Ueber

die Krämpfe

in Folge

2

elektrischer Reizung der Grosshirnrinde.

IN AUGURAL -DISSERTATION,

WELCHE

ZUR ERLANGUNG DER DDCTDRWURDE

IN DER

MEDICIN UND CHIßUEGIE

MIT ZUSTIMMUNG

DER MEDICINISCHEN FACULTÄT

DER

FRIEDRICH -WILHELMS -UNIVERSITÄT ZU BERLIN

am 27. Juli 1885

NEBST DEN ANGEFÜGTEN THESEN

ÖFFENTLICH VERTU EILIGEN WIRD

DER VERFASSER

Theodor Ziehen

aus Frankfurt a. M.

OPPONENTEN :

Herr Dr. med. H. Virchow. Cand. med. Schüek. Cand. med. Vowinckel.

BERLIN.

Buchdruckerei von Gustav Schade (Otto Francke). Linienstr. 158.

Dem

Andenken seiner Eltern

in Liebe und Dankbarkeit

gewidmet

von dem

Verfasser.

Seitdem Fritsch und Hitzig1) im Jahre 1870 bei faradischer Reizung des Hundegrosshirns erst lokale Krämpfe der abhängigen Muskulatur, dann allgemeine vom Charakter der epileptischen beobachtet hatten, ist über die Ursprungsstätte dieser als epileptisch bezeich- neten Krämpfe viel gestritten worden. Die meisten For- scher nahmen an, die elektrische Reizung der Rinde wirke nur durch Vermittlung niederer Nervencentren, so Franck nnd Pitres, Albertoni und viele andere, neuer- dings auch Goltz. Wo diese niederen Nervencentren lägen, darüber waren die Forscher nicht einig. Alber- toni dachte an das Rückenmark, Nothnagel an die Brücke. Dem gegenüber suchten namentlich Luciani, Wernicke und Unverricht den kortikalen Ursprung jener Krämpfe zu erweisen. Ja Luciani2) ging so weit zu be- haupten, auch jeder epileptische Krampf beim Menschen, nicht nur der experimentell beim Hund ex-zeugte, sei kor- tikalen Ursprungs. Eine vermittelnde Stellung nahmen Bubnoff und Heidenhain3) ein, nach ihnen sollte der erste Ausgangspunkt der motorischen Erregung die Rinde

J) Arch. f. Anatomie u. Physiologie von Reichert u. du Bois- Reymond, 1870.

2) Sulla patogenesi dell’ epilessia, Communicazione del Prof. Luigi Luciani-Milano 1881. S. 23.

3) Ueber Erregungs- und Hemmungsvorgänge innerhalb der motorischen Hirncentren. Pflüger’s Archiv 1881.

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sein, schliesslich sollten aber auch subkortikale, motorische Apparate in selbstständige Erregung gerathen. Einen Unterschied zwischen der auf ersterem und der auf letz- terem Wege zu Stande kommenden Bewegung statuirten sie nicht.

Hier setzen meine im Herbst vorigen Jahres auf Anregung des Herrn Prof. Munk in seinem Labora- torium begonnenen Versuche ein. Sie ergaben, wie ich gleich bemerken will, Folgendes: Der Gesammteffekt

der elektrischen Reizung der Rinde ist ein klonischtoni- scher Krampf. In der That gerathen auch niedere, nicht- kortikale motorische Centren in selbständige Erregung, aber der Effekt dieser Erregung ist der tonische4) Teil des Krampfes, während die kortikale Erregung den klo- nischen Teil desselben bedingt! Die Gesammtbewegung setzt sich also aus diesen beiden Komponenten zusam- men; für die eine ist die Ursache in der Rinde, für die andre nicht in der Rinde zu suchen. Den Nachweis hierfür will ich im Folgenden führen.

I.

Beobachten wir zunächst einen Krampfanfall in Folge von elektrischer Reizung der Rinde bei einem Rollenabstand von etwa 130 mm5). Bei so schwachen,

4) Ich möchte im Folgenden stets unter klonischem Krampf den Wechsel von Erschlaffung und Contraction, unter tonischem Krampf aber den dauernden Tetanus von Muskeln verstehen. Die Lauf- oder Stampfbewegungen rechne ich weder zum einen noch zum andern. Ferner sei unter Reizung immer die Einwirkung der elek- trischen Ströme, unter Erregung der konsekutive Vorgang in den nervösen Elementen verstanden.

5) Ueber die Versuchsmethode sei kurz Folgendes bemerkt: Etwa eine halbe Stunde vor der Operation wurden dem Hund je nach seiner Grösse 0,06 0,12 g Morphium eingespritzt. Während der Operation wurde das Tier mit Aether betäubt, nach derselben

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reizenden Inductionsströmen ist der Krampf ein rein-klo- nischer. Von tonischen Bewegungen ist nichts zu be- merken. Abzuschliessen pflegt der Krampf mit einigen Laufbewegungen.

Sind die Rollen auf etwa 90 mm genähert, so ist das Bild des Krampfes ein anderes. Unter die rasch auf einander folgenden klonischen Kontraktionen mischt sich dann und wann ein kurzdauernder Tonus bald dieser, bald jener Muskeln, vor allem derjenigen, deren Region ge- reizt wurde. Damit ist ein neues Element in den Krampf eingetreten. Während er bei schwachen Strömen rein- klonisch war, ist er jetzt bei mittelstarken klonisch- tonisch geworden. Die Laufbewegungen am Schluss des Krampfes sind häufiger und stärker geworden. Die Hauptsache aber ist, dass der Krampf jetzt aus zwei Komponenten, einer klonischen und einer tonischen, be- steht. — Wie verhalten sich diese nun bei weiterer Ver- stärkung der Ströme? Je mehr die Rollen einander ge- nähert sind, um so mehr überwiegt das tonische Element. Der viele Sekunden dauernde Tetanus wird jetzt nur dann und wann von vereinzelten klonischen Zuckungen unterbrochen. Mehr und mehr überwiegt die tonische Komponente, mehr and mehr wird die klonische ver- deckt, wenn sie auch beim stärksten Strom nicht ganz verschwindet.

Charakteristisch ist auch für den tonischen Krampf sein relativ rasches Aufhören nach Beendigung der Rei- zung. Laufbewegungen treten, wenn die Ströme sehr

stets- zuerst die Wiederkehr der Reflexe abgewartet. Der Reizung ging stets die Bestimmung der Grenzen der einzelnen Rindenregionen voran. Dies ist durchaus erforderlich, da die Gruppierung der Re- gionen sehr variiert. Gereizt wurde stets mit den Strömen eines du Bois-Reymond’schen Schlitteninduktoriums.

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stark sind, nun zuweilen auch während des Krampfes, nicht nur zum Schlüsse auf.

Das Resultat dieser einfachen Versuchsreihe ist also: schwache reizende Ströme haben nur klonischen Krampf, mittelstarke klonisch-tonischen Krampf, starke Ströme überwiegend tonischen Krampf zur Folge. Diese Un- gleichzeitigkeit des Auftretens des klonischen und toni- schen Krampfelements deutet darauf, dass die Ursprungs- stätte für die klonischen Bewegungen eine andre ist als die für die tonischen. Wo sind aber diese Ursprungs- stätten? Und ist eine derselben vielleicht die Rinde?

II.

Die schon früher oft angewandte Exstirpationsme- thode musste hierauf klare Antwort geben. Sehen wir z. B. zu, was vom Krampf im rechten Vorderbein übrig bleibt, wenn die linke Vorderbeinregion exstirpiert ist.

Ich habe mehr als ein Dutzend solcher Versuche gemacht, die Reizung fand bald auf der Seite der Ex- stirpation bald auf der andern statt. Das Resultat war stets das gleiche. Bei schwachen, reizenden Strömen trat das Vorderbein überhaupt gar nicht in den Krampf ein, bei mittelstarken beteiligte es sich mit leichtem, bald nachlassendem bald sich verstärkendem Tonus, bei starken Strömen zeigte es denselben Tetanus wie die andern Extremitäten. Nie aber wurde ein klonischer Krampf in einem Glied, dessen Rindenregion exstirpiert war, bemerkt, sondern stets nur bei einer gewissen Strom- stärke ein rein-tonischer Krampf. Derselbe begann stets dann, wenn auch in den Krampf der übrigen Extremi- täten das tonische Element eintrat.

Daraus folgt ganz unzweideutig, dass die Ursprungs- stätte der klonischen Bewegung die Rinde ist, hingegen die Ursprungsstätte der tonischen Bewegung in niederen

i>

motorischen Centren liegt. Mit der Wegnahme einer Rindenregion schwindet die klonische Komponente im Krampf der abhängigen Muskulatur, die tonische bleibt. Die erstere kann man also auch als die kortikale, die letztere als die nicht-kortikale bezeichnen.

Damit wird uns auch der oben geschilderte Verlauf des Krampfes bei Reizung der intakten Rinde klar. Bei schwachen reizenden Strömen sahen wir nur klonischen Krampf. Hier ist also offenbar nur die Rinde in der zur Erzeugung eines Krampfes erforderlichen Erregung, denn ebenso wie die klonischen Zuckungen mit der Rinde schwinden, bringt auch sie nur klonische Zuckungen her- vor. Bei stärkeren Strömen sahen wir den Krampf aus Klonus und Tonus sich mischen. Jetzt müssen also auch niedere Centren den erforderlichen Grad der Erre- gung erlangt haben; diese Erregung niederer Centren bringt ja eben den tonischen Teil des Krampfes hervor. Bei weiterer Verstärkung der reizenden Ströme verdeckte der Tetanus schliesslich die klonischen Zuckungen fast ganz. Während also die Rindenerregung zwar früher zu ihren klonischen Krämpfen führt, steigt sie doch nicht über einen gewissen Grad an, mag man auch die Ströme verstärken. Der von niederen Centren ausgelöste toni- sche Teil des Krampfes hingegen beginnt später, nimmt aber auch länger zu mit zunehmender Stromstärke. Die Rinde als erregbarer erreicht früher den zur Krampfer- zeugung erforderlichen Grad der Erregung und erreicht früher das Maximum der Erregung, die weniger erregbaren niederen Centren erreichen erst später den erforderlichen Grad der Erregung und erreichen später das Maximum derselben. Daher erst Klonus, dann Klonus-Tonus und schliesslich den Klonus verdeckender Tonus. Kortikal beginnt der Krampf, mit überwiegend nicht-kortikalen Elementen endet er. Doch will ich bemerken, dass mit

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Nachlass eines überwiegend tonischen Krampfes nicht selten, wie schon Bubnoff und Heidenhain6) beobachtet haben, der klonische Krampf wieder deutlicher hervor- tritt und kurze Zeit nachdauert. Wie jeder Klonus kommt auch dieser nie vor bei einem Glied, dessen Rindenregion exstirpiert ist.

Aber noch eine Folgerung ergiebt sich sofort aus unsern Exstirpationsversuchen. Die Verbreitung der zu klonischen Krampf führenden Erregung muss irt der Rinde stattfinden, die Verbreitung der zu tonischem Krampf führenden Erregung in niederen Centren. Man müsste ja sonst annehmen, dass die klonische Erregung von der Rindenregion a z. B. zuerst in den Pons herabsteige und dann wieder zur Rindenregion b aufsteige. Dies geschieht nicht, sondern die klonische oder, was nach dem Obigen dasselbe ist, die kortikale Erregung schlägt den kürzesten Weg ein, um von der Rindenregion a nach der Rindenregion b zu gelangen. Diesen repräsentiren aber die Rindenassociationsfasern und, wo es sich um den Weg von der Rinde rechts zur Rinde links handelt, die Kommissurfasern des Balkens. Umgekehrt muss die Verbreitung der tonischen, nicht-kortikalen Erregung, z. B. von Hinterbeinganglien zu Vorderbeinganglien, eben weil sie nicht-kortikal ist, auch in tieferen Regionen, nicht in der Rinde stattfinden.

Zwei Bemerkungen muss ich übrigens noch zu den geschilderten Exstirpationsversuchen machen. Erstens muss die Exstirpation vollständig sein. Leicht bleibt im Grunde einer Furche etwas Rinde zurück. Hierauf muss ich auch Unverrichts7) den meinigen widersprechende Beobachtungen zurückführen, wonach auch Zuckungen

6) 1. c. S. 170.

7) Archiv für Psych. XIV.

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von ihm nicht sehr zutreffender Weise als Mitbewegun- gen bezeichnet in den ihrer Rindenregion beraubten Muskeln eingetreten seien. Auch die Grenzen der ein- zelnen Regionen variiren sehr. Nicht selten sah ich nach einer vermeintlich vollkommenen Exstirpation z. B. der Vorderbeinregion noch schwache klonische Zuckun- gen fortbestehen. Ich reizte die Umgebung der exstir- pierten Stelle mit schwächsten Strömen und erhielt in der That noch Zuckungen des Vorderbeins. Also war die Exstirpation unvollkommen gewesen. Nun vervoll- kommnete ich dieselbe, und stets blieb, wenn ich als- dann einen Krampf erregte, das Vorderbein ruhig oder zeigte bei stärkeren Strömen nur Tonus, nie Klonus. Dass man diese Versuche nicht an doppelseitig inner- vierten Muskeln machen darf oder in solchem Falle beide Regionen, rechts und links, erstirpieren müsste, versteht sich von selbst. Die Region des M. orbicularis oculi ist zur Exstirpation nicht zu empfehlen, weil letztere schwer vollständig gelingt. Die Region reicht nämlich noch hinter die grosse Pia-Vene, man muss also diese verletzen. Gelingt die Exstirpation, so ist das gekreuzte Auge völlig ruhig, weit geöffnet oder fest zugekniffen 8).

Meine zweite Bemerkung bezieht sich auf das Ver- halten der Laufbewegungen z. B. des Hinterbeins nach Exstirpation der Hinterbeinregion : Dieselben bleiben, wie meine Versuche lehren, nach Rindenexstirpation noch bestehen, haben also, wie der tonische Teil der Krämpfe, ihren Ursprung in niederen, motorischen Centren.

8) In zwei Füllen (unter mehr als einem Dutzend) gelang es nicht die Zuckungen des Auges völlig auszuschalten. Die schwächsten Ströme lösten hier auch von der Sehsphäre (nicht von der Vorder- beinregion) Zuckungen aus.

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III.

Die eben geschilderten Exstirpationsversuche enthalten den grundlegenden Beweis unserer Thesen. Indes ist es mir gelungen, diesen Beweis noch durch drei andere Versuchsreihen zu verstärken.

Ich wende mich zunächst zu einem interessanten Versuch, auf den Herr Prof. Munk mich aufmerksam machte. Sei A die Region des M. orbicularis oculi, B die Ohrregion, C die Halsregion, D die Vorderbein-,

ABC D E

E die Hinterbeinregion. Ferner seien A' B' C' D' E' tiefer gelegene motorische Centren für dieselben respek- tiven Muskelgruppen, und diese Muskelgruppen selbst mögen mit a b c d e bezeichnet sein. In A werde ge- reizt, bis nacheinander die Muskelgruppen a, b, c in Krampf gerathen. Hört man nun auf zu reizen, so geht der Krampf auf die Muskelgruppen d und e und schliesslich auf die andere Körperhälfte über. Hier er- hebt sich nun die Frage: wie ist die Erregung z. B. zur Muskelgruppe d gelangt, auf dem Weg A A' B' C

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D' d oder auf den Weg A B C D d? Unsere Exstir- pationsversuche gaben uns schon klare Antwort. Der klonische Krampf von d wurde durch Exstirpation von D gehindert, D muss also auf dem Weg, den die klonische Erregung durchläuft, liegen. Also schlägt diese nicht den Weg A A' B' C' D' d ein, sondern den Weg A B C D d d. h. die klonische Erregung verbreitet sich kortikal. Umgekehrt beeinflusst Exstirpation von D den tonischen Krampf von d nicht, also kann D nicht auf der Bahn der tonischen Erregung liegen , diese schlägt also den Weg A A' B' C' D' d ein, d. h. die tonische Erregung verbreitet sich in tieferen Centren. Dies ist der einfache Ausdruck der oben geschilderten Versuche. Nun kann ich jedoch gewissermaassen dies Resultat noch einmal auf die Probe stellen und ergänzen. In A sei gereizt, bis a, b, c in Krämpfe gerathen waren. Verbreitet sich nnn der Krampf kortikal, so muss A, der Ort des Reizes, zugleich der Ort sein, von dem den Regionen D und E die nöthige Erregung zufliesst, so dass auch nach Aufhören der Reizung die von D u. E abhängigen Muskelgruppen d und e noch in Krampf ge- rathen. Es muss also für den klonischen Krampf gleich- sam eine Aufspeicherung der Erregung in A stattfinden, und nicht darf alle Erregung sofort nach A' abfliessen, um sich vielleicht dort aufzuspeichern. Dies würde nicht zur kortikalen Verbreitung des klonischen Krampfes stimmen. Diese erheischt, dass z. B. D seine Erregung von A bezieht.

Habe ich also mehrmals konstatiert, dass bei Reizung von A a, b und c in klonischen Krampf gerathen, und nach Aufhören der Reizung auch noch auf d und e der klonische Krampf übergeht, und reize ich dann A in einem neuen Versuche wieder, bis a, b und c klonisch zucken, exstirpiere nun aber rasch A, so beraube ich

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D der Quelle, die ihm Erregung auch nach Auf hören der Reizung zuführt, die Muskelgruppend und e dürfen also dann nicht mehr in klonischen Krampf gerathen. Gerathen sie doch in einen solchen, so fand die Er- regungsanhäufung nicht in A, sondern in A' statt, die klonische Erregung konnte sich also auch nicht kortikal verbreitet haben, und unsere ersten Versuche würden falsch gewesen sein.

Alle Versuche lehrten mich nun aber, dass in der That die Muskelgruppen d und e, die sonst nach Auf- kören der Reizung noch nachträglich in klonischen Krampf eingetreten waren, dies nicht mehr thaten, wenn sofort nach Auf hören der Reizung die gereizte Region A exstirpiert wurde. Aus dieser floss also den Regionen D und E die Erregung zu.

Der Versuch, indem er A und nicht das subkor- tikale A' als Erregungsreservoir nachweist, stimmt also aufs Beste mit unserer Behauptung, die klonische Er- regung verbreite sich kortikal, überein. Unsere Exstir- pationsversuche lehrten, die klonische Erregung passiert B, C, D, etc., der eben geschilderte Versuch zeigt er- gänzend A als den Ort, der B, C, D etc. speist.

Was die Ausführung des Versuches anlangt, musste zunächst eine Reihe von Muskelgruppen gefunden werden entsprechend unsern Bezeichnungen a b c d e, die in sehr konstanter Reihenfolge in Krämpfe verfallen. Am zweckmässigsten erwies sich mir die Reihe: orbicularis oculi, Ohrmuskeln, Platysma, Vorderbeinmuskeln, Hinter- beinmuskeln9).

Zuweilen tritt das Platysma vor oder zugleich mit dem Ohr in den Krampf ein. Ein leichtes Flimmern der Schultermuskeln deutet den Beginn des Vorderbein- krampfes an.

9) DieFacialismuskulatur des Mundes etc. wurde selten beobachtet nm die Aufmerksamkeit nicht zu zersplittern.

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Es wurde nun mehrmals an einem und demselben Tier die Region des m. orbicular. oculi bei demselben Rollenabstande gereizt, dann stets im gleichen Zeitpunkt bei dem einen Hund, wenn das Ohr, bei dem andern, wenn das Platysma zuckte, etc. mit der Reizung auf- gehört und das Fortschreiten des Krampfes auf Vorder- bein und Hinterbein, oft auch der Uebergang auf die andere Körperseite konstatiert.

Nach mehrmaligem identischen Verlauf wurde wieder bei demselben Rollen abstande gereizt, im gleichen Zeit- punkt die Reizung unterbrochen, nun aber rasch die ge- reizte Region des Orbicularis oculi exstirpiert.

Um hierfür die erforderliche Zeit zu gewinnen, muss man von vorne herein durch Benutzung möglichst schwacher Ströme sich einen möglichst langsamen Ab- lauf des Krampfes gesichert haben.

Das Resultat aller meiner Versuche war, dass nach Exstirpation der Krampf, soweit er klonisch war, ent- weder gar nicht weiter ging oder höchstens noch das Vorderbein ergriff. Letzteres trat ein, wenn die Exstir- pation nicht rasch genug ausgeführt resp. der Krampf nicht genugsam verlangsamt werden konnte.

Laufbewegungen oder tetanische Contraktionen des Hinterbeins und Vorderbeins wurden selten, im Ganzen zweimal, beobachtet. Es ist dies ja auch begreiflich, da, wie gesagt, mit schwachen Strömen operiert werden musste, bei welchen das tonische Element des Krampfes noch sehr zurücktritt.

Eine Vorbedingung des Versuchs ist natürlich, dass das Tier sich noch nicht im status epilepticus befinde, d. h. noch nicht spontane, von einer andern als der ge- reizten Region ausgehende Krämpfe auftreten. Ich möchte nämlich nicht schon dann von status epilepticus reden, wenn zwar spontane Krämpfe eintreten, dieselben aber

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noch immer in den Muskeln der gereizten Region be- ginnen und in typischer Reihenfolge verlaufen. Erst wenn die ganze Rinde dermassen hoch erregt ist, dass bald hier, bald dort oder fast in allen Muskeln zugleich ein Krampf beginnt, besteht ein status epilepticus.

Gerade zwei Versuche, 'wo nach Auslösung einiger Krämpfe vom Auge aus nun spontane, mit Augenschluss beginnende Krämpfe mit konstanter, typischer Reihen- folge der Muskeln eintraten, waren sehr instruktiv. Da hier offenbar das zur Krampferzeugung eben ausreichende Erregungsminimum vorlag, verliefen die Krämpfe sehr langsam. Beim dritten derartigen spontanen Krampf wurde die Augenschlussregion, als das Platysma zuckte, exstirpiert. Der Krampf stand absolut still und ging nicht weiter: Hals und Ohr, die bereits in den Krampf eingetreten waren, zuckten fort, das Auge freilich auch noch ein wenig. Bei der erforderlichen Eile ist es eben schwer von der Augenschlussregion nichts stehen zu lassen. Auch wurde durch Nachexstirpationen bei den späteren Krämpfen der Orbicularis oculi völlig ausge- schaltet. Das Stillstehen des Krampfes in diesen beiden Fällen scheint mir einmal nebenbei bemerkt für meine engere Definition des status epilepticus zu sprechen, vor allem aber liefert es einen neuen Beweis für die Anhäufung der Erregung in der gereizten Rindenregion, dem Centrum A unseres Schemas.

Der Uebergang auf die andere Körperseite fällt, wenn er bei den ersten Reizungen da war, gleichfalls weg, wenn der Reizung die Exstirpation nachfolgte. Doch muss ich bemerken, dass in zwei Fällen links war die Region des orbicularis oculi gereizt woiden Vorderbein und Hinterbein der rechten Seite nach Exstirpation der Augenschlussregion völlig ruhten, aber die linke Körperhälfte doch von Krämpfen befallen

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wurde, ohne dass diese etwa rein tonisch gewesen wären. Ja eher waren diese Krämpfe links nun etwas stärker als vor der Exstirpation. Dies seltsame Faktum möchte ich mit einem andern zusammenstellen, wo nach Exstir- pation der Hinterbeinregion während eines allgemeinen Krampfes das Hinterbein absolut ruhte, hingegen der Krampf der übrigen Musculatur sich bedeutend ver- stärkte. Auch sei bemerkt, dass in diesen beiden Ver- suchen die Rollen bis auf 80 mm hatten genähert werden müssen.

In allen andern Fällen blieb der Uebergang, wenn er vorher dagewesen war, nach der Exstirpation weg.

Das Resultat unsrer bisher geschilderten Versuche ist also, dass Anhäufung wie Verbreitung der klonischen Erregung in der Rinde stattfinden.

IV.

Auf dies Ergebnis konnten wir noch eine weitere Probe machen. Die anatomische Anordnung der Rinden- regionen A, B, C u. s. w. kennen wir. Für den klonischen Krampf muss daher, wenn er, wie behauptet, kortikalen Ursprungs ist, die Reihenfolge, in welcher die Muskeln in den klonischen Krampf eintreten, der anatomischen Anordnung der Rindenregionen entsprechen ; kurz gesagt, wenn kortikaler Ursprung, dann nothwendig der Rinde entsprechende Reihenfolge. Aber das Umgekehrte gilt nicht, der Rindenanordnung entsprechende Reihenfolge beweist nicht kortikalen Ursprung; es könnte ja die An- ordnung der niederen Centren A' B' C' genau dieselbe sein wie die der kortikalen Regionen ABC. Die Reihenfolge der niederen Centren ist uns nämlich völlig unbekannt. Der sogenannte typische, der Anordnung der Rindenregionen entsprechende Ablauf des Krampfes beweist also zunächst gar nichts für kortikalen Ursprung.

z 2

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Ersterer muss stattfinden, wenn letzterer behauptet wird, aber ersterer beweist nicht letzteren.

Ich will zunächst erwähnen, dass für den klonischen Teil des Krampfes dies Postulat erfüllt ist: die Reihen- folge, in der die Muskeln a b c (am besten M. orbicu- laris oculi, Vorderbein, Hinterbein) in klonischen Krampf eintreten, entspricht thatsächlich der Rindenanordnung ABC, widerspricht also kortikalem Ursprung des klo- nischen Krampfes nicht, kann ihn aber auch nicht be- weisen.

Und doch, behaupte ich nun, lässt sich aus der Reihenfolge des klonischen Krampfes ein positiver Beweis für seinen kortikalen Ursprung mit grosser Wahrschein- lichkeit ziehen, und zwar auf folgendem Wege.

Nach unserer obigen Erörterung scheiterte der Beweis daran, dass ja die Krampffolge a, b, c auch der Folge der tiefen Centren A' B' C', von der wir nicht wissen, ob sie besteht oder nicht, entsprechen konnte. Nun be- steht aber diese Folge A' B' C' der tiefen Centren nicht; denn der tonische Krampf verläuft nicht in der Folge a, b, c. Diese Reihenfolge des tonischen Krampfes, mag sie nun stets oder zuweilen Vorkommen, ist mit korti- kalem Ursprung unvereinbar. Also muss der Ursprung der tonischen Krampfkomponente in tieferen Centren liegen, und bei diesen kann nicht die Reihenfolge A' B' C' bestehen, sondern hier besteht wahrscheinlich die Folge A' C' B'. Wenn dies aber der Fall ist, so lässt sich die der Rindenanordnung entsprechende Reihen- folge des klonischen Krampfes nicht mehr aus der Folge tieferer Centren ableiten die hierzu erforderliche Folge A' B' C' besteht ja nicht sondern nur aus der Anordnung der Rindenregionen. Damit ist nun auch der kortikale Ursprung des klonischen Krampfanteils bewiesen. Kurz resümiert, ergiebt sich: der tonische

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Krampf hat oder kann haben die Folge a, c, b. Er muss daher tiefen Centren entspringen, und diese müssen die Folge A' C' B' aufweisen, keinesfalls die Folge A' B' C'. Der klonische Krampf hat die Folge a, b, c; er kann also nicht den tiefen Centren entspringen, sondern nur man müsste denn unwahrscheinlicher- weise zwei tiefe motorische Apparate annehmen der Rinde, deren Regionen, wie wir wissen, die Folge ABC aufweisen. Unser Beweis gipfelt also darin, dass eine der kortikalen Anordnung der Regionen widersprechende Reihenfolge im klonischen Krampf nie vorkommt. Positiv beweisende Kraft erhält derselbe dadurch, dass der tonische Krampf nicht dieselbe Reihenfolge wie der klonische, sondern oft eine mit kortikalem Ursprung unverträgliche zeigt.

Für das Experiment galt es also zunächst zu ver- suchen, ob sich jemals eine mit der Rindenanordnung ab- solut unverträgliche Reihenfolge des klonischen Krampfes hersteilen lasse. Als eine solche wäre vor Allem die Folge: orbicularis oculi, Plinterbein, Vorderbein zu betrachten. Diese Folge ist für einen kortikalen Krampf absolut un- möglich; denn stets liegt die Vorderbeinregion zwischen der Region des orbicularis oris und der des Hinterbeins. Kommt nun diese Reihenfolge je vor? Ich habe un- zählige Male vom Auge aus einen Krampf erzeugt, und so lange derselbe klonischen Charakter trug und sich auf die gekreuzte Körperhälfte beschränkte, habe ich diese Reihenfolge nie beobachtet. Tonische Krämpfe, sowie Laufbewegungen zeigten mir oft jene den kortikalen Ursprung ausschliessende Reihenfolge; häufiger ist frei- lich hier vielleicht weil die niederen Centren auf einen kleineren Querschnitt zusammengedrängt sind, der fast gleichzeitige Eintritt des Krampfes an mehreren Gliedern , die bei^ klonischem Krampf regelmässige

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Reihenfolge scheint sich dann und wann, aber sehr selten zu finden. Jedenfalls geht aus diesen Ver- suchen hervor: der tonische Krampf, da er auch die Folge orbicularis oculi, Hinterbein, Vorderbein zeigt, kann nicht kortikalen Ursprungs sein, der klonische Krampf, da er diese Reihenfolge nie zeigt, sondern stets die zu erwartende (orbicularis oculi, Vorderbein, Hinter- bein), muss kortikalen Ursprungs sejn. Der letztere Schluss gilt sogar a fortiori, indem die Erregbarkeit der Vorderbeinregion etwas hinter der der Hinterbein- region zurücksteht, eventuell also selbst die Folge: orbi- cularis oculi, Hinterbein, Vorderbein im klonischen Krampf sich doch noch mit kortikalem Ursprung hätte vereinigen lassen. Wenn nun trotzdem diese Reihen- folge nie vorkommt, so dürfen wir mit um so grösserem Recht auf kortikalen Ursprung des klonischen Krampfes schliessen.

Freilich liesse sich nun einwenden: wenn eventuell auch die Folge: orbicularis oculi, Hinterbein, Vorder- bein sich mit kortikalem Urspruug vereinigen lasse, so hätten wir diesen oben fälschlich für den tonischen Krampf ausgeschlossen.

Indes dieser Einwand ist nichtig; gerade das Bei- spiel des klonischen Krampfes beweist uns, dass der Erregbarkeitsunterschied der beiden Regionen zu gering ist, um den Unterschied der Entfernung von der Region des orbicularis oculi auszugleichen. Nach den Unter- suchungen des Herrn Prof. Munk10) erhält man nämlich von der Hinterbeinregion aus Bewegungen des Hinter- beins bei etwa 12 cm Rollenabstand, von der Vorder- beinregion aus Bewegungen des Vorderbeins bei 10 12 cm

,0) Sitzungsber. d. kön. preuss. Akademie d. Wiss. zu Berlin. 1882 20. Juli.

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Rollenabstand. Ich kann nur bestätigen, dass gewöhn- lich der schwächste Strom, der eine Zuckung des Hinter- beins auslöst, bereits auch eine solche des Vorderbeins auslöst.

Ich muss also daran festhalten, dass auch die Reihen- folge des Krampfes den kortikalen Ursprung des kloni- schen, den nicht-kortikalen des tonischen darthut.

Im Uebrigen sei Folgendes zur Reihenfolge des Krampfes bemerkt. Da die Lage, Grösse und Erregbar- keit der Regionen bei den einzelnen Hunden sehr variiert, darf man nicht bei jedem Hund denselben Krampfablauf erwarten. Dass z. B. die Nackenmuskulatur oft später, als nach der anatomischen Lage ihrer Region zu erwarten wäre, in den Krampf eintritt, liegt an der meist sehr ge- ringen Erregbarkeit derselben.

Was den Uebergang auf die andre Körperhälfte anlangt, so kann ich Unverrichts Behauptung nicht bei- pflichten, wonach der Uebergang stets mit dem Hinter- bein beginnen soll. Dass derselbe oft so beginnt, könnte sich aus der medialen Lage der Hinterbeinregion erklären. Wenn ich indess den Krampf von der Region des orbi- cularis oculi aus erzeugte, so geschah der Uebergang weit öfter zunächst auf Facialismuskulatur der andern Seite.

Sehr oft begann der Krampf der andern Körperhälfte mit Augenschluss, sehr oft mit Lippenzuckungen. Zu- weilen sah ich sogar das Vorderbein hier dem LIinterbein vorangehen. Oefter folgte dem Krampf der Facialis- muskulatur fast gleichzeitig der des Vorderbeins und des Hinterbeins, oder ebenso oft ging der Krampf des Hinter- beins dem des Vorderbeins noch ein wenig voraus. Alles dies gilt nur vom klonischen Krampf.

Wir finden also, wenn links gereizt wurde, erstens grosse Variabilität des sekundären Krampfes der linken

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Körperhälfte und zweitens oft eine Reihenfolge, die wir bei dem Krampf der gekreuzten Körperhälfte als ab- solut unverträglich mit kortikalem Ursprung bezeichneten. Beides aber widerspricht einer kortikalen Verbreitung der krampferzeugenden Erregung auch in der nicht- gereizten Hemisphäre nicht und zwar aus folgenden Gründen.

Bei der kortikalen Verbreitung kann der Uebergang auf die andre Hemisphäre an verschiedenen Stellen des Balkens zugleich stattfinden.

Die linke Facialisregion F sei gereizt. Die Erregung läuft von hier einmal über die linke Vorderbeinregion V zur linken Hinterbeinregion H, andrerseits aber auch auf direkten Commissurbahnen durch den Balken zur rechten Facialisregion Fr. Es ist sehr wohl denkbar*, dass der letztere Weg oft kürzer ist als der erstere, welcher einen Aufenthalt in den Ganglienzellen von V findet. In der That ist es auch gar nicht selten, dass die Facialismuskulatur links schon zuckt, wenn das rechte Hinterbein oder selbst das rechte Vorderbein noch still ist. Doch kann ich nicht sagen, dass diese Interpolation von Krämpfen links- seitiger Muskeln in den rechtsseitigen Krampf so häufig ist, wie Bubnoff und Heidenhain dies behaupten.

Hat die Erregung die linke Vorderbeinregion V er- reicht, so ist der Weg von V über H zur rechten Hinter- beinregion Hr ungefähr ebenso lang wie der direkte Weg von V durch Commissui’enfasern zur rechten Vorder- beinregion Vr, wenn man den Aufenthalt in Ganglien- zellen auf ersterem Wege in Anschlag bringt. Daher werden das linke Vorderbein und das linke Hinterbein bald gleichzeitig bald dieses bald jenes etwas früher in den Krampf eintreten.

Damit stimmen nun unsre Beobachtungen aufs Ge- nauste überein. Gross ist die Pause zwischen linkem

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Hinterbein- und linkem Vorderbeinkrampf nie, ja oft be- ginnen beide gleichzeitig. Die atypische Reihenfolge des Krampfes in der linksseitigen Körpermuskulatur sowie die ganze Variabilität des übergegangenen Krampfes, an der ich Unverricht gegenüber festhalten muss, wird so verständlich und erweist sich als verträglich mit kortikaler Verbreitung der Erregung.

Sehr bezeichnend ist aber folgende, mehrfache Beob- achtung. Links wurde die Augenschlussregion gereizt. Rechts verlief der Krampf typisch, ergriff dann die linke Seite und verlief hier variabel und atypisch. Kurze Zeit war der Krampf allgemein, dann legte er sich vollständig. Einige Sekunden danach begann ein neuer Krampf im linken Auge. Ein solcher nach Unverrichts Bezeich- nung „oscillierender“ Krampf verlief nun stets links in typischer, kortikaler Reihenfolge, dagegen rechts in atypischer, der Lage der Rindenregionen nicht ent- sprechender Weise. Alles hatte sich umgekehrt.

Erst der Uebergang der Erregung auf die andre Hemisphäre also bringt in den Ablauf des Krampfes jene Unordnung, und die unregelmässige Verbreitung des übergegangenen klonischen Krampfes ist mit kortikalem Ursprung desselben wohl verträglich. Aus derselben kann also kein Einwand gegen den behaupteten kortikalen Charakter des klonischen Krampfes abgeleitet werden, während das Fehlen dieser unregelmässigen Verbreitung bei dem rechtsseitigen klonischen Krampf den kortikalen Charakter des klonischen Krampfes nun erst recht beweist.

V.

Eine neue Möglichkeit unsre Behauptung, den Ur- sprung des klonischen und des tonischen Krampfes be- treffend zu erweisen, schien mir die Markreizung darzu-

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bieten, die schon oft zur Aufhellung dieser Fragen hin- zugezogen worden war. Wenn wirklich, wie die obigen Versuche es zeigten, der Charakter der von tiefen Centren ausgelösten Bewegungen sich unterscheidet von dem der Rindenbewegungen, so bot Reizung des Marks den besten Vergleich. Denn eine solche betrifft ja für die Mus- keln der exstirpierten Region nur die tiefen Centren, die übrigen Muskeln werden aber auf dem Wege der Associationsfasern zum Mindesten auch von der Rinde aus in Krampf versetzt.

Es ist oft behauptet worden, vom Mark aus Hessen sich keine Krämpfe erzeugen. Nicht scheint mir auch freilich die Existenz von Markkrämpfen durch V ulpians lI) neuerdings veröffentlichte Versuche erwiesen zu sein, in denen er die Rinde nicht durch Exstirpation, sondern durch Anwendung besondrer Elektroden oder Gefrieren- lassen der Rinde mittelst Methylchlorür ausgeschaltet zu haben glaubt. Dagegen haben schon Bubnoff und Heidenhain die Existenz von Markkrämpfen nachgewiesen.

Ich habe nur die Exstirpation angewandt, dieselbe dann mehrfach revidiert und dann gereizt. Ich habe in allen Fällen durch stärkere Reizung einen Krampf er- zielen können. Oefters erhielt ich bereits bei einem Rollenabstande von 80 mm Krämpfe, während vorher bei Rindenreizung ein Rollenabstand von 120 100 mm genügt hatte. In anderen Fällen trat der Markkrampf erst bei einem Rollenabstand von 40 mm ein. Dies sind die extremsten Fälle. Stromschleilen auf die Rinde glaube ich für die Fälle, wo der Rollenabstand über 60 mm betrug, sicher ausschliessen zu können. Denn ich nahm stets z. B. mindestens die ganze Augen- schluss- und Vorderbeini’egion weg, und die Elektroden

") Comptes rendus, 28. Mars und 27. Avril 1885.

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wurden dicht bei einander in der Mitte des freien Mark- feldes aufgesetzt. Nur solche Versuche werde ich im Folgenden verwerthen. War die linke Augenschluss- region und die linke Vorderbeinregion exstirpiert worden und wurde nun das Mark gereizt, so blieb das rechte Auge meist weit offen, seltener wurde es fest zugeknilfen, nur dann und wann zuckte es leicht, das rechte Vorder- bein wurde tetanisch nach vorn gestreckt und zuckte gar nicht. Die gesammte übrige Muskulatur verfiel in klonisch-tonische Krampfe, bei denen entsprechend der stäkeren Reizung das tonische Element überwog.

Hörte ich nun zu reizen auf, so trat sofortige Ruhe von Auge und Vorderbein ein. Die übrige Muskulatur zeigte nicht stets dasselbe Verhalten: bald dauerte der klonisch-tonische Krampf noch einige Zeit fort namentlich in Gestalt von klonischen Zuckungen und verschwand dann, um nicht wiederzukehren, bald hörte der Krampf der übrigen Muskulatur fast gleichzeitig mit dem Krampf des rechten Auges und Vorderbeines auf, brach aber nach wenigen Sekunden, zuweilen nach kaum einer Sekunde wieder los, jedoch so, dass nun entschieden das klonische Element überwog. Rechtes Auge und Vorderbein waren dabei nicht beteiligt, höchstens das erstere mit leichten Zuckungen. Diese liessen sich jedoch durch Nachexstirpationen stets ausschalten.

Diese Versuchsresultate scheinen mir nun sehr ge- eignet die oben aufgestellten Sätze weiter zu bestätigen. Das rechte Vorderbein hatte keine Rindenregion mehr, nur seine niederen Centren konnten erregt sein: dem- gemäss traten hier nur tetanische Bewegungen auf, Lauf- bewegungen wurden seltener beobachtet, klonische Krämpfe nie. Dagegen die übrige Muskulatur z. B. das rechte Hinterbein erhielt einmal Erregung durch Asso- ciationsfasern in seine Rinde zugeleitet, andrerseits teilte

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sich die Erregung des tiefen Vorderbeincentrums auch dem tiefen Hinterbeinceutrum mit. Das erstere führte zu dem klonischen, das letztere zu dem tonischen Anteil des Hinterbeinkrampfes.

Das rasche Auf hören des tonischen Vorderbein- krampfes entspricht den Beobachtungen bei intakter Rinde. Ein durch sehr starke Ströme erzeugter Krampf, bei welchem also der Tetanus den Klonus fast ganz ver- deckt, hört nach Schluss der Reizung, äusserst rasch auf, soweit er tonisch ist. Es ist, als erschöpfte sich die Erregung tiefer Centren rascher. Klonische Krämpfe hingegen dauern auch nach Aufhören der Reizung noch fort. Damit hängt es wohl auch zu- sammen, dass bei meinen Hunden spontan stets nur klonische, nie tonische Krämpfe auftraten.

Dass nun nach Aufhören der Markreizung die übrige Muskulatur ausser dem rechten Auge und Vorderbein oft noch länger im Krampfe verblieb, rührt eben daher, dass hier auch die Rinde beteiligt war. Ebenso oft trat aber eine kurze, allgemeine Ruhe ein. Wie diese zu er- klären sei, lässt sich nur vermuthen. Dass aber die kortikale Erregung fortdauerte, wird bewiesen durch den sehr raschen Wiederausbruch eines nunmehr rein klo- nischen Krampfes in der gesammten Körpermuskulatur ausser derjenigen Muskulatur, deren Region vollkommen exstirpiert war.

Die Markreizungsversuche bestätigen also die Resul- tate der Rindenreizungsversuche. Diese Resultate sind kurz folgende: der durch elektrische Reizung der Gross- hirnrinde bewirkte Krampf ist vorwiegend klonisch bei schwächeren, vorwiegend tonisch bei sehr starken Strö- men. Die Anhäufung der zu klonischem Krampf führenden Erregung findet in der Rinde statt, desgleichen die Ausbreitung dieser Erregung. Die tonische Com-

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ponente des Krampfes hingegen sowie die Laufbewe- gungen beruhen aui Erregung und Erregungsausbi eitung in tieferen Centren.

Dem vorstehenden Resultate will ich noch einige Bemerkungen anschliessen über Angaben meiner Vor- gänger. Es scheinen demselben nämlich einige Versuche sowohl von Verfechtern des kortikalen Ursprungs unsrer Krämpfe wie von Leugnern dieses kortikalen Ursprungs zu widersprechen.

So sah Un verricht, wie schon erwähnt, nach Ex- stirpation einer Region in den von ihr abhängigen Muskeln noch entweder Tonus oder schwächere Zuk- kungen im gleichen Rythmus mit den analogen Muskeln der andern Körperhälfte.

Ich sah hingegen nur Tonus und Laufbewegungen; jene klonischen Zuckungen lassen sich durch sorgfältige Exstirpationen völlig beseitigen.

Heidenhain und Bubnoff sahen den Krampf gleich- falls fortbestehen in Muskeln, deren Region exstirpiert war, sagen aber nicht, ob er als tonischer oder tonisch- klonischer fortbestand.

Auch in den Arbeiten von Albertoni*2) wie in denen von Franck und Pitres13) finden sich hierüber so gut wie keine Angaben.

Grade die Teilung so vieler exakter Forscher in zwei Lager scheint mir zu beweisen, dass die Wahrheit in der Mitte liegt. Als letzten Gegner unserer Auffas- sung erwähne ich noch Goltz, der Folgendes sagt: „Die Hypothese, nach welcher epileptische Krämpfe von den

12) Moleschotts Untersuchungen Bd. XII.

13) Progres med. 1878; Travaux du labor. de M. Marey 1878 79.

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sogenannten motorischen Rindencentren ausgehen sollen, ist ganz ungegründet. Gerade diejenigen Tiere, denen diese sogenannten Rindencentren in grösster Ausdehnung weggenommen waren, unterliegen am meisten der Gefahr tötlichen epileptischen Krämpfen zum Opfer zu fallen“14). Auch Goltz unterscheidet nicht zwischen tonischen und klonischen Krämpfen. Auch sind seine Beobachtungen nur ganz beiläufig gewesen, da er eigne Reizungsversuche zur Erzeugung „epileptischer“ Krämpfe nicht gemacht zu haben angiebt. Es scheinen also namentlich seine sonstigen Anschauungen über die Funktionen der Hirn- rinde zu sein, die ihn zu obiger Behauptung führen. Auf Grund meiner Versuche kann ich nur sagen, dass jene Behauptung unrichtig ist, und muss, wenn sie eine zwingende Consequenz seiner sonstigen Anschauungen sein sollte, finden, dass dies gegen jene Anschauungen spricht.

Ich möchte noch eine Arbeit Lewaschews15) aus Heidenhains Laboratorium kurz erwähnen, die mir erst nach Feststellung meiner eignen Resultate zu Gesicht kam. Er fand bei einfacher, nicht zu einem Krampf führender Reizung, dass koordiniertes Stampfen (Lauf- bewegungen) und Tetanus sich bezüglich ihrer Bahnen in der Tiefe unterscheiden. Aber seine Versuche ent- halten nichts, was einem tiefen Ursprung beider Bewe- gungsarten widerspräche.

Indem wir den Rindenursprung des klonischen Teils unserer Krämpfe behaupten, ist damit noch nicht gesagt, dass jeder klonische Krampf der Rinde entspringe. Im Gegenteil hat z. B. Nothnagel festgestellt, dass bei

u) Pflügers Archiv 1884.

15) Pflügers Archiv 1885 „TJeber die Leitung der Erregung von den Grosshimhemisphären zu den Extremitäten".

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Rückenmarksdurchschneidung klonische Krämpfe ein- traten, und zwar dann, wenn keine austretenden motori- schen Wurzeln getroffen wurden. Wurden solche ge- troffen, so gestaltete sich der Krampf tonisch. Ich. lasse dahingestellt, oh diese klonischen Krämpfe ohne Mit- wirkung der Rinde denselben Charakter trugen wie unsre jedenfalls kortikalen klonischen Krämpfe, und ver- folge auch die Analogien nicht, die sich zwischen Noth- nagels und unsern Versuchen ergeben. Genug sei es, dass für den durch faradische Rindenreizung erzeugten Krampf der koi’tikale Ursprung der klonischen, der tiefe Ursprung der tonischen Komponente erwiesen ist.

Auch gegen Lucianis Schlüsse hinsichtlich der menschlichen Epilepsie möchte ich mich verwahren.

Es treten beim Menschen ja zuweilen Anfälle auf, die den unsrigen sehr ähnlich sind16). Für die grosse Mehrzahl der Fälle menschlicher Epilepsie gilt dies nicht. Bei unsern Krämpfen ist der Beginn ein Klo- nus, höchstens geht dann und wann eine einmalige, tonische Contraction voraus. Beim Menschen ist das erste Stadium ein tonisches, ja das zweite klonische zeigt meist einen andern Charakter als unser klo- nischer Krampf beim Hund. Ob dieser Unterschied ein prinzipieller ist, kann ich nicht entscheiden. Auch

16) Vor allem die sog. Jackson’sche Epilepsie. Dass die herr- schende Theorie der menschlichen Epilepsie, wie Nothnagel sie be- gründet, sich mit unsern Resultaten sehr leicht vereinigen lässt, deute ich nur an. Auch möchte ich bemerken, dass in unsrer sche- matischen Figur der Uebersieht halber angenommen wurde, die klonischen Bahnen passierten die tiefen Centren garnicht. Doch ist dies sehr wohl denkbar, ohne dass unsere Auseinandersetzung deshalb irgend etwas von ihrer Beweiskraft einbüssto; die klonische Erregung kann ja ein Centrum sehr wohl passieren, ohne dass es in selbstständige Erregung geräth.

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das von Nothnagel, Hammond, Trousseau verbürgte vika- riierende Auftreten von Laufbewegungeu sollte vorsichtig machen in Bezug auf solche Schlüsse, wie Luciani sie zog. Im Gegenteil machen unsre Versuche wahrschein- lich, dass in den meisten Fällen von menschlicher Epilepsie zum mindesten tiefe Centren (Brücke oder Rückenmark) beteiligt sind und vielleicht das zweite klonische Stadium der menschlichen Epilepsie nur durch eine sekundäre Erregung der Rinde zu Stande kommt.

Indes bleibt dies Hypothese; absichtlich habe ich mich auf den durch elektrische Reizung der Grosshirn- rinde experimentell erzeugten Krampf beschränkt und nur für diesen behaupte ich den kortikalen Ursprung des klonischen Teils, den nicht-kortikalen des tonischen Teils und der Laufbewegungen.

Zum Schlüsse sage ich Herrn Professor Munk für’ die allseitige Anregung und Unterstützung, die ich jeder Zeit bei ihm fand, meinen besten Dank.

THESEN.

i.

Ein Beweis, dass Epilepsie und Eklampsie stets kortikalen Ursprungs seien, ist bis jetzt nickt erbracht.

II.

Die antepileptiscke Wirkung des Atropins beruht nicht wie die des Bromkaliums auf Herabsetzung der Erregbarkeit nervöser Apparate.

III.

Die Rindenschleife ist wahrscheinlich wie die Py- ramidenbahn eine ^direkte, erst in den Hinterhörnern von Ganglienzellen unterbrochene Bahn.

VITA.

Verfasser dieser Arbeit, Georg Theodor Ziehen, Sohn des in Frankfurt a. M. verstoi'benen Schriftstellers Dr. E. Ziehen, evange- lischer Confession, wurde geboren zu Frankfurt a. M. am 12. No- vember 1862. Seine Schulbildung empfing er auf der Musterschule und dem städtischen Gymnasium daselbst. Letzteres verliess er Ostern 1881 mit dem Zeugnis der Reife. Die Jahre 1881 bis 1883 studierte er in Würzburg und bestand dort das Tentamen physicum im Frühjahr 1883. Ostern 1883 begab er sich nach Berlin und stu- dierte dort bis zum Schlüsse des Sommersemesters 1885. Am 30. Januar 1885 bestand er das Examen rigorosum, im Laufe des Sommersemesters 1885 das Staatsexamen.

Während seiner Studienzeit besuchte er die Vorlesungen, Kli- niken und Kurse folgender Herren Professoren und Docenten Baginsky, v. Bergmann, Fehleisen, Fick, Flesch, Fräntzel, v. Frerichs, Gusserow, v. Köllicker, Kohlrausch, Leyden, Liebreich, Mendel, Neu- decker, Prym, v. Sachs, Schweigger, Semper, Senator, R. Virchow,