende Kraft seien, und dass man bei genauer Beobachtung gewisser Eigenthümlichkeiten in ihrem Bau etwas den Krankheits- symptomen, gegen welche sie angewandt werden. Entsprechendes finden würde. Diese aus dem vorhergehenden Jahrhundert her- stammenden, im Geist der damaligen Zeit tief wurzelnden aber- gläubischen Vorstellungen werden an mehreren Stellen in Linne's Schriften zwar bekämpft, aber der Gedanke kehrt dessenunge- achtet unter der einen oder anderen Form oft wieder. So werden als Toxica, welche hinsichtlich ihres Geschmacks acria corrosiva sind oder hinsichtlich ihres Geruchs den Tetra , Nauseosa und Vi- rosa angehören, lactescentia pleraque, polyandrae polygonae (ord. natur. XXVI], luridae omnes (ord. natur. XXVIII], contortae omnes [ord. natur. XXX), tricoccae omnes (ord. natur. XXXVIII), umbellatae aquaticae" und gewisse Liliaceen aufgenommen. Der- gleichen phannakodynamisch zusammengestellte Gruppen sind fer- ner die Lactariae, „welche die Milch in der Brust färben oder verändern", die Urinariae, Anthelminthica, Phthiriaca und Exanthematica. Die Ordnung Causaria enthält sogar eine Menge medizinischer Pflanzen , zusammengestellt nach den verschiedenen Krankheitszuständen, in denen sie gebraucht werden. Die Namen Crepitantia und Lactescentia beziehen sich auf die äusseren Eigenschaften der zu ihnen gehfirenden Pflanzen.

so

Linnes Materia medica wurde in Deutscliland in mehreren Auf- lagen von seinem Schüler J. Chr. D. Schreber herausgegeben, wel- cher hiebei nicht allein Aufklärungen und Eathschläge von Linn6 selbst, der „seine Aufmerksamkeit auf Umstände lenkte, die vor- zugsweise beachtet werden müssten", sondern auch Notizen nach seinen Vorlesungen, „quarum a variis amicis omni diligentia calamo exceptarum copia mihi fuit", benutzte. In Schreber s. Ausgabe sind ausserdem sowohl die offizineilen Stoffe enthalten, die- aus dem Thier- und Pflanzenreich genommen werden und die Linne in zwei besonderen Abhandlungen beschrieben i) , als auch die Pflanzen, welche nachLiune's Ansicht unter die Venalia aufgenommen werden müssten , alles nach „Speeles plantarum", „Systema naturae" und „Mantissae" geordnet. Hinsichtlich der Eigenschaften, Wirkungen und Anwendung der Pflanzen hat Schreber zahlreiche Zusätze ein- geführt: wie er selbst sagt, alles jedoch weggelassen, was Linne wahrscheinlich nicht gebilligt hätte. -) Linne scheint indessen mit der von Schreber besorgten Ausgabe nicht ganz zufrieden gewesen zu sein, denn er schreibt an Abr. Bäck :

„Vor kurzem habe ich Materiam medicam erhalten, auf- gelegt in Leipzig, sehr wenig und fast gar nicht verändert. Hätte ich sie auflegen können, so wäre sie gewiss eine andere ge- worden." 3)

Seinem Schüler und Freunde Prof. Andr. Murraj in Göttin- gen schreibt Linne :

^) Materia medica in regno animali (1750). Materia medica in regno lapi- deo (1752).

2) Caroli Linnaei Materia medica per regna tria naturae. Ed. altera, auctior. Curante J. Chr. D. Schrebero. Lips. et Erlang. 1772. S». Ein Abdruck dieser Auflage wurde in Wien 1774, 80 herausgegeben. Fer- ner eine Auflage in Leipzig und Erlangen 1782. 8». Ed. quinta, auctior. Ed. J. Chr. D. Schreberus. Lips. et Erl. 1787. Schon vor den Schreber'schen Auf- lagen soll Linnö's Materia medica 1762, SO in A^'enedig von L. Tessari herausgegeben worden sein, eine Arbeit, die ich jedoch nicht gesehen habe.

3) Im Brief vom 12. März 1773.

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„Ich habe gehört, dass Prof. Schreber meine Materia medica herausgegeben hat, es wundert mich, dass er mir nicht ein Exem- plar zugeschickt; hat er darin etwas neues hinzugefügt?^) Ich höre, dass Herr Prof. Schreber meine Materiam medicam heraus- gegeben , habe sie aber nie zu sehen bekommen , was von ihm inraisonable ist.2) Die von Linne eingeführte Richtung und Methode für die Be- arbeitung der „Materia medica" ward später von mehreren Ver- fassern aufgenommen, die alle mehr oder weniger seinem Beispiel folgten. Vondiesennennen wirnur J. Gr. Grleditsch, J.R. Spiel- mann, J. Andr. Murray und P. J. Bergius.^)

Aus der vorstehenden Darstellung wird man sehen , dass die Pharmakodynamik oder, richtiger gesagt , die Lehre von der An- wendung der medizinischen Gewächse in der praktischen Heilkunst, für Linne ein Lieblingsthema war, womit er sich gern beschäftigte und zu welchem er stets zurückkehrte. Ueberblickt man die medi- zinische Literatur, so kann man , ohne zu übertreiben , behaupten, dass es sein Verdienst ist, nicht nur diesen wichtigen Theil der medizinischen Wissenschaft geordnet und gesichtet, sondern zu- gleich durch die systematische Behandlung desselben den Grund zu seiner selbständigen Entwickelung und Bearbeitung gelegt zu haben.

Linn6's Interesse für die Pharmakologie offenbart sich in den zahlreichen Abhandlungen, in denen er innerhalb dieses Gebiets

') Im Brief vom 26. Oct. 1772. 2) Im Brief vom 15. Febr. 1773.

3] Die zum grossen Theil unbefugten Anmerkungen , welche Vicq-d'Azyr in seiner „Eloge de Mr. de Linne" gegen seine Materia medica (und Ge- nera Morbonim) macht, widerlegt C. M. Blom in Sämling af rön och upptäckter, gjorde i senaretider uti physik, medicin, Chirur- gie u. s. w. I. Gütheb. 1781. S. 257—284.

*) Deberent vestrates medici Wiennenses, qui'omnia tentant in morbis de- speratis, et imprimia tentare, quid hae duae plantae (Gliome gigantea et Lobelia longiflora) valercnt,'' schreibt Linne an N. J. Jacquin im Brief vom 9. Oct. 1769, gedruckt in Caroli Linnaei Epistolae ad Nie. Jacquin, ex auto- graphis ed. C. N. a Schreibers. Vindobon. 1841.

Hjelt, Liniiü als Arzt. ()

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liegende Fragen behandelt. Er bearbeitete in diesen Schriften theils grössere Abtheilnngen seines pharmakologischen Systems ausführ- lich , theils beschrieb er die Naturgeschichte und die medizinischen Eigenschaften einzelner wichtiger Pflanzen. Von diesen Abhand- lungen mögen erwähnt werden die „Medicamenta graveo- lentia" (1758), in welcher er die hierher gehörenden Pflanzen in subinsipida, acria und amara eintheilt; eine jede dieser Gruppen zerfällt wiederum in zwei Ordnungen, fortiora und debiliora. Zu den graveolentia subinsipida fortiora werden solche Pflanzen ge- rechnet, wie Datura, Hyoscyamus, Tabacum, Mandragora, Bella- donna, Dulcamara, Cannabis, während Orobus, Calendula, Nerium, Viola und Tilia die Ordnung debiliora bilden. Zu den graveolentia acria fortiora gehören Valeriana major et minor, Iris, Jalapa, Colchi- cum, Paeonia, Aconitum u. s. w. Graveolentia amara fortiora be- stehen unter anderen aus Nux vomica, Aloe, Rhabarbarum, Senna, Colocynthis u. s. w. Ein grosser Theil der graveolentia sind sopori- fera, narcotica, anodyna. während andere repellentia und purificantia sind. Sie wirken theils auf die Gefühls-, theils auf die Bewegungs- nerven. In einer späteren Arbeit „Medicamen,ta purgantia" (1775) werden ferner die verschiedenen Gruppen der graveolentia behandelt, welche zunächst angewandt werden, um die Auslee- rungen des Körpers zu befördern. Sie gehören grösstentheils zu der Ordnung Nauseosa und zerfallen, ihren physiologischen Wirkungen nach,invomitoria, purgantia proprie sie dicta, diaphoretica, diuretica, emmenagoga , sialagoga und sternutatoria. Hier wird die Ansicht ausgesprochen, dass Abführmittel benutzt werden müssen, nicht nur um unverdaute Ansammlungen aus dem Darmkanal zu entfernen, durch deren Gährung und Zersetzimg Krankheiten entstehen, sondern auch um die Natur zu unterstützen in ihrem Bestreben, den Körper und namentlich die Blutmasse von schädlichen und überflüssigen Stoffen zu befreien. Die Natur führt dies um so leichter aus, wenn ihr von der Kunst hierbei nachgeholfen wird , und sobald ihr ein Ausweg eröffnet worden, beseitigt sie ohne Schwierigkeit Alles.

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was für sie niclit geeignet ist. Die Natur strebt stets danach , den Krauklieitsstoff nach einer angegriffenen Stelle zu versetzen. ') Rhamnus frangnla wird besonders gelobt, obgleich die Rinde dieses Baumes in damaliger Zeit mehr vom Volk, als von den Aerzten ge- braucht wurde ; ihre Wirkung ist zuverlässig und bei [Benutzung derselben bedarf es keiner Vorsichtsmaassregeln. Der Rhabarber ist ein Tonicum bei Schwächezuständen im Venti-ikel und im Darm- kanal und wirkt auf die Leber, weshalb Tinctura (anima) rhei von älteren Aerzten Anima hepatis benannt wurde. Von einheimischen Pflanzen , die lösende Eigenschaften besitzen und welche die viel- fach theureren ausländischen Arzneimittel ersetzen können, werden, ausser Rhamnus frangula, auch Rh. catharticus, Linum catharticum, Eui)atorium cannabinum, Genista tinctoria, Prunus spinosa, Berbe- ris vulgaris, Convolvulus sepium , Valeriana officinalis, Bryonia alba , Sambucus ebulus (purgans hydragogum) , Liehen aphthosus (Flor. Suec. 1098) etc. aufgenommen. Von kultivirten Pflanzen, welche das Klima verti'agen, werden genannt Gratiola officinalis, Asarum europaeum, Rheum palmatum, Mirabilis longiflora, Momor- dica elaterium. Die therapeutische Anwendung von Mentha ist Gegenstand einer besonderen Abhandlung (1767), und in dieser Ar- beit entwickelt Linn6 seine Ansicht von dem Geruch der Pflanzen näher. Seine Anschauung von der Wirkung der Spirantia ist be- reits früher erwähnt \yorden. Jede Entzündung ist begleitet von einem qualvollen Gefühl oder Schmerz, denn „die gespannte, nahezu zen-eissende Fiber schmerzt." In Entzündungskrankheiten wird da- Iier Mentha gebraucht , um die Thätigkeit der Nerven zu erregen, wodurch die Entzündung gelöst und der Schmerz aufgehoben wird. Auch die Fibern,, welche ihre Elasticität verlieren, sobald sie nicht unter dem Einfluss der Nerven stehen ; erhalten durch dieses Mittel ihre Spannkraft wieder. Auf diese Weise lässt sich die Wirkung

') .,Qua data porta, incongrua ista felicius exterminat natura. lila enim ad locum aflfectum materiam deducere stiulet morbosani."

6*

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der Carmiuativa , unter cleueu Mentha einen liervon-agenden Platz einnimmt , bei Kolikleideu und Blähungen im Darmkanal erklären, wenn die Fibern in den Wandungen desselben erschlafft sind. Mentha verhindert das Entstehen von Säure bei Ammen , und mau nimmt an, dass sie die Bildung von Milch und Käse vermindert: sie wird mit Vortheil benutzt bei Hysterie, welche oft auf Stönmgen in den Geschlechtsorganen beruht, und soll ein kräftiges Mittel zur Herbeiführung von Unfruchtbarkeit sein , weshalb schon Aristoteles den Rath gab, „mentham tempore belli nec edito, nec bibito."

Nachdem Linne die Quassiarinde von Dr. Dahlberg erhalten, führte er sie in die Therapie ein unter den bitteren und tonisireudeu Stoffen zur Behandlung der intermittenten und exacerbirenden Fie- berkrankheiten. Er schreibt darüber :

„Ich habe Eadix Quassiae gegen Upsala-Fieber versucht und sie unvergleichlich gefunden." ^)

Mehrere andere Pflanzen wurden zu Linn6's Zeit unter die Zahl der Arzneimittel aufgenommen. So finden wir, dass das Infus von Blättern der Linnaea gegen Rheumatismus gepriesen wird, und Linne sagt, er habe diese Pflanze in der genannten Krankheit ebenso specifisch gefunden, wie China bei kaltem Fieber. Darüber äussert er :

„Iii nosocomiis classis navalis, quorum medicus primarius sum, innumeris casibus expertus sum vires plantae, quam Lin- naeae nomine indigitavit Gronovius, eamqne certo Rheumatismum tollere, si per octiduum propinetur foliorum infusum, ac China in febribus." 2]

') lu einem Briefe an Abr. Bäck vom 22. März 1763. Ligniim Quassiae (1763).

2) In einem Briefe an Bernh. de Jussieu vom 5. Febr. 1740, gedruckt in Memoirs of the American Academy etc.. Vol. V, S. 190. Dieselben Aeusserungen findet man in Briefen an Sauvages vom 21. Januar 1740 und in einem anderen (1762), worin erzählt wird, dass Linnaea in allen dänischen Apo- theken vorräthig ist. Die von Gronov nach Linu6 benannte Pflanze erliielt gleichzeitig von Linnö's Gegner Siegesbeck den Namen Obolaria, um den geringen Werth seiner botanischen Arbeiten anzudeuten.

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Mit Spigelia anthelmia stellte Linii^ Versuclie gegen Würmer mit Erfolg an. ') Den Gebrauch .von Senega bei der Behandlung von Brustkraukheiten führte Linn6 in Schweden ein und theilt verschie- dene Fälle aus seiner Praxis mit , in denen dieses Arzneimittel von augenfälliger Wirkung gewesen war. Bemerkenswerth ist , dass er auf Grund der in Amerika erworbenen Erfahrungen Senega gegen Schlangenbiss empfiehlt. Als entsprechende schwedische Pflanze wird Polygala vorgeschlagen. 2)

Zu denjenigen Droguen, deren Einführung in die Medizin Linne sich als vorzügliches Verdienst anrechnet, gehört Solanum Dul- camara. Es giebt keine Pflanze in der ganzen. Materia medica, äussert er, die bei der Behandlung von Gicht , Scorbut , Gelbsucht und Rheumatismus mit diesem Mittel verglichen, geschweige denn demselben vorgezogen werden kann. 3) Mit besonderem Erfolg brauchte er Dulcamara gegen Syphilis und deren Folgen und er- zählt selbst , wie ein schwedischer Edelmann , der da glaiibte , er könne im eigenen Lande von dieser Krankheit nicht befreit werden, nach dem südlichen Frankreich gereist war, um Sauvages zu con- sultiren , und von diesem den Rath erhielt, Dulcamara zu brauchen nach Linn6's Anweisung , die er durch eigene Erfahrung bestätigt gefunden habe. Die Behandlung von Syphilis mit vegetabilischen

') Im Brief an Stiiivages vom 22. April 175ö.

-) Radix Senegae (1749). Im Brief an Sauvages vom 24. Febr. 1756. In der Abhandlung „Spelcifica Canadensium" (1756), S. 28, schreibt Linnö es dem Gebrauch von Senega zu, dass er von einer Peripneumonie hergestellt wurde, und in der Dissertation ,,de Morsura Serpentum'- (1762) wird S. 17 erzählt, dass er ein Weib von den Folgen eines Schlangenbisses durch den Ge- brauch von Senega in der Form von Pulver geheilt habe.

•'') De Dulcamara (1771). „Dulcamara ward durch Versuche besonders spe- cifique in lochiis retentis , Arthritide vaga, rheumatismis befunden ; nur ergiebt sich der Uebelstand , dass sie den Magen grawirt und Ekel erregt, etwas laxirt und den Appetit ein wenig benimmt, namentlich anfangs, bevor man sich daran gewöhnt; mit Milch getrunken , gravirt sie weniger.'' Im Brief an Abr. Bäck vom 21. Nov. 1746.

L

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Arzneimitteln war eine Frage, die Linn6 überhaupt in hohem Grade inte.ressirte. Er schreibt an Bernh. de Jussieu:

„Kalmius autem noster redibit ex America proximo vere. Ille detexit nobis stupendam medicinam , specificum scilicet Indoruni sylvestrium contra luem veneream, quam extollit tanquam medica- mentum nunquam incassum propinatum ; ut eo aegri semiputridie lue intra 10 vel 16 dies perfecte curati, absque incommodo absque dolore; dum e contra quamplurimi methodo usitata mercuriali saepe diem curantur dolorifice, pereunt sub cura. At vero novum medicamentum curat absque recidiva, absque dolore, absque diffi- cultate, absque ulla fere observatione in diaeta. Gerte si Helve- tius vester hanc medicinam detexisset, integros auri montes a rege vestro reportasset. Est haec medicina radicis Geauothi ame- ricani infusum. cui additur, si morbus sit nimis radicatus, „ra- dix Ranunculi fol. subrotundo virginici", flore parvo Henn. Lugdh. 514 (Ranunculus abortivus L. Sp.).

Hoc infusum s. debile decoctum hauritur mane, vacuo ventri- culo, si vero purgat, tam insequentibus diebus parciori dosi et debiliori infuso. Radix Ranunculi tarnen parcissime addenda, cum illa ventriculo infesta sit.

In debiliori morbo sufficiunt solae radices Lobeliae secundae Hort. Cliff. (Lobelia syiihilitica) in infuso s. decocto, non diu de- cocto, et quotidie pro potu ordinario poto." Jussieu antwortet darauf :

Kalmius alter discipulus pretiosam ex America mercedem tibi renuntiavit, specificum Indorum sylvestrium adversus luem veneream, medicamentum nobile experimeutis et observationibus saepe confirmatum , cujus vires eximiae probantur facili medica- tione et prompta morbi hujus curatione. Optandum superest. ut

'j Im Brief aus Upsala 1750 (ohne Datum), gedruckt in Memoirs of the American Academy etc.

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eosdem sahitares apud uos sortiatur eflfectus, mediciua aegris tau- topere utilis." ')

Scherzhaft schreibt Liuu6 wegen dieser Pflanze seinem Freunde Ahr. Bäck:

„Ich bin besorgt um Ceanothus, nachdem ich von Kalm ihre Kraft erfuhr, und habe dem Gärtner befohlen , täglich nach- zusehen, damit ich im Stande wäre, Ihnen zu dienen, falls ein Unglück sich ereignen sollte, ich besitze aber nur drei Exemplare. Sobald Sie verheirathet worden, bin ich diese Sorge los." 2) Dass Linne sich übrigens mit venerischen Krankheiten befasst haben sollte, ist wenig wahrscheinlich. Vielleicht war sein Interesse für die Heilung derartiger Uebel eine Erinnerung au seine erste ärzt- liche Thätigkeit. Er schreibt in Bezug darauf an Ahr. Bäck :

„Mein Remedium gegen Movbos syphiliticos ist im Auslande probiret worden und hat sich ungemein bewährt, sowohl in Syphi- litide vera, als auch in Gonorrhoea."^) Die Zusammensetzung von Guy's berühmtem Mittel gegen Krebs, dessen Bestandtheile nicht bekannt waren , behauptet Linne ent- deckt zu haben. Die Haut zunächst der Wunde ist in geeigneter Weise blosszulegen und das Pulver dort einzustreuen , wodurch der kranke Theil von dem gesunden abgestossen wird und zuletzt wegfallt. Er erzählt. Viele seien in dieser Art geheilt worden. ') Folia uvae ursi, von Sauvages gegen Krankheiten der Harnwege empfohlen, wurden von Linn6 in die Praxis der schwedischen Aerzte eingeführt. ^) Ueber die Benutzung von Conium gegen chronische Anschwellung der Lymphdrüsen schreibt er: „der bisher geprie- sene Gebrauch von Conium und Cicuta beginnt abzunehmen."

I, Iiu Brief an Linne, dat. Paris den 19. Febr. 17.51, dieselbe Arbeit S. 218. h Im Brief 17.51.

Im Brief vom 29. Jan. 1751. *J Im Brief an Sauvages vom 2(3. Jan. 1701.

Im Brief an Sauvages vom 25. Aug. 17()1.

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Sowohl in Linnö's Flora Lapponica und Suecica, als auch in der Beschreibung seiner Oeländischen und Gothländischen, Skäneschen und Westgothischen Reise findet man eine grosse An- zahl äusserst interessanter und werthvoller Angaben Uber die An- wendung einheimischer Pflanzen in der Medizin. Es werden in Folge dieser Beobachtungen eine Menge einheimischer Drgguen in den Arzneischatz aufgenommen und daraus entwickelte sich zum Theil die schwedische Hausarzneikunst, welche in dem dünn be- völkerten Lande von so grossem Nutzen gewesen ist und soviel Segen verbreitet hat.

Occupatus sum , " schreibt Linne , in tradendo publice et

privatim materiam medicam et doceo imprimis studiosos curare

rusticos inempta medicina."

Grosse und dauernde Verdienste um die Entwickelung der Pharmakodynamik hat sich Linne dadurch erworben, dass er näher ermittelte, was unter Gift im Verhältniss zu anderen Arzneien zu verstehen sei, und dass er den stark wirkenden Mitteln ihren rich- tigen Platz in der Therapie angewiesen hat. Unsere Arzneimittel gegen Krankheiten , sagt Linne , sind theils Nahrungsmittel , theils Gifte (toxica), jene erhalten die Gesundheit, indem sie die Körper- kräfte unterhalten, die letzteren stellen dieselben wieder her, indem sie den Organismus verändern. Das schärfste Gift kann als Arznei- mittel wirken, sobald es in kleinen Dosen angewandt wird, und ein gewöhnliches Arzneimittel vermag in grossen Gaben die Natur von Gift anzunehmen , ja sogar Nahrungsmittel , im Uebermaass ge- nossen, werden für uns schädlich. Jedes Arzneimittel wirkt daher, im Grunde genommen , in derselben Art wie Gifte , indem es Ver- änderungen im Körper einleitet. 2) Man hat zwischen Arzneimittel und Gift einen scharfen Unterschied machen wollen und geglaubt,

M Im Brief an Abr. Bäck vom 19. Nov. 1754.

2; Lign. Colubrimim (1749). Denselben Satz findet man, ausser an anderen Stellen, anch in Materia niedica fcanon 16 und 17 ausgesprochen.

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die Gifte zerstörten sogar in kleinen Gaben den Körper ; dies sei aber ein Vorurtheil , ja ein Irrthum , welcher aus der Wissenschaft entfernt werden müsse. Denn kein verständiger und kenntnissvoller Arzt darf Bedenken tragen, nach Umständen Gifte in passendem Verhältniss und geeigneten Gaben zu verschreiben. Dagegen können die vortrefflichsten Arzneimittel in der Hand des Unwissenden zum Schwerte des Rasenden werden, i) Als Linne den Satz aussprach, dass die widerwärtigsten Gifte bei richtiger Anwendung uns die vortrefflichsten Arzneimittel liefern, führte er der Wissenschaft und der Erfahrung das Wort. Ich kann nicht sagen, äussert er selbst, von wie gi'ossem Nutzen mir dieser Lehrsatz bei Erörterung der wichtigsten und schwierigsten Fragen der medizinischen Wissen- schaft gewesen ist. 2)

In der letzten medizinischen Abhandlung, die Linne's Namen trägt, werden die allgemeinen therapeutischen Ansich- ten, welche aus seinem System hervorgehen und dem prakti- schen Verfahren des Arztes zu Grunde gelegt werden müssten, unter folgende Gesichtspunkte zusammengefasst. Die Natur ist der beste Arzt. Wider die Natur vermag die Arznei nichts. Wohin die Natur sti-ebt, dahin muss sie geleitet werden, und wird ihr ein Aus- weg eröffnet , so wählt sie ihn. Zweierlei Arten von Ausleerungen können kaum gleichzeitig bestehen. Ein Schmerz vertreibt den an- deren. Eine jede Absonderung schwächt. Gifte heilen, Nahrungs- mittel erhalten den Körper. Die Natur beseitigt , nebst dem Gift, auch andere unreine Stoffe. Die schärfsten Gifte werden, in ge- eigneter Weise in geringen Gaben gebraucht, die wirksamsten Arzneimittel. Die Gewohnheit schwächt die Wirkungen der Arznei- mittel ab, stetiger Wechsel derselben verräth Unwissenheit. Die Wirkung der Arzneimittel umfasst die Krankheitsarteu , nicht die Krankheitsgruppen, und wird von deren Geschmack und Geruch

'j Vires plantaruin (1747).

2i Mediciunenta graveolentia (1758).

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bestimmt, so wie durch die Erfahrung- bestätigt. Wer entgegen- gesetzte Stoffe mit einander mischt, ist ein Idiot. Die Gegensätze heilen ihre Gegensätze, die eine Krankheit die andere. Wenn nur ein einziger Ausweg zur Rettimg bleibt, so muss man ihn versuchen, auch wenn er gefährlich ist.^)

Ausser den bereits erwähnten Schriften von Linne, welche Gegenstände aus dem Gebiete der Pharmakologie und Pharmakody- namik abhandeln, gehören hierher noch die Abhandlungen de Methodo investigandi vires- medicamentorum chemica (1753;, Con- sectaria electrico-medica (1753), de Cortice peruviano (1758), Opo- balsamum declaratum (1764), de Fraga vesca (1772), Observatio- nes in Materiam medicam (1772), Planta Cimicifuga (1774)', de Maro (1774), Opium (1775).

Unter den medizinischen Wissenschaften, welche Linne mit besonderem Interesse bearbeitete und die er verpflichtet war vor- zutragen, war auch die Diätetik oder die Lehre von der Gesund- heit des Individuums. Es ist bezeichnend , dass er in den auf die Diätetik bezüglichen Fragen seinen Ansichten durch zahlreiche scharfsinnige Beobachtungen Geltung und Verwendung zu ver- schaffen verstand. Seine Vorträge über diese Gegenstände lenkten in Folge ihrer Vielseitigkeit und des Reichthums an treffenden Bil- dern aus dem täglichen Leben die allgemeine Aufmerksamkeit auf manche bisher übersehene, für die Gesundheit äusserst wichtige Wahrheiten. Linn^'s Vorlesungen verbreiteten unter den Aerzten Schwedens ein Interesse und Verständniss für die Hygiene, welche höchst beachtenswerth sind. Mehrere ihrer hervorragendsten Cory- phäen, ein David Schulz von Schulzenheim, Abr. Bäck, J. G. Wahlbom, Nils Dahlberg, J. L. Odhelius, C. H. af Hjärne U.A., veröffentlichten Schriften von hohem Werthe aus dem Gebiete der öffentlichen Gesundheitspflege, wodurch allmählich die Auf- merksamkeit auch, des grossen Publikums auf die Wichtigkeit ihrer

') Canones medici 1775 .

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Forderungen gelenkt wurde. Während die hygienische Wissen- schaft in den grossen Culturländern im allgemeinen noch unbe- arl)eitet und zurltckgesetzt war, vermochte die medizinische Literatur in Schweden nicht wenige Schriften auf diesem Grebiete aufzu- weisen. Mit tiefer Dankbarkeit erkennen wir, dass die Aussaat ärztlicher Bildung, die Linne in Schweden ausgestreut, gekeimt \md reiche Früchte getragen hat.

Die Diätetik oder die Lehre von der naturgemässen Lebens- weise des Menschen beruht, nach den damals herrschenden An- sichten, auf sechs Hauptbedingungen (res non naturales) : frische Luft, köi*perliche Bewegung, Schlaf, Nahrungsmittel, Ausleerungen des Körpers und Gemiithsbewegungen . In genauer Uebereinstimmung mit seinen oben geschilderten pathologischen und therapeutischen Theorien ging Linne auch bei der Darstellung der Lehre der Diä- tetik von denselben allgemeinen Lehrsätzen aus und suchte diesel- ben auf dem G-ebiete der Gresundheitslehre durchzuführen. Der- gleichen Sätze sind folgende Aussprüche. Die Luft wirkt auf un- seren Körper durch Wärme und Kälte. Die Kälte macht die Fibern steif und die Flüssigkeiten mehr salz artig (muriaticos) ; die Wärme dagegen verursacht in den festen Theilen Erschlalfung und beför- dert die Bildung von Leimstoflf (Gluten). Je weicher die Fibern sind, desto schneller gehen sie in einen gemssen Grad von Klebrig- keit über (oritur viscidum), der Gegensatz hiezu ist das Salzartige. Bewegung macht die Flüssigkeiten feurig, lebhaft (phlogisticos) und die Fibern zähe: bei Bewegung entsteht Wärme, die Flüssig- keiten werden vertheilt und alle Theile nähern sich einander. Ruhe befördert Bildung von Säure in den Flüssigkeiten und macht die Fibern mürbe (teneras). Stillsitzen ist eine Hauptursache, weshalb

', Do effectu et cura vitiorum diaeteticorum generali (1766). Beinabe die- selben Gedanken findet man ausgesprochen in den Abhandlungen de varietate ciborum (1767) und de medico sni ipsius (1768). Die letztere Abhandlung ist ins Schwedische übersetzt unter dem Titel ., Siittet att vara sin egen liikare" (Die Art und Weise, sein eigener Arzt zu sein"). Westeräs 1770. 8o.

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die höheren Stände weit mehr als die niederen an Hysterie leiden : Blasenstein und Podagra kommen öfter bei älteren und wohlhaben- den Personen vor. Schlaf befördert Fettbildung in den festen Thei- len und macht die Flüssigkeiten ölig , während die Fibern durch Schlaflosigkeit mager macilentas) und die Flüssigkeiten scharf (acres) werden. Diejenigen, welche die Nächte wachend zubrin- gen, sind Fieberkrankheiten , Blutflüssen , Schwindel und Kopfweh ausgesetzt", daher das SprUchwort „aut Stüdes aut amas," - Das beste , ja ein specifisches Mittel gegen allzu grosse Beleibtheit ist Nachtwachen , und darin liegt die Ursache , weshalb beleibte Per-: sonen , die Wittwer geworden sind und an Schlaflosigkeit leiden, binnen kurzem an Leib und Seele erschlaffen. Bei Hunger werden die Flüssigkeiten vermindert oder erschöpft und die Fibern dünn, während genügende Nahrung sie anschwellen lässt und die Flüssig- keiten vermehrt. Was die Ausleerungen anbetrifft, so ist es be- kannt, dass der Körper nicht weniger verliert, wenn seine Flüssig- keiten austi'ocknen (si succi laudabiles amittantur) , als wenn excre- mentielle Stoffe, die während der Lebensarbeit in der Blutmasse sich ständig bilden, in Uebermaass zurückgehalten werden. Bei reichlichen und starken Ausleerungen werden die Flüssigkeiten dick und die Fibern trocken (torrida), der Körper wird geschwächt und Magerkeit tritt ein , während die festen Theile feucht und die Flüssigkeiten dünn werden , sobald die Absonderungen nicht regel- mässig erfolgen.

Diese Auffassung der wichtigsten Bedingungen für die Erhal- tung der Gesundheit finden wir in Linne's Clavis medicinae wieder, in welchem er dieselben in Bezug auf die Therapie behan- delt. Uebertretung der Vorschriften der Diätetik ruft Krankheits- zuständß hervor, die bekämpft werden müssen durch die der Natur innewohnenden heilenden Kräfte, deren Kenntniss und Anwen- dung die praktische Erfahrung lehrt. Die oben erwähnte Theorie von dem Gegensatze zwischen der Natur und den Ursachen der Krankheiten, sowie von den gegen dieselben angewandten Arz-

93

ueien tritt somit auch hier hervor. Gegenüber einer jeden der oben genannten diätetischen Lebensbedingungen, deren Bedeutung Linne durch ein einziges charakteristisches Wort andeutet, werden die bereits angeführten Hauptgruppen- von Arzneimitteln zusammen- gestellt und zugleich ihre Eigenschaften angegeben. Da diese Zu- sammenstellung die ganze pathologisch-therapeutische Anschau- ungsweise Linne's in ihrem inneren Zusammenhange sinnreich ver- anschaulicht und das Verständniss seiner technischen Ausdrücke unter Benutzung der oben gegebenen Darstellung seines Systems nicht schwer fallen dürfte , so wollen wir dieses Schema hier an- führen. 1)

Flui da.

Solida;

I.

E X c r e t a

densa

torrida '

tenuia

humida

Ketenta

II.

III.

Motio

phlogistica

tenacia

acidula

tenera

Quies

IV.

V.

Vigiliae

acria

macra

oleosa

pinguia

Somnus

VI.

VII.

Farnes

paiiperata

gracilia

plethorica

turgida

Cibus

VIII.

IX.

Frigus

muriatica

rigida

glutinosa

fluxa

Calor

X.

Effectus.

Der Clavismedicinaeist eine in hohem Grade bemerkens- werthe Erscheinung in der medizinischen Literatur. 2) In gedräng- tester Form stellt diese Arbeit die Grundgedanken der rnedizini- schen Anschauungsweise Linnö's dar. Sie ist ein geistreicher Ver- such , den Bau der ganzen medizinischen Lehre auf der Grundlage gewisser theoretischer Vorstellungen zu construiren, iind zugleich

•) Clavis Medicinae, S. 8.

2) Caroli a Linne, Clavis Medicinae duplex, extorior et in- terior. Holmiae 1766. 29 S. 8o. Die Arbeit ist gewidmet ,, Medicis secula- ribus : Siegfr. Albino, Anatomico summo, Alb. von Haller, Physiologo summo, Gerardo van Swieten, Observatori summo, Franc, de Sauvages, Patbologo summo, Nicol. v. Rosenstein, Therapeutico summo. Iterata editio foras de- dit et praefatus est Em. Godofr. Baldinger. Longosalissae 1767. 59 pag. 8<'.

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ein sprechendes Zeugniss für die umfassende Fähigkeit Linne's, die verschiedenen Theile der Wissenschaft unter gemeinschaftlichen Gesichtspunkten zu einem Ganzen zu vereinigen. Die aphoristische Kürze , in welcher Linne es liebte , in dem Clavis Medicinae seine Gedanken auszusprechen, macht die Arbeit schwer fasslich, ja fast xmverständlich für einen Jeden, der sich nicht die Mühe gegeben, in die Tiefe seines Gedankenganges einzudringen. Es ist auch klar, dass der mündliche Vortrag dieser Schilderung erst das richtige Re- lief zu verleihen bezweckte. i). Von Interesse ist zu sehen, wie Linnö selbst seine Arbeit beurtheilt; wir finden in seinem Brief- wechsel darüber folgende Aeusserung :

„Es ist mir genug Satisfaction , dass ich Ihre und Arch. Rosenstein's Approbation meines kleinen Clavis medicinae erhal- ten. Könnte ich mit Ihnen denselben durchgehen und meine De- monstrationen zeigen, so hoffe ich, er würde mehr begreiflich werden." -)

An seinen Freund, Prof. A. Murray in Göttingen, schreibt Linne über seinen Clavis :

„Finden Sie , Herr Prof. , etwas anstössiges , so lassen Sie mich es wissen. Archiater Rosenstein hat auf Ersuchen alles exa- miniret und mir das ehi-enhafteste Zeugniss ertheilt und nichts gefunden, was ich nicht genügend demonstriren könnte. Hält es Probe, so muss es etwas thun zur materiae medicae certitudo.'*^) Bereits oben wurde erwähnt , dass Linne oft und mit besonde-

Nach den Indices praelectionum zuurtheilen, scheint Linn6 nur ein einziges Mal (1771) den Clavis bei seinen Vorlesungen vorgetragen zu haben. Wahrscheinlich sind es diese Vorlesungen, worüber P. D. Giseke in ..Termini botanici" etc. Hamburg 1781, S. 103 schreibt: „Ich habe diesen Abschnitt unerklärt gelassen, da er im Clavis Medicinae umständlicher enthalten ist, über welchen ich dereinst die Vorlesungen des Verf. herauszugeben gedenke." Diese Arbeit ist jedoch nicht erschienen.

2) Im Brief an Abr. Bäck vom 3. April 1766.

3) Im Brief vom 27. März 1766. Linn(5's Briefe an A. Murray hat der jetzt verstorbene Prof. 0. Glas zu Upsala mir freundlichst niitgetheilt.

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rem Interesse Diätetik vortrug. Von diesen Vorlesungen befinden sich in den Bibliotheken eine Menge Abschriften und wir erhalten dadurch eine Uebersicht ihres Inhalts. Es wäre zu weitläufig, uns mit den Details dieser Vorti-äge hier zu beschäftigen, vielleicht lohnt es aber der Mühe, zu untersuchen, welche hygienische Fragen er in den Kreis seiner Darstellung hineinzog. Linnö's „CoUegium diaeteticum" (1757) hat folgenden Inhalt. Nach einer Einlei- tung über die Entwickelung des Menschenlebens (ein Gegenstand, der in mehreren von Liune's akademischen Abhandlungen vor- kommt) , enthält der erste Theil der Diätetik „regulas generales" : 1] infantis figura naturalis est servanda; 2) infans enutriatur lacte matenia; 3) omne parit sui simile; 4) Juventus facit vires senectuti; 5 consuetudo est quasi altera natura ; 6) omnis subita mutatio peri- culosa ; 7) omne nimium nocet ; 8) varietas delectat. Von der Luft ; von der Witterung ; respiratio ; transpiratio ; attractio ; vestimenta ; lectus et cubile ; Schlaf; aedes et domicilia. Der zweite Theil be- rührt motus et quies, morbi artificum. Der dritte Theil handelt von „ingesta, potus et cibus oder allem, welches proprie Diät ge- nannt wird. Vom Wasser , dessen Prüfung und Reinigung ; de spi- rituosis; vinum; Thee, Kaffee, Branntwein, Bier, Rauch- und Schnupftabak ; cibus, schädliche Zusätze ; von Salz, Essig, Zucker, Honig , Oel , Butter, Schweinefleisch ; lacticinia oder Milchspeisen, praeparata lactea; Brod; carnes, Fleischspeisen, Blut; Vegeta- bilien, aromata, fructus horaei, Gewürze ; Thierreich. Gift in ge- nere, Gift im Thierreich, Gift im Mineralreich, Gift von Pflanzen. Vierter Theil. Excreta et retenta, sensus externi et interni; die Affecte; venus. Conjugium, wobei zu berücksichtigen a) dona na- turae sanitatis, aetatis et pulchritudinis) , b) dona educationis, wie Temperament, Fähigkeit und Kenntnisse, c) dona animae, ein gutes und aufrichtiges Gemüth, xl) dona Status, ehrbarer Stand und Name,

Befindet sich in der Universitiitsbibliotliek zu Upsala.

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e) doua fortunae; hierher gehören 1) divitiae, dass die Frau vou reicher Herkunft, 2) prosapiae, dass die Verwandtschaft klein ist.

Obgleich Linne seine Vorlesungen über die Diätetik herauszu- geben beabsichtigt zu haben scheint, und obgleich er dieselben mehrere Mal umgearbeitet hat, so erschienen sie doch nie im Druck, wie man auch darauf hoffte. In einem Briefe von J. Zoega in Kopenhagen) an Linne d. J. heisst es :

„Audivi collegium diaeteticum parentis optimi in lucem pro- diisse ; an ita est? Respondeas quaeso ad has quaestiones." .

Ein Gegenstand, dessen grosse Wichtigkeit und Bedeutung Linne in mehreren seiner Abhandlungen hervorhebt und worauf er oft zurückkommt, ist die Erziehung des heranwachsenden Ge- schlechts. Er spricht hiebei Wahrheiten aus . die gewiss dazu bei- getragen haben, das Interesse nicht allein der Aerzte, sondern auch des Publikums für diese aussei'ordentlich wichtige Frage zu erre- gen, wenn sie auch nur allmählich . tiefer eindringen und im Be- wusstsein des Volks Wurzel schlagen konnten. Linne lenkt die Aufmerksamkeit darauf hin, dass der Grund zur Gesundheit des einzelnen Menschen oder die Bedingungen eines gesunden und nor- malen Körpers theils bei der Zeugung, theils in der Kindheit und in den Jugendjahren gelegt werden. Er giebt daher Vorschriften, in welcher Art die Verhältnisse während der verschiedenen Lebens- perioden iii Uebereinstimmuug mit den Anforderungen sowohl der Diätetik als auch der intellectuellen Entwickeluug geordnet werden müssen. 2) Dass Linne den Müttern als unabweisbare Pflicht ein- schärfte, ihre Kinder selbst zu stillen , wurde bereits erwähnt. Er fordert die Jugend auf, im Verlaufe ihrer Studienzeit körperliche Uebungen vorzunehmen, und hebt oft hervor, wie wichtig der Aufeut-

1) Im Brief vom 26. Oct. 1765, gedruckt in J. C. Scliiodte, Naturbisto- ri sk Tidskrift. III. 7, 3. Kopenhagen 1871, S. 474.

-) Fundamenta valetudinis (1756j. Diaeta per scalam aetatis bumanae ob- servanda (1764).

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halt in frischer Luft sei. Stillsitzende Personen leiden oft an Säure in den ersten Wegen und diese Säurebildung veranlasst G-ährung der genossenen Speisen, sie zerfrisst (rodit et vellicat) die festen Theile, krystallisirt leicht und bildet „in viscido concretiones tarta- reas", welche späterhin zu habitueller Obstruction, Hypochondrie, Gicht und manchen anderen Leiden den Grund legen. Das beste Mittel dagegen ist körperliche Bewegung bis zum Schweiss.^)

Der Nutzen geräumiger Wohnstätten und frischer, reiner Luft wird klar und überzeugend angedeutet, die Gefahr, in neu- erbaute Häuser allzu früh einzuziehen, betont und ebenso die Nach- theile der in damaliger Zeit allgemein gebräuchlichen Bestattungen in Kirchen hervorgehoben. 2) Wer seine Gesundheit bewahren will, muss nicht allein genau und sorgfältig die Luft , welche er einath- met, sondern auch die Speisen, die er geniesst, auswählen. Man darf daher nicht in zu niedrigen Zimmern schlafen oder in einer Luft sich aufhalten, die mit Nebeln, mit unreinen, verwesenden Stoffen und Ausdünstungen stehender Gewässer erfüllt ist.^) Es ist Sache der städtischen Behörden, dafür zu sorgen, dass unreine Stoffe jeglicher Art sorgfältig aus den Strassen entfernt werden. ') Die Winde spielen eine wichtige Rolle in Bezug auf die Reinigung der Luft, und es ist überhaupt lieilsam, solche Plätze zu bewohnen, zu denen die Sonne und die Winde Zutritt haben. Dort sind die Einwohner im allgemeinen gesund und kräftig, ebenso wie die Fische in Strö- men mit starkfliessendem Wasser kräftiger und wohlschmeckender werden.'^) Linn6 spricht den Gedanken aus, dass, da die Haut- ausdünstung von der verschiedenen Beschaffenheit der Luft abhän- gig ist , auch eine Menge krankhafter Störungen sowohl der festen,

') Motuspolychrestiis (17t)3). ^) Respinitio diiietetica (1772).

'») Aer habitabilis (1759). „Omno putriduin est septicum et coiTosivuni, ipsi veluti naturiie horrendum." ' *] Febris Upsaiiensis (1757). 5) Respiratio diaetetica (1772).

lljo't', Linnä ala Arzt. 7

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als der flüssigen Tlieile in dieser Luftconstitution ihren Ursprung haben.*) Bei trockener und kalter Luft entstehen entzündliche Krankheiten, wie Pleuritis, Peripneumonia, Angina, Rheumatismus. Bei trockener und wanner Luft zeigen sich Störungen in den Wegen der Galle, Cholera nostras, Dysenterie etc. ; bei feuchter und kalter Luft Husten, Erkältungen, katarrhale und intermittente Fieber und bei feuchter, warmer Luft Faulfieber. 2)

Was die Nahrungsmittel anbetrifft, warnte Linn6 vor dem Ge- brauch sowohl zu heisser wie zu kalter Getränke und Speisen. Diese sind heiss, sobald ihre Temperatur die Bluttemperatur bei einem gesunden Menschen, d. h. 37» C, übersteigt. Täglicher oder lange fortgesetzter Gebrauch von dergleichen Speisen oder Getränken ist in mehrfacher Beziehung schädlich, ebenso sind kalte, gefrorene Speisen und Getränke zu vermeiden. 3) Chocolade wird von Linne als ein kräftiges Nahrungsmittel gepriesen und nament- lich gegen allgemeine Magerkeit und Schwindsucht empfohlen. Auch bei Haemorrhoiden behauptet er diese mit vielem Erfolg an- gewandt zu haben *) . Thee soll nur für stai-ke Personen , nicht aber für magere sich eignen und „attenuans et exsiccans" wirken. Linne glaubte, die Theepflanze müsste im südlichen Schweden fort- kommen, und stellte viele Versuche zu diesem Zwecke an. Er schlug Gmelin in St. Petersburg vor , er möchte mit den aus China zurückkehrenden Karawanen Samen von dieser Pflanze zu erhalten suchen, und erzählt, welche Schmerigkeiten die Chinesen dagegen erhoben. Jedoch fand er bald, dass die Samen, in Folge ihres Reichthums an öligen Bestandtheilen, ihre Keimkraft nicht lange be- hielten. Osbeck nahm Theepflanzen aus China mit, ein auf der Rück- reise entstandener starker Sturm schleuderte aber am Cap der guten

') Dyscrasiae tarn fluidorum, quam solidorum a diversa aeris constitutione oriuntur."

-) De perspiratione insensibili (1775). ^) Circa fervidorura et gelidorum usum paraenesis (1765). De potu chocolatae (1765).

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Hoffnung dieselben ins Meer. Der Kommerzienrath Lagerström schickte an Linne zwei Sträucher , die er 'aus China erhalten und welche man für Theepfianzen hielt ; als aber die Bllithen sich zeig- ten, stellte es sich heraus, dass die Chinesen den Absender ge- täuscht hatten und dass die Bllithen einer Cameliaart angehörten. Schliesslich säete der Schiffscapitain CG. Ekeberg auf Linne's Auf- forderung Samen der Theepflanze aus ; diese keimten auf der Rück- reise imd blühten 1763 in dem botanischen Garten zu Upsala. Mit Entzücken ruft Linne aus, dass die Theepflanze nie früher in irgend einem der Gärten Europas gewachsen sei*), und hofft, er werde nunmehr ebenso allgemein wie der nahverwandte spanische Flieder cultivirt werden. 2)

In einer Abhandlung „Inebrianti a" (1762) schildert Linnö beredt die Wirkung der geistigen Getränke, sowie ihren Ein- flnss auf die Körper- und Geisteskräfte, und erhebt seine warnende Stimme gegen die Erniedrigung, welche der Gebrauch berauschen- der Getränke zur Folge hat. Sie werden verglichen mit dem Feuer, welches erquickt, wärmt, brennt und verzehrt. Als Folgen der Wirkung des Branntweins auf den Körper werden Verhärtungen in der Leber, der Milz, den Drüsen etc. angeführt. Wassersucht, Schwindsucht u. s. w. entstehen, nach seiner Ansicht, nicht selten durch Missbrauch von Branntwein. In der Beschreibung seiner Reise durch Schonen spricht Linnö sein Erstaunen darüber aus, dass Per- sonen , die sich dem Trünke ergeben , früh altern. Als diätetisches Mittel könne der Branntwein unter keiner Bedingung anempfohlen werden. Ein jedes Volk, das sich dem unmässigen Genuss dessel- ben ergiebt, wird schwach und elend. Wer diesen Feind des Volkes

') De potu Theae (1765). Linn6's Briefe Uber die Theepflanze an den C'apitän Ekeberg vom 23. Aug. und 17. Sept. 1763 sind verüfTentlicht in der Zeitung Stockholms Posten vom 14. Febr. 1813.

2) ,,Theam, demum post 17 frustra iterata tentamina vivam e China obtinui, quae procul dubio erit adeo frequens in Europaeorum hortis, ac unquam ejus popularis Syringa." Im Brief an A. J. Jacquin, dat. den 4. Jan. 1764.

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vertreiben könnte, bringt dem Vaterlando mehr Nutzen, als wer einen Aufruhr niederdrückt.') Dagegen redet Linne einem allge- meineren Gebrauch gutgebrauten Biers das Wort ; letzteres sei ein gesundes Getränk, dessen Zubereitung aber vieler Aufmerksamkeit bedarf. 2) ^

Diätetische Rathschläge über Brunnenkuren, Vielehe noch heutigen Tages befolgt werden, ertheilt Linn6 auf Grund der damals herrschenden Vorstellungen von den Wirkungen der Mineralwässer. Sie werden aufgefasst als Lösungsmittel einer Menge tiberflüssiger Salze im Körper, welche durch die Harnwege entfernt werden. Dem Eisen, welches in den meisten sog. Sauerbrunnen Schwedens vorkommt , misst er die Kraft bei , die Neigung zu Säurebildung, welche in erschlafften Geweben entsteht, zu verringern und den- selben ihren Tonus wiederzugeben. Beim Trinken des Brunnens ist die Diät und die Lebensweise in angemessener Art zu ordnen. Der Sommer ist die passendste Jahreszeit für Brunnenkuren , alte und sehr geschwächte Personen können das Wasser im Bett liegend trinken ; die Abendkälte und der Aufenthalt an seichten und stehen- den Gewässern sind zu vermeiden , der Schlaf darf nicht zu lange dauern und der Neigung dazu muss am Tage sorgfältig entgegen- gearbeitet werden. Saureu und fetten Speisen muss der Kranke entsagen, denn sie verhindern den Einfluss des Mineralwassers. Um alle Unannehmlichkeiten und Sorgen, die das häusliche Leben und die tägliche Arbeit mit sich bringen, zu vermeiden, muss die Brunnenkur, damit Besserung erfolgt, nicht zu Hause unternommen und jeglicher Briefwechsel vermieden werden. 3)

') Spiritus fi'umenti (1764).

-) Bemerkungen über Bier in den Akten der k. Akad. d. Wissensch. 1763, 52; aucli veröffentlicht in Stockholms Posten vom 4. Nov. 1786. Diaeta acidularis (1761).

Druck von brcitkopf <t- Uürtol in Leii)/.ig.