f 1 GENERELLE MORPHOLOGIE ■ DER ORGANISMEN. ALLGEMEINE GRÜNDZÜGE DER ORGANISCHEN FORMEI-WISSENSCHAFT, MECHANISCH BEGRÜNDET DURCH DIE VON CHARLES DARWIN REFORMIRTE DESCENDE^fZ-THEORIE, VON ERNST HAECKEL. ZWEITER BAND: ALLGEMEINE ENTWICKELÜNGSGESCHICHTE DER ORGMISMEN. .E PUR SI MüOVE!' MIT ACHT GENEALOGISCHEN TAFELN. BERLIN. VERLAG VON GEORG REIMER, 1866. ALLGEMEINE DEß OPiGAMSMEK KKITISCHE GRUNDZÜGE DER MECHANISCHEN WISSENSCHAFT VON DEN ENTSTEHENDEN FORMEN DER ORGANISMEN, BEGRÜNDET DURCH DIE DESCENDENZ - THEORIE, VON ERNST HAJGKEL, DQCTOR DER PHILOSOPHIE UND MEDICIN, ORDENTLICHEM PROFESSOR DER ZOOLOGIE DND DIRECTOR DES ZOOLOGISCHEN INSTITUTES UND DBS ZOOLOGISCHEN MUSEUMS AN DER UNTVERSITAET JENA. „E PUR SI MUOVE !« MIT ACHT GENEALOGISCHEN TAFELN. BERLIN. VERLAG VON GEORG REIMER. 1866. 4 „Müsset im Naturbetrachten Immer Eins wie Alles achten; Nichts ist drinnen, Nichts ist ciraussen : Denn was innen, das ist aussen. So ergreifet ohne Säumniss Heilig öffentlich Geheimnis»." Göthe. DEN BEGRÜNDERN DER DESCENDENZ-THEORIE, DEN DENKENDEN NATURFORSCHERN, CHARLES DARWIN, WOLFGANG GOETHE, JEAN LAMARCK, WIDMET DIESE GRlim)ZÜGE DER ALLGEMEmEN ENTWICKELÜNGSGESCHICHTE IN VORZÜGLICHER VEREHRUNG DER VERFASSER. Inhaltsverzeichniss des zweiten Bandes der generellen Morphologie. Systematische Einleitung in die allgemeine Entwickelungs- geschichte. (Genealogische Uebersicht des natürlichen Systems der Seite Organismen) XVII I. Die Entwickelungsgeschichte und die Systematik XVII II. Das natürliche System des Protistenreichs XX Erster Stamm des Protist (.nreichs: Moneres. Moneren XXII Erste Gruppe: Gymnomoneres {Protogenes, Protnmoebn). Zweite Gruppe: ■ Lepomoneres {Protomonns, Vnmpyrelln). Zweiter Stamm des Protistenreichs: Frotoplasta. Proto- plasten ...... XXIV Erste Gruppe: Gymnamoebae {Antamoebn, Nuclearia). Zweite Gruppe: Lepamoebae {Arcelln, Difflugia). Dritte Gruppe: Gr e garin ae {Monocysiis, Stijlorrhynchus). Dritter Stamm des Protistenreichs: Diatomeae. Kiesel- zellen • • • XXV Erste Gruppe: S tri ata e {Surirella, Nnvicula). Zweite Gruppe: Vittatae {Licmoplwrn, Talellnria). Dritte Gruppe: Areolatae (Coscinodiscus, Tripodiscus). Vierter Stamm des Protistenreichs: Flagellata. GeisseU Schwärmer ' Erste Gruppe: Nudi flagellata (Euglena, Volvoiv). Zweite Gruppe: Cilio flagellata {Peridinium, Cerntium). Fünfter Stamm des Protistenreichs: Myxomycetes. Schleimpilze XXVI Erste Gruppe: Physareae {Phymrum, Aelhalium). Zweite Gruppe: Stemoniteae {Stemonitis, Enerthcnema). Dritte Gruppe: Trichiaceae (Licea, Arcyria). Vierte Gruppe: Lycogaleae {Lycogala, 'Heiiculnrin), VIII Inhalt. Seite Sechster Stamm des Protistenreichs: 'Noctilucae. Meer- leuchten XXVI Einzige Gruppe: Myxocystoda {Noctilucn}. Siebenter Stamm des Protistenreichs: Rhizopoda. Wurzelfüsser XXVII Erste Gruppe: Acyttaria {Gromia, Miliola). Zweite Gruppe: Heliozoa iActinosphnerium, Actinophrys). Dritte Gruppe: Eadiolaria {Hcliosphaern, Collosphaera). Achter Stamm des Protistenreichs: Spongiae. Schwämme XXIX Erste Gruppe: Autospongiäe {Dnrwinella, Spongilla). Zweite Gruppe: Petrospongiae {Siphonin, Ocellnria). III. Das natürliche System des Pflanzenreichs XXXI Erster Stamm des Pflanzenreichs: Archephyta. Vr- pßanzen XXXIII I. Ordo: Codiolaceae (Codiolum, Protovoccus). II. Ordo: Desmidiaceae [Closierium, Eunstriim). III. Ordo: Nostochaceae {Palmelln, Nostoc). IV. Ordo: Confervaceae {Oscillm'in, Ectocarpus). V. Ordo: Ulvaceae {C'nulerpa, Viva). Zweiter Stamm des Pflanzenreichs: Florideae. Roth- algen . . XXXIV I. Ordo : Ceramiaceae {Cernmium, Vallilhnmnum). II. Ordo: Sphaerococcaceae {Rhodomeln, Delesserin\ Dritter Stamm des Pflanzenreichs: Fucoideae. Braun- algen XXXV I. Ordo: Chorda riaceae {Ch'ordarin, Asperococeus). II. Ordo: Laminariaceae {Laminnrin, Alaria). III. Ordo: Sargassaceae {Fucus, Sargassum). Vierter Stamm des Pflanzenreichs: Characeae. Arm- leuchter-Pflanzen XXXVI Ordo: Characeae {Chara, Nitella). Fünfter Stamm des Pflanzenreichs: Inoph3rta. Faser- pflanzen I. Class.: Fnngi. [^Boletus, Agaricus). II. Class.: Liehe nes. [Parmelia, Borr er a^. Sechster Stamm des Pflanzenreichs: Cormophyta. Stock- pflanzen XXXVII I. Subphylum: Prothallophyta Vorkeimpflanzen) XXXVIII 1. Cladus: Bryophyta (Marchantia, Hypnunr. 2. Cladus: Pteridophyta [Equisetum, Adiantum). II. Subphylum: Phanerogamae (Blüthenpflanzen) XLIII 1. Cladus: Gymnospermae {Pinns, Cycas). 2. Cladus: Angiospermae {Lilium, Gentiana. IV. Das natürliche System des Thierreichs XL VII l Erster Stamm des Thierreichs: Coelenterata. Nessel- thiere L I. Subphylum: Petracalephae (Haftnesseln, Polypenl . . LI 1. Class.: Archydrae [Hydrn) LI] 2. Class.: Anthozoa {CoralUa) LIII Inhalt. IX Sehe I. Subclass.: Tetracorallia {Rngosn, Pnrnnemntn) . . . LUX IL Subclass.: Octocorallia {Graflolithi, Alcynnaria) . . LIV III. Subclass.: HexacoralUa yTubulosa, Tnbulnta, Eporosn) LV II. Subphylum: Nectaealephae (Schwimmnesseln, Medusen) LVII 1. Class.: Hydromedusae '.Polypenquallen) LVII 1. Subclass.: Leptomedusae \^Vesiculntn, Ocellntn, Sipho- • „„\ LEX nopnorn, n. Subclass.: Trachymedusae {Phjllorchidn, Cnlyvozoa) . LIX III Subclass.: Discomedusae(Semneos. 305 m. Kritik des palaeontologischen Materials 308 rV. Die Kataklysmen - Theorie und die Continuitäts - Theorie 312 V. Die Perioden der Erdgeschichte 315 VI. Uebersicht der versteinerungsführenden Schichten der Erdrinde. , 318 Vn. Uebersicht der palaeontologischen Perioden 319 Vni. Epacme, Acme, Paracme 320 Zweiundzwanzigstes Capltel: Entwickelungsgeschichte der Arten oder Speeles. (Naturgeschichte der organischen Arten oder der genealo- gischen Individuen zweiter Ordnung.) 323 I. Allgemeine Kritik des Speeles - BegrifiFes 323 n. Der morphologische BegrifiF der Speeles 332 XVI Inhalt. Seite III. Der physiologische Begriff der Speeles 341 IV. Der genealogische Begriff der Species V. Gute und schlechte Species ■ ' ' qci VI. Stadien der specifischen EntWickelung • ■ ■ ■ ■ ■ ^^i Dreiundzwanzigstes Capitel: Entwickelungsgeschichte der Stamme oder Phylen. (Naturgeschichte der organischen Stamme oder der genealogischen Individuen dritter Ordnung.) 365 I. Functionen der phyletischen Entwickelung ^bö II. Stadien der phyletischen Entwickelung. . . : 366 m. Resultate der phyletischen Entwickelung IV Die dreifache genealogische Parallele Vierundzwanzigstes Capitel: Das natürliche System als Stammbaum. (Principien der Classification.) I. Begriffsbestimmung der Kategorieen des Systems 374 n. Bedeutung der Kategorieen für die Classification 391 III. Gute und schlechte Gruppen des Systems 395 IV. Die Baumgestalt des natürlichen Systems 397 V. Anzahl der subordinirten Kategorieen 399 VI. Stufenleiter der subordinirten Kategorieen 400 Vn. Oharacter- Differenzen der subordinirten Gruppen 401 Fönfundzwanzigstes Capitel: Die Verwandtschaft der Stämme. ... 403 I. Die Stämme des Protistenreiches 403 II. Die Stämme des Pflanzenreiches 406 III. Die Stämme des Thierreiches 408 Seehsundzwanzigstes Capitel: Phylogenetische Thesen 418 I. Thesen von der Coutinuität der Phylogenese • • 418 II. Thesen von der genealogischen Bedeutung des natürlichen Systems 419 III. Thesen von der organischen Art oder Species • 420 IV. Thesen von den phylogenetischen Stadien 421 V. Thesen von dem dreifachen Parallelismus der drei genealogischen Individualitäten ' 421 Siebentes Buch. Die Entwickelungsgeschichte der Organismen in ihrer Bedeutung für die Anthropologie 423 Siebenundzwanzigstes Capitel: Die Stellung des Menschen in der Natur. 425 Achtundzwanzigstes Capitel: Die Anthropologie als Theil der Zoologie. 432 Achtes Buch. Die Entwickelungsgeschichte der Organismen in ihrer Bedeutung für die Kosmologie Nennundzwanzigstes Capitel: Die Einheit der Natur und die Einheit der Wissenschaft (System des Monismus) 441 Dreissigstes Capitel: Gott in der Natur (Amphitheismus und Monotheismus) 445 Systematische Einleitung in die allgemeine Entwickelungsgeschichte. Genealogische üebersicht des natürlichen Systems der Organismen. „Alle Gestalten sind ähnlich und keine gleichet der andern; Und so deutet der Chor auf ein geheimes Gesetz, Auf ein heiliges Eäthsel !" Goethe. I. Die Entwickelungsgescliichte und die Systematik. Das natürliche System der Organismen ist ihr Stamm- baum oder Genealogema. Mit diesen wenigen Worten haben wir in unserer Einleitung in die generelle Morphologie der Organismen (Bd. I, S. 37, 196) das äusserst wichtige Verhältniss bezeichnet, wel- ches die sogenannte „organische Systematik" zur Entwickelungsge- schichte, und überhaupt zur gesammteu Morphologie der Organismen einnimmt. Wir haben daselbst zu zeigen gesucht, dass die Syste- matik keineswegs, wie gewöhnlich angenommen wird, eine besondere Wissenschaft ist, sondern vielmehr nur eine besondere Darstellungs- form der organischen Morphologie, ein concentrirter übersichtlicher Extract ihres wichtigsten Inhalts, ein übersichtlich nach der Blutsver- wandtschaft geordnetes, durch compacte morphologische Charakteristi- ken motivirtes Sach- und Namen-Register der Organismen (vergl. das dritte Capitel des ersten Bandes S. 31 — 42). Diese Erkenntniss der genealogischen Bedeutung des na- türlichen Systems, welche durch die von Charles Darwin refor- mirte Descendenz- Theorie zu einer unerschütterlich festen Inductiou Uacckel, OencruUc Morphologie, 11. ** XVm Systematische Einleitung in die EntwickelungsgeßcWchte. geworden ist, halten wir für die erste und unerlässlichste Bedingung eines klaren und naturgemässen Verständnisses der organischen For- men welche uns in ihrer unendlichen Mannichfaltigkeit und dennoch überkll sich verrathenden Aehnlichkeit ohne jene Erkenntmss als eben so viele unlösbare Rcäthsel gegenüber stehen. „Stamm Verwandt- schaft"' ist das „glücklich lösende Wort des heiligen Rathseis, des geheimen Gesetzes", welches Goethe in dem allgemeinen Widerstreit zwischen der unendlichen Verschiedenheit und der unleugbaren Aehn- lichkeit der organischen Formen entdeckte. Die fundamentale Bedeutung, welche die Entwickelungsgeschichte für die Systematik hat, ist im Laufe unseres Jahrhunderts, und na- mentlich der letzten drei Deceunien desselben, unter den organischen Morphologen zu immer allgemeinerer und maassgebender Anerkennung gelangt. Mehr und mehr hat sich die Ueberzeugung Bahn gebrochen, dass nur dasjenige zoologische und botanische System ein wirklich „na- türliches" ist, welches der comparativen individuellen Entwickelungs- geschichte genügend Rechnung trägt. Dennoch war diese Ueberzeu- gung nur der erste Schritt zu dem vollen und klaren Verständniss des natürlichen Systems. Der zweite und bedeutendste Schritt, welcher dieses Verständniss erst vollendet, ist die Erkenntniss, dass das natür- liche System der Stammbaum der Organismen ist; die hohe Bedeutung der individuellen Entwickelungsgeschichte für die Systematik erklärt sich dann einfach aus dem Umstände, dass die individuelle Entwicke- lungsgeschichte oder die Ontogenie nur eine kurze und gedrungene Wiederholung, gleichsam eine Recapitulation der paläontologischen Ent- wickelungsgeschichte oder der Phylogenie ist. Die äusserst innigen und widitigen Wechselbeziehungen, welche zwischen diesen beiden Zweigen der Morphogenie oder der organischen Entwickelungsgeschichte, zwischen der Ontogenie und der Phylogenie bestehen, haben wir bereits im dritten Capitel des ersten Buches her- vorgehoben, als wir den beiden Hauptästen der organischen Morpho- logie, der Anatomie und der Entwickelungsgeschichte, ihre Aufgabe bestimmten und sie in untergeordnete Wissenschaften eintheilten (Bd. I, S. 24, 50—60). Wir haben daselbst auch bereits mehrfach auf eine der wichtigsten allgemeinen organischen Erscheinungsreihen hingewie- sen, auf die dreifache genealogische Parallele nämlich, welche zwischen den drei aufsteigenden Stufenleitern der paläontologischen (phyleti- schen)., der individuellen (biontischeu) und der systematischen (speci- fischen) Entwickelung besteht. Da wir diesen Gegenstand, der bisher eben so allgemein vernachlässigt, als von der allergrössten monistischen Bedeutung für die gesammte Morphologie der Organismen ist, im drei- undzwanzigsten Capitel noch besonders erörtern werden, so beschrän- ken wir uns hier auf die Bemerkung, dass ohne die richtige Werth- Die Entwickelungsgeschichte und die Sj'-stematik. XIX Schätzung jenes dreifachen genealogischen Parallelismus sowohl das volle Verständniss der Entwickelungsgeschichte selbst, als auch der Syste- matik nothwendig verschlossen bleibt. Dieses gewinnen wir erst durch die Erkeuntniss, dass die Stufenleiter des natürlichen Systems mit den parallelen Stufenleitern der individuellen und der paläontologischen Entwickelung in dem engsten mechani- schen Causalnexus steht. Da die genealogische Darstellung und Motivirung des natürlichen Systems Gegenstand der speciellen Morphologie und insbesondere der speciellen Entwickelungsgeschichte der Organismen ist, so können wir in diesem Werke, welches nur die Grundzüge der generellen Morpho- logie sich zui- Aufgabe gestellt hat, nicht näher auf die Systematik eingehen. Da jedoch die genealogische Ißegrüudung des natürlichen Systems ihrerseits wiederum den grössten Werth für das Verständniss der allgemeinen Entwickelungsgeschichte besitzt, da ferner auf diesem höchst interessanten, bisher aber fast ganz uncultivirten Gebiete noch Alles zu thun übrig ist, so haben wir es nicht für überflüssig erach- tet, hier als Einleitung zu unserer' allgemeinen Entwickelungsgeschichte eine kurze Uebersicht des natürlichen Systems der Organismen zu ge- ben, wie dasselbe nach unserer Ansicht ungefähr genealogisch zu be- gründen sein würde. Unsere Eintheilung der gesammten Organismenwelt in drei oberste Hauptgruppen oder Reiche: Thierreich, Protistenreich und Pflanzen- reich, haben wir bereits im siebenten Capitel des ersten Bandes ausführ- lich gerechtfertigt (S. 203 K). Ebendaselbst haben wir auch vorläufig die Bedeutung der Systemgruppen als subordinirter genealogischer Ka- tegorieen des Stammbaums erörtert (S. 195 fi".), welche im vierundzwan- zigsten Capitel ausführlicher motivirt werden wird. Auch haben wir dort bereits die verschiedenen Stämme oder Phylen in den drei orga- nischen Reichen namhaft gemacht, welche mit einiger Wahrscheinlich- keit bei dem gegenwärtigen unvollkommenen Zustande unserer biologi- schen Kenntnisse unterechieden werden können (S. 203 — 206). Unter Stamm oder Phylum verstehen wir, wie dort festgestellt wurde, ein für allemal „die Gesammtheit aller jetzt noCh existirenden oder bereits ausgestorbenen Organismen, welche von einer und derselben gemein- samen Stammform ihre Herkunft ableiten". Diese Stammform selbst mussten wir uns stets als ein autogones Moner denken. Es kann sich hier für uns natürlich nur um eine ganz allgemeine und skizzenhafte Feststellung der ersten Grundlinien für die Stamm- bäume oder Genealogeme handeln, in welchen die Morphologie der Zu- kunft allen natürlichen Gruppen der Organismen ihren Platz anzuwei- sen haben wird. Wir geben diese Skizze zugleich als Erläuterung zu dem ersten Versuche genealogisch - systematischer Tafeln, welche wir ** 2 XX Systematische Einleitung in die Entwickelungsgeschichte. diesem Bande angehängt haben. Wir heben ausdrücklich hervor, dass wir in diesen genealogischen Tafeln, wie in der nachfolgenden genea- logischen Uebersicht des natürlichen Systems der Organismen nur den ersten provisorischen Versuch zur Begründung der orga- nischen Genealogeme geben wollen! Die ungeheure Schwiengkeit, welche diesen ersten derartigen Versuchen entgegensteht, und der wirk- liche obwohl nur annähernde, Werth, welchen dieselben besitzen, wird nur denjenigen, von der Descendenz- Theorie vollständig überzeugten, denkenden Morphologen klar sein, welche vielleicht selbst einmal im Entwürfe solcher Stammbäume sich versucht haben. Von den zahl- reichen Gegnern derselben aber verlangen wir, dass sie dieselben nicht bloss tadeln, sondern etwas Besseres au ihre Stelle setzen! Wir beginnen mit einer kurzen genealogischen Uebersicht über die problematischen Stämme des Protistenreichs, lassen auf diese die Phy- len des Pflanzenreichs, und zuletzt diejenigen des Thierreichs folgen. Die letzteren liefern uns bei weitem die reichste und sicherste Aus- beute, wogegen wir von den ersteren bei dem gegenwärtigen, höchst unvollkommenen Zustande unserer Kenntnisse nur sehr wenig Befriedi- gendes zu geben vermögen. Wegen der näheren Begi'ündung der nach- folgenden genealogischen Skizze verweisen wir auf das fünfte und sechste Buch, und ganz besonders auf das XXIV. und XXV. Capitel. Die neuen Namen, welche wir zur Bezeichnung der neu von uns aufgestell- ten natürlichen Gruppen einzuführen gezwungen worden sind, haben wir durch ein angehängtes H. bezeichnet. n. Das natürliche System des Protistenreichs. Das Reich der Protisten oder Urwesen betrachten wir, wie be- reits im sechsten Capitel des zweiten Buches ausgeführt wurde, als eine CoUectivgruppe von mehreren selbstständigen organischen Stäm- men oder Phylen, welche sich ohne Zwang weder dem Thierreiche noch dem Pflanzenreiche einordnen lassen. Es zeigt sich diese zweifelhafte Zwitterstellung am deutlichsten darin, dass alle diejenigen Organismen, welche wir als Protisten zusammenfassen, von den verschiedenen Na- turforschern bald als Pflanzen, bald als Thiere ausgegeben worden sind, und dass der Streit über ihre zweifelhafte Stellung auch heutzutage noch keineswegs entschieden ist. Manche Protisten sind sowohl von den Botanikern als von den Zoologen verschmäht, andere wiederum sowohl von diesen als von jenen für sich in Anspruch genommen wor- den. Viele Protisten verhalten sich in ihrer ganzen Anatomie, Mor- phogenie und Physiologie so indifferent, dass sie in der That weder . für Thiere, noch für Pflanzen gelten können; andere zeigen eine so ei- gcnthümliche Mischung von beiderlei Charakteren, dass mau sie jedem Das natürliche System des Protistenreichs. XXI der beiden Reiche mit gleichem Rechte zustellen könnte. Aus diesen und anderen bereits oben erörterten Gründen haben wir uns für be- rechtigt gehalten, neben dem Pflanzenreiche und dem Thierreiche noch das Protistenreich als eine selbstständige Hauptabtheilung der Organis- menwelt aufzustellen, und haben diese Neuerung bereits oben gerecht- fertigt (Bd. I, S. 203, 215; vergi. auch die übrigen Abschnitte des sechsten Capitels). Da die allenneisten Organismen des Protistenreiches wegen ihrer sehr geringen Grösse dem unbewaffneten Auge verborgen bleiben und aus diesen und vielen anderen Gründen erst in den letzten Decennien genauer untersucht worden sind, da aber auch jetzt immer nur sehr wenige Naturforscher sich mit diesen höchst interessanten und wichti- gen Organismen abgegeben haben, so ist unsere Kenntniss derselben leider noch höchst unvollständig, und gar nicht mit derjenigen der Thiere und Pflanzen zu vergleichen. Es ist aus diesem Grunde eigent- lich auch gar nicht möglich, jetzt schon ein natürliches System des Protistenreiches aufzustellen. "Wenn wir dennoch hier den provisori- schen Versuch dazu unternehmen, so geschieht es bloss, weil doch ein- mal damit ein Anfang gemacht werden muss, weil wir hofi"en, dadurch Anregung zu baldiger Verbesserung dieses höchst unvollkommenen Wag- nisses zu geben, und weil wir mit Goethe der Ansicht sind, dass „eine schlechte Hypothese besser ist, als gar keine". Wir haben im siebenten Capitel acht verschiedene selbstständige Stämme von Protisten unterschieden, nämlich: 1, Spongiae, 2. Nocli- lucne, 3. Rhizopoda. 4. Protoplosia , 5. Moneres , 6. FInyeüata, 7. Diatomene , 8. Myxomycet.cs. Von diesen werden die letzten zwei oder drei Gruppen gegenwärtig meistens für Pflanzen, die ersten drei oder vier meistens für Thiere gehalten, während die Moneren durchaus zweifelhafter Natur sind. Wahrscheinlich ist jedoch die Zahl der selbst- ständigen Stämme des Protistenreichs sehr viel grösser, und vielleicht entstehen noch gegenwärtig durch Archigonie stets neue Protisten, wäh- rend dies von Thieren und Pflanzen nicht wahrscheinlich ist. Sowohl die Bestimmung der Anzahl als des Umfangs der angeführten Protisten- Stämme betrachten wir natürlich nur als eine ganz provisorische, und geben sie nur, um überhaupt etwas Positives und eine erste Grundlage für die Genealogie des Protistenreiches, einen festen Boden zur Dis- cussion und zur Verständigung über diese äusserst wichtige und inter- essante Frage zu liefern. Eine gemeinsame Abstammung, ein genealogischer Zusammenhang der verschiedenen Phylen, wie er für die thierischen und pflanzlichen Stämme (und namentlich für die letzteren) sehr wahrscheinlich ist, er- scheint dagegen für die Protisten -Phylen durchaus unwahrscheinlich. Vielmehr spricht Alles dafür, dass nicht nur die angeführten acht, son- XXn Systematische Einleitung in die Entwickelungsgeschichte. dern auch noch sehr zahlreiche andere Protisten-Stämme sich vollkom- men unabhängig von einander aus selbstständigen autogonen Stamm- formen entwickelt haben, und vielleicht noch heutzutage durch Archi- gonie entstehen. Andererseits ist es sehr wohl möglich, dass einige der hier zu den Protisten gerechneten Formen niedere Entwickelungs- stufen theils von Thieren, theils von Pflanzen sind. Da wir diese Frage noch im fünfundzwanzigsten Capitel näher zu erörtern haben, so wol- len wir hier nicht weiter darauf eingehen. Wenn man unser Protisten- reich verwirft und bloss die beiden Keiche der Thiere und Pflanzen anerkennen will, so würde man die Diatomeen und Myxomyceten woU am passendsten dem Pflanzenreiche, die Ehizopoden, Noctilukeu und Spongien dem Thierreiche anschliessen müssen, wogegen die systema- tische Stellung der Flagellaten, Protoplasten und Moneren unter allen Umständen höchst zweifelhaft bleiben muss. Erster Stamm des Protisten - Reiches : Mottcres, H. Moneren. Moneren^) nennen wir alle vollkommen structurlosen unJ homogenen Organismen, welche lediglich aus einem Stückchen Plasma (einer schleimartigen Eiweiss-Verbindung) bestehen, das sich einfach durch Endosraose . ernährt, und durch Schizogonie oder Sporogonie fortpflanzt. Die meisten Moneren führen trotz alles Mangels differenzirter Bewegungs- Organe ausgezeichnete Bewegungen aus, die bald mehr denen der Amoe- ben (frolai/iocba), bald mehr denen der Rhizopoden gleichen {I^olpgenes). Einige von ihnen scheiden im Ruhezustand eine äussere Hülle (Cyste) aus. Stets sind sie einfachste Cytoden. Diese äusserst merkwürdigen und höchst wichtigen Organismen, welche sich von allen andern bekannten Organis- men durch den vollständigen Mangel jeglicher Structur unterscheiden, und in der That nur ein Stückchen lebendiges Eiweiss oder Schleim darstellen, sind erst in neuester Zeit Gegenstand der verdienten Aufmerksamkeit ge- worden. Das grösste bjs jetzt bekannte Protist, welches in den Stamm der Moneren gehört, ist von uns im Mittelmeere entdeckt und als Profogenes /7mfl«rcyiffl//i- beschrieben und abgebildet worden 2). Es stellt einen kolossa- len homogenen Plasmaklumpen dar, welcher nach Art der echten Rhizopoden (Acyttarien und Radiolarien) nach allen Seiten verästelte und verschmel- zelnde Pseudopodiencomplexe ausstrahlt, und sich durch Theilung vermehrt. Unserem Prologeries pn'mordialis nächstverwandt ist der kleinere, von Max Schnitze im adriatischen Meere beobachtete Protogenes porreclus {Jwoeba porrecia). Die Gattung /^/-o/ogw/e* stellt zeitlebens denselben ein- fachsten biologischen Zustand dar, den die Plasmodien einiger Myxomyce- ten in ihrer Jugend durchlaufen. Im Süsswasser haben wir ein amoebenartiges, aber kernloses homoge- nes Wesen entdeckt, welches wir oben als Protamoeba primitiva beschrie- ben haben (Bd. I, S. 133). Seitdem sind die höchst interessanten neuen ^) (xoMTfi'p-f)?, einfach. Vergl. Bd. I, S. 135. „ "^^ E I-Iaeckel, über den Saicodekörper der Rhizopoden, Zeitscbr. für wissenschaftl. .«.oulogie, XV, 1865, S. 342, 3G0, Tiif. XXVI, Fig. 1, 2. I Das natürliche System des Protistenreichs. xxm „Beiträge zur Kenntniss der Monaden" von L. Cieukowski^) erschie- nen, worin dieser ausgezeichnete Protistiker die vollständige und höchst wichtige Naturgeschichte einer Anzahl neuer, der Pro/awoeha .niichst ver- wandter Moneren gegeben hat. Wir verweisen hier vorzüglich auf diese letztere Arbeit, welche um so mehr zu beachten ist, als sie von einem Na- turforscher herrührt, der nicht allein als objectiver und vorurtheilsfreier Beobachter mit Recht anerkannt ist, sondern auch logisch zu denken, rich- tig zu vergleichen und aus der Synthese der einzelnen analytischen Beob- achtungen allgemeine Schlüsse zu ziehen versteht, eine Vinter den organi- schen Morphologen wirklich seltene Eigenschaft! Unter den von Cien- kowski als Monaden beschriebenen Wesen gehören zwei kernlose, ledigUch aus einem lebenden Plasmaklümpchen bestehende Formen zu unserem Mo- neren-Stamm, nämlich die Zoosporen bildende Monas iimyli, welche wir als Protonwnas awyli von den übrigen Monaden sondern, und die äusserst merk- würdigen Vampyrellen, rothe Moneren, welche sich nicht durch Schwärm- sporen, sondern durch actinophrys- ähnliche Keime fortpflanzen. Von Fnrn- pyrella hat Cienkowski drei verschiedene Arten: F. vnrax, V. pendiiln und /•-'. spirogi/rue beschrieben. Endlich müssen wir zu den Moneren auch die selt- same Organismen-Gruppe der Vibrio nid en rechnen, welche zuerst Ehren- berg in seinem grossen Infusorienwerke näher beschrieben und in die Gat- tungen Vibrio, Bader ium, Spirocfiaeta, Spirilliini, Spirodiscus geschieden hat. Alle echten Moneren, so verschieden sie auch sonst sein mögen, stimmen darin überein, dass sie zeitlebens structurlose und homo- gene Plasmakörper bleiben nnd keinerlei Organisation erhalten. Es sind „Organismen ohne Organe" (vergl. Bd. I, S. 135). Der einzige Differenzirungs-Process, den sie erleiden können, besteht darin, dass sie beim TJebergange in den Ruhezustand eine Hülle (Cyste) abscheiden {Prolo- monas, Fampurella). Die Gymnocytode wird dadurch zur Lepoicjrtode. Nie- mals aber differenzirt sich im Plasma der echten Moneren ein Kern ; niemals Avird also aus der Cytode eine Zelle. Die Bewegungen , welche das structur- lose Eiweissstückchen des Moneres ausführt, sind sehr verschiedenartig, bald wie bei den Amoeben {Prulanioeba), bald wie bei den echten Rhizopoden {Protogeiies), bald zu verschiedenen Lebenszeiten verschieden (Profornonas, Fampijrclla), bald charakteristisch lebhaft schlängelnd (die Vibrionen). Will man tinter den Moneren verschiedene Gruppen unterscheiden, so können wir als solche die Gymnomoneren und Lepomoneren bezeichnen. Die Gymnomoneren {Protogenes, Prolamoeba, Bacteriuw, Vibrio etc.) blei- ben zeitlebens nackt, während die Lepomoneren {Protomonus , Vampy- rella) beim TJebergange in den Ruhezustand eine Hülle ausschwitzen. Was die Phylogenie der Moneren anbelangt, so ist uns dieselbe noch ganz unbekannt. Nach unserer persönlichen TJeberzeugung entstehen dieselben, wenigstens zum Theil, noch fortwähi-end durch Archigonie, sei es nun durch Autogonie oder durch Plasmogonie (S. 33), Ob dieselben noch gegenwärtig sich zu höheren Organismen weiter entwickeln, wissen wir nicht. Doch kann es uns nicht zweifelhaft sein, dass die autogonen Stamm- formen sämratlicher organischer Stämme, sowohl der protistischen als der vegetabilischen und animalischen Phylen, den morphologischen Charakter der Moneren besessen haben müssen. Aus einem Pro/ogenns können sich viel- leicht zunächst der Rhizopoden - Stamm , aus einer Jnweha der Protoplasten- Staram etc. entwickelt haben, Avie die .Tugendzustände dieser Phylen beweisen. 1) Max Schultze, Archiv lür mikr. Anatomie. I, 1865, S. 203, Taf. XU — XIV. XXIV Systematische Einleitung in die Entwickelungsgeschichte. Zweiter Stamm des Protisten -Reiches: Protoplasta, H. Protoplasten. In dem Phylum der Protoplasten vereinigen wir mehrere sehr nie- drig stehende Organismen-Gruppen, welche bisher gewöhnlich als Glieder des sogenannten Protozoen-Kreises aufgeführt wurden, nämlich die entozoischen Gregarinen und die freien Sphygmiken, welche bald als Ififnsorui rhizopoda oder als Jtricha mit den echten Infusorien (Ciliaten), bald als Lobosa oder Jinoeinna mit den echten Ehizopoden vereinigt wurden. Den Ausgangspunkt des Stammes bilden die echten Amoeben, von denen wahrscheinlich ein Theil durch Uebergang zur entoparasitischen Lebensweise zu Gregarinen ge- worden ist, wälirend ein anderer Theil durch Ausscheidung einer Schaale die Arcelliden-Gruppe gebildet hat. Wir können diese drei Gruppen als Ord- nungen der Protoplasten-Classe, der einzigen ihres Stammes, unterscheiden. Alle echten Protoplasten enthalten zu irgend einer Zeit ihres Lebens einen oder mehrere Kerne, sind also nicht mehr blosse Cytoden, sondern echte Zellen. Viele besitzen ausserdem eine Haut oder Schaale. Von den Protoplasten sind viele früheste Entwickelungszustände ande- rer Organismen nicht zu unterscheiden; sowohl Thiere als Pflanzen durch- laufen sehr allgemein einen Entwickelungszustand , der von gewissen Proto- plasten (Amoeben, Gregarinen) nicht anatomisch verschieden erscheint. Die Eier der meisten Thiere und Pflanzen haben den morphologischen Werth von einzelligen Amoeben oder einzelligen Gregarinen (Monocystideen). Viel- leicht ist daher das Phylum der Protoplasten ebenso wie das der Moneren Ausgangspunkt und gemeinsame Wurzel für andere Stämme. Vielleicht ist dasselbe aber andererseits selbst aus mehreren ursprünglich selbstständigen Phylen zusammengesetzt. Erste Ordnung der Protoplasten-Classe: Gymnamoebae, H. SS ackl- Amoeben. Diese Ordnung wird durch die Jutamoeba oder die echte kernhaltige Jmoeba als die ursprüngliche Grundform des ganzen Stammes, und durch die verwandten Gattungen Petalnpus , Podostoma etc. gebildet. Auch einige von den Monaden Cienkowski's gehören hierher, nämlich die Zoosporen bildende Pseudospora und die durch actinophrys- ähnliche Keime sich fort- pflanzende Nuclearia. Die meisten Gymnamoeben enthalten in ihrem nack- ten homogenen Plasmakörper einen einzigen Kern, sind also einfache Nackt- Zellen (Gymyocyta). Einige {Nuclearia delicatula) sind im erwachsenen Zu- stande mehrzellig, da der Plasmakörper mehrere Kerne enthält. Die meisten Gymnamoeben enthalten ausserdem eine oder mehrere contractile Blasen. Zweite Ordnung der Protoplasten-Classe: Lepamoebae, H. Schaal-Amoeben. Diese Ordnung hat sich aus den Gymnamoeben durch Secretion einer mehr oder weniger differenzirten Schale entwickelt, die bald eine weiche Haut, bald ein fester Panzer ist. Es gehört liierher der grösste Theil der Arcelhden {Areella, Difjlugia, Eiiglypha, Echinopyxls etc.), welche gewöhn- lich zu den echten emkammerigen Ehizopoden oder Monothalamien (Gromia, Lagynis etc.) gestellt werden. 1) TCpWTOTCXaaro? , zuerst gebildet, zuerst entstanden. Das natürliche System des Protistenreichs. XXV Dritte Ordnung der Protoplasten - Classe : Gregarinae. Gregarmen. "Wie die Lepamoeben durch progressive, so sind die Gregarinen durch regressive Metamorphose aus den Gymnamoeben hervorgegangen. Wir be- trachten diese ausschliesslich parasitische Protisten - Gruppe als Gymnamoe- ben, welche sich an entoparasitische Lebensweise gewöhnt und sich mit einer schützenden Hülle umgeben, vielleicht auch ilire contractile Blase, falls sie eine solche besassen, verloren haben. Die Ordnung zerfällt in zwei Fami- lien: Monocystidea {Monocystis) und T oljcjstidea, {Sti/lorhi/nc/ius), je- nachdem der reife Körper aus einer einzigen oder aus mehreren (meist zwei oder drei) verbundenen Zellen besteht. Dritter Stamm des Protisten -Reiches: Diatomea. Kieselzellen. Die formenreiche Gruppe der Diatomeen wurde früher wegen ihrer ei- genthümlichen Bewegungen gewöhnlich zu den Thieren (Infusorien), neuer- dings meist zu den Pflanzen (Algen) gerechnet. Am passendsten erscheint es, dieselbe als ein selbstständiges Protisten -Phylum aufzufassen, welches durch seine eigenthümliche Kieselschalenbildung und Bewegung hinlänglich charakterisirt ist. Diese Ansicht hat auch schon Max Schnitze in seinen neuesten ,, Mittheilungen über die Bewegungen der Diatomeen" begründet, worin er zeigt, dass dieselben weder Thiere noch Pflanzen, sondern „Urorga- nismen" sind ^). Verbindende Uebergangsformen zu anderen Organismen- Gruppen sind nicht vorhanden. Am nächsten scheinen ihnen sonst die Des- midiaceen unter den Algen zu stehen. Von diesen unterscheiden sie sich aber wesentlich durch die spaltförmige Oefi'nung (Kaphe) in der kieseligen Zellenwand, durch welche ihr Protoplasma -Körper frei zu Tage tritt. Die Paläontologie zeigt uns, dass dieses Phylum schon seit sehr langer Zeit in wenig verändertem Zustande existirt hat. Schon in der Steinkohle finden sich Diatomeen. Häufig sind sie in den Peuersteinen der Kreide. In der älteren Tertiärzeit bilden sie mächtige Lager. Ein Stammbaum der Gruppe lässt sich aber aus ihren fossilen Besten bis jetzt nicht con.- struiren, so wenig als bei den Rhizopoden. Die Diatomeen sind entweder einfache kieselschalige Zellen, oder mehr oder weniger innig verbundene kieselschalige Zellencomplexe. Theils schwimmen sie frei umher, theils sitzen sie fest. Nach der Structur der Eje- selschaale unterscheidet man drei Gruppen: 1) Gestreifte, Striatae (Siirt- rel/a, Navicida); 2) Striemige, Vittatae {Licniophora, Tabellaria); 3) Ge- felderte, Areolatae {Coscinodiscus, Tripodiscus). Vierter Stamm des Protisten -Reiches: Flagcllata. Geisseischwärmer.. Die systematische Stellung der Plagellaten ist noch heutzutage völlig unentschieden, da eben so viel Stimmen sie zu den Pflanzen, wie zu den Thieren zählen. Viele hierher gehörige Organismen sind nicht zu unter- scheiden von den Jugendzustäuden (Schwärmsporen) echter Pflanzen (Algen) und gewisser Protisten anderer Stämme (Myxomyceten) ; andere schliessen 1) Max Schultz e, Archiv f. mikr. Anat. 1, 1865, S. 400. XXVI Systematische Einleitung in die Entwickelungsgescliichte. sich mehr au die echten Infusorien (Ciliaten), also au unzweifelhafte Thiere an. Es erscheint daher am passendsten , die unzweifelhaft selbstständigen Eormen, welche hierher gehören und welche alle uuter sich sehr nahe ver- wandt sind, als Zweige eines selbstständigen Protisten- Stammes zu betrach- ten. Mit Ausnahme der Cihoilagellaten (Peridinien) , deren charakteristisch gebildete Kieselschalen sich bisweilen im Jura und in der Kreide fiuden, sind keine fossilen Beste dieses Stammes bekannt. Der Elagellaten-Stamm kann in zwei Ordnungen gespalten werden. Die niedere Ordnung der Nudoflagellaten. oder der unbewimperten Geissei- schwärmer umfasst die Familien der Astasiaeen {Eughria , Anlaaia) , Dino- bryinen (^Dinobrijon), Volvocinen {^f^olvox, Gonü/ni), Hydromorinen (Spondy- loiiiornm) und einige verwandte Familien. Die höhere Ordnung der Cilio- flagellaten, welche vielleicht aus ersterer sich entwickelt hat, enthält bloss die eine Familie der Peridiniden {Pendinium , Ceratium etc.). Fünfter Stamm des Protisten -Reiches: %xoin}'cete$. Schleimpilze. (Synonym: Mycetozoa. Myxogastres. ) Die merkwürdige Gruppe der Myxomyceten stand wegen der Aehnlich- keit ihrer reifen Zustände mit unzweifelhaften Pilzen, den echten Gastro- myceten, unangefochten in der Classe der Pilze und wurde gleich diesen als echte Pflanzen angesehen, bis vor sieben Jahren A. de Bary durch seine äusgezeichueten Untersuchungen nachwies, dass dieselben durch ihre höchst eigenthümliche Entwickelung sich gänzlich von allen Pilzen nicht nur, son- dern von allen Pflanzen überhaupt entfernen. Der gastromyceten- ähnliche Fruchtkörper oder das Sporangium der Myxomyceten entwickelt sich unmit- telbar durch einen sehr merkwürdigen Differenzirungs-Process aus einem gi-ossen Plasmodium, einem homogenen und structurlosen Piasraakörper, wel- cher durch Verwachsung (Concrescenz) vieler ursprünglich selbstständiger amoebenförmiger Keime entsteht, deren jeder nach seinem Ausschlüpfen aus der Spore sich frei umherbewegt hat. Dieser höchst eigenthümliche Entwickelungsmodus veranlasste de Bary, die Myxomyceten als Mycetozoen zu dem Thierreich zu stellen, wo sie den Rhizopoden unter den Protozoen am nächsten stehen würden. Gleich den echten Rhizopoden seihst hetrachten wir auch die Myxomyceten als Glieder eines selhstständigen Protisten -Stammes, der seine eigene phyletische Ent- wickelung ganz unabhängig von anderen Organismen durchlaufen hat. Doch können wir auf seine Phylogenie nur aus seiner biontischen Entwickelung schliessen, da die empirische Paläontologie uns über die erstere gar keine Aufschlüsse hefert. A. de Bary hat vier verscliiedene Ordnungen aufge- stellt, in welche der Myxomyceten - Stamm sich difi'ereuzirt hat; diese sind: 1) Physareae (P/iysarum , Jetluiliurn) ; 2) Stemoniteae {Sfemonitis, Enerlhenema) ; 3) Trichiaceae {Licea , Jrcyria); 4) Lycogaleae {Lyco- gala, Reticularia). Sechster Stamm des Protisten -Reiches: Noctiliicac. Meerleuchten. Als einen eigenthümhchen Stamm des Protisten-Reichcs müssen wir die merkwürdige Gruppe der Äl eerleuchten oder Koctiluken (lilyxocystodea) mf- fassen, welche bloss aus dem einzigen Genus ISuclilaca besteht. Von dieser Das natürliche System des Protistenreichs. XXVII Gattung ist nur eine Art {N. miliaris) mit Sicherheit bekannt. Es sind kleine- pfirsichförmige «Bläschen, welche gegen 1'""' Durchmesser en-eichen und das Meer oft in so ungeheuren Massen bedecken, dass sie eine mehr als zolldicke Schleiraschicht auf dessen Oberfläche bilden. Sie sind eine der wesentlich- sten Ursachen des Meeresleuchtens. Eine Verwandtschaft der Noctiluken zu anderen Organismen ist durch- aus nicht mit Sicherheit zu ermitteln. Einige stellen sie zu den Ehizopoden, andere zu den Infusorien; doch könnte man sie fast mit demselben Kechte auch in die Reihe der grossen Diatomeen stellen. Da sie keine harten, der Fossilisation fähigen Theile besitzen iind da auch ihre Ontogenese zur Zeit noch ganz unbekannt ist, so sind wir über ihre Phylogenie gänzlich im Dun- keln. Unter diesen Umständen erscheint es am sichersten, sie als einen ei- genen, besonderen Stamm des Protisten -Reiches aufzufassen. Siebenter Stamm des Protisten -Reiches: Rhizopoda. Wurzelfüsser. Eine der formenreichsten und merkwürdigsten Organismen-Gruppen bil- det die grosse Abtheilung der Rhizopoden, welche wir als einen vollkommen selbstständigen Stamm des Protistenreiches betrachten Zwar werden diesel- ben gewöhnlich als Thiere aufgeführt ; indessen ist irgend ein Uebergang oder überhaupt nur irgend eine unzweifelhafte Beziehung zu echten Thieren nicht vorhanden. Die einzigen Organismen, mit denen man die echten Rhizopo- den allenfalls in Verbindung bringen könnte, sind einerseits die Spongien, andererseits die Protoplasten, von welchen letzteren bisher ein Theil (Amoe- biden und Arcelliden) gewöhnlich mit den echten Rhizopoden vereint ge- wesen ist. Doch sind auch die Beziehungen zu diesen Gruppen so allgemei- ner und indifferenter Natur, dass es uns vorläufig bei weitem am sichersten scheint, die echten Rhizopoden als ein eigenes selbstständiges Phylum zu sondern. Possile Reste von Rhizopoden sind in Masse bekannt, und zwar sind die kieselschaligen Radiolarien bisher nur tertiär, die kalkschaligen Acytta- rien dagegen schon von den ältesten Formationen an gefunden worden. Doch hat es bis jetzt nicht gelingen wollen, in der Masse der paläontologischen Thatsachen das Gesetz der phyletischen Entwickelung des Rhizopoden-Stam- mes zu erkennen. " Der Rhizopoden - Stamm, wie wir ihn nach Ausschluss der Protoplasten begrenzen, umfasst ausschliesslich hautlose Protisten, deren nackter Proto- plasmakörper allenthalben verästelte und confl.uirende Pseudopodien aus- strahlt und ausserdem meistens ein kieseliges oder kalkiges Skelet ausschei- det. Eine contractile Blase, wie sie die Infusorien und Protoplasten mei- stens besitzen, fehlt stets. Es gehören hierher die beiden umfangreichen Gruppen der Acyttarien und Radiolarien und die kleine Gruppe der Heliozoen (Jc/inosphaeriiim und die verwandten Rhizopoden), von denen die letzteren vielleicht alte Süsswasser-Formen repräsentiren , die sich von dem gemeinsa- men Urstamm der Rhizopoden schon frühzeitig abgezweigt haben. Erste Classe des Rhizopoden -Stammes: Acytlaria, H. Spiro Irhizopnden. (Synonym: Pobjthalamia. Foraminifera. Reticularia.) Die Acyttarien -Classe, welche im Ganzen den Gruppen der Polythala- micn, Foraminiferen oder Reticularien, im Sinne der neueren Autoren, je- XXVni Systematische Einleitung in die Entwickelungsgeschichte. doch nach Ausschluss gewisser Gruppen entspricht, ist die niedere und un- voUkommnere Abtheilung des Rhizopoden- Stammes. Der Weichkörper des Thieres besteht hier lediglich aus nicht differenzirter Sarcode, in welcher sich jedoch häufig (vielleicht immer?) Kerne entwickelt haben. Es fehlt aber die Centralkapsel, welche den Eadiolarien eigenthümlich ist. Meist ist eine kal- kige, seltener eine häutige oder kieselige Schale vorhanden, welche in den vollkommneren Acyttarien einen hohen Gi-ad von Complication in Form und Structur erhält. lieber die Classification dieser formenreichen Classe ist die neueste Bearbeitung derselben von Carpenter zu vergleichen^). Max Schnitze hatte dieselben nach Zahl und Anordnung der Schalenkammern in Einkammerige oder Monothalamia {Gromia, Lagynis) und Vielkammerige oder Polythalamia eingetheilt, und unter letzteren die Gruppen der Acervu- liniden, Nodosariden, Miliolideu, Nautiloiden, Turbinoiden, Alveoliniden und Soritiden unterschieden 2). Carpenter dagegen unterscheidet nach der Be- schaffenheit der Schalenwand - Structur die beiden Ordnungen der Imper- forata mit undurchbohrter und der Perforata mit durchbohrter Schale. Zu ersteren gehören die Gromiden, Miiioliden und Lituoliden, zu letzteren die Lageniden, Globigeriuiden und Nummulinideu. Wir halten uns hier nicht mit deren Anordnung auf, da die Ergebnisse aller bisherigen Classifications- Versuche noch nicht in Einklang mit den paläontologischen Resultaten haben gebracht werden können und für die Phylogenie werthlos sind. Die Acj^ttarien sind dadurch merkwürdig, dass zu ihnen der älteste be- kannte fossile Best eines Organismus gehört, die Kalkschale von Eozoon ca/iadense , welche vor wenigen Jahren in der unteren laurentischen Forma- tion Canadas (Ottawa) gefunden worden ist, und plötzlich die ungeheuer lange Zeit der organischen Erdgeschichte noch um colossale Zeiträume ver- längert hat. Sehr zahlreich finden sich Polythalamien - Schalen auch schon im Silur und Devon, namentlich kieselige Steinkerne derselben. Ihre ei- gentliche Acme erreicht die Classe jedoch erst in der Kreide- und besonders in der älteren Tertiär-Zeit (Nummuliten-Formation !) , wo sowohl die Anzahl ihrer verschiedenen Arten und die bedeutende Grösse eines Theiles derselben {Nummulites), als auch besonders die ungeheure Masse der Individuen er- staunlich ist, die oft ganze Berge fast allein zusammensetzen. Zweite Classe des Rhizopoden -Stammes : Hcliozoa^ H. Sonnenthierchen. Die Glasse der Heliozoen oder Actinosphäriden wird bis jetzt mit Si- cherheit nur durch ein einziges Protist repräsentirt, durch Jletinosphaeriiim Eic/ifiornü (^4clinopkrys Eichhornii) , den bedeutendsten unter den wenigen Vertretern der echten Rhizopoden im süssen Wasser. Wahrscheinlich ist derselbe als ein sehr alter und wenig veränderter directer Abkömmling der älteren Rhizopoden- Vorfahren zu betrachten (wie auch Gromia unter den Acyttarien), welcher sich, gleich anderen alten Süsswasser- Formen {Hydra, Gaiioida) in dem einfacheren Kampfe um das Dasein gut conservirt hat. Seiner Structur nach scheint Jctinos-phaerium zwischen den Acyttarien und Radiolnrien in der Mitte zu stehen, kann jedoch keiner von beiden Abthei- lungen zugerechnet werden. Insbesondere fehlt ihm die charakteristische Centralkapsel der Radiolarien. 1) Carpenter, Introductioii to the study of the Foraraiuifera. London 1862. 2) Max Schultze, über den Organismus der Polythalamien, Leipzig 1854. Das natürliche System des Protistenreichs. XXIX Dritte Classe des Ehizopoden - Stammes : Kadiolaria. Slrahlrhizopoden. (Synonym: Cijtophora. Polycystina. Echinocystida.) Die Kadiolarien- Classe ist noch ungleich formenreicher als die Acytta- rien - Classe, von der sie sich wesentlich durch den Besitz einer Centraikapsel unterscheidet, welche der letzteren stets fehlt. Gewöhnlich sind ausserdem noch gelbe Zellen in der die Kapsel umhüllenden Sarcode -Masse vorhanden. Meistens ist ein Kieselskelet ausgebildet, welches die zierlichsten und man- nichf altigsten Formen darbietet, die überhaupt in der organischen Natur vor- kommen. Wir haben in unserer Monographie der Kadiolarien versucht, die reiche Fülle dieser höchst verschiedenartigen Formen auf Grund ihrer ver- gleichenden Anatomie derartig in eine genealogische Yei-wandtschaftstabelle systematisch zu ordnen, dass daraus die Möglichkeit einer gemeinsamen Ab- stammung derselben von einer einzigen Grundform {Heliosphaerd) ersicht- hch wird ' ). Die fossilen Beste der Kadiolarien bieten für ihre Phylogenie eben so wenig Anhaltspunkte, als es bei den Acyttarien der Fall ist. IJebrigens sind sie ungleich seltener, als die der letzteren. In grossen Massen, und ganz vorwiegend das Gestein bildend, sind die Kieselschalen der Kadiolarien bis- her nur an zwei Orten , auf der Insel Barbados und den Nikobaren - Inseln, gefunden worden (1. c. S. 191). Diese sowohl, als alle anderen Gesteine, wel- che fossile Kadiolarien enthalten, sind in der Tertiärzeit abgelagert worden. Achter Stamm des Protisten -Reiches: Spoiigiae. Schwämme. (Synonym: Porifera. Amorphozoa. Spongida. Spongiaria.) Die schwierige und viel verhandelte Frage von der systematischen Stel- lung der Schwämme oder Spongien scheint uns ebenso wie diejenige von der Stellung der Khizopoden am besten dadurch gelöst zu werden, dass wir sie als einen besonderen und unabhängigen Stamm des Protisten-Keiches hinstel- len. Unter allen Organismen stehen die Khizopoden den Schwämmen am nächsten, doch nicht in solcher Beziehung, dass wir sie mit diesen in einem einzigen Phylum vereinigen können. Früherhin wurden die Spongien mei- stens von den Zoologen für Pflanzen, von den Botanikern für Thiere ange- sehen, und deshalb von Beiden vernachlässigt. Erst als vor zehn Jahren ihre Biologie durch die vorti-effHchen Untersuchungen von Lieberkühn näher bekannt wurde, beschloss man allgemein sie für Tliiere zu erklären, obwohl in den wichtigen Resultaten jener Untersuchungen selbst durchaus kein ge- nügender Grund für diese Bestimmung lag. Sie wurden nun als eine beson- dere Classe bald in den Protozoen-Kreis, bald in den Coelenteraten-Kreis ein- gereiht. Die Aehnlichkeit mit den letzteren ist aber offenbar bloss Analogie, keine Homologie. ») Ernst Haeckel, die Radiolarien. Eine Monographie. Berlin, G.Reimer 1862, 8. 234. Wie wir dort ausdrücklicli bemerkt haben, wollten wir dm-ch jenen pro- visorischen Versuch nur zeigen, dass die unendlich mannichfaltige Radiolarien-Classe als eine einzige blutsverwandte Gruppe nachgewiesen werden kann. Als eigentliche Aus- gangsform oder gemeinsame Stammform würde nicht Heliosphaera, sondern ein einfachstes Radiolar der Colliden -Familie , etwa eine der Thalassosphaera nahe stehende Form an- zusehen sein. ^ XXX ^ (Systematische Einleitung in die Entwickelungsgeschichte. Alle jetzt lebenden Schwämme besitzen kein zusammenhängendes Ske- let. Die einzelnen Skeletstücke (Spicula etc.), welche das Fasergerüst der meisten stützen, sind zwar vielfach in fossilem Zustande erhalten, vermögen uns aber keinerlei Aufschluss über ihre Phylogenie zu ertheilen. Dagegen giebt es eine grosse Anzahl von sehr charakteristisch geformten fossilen Kör- pern, welche man gewöhnlich als ,,Pet.rospongiae" der Schwammciasse ein- verleibt. Wir gestehen, dass wir diese Vereinigung nur mit dem grössten Misstrauen betrachten können, und aus vielen, an einem anderen Orte ms- führlich zu erörternden Gründen, vielmehr geneigt sind, die Petrospongien für einen eigen thümlichen, schon am Beginn der Tertiärzeit völlig ausgestor- benen Protisten - Stamm zu halten. Da wir jedoch, bei unserer höchst un- vollständigen Kenntniss desselben, keine genügende Charakteristik davon geben können, und er immerhin unter allen anderen Organismen den echten Spongien am' nächsten zu stehen scheint, so wollen wir denselben hier als eine besondere Classe des Spongien-Starames den echten Spongien oder Auto- spongien gegenüber stellen: Erste Classe des Spongien -Stammes: Autospoiigiae^ H. Echte Schwämme. Diese Classe umfasst alle jetzt lebenden Schwämme, von denen keiner ein derartiges verwickelt organisirtes Skelet und eine so ausgezeichnete und regelmässige Form besitzt, wie die fossilen Petrospongien. Wenn die Auto- spongicn ein Skelet besitzen, so besteht es bloss aus einzelnen kieseligen oder kalkigen Stücken: Nadeln (Spicula), Kreuzen, Stachelsternen, Amphi- disken, Siebkugeln etc. Diese sind auch sehr zahlreich in fossilem Zustande, besonders in den Tertiär - Gebilden, erhalten gefunden worden, ohne dass sie über die Phylogenie der Autospongien irgend etwas Bestimmtes aussagten. Die lebenden Autospongien zerfallen nach der chemischen Beschaffenheit ihres Skelets in vier Ordnungen : I. Myxospongiae oder Schleimschwämme (Halisarca) ohne jedes Skelet, bloss aus weichen Piastiden zusammengesetzt. II. Ceratospongiae oder Hornschwämme (Enspongia , Filifera, Üarwi- nella) mit organischem Skelet von hornähulicher oder chitin ähnlicher Consi- stenz. III. Silicispongiae oder Kieselschwämme {Clione, Halickotidria, Spoiigilla etc.) mit kieseligem Skelet. IV. Calcispongiae [Grantia, Sy- con) mit kalkigem Skelet. Offenbar bilden' die Myxospongien die älteste Stammform, aus der sich erst später die Ceratospongien entwickelt haben. Aus den letzteren sind dann als zwei unabhängige divergirende Zweige die Silicispongien und Calcispongien hervorgegangen, wie es Fritz Müller so klar erläutert hat^). Zweite Classe des Spongien - Stammes : Petrospongiae. Becher schwämme. Diese sehr merkwürdige Organismengruppe , welche aller Wahrschein- lichkeit nach einen ganz besonderen und selbstständigen, schon im Beginn der Tertiärzeit völlig erloschenen Stamm des Protistenreiches darstellt und sich durch seine charakteristische Form und Structur sehr wesentlich von den Autospongien unterscheidet, umfasst folgende fünf Ordnungen: I. Turo- nida (Ttfro«/«, Strtmntopora, Amovphospongia) ; II. Bothroconida Fritz Müller, über DarwineUa aurea, einen Schwamm mit sternförmigen Horu- nadeln. Archiv f. mikr. Anat, 1865, S. 344. Das natürliche System des Pflanzenreichs. XXXJ si'spongia, Bothronnim , P/eurosfoma) ; III. Lymnorida (Lymnorea, Lio- spongia, .4ctinospQngia) ; IV. Siphonida {Sip/ionia , Etiilea, Ciicmidhnn) ; V. Ocellarida {Cue/opti/c/iiuifi , Ocellaria , GueUardiu). Die formenreiche Petrospougien-Classe beginnt bereits mit Stromatopova und Palaeospongia im unteren Silur, bleibt aber in der Primärzeit im Ganzen noch spärlich. Mas- senhaft entwickelt sie sich von Eeginn der Secuudärzeit an, für welche sie sehr charakteristisch ist, und en-eicht die Acme ihre Entwickelung am Ende der Mesolithzeit, in der Weisskreide. Dann stirbt sie fast völHg aus, und nur ein einziger, merkwürdiger Eepräsentant, Guettardia TMolati, findet sich noch als letzter Ausläufer im Beginn der Tertiärzeit, im Nummulitenkalk. in. Das natürliche System des Pflanzenreichs. Von den drei organischen Reichen oder obersten Hauptgruppen, denen sich sämmtliche Organismen einordnen lassen, repräsentirt das Pflanzenreich am meisten eine geschlossene Einheit, so dass, falls man jedes der drei Reiche als einen einzigen natürlichen Stamm (Phylum) auffassen und für jedes derselben eine selbstständige autogone Stamm- form annehmen wollte , diese Annahme sich noch am ersten für das Pflanzenreich rechtfertigen liesse. Der Unterschied, den das Pflanzen- reich in dieser Beziehung gegenüber dem Protistenreiche und dem Thier- reiche darbietet, ist sehr augenfällig, und äussert sich unter Anderem auch darin, dass die Botaniker keine solchen grossen natürlichen Haupt- abtheilungen des Pflanzenreichs aufzustellen vermocht haben, wie sie im Thierreiche gegenwärtig von allen Zoologen als unabhängige „Typen" oder „Kreise" (Orbes, Branches, Embranchements, Subkingdoms) aner- kannt sind. Die charakteristische Eigenthümlichkeit dieser thierischen „Kreise" oder „Unterreiche" besteht darin, dass jeder derselben seinen eigenen „Organisationsplan oder Organisationstypus" besitzt, welcher ihm eigenthümlich und ausschliesslich zukommt, und welcher innerhalb des Kreises sich zu einem hohen Grade der Vollkommenheit entwickeln kann, unabhängig von allen anderen Kreisen. Die anatomischen, em- bryologischen und paläontologischen Verhältnisse dieser Kreise führten, uns zu der Vorstellung, dass jeder derselben einem natürlichen Stamme oder Phylum entspricht. "Wir konnten daher das Thierreich als ein Aggregat von fünf verschiedenen Stämmen auffassen, welche den fünf allgemein anerkannten Typen oder Subkingdoms entsprechen: Vertebra- ten, Articulaten, Mollusken, Echinodermen und Coelenteraten. Keine von diesen Abtheilungen kann einfach als eine niedere Entwickelungs- stufe der anderen angesehen werden. Eine analoge Eintheilung ist nun im Pflanzenreiche keineswegs durchführbar. Jenen fünf thierischen Ab- theilungen entsprechen nicht die wenigen grossen Hauptabtheilungen, welche man im Pflanzenreiche schon seit langer Zeit als Cryptoga- men und Phanerogamen, oder als Thallophyten und Cormo- XXXII Systematische Einleitung in die Entwickelungsgeschichte. phyten, oder als Plantae cellulares und Plantae vasculares unterschieden hat. Vielmehr erscheint es hier ungleich natürlicher, die ersteren nur als persistente Nachkommen von niederen Entwicke- lungsstufen der letzteren anzusehen. Wenn wir die ganze Anatomie und Morphogenie des Pflanzenreichs vergleichend ins Auge fassen, so erscheint es uns wohl am natürlich- sten, dasselbe als einen einzigen Stamm oder Phylum aufzufassen, je- doch nach Ausschluss derjenigen, bald zum Thierreich, bald zum Pflan- zenreich gerechneten Stämme, welche wir bereits im Vorhergehenden als zu den Protisten gehörig bezeichnet haben: Myxomyceten, Diatomeen, Flagellaten etc. Wir haben auf Taf. II den Versuch gemacht, diese Anschauung durch die Darstellung eines Stammbaums, welcher sämmt- liche echte Pflanzen umfasst, zu erläutern. Neigt man andrerseits mehr zu der Ansicht, dass auch das Pflan- zenreich, gleich dem Thierreich und dem Protistenreich, aus mehreren verschiedenen, selbststäudigen Stämmen zusammengesetzt ist, so wür- den als solche isolirte Phylen sich vielleicht zunächst diejenigen vier Hauptgruppen darbieten, die wir bereits oben (Bd. I, S. 220) unterschie- den haben, nämlich die Phycophyten, Characeen, Nematophyten und Cormophyten. Jedoch ist der genealogische Zusammenhang auch die- ser vier Gruppen uns aus mehreren Gründen sehr wahrscheinlich, und es ist sehr leicht möglich , dass nicht allein die Characeen und Nema- tophyten, sondern auch die Cormophyten aus dem Phycophyten-Stamme ihren Ursprung genommen haben. Dagegen ist das Phylum der Phy- cophyten selbst vielleicht ein Aggregat von mehreren ganz selbststän- digen Stämmen, und es ist z. B. sehr leicht möglich, dass die Flori- deen ein eigenes Phylum bilden, ebenso die Fucoideen und andere Gruppen der sogenannten Algenclasse. Da wir diese schwierige Frage im fünfundzwanzigsten Capitel nochmals berühren werden, so halten wir uns hier nicht länger bei derselben auf, und wenden uns zu einer kurzen Uebersicht des natürlichen Systems des Pflanzenreichs, wobei wir zugleich auf Cap. XXV, sowie Taf, II und deren Erklärung verwei- sen. Den vier Stämmen, welche wir bereits im siebenten Capitel ge- schieden haben, fügen wir hier noch als zwei selbstständige Phylen die eben genannten eigenthüralichen Algengruppen hinzu, indem wir die Algenclasse in drei Stämme auflösen, in die Archephyten, Florideen und Fucoideen. Wir erhalten demnach sechs verschiedene Stämme des Pflanzenreichs, welche jedoch höchst wahrscheinlich sämmtlich an ihrer Wurzel zusammenhängen und gemeinsamen Ursprungs sind, wie es Taf. I andeutet. Die Paläontologie vermag über diese wichtige Frage wieder keine Auskunft zu geben, da fast alle fossilen Pflanzenreste, welche deutlich erkennbar und von phylogenetischer Bedeutung sind, dem Cormophyten - Stamme angehören. Das natürliche System des Pflanzenreichs. XXXIII Erster Stamm des Pflanzenreichs: xlrchcph^^ta, H. Urpflanzen. Als Archephyten oder Urpflanzen fassen wir den grössten Theil der nie- deren Algen zusammen, welche von der Algengruppe nach Abzug der Fu- coideen und Florideen und derjenigen einfachsten Pflanzen übrig bleiben, welche die Stammformen der übrigen vegetabilischen Phylen sind. Wenn das ganze Pflanzenreich einem einzigen Phylon entsprechen sollte , wie es auf Taf. II dargestellt ist, so würden die Archephyten wahrscheinlich zugleich die ältesten 'Stammformen und die am wenigsten veränderten Nachkommen derselben enthalten. Wir würden dann die Archephyten als Wurzel des gan- zen Pflanzenreichs zu beti-achten haben. Leider wissen wir von ihrer Phy- logenie so gut wie nichts, da die meisten Archephyten äusserst weich und zai-t, und gar nicht der Erhaltung in fossilem Zustande fähig sind. ■ Einzelne unsichere Eeste finden sich in verschiedenen Schichten, die ältesten bisher bekannten im Perm (TJlvaceen) und in der Kreide (Confervaceen). Jedoch lässt sich aus diesen unbedeutenden Resten kein Schluss auf die paläontolo- gische Entwickelung der Gi-uppe ziehen. Von allen echten Pflanzen stehen die Archephyten den Protisten, und namentlich den Flagellaten und Proto- plasten am nächsten. Vielleicht ist dieser Stamm auch, gleich mehreren Protisten-Stämmen, ein Aggregat von mehreren selbstständigen Phylen. Wir theilen den Archephyten-Stamm in fünf Ordnungen, die jedoch schwer zu trennen sind und vielfach zusammenhängen. Erste Ordnung der . Ai-chephyten : Codiolaceae , H. Einsiedler- J Igen. Codiolaceen nennen wir die einfachsten und unvollkommensten mono- plastiden Archephyten {Codioliim , Hijdrocyliuvi , Protococcus , Op/iiocytium etc.). Die Phylogenie dieser Ausgangsgruppe ist ganz unbekannt. Es ge- hören hierher ausschhesslich monocytode und einzellige Algen. Zweite Ordnung der Archephyten: Desmidiaceae. Ketten - Algen . Die Ordnung der Desmidiaceen umfasst die in ausgezeichneter Form entwickelten monoplastiden oder zu charakteristischen polyplastiden Synu- sieen (Ketten) verbundenen Algen, welche sich gleich den Zygnema'ceen durch Conjugation fortpflanzen. Es gehören hierher die bekannten Genera Closterium, Micrasterias , Euaslrum, Staurastrum etc. Ihre Phylogenie ist ganz unbekannt. Wahrscheinlich stammen sie von Codiolaceen ab. Dritte Ordnung der Archephyten: Nostochaceae. Gallerl- Algen. In dieser Ordnung finden sich, wie in der der Codiolaceen, viele äusserst einfache und unvollkommene Algen, welche vielleicht zum Theil Ausgangs- punkte für höhere Gruppen abgeben. Sie kann in die drei Famihen der Pal- mellaceen {Palmella, Cuccochloris) , Spermosireen {Nostoc , Spermosira) und Hydrureen {Hijdrurus , Hydrococcus) gespalten werden. Auch von diesen Ordnungen ist die Phylogenie ganz unbekannt. Sie sind vielleicht thcilweis auch Voreltern höherer Pflauzengruppen, Haeckel, Generelle Morphologie, n. *** XXXIV Systematische Einleitung in die Entwickelungsgeschichte. Vierte Ordnung der Archephyten: Confervaceae. Faden- J Igen. Die Ordnung der Confervaceen ist aus den Unter-Ordnungen der 0 seil - latorieen (Oscillaria, Lingbya, Rivulnria), der Ectocarpeen (%.r«//^^/flfl, Conferva, Ectocarpits) und der Zygnemaceen (Zi/gnema, Spyrogyra etc.) zusammengesetzt. Die Algen dieser Ordnung sind zum Theil schon höher entwickelt, als die vorigen; doch ist auch ihre Phylogenie uns ganz unbe- kannt. Einige Arten Confervifes sind in der Kreide fossil gefunden, einige andere tertiär. Fünfte Ordnung der Archephyten : Ulvaceae. Schlauch-^lgen. Auch von dieser Algengruppe ist leider die Phylogenie fast ganz unbe- kannt. CtfM/crp'Mv /?ro»/// findet sich fossil in der Steinkohle; viele andere Arten derselben Gattung im Perm. Diese Ordnung ist die am höchsten ent- wickelte und vollkommenste Gruppe unter den echten Archephyten. Es ge- hören hierher die drei Unterordnungen der Siphoneen (Faitcheria , Bryopsis, Caulerpa, Codium), der Corallineen (Coiallina, Jcelahuluria) und der ech- ten Ulven oder Porphyraceen {Viva, Porphyra). Sowohl die Corallineen als die Siphoneen gehören vielleicht selbstständigen Phylen an. Zweiter Stamm des Pflanzenreichs: Florideae. Roth - Algen. Die schöne und interessante Algengruppe der Florideen oder Pyrrho- phyten, meistens roth gefärbter Meerpflanzen, ist durch so viele Eigenthüm- lichkeiten im Bau, in der embryologischen Entwicklung und in den physio- logischen Ernährungs- und Fortpflanzungs-Verhältnissen ausgezeichnet, dass man dieselbe wohl als einen besonderen selbstständigen Stamm des Pflanzen- reichs betrachten kann, der sich aus einer eigenen autogenen Moneren-Form entwickelt hat; doch hängt derselbe vielleicht an seiner Wurzel mit anderen Algenstämmen zusammen und würde dann wahrscheinlich von der Arche- phyten-Gi-uppe sich abgezweigt haben. Leider ist auch von dieser Algen- gruppe die Phjdogenie sehr unbekannt. Die weichen, zarten und sehr leicht zerstörbaren Körper dieser Seepflanzen sind nur selten der fossilen Erhaltung fähig. Doch finden sich Abdrücke von ziemlich vielen Arten in verschiede- nen Schichten vom Devon an aufwärts, vorzüglich im unteren Jura, seiteuer in der Kohle. Erste Ordnung der Florideen: Ceramiaceae. Horn - Tange. Von den beiden Ordnungen, welche wir in der Florideen - Classe unter- scheiden, umfasst die artenreiche Gruppe der Ceramiaceen die kleineren und unvoUkommneren Formen : Nemastoma, Ceramium, Callühamnion, Chnndrus etc. Ihre Phylogenie ist sehr unbekannt. Viele Arten Chondriles finden sich im Devon, Carbon und Jura; viele Arten Halyinenites im Jura. Unter ihnen finden sich wahrscheinlich die Voreltern der Sphaerococcaceeu. Das natürliche System des Pflanzenreichs. XXXV Zweite Ordnung der Florideen: Sphaerococcaceae. Purpur - Tange. Diese Ordnung umfaest die ausgebildeteren und vollkommneren Formen der Florideen-Classe, die Poly.siphonia , Sphaerococcus , Rhodomelu, Delesse- ria, Plocumium etc. Auch ihre Phylogenie ist wieder sehr unbekannt. Viele Arten von Sphaerococciles finden sich im Devon, Jura und Tertiär; mehrere Arten R/iodomelilcs in der Kohle und Kreide, und üelesseriles im Eocen. i Dritter Stamm des Pflanzenreichs: Fucoideae. Braun- Algen. (Synonym: Fucaeeae. Phyceae. Phycoda.) Von dieser umfangreichen und vielgestaltigen Algengruppe, welche die grössten und vollkommensten aller marinen Cryptogamen umfasst, gilt das- selbe, was wir im Allgemeinen von der Plorideen-Gruppe gesagt haljen. Auch diese Gruppe zeichnet sich durch ihre anatomischen und physiologischen Ver- hältnisse so sehr vor den übrigen Algen, und namentlich einerseits vor den Florideen, andererseits vor den Archephyten aus, dass man sie wohl als ein besonderes Phylum auffassen kann. Andererseits ist es leicht möglich, dass auch sie sich aus den Archephyten hervorgebildet hat, wie es auf Taf. II an- gedeutet ist. Leider ist uns auch von dieser wichtigen Pflauzengruppe die Phylogenie höchst unbekannt. Die weichen, schleimigen und leicht zerstör- baren Körper dieser Seepflanzen sind trotz ihrer sehr bedeutenden Grösse nur sehr selten der fossilen Erhaltung fähig. Einzelne Abdrücke finden sich in verschiedenen Schichten, von der Kohle an, besonders im Jura, sind jedoch ohne Bedeutung. Erste Ordnung der Fucoideen: Chordariaceae. Strick - Tange. Diese Ordnung umfasst die niedersten Fucoideen, Chordaria, Haliseris, Jsperococcua, Eucoelium etc. Ihre Phylogenie ist sehr unbekannt. Einzelne Arten von Hnliscrites und Eucoelites finden sich im unteren Jura. Zweite Ordnung der Fucoiden : Laminariaceae. Blatt - Tange. Auch von dieser Ordnung, zu welcher die colossalen Blatt-Tange Lami- naria, Haligenia , Alaria etc. gehören, ist die Phylogenie fast ganz unbe- kannt. Einzelne Arten von Laminarit.es enthält das Carbon und Tertiär. Dritte Ordnung der Fucoiden : Sargassaceae.- üaum - Tang e. Die Ordnung der Sargassaceen, welche die grössten und vollkommen- sten von allen Algen enthält {Fucus, Halidrys, Cystoseira , Sargassum etc.), giebt uns leider durch ihre wenigen und unvollständigen fossilen Reste eben so wenig befriedigende Aufschlüsse über ihre phyletischc Entwickeluug, als alle vorhergehenden Gruppen. Einzelne Arien von Laniinariles sind fossil in der Steinkohle und im Tertiär gefunden worden. XXXVI Systematische Einleitung in die Entwickelungsgeschichte. Vierter Stamm des Pflanzenreichs: Characcae. Armleuchter -Pflanzen. (Synonym: Gyrophyceae. CJiarapliyta. Spiral - Tange. ) Diese merkwürdige Pflanzengruppe besteht nur aus den beiden Gattun-_ gen Nitella und Chura. Ihre Phylogenle ist ganz unbekannt. Die weichen und leicht zerstörbaren Körper dieser Wasserpflanzen sind nur selten der fos- silen Erhaltung fähig. Abdrücke einzelner Arten finden sich im Tertiär- Gebirge, vom Eocen au. Die Früchte finden sich öfter in eoeenen und mio- cenen Süsswasser- Schichten und sind als Gyrogoniten beschrieben worden. Doch kann man aus diesen unbedeutenden Eesten keinerlei Schlüsse auf ihre paläontologische Entwiekelung ziehen. Die ganz eigenthümlichen anatomi- schen, ontogenetischen und physiologischen Verhältnisse der Characeen be- rechtigen zu der Annahme, dass sie einem selbstständigen Phylura angehören, welches sich aus einem eigenen autogenen Moner entwickelt hat. Doch ist es andererseits auch leicht möglich, dass sich die Characeen von den Arche- phyten, sei es von den Codiolaceen, oder von den Confervaceen oder von einer andern, vielleicht ausgestorbenen und uns nicht bekannten Gruppe ab- gezweigt haben, wie es auf Taf. II angedeutet ist. Fünfter Stamm des Pflanzenreichs: luopliyta. Faser -Pflanzen. Als Inophyta (Faser-Pflanzen) oder Nematophyta (Faden-Pflanzen) fas- sen wir hier die beiden nächstverwandten Classen der Pilze (Fungi) und Flechten (Lichenes) zusammen, welche höchst wahrscheinlich gemeinsamen Ursprungs sind. Auch von ihnen ist leider die Phylogenie ganz unbekannt. Die weichen und leicht zerstörbaren Körper dieser Pflanzen, vorzüglich der Pilze, sind nur selten der Erhaltung fähig, sondern sehr rasch vergänglich. Viele leben als Parasiten, viele andere als Baumbewohner etc. und gelangen deshalb selten in Verhältnisse, welche der fossilen Conservation günstig sind. Einzelne, sehr unbedeutende und zum Theil unsichere Beste sind in verschie- denen Formationen gefunden worden, die ältesten in der Steinkohle. Die Inophyten müssen entweder aus den Archephyten sich entwickelt haben, oder aus einem oder mehreren autogenen Moneren. Im letzteren Falle müss- ten sie eine oder mehrere besondere Phylen bilden. Erste Classe der Nematophyten : Fungi. Pilse. Die paläontologische Entwiekelung der Pilze ist ganz unbekannt. We- nige unbedeutende Eeste von Hyphomyceten (Rhizomorphites , Nijctoviyces) finden sich im Tertiär, von Gasteromyceten {Excipulites in der Steinkohle, Äijlomiles imZnxa, Ht/sleristes imTeYÜäT), sowie von Pyrenomyceten {Sphae- ria) im Tertiär. Auch ein Hymenomycet (Polypojnles) wird aus der Stein- kohle angegeben. Aus allen diesen ünbedeutenden Eesten lässt sich kein Ergebniss für die Phylogenie der Pilze gewinnen. Zweite Classe der Nematophyten : Lichenes. Flechten. Auch die paläontologische Entwiekelung der Flechten ist uns ebenso wie diejenige der Pilze gänzlich unbekannt. In kenntlichem fossilen Zustande Das natürliche System des Pflanzenreichs. XXXVII finden sich nur sehr wenige, ganz unbedeutende und zum Theil auch noch zweifelhafte Reste : Rarnallinites im Jura und Ferrucurilc.s im Tertiär. "Wahrscheinlich haben sich die Flechten, vereinigt mit den Pilzen, aus Ar- chephyten entwickelt. Sechster Stamm des Pflanzenreichs: €oriiiO|ihyta. Stockpflanzen. Den sechsten und letzten Stamm des Pflanzenreichs bildet die umfang- reiche Abtheilung der Cormophyta. Wir fassen hier die Gruppe in demsel- ben Umfange auf, wie sie Uuger und Endlicher aufgestellt haben und stellen dai-in also die sämmtlichen Phanerogamen oder Anthophyten mit den höheren Cryptogamen zusammen, und zwar mit den sämmtlichen moosarti- gen (Bryophyten) und farrnartigen (Pteridophyten). Es gehören mithin zu den Connophyten sämmtliche Pflanzen mit Ausnahme der Thallophyten, wenn man unter diesem Ausdruck die fünf vorhergehenden Stämme zusammenfasst. Dass alle Pflanzen, welche wir in dem Pliylum der Cormophyten zu- sammenfassen, durch das Band wirklicher Blutsverwandtschaft zusammen- hängen, scheint uns durch die vergleichende Anatomie, Ontogenie und Phy- logenie dieser Gruppe auf das Bündigste bewiesen zu werden. Zunächst ist es klar, dass sämmtliche Phanerogamen (trotz aller Manniclifaltigkeit im Ein- zelnen) dennoch durch die wesentlichsten Gründzüge ihres Baues und ihrer Entwickelung so innig verbunden sind, dass ihre gemeinsame Abstammung nicht geleugnet werden kann. Ebenso klar ist dies andererseits für die Pte- ridophyten und Bryophyten, von denen ein Theil der letzteren permanente Prothallium-Formen der ersteren repräsentirt. Die unmittelbare Verbindung der angiospermen Phanerogamen mit den Pteridophyten wird durch die Gymnospermen hergestellt, von denen die Coniferen den Lepidophyten nächst verwandt sind. Während die Paläontologie uns für die Phylogenie aller vorhergehenden Stämme so gut wie gar keine empirischen Grundlagen lieferte, so bietet sie uns dagegen- für die Construction des Cormophyten -Stammbaums die werth- vollsten Materialien. Wenn man dieselben unbefangen und reiflich in Er- wägung zieht und mit den Daten der vergleichenden Anatomie und Embryo- logie der Cormophyten zusammenstellt, so wird man-, glauben wir, nicht leicht zu einem wesentlich anderen Resultate hinsichtlich ihrer Genealogie kommen können, als es von uns auf Tafel II entworfen worden ist. Hiernach haben sich also zunächst aus den Moosen die Pteridophyten entwickelt, deren Lepidophyten-Zweig den gymnospermen Anthophyten den Ursprung gegeben hat. Aus diesen haben sich weiterliin die Angiospermen entwickelt, welche sich wahrscheinlich schon frühe in die beiden Gruppen der Monocotylen und Dicotylen differenzirt haben. Von letzteren sind of- fenbar zuerst die Monochlamydeen entstanden, aus denen sich erst später die Polypetalen, und aus diesen zuletzt die Gamopetalen hervorgebildet haben. Soweit lässt sich der Cormophyten - Stammbaum mit befriedigender Si- cherheit herstellen. Es entsteht nun aber weiter die Frage, welche Pflan- zenformen ZAvischen den Moosen, als den niedersten unzweifelhaften Glie- dern des Stammes, und zwischen ihren autogenen Stammformen liegen. Am nächstliegenden erscheint es es hier, auf die Thallophyten, und zwar ent- weder zunächst auf die Flechten, oder unmittelbar auf die Archephyten zu- rückzugehen, auf welche das Prothallium der Moose uns hinführt. Wir ge- langen also auch auf diesem Wege zu der Annahme, welche wir aus vielen XXXVIII Systematische Einleitung in die Entwickelungsgeschichte. Gründen für die Genealogie des Pflanzenreichs als die wahrscheinlichste an- sehen: dass die sechs von uns provisorisch aufgestellten Phylen des Pflan- zenreichs an ihrer Wurzel zusammenhängen und dass das ganze Pflanzenreich ein einziges zusammenhängendes Phylum darstellt, wie Taf. II es andeutet. Erster Unterstamin der Cormophyten: Prolhallophyta, H. Vorkeim -Pflanzen. (Synonym: Cryptogamae phyUogonicae. Blatt ~ Cryptogamen.) Die Abtheilung der Prothallophyten umfasst die moosartigen {Musciiiae) und farrnartigen Cryptogamen {Filicinae) im weiteren Sinne, also sämmtli- che zur Differenzirung von Stengel und Blatt gelangte Cryptogamen. Sie können daher auch Blatt-Cryptogamen {PhyUogonicae) heissen, im Gegensatz zu den die fünf vorhergehenden Phylen bildenden Thallus - Cryptogamen (Thallogoincae). Die Ontogenie sämmtlicher hierher gehörigen Pflanzen, so- weit sie bekannt ist, verläuft mit echtem Generationswechsel (Metagenesis productiva). Die erste Generation (Prothallium) zeigt noch den einfachen Zustand der alten Voreltern der Classe, ein algen- oder flechtenähnliches Prothallium, ohne Difierenzirung von Stengel und Blättern. Letztere tritt erst in der zweiten höher entwickelten Generation auf. Die Entwickelung des Prothalliums beweist theils die gemeinsame Abstammung aller von uns hier vereinigten Pflanzen, theils ihren Ursprung aus niederen Thallophyten, welche vielleicht den vorigen Stämmen (Archephyten, Nematophyten) ange^ hören, in welchem Falle diese Stämme zu verschmelzen sind (vgl. Cap. XXV). Das Prothallium der Moose weist auf Archephyten, das Prothallium der Farrne auf Lebermoose und weiterhin auf Flechten zurück. Leider kann uns die Paläontologie für diese wichtige Frage keine Anhaltspunkte liefern, während sie dagegen die weitere Phylogenie der Pteridophyten in sehr be- friedigender Weise erläutert. Erster Cladus der Prothallophyten: B r y o p h y t a. Moose. (Synonym: Muscinae. Musci (sensu ampliori). Bryoviorpha). Die Phylogenie der Moose ist ganz unbekannt, soweit sie sich auf fos- sile Reste stützt. Dagegen lassen Anatomie und Ontogenie derselben kei- nen Zweifel darüber, dass sie sich aus niederen Thallophyten und wahrschein- lich aus confervenartigen Archephyten entwickelt haben. Der deutlichen Erhaltung in fossilem Zustande sind die sehr zarten und zerstörbaren, auch meist sehr kleinen Pflanzenkörper nur sehr selten fähig. Auch ihr Wohnort begünstigt dieselbe nicht. Einzelne unbedeutende Eeste sind in verschiede- nen Tertiär- Gebilden gefunden worden. Erste Classe der Bryophyten: Thallobrya. Lebermoose. (Synonym: Hepatohrya. Hepaticae. Musci hepatici. ThaUusmoote.) Die Lebermoose vermitteln in ausgezeichneter Weise den IJebergang von den Thallophyten zu den Cormophyten, da die Difi'erenzirung von Stengel und Blatt aus einem nicht difi'erenzirten Thallus innerhalb dieser Classe vor sich geht. Wir können daraus auf die phyletische Abstammung der Cormo- Das natürliche System des Pflanzenreichs. XXXIX phyten von einfachen Thallophyten schliessen. Die fossilen Keste diesfer Classe sind nur sehr unbedeutend; die ältesten finden sich tertiär: mehrere Arten von Jiuigermannites {transversm , contorlus, Necsianus) in eocenem Bernstein; Marchautites sezannensis ebenfalls im Eocen. Zweite Classe der Bryophyten: Phyllobrya. Laubmoose. (Synonym: iVus« (sensu strictiori). Musci frondosi. Blattmoose.) Die Laubmoose haben bereits sämmtlich wohl difi'erenzirte Stengel- und Blatt-Organe, und sind demnach vollkommene Uebergangsformen von den Thallobryen zu den Pteridophyten , und insbesondere zu den Lepidophyten. Die fossilen Keste der Laubmoose sind ebenso wie die der Lebermoose nur von sehr geringer Bedeutung. Ihre Phylogenie ist fast ganz unbekannt. Die ältesten bekannten Beste finden sich im unteren Tertiär: mehrere Arten von Muscites (apicidatus, co/iferlus, hirsiitissiuius) im eocenen Bernstein; ferner Miisciles Toiirnidü im Miocen von Armissan und Muscites Sc/nrnperi im Plio- cen von Parschlug. Zweiter Cladus der Prothallophyten : .Pteridophyta, H. Farm- Pflanzen. (Synonym: Filicinae. Cryptogamae vasculares.) Die paläontologische Entwickelung dieser Gruppe ist ziemHch vollstän- dig bekannt und von der grössten Bedeutung. Diese Pflanzengruppe bildete in dem ganzen paläolithischen Zeitalter den bei weitem überwiegenden Be- standtheil der gesammteu Landvegetation , so dass man dieses Zeitalter eben so gut, wie das Zeitalter der Fische, auch das Zeitalter der P arm - Pflanzen (Pilicinen oder Pteridophyten) nennen könnte. Die Angiospermen (Mono- cotylen und Dicotyleu), welche gegenwärtig ungefähr ^/g der Artensumme des Pflanzenreichs ausmachen, fehlten damals noch völlig und neben den Pteridophyten kamen von höheren und grösseren Landpflanzen nur noch Gymnospermen vor. Nach einer Angabe von Bronn betrug die bekannte Arten-Zahl sämmtlicher paläoHthischen Pflanzen im Jahre 1855 im Ganzen ungefähr Eintausend. Darunter befanden sich 872 Arten von Pteridophyten, 77 Arten von Gymnospermen, 40 Arten von Thallophyten (grösstentheils Plo- rideen, Pucoiden und Ulvaceen) und gegen 20 unsichere Cormophyten (wohl irrthümlich für Monocotylen gehalten). Die gesammten Pteridophyten, wel- che gegenwärtig noch leben, erscheinen nur als die letzten unbedeutenden Ausläufer jener ausserordentlich mannichfaltig und vollkommen entwickelten paläolithischen Pilicinen -Flora. Letztere verhält sich zu ersteren unge- fähr ebenso, wie die Ganoiden-Pauna der Primärzeit zur jetzigen. Die ech- ten Farrne sowohl (Fihces), als die Schafthalme (Equisetaceen) und Bärlappe (Lycopodiaceen) enthielten damals weit zahlreichere, mannichfaltigere und grossartigere Repräsentanten, als gegenwärtig, und ausserdem hatte sich aus jenen Gruppen noch eine Anzahl von eigenthümhchen Pflanzen - Ordnungen abgezweigt, welche entweder schon gegen Ende der Primärzeit oder wenig später völlig zu Grunde gingen, so namentlich die Calamiten, AsterophyUi- ten, Lepidodendren und Sigillarien. Sehr viele von diesen Pteridopliyten waren in Gestalt mächtiger Bäume entwickelt, welche, grossentheils blattlos oder nur mit ganz kleinen und rudimentären Blättern bedeckt, der paläozoi- schen Flora ein höchst eigenthümliches Aussehen müssen verliehen haben. XL Systematische Einleitung in die Eutwickelungsgeschichte. Die Stämme dieser baumartigen Filicinen sind es vorzüglich, welche die mächtigen Kohlenflötze der Steinkohlen-rormation zusammensetzen. Neben diesen oft sehr schön erhaltenen Stämmen finden sich noch die Blätter (We- del) der Farrne, sowie die Früchte anderer Filicinen sehr zahlreich und schön erhalten vor. Zweifelsohne entwickelten sich sämmtliche Pteridophy- ten aus niederen Cryptogamen, zunächst wahrscheinlich aus Bryophyten, vielleicht auch direct aus niederen Thallophyten. Die erste Generation der- selben, welche ein thallusförraiges Prothallium darstellt, beweist dies deut- lich 1). Diese Entwickelung fand höchst wahrscheinlich in der langen Ante- devon-Zeit statt, da in den silurischen Schichten die Pteridophyten , wie alle Landpflanzen, noch völlig fehlen, während in den devonischen Schichten sämmtliche Gruppen der Filicinen bereits vertreten sind; doch sind dieselben im Devon noch spärlich gegenüber den colössalen Massen , welche sie in der Steinkohlenzeit bilden. Diejenigen Ordnungen der Filicinen, welche am meisten von den jetzt lebenden abweichen, die Asterophylliten , Lepidoden- dren und Sigillarien, scheinen unmittelbar nach der Steinkohlenzeit (in der Anteperm-Zeit) ausgestorben zu sein, da sie sich in späteren Schichten nicht mehr finden. Die Calamiten reichen noch bis zum Keuper. Sämmtliche Pte- ridophjrten erreichen in der Steinkohlen-Zeit den Gipfel ihrer Entwickelung. Nur die Classe der Ehizocarpeen ist hiervon ausgeschlossen; doch ist deren Phylogenie überhaupt nur höchst unvollständig bekannt. * Erste Classe der Pteridophyten: Calamophyt»; H. Hohhchajl-Pßanzen. Die Phylogenie dieser Classe, in welcher wir die Equisetaceen , Calami- teen und Asterophylliteen vereinigen, ist durch zahlreiche und sehr merk- würdige paläolithische Reste bekannt. Sie entwickelte sich wahrscheinlich in der Antedevon-Zeit entweder aus moosartigen Pflanzen oder aus niederen Cryptogamen (Thallophyten), und erreichte in der Steinkohlen-Zeit die Höhe ihrer Bildung. Die Asterophylliten starben bald nachher aus, während sich die Calamiten bis zum Keuper, und die Equisetaceen in verkümmerten Zwerg- formen bis heute fortsetzen. Alle drei Ordnungen scheinen nach dem Bau des hohlen gegliederten und gerippten Stengels, und der quirlförmig die In- ternodien umstehenden Aeste und Blätter nächstverwandt zu sein. Doch werden die Asterophylliten von Anderen zu den Gymnospermen gezählt. Erste Ordnung der Calamophyten : Equisetaceae. Schafihalme. Die heutigen Equisetaceen erscheinen nur als die dürftigen, kümmerlich erhaltenen Eeste der reichen Calamophyten-Flora, welche in der paläolithi- schen Zeit sich entwickelt hatte. Am nächsten verwandt diesen degenerirten Epigonen sind die mächtigen, baumartig entwickelten Equisetites, von denen sich zahlreiche Arten in fossilem Zustande erhalten haben. Die ältesten Ar- ten finden sich im Devon (E. radiatus , Brongniarli) , zahlreichere in der Steinkohle, die meisten im Keuper der Trias, einzelne auch noch im Jura bis zum Wealden hinauf. Einige Arten des echten Equisetum , welches nur einen schwachen Ausläufer der Equisetites darstellt, finden sich tertiär. ^) Specielle Schlüsse aus dem Generations-Wechsel der Pteridophyten auf ihre Phy- logenie sind übrigens sehr schwierig, und nur mit gi'össter Vorsicht anzustellen, wie dies z, B. auch vou der Mefamorphose der lusecten gilt (vergl. unten). Das natürliche System des Pflanzenreichs. XLI Zweite Ordnung der Calamophyten : Calataiteae. Riesenhalme. An die Equisetaceen schliessen sich als ihre nächsten Verwandten die dalmnites an, raeist mächtige starke Stämme, den Eqniselites nahe stehend, gegen 50 Fuss hoch. Die ältesten Ca/anittes- Arten finden sich im Devon, die bei weitem grösste Zahl in der Steinkohle, aber auch noch viele Arten im Perm und in der Trias, woselbst sie mit dem Keuper ganz oder grössten- theils aufhören. Einige setzen sich vielleicht auch bis in den unteren Jura hinein fort. Dritte Ordnung der Calamophyten: Asterophylliteae. Sternhlatlhulme. Diese ganz eigenthümliche Pflanzen-Ordnung ist von den Botanikern an sehr verschiedene Stellen des Systems versetzt worden. Vielleicht gehört sie schon zu den Gymnospermen (in die Nähe der Pkyllocladus ur^ter den Coni- feren), vielleicht auch bildet sie eine Zwischenform zwischen Equisetaceen und Coniferen; höchst wahrscheinlich sind sie jedoch den Calamiten und Equisetaceen nächst verwandt, und stellen einen eigenthümlichen Zweig der Calamophyten- Classe dar. Die Asterophylliten sind ausschliesslich auf die Primär-Zeit beschränkt; sie treten zuerst mit wenigen Arten im Devon auf {Jlsterophyllites pygmaeus und Römeri) und erreichen eine sehr hohe Entwi- ckelung in der Steinkohle, mit welcher sie erlöschen {JsteroyhyllUes, Volk- maiinia , Sphenophyllum , Annularia , Fertebraria und mehrere andere Gat- tungen mit sehr zahlreichen Arten). Zweite Classe der Pteridophyten : Filiccs. Farrne. (Synonym: Geopterides. Füicinae verae.) Die echten Farrne oder Farrnkräuter beginnen mit wenigen Arten im Devon und erreichen eine ausserordentlich massenhafte und hohe Entwicke- lung in der Steinkohlen -Periode, in welcher sie vielleicht den überwiegend grösseren Bestandtheil vieler "Wälder bildeten. Die Form der baumartigen Farrnkräuter en'eichte hier ihre höchste Entwickelung, um nachher abzuneh- men, so dass die jetzt lebenden Baumfarrne nur als einzelne dürftige Beste jener reichen und vielgestaltigen paläolithischen Farrnwälder gelten kön- nen. Sowohl Stämme als Blätter (Wedel) sind massenhaft erhalten, aber meist nur unsicher auf einander zu beziehen. Die artenreichsten Gattungen waren Splienopleris, Hymenophyllites, Neuropleris, Odontopteris, Cyclopleris, Cyalheites, Alelliopteris, Pecopteris etc. Zu den ältesten devonischen gehö- ren viele Arten Cyclopteris. Im Perm sowohl als in der Trias (im bunten Sandstein und Keuper) sind die Baiimfarrne noch stark entwickelt, nehmen aber dann sehr rasch ab. Dritte Classe der Pteridophyten: Khizocarpcac. Wasser-Farme. (Synonym: Hydropterides. Marsüeaceae. Wurzelf rilchter.) Die Phylogenie dieser Classe, welche gegenwärtig die Gattungen Mar- st'/ctt, I'iliilaria , Isocies etc. umfasst, ist sehr wenig bekannt, viel weniger als diejenige der anderen Filicinen. Als meistens zarte und kleine Süsswas- XLII Systematische Einleitung in die Entwickelungsgeschichte. ser-Pflanzen sind sie zur fossilen Erhaltung schlecht geeignet. In verschie- denen Schichten des Jura, vom Lias an, werden mehrere Arten von B(tiera, Jsoeliles und Pilii/arües angegeben. Wahrscheinlich haben sie sich aus ge- meinsamer "Wurzel mit der folgenden Ordnung entwickelt, und sind als Lepi- dophyten zu betrachten, welche sich an das Wasserleben angepasst haben. Vierte Classe der Pteridophyten : Lcpidophyta^ H. Schuppen- Pßanzen. Die Phylogenie dieser Classe, in welcher wir die Lycopodiaceen, Lepi- dodendren und Sigillarien (nebst Stigmarien) vereinigen, ist durch zahlreiche, sehr wichtige und merkwürdige fossile lleste bekannt. Sie entwickelte sich wahrscheinlich gleich der vorigen (und mit ihr vereinigt) in der Antedevon- Zeit aus niederen Cryptogamen, vielleicht zunächst aus Moosen, und erreichte ihre höchste Entwickelung in der Steinkohlen-Zeit, nach welcher ihre hervor- ragendsten Vertreter, die mächtigen Lepidodendren und Sigillarien, ausstar- ben. Die heutigen Lycopodiaceen sind nur schwache Eeste dieser wichtigen und eigenthümlichen Pilanzenform, welche in der Steinkohlen-Zeit nebst den Parrnen vorzugsweise die sumpfigen Wälder bildete. Die Lepidophyten, und zwar vermuthlich die Lycopodiaceen, sind aller Wahrscheinlichkeit nach diejenigen Pteridophyten, aus denen sich die GjTnnospermen und somit alle Anthophyten oder Phanerogamen hervorgebildet haben. Erste Ordnung der Lepidophyten: Lycopodiaceae. Bärlappe. Die Lycopodiaceen beginnen im Devon mit zahlreichen Arten von ff/for- rin und mit einzelnen Arten von Lycopodiles, welche Gattung durch zahlrei- che Arten in der Steinkohle, durch einzelne auch noch im Keuper und im unteren Jura vertreten ist. Im Lias kommen mehrere Arten von Psilotiles vor. In mehreren Beziehungen scheinen diese und andere fossile Lycopodia- ceen näher den Lepidodendren und zum Theil selbst den Coniferen, als den heutigen Lycopodiaceen gestanden zu haben, und stellen die wahrscheinli- chen Stammeltern der Gymnospermen dar. Zweite Ordnung der Lepidophyten: Lepidodendraceae. Sch uppe/i bäume. Diese wichtige Ordnung, welche in der Steinkohle mit Stämmen von mehr als fünfzig Fuss Höhe mächtige und sehr eigenthümliche Wälder bil- dete, beginnt mit mehreren Arten von Sagenaria und Jspidiaria im Devon, und erreicht ihre höchste Ausbildung in der Steinkohle, mit welcher sie auf- hört. Die Gattungen Lepidodendron , Ulodendron , Sagenuria , Bergen'a etc. vertreten sie durch zahlreiche Arten, welche zum Theil sich den Coniferen eng anzuschliessen scheinen. Vielleicht gehören hierher die alten Stamm- eltern der Coniferen. Dritte Ordnung der Lepidophyten: Sigillariaceae. Siegelbäume. Auch diese wichtige Ordnung beginnt gleich der vorigen mit einzelnen Arten im Devon, erreicht dann in der Steinkohle eine äusserst mächtige Ent- wickelung, und hört mit dieser auf. Die zahlreichsten Arten enthält die Das natürliche System des Pflanzeureichs. XLin Gattung Sigiilan'a , von welcher wahrscheinlich die als besondere Gattung betrachtete S/igniaria mir die Wurzeln bildete. Die Sigillarien bildeten in der Steinkohlen-Zeit an vielen Orten der Erde fast allein ungeheure Wälder, und ihre Stämme setzen oft fast allein ganze Kohlenflötze zusammen. Von Anderen werden die Sigillarien bereits zu den Gymnospermen gerechnet, mit denen sie jedenfalls, gleich den Lepidodendren, sehr nah verwandt sind. Ob aber die Gymnospermen sich unmittelbar aus den Sigillarien, oder aus den Lepidodendren, oder aus den Lycopodiaceen, oder aus einer gemeinsamen, vielleicht nicht einmal unmittelbar zu den Lepidophyten gehörigen Wurzel- form entwickelten, muss dahingestellt bleiben. Zweiter ünterstamm der Cormophyten : Phanerogamae. Blüthen - Pßanzen. (Synonym: Anthophyta. Cotyledoneae.) Die Phylogenie der Phanerogamen oder cotyledonen Cormophyten lässt sich aus paläontologischen, embryologischen und anatomischen Daten mit Si- cherheit dahin feststellen , dass oifenbar alle Phanerogamen sich aus den Ge- fäss - Cryptogamen oder Pteridophyten hervorgebildet haben. Doch gilt dies zunächst wohl nur von der Abtheilung der Gymnospermen (Cycadeen und Coniferen), welche sich in der paläolithischen Zeit, wie es scheint, unmit- telbar aus Lepidophyten entwickelt haben. Ob dieser Uebergang gewisser Lepidophyten in die niedersten Gymnospermen schon in der antedevouischen oder in der devonischen, oder erst in der antecarbonischen Zeit stattfand, ist noch unsicher. In der Kohlenzeit waren jedenfalls Gymnospermen schon reichlich entwickelt. Dagegen haben sich die Angiospermen wahrscheinlich erst sehr viel später, nämlich in der Antecreta-Zeit, entwickelt, da sichere Beste von ihnen erst in den Kreide - Schichten auftreten. Zwar werden ein- zelne Monocotyledonen-Eeste schon in der Kohlen-Zeit und von da an auf- wärts bis zur Kjeide angegeben. Lidessen sind diese so zweifelhafter Natur, dass hedeutende Paläontologen sie nicht als solche anerkannt haben. Viel- mehr scheinen die ersten Angiospermen, die gemeinsamen Stammformen der Monocotyledonen und Dicotyledonen, erst nach der Jura -Zeit sich von den Gymnospermen, und zwar wahrscheinlich von den Cycadeen, abgezweigt zu haben. Jedenfalls bekräftigt die Phylogenie der Anthophyten den wichtigen Schluss, zu dem auch die Ontogenie und Anatomie führt, dass die Dicotyle- donen viel näher mit den Monocotyledoneu , als mit den Gymnospermen ver- wandt sind, und dass es nicht richtig ist, die letzteren, wie noch vielfach jetzt geschieht, mit den Dicotyledonen zu vereinigen und den Monocotyledo- nen gegenüberzustellen. Erster Cladus der Phanerogamen: Gymnospermae. Ndcktsamen - Pfhmzen. Die paläontologische Entwickelung des Gymnospermen-Cladus, welcher die beiden Classen der Cycadeen und Coniferen umfasst, ist durch zahlreiche fossile Keste bis zur Steinkohlen-Zeit hinauf festgestellt. In den Steinkohlen- Schichten treten bereits die beiden durch ihre Holzstructur und ihren Frucht- bau leicht kenntlichen Classen in deutlich erkenntbaren Resten auf, und es würde demnach zu schiiessen sein, dass dieselben in der Autecarbon-Zeit sich von den Pteridophyten abgezweigt haben. Neuerdings scheinen indessen auch im Devon bereits Spuren derselben erkennbar geworden zu sein, und XLIV Systematische Einleitung in die Entwickelungsgeschichte. dann würde man den Zeitpunkt ihrer Entwickelung in der Devon - oder Ante- devon-Zeit suchen müssen. Diejenige Filicinen-Gruppe, welche wahrscheinlich als die nächste Stammform der Gymnospermen betrachtet werden muss, sind die Lepidophyten, unter denen sowohl die Lepidodendren und die Lycopo- diaceen, als auch die Sigillarien bereits vielfache Anklänge an die Gymno- spermen und namentlich an die Coniferen zeigen. Andererseits finden wir auch bei den Asterophylliten mehrfache Hinweise auf die Coniferen, und bei den echten Farrnen (Geopterides) auf die Cycadeen. Selbst die Rhizocarpeen (Hydropterides) zeigen sich den Gymnospermen nahe verwandt. Alles zusam- men genommen, ist kein Zweifel daran, dass der Gymnospermen-Ast von dem Pteridophyten-Ast sich abgezweigt hat, während die Frage, welche Ordnung der letzteren hierbei am nächsten betheiligt ist, vorläufig noch offen bleibt. Erste Classe der Gymnospermen: Couiferae. Nadelhölzer. Unzweifelhafte Nadelbäume finden sich nicht selten bereits in der Stein- kohle, besonders viele Arten der den Araucarien nahe stehenden Gattung Jrauearites und des diesem nahe verwandten Pissadeiidroii , sowie auch ei- nige Arten von Piniles. Noch ältere Reste scheinen neuerlich im Devon nachgewiesen zu sein. Eine sehr bedeutende Entwickelung erreicht die Classe in dem bunten Sandstein oder dem Vogeseu-Sandstein der Trias, welcher so- gar als das Reich der Coniferen xar kt.oii]v bezeichnet werden kann, insofern dieselben hier als der ganz überwiegende Bestandtheil der Wälder auftreten. Besonders sind es mehrere Arten der Gattungen Vollzia (F. heteropInjUa , V. acnlifolia) nnd Haidingera oder /ilhertia (A. lalifolia, ellipticn, Biaunii, spe- ciosa) , welche hier in grossen Individuen-Massen dichte Nadelwälder bilde- ten. In der Jura-Zeit treten die Coniferen ganz gegen die Cycadeen zurück, noch mehr in der Exeide. Doch beginnt hier bereits die Entwickelung einer zweiten mächtigen Coniferen -Flora, welche in der Tertiärzeit, besondei-s im Eocen und Miocen, ihre eigentliche Ausbildung erlangt. Die zahlreichen Coniferen- Arten, welche die Wälder in dieser zweiten Blüthen- Periode der Classe zusammensetzten, sind aber wesentlich verschieden von denen der er- sten Blüthen -Periode. In der Steinkohle und Trias waren es vorzüglich Verwandte der Araucarien, welche jetzt vorzugsweise an das Tropenklima gebunden sind. In der Tertiärzeit dagegen überwiegen Verwandte der Abie- tineen [Piniles, Abieliles), Cupressineen (Cupi'essinites, Juiiiperites, Thuiles) und Taxineen (Ta.viles). Vorzüglich sind die Gattungen Piniles \md Cnpres- siniles hier durch sehr zahlreiche Arten vertreten. Zweite Classe der Gymnospermen: Cycadeac. Palmenfarrne. Die nahe anatomische und embryologische Verwandtschaft der Cycadeen und Coniferen macht es höchst wahrscheinlich, dass sie beide divergente Zweige einer gemeinsamen Gymnospermen-Form sind, welche sich vermuth- lich in der devonischen oder antecarbonischen Zeit aus den Lepidophyten oder einer anderen Pteridophyten-Form entwickelt hat. Doch ist die paläon- tologische Entwickelung des Cycadeen-Zweiges langsamer vor sich gegangen, als die des Coniferen-Zweiges, und er erreicht auch dem entsprechend später, erst im Jura, die Höhe seiner Entwickelung. Die ältesten Cj'Cadcen - Reste finden sich in der Steinkohle, doch nur wenige Arten von Ct/cadifes , Zanii- Das natürliche System des Pflanzenreichs. XLV les und Pterophijllum. Auch in der Trias (Buntsand und Keuper) sind sie nur spärlich. Dagegen erscheinen die Cycadeen in ausserordentlichen Massen in der Jura-Zeit, in welcher sie eben so überwiegend die Wälder zusammen- setzen, wie die Coniferen in der Trias, die Pteridophyten in der Steinkohle. Durch selir zahh*eiche Arten sind hier namentlich die Genera Nilssonia , Ptc- rophiillum und Ziimites vertreten. Nach dem Jura sinken die Cycadeen rasch von dieser Höhe herab. In der Kreide finden sich nur noch wenige Arten von Plerophylliivi und Zamioslrohns , im Tertiär einige Arten von Rnumeria, Cycadiles und Zaniites. Die jetzt noch lebenden Cycadeen erscheinen nur a,ls schwache und cataplastische Reste der reichen Cycadeen -Plora, welche in der Jura-Zeit dominirte. Als wenig veränderte Nachkommen der mächtigen Gymnospermen, aus denen sich zunächst die Angiospermen hervorbildeten, sind sie jedoch von hohem Interesse. Zweiter Cladus der Phanerogamen : Angio spermae. Decksamen- P/lanzen. Die Phylogenie der Angiospermen beweist uns in Uebereinstimmung mit ihrer Ontogenie und Anatomie, dass diese höchstentwickelte Pflanzengruppe, welche die Hauptmasse der gegenwärtigen Erdflora bildet, erst verhältniss- mässig spät aus der Gymnospermen-Gruppe sich entwickelt hat. Wie schon vorher bemerkt, ist es das Wahrscheinlichste, dass die ersten Angiospermen gemeinsame Stammformen der Monocotyledonen und Dicotyledonen waren, und dass dieselben erst in der Antecreta-Zeit von dem Gymnospermen- Aste, und zwar wahrscheinlich von der Cycadeen-Gruppe, sich abzweigten. Aller- dings werden in den Petrefacten- Verzeichnissen schon seit langer Zeit eine Anzahl von angeblichen Monocotyledonen -Resten angeführt, die bedeutend älter als die Kreide sein sollen, namentlich Palmenreste aus der Steinkohle. Bronn führt 1855 aus letzterer 20 Arten von Monocotyledonen an, ferner 8 Arten aus der Trias und 25 Arten aus dem Jura. Indessen ist es nach dem Zeugnisse eines der bedeutendsten Paläoph5i;ologen (A. Brongniart), wel- chem auch Bronn später zugestimmt hat, sehr wahrscheinlich, dass diese zweifelhaften und spärlichen Reste nicht von Monocotyledonen herrühi-en. Ganz sichere und unzweifelhafte, wenn auch spärliche Reste derselben finden sich erst in der Kreide, woselbst auch gleichzeitig die ersten sicheren Dico- tyledonen-Reste aufti-eten. Wir können daraus den wichtigen Schluss ziehen, dass erst in der Antecreta-Zeit, zwischen Jura und Kreide, die Umbildung eines Gymnospermen - Zweigs in die ersten Angiospermen stattgefunden hat. Höchst wahrscheinlich waren es nicht Coniferen, sondern Cycadeen, oder diesen verwandte ausgestorbene Gymnospermen, aus deren Umbildung jene ersten Angiospermen-Formen hervorgingen, die sich dann in Monocotyledo- nen und Dicotyledonen difi'erenzirten. Ebenso wie uns die Phylogenie der ganzen Angiospermen-Gruppe so einen ausgezeichneten Beweis für das F ort- schritts-Gesetz liefert, so thuu dies gleicherweise auch die einzelnen Haupt- zweige der Gruppe und vorzüglich die verschiedenen Unterclassen der Dico- tyledonen-Classe, wie wir sogleich bei dieser zeigen werden. Die Angiosper- men-Flora tritt übrigens in der Kreide noch sehr zurück gegen die Gymno- spermen und Pteridophyten, und erlangt erst in der Tertiär-Periode die ganz überwiegende Bedeutung, welche sie noch gegenwärtig besitzt. Ganz beson- ders wichtig ist es, dass die formenreichste und höchstentwickelte Pflanzen- gruppe der Gegenwart, diejenige der Gamopetalen, erst in der Tertiär -Zeit auftritt. Alle Dicotyledonen der Kreide-Zeit gehören entweder der Polype- talen- oder der Apetalen - Gruppe an. XL VI Systematische Einleitung in die Entwickelungsgeschichte. Erste Classe der Angiospermen: Mouocotylciloues. Einkeimblätten'ge. (Synonym: Endogenat. Dictyogenae. Amphibrya. Monocotyleae.) Die Phylogenie der Monocotyledouen ist weit unvollständiger bekannt, als diejenige der Dieotyledonen. Die Mehrzahl der ersteren ist ihrer Structur nach weit weniger zur Erhaltung in fossilem Zustande befähigt, als die Mehr- zahl der letzteren. Ausserdem sind die Laubblätter, welche in weit höherem Maasse als die Blüthenblätter erhaltungsfähig sind, bei den Monocotjdedonen höchst einförmig und weit weniger differenzirt, als bei den Dieotyledonen, so dass Abdrücke der Laubblätter von letzteren weit wichtiger und instructiver als von ersteren sind. Endlich ist auch die Differeuzirung aller Theile bei den Dicotylen viel weiter als bei den Monocotylen gegangen. Unter den letzteren giebt es keine solchen natürlichen und stark divergenten TJnterclas- sen, wie es die Gruppen der Apetalen, Polypetalen und Gamopetalen sind. Wenn wir von den oben erwähnten, ganz zweifelhaften, angeblichen Monocotyledouen -Eesten in Steinkohle, Trias uud Jura absehen, so finden wir die ersten sicheren Spuren derselben in der Kreide, aber auch nur spär- lich: mehrere Arten von Palmen (Flabclluria, Cocücs) und von Seegras oder Zosteriles (Najadeen); im Ganzen nur etwa ein Dutzend Arten. In der Ter- tiär-Zeit nehmen die Monocotyledouen allmählich zu und differenziren sich, besonders in den älteren Tertiär-Schichten. Immerhin bleiben auch hier ihre Eeste sehr unbedeutend gegenüber denen der Dieotyledonen, Die meisten tertiären Monocotyledouen -Reste gehören Pahnen, Pandaneen und Najadeen an. Unter den Palmen ist besonders die Gattung Flabellaria sehr artenreich, unter den Pandaneen Ni/uidites. Als andere Palmen werden im Eocen Pal- macites, im Miocen Phoenicites genannt. Unter den tertiären Najadeen sind die Genera Zosterites , Caulinües, Ruppia, ' Potamogeton und andere durch mehrere Arten vertreten. Ausserdem finden sich noch spärliche Reste von Liliaceen, Typhaceen, Gräsern und einigen anderen Familien. Im Ganzen sind jedoch alle diese Spuren nur sehr unbedeutend. Zweite Classe der Angiospermen: Dicotyledoiics. Zweikeimblülterige. (Synonym: Exoyenae. AcramphUrya. Dicotyleae.) Die Phylogenie der Dieotyledonen ist, wie bemerkt, ungleich besser be- kannt, als diejenige der Monocotyledouen, und liefert zugleich ausgezeich- nete Argumente für das Fortschritts-Gesetz. Aus anatomischen und ontoge- netischen Gründen zerfällt diese äusserst formenreiche Pflanzengruppe, wel- che gegenwärtig die Hauptmasse der Vegetation bildet, zunächst in zwei Hauptgruppen : Monochlamydeen und Dichlamydeen. Bei den tiefer stehen- den Monochlamydeen ist, gleichwie bei den Monocotyledouen, noch nicht die Differeuzirung der BlüthenhüUe in Kelch und Krone eingetreten, durch wel- che sich die Gruppe der Dichlamydeen als die vollkommenste aller Pflanzen- gruppen auszeichnet. Diese letztere zerfällt selbst wieder in zwei Unter- gruppen, die Dialjrpetalen (Polypetalen) und Gamopetalen (Monopetalen). Bei ersteren bleiben die einzelneu Blätter der Blumenkrone getrennt, wäh- rend sie bei den letzteren zu einem einzigen Organ verwachsen. Nun ent- wickeln sich zwar im Ganzen die Polypetalen uud Gamopetalen jede in ihrer Art selbstständig. Aber dennoch muss aus vielen ontogenetischen und ana- Das natürliche System des Pflanzenreichs. XLVII tomischen, besonders aus promorphologischeu Gründen, die gamopetale Form als die voUkommnere gelten. Dieser Schluss wird durch die Phylogenie voll- kommen bestätigt, indem die fossilen Gamopetalen ausschliesslich der Tertiär- Zeit angehören, während die Polypetalen und ebenso die Mouochlamydeen bereits in der Kreide erscheinen. Wir können hieraus schliessen, dass die Gamopetalen, als die vollkommensten Pflanzen, sich zu allerletzt, erst in dem Zeiträume zwischen Kreide- und Tertiär-Zeit, durch Verwachsung der bis dahin getrennten Blumenblätter aus den Polypetalen entwickelt haben. Erste Unterclasse der Dicotyledonen : Monochlamydeae. Kelc/Müihige. (Synonym: Apetala. Dicotyledonen mit homogener Blüthenhülle.) Die Phylogenie dieser Unterclasse bestätigt, was übereinstimmend durch die allgemeinen Gesetze der Ontogenie und Anatomie dargethan wird, dass sie die unvollkommenste, weil am wenigsten differenzirte unter allen drei Abtheilungen der Dicotyledonen ist. Durch die mangelnde Differenzirung der Blüthenhülle, deren Blattkreise sich nicht in Kelch und Krone scheiden, stimmt sie noch vollständig mit den Monocotyledouen überein, und zweifels- ohne ist es diese Abtheilung der Dicotyledonen, welche sich zuerst und un- mittelbar entweder aus den Monocotyledouen selbst, oder aus einer gemein- samen Stammform der Monocotylen und Dicotylen, während der Antecreta- Zeit entwickelt hat. Zwar erscheinen neben den Mouochlamydeen in der Kreide-Zeit auch bereits einzelne Polypetalen, indessen nur sehr spärliche und aus verhältnissmässig tief stehenden Familien. Nur vier Arten Poly- petalen sind mit einiger Sicherheit aus der Kreide bekannt, während die An- zahl der sicheren Monochlamydeen-Arten hier mehr als dreissig beträgt. Die- selben gehören grösstentheils zur Gruppe der Cupuliferen oder kätzchentra- genden Laubbäume und der Saliciueen oder Weiden. Die merkwürdigen Crednerieu, welche in der Kreide durch verhältnissmässig viele Arten ver- treten werden, sind von zweifelhafter Stellung, vielleicht Ausläufer der ge- meinsamen Stammform von Monocotyledouen und Dicotyledonen. Ebenso sind auch andere derartige zweifelhafte Dicotyledonen vielleicht TJebergangs- formen. Im Tertiär-Gebirge sind die Monoclüamydeen durch sehr zahlreiche (mehr als 600) Arten vertreten, welche grösstentheils unseren gewöhnlichen Waldbäumeu aus den Gruppen der Cupuliferen, Salicineen, Ulmaceen, Be- tulaceen etc. angehören. Auch Myriceen, Plataneen, Laurineen etc. sind durch viele Arten vertreten. Zweite Unterclasse der Dicotyledonen : Dichlamydeae. Kronenblüthige. (Synonym: Coralliflorae. Dicotyledonen mit differenxhter Blüthenhiille.) Die Phylogenie dieser Gruppe ist, wie bemerkt, dadurch sehr interes- sant, dass sie vollkommen das Fortschritts-Gesetz bestätigt. Von den beiden grossen Keiheu derselben, Polypetalen und Gamopetalen, tritt die uuvoll- kommnere und niedere Stufe, die Keihe der Polypetalen, zuerst, schon in der Kreide auf, während die vollkommuere und höhere Stufe, die Eeihe der Gamopetalen, erst in dem Eocen der Tertiär-Zeit erscheint. Offenbar ist die letztere aus der ersteren in der Anteocen-Zeit oder Zwischenzeit zwischen Kreide- und Tertiär-Zeit durch Verwachsung der ursprünglich getrennten Blumenblätter entstanden. XL VIII Systematisclie Einleitung in die Entwickelungsgeßchichte. Erste Legion der Dichlamydeen : Polypetalae. Slernblüthige. (Synonym; Dialypetalae. Choristopetalae. Diapetalae.) Die Phylogenie dieser Legion beginnt entweder in der Kreide-Zeit oder m der Antecreta-Zeit, in welcher dieselbe sich aus den Monochlamydeen durch Differenzirung der einfachen BlüthenhüUe in Kelch und Krone entwi- ckelte. Die ältesten Eeste, welche sich in der Kreide finden, sind nur sehr spärlich, darunter eine Wallnuss {Juglandites miiior) ; einige davon auch zweifelhaft, wie z.B. Meentes cretaceus , Sedites Rabenhorsti. Eine bedeu- tendere EntAvickelung erreicht auch diese Eeihe, wie die folgende, erst in der Tertiär-Zeit. Hier sind im Eocen vorzüglich Leguminosen, Oenothereen (Trapa) und Malvaceen (Highlea) bemerken swerth. Im Miocen finden wir viele Leguminosen, TJmbelliferen , Acerineeu, Juglandeen, Rhamneen, Ana- cardiaceen etc. Endlich kommen dazu im Pliocen noch zahlreiche Rosaceen, Pomaceen, Amygdaleen, Celastrineen und \aele andere Polypetalen. Die meisten derselben gehören, ebenso wie die meisten Monochlamydeen- und Gamopetalen-Reste, strauchartigen und baumartigen Pflanzen an, deren Theile besser als diejenigen krautartiger Gewächse sich fossil erhalten können. Zweite Legion der Dichlamydeen: Gamopetalae. Glockenblüthige. (Synonym: Monopetalae. Sympetalae.) Mit der Phylogenie der Gamopetalen schliesst die paläontologische Ent- wickelungsgeschichte des Pflanzenreichs in ihren Hauptzügen ab. Wie die Phylogenie den aus ontogenetischen und anatomischen Verhältnissen erschlos- senen Satz bestätigt, dass die Gamopetalen vollkommener als die Polypetalen sind, ist schon vorher bewiesen worden. Kach Allem, was wir bis jetzt wissen, ist die grosse Pflanzengruppe der Gamopetalen, zu welcher die voll- kommensten aller Pflanzen-Familien, die Synanthereen (Compositen), Labia- ten, Primulaceen, Rubiaceen, Gentianeen etc. gehören, die höchst differen- zirte und zugleich diejenige, welche zuletzt in der Erdgeschichte auftritt. Sie erscheint erst in der Tertiär-Zeit, und zwar zuerst im Eocen mit einigen Ericaceen {DermatophijUites). Diesen schliessen sich im Miocen einige Eu- biaceen (Steinhauera) und im Pliocen eine grössere Anzahl von anderen Ga- mopetalen an. Das Fortschrittsgesetz wird dadurch lediglich bestätigt. rV. Das natürliche System des Thierreichs. Weit umfassendere, festere und wichtigere Resultate, als die sy- stematische Genealogie des Protistenreiches und des Pflanzenreiches, liefert uns diejenige des Thierreiches. Wenn wir unter den gesämmten Protisten nur mit der grössten Unsicherheit eine Anzahl selbstständi- ger Phylen erkennen und umschreiben, eine paläontologische Begrün- dung ihres Stammbaumes aber nirgends gehörig durchführen konnten, wenn wir ferner unter den Pflanzen dies nur für den einen Stamm der Coraiophyten vermochten, für die übrigen drei bis fünf Stämme aber ganz darauf verzichten mussten, so gelangen wir dagegen im Thier- Das natürliche System des Tliierreichs. XLIX reiche mit sehr befriedigender Sicherheit zu der Aufstellung eines ge- nealogischen Systems von fünf deutlicli geschiedenen Phyleu und ver- mögen mit Hülfe der Paläontologie, sowie der vergleichenden Anatomie und Embryologie, ihre Phylogenie wenigstens den Grundzügen nach festzustellen. Wir haben bereits im siebenten Capitel des ersten Bandes die Zahl der thierischen Stämme, die wir gegenwärtig zu unterscheiden vermögen, auf fünf fixirt. Es entsprechen dieselben sechs von den sie- ben thierischen Typen oder Kreisen , in welche gegenwärtig das Thier- reich fast allgemein eingetheilt wird. Unsere fünf Stämme sind: I. Die Wirbelthiere (Vertebrata) ; IL Die Weichthiere (Mollusca); III. Die Gliederthiere (Articulata) ; IV. Die Ftinfstrahlthiere (Echinodermata) und V. Die Nesselthiere (Coelenterata). In dem Stamme der Gliederthiere oder Articulaten fassen wir die beiden gewöhnlich getrennten Typen der Gliederfüsser (Arthropoda) und der Würmer (Vermes) zusammen, welche wir nicht zu trennen vermögen, und gesellen ihnen ausserdem die Infusorien hinzu, welche wir für die Ausgaugsform des ganzen Phylon halten. Die letzteren werden jetzt ziemlich allgemein mit den Rhizopoden, Spongien, Noctiluken und Flagellaten in einem siebenten und letzten „Kreise", dem der Urthiere oder Protozoen, zusammenge- fasst. Wir halten diese Abtheilung für keinen natürlichen Stamm, und haben sie daher aufgelöst, indem wir die meisten hierher als „Proto- zoen - Classen" gestellten Gruppen in der That für selbstständige „Pro- tisten-Phylen" halten. Wenn wir dann noch die Infusorien, als un- zweifelhafte Thiere, mit den Würmern und dadurch mit den Articula- ten vereinigen, so beschränken wir das eigentliche Thierreich auf die fünf genannten Stämme. Dass die drei Phylen der Vertebraten, Articulaten mid Mollusken drei vollkommen selbstständige, natürliche Gruppen sind, deren jede ihren eigenen sogenannten „Organisations - Plan" besitzt, ist allgemein anerkannt, seitdem im Anfange unseres Jahrhunderts zwei der gröss- ten Zoologen, Bär und Cuvier, gleichzeitig und unabhängig von einander, der erstei'e durch gedankenvolle vergleichend-embryologische, der letztere durch umfassende vergleichend -anatomische Untersuchun- gen geleitet , die vier „Typen" oder „Grundpläne" 'oder „Kreise" des Thierreichs aufstellten. Von dem vierten Typus, den Bär und Cuvier unterschieden, den Radiaten, hat dann zuerst Leuckart 1848 nachgewiesen, dass derselbe in zwei ganz verschiedene Typen, die Echi- nodermen und Coelenteraten, gespalten werden müsse. Dass nun diese „Typen, Kreise oder Unterreiche" des Thierreichs (Orbes, Brauches, Embranchements) in der That „Phylen oder Stämme" in unserem Sinne sind, d. h. Einheiten von blutsverwandten Organismen, glauben wir durch ihre ganze paläontologische, embryologischc und systematische Entwik- Hacckel, Generelle Morphologie, II. **** L Systematisehe Einleitung in die Entwickelungßgeschichte. kelungsgeschichte und die äusserst wichtige dreifache Parallele dersel- ben auf das Bestimmteste nachweisen zu können. Wir halten den ein- heitlichen Organisations- Typus jedes Kreises, den mystischen „Grund- plan" ihres Baues, einfach für die nothwendige Folge der gemeinsamen Abstammung von einer und derselben Stammform; für eine Folge der Vererbungs - Gesetze. Wir glauben, dass diese unsere Auffassung der fünf echten thieri- schen „Typen" als besonderer „Phylen" zunächst unter den Anhängern der Descendenz-Theorie am meisten ansprechen und Beifall finden wird. Die Stammbäume, welche wir auf Tafel III — VIII entworfen haben, spre- chen für sich selbst. Wir können aber hier nicht verschweigen, dass wir selbst noch einen Schritt weiter über die hier durchgeführte An- nahme hinausgehen, und dass wir, je länger und inniger wir die Ver- wandtschafts-Verhältnisse des Thierreichs durchdacht haben, desto ent- schiedener zu diesem wichtigen Schritt hingedrängt worden sind — zu der Annahme nämlich, dass auch die fünf thierischen Phylen an ihrer Wurzel zusammenhängen, und dass nicht allein die Vertebraten, Arthropoden und Mollusken, sondern auch die Echinodermen und Coelenteraten , aus dem Würmer - Stamme hervorgegangen sind. Wir würden dann also ebenso für das Thierreich, wie für das Pflanzen- Reich einen einzigen Stamm annehmen, während wir das Protisten- Reich unter allen Umständen für einen Complex von mehreren selbst- ständigen Stämmen halten. Da wir diese wichtige Frage im XXV. Ca- pitel noch näher erörtern werden, so gehen wir hier ohne Weiteres zur genealogischen Uebersicht der fünf einzelnen thierischen Phylen über. Erster Stamm des Thierreichs: Coelcnterata. Nesselthiere. (Synonym: Acalephae. Cnidae. Zoophyta. Nematozoa. Orddozoa.) Die Thiergruppe der Coelenteraten, welche den Acalephen des Ari- stoteles, den Zoophyten in dem beschränkten Sinne der neueren Autoren entspricht 1), ist gegenwärtig als ein vollkommen „natürlicher" und einheit- licher Kreis oder Typus des Thierreichs , als eine selbstständige , eigenthüm- lich organisirte Hauptgruppe oder ein Unterreich , allgemein anerkannt. In der That stimmen sämmtliche Glieder dieses umfangreichen Thierkreises so vollkommen in den charakteristischen Grundzügen ihrer Organisation überein, dass über ihre wirkliche und nahe Blutsverwandtschaft kein Zweifel herr- schen kann und dass wir mit voller Sicherheit ihre gemeinsame Abstammung von einer einzigen Stammform annehmen können. Die sehr eigenthümliche ») Die Acalephen oder Cniden des Aristoteles (al axaXina ausseraem ui j« . , q nicht weniger als 7 Plattenreihen vorhanden sind, so erreicht hier die t^e ammt'Ihl'der meridianalen Plattenreihen ^i« au^cn-ordenthche H^^^^^^ wovon 40 ambulacral, 35 interambulacral sind. Bei den anderen Palechiniden LXXII Systematische Einleitung in die Entwickelungsgeschichte. erreicht sie höchstens 40. Bei allen Autechiniden sind deren stets nur 20 vor- banden^ D,c Melonitiden stehen demnach den Cystideen, und namentlich den Echinencrmen noch näher, als die Eocidariden und vermitteln den Ue bergang von jenen zu diesen. Zweite Ordnung der Palechiniden: Eocidarida, B.. Eocidariden. Diese Gruppe urafasst alle Palechiniden mit Ausnahme von Melonites Es sind hier stets nur 2 Plattenreihen in jedem Ambulacrum vorhanden, wie bei den Auteclimiden. Dagegen beträgt die Anzahl der Plattenreihen in ie- dem Interambulacrum mindestens 3, gewöhnlich aber 5—6. Sie bilden also den unmittelbaren Uebcrgang von den Melonitiden zu den Autechiniden Die Gruppe beginnt im Silur mit Protec/nnns PhiUi,,si„e {PalaecMuu.s Phi/lipsine Autorum), ist durch mehrere Arten von Encidari.s und Jrchaeocidaris im De- von vertreten und erreicht die Höhe ihrer Entwickelung im Kohlenkalk (viele Arten der Genera Po aec/n„,s, Jrchaeociduris, Eocidaris, Perischodourus, Le- ^seriu!g!r ^^^^^i^^ finden sich im Perm {Eocidaris Kai- Zweite Subclasse der Echiniden: Autechinida, H. Zwanzigreikige Seeigel. (Synonym: Euechinoidea. Typica. Echmida sensu strictiori.) Die XJnterclasse der Autechiniden umfasst sämmtliche mesolithische und canolithische Seeigel, da alle Echiniden, welche wir aus der Secundär- und lertiar-Zeit kennen, nur 2 interambulacrale Plattenreihen zwischen ie 2 am- bulacra en besitzen. Sie sind demnach für diese beiden Zeitalter ebenso aus- schliosshch charakteristisch, wie die Palechiniden für das primäre, und ver- treten hier vollständig die Stelle der letzteren. Zweifelsohne haben sich demnach die Autechiniden während der Antetrias-Zeit aus den Palechiniden durch Transformation hervorgebildet. Wir zerfallen diese wichtige Subclasse we che alle sogenannten „echten oder typischen Seeigel" urafasst, in zwei ürdnungen, die sieh wesentlich durch die Differenzirung der arabulacralen Plattenreihen unterscheiden. Bei den älteren und unvollkommneren Desmo- stichen sind die Ambulacra einfach bandartig, bei den jüngeren und voll- kommneren Petalostichen dagegen petaloid differenzirt. Erstere beginnen schon in der Trias, letztere erst im Jura. Erste Ordnung der Autechiniden: Desmostioha, H. JtUechiniden mit band-Jmbulacren. In dieser Ordnung vereinigen wir alle sogenannten „regulären Seeigel" oder Lndocychca (die grosse Familie der Cidariden, sowie die Saleniden und Echinometriden) und einen Theil der sogenannten irregulären oder Exo- cychca, namhch die Familien der Galeritiden, Echinoniden und Dysasteriden. Alle diese Seeigel stimmen überein in dem Mangel der petaloiden Differenzirung der Ambulacra, welche die Petalostichen auszeichnet. Die Ambulacra laufen als einfache, nicht petaloide Bänder vom oralen ium aboralen Pol. Aus diesen und anderen Gründen ist die Gruppe der Desmostichen unvollkommener, als die der Petalostichen. Die ersteren bilden den Uebergang von den Palechi- niden .zu den Petalostichei^. Hiermit stimmt ilire Phylogenie vöUig überein Das natürliche System des Thierreichs. LXXIII Die Demostichon treten bereits in der Tinas auf, mit der Familie der angu- stistellen Cidarideu, welche sich wahrscheinlich in der Antetrias-Zeit aus den Eocidariden entwickelt haben. Erste Familie der Desmostichen: Gonioeidarida, H. Turban - Igel. (Synonym: Angustistellae. Cidarida sensu strictiori. Cidarida anguste - steUata.) Diese Familie enthält die ältesten und zugleich die regelmässigsten For- men von allen Autechiniden, welche am wenigsten differenzirt sind. Die Pentactinoten-Form ist hier meistens eben so rein, wie bei den Palechiniden erhalten. Sie schliessen sich unmittelbar au letztere an und haben sich je- denfalls aus denselben durch Trausfoi-mation entwickelt. Sie sind die einzi- gen Autechiniden der Trias, wenn man von einigen zweifelhaften Arten Hy- poffiadciiia der folgenden Familie absieht, welche sich in den obersten Trias- Schichten (S. Cassian) finden sollen. Die älteste Gattung von allen Autechi- niden ist Eitcidaris (Cidan's se/isu striclissiino)^ welche mit zahlreichen Arten {E. pentagona, venusla, siibsimilis etc.) in der Trias von S. Cassian (Keuper) erscheint. Ebenda findet sich auch eine Speeles von Hemic.idavis. Die Fa- milie der Angustistellen oder Goniocidariden erreicht die Blüthe ihrer Entwi- ckelung im Jura, wo allein mehr als hundert Arten von Eucidarls vorkom- men, und sinkt dann allmählich herab bis zur Gegenwart, wo sie nur durch wenige Arten vertreten ist. Zweite Familie der Desmostichen: Echinocidarida, H. Kronen - Igel. (Synonym: Latistellae. Echinida sensu strictissimo. Cidarida late-stellata.) Diese Familie schliesst sich zunächst an die vorige an, mit welcher sie gewöhnlich unter dem vieldeutigen Namen der Cidariden vereinigt wird. Sie hat sich höchst wahrscheinlich aus derselben entwickelt, und ist ihr gegen- über als spätere und vollkommnere Gruppe zu bezeichnen. Wenn man von den oben erwähnten problematischen Arten von fJi/podtadetna aus der Trias absieht, so erscheint diese Familie zum ersten JSIale im Jura, und zwar in den untersten Schichten desselben. Sie hat sich also sehr wahrscheinlich erst in der Antejura-Zeit (vielleicht sclion in der Keuper - Epoche der Trias- Zeit) aus einem Zweige der vorigen Familie hervoi'gebildet. Heinicidtiris und die verwandten Formen vermitteln den unmittelbaren TJebergang zwischen Beiden. Auch diese Familie erreicht, gleich der vorigen, ihre Blüthezeit im Jura, wo sehr zahlreiche Arten von Pseududiudema, Hemijiedina, Slomec/iiniis etc. vorkommen. Sie nimmt schon in der Kreide, und noch stärker später- hin bis zur Gegenwart ab. Dritte Familie der Desmostichen: Echinometrida. Quer -Igel. Diese Familie (die „Latestellati polypori transversi" Desor's), welche uie Genera Ec/n'nometra, l'odopliora und Acrocladia umfasst, und welche sich durch die Verlängerung der lateralen Eichtaxe so auffallend vor allen anderen Echinidcn auszeichnet, ist in fossilem Zustande nicht bekannt. Sie scheint sich demnach erst in neuerer Zeit von den Echinocidariden, unter denen üv- liocidaris ihr am nächsten steht, abgezweigt zu haben. LXXIV Systematische Einleitung in die Entwickelungsgeschichte. Vierte Familie der Desmostichen: Salenida. Höcker - Igel. Diese Familie scheint ebenso einen seitlich entwickelten Zweig der Go- niocidariden oder Augustistellen zu bilden, wie die vorige einen besonderen, divergenten Seitenzweig der Latistelleu darstellt, Sie ist ausschliesslich auf die secundäre Jura- und Kreide-Zeit beschränkt, und umfasst zwei verschie- dene Unterfamilien, welche in parentalem Verhältniss zu einander stehen. Die Subfamilie der Acrosaleniden {Acroanlema) umfasst die artenreiche Gruppe der älteren Saleniden, welche ausschliesslich im Jura vorkommen, und sich durch pei-forirte Stachelhöcker auszeichnen. Die SubfamiUe der Hyposaleniden dagegen {Salenia, Huposale/iia, Pel(a.s(er etc.) begreift die jüngeren Saleniden, welche undurchbohrte Stachelhöcker besitzen, und nur in der Kreide vorkommen. Offenbar sind also die Hyposaleniden ebenso durch Transformation aus den Acrosaleniden, wie diese aus den Goniocida- riden hervorgegangen. Fünfte Familie der Desmostichen: Galeritida. Pyramiden - Igel. Diese Familie scheint sich ebenso, wie die Familie der Echinometriden, aus den Latistellen oder Echinocidariden entwickelt zu haben. Sie ist auf die beiden secundären Formationen Jura und Kreide beschränkt, in welcher letzteren sie ihre Blüthe erreicht. Sechste Familie der Desmostichen: Echinonida. Nuss-Igel. Diese Familie, welche man gewöhnlich mit der vorigen unter dem Na- men der Galerideen vereinigt, scheint sich zwar, gleich den echten Galeriti- den, ebenfalls von den Latistellen abgezweigt zu haben, aber selbstständig, und erst in späterer Zeit. Sie ist in fossilem Zustande nicht bekannt. Siebente Familie der Desmostichen: Dysasterida. Streck-IgeL Diese merkwürdige Familie, welche sich durch die räumliche Trennung der beiden aboralen Convergenzpunkte des Bivium und Trivium so auffallend vor allen anderen Echiniden auszeichnet, steht dennoch den Galeritiden sehr nahe und hat sich entweder aus diesen selbst, oder mit ihnen zusammen aus gemeinsamer Wurzel, aus den Latistellen oder Echinocidariden hervorgebil- det. Sie beginnt mit der artenreichen Gattung Collyriies schon im Lias, er- reicht ihre Blüthe im mittleren und oberen Jura, und nimmt in der Kreide bereits wieder ab, mit welcher sie auch aufhört. Zweite Ordnung der Autechiniden : ' Petalosticha, H. Autechiniden mit Blalt- Ambulncren. In dieser Ordnung fassen wir alle diejenigen „irregulären" Seeigel oder Exocyclica zusammen, welche sich durch petaloid differenzirte Ambulacra (blumenblattförmige Ambulacralkiemen) auszeichnen. Offenbar ist diese mor- phologische und physiologische Differenzirung ein Akt der Vervollkommnung, und dem entsprechend sehen wir diese höchst ent^vickelte Echiniden -Gruppe Das natürliche System des Thierrcichs. LXXV erst durch progressive Transfomation eines Seitenzweiges der Desmostichen sich entwickehx, und erst in späterer Zeit, als die letzteren ihre Blüthezeit erreichen. Erst in der Jura-Zeit zweigen sie sich von den Desmostichen ab, aus welchen sie zweifelsohne durch Transmutation hervorgegangen sind. Erste Familie der Petalostichen : Cassidulida. Helm-Igel. Die Cassiduliden sind von allen Petalostichen die ältesten, indem sie be- reits im Jura erscheinen, während die anderen alle erst in der Kreide auftre- ten. Da sie zugleich in anatomischer Hinsicht den Desmostichen näher ste- hen, so dürfen wir wohl mit Sicherheit annehmen, dass sie zuerst von allen Petalostichen sich aus den Desmostichen hervorgebildet haben. Da unter den letzteren die Galeritiden ihnen am nächsten stehen, so haben sie sich vermuthlich aus diesen in der früheren Jura -Zeit oder in der Antejura-Zeit entwickelt. Die Cassiduliden-Familie zerfällt in drei Subfamilien, von denen diejenige der Echinanthiden, als die älteste, den Ausgangspunkt bildet. Sie tritt mit vielen Arten von Chjpeus und Eckinohrissus bereits im unteren Jura auf, erreicht in der Kreide eine sehr starke Entwicklung, und sinkt im Eocen schon wieder herab. Die beiden anderen Subfamilien sind nur un- bedeutende Seiteuzweige, welche in der Kreide-Zeit von den Echinanthiden sich abzweigen. Die seltsame und spärliche Subfamilie der Clavi astriden, ein gleichsam monströs degenerirter Seitenzweig, bleibt auf die Kreide be- schränkt, während die andere Subfamilie, die der Caratomiden, noch mit einigen Ausläufern in die Eocen-Zeit hineinreicht. Zweite Familie der Petalostichen: Spatangida. Herz-Igel. Diese umfangreiche und vielgestaltige Echiniden - Gruppe wird gewöhn- lich als die vollkommenste von allen angesehen , und in vielen Beziehungen ist sie zweifelsohne am höchsten diffefenzirt. In anderen Beziehungen dage- gen scheinen uns die Clypeastriden vollkommener zu sein, und hiermit stimmt auch ihre Phylogenie überein. Die Spatangiden treten mit sehr zahlreichen Arten bereits in der Kreide auf und scheinen gegen Ende der Kreide-Zeit be- reits die Höhe ihrer Entwickelung erreicht zu haben, während allerdings die am höchsten differenzirten Formen derselben erst in der Jetztzeit zu ihrer vollen Blüthe zu gelangen scheinen. Die Familie zerfällt in zwei Subfamilien, die Ananchytiden und Brissiden, von denen die erstere auf die Kreide- Zeit beschränkt ist. Die Ananchytiden scheinen sich in der Antecreta-Zeit, wahrscheinlich durch Transformation eines Cassiduliden -Zweiges, vielleicht jedoch auch direct aus den Galeritiden (oder Dysasteriden ?) entwickelt zu haben. Die Spatangiden im engeren Sinne, oder die Brissiden, dagegen sind erst aus den Ananchytiden, vielleicht auch aus gemeinsamer Wurzel mit ih- nen, entsprungen. Dritte Familie der Petalostichen: Clypeastrida. Schild -Igel. In vielen Beziehungen steht diese Familie, wie bemerkt, an der Spitze der ganzen Echiniden -Classe, vorzüglich durch die ausserordentliche Entwi- ckelung der petaloiden Ambulacren, welche hier allein die Interambulacra oft so bedeutend an Breite übertreffen, dass diese nur als schmale Bänder zwi- LXXVI Sj'-stematische Einleitung in die Entwickelungsgeschichte. scheu ilonen erscheinen. Auch durch sehr beträchtliche Körpergrösse, Dif- ferenzirung der inneren Organe und eigeuthüraliche Ausbildung der äusseren Körperform übertreffen viele Clypeastridon (am meisten die Mellitiden und Euclypeastriden) so sehr die übrigen Echiniden, dass wir sie als die höchst entwickelte Gruppe ansehen, wenngleich sie in anderer Beziehung hinter den Spatangiden zurücksteht. Dafür spricht auch ihre Phylogenie. Denn die Clypeastriden - Familie ist die jüngste von allen Echiniden, und fast aus- schliesslich tertiär, mit Ausnahme von ein Paar Ec/n/wcytmi/s- Arten aus der oberen Kreide. Sie haben sich also erst in dieser Zeit von den übrigen Pe- talostichen abgezweigt, und zwar höchst wahrscheinlich von den Cassiduli- den, so dass wir Clypeastriden und Spatangiden als zwei selbstständige di- vergente Seitenzweige der Cassiduliden zu betrachten haben. Die Clypeastri- den-Familie zerfällt in drei Subfamilien. Von diesen ist diejenige der Laga- niden die älteste und der eigentliche Stamm der Familie, welcher sich direct aus den Cassiduliden hervorgebildet hat. Zu ihr gehört die einzige Clype- astriden-Gattuug der Secundär - Zeit {Ec/iinncijamits aus der oberen Kreide). Diese Stamm -Gruppe erreicht schon in der Eocen-Zeit ihre höchste Blüthe und sinkt dann herab. Dagegen erreichen die beiden anderen Subfamilien, Euclypeastriden und Scutelliden, welche aus den Laganiden erst in der Ter- tiär-Zeit hex-vorgegangen sind, erst in der Gegenwart ihre volle Entwicke- lung. Zuerst scheint sich von den Laganiden die Subfamilie der Eucly- peastriden (C/i/pensfer) in der Eocen-Zeit abgezweigt zu haben, worauf aus dieser sich die Subfamilie der Scutelliden oder Mellitiden {Eucope, Rotuta) entwickelte, die erst im Miocen beginnt. Vierte Classe der Echinodermen:. Ilolothiiriae. Seewatze/i. (Synonym: Haliposthae , H. Scytodermata. Scytactinota.) Im Gegensatze zu allen übrigen Echinodermen, deren mehr oder minder vollständig verkalktes und zusammenhängendes Hautskelet meistens der Er- haltung in fossilem Zustande ausgezeichnet fähig ist, besitzen die Holothu- rien nur einzelne zerstreute Kalkkörperchen in der Haut, welche zwar ein- zeln wohl der Erhaltung fähig, aber theils wegen ihrer sehr geringen (meist mikroskopischen) Grösse schwer zu entdecken, theils nicht im Stande sind, nähere Auskunft über die Beschaffenheit des ganzen Körpers zu geben; die ältesten derartigen Kalkkörperchen, den bekannten Kalk- Ankerchen der Synapten sehr ähnlich, sind in den Bayreuther Scyphien-Kalken des Jura ge- funden worden {Synapla S/ebo/dii). Die Paläontologie wird uns also niemals über die Phylogenie der Holothurien belehren. Aber auch die sonstigen Verwandtschafts- Verhältnisse der Holothurien, soweit wir dieselben durch die vergleichende Anatomio und durch die Onto- genie ermitteln können, sind uns nur sehr unvollständig bekannt, und wir können nicht wagen, einen Stammbaum derselben zu entwerfen. Gewöhn- lich wird die Holothurien-Classe in die beiden Ordnungen der fusslosen (Apo- dia) und der wasserfüssigen (Eupodia) gespalten. Zu den Apodia gehören zwei sehr verschiedene Familien: 1. Synaptida {Si/nnpfa , C/n'iodota) ; 2. Liodermatida {Liorlerma, Molpart ia). Die Ordnung der Eupodia um- fasst ebenfalls zwei Familien: 1) Aspidochirota {Jsp/'itoc/n'r , Mnllcria, Thelciiola [^Holut/iiiria], liohndsckiu) ; 2) Dendro cliiro ta [Pentarta, Psoliis, Cuvieria). Die beiden letzteren Familien sind wahrscheinlich divergireude Das natürliche System des Thien-eichs. LXXVII Zweige eines gemeinsamen Eupodien- Astes; doch sind die Verwandtschafts- Beziehimgeu aller verschiedenen Holothurien - Gruppen zu einander so ver- wickelt und noch so wenig bekannt, dass wir dieselben hier nicht in der "Weise wie die der übrigen Echinodermen systematisiren können. Unter den übrigen Ecliinodermen scheinen uns die Echiniden den Holo- thurien am nächsten verwandt zu sein, und wir vermuthen demnach, dass sich die letzteren aus einem Zweige der ersteren hervorgebildet haben. So- bald das Hautskelet der Echiniden weich wird, sobald die Kalkablagerung bloss zur Bildung isolirter Stückchen zurückgeführt wird, kann man sich ohne Schwierigkeit den Uebergang eines Echiniden in eine Holothurie vorstellen. Wahrscheinhch erfolgte derselbe erst im Beginn der Secundär-Zeit, als die Autecliiniden sich von den Palechiniden abzweigten. Dritter Stamm des Thierreichs: Articulata. Gliederthiere. Den Stamm der Articulaten behalten wir, geringe Modificationen abge- rechnet, in fast demselben Umfange bei, in welchem Bär und Cuvier den- selben aufgestellt haben. Er umfasst die beiden mächtigen Subphylen der "Würmer {Fennes) und der Gliederf üsser (Jrihropor/a), welche gegen- wärtig fast allgemein als zwei getrennte Typen oder Unterreiche aufgeführt werden und als solche zwei selbstständigen Phylen entsprechen würden. In- dessen stellen nach unserer Ansicht die Arthropoden, welche sich nur durch die stärkere Differenzirung (Heteronomie) der Metameren (Kumpf-Segmente), und die Gliederung der an denselben befindlichen Extremitäten unterscheiden, nur einen höher entAvickelten Zweig des Würmerstammes dar. Die gesamnate Organisation beider Subphylen stimmt im Uebrigen so vollständig überein, dass wir dieselben nicht zu trennen vermögen. Als ein drittes Subphylum des Articulaten - Stammes schliessen wir den vereinigten Würmern und Arthropoden die Classe der echten Infusorien an, welche wir allein von allen Gliedern des aufgelösten Protozoen-Kreises für echte Thiere halten können. Wir betrachten die Infusorien als überlebende Eeste der alten gemeinsamen Stammform der Articulaten, und zwar scheinen sich aus denselben zunächst die Strudelwürmer oder Turbellarien entwickelt zu haben, aus deren Differenzirung dann weiter die übrigen Würmer hervor- gegangen sind. Wie wir im fünfundzwanzigsten Capitel besonders erörtern werden, müs- sen wir für den Fall, dass wir eine gemeinsame Wurzel aller thierischen Stämme, d. h. ihre Abstammung von einer gemeinschaftlichen Stammform, annehmen , in der Würmer-Gruppe diese Stammform suchen. Auf Tafel I ist im Felde g h y n die eventuelle Form dieses Zusammenhanges dargestellt. Falls wir nicht für jeden der vier übrigen Stämme eine besondere autogene Moneren-Form als Ausgangspunkt annehmen, erscheint es am natürhchsten, letzteren in den niederen Würmern, und zwar entweder unter den Strudel- würmern oder unter den Infusorien zu suchen. Die Verwandtschaft 8- Verhältnisse des Articulaten-Stammes, und vorzüg- lich des Subphylum der Würmer, sind die complicirtesten von allen thieri- schen Stämmen, selbst von jenem möglichen genealogischen Zusammenhange mit den übrigen Thierstämmen abgesehen. Die meisten Aufschlüsse helert uns noch die vergleichende Anatomie. Dagegen kennen wir die Outogenie der meisten Articulaten erst sehr unvoUstäudig; und die Paläontologie besitzt LXXVIU Systematische Einleitung in die Entwickelungsgeschichte. nur von den hartschaligen und wasserbewohnenden Crustaceen zahlreichere Eeste, von den übrigen, meistens landbewohuenden Arthropoden nur ver- hältnissmässig sehr wenige und unbedeutende, von der ungeheuren Masse der Würmer und Infusorien wegen ihrer weichen und zerstörbaren Leibesbeschaf- fenheit fast gar keine nennenswerthen und kenntlichen Eeste. Wir können aus diesen Gründen hier nur die allgemeinsten und flüchtigsten Umrisse des Stammbaums der Articulaten skizziren, und müssen den besten Theil dieser eben so interessanten als schwierigen Aufgabe der besser unterrichteten Zu- kunft überlassen. Den autogonen Moneren, welche den Infusorien den Ur- sprung gegeben haben müssen , nächstverwandte Formen sind vielleicht noch heute unter den Moneren des Protistenreichs zu finden, ebenso wie vielleicht weitere Entwickelungs - Stadien derselben unter den Protoplasten und Flagel- laten, die bereits zu den Infusorien liinüber zu leiten scheinen. Erstes Subphylum des Articulaten -Stammes: Infusoria. Infusionsthierchen. Der Unterstaram der Infusorien, wie wir denselben hier als Ausgangs- gruppe des Articulaten-Stammes beü-achten, umfasst bloss die beiden Classeu der Cihaten (Wimper-Infusorien) und der Suctorien (Acineten). Diese bei- den Classen, welche in ihrer Metaplase so weit auseinander gehen, scheinen doch durch ihre Ontogenese auf das Innigste zusammenzuhängen. Sowohl die Ciliaten als die Acineten scheinen sich nach den neueren Untersuchungen durch acinetenähnliche Larven oder sogenannte „Schwärmsprösslinge" fort- zupflanzen, die in beiden Classen nicht zu unterscheiden sind. Sie tragen Saugröhren wie die festsitzenden Acineten, und schwimmen mittelst eines Wimperkleides umher wie die Ciliaten. Diese geraeinsamen Jugendformen scheinen uns unzweifelhaft (zwar keinen ontogenetischeu ! wohl aber) einen phylogenetischen Zusammenhang zu beweisen. Wir betrachten Infusorien, welche zeitlebens in der Form der bewimperten actinetenartigen Larven ver- harrten, als die uralten Stammeltern aller Infusorien (und somit aller Articu- laten), und nehmen an, dass sich die beiden Classen der Acineten und Ci- liaten als zwei divergente Zweige aus denselben entwickelten; die Acineten verloren durch Anpassung au festsitzende Lebensweise die Wimpern der Lar- ven und behielten die Saugröhren; die Ciliaten umgekehrt behielten die Wim- pern und verlorep die Saugröliren, Was den tieferen Ursprung der Gruppe anbelangt, so sind die alten Urahnen, welche die Brücke zwischen der au- togonen Moneren -Form des Articulaten-Stammes (und somit vielleicht des ganzen Thierreichs) und den bewimperten Acineten - Larven herstellen, viel- leicht noch heute in Protisten des Flagellaten- oder des Protoplasten -Stam- mes zu finden. Erste Classe der Infusorien : Ciliata. fVimper- Infusorien. Von den vier Ordnungen, in welche diese Classe gegenwärtig gewöhn- lich zerfällt wird, scheinen uns die Holotricha {Gtaucoma, Opalina, Pa- raniecitim, Nassula etc.) die älteste und am wenigsten ditferenzii-te Gruppe zu bilden, aus denen sich die drei anderen Ordnungen erst durch Differenzirurig des Wimperkleides hervorgebildet haben. Diese drei Ordnungen sind die Heterotricha {Bursaria, Ste/ilor, Tinlinnus etc.), die Hyp otricha (ü-o- Todes, Oxiitriclia, Euplote.s etc.) und die Peritricha {Forlicella, Ophry- dium , Trichodina etc.). Das natürliche System des Thierreichs. LXXIX Zweite Classe der Infusorien: Acliictae {Snc/ona). Saug -Infusorien. Die Classe der Aciueten oder Sauginfusorien, welche ihren gemeinsamen phyletischen Ursprung mit den CiUaten deutlich durch ihre gleichen Larven verrathen, umfasst die beiden Ordnungen oder Familien derPodophryida (Podnpfinia, Tric/iop/inja, Jnlacineta) und der Dendrocom eti da (Z^eWro- coineles , ' 0/>/>n/o//e/iflro/i). Vielleicht hängt diese Classe mit den Bhizopoden oder den Protoplasten unmittelbar zusammen. Zweites Subphylum des Articiüaten- Stammes: Vermes. Würmer. Der Unterstamm der Würmer, wie wir denselben hier umschreiben, um- fasst drei Hauptäste oder Claden, nämlich: I. die Würmer im engeren Sinne {Scolecida oder Helminthes) ; II. die Kingelwürmer {Junelida) und III. die Räderthierchen {Rofatoriu). Entweder bloss der letztere oder auch die bei- den letzten Claden werden von Anderen bereits zu den Arthropoden gezogen. Sowohl die Rotatorien als die AnneUden stellen eigenthümlich entwickelte Zweige der Scoleciden dar, welche ihrerseits durch die Turbellarien mit den Infusorien zusammenhängen. Erster Cladus der Würmer: Scolecida ( Hclviintlies). Urwärmer. Dieser umfangreiche Ast des Subphylum der Articulaten umfasst die drei Classen der Platyelminthen, Rhynchelminthen und Kematelminthen, von denen die beiden letzteren divergirende Aeste der ersteren darstellen. Erste Classe der Scoleciden : Platyelminthcs. Platlwürmer. Diese Classe bildet unzweifelhaft den Ausgangspunkt für den gesamm- ten Unterstamm der Würmer, da derselbe durch die Turbellarien unmittelbar mit den Ciliaten zusammenhängt. Man pflegt gewöhnlich au den Anfang desselben die Cestoden als die unvollkommensten Würmer zu stellen. In- dessen sind diese zweifelsohne ebenso wie die Trematoden erst aus den Tur- bellarien durch Anpassung an parasitische Lebensweise hervorgegangen. Erste Ordnung der Platyelminthen: Turbellaria. Strudelwürmer. Von allen Würmern stehen diese ohne Zweifel den Infusorien am näch- sten, und sind selbst durch einige so zweifelliafte Uebergangs- Formen mit den Ciliaten verbunden, dass ihre Abstammung von diesen nicht geleugnet werden kann. Wir beschränken diese Ordnung auf die eigenthchen Turbel- larien, die hermaphroditischen und afterlosen {.Spröda), indem wir die sehr viel höher entwickelten afterführenden und gonochoristischen Nemertinen {Proctucha) als besondere Ordnung abtrennen. Die Ordnung der Turbellarien spaltet sich in zwei Unterordnungen: Dendrocoela. (/V«//«/7rt, Styloc/ius) und Rhabdocoela {Mnnocdis , Forlex). Von diesen stehen die Dendro- coelen olfenbar tiefer und den Ciliaten näher; aus ihnen wahrscheinlich ha- ben sich die anderen Platyelminthen und vielleicht auch die Rhabdocoelen LXXX Systematische Einleitung in die Entwickelungsgesehichte. hervorgebildet. Diese letzteren betrachten wir als Stammgruppe der Nemer- tinen, der übrigen Würmer, und der Rotatorien, und dadurch zugleich aller höheren Articulaten. Unter den Dendrocoelen befinden sich vielleicht Ue- bergangsformen von den Ciliaten zu den Rhabdocoelen. Zweite Ordnung der Platyelminthen : Trematoda. Saugwürmer. Diese parasitischen Würmer sind wohl jedenfalls durch Anpassung an parasitische Lebensweise aus den Turbellarien und zwar aus den Dendrocoe- len hervorgegangen. Durch weiter gehenden Eudoparasitismus und entspre- chende phyletische Degeneration haben sich aus ihnen die Cestoden hervor- gebildet, während andererseits vielleicht die Hirudineen als höher entwickelte ectoparasitische Trematoden zu betrachten sind. Dritte Ordnung der Platyelminthen: Cestoda. Bandwürmer. Mit Unrecht, wie bemerkt, werden die Bandwürmer gewöhnlich als un- vollkommenste Wurmgruppe an den Anfang der Würmergruppe gestellt. Of- fenbar können sie nicht Ausgangspunkt derselben sein, sondern haben sich erst secundär durch phyletische Degeneration aus den Turbellarien in ähn- licher Weise entAvickelt, wie die Acanthocephalen aus den Gephyreen. Dass die Cestoden durch weiter gehende parasitische Rückbildung aus den Trema- toden entstanden sind, zeigen deutlich die völlig zweifelhaften Uebergangs- formen zwischen beiden Gruppen {Jmphiptiiches , ^mpkilina etc.). Vierte Ordnung der Platyelminthen: Hirudinea {Discophora). Egel. Die Hirudineen haben sich wahrscheinlich ebenso durch fortschreitende, wie die Cestoden durch rückschreitende phyletische Metamorphose aus den Trematoden entwickelt. Zahlreiche, neuerdings entdeckte Uebergangsformien zwischen beiden Ordnungen scheinen diese, besonders von Leuckart be- tonte nahe Verwandtschaft beider Gruppen zu bestätigen, obwohl die Mög- lichkeit nicht ausgeschlossen bleibt, dass sich die Hirudineen als ein Seiten- ast von den Anneliden abgezweigt haben. Fünfte Ordnung der Platyelminthen: Onychoph-Ora. Krallenwürmer. Diese ausgezeichnete kleine Gruppe, welche nur die Familie der Peri- patiden mit der einzigen Gattung Pcvipatus umfasst, wird gewöhnlich zu den Anneliden (Chaetopoda) gestellt. Sie schliesst sich aber durch viele und wich- tige anatomische Charaktere viel näher an die Plattwürmer, und unter diesen zunächst an die Hirudineen an. Insbesondere ist sehr wichtig die völlige Uebereiustimmung im Bau der Leibes-Muskulatur, auf deren grosse systema- tische Bedeutung zuerst A. Schneider mit Recht hingewiesen hat. Falls nicht aus den Hirudineen selbst, mit denen sie auch noch die Zwitterbildung theilen, haben sich die Onychophoren wohl tiefer unten von dem Platyel- minthen-Aste abgezweigt. Das natürliche System des ThieiToichs. LXXXI Sechste Ordnung der Platyelmiuthen : Nemertina. Schnurwünner. Die Ordnung der Nemertinen hängt mit der Ordnung der Turbellarien, und insbesondere mit den Ehabdocoelen, so eng zusammen, dass sie gewöhn- lich nicht von (dieser Ordnung getrennt wird. Zweifelsohne hat sie sich un- mittelbar aus den letzteren entwickelt. Indessen entfernt sie sich doch we- sentlich von ihnen schon durch die Differenzirung der Geschlechter, durch die Entwickelung einer Leibeshöhle und durch andere Eigenthümlichkeiten. Yielleicht haben sich die echten Anneliden (Chaetopoden) aus ihnen hervor- gebildet. Zweite Classe det Scoleciden: Rliynchelmiuthes. Büsselwünner. Als Rüsselwürmer fassen wir nach dem Vorgange von A. Schneider die beiden Ordnungen der Gephyreen und Acanthocephalen zusammen, wel- che in dem eigenthümlichen Bau ihrer Leibes - Muskulatur und ihres Haken- rüssels auffallend übereinstimmen und sich dadurch zugleich von allen an- dern Würmern entfernen , so dass sie weder den Platyelmiuthen , noch den Nematelminthen, noch den Anneliden, ohne Zwang eingefügt werden kön- nen. Wir betrachten d/e Ehynchelminthen als einen Scoleciden-Zweig, wel- cher wahrscheinlich unmittelbar aus den Rhabdocoelen, und unabhängig von den beiden Aesten der Anneliden und Nematelminthen, vielleicht jedoch auch im Zusammenhang mit einem der beiden letzteren Zweige hervorgegangen ist. Die Acanthocephalen sehen wir als Gephyreen an, welche durch Anpassung an Entoparasitismus rückgebildet worden sind. Erste Ordnung der Ehynchelminthen: Gephyrea. Sterniüürmer. Die Gruppe der Gephyreen, welche die Familien der Priapuliden, Si- punculiden, Echiuriden und Sternaspiden umfasst, hat an den verschieden- sten S^-ellen des Systems ihren Platz gefunden. Gewöhnlich wird sie entwe- der e . eine besondere Würmer-Classe oder als eine Ordnung der Anneliden- Classe angesehen, bisweilen auch mit den Nematoden vereinigt. Früher gal- ten die Gephyreen lange für Echinodermen, von denen insbesondere die Ho- lothurien Manches mit ihnen gemein haben. Wahrscheinlich haben sie sich als selbstständiger Ast von den Ehabdocoelen abgezweigt, vieleicht in Zusam- menhang mit denjenigen unbekannten Würmern, welche Stammväter der Echi- nodermen wurden. Zweite Ordnung der Ehynchelminthen: Acanthocephala. Kratzwürmer. Von den Nematoden, mit welchen die Acanthocephalen gewöhnlich ver- einigt werden , entfernen sie sich durch den Bau ihrer Muskulatur eben so sehr, als sie dadurch andrerseits mit den Gephyreen übereinstimmen, mit denen sie auch den retractilen, mit rückwärts gerichteten Haken besetzten Eüssel theilen. Wir vermuthen, dass die Acanthocephalen ebenso durch phyletische Rückbildung aus den Gephyreen, wie die Cestoden und Trema- toden aus den Turbellarien entstanden sind. Beide Gruppen zeigen uns in ausgezeichneter Weise den hohen Grad , welchen die paläontologische Dege- H a c c k e I , Generelle Morphologie , II. ****** V LXXXII Systematische Einleitung in die Entwickelungsgeschichte. neration in Folgo langer Anpassung an entoparasitische Lebensweise errei- chen kann, und der sich namentlich im Verlust des Darmcanals ausspricht. Dritte Classe der Scoleciden: Ncniateliiiinthcs. Rimdwürmer. Die Rundwürmerciasse beschränken wir auf die beiden Abtheilungen der Chaetognathen (Sagitiae) und der echten Nematoden (Strongi/Zoidea). Beide sind, wie A. Schneider gezeigt hat, besonders durch den eigenthiimlichen Bau ihrer Leibesmuskulatur auf das nächste verwandt. Der cylindrische Kör- per aller Nematoden ist stets deutlich aus vier Antimeren zusammengesetzt, welche durch die vier longitudinalen Muskclfelder, 2 dorsale und 2 ventrale, bezeichnet werden. Diese sind getrennt in der Medianebene durch die dorsale und ventrale Medianlinie (area mediaua) , in der Lateralebene durch die rechte und linke Seitenlinie (area lateralis) ^) Erste Ordnung der Nematelminthen : Chaetognathi. Pfeilwünner. Die inerkwürdige Ordnung der Chaetognathen oder Oestelminthen wird gegenwärtig nur durch die einzige Gattung Sagif/u gebildet. Diese erscheint nach unserer vorhergehenden Auseinandersetzung als ein ausserordentlich alter Wurm - Typus , welcher sich von seinen alten Stammeltern seit dem archo- lithischen Zeitalter , in welchem sich vermuthlich die Wirbeltbiere von letz- teren abzweigten, nur wenig entfernt hat. Wie auch ihre durch Ge gen - baur bekannt gewordene Ontogenie beweist, bilden die Sagitten einen sehr conservativen Typus , der uns die ursprungliche gemeinsame Stammform der Nematoden und Vertebraten vielleicht nur wenig modificirt zeigt. Zweite Ordnung der Nematelminthen: Nematoda. Fadenwürmer. (Synonym: Nematoidea. Strongyloidea. Füariae. Filarina.) Die Fadenwürmer müssen , nach dem Bau ihrer Muskulatur zu schlies- sen, Sagittinen sein, welche durch Anpassung an entoparasitische Lebensart in ähnlicher Weise, obwohl nicht so weit gehend, zurückgebildet sind, wie die Acanthocephalen und Cestoden. Wahrscheinlich gehören in diese Ord- nung nicht allein die Strongyloideen (^iiguilliila, Filaria, Jscaris), sondern auch die Gordiaceen, welche einen weiteren Grad der phyletischen Degene- 1) Auf diese Form - Verhältnisse legen wir das grösste Gewicht, nicht allein, weil sie Nematoden und Chaetognathen als zwei nächst verwandte Wüi-mergruppen nachweisen, son- dern vielmehr besonders desshalb, weU sie uns einen Anknüpfungs - Punkt für die withtig- sten Descendenz-Fragen anderer Thierstämme darzubieten scheinen. Wenn die Wirbel- thiere, wie wir glauben, nicht aus einem eigenen Stamm sich entwickelt, sondern von den Würmern abgezweigt haben, so stehen sie offenbar den N emat elmin then am nächsten, und die Idee M e i s s n e r ' s von einem verwandtschaftlichen Zusammenhang der Sagitten und Vertebraten, welche so viel verspottet wxirde, hat doch vielleicht eine etwelche Begründung. Wie uns der Querschnitt jedes Fisch - Schwanzes deuüich be- weist, ist auch der Wirbeltlder-Eumpf u r s p r ü n g 1 i c h aus v i e r (nicht aus z w e i !) An- timeren zusammengesetzt (Vergl, Bd. I, S. 516, 517), und zwar zeigen die niederen Ver- tebraten genau dieselbe Ausführung der i n t e r r ad i al e n e u t e t r ap 1 eur e n. G r u u d - Das natürliche System des Thierreichs. LXXXIII ration zeigen. Vielleicht jedoch sind die Gordiaceen nicht zu den Nema- telminthen , sondern zu den Rhynchelminthen zu stellen , worauf möglicher- weise der Hakenrüssel ihrer Larven hindeuten würde. Zweiter Cladus der Würmer: Annelid a. tUiiyelwürmcr. Dieser weniger mannichfaltig entwickelte Ast des Subphylum der "Wür- mer zeigt uns diejenige Würmer- Torrn, welche durch die Homonoraie zahl- reicher Metameren besonders in die Augen springt, und bereits in den Cesto- den- Ketten einen Ausdruck findet, zur höchsten Höhe entwickelt. Aller Wahrscheinlichkeit nach haben sich die Anneliden aus den ISTemertinen odex aus gemeinsamer Wurzel mit diesen entwickelt, wiewohl andere Anzeichen auf eine nähere Verwandtschaft mit den Nematelminthen hindeuten. Man pflegt neuerdings den Anneliden - Cladus gewöhnlich in fünf Ordnungen ein- zutheilen, nämlich 1. Gephyrea. 2. Hirudinea. 3. Onychophora. 4. Oli- gochaeta. 5. Chaetopoda. Von diesen haben wir die drei ersten bereits vor- her an andere Stellen gewiesen , so dass bloss die beiden letzten als echte An- neliden übrig bleiben. Bei ihrer bedeutenden Verschiedenheit glauben wir denselben den Eang von Classen ertheilen zu müssen. • Erste Classe der Anneliden: Driluiiiorpha ; H. Jialdtvürmer. Wir vereinigen in dieser Classe die beiden Ordnungen der Oligochaeten und der von Victor Carus zuerst unterschiedenen Haloscolecinen, von de- nen die letzteren wahrscheinlich als Uebergangsstufe von den ersteren zu den Chaetopoden von Wichtigkeit sind. Ob dieselben wirklich sich aus gemein- samer Wurzel mit den Chaetopoden entwickelt haben , ist jedoch nicht ganz sicher, da sie in mancher Beziehung den Nematelminthen naher stehen. , Erste Ordnung der Drilomorphen. Oligoehaeta. Land - Kahlwürmer. (Synonym: Lumbrieina. Scoleina. Terrieolae.) Von allen echten Anneliden stehen die Oligochaeten auf der tiefsten Stufe, und bieten uns vielleicht in den JN'aidinen noch wenig veränderte , alte Süss- wasserformen, welche den Typus der gemeinsamen Anneliden-Vorfahren sehr conservativ festgehalten haben. Wahrscheinlich sind es diese unvollkommen- sten Anneliden, welche zunächst aus den Scoleciden hervorgegangen sind, und zwar vermuthUch aus der Nemertinen - oder doch gemeinschaftlich mit diesen aus der Rhabdocoelen - Gruppe. Von den JSTaidinen oder von den Tu- bificinen , oder von nahen Verwajidten dieser im Süsswasser lebenden Oligo- chaeten haben sich wohl die Enchytraeinen und die Lumbricinen abgezweigt, welche sich an das Landleben gewöhnt haben. form, wie die Nematoden. Auch bei den Fisclien tinden wir noch deutlich dicj vier lon- gitudinalen Muskelgruppen der Nematoden (,,Seiteurumpfmus][eln") , welche" rechts und links (in der Lateralebene) durch die beiden „Seitenlinien", oben und unten (in der Me- dianebenej durch die beiden ,, Medianlinien'' geschieden werden. Vielleicht ist daher unsere Vermuthuug richtig, dass die alten Ureltern der Wirbelthiero eben so einerseits durch pro- gressive, wie die Nematoden andrerseits durch regressive Metamorphose aus den Vorfahren der nur wenig veränderten Chaetognathen sich hervorgcbildct haben. LXXXIV Systematische Einleitung in die Entwickelungsgeschichte, Zweite Ordnung der Drilomorphen : Haloscolecina. See - Kahlwürmer. Diese Gruppe von Seewiirmern umfasst die beiden Familien der Capitel- liden oder Halelminthen {CupiteUa, Lumbriconais) und der Halonaiden {Dero, PolijopfUkalimis , IHeigophthalrnus etc.). Sie bilden den unmittelbaren Ueber- gang von den Oligochaeten zu den Chaetopoden. Zweite Classe der Anneliden: Chactopoda. Borslemvürmer. (Synonym: Polychaeta. Branchiata. ^ntmlata.) Die Chaetopoden - Classe , wie wir sie hier begrenzen , umfasst die drei Ordnungen der Gymnocopen, Tubicolen und Vagantien. Von diesen hat sich wahrscheinlich die letzte unmittelbar aus den Haloscolecinen entwickelt, wäh- rend die beiden ersteren specielle Anpassungs-Formen von divergenten Zwei- gen der Vagantien darstellen. Erste Ordnung der Chaetopoden: Vagantia. Raubwiirmer. (Synonym: Dorsibranchia. Rapacia. Errantia.) Diese äusserst formenreiche Ordnung bildet den eigentlichen Hauptstamm sowohl der Chaetopoden - Classe als auch des ganzen Anneliden - Cladus. Eb gehört hierher nicht allein die bei weitem grösste Zahl aller Anneliden -Fa- milien, sondern auch die höchsten und vollkommensten echten Würmer, unter denen namentlich die Aphroditen, Amphinomen, Nereiden etc. sich auszeich- nen. Durch unmittelbare Uebergangs -Formen mit den Haloscolecinen ver- bunden, haben sich die Vagantien vermuthlich zunächst aus diesen entwickelt. Zweite Ordnung der Chaetopoden: Tubicolae. RöhrenwUrmer. (Synonym: Capitibranchia. Limivora. Sedentia.) Diese Ordnung umfasst diejenigen Würmer, welche die zahlreichsten fossilen Beste hinterlassen haben , nämlich harte , meist verkalkte Röhren, welche leicht sich erhalten konnten, und welche in allen Formationen, von den silurischen an, gefunden werden. Doch sagen dieselben bei ihrer indif- ferenten Form und als blosse Hautausscheidungen von sehr verschieden ge- bauten Thieren über deren Beschafienheit gar nichts Näheres aus. Für die Phylogenie sind diese , wie alle anderen fossilen Würmer-Reste völlig werth- los. Es gehören zu den Tubicolen die Serpulaceen, von denen Serpula, rermilia und Spirorbis ,'' die Terebellaceen, von denen Terebella , und an- dere Familien , von denen verschiedene Gattungen fossile Röhren hinterlas- sen haben. Die Ordnung hat sich jedenfalls erst durch Anpassung an sitzende Lebensweise aus den Vagantien hervorgebildet. Dritte Ordnung der Chaetopoden; Gymnocopa. Ruderwürmer. Diese kleine, aber sehr eigenthümliche Gruppe, welche nur die Familie der frei schwimmenden Tomopteriden umfasst {Tomopleris) , scheint uns nur Das natürliche System des Thierrcichs. LXXXV einen divergenten, durch besondere Anpassungs-Verhältnisse veränderten Sei- tenzweig der Vagantien - Ordnung darzustellen. Dritter Cladus der "Würmer: Rotatoria. Bädertl/iercheii. Dieser kleine Ast des Subphylum der Würmer umfasst nur die einzige Classe der Eäderthierchen, welche aber durch ihre, vi eifachen und verwickel- ten Verwandtschiifts- Beziehungen zu fast allen Hauptgruppen des Articula- ten-Stammes von ganz besonderem Interesse ist, und daher auch den Systema- tikern von jeher die grössten Schwierigkeiten verursacht hat. Bald sind die Rotatorien zu den Infusorien, bald zu den Turbellarien, bald zu den Anne- liden, bald zu den Crustaceen gestellt, und von den Einen eben so entschie- den für echte Würmer, wie von den Andern für echte Arthropoden erklärt worden. In der That sind verwandtschaftliche Beziehungen zu allen die- sen Gruppen vorhanden , und der lebhafte Streit über ihre Stellung in die- ser oder jener Gruppe zeigt deutlich, wie alle Systematik ohne das Licht der Descendenz - Theorie im Dunkeln tappt. Nach unserer Ansicht ist die Classe der Eäderthierchen ein sehr alter TJeberrest von demjenigen Aste des Articulaten - Stammes , aus welchem sich zunächst die Crustaceen und somit weiterhin die Arthropoden überhaupt ent- wickelt haben. Einerseits sind die Rotatorien durch ihre tiefsten Formen so innig mit den Turbellarien (Rhabdocoelen) und selbst noch mit den Infu- sorien, andrerseits durch ihre höchsten Formen so nah mit den Crustaceen (Entomostraca) und dadurch mit dem Subphylum der Arthropoden verbunden, dass Avir dieselben als eine Zwischenform zwischen den Scoleciden und den Arthropoden betrachten müssen , d. h. als uralte und sehr wenig veränderte directe'Descendenten von jenen Würmern, aus denen sich die Arthropoden entwickelt haben. Die verschiedenen Formen, welche gegenwärtig noch aus der Rotatorien - Gruppe leben und nur dürftige Zveeiglein eines vormals ge- wiss sehr entwickelten Astes darstellen, lassen unter sich keine derartigen Un- terschiede wahrnehmen , dass wir darauf hin einen Stammbaum der Classe selbst entwerfen könnten. Drittes Subphylum des Articulaten- Stammes : Arthropoda. Glieder füsser. Der Unterstamm der Arthropoden wird zwar gewöhnlich dem der Wür- mer als völlig getrennt gegenübergestellt, und Beide werden als zwei selbst- ständige Phylen betrachtet. Indessen müssen wir die schon von Bär und Cuvier bewerkstelligte Vereinigung derselben in dem „Typus" oder Unter- reich der Articulaten als völlig berechtigt reconstituiren, da die Arthropoden nur einen höher entwickelten und weiter differenzirten Zweig des Würmerstam- mes darstellen. Abgesehen von den allgemeinen morphogenetischen Gründen, durch welche diese Ansicht fest gestützt wird, sind selbst die anatomischen Homologieen zwischen Beiden so zahlreiche, dass eine systematische Trennung sehr schwierig ist, und dass insbesondere die beiden Claden der Rotatorien und der Anneliden von den einen Zoologen mit eben so viel Bestimmtheit zu den Arthropoden , wie von den Anderen zu den echten Würmern im enge- ren Sinne , den Scoleciden gezogen werden. Welche von diesen beiden Cla- den , ob die Anneliden oder die Rotatorien , unmittelbar den genealogischen LXXXVI Sjrstcmatische Einleitung in die Entwickelungsgeschichte. Uebergang von den Scoleciden zu den Arthropoden herstellen , könnte zwei- felhaft erscheinen. Indessen glauben wir , dass bei weitem mehr Argumente zu Gunsten der Kotatorien sprechen , während wir die Anneliden vielmehr für einen den Arthropoden parallel aufsteigenden Zweig des Wiirmerstarames halten, der sich schon früh von den Rotatorien getrennt hat. Das Subphylum der Arthropoden wird gegenwärtig allgemein in die vier Classen der Crustaceen, Arachniden, Myriapoden und Insecten eingetheilt. Indessen ist es offenbar, dass die drei letzteren Classen unter sich viel inni- ger zusammenhängen und viel geringere Differenzen darbieten , als die ver- schiedenen Legionen und selbst die verschiedenen Ordnungen der Crustaceen. Diese könnten mit demselben oder noch grösserem Rechte als selbstständige Classen betrachtet werden. Wir vereinigen daher jene drei (durch Tracheen Luft athmenden) Arthropoden - Classen nach dem Vorgange von Bronn in dem Cladus der Tracheaten und stellen diesem als zweiten Cladus die (durch Kiemen Wasser athmenden) Crustaceen als Cari den gegenüber. Offenbar haben sich die Tracheaten erst aus den Cariden , diese dagegen unmittelbar aus den Würmern, und zwar am wahrscheinlichsten aus den Rotatorien ent- wickelt. Die Paläontologie liefert uns leider hierüber nur geringe Andeu- tungen , viel wichtigere die Ontogenie. Die phyletische Entwickelung der Hauptabtheilungen der Arthropoden fällt grösstentheils in die archolithiscbe Zeit, aus welcher uns nur die wenigen cambrischen und die silurischen Reste berichten. Zudem sind die Körper der meisten Tracheaten und auch die der zarteren' Crustaceen, nur wenig der Fossilisation fähig. Erster Cladus der Arthropoden: Cari des. Krebse (Kiemenatlimcnde Arihro'poden). Dieser Zweig umfasst nur die formenreiche Classe der Crustaceen-, deren einzelne Hauptabiheilungen (Subclassen, Legionen, Ordnungen) man recht gut als selbsständige Classen aufführen könnte, wenn nicht so viele verbin- dende Zwischenglieder zwischen denselben existirten. Die Paläontologie liefert uns über die Phylogenie der Cariden weit umfassendere Aufschlüsse als über die der Tracheaten, jedoch wesentlich nur über das successive Auf- treten einzelner Legionen. Am wichtigsten erscheint in dieser Beziehung das ganz überwiegende Vorherrschen der Trilobiten in der Primärzeit, der Macruren (und vielleicht auch der Poecilopoden?) in der Secundärzeit, wäh- rend für die Tertiärzeit die Brachyuren bezeichnend sind. Einzige Classe des Cariden - Cladus : Crustacea. Rruster. Diese Classe ist nebst den Radiolarien (vergl. S. XXIX) die einzige un- ter den wirbellosen Thieren, welche bisher eine genealogische Analyse im Sinne der Descendenz - Theorie .gefunden hat. Fritz Müller hat sich die- ser eben so schwierigen als interessanten Aufgabe mit so viel Geist und mit so tiefem Verständniss unterzogen, dass wir hier nichts besseres thun, als auf seine ausgezeichnete Schrift „Für Darwin" verweisen können (Vergl. un- ten S. 185). Allerdings sind unsere Kenntnisse dieser äusserst differenzirten und auf das Mannichfaltigste durch Anpassung veränderten Classe immer noch so unvollkommen, dass Fritz Müller es noch nicht wagte, „die einzelnen Fäden, welche die Jugendforraen der verschiedenen Kruster liefern, zu einem Gcsammtbilde der Urgeschichte dieser Classe zu verweben." Wenn wir trotz Das natürliche System des Thierreichs. LXXXVII unserer viel geringeren Kenntnis« derselben dennoch diesen Versuch hier wac^en, so geschieht es nur, um einen festen und angreifbaren Boden zur Dis'cussion dieser Fragen vorzubereiten. Als die gemeinsame Stammform aller Crustaceen ist zv^eifelsohne der NaupliMs zu betrachten welchen die vergleichende Ontogenie der Cariden mit der überraschendsten Sicherheit als solchen nachweist. Erste Subclasse der Crustaceen: Archicarida, H. ürhebsc. Diese Subclasse enthält die uns unbekannten selbstständigen, persistenten ^'aupl^us -Yormen, welche den Uebergang von den Rotatorien zu den ubri- 'o-en Krustern herstellten. Zweifelsohne hat die Nauplins - Form m der _ alte- ren archolithischen Zeit, lange vor der Silur -Zeit, einen sehr formenreichen Cariden -Zweig gebildet, dessen Repräsentanten uns jedoch wegen ihrer seür ..erin-en Grösse und Consistenz nicht erhalten bleiben konnten. Wahrschem- Uch schon in der laurentischen, vielleicht schon in der antelaurentischen Zeit hat sich der Nuuplius aus den Rotatorien, oder mit diesen zusammen aus nie- deren Scoleciden entwickelt. Als divergente Zweige der gemeinsamen iV««- plius-Yorm sind alle übrigen Subclassen der Crustaceen - Classe zu betrachten. Einerseits ging aus dem Nauplius die Zoda hervor, welche der Stammva- ter aller Malac ostraca und wahrscheinlich auch der Tracheaten wurde Andrerseits entwickelten sich aus der Nauplius - Grxr^v^ , ohne Zwischentritt der Zo^^fl- Form, alle übrigen Cariden -Legionen, welche früher als Entom- ostraca zusammengefasst wurden. Zweite Subclasse der Crustaceen: Pect ostraca, H. Haftkrebse. In dieser Legion fassen wir die beiden merkwürdigen , und von den übrigen Krustern sich am meisten entfernenden Ordnungen der Cirnpedien undRhizocephalen zusammen, von denen uns die ersteren vorzüglich durch die classischen Untersuchungen von Charles Darwin, die letzteren durch die- ienigen von Fritz Müller genauer bekannt geworden sind. Wie der letz- tere nachgewiesen hat, stimmen die iV«///;//z/* - Stadien beider Ordnungen so sehr unter sich überein und weichen durch wesentliche Charaktere so sehr von denen der anderen Crustaceen ab, dass wir Beide als divergente Aest- chen eines einzigen, tief unten abgehenden Zweiges betrachten müssen. Beide sind durch Hermaphroditisraus ausgezeichnet. Durch weit gehende phyle- tische Degeneration entstehen aus ihnen die seltsamsten Gestalten. Erste Legion der Pectostraken : Bhizocephala. fVurzelkrebse. Diese höchst merkwürdige Krebs - Legion , welche die Gattungen Pello- fraster, Sacculh.n und Lernaeodiscus umfasst, zeigt uns den äussereten Grad parasitischer Degeneration unter den Gliederthieren indem der ganze Kor- per zu einem einfachen, beiderlei Geschlechtsproducte erzeugenden backe reducirt wird. Ihre Ontogenie beweist, dass sie neben den Cirnpedien als besonderer Zweig der Pectostraken-Gruppe zu betrachten sind. Fossile Reste konnten sie nicht hinterlassen. LXXXVIII Systematische Einleitung in die Eutwickelungsgeschichte. Zweite Legion der Pectostraken : Cirripedia. Rankenfüsser. Diese ausgezeichnete Krebslegion besitzt harte Kalkschalen, welche der fossilen Erhaltung fähig sind. Sichere Reste von den Balaniden {Chtha- malus) sind bereits in der Kreide, von den Lepadiden {Pollicipes) im Jura ge- funden. Vielleicht aber ist auch der devonische Bostric/topt/s ein Cirriped. Wahrscheinlich haben sich die Cirripedien schon in der archolithischen Zeit von den andern Crustaceen abgezweigt. Dritte Subclasse der Crustaceen: Ostracoda. Muschelkrehse. Diese sehr eigenthümliche Krebsgruppe, welche nur die eine Ordnun- der Conchocariden, mit den Familien der Cypriden, Cytheriden und Cypndiniden umfasst, zeigt so höchst verwickelte Verwandtschafts-Beziehun- gen zu fast allen übrigen Subclassen der Crustaceen, dass ihr ein Platz an den verschiedensten Orten angewiesen worden ist. Bald haben die Ostraco- den für nächste Verwandte der Cirripedien, bald der Branchiopoden, bald der Poecilopoden, bald der Isopoden gegolten. Hieraus und aus ihrer Onto- genie geht hervor, dass wir es mit einer sehr alten und seit der archolithi- schen Zeit sehr wenig veränderten Thiergruppe zu thun haben, welche sich gleich den Pectostraken schon sehr frühzeitig, und zwar wahrscheinlich aus gemeinsamer Wurzel mit diesen, aus der Archicariden - Gruppe entwickelt hat. Die nächste Verwandtschaft mit den Cirripedien wird insbesondere durch die zweiklappige Schale bewiesen, welche die jugendlichen Larven („Cypris- Stadien") der letzteren mit den Ostracoden theilen. Fossile Schalen von Ostracoden {Cupris , Ciithei-e , Cifpridina) finden sich massenhaft schon in den ältesten Formationen, vom Silur an, am reichlichsten in den tertiären Ablagerungen. Vierte Subclasse der Crustaceen: Copepoda. Ruderkrehse. Diese Subclasse , welche ihre phyletische Entwickelung aus den Archi- cariden noch heute in ihrer Ontogenie sehr deutHch erkennen lässt, umfasst die beiden Legionen der Eucopepoden und Siphonostomen, von denen fossile Reste nicht bekannt sind. Die letzteren sind lediglich durch Parasitismus rückgebildete Seitenzweige der ersteren. Erste Legion der Copepoden: Eucopepoda, H. Freilebende Copepoden. Diese Legion, welche die Familien der Cyclopiden, Calaniden, Cory- caeiden, Notodelphyiden und viele Andere umfasst, bildet den eigentlichen Stamm der Copepoden - Gruppe, welcher sich unmittelbar aus den Archicari- den entwickelt hat. Zweite Legion der Copepoden: Siphonostoma. Parasitische Copepoden. Diese Legion, welche früher als eine besondere Hauptabtheilung der Crustaceen aufgeführt wurde, besteht lediglich aus echten Copepoden, welche Das natürliche Sj'stem des Thierreichs. LXXXIX durch Anpassung an parasitische Lebensweise die ausge'zeichnetsten regressi- ven Metamorphosen erlitten haben. Es gehören hierher die Ergasiliden, Caligiden, Chondracanthiden , Penelliden etc. Fünfte Subclasse der Crustaceen: Branchiopoda. BkiUkrebse. Diese Subclasse steht der vorigen am nächsten, und hat sich wahrschein- lich aus der gleichen Archicariden-Form mit derselben hervorgebildet. Doch erreicht sie einen weit höheren Entwickelungsgrad als die Copepoden. Es gehören hierher die beiden lebenden Legionen der Cladoceren und der Phyl- lopoden , und wahrscheinlich auch die ausgestorbene Legion der Trilobiten, welche in der Primär -Zeit die Hauptmasse der Kruster bildete. Erste Legion der Branchiopoden: Phyllopoda. Blaltfüsser. Diese Legion, welche den eigentlichen Stamm der Branchiopoden- Gruppe bildet, umfasst die Familien der Artemiden {Jrteirnu , Braiichipus), der Apusiden (jpus) und der Estheriden (ßstheria, Linmadia). Sie hat sich scheinbar seit ihrer Abzweigung von den Archicariden in sehr gerader Linie entwickelt, und ist nur wenig durch Anpassung verändert worden. Apu«- Formen, welche von dem heutigen Jpus sehr wenig abweichen , finden sich bereits in der Kohle und in der Trias. Zweite Legion der Branchiopoden : Cladocera. fVasserßöhe. Diese Legion , welche die einzige Ordnung der Daphniden umfasst {Daphnin , Sida , Polyphemns etc.) betrachten wir als einen Seitenzweig der Phyllopoden, welcher aus diesen durch besondere Anpassungs - Verhältnisse entstanden ist. Fossile Eeste sind nicht bekannt. Dritte Legion der Branchiopoden: Trilobita, Palaeaden. Wahrscheinlich unmittelbar aus den Phyllopoden hervorgegangen , bil- dete diese Legion in der primordialen und primären Zeit eine äusserst viel- gestaltige und hoch entwickelte Gruppe, welche damals der Hauptrepräsen- tant nicht allein der Crustaceen, sondern der Gliederthiere überhaupt war. Schon im oberen cambrischen Systeme vorhanden , erreichten die Trilobiten in der jüngeren Silurzeit die Acrae ihrer Entwickelung, wo sie ausserordent- lich massenhaft entwickelt waren, nahmen dann im Devon schon stark ab, und starben in der Kohle aus. Vielleicht entwickelte sich aus ihnen die fol- gende Subclasse. Sechste Subclasse der Crustaceen: Poecilopoda. Schildkrebse. Diese sehr eigenthümliche Subclasse umfasst die beiden Legionen der» Xiphosuren und der Gigantostraken, von denen nur noch die ersteren einen einzigen lebenden Repräsentanten zeigen. Wahrscheinlich bildete diese Sub- classe in der primordialen, primäi'en und secundären Zeit einen vielgestalti- XC Systematische Einleitung in die Entwickelungsgeschichte. gen Zweig von sehr" hoch entwickelten Crustacecn , welche erst später im Kampfe um das Dasein dem Andränge der stärker sich entwickelnden Malak- ostraken unterlagen. Weder ihre, noch ganz unbekannte Ontogenie, noch ihre Paläontologie vermag uns gegenwärtig über ihre Phylogenie aufzuklären. Doch haben sie sich aller Wahrscheinlichkeit nach aus der vorigen Subclasse entwickelt, entweder aus den Trilobiten oder tiefer herab, aus älteren Bran- chiopoden. Die Gigantostraken sind vielleicht eine eigene Subclasse. Erste Legion der Poecilopoden : Xiphosura. PJ'eilschwänzer. Nur die einzige Sippe Limulus giebt uns heutzutage noch ein Bild von dieser abweichenden Krebsgruppe, welche besonders in der Secundär -Zeit reich- lich entwickelt gewesen zu sein scheint. Fossile Beste derselben finden sich bereits im Carbon {BelHimrus) und im Perm {Umulus), jedoch selten. Reich- licher werden sie erst in der Trias {Halycive) und im Jura, wo sie ihre Acme erreichen. . Zweite Legion der Poecilopoden: Gigantostraca, H. Riesenkrebse. In dieser Legion vereinigen wir eine Anzahl von sehr eigenthümlichen ausgestorbenen Crustaceen, welche sich den Xiphosuren zunächst anzuschlies- sen scheinen, nämlich die beiden Gruppen der Ptery gotiden {Pterygofi/s), welche im Silur und Devon, und der Eurypteriden {Enrypterus) , welche im Devon und der Steinkohle vorkommen. Es finden sich unter ihnen kolos- sale Formen, welche gegen sieben Fuss Länge erreichten, und also alle ande- ren bekannten Arthropoden bei weitem an Grösse übertrafen. Früher wurden sie zum Theil für Fische gehalten. Wahrscheinlich haben sich dieselben, zugleich mit den Limulidcn oder getrennt von diesen, aus den Branchiopoden hervorgebildet. Vielleicht bilden sie mehrere verschiedene Legionen. Siebente Subclasse der Crustaceen: Malacostraca. Panzerkrebse. Diese umfangreiche Subclasse umfasst den bei weitem grössten Theil aller jetzt lebenden Crustaceen , welche jedoch unter sich sämmtlich so nahe ver- wandt sind, dasB wir dieser Subclasse keinen höheren Rang, als den sechs vorhergehenden einräumen können. Obgleich mit ihren ältesten Wurzeln bis in die Primärzeit hinabreichend, hat sie sich doch erst in der Jurazeit reichlicher entwickelt und ist erst in der Tertiärzeit zu ihrer vollen Blüthe und zur Herrschaft über die übrigen Crustaceen gelangt, so dass namentlich die Poecilopoden und Branchiopoden, welche in den älteren Zeiträumen herrsch- ten, jetzt ganz gegen sie zurücktreten. Yon den beiden Legionen, in welche sich die Malacostraca th eilen, den Podophthalmen und den Edriophthalmen, sind letztere die jüngeren, welche sich erst in der Jurazeit aus den ersteren entwickelt zu haben scheinen. Die Phylogenie dieser wichtigen Gruppe ist durch Fritz Müll er 's glückliche und geistvolle Untersuchungen („Für Dar- win") und insbesondere durch seine Entdeckung der iN^ffw/v//«*- Larven bei Eucariden , plötzlich so überraschend aufgeklärt worden , dass über die Ab- zweigung auch dieser Subclasse von den Archicariden kein Zweifel mehr be- stehen kann. Auch die Stammform dieser Subclasse ist, wie bei allen vor- Das natürliche System des Tliierreichs. XCI hergcKenden , ein Ndi/p/it/s , welcher bei seiner weiteren Metamorphose in den für diese Abtheilung ganz charakteristischen ^oefl-Zustand Ubergeht, der sich noch wenig von den Phyllopoden entfernt. Diese Zoea-Yorm ist höchst wichtig nicht allein als gemeinsame Stammform aller Malacostraken , sondern höchst wahrscheinlich auch der Tracheaten. Erste Legion der Malacostraca : Podophthalma. Slielaugeti. Die Podophthalmen oder Thoracostraken umfassen den älteren und mächtigeren Zweig der Malacostraca, welcher sich in die vier Ordnungen der Zoepoda, Schizopoda, Stomatopoda und Decapoda spaltet. Von diesen sind die beiden letzteren divergirende Zweige der Schizopoden, die ihrer- seits aus den Zoepoden hervorgegangen sind. Erste Ordnung der Podophthalmen: Zoepoda, H. Zoea- Krebse. Diese Ordnung umfasst die uns unbekannten, ältesten, gemeinsamen Stammformen aller Malacostraken, welche schon in der Primordial - Zeit von den Ärchicariden sich müssen abgezweigt, uns aber keine fossilen Keste hinterlassen haben. Die merkwürdigen Zoea -Zustände, welche noch heute in der Ontogenese der meisten Podophthalmen eine so wichtige Bolle spielen, geben uns ein Bild von der Eorm dieser alten Mahicostraea-Ahnen, welche, wie Eritz Müller trefflich gezeigt hat (1. c. S. 86), eine phyle- tische Entwickelungsstufe der Malacostraken darstellen, die durch eine ganze Reihe geologischer Eormationen als bleibende Form bestanden haben muss. Aus ihr haben sich höchstwahrscheinlich als zwei divergente Zweige die Schizopoden und die Protracheaten entwickelt, von denen jene die gemeinsame Stammform aller Malacostraken, diese aller Tracheaten wurden. Zweite Ordnung der Podophthalmen: Schizopoda. Spaltfüsser. Die Schizopoden oder Caridioiden repräsentiren in den Genera My- xi's , Eup/iausia etc. die ältesten jetzt noch lebenden Ahnen der Malak- ostraken, welche unmittelbar aus den Zoepoden hervorgegangen sind. Als zwei divergirende Zweige dieser Ordnung sind die Stomatopoden und Decapoden zu betrachten, von denen man bald diese bald jene Gruppe mit den Schizopoden vereinigt hat. Gewisse Eucariden (Pe/ieus) und an- dere Macruren durchlaufen noch gegenwärtig während ihrer Ontogenese das Stadium der Mysis. Dritte Ordnung der Podophthalmen: Stomatopoda. Maiilfii.sser. Diese Gruppe bildet den bei weitem schwächeren Zweig des Schizo- poden-Astes, welcher nur die Familie der Squilliden oder Heuschrecken- krebse {Sqidlla, Gonodacliitiis, Erichthiis etc.) umfasst. Er hat sich wahr- scheinlich viel später als der Decapoden-Zweig, aus den Schizopoden her- vorgebildet. Die ältesten fossilen Reste desselben finden sich im Jura {S(jiiiUa). XCII Systematische Einleitung in die Entwickelungsgeecliichte! Vierte Ordnung der Podophthalmen. Decapoda. Zclmfüsser. Diese äusserst formenreiche Gruppe, zu welcher die grössten und stärksten aller jetzt lebenden Krebse gehören, und welche seit der Tertiär- zeit ebenso dominirt, wie in der Silurzeit die Trilobiten, wird allgemein in die drei Unterordnungen der Macruren, Anomuren und Brachyuren ein- getheilt. Von diesen haben sich die Macruren als die ältesten unmittel- bar aus den Schizopoden entwickelt, während die Brachyuren als die voll- kommensten erst in der Kreidezeit ans den Anomurea, und durch diese aus den Macruren hervorgegangen sind. Die Unterordnung der Macrura beginnt mit der wichtigen Pamilie der Eucariden oder Caridinen (Gar- neelen), von denen einige Pen eus- kxien nach der interessanten Ent- deckung Fritz Müller's die Phylogenie der Decapoden noch ausgezeich- net in ihrer Ontogenie conservirt haben. Diese Peneus-Arten durchlaufen nach einander folgende vier Stadien: 1. Naiiplius; II. Zoea; III. Mysis; IV. Peiieus ; und bestätigen so, auf das Bestimmteste ihren vorher erläuter- ten Stammbaum. Bei den meisten anderen Decapoden ist das Nauplius- Stadium , und bei sehr Vielen auch das Zoea - Stadium durch secundäre Abkürzung der Entwickelung verloren gegangen. Die Eucariden sind of- fenbar die reinsten Repräsentanten der alten gemeinsamen Stammform al- ler Decapoden. Aus ihnen haben sich als zwei divergirende Zweige einer- seits die übrigen, jüngeren und vollkomnmeren Macruren (die Familien der Scyllariden und Astaciden), andererseits die Unterordnung der Anomura entwickelt. Die letzteren sind thcils besondere Anpassungs- Zustände der Macruren (Galathea, Pagiinis), theils Uebergangs-Formen zu der Unterord- nung der Brach yura oder Krabben, welche sich in der Kreidezeit aus ihnen entAvickelt haben. Die Macruren , von^ denen die ältesten Eestc {Gampso/ti/x) schon in der Steinkohle liegen, scheinen bereits im Jura die Acme ihre Phylogenese erreicht zu haben, während die Brachyuren als die vollkommensten Decapoden noch gegenwärtig in Zunahme begriffen . sind. Zweite Legion der Malacostraca : Edriophthalma. Sitzavgen. Die Edriophthalmeu oder Arthrostraken, welche in mehrfacher Bezie- hung, obgleich verhältnissmässig unansehnlich, als die vollkommensten Crustaceen angesehen werden müssen, haben sich, wie es scheint, am spä- testen von allen entwickelt, und zwar bilden sie wohl einen, von den Decapoden divergirenden Zeitenzweig der Schizopoden. Sic spalten sich in die beiden Ordnungen der Isopoden und Amphipoden, von denen die ersteren im Jura, die letzteren im Eocen ihrer ältesten (übrigens unbedeu- tenden) Reste hinterlassen haben. Erste Ordnung der Edriophthalmeu: Amphipoda. Flohkrebse. Diese Ordnung spaltet sich in die drei Unterordnungen der Sal- tatoria (Garnmarus , Orchesfm) , der Ambulatoria (Hyperin, Phronimn) und der Laemodipoda {Caprella, Cyainus) von denen die beiden letzte- Das natürliche System des Thierreichs. xcm iren wohl aus den ersteren als zwei divergirende Acste durch Anpassung , entstanden sind. Die Laemodipoden bilden meist eine besondere Ordnung. Zweite Ordnung der Edriophthalmen : Isopoda. Jsselkrebse. In mehrfacher Beziehung verdient diese Ordnung, welche neben den Amphipoden, und aus gemeinsamer Wurzel mit ihnen von den Schizopo- den abgegangen zu sein scheint, an die Spitze der Crustaceen-Classe gestellt y,u werden. Durch Anpassung an sehr verschiedene Lebjänsverhältnisse zerfällt die Ordnung in eine Anzahl von Unterordnungen und Familien, die theils, wie die schmarotzenden Bopyriden {Bopyrus, Enloiiisciis, Crypt- , o/iiscus) eine rückschreitende phyletische Umbildung höchsten Grades er- ; leiden, theils, wie die landbewohnenden Onisciden, sich zur Luftathmung c erheben und Analogieen (aber keine Homologieen !) mit den Tracheaten, 1 insbesondere den Myriapoden erwerben. Zweiter Cladus der Arthropoden: Tracheata. Keife (Tracheenathmende Arthropoden). Dieser Cladus der Arthropoden umfasst die drei Classen oder Sub- . classen der Arachniden, Myriapoden und der echten Insecten (im engeren ^ Sinne), und in den letzteren zugleich die bei weitem artenreichste Ab- : theilung des ganzen Thierreichs. Jedenfalls haben sich die Tracheaten : aus den Crustaceen und höchst wahrscheinlich aus den Zoepoden entwickelt, ■worauf bereits Fritz Müller hindeutete Unter sich sind die drei Tra- cheaten-Gruppen so nah verwandt, dass man sie füglich eher, als die verschiedenen Subclassen der Crustaceen, in einer einzigen Classe vereini- i gen könnte. Die gemeinsame, uns unbe,kannte Stammform der drei Clas- y sen, ein Zoepode, welcher sich an das Landleben und an die Luftathmung 1 gewöhnte, und so allmählich im Laufe langer Generationen die sehr cha- : rakteristische Tracheen-Athmung erwarb, muss in dem Zeitraum zwischen > der' Silur -Zeit und der Kohlenzeit (also entweder in der Antedevon-, in . der Devon- oder in der Antecarbon - Zeit) sich entwickelt haben; denn in der Silur -Zeit gab es noch keine landbewohnenden Organismen, in der : Steinkohle aber traten bereits die ersten entwickelten Tracheaten , und zwar sowohl Insecten als Arachniden auf. Wir wollen diese Stammformen als Protracheaten den drei übrigen Classen voranstellen. Erste Classe der Tracheaten: Protrachcata. Urkerfe. Von diesen zwischen Silurzeit und Kohlenzeit aus den Zoepoden ent- wickelten Stammformen der Tracheaten sind uns zwar keine fossilen Beste bekannt. Indessen erlaubt uns die vergleichende Ontogenie der Malaco- straken, Arachniden, Myriapoden uud Insecten, mit ziemlicher Sicherheit auf die Form derselben bestimmte Schlüsse zu ziehen. Gleich mehreren . Zoepoden (die uns noch jetzt in Zoea-Stadien conservirt sind), und zugleich den echten Insecten, zwischen welchen sie mitten inne standens müssen die Protracheaten, als deren Typus man das hypothetische Genus Zoenlo- mon hinstellen könnte, drei Paar Kiefern und drei Paar locpraotorische Extremitäten besessen haben. Aus diesen sechsbeinigen Zoentomiden ha- XCIV Systematische Einleitung in die Entwickelungsgcschichte. ben sich höchst wahrscheinlich als gerade aus laufender Hauptzweig die Insecten, als schwächerer Seitenzweig die Arachniden entwickelt. Die My- riapoden stellen nur ein unbedeutendes Seitenästchen der Insecten dar. Ob jetzt noch Protrocheaten leben, ist zweifelhaft. Vielleicht könnte man die Solifugen hierher stellen, vielleicht auch jene „flügellosen Insecten", bei denen der Elügelmangel ursprünglich, nicht durch Anpassung er- worben ist (falls es unter den lebenden Insecten solche giebt!). Zweite Classe der Tracheaten: Arachuida. Spinnen. Die Spinnen besassen ursprünglich, gleich den echten Insecten, drei Beinpaare, an drei getrennten Brust- Metameren befestigt, wie es die heute noch lebenden Solifugen deutlich erkennen lassen. Erst später hat sich bei der Mehrzahl derselben das hintere Kieferpaar den drei echten Beinpaaren assimilirt, daher man den Arachniden allgemein (aber mit Un- recht) als Unterschied von den Insecten vier echte Fusspaare zuschreibt. Die Verwandtschaft der verschiedenen Spinnen -Ordnungen ist nach unse- rer Ansicht bisher gewöhnlich sehr unrichtig beurtheilt worden, indem man sich dabei fast immer nur oder doch vorwiegend auf die Analogieen, und nicht auf die Homologieen derselben stützte. Hier, wie bei den Crustaceen, bringt plötzlich die Descendenz - Theorie helles Licht in das dunkle Chaos der Gestalten - Masse. Abgesehen von den beiden Legionen der Arctisken und Pantopoden, welche wir am liebsten ganz aus der Arachniden-Classe entfernen möchten, zerfallen die übrigen, echten Arach- niden nach unserem Dafürhalten in zwei divergente Zw^eige, Arthrogasteres und Sphaerogasteres , welche beide von der den Protracheaten nächstver- wandten Solifugen -Form ihren Ausgang genommen haben. Die Arctis- ken und Pantopoden, namentlich die erstereu, haben sich dagegen wahr- scheinlich schon viel früher von dem Arthropoden -Stamme abgezweigt, wir bilden daher aus ihnen die Subclasso der Pseudarachnen und stellen diesen die echten Spinnen als Autarachnen gegenüber. Erste Subclasse der Arachniden: Pseudarachnae, H. ScIi einspinnen. Die Stellung dieser Gruppe unter den Arachniden betrachten wir als eine provisorische. Sie wird aber so lange beibehalten werden müssen, als nicht die Stelle ihrer Abzweigung vom Articulaten-Stamme entdeckt ist. Die beiden hierher gehörigen Legionen, Arctisken und Pantopoden, zeigen unter sich keine nähere Verwandtschaft. Erste Legion der Pseudarachnen : Arctisca. ( Tardigrada) . Barth ierc/ien . Diese Legion umfasst nur die einzige Ordnung und Familie der Arctis- ken oder Tardigraden, die wir als einen uralten Zweig des Gliederthier- Stammes betrachten, der wahrscheinlich viel älteren Ursprungs als die Arach- niden-Claese ist. Die Vierzahl der Beinpaare scheint uns nicht auf Homolo- gie, sondern auf Analogie mit den Arachniden zu beruhen. Wir vermutheu, dass dieselben näher den Würmern als den übrigen Glieder-Thieren stehen und vielleicht den Rotatorien, vielleicht den Scoleciden, mehr als den echten Das natürliche System des Thien-eiclis. XCV Arthropoden verwandt sind. Stammen sie wirklich von den Protracheaten ab, so würden sie vielleicht als eigenthümlich angepasste, sehr alte Sphae- rogastern anzusehen sein und wohl den Milben am nächsten stehen. Zweite Legion der Pseudarachnen : Pantopoda. (Pycnogonida). jisselspümen. Diese Legion umfasst nur die einzige Ordnung und Familie der Pyc- nogoniden, eine gleich der vorigen sehr eigenthümliche Articulaten- Gruppe, Avelche jedoch viel nähere Verwandtschafts - Beziehungen zu den übrigen Arthropoden zeigt. Vielleicht kann dieselbe als ein Zweig der Sphaerogastres betrachtet werden, der durch die einfache Anpassung an das Küstenleben seltsam modificirt worden ist. Vielleicht sind aber die Pantopoden auch sehr aberrante Crustaceen Zweite Subclasse der Arachniden: Autarachnae, H. Echte Spirmen. Hierher gehören alle Arachniden mit Ausnahme der Arctisken und Pantopoden. Alle Spinnen dieser Abtheilung sind zweifelsohne blutsver- wandte Glieder eines einzigen Astes, welcher sich neben dem der verei- nigten Insecten und Myriapoden von der Protracheaten - Classe abgezweigt hat. Diejenige Porm, welche letztern am nächsten steht, sind die Solifu- gen, von denen aus sich wahrscheinlich sowohl die Arthrogastres als Sphae- rogastres, die beiden natürlichen Hauptgruppen der Autarachnen, als zwei divergente Zweige entwickelt haben. Zur Unterscheidung der verschiede- nen Gruppen hat man bisher bei den Autarachnen, wie bei den Arachni- den überhaupt, vorzugsweise die Ditferenzirung der Eespirations- Organe benutzt. Offenbar ist diese hier aber nur von ganz untergeordnetem mor- phologischen Werthe, da sie bei nächstverwandten Arachniden durch ver- schiedene Anpassungs - Verhältnisse sehr verschieden abgeändert ist. Die fossilen Reste der Autarachnen (Von den Pseudarachnen kennt man keine) sind im Ganzen sehr spärlich. Doch finden sich einzelne sehr deutliche Abdrücke von Arthrogastren {Scorpio , Chelifer) bereits in der Steinkohle, wogegen die Sphaerogastres erst im Jura auftreten {Pal/n'pes). Dies stimmt überein mit unserer Vermuthung, dass die Sphaerogastres erst einen späte- ren Seitenzweig der Solifugen repräsentiren. Erste Legion der Autarachnen: Arthrogastres. Strenkspinnen {Skorpione). Diese Legion umfasst die Reihe der langgestreckten sogenannten „Arachnida crustaceiformia" , welche man auch kurzweg nach ihrem am höchsten entwickelten Zweige die Skorpione nennen könnte. Sie be- ginnt mit den Solifugen, welche durch die Phryniden mit den echten Skorpionen, und mit deren degenerirtem Seitenast , den Pseudoscorpionen verbunden sind. Erste Ordnung der Arthrogastres: Solifugae. Skorpionspüinen . Die höchst interessante Ordnung der Solifugen wird gegenwärtig nur durch die einzige Familie der Solpugiden [Solptiga, Galeodes etc.) vertre- XCVI Systematisehe Einleitung in die Entwickelungsgeschichte. ten. Wir erblicken in diesen Autarachnen die von allen lebenden Arach- niden am M'enigsten veränderten directen Nachkommen derjenigen Protra- cheaten, welche zwischen Silurizeit und Kohlenzeit von dem Hauptaste der Protracheaten sich abzweigten, um später die gemeinsamen Stammformen aller Autarachnen zu werden. Obgleich durch Anpassung sehr hoch ent- wickelt und zu den vollkommensten Arachniden gehörig, haben dennoch andererseits die Solifugen den ursprünglichen Protracheaten-Typus, der alle Arachniden, Myriapoden und Insecten als nächste Blutsverwandte verbin- det, in 80 ausgezeichneter Weise eonservirt, dass sie als unschätzbare Zeugen dieser innigen Stammverwandtschaft an den Anfang der Autarach- nen gestellt werden müssen. Wenn alle übrigen A rthrogastren ausgestor- ben wären, und bloss die „eigentlichen" Spinneu (Araneae) existirten, würde man die Solifugen mit mehr Eecht den Insecten, als den letzteren anfügen. Von den uralten Stammvätern der Autarachnen, die den Solifugen am nächsten standen, haben sich" wahrscheinlich als drei divergente Zweige erstens die zu den Skorpionen hinüberführenden Phryniden, zweitens die Phalangiten und drittens die Araneen abgezweigt^). Zweite Ordnung der Arthrogastres : Tarantulae. {Phrijnida). Taranteln. Auch bei dieser Ordnung, welche die einzige Familie der Phryniden {Pknjnns, Thelj/phonits) umfasst, sind noch, wie bei den Solifugen, die drei echten Beinpaare völlig von dem hinteren Kiefertasterpaar (dem so- genannten ersten Beinpaar) verschieden, obgleich bereits Kopf und Brust verschmolzen sind. Die Piiryniden sind offenbar die unmittelbare üeber- gangsstufe von den Solifugen zu den echten Scorpionen. Dritte Ordnung der Arthrogastres: Scorpioda. Skorpione. Diese Ordnung, welche die einzige Familie der echten Skorpione oder der Skorpioniden (Scorpio , linihiis) umfasst, hat sich höchst wahrschein- lich aus den Phryniden, und zunächst aus dem TheUjphonus ähnlichen For- men entwickelt, und zwar schon vor der Kohlenzeit, denn in der Stein- kohle findet sich bereits ein echter Skorpion (Cijclophlhalmus). Vierte Ordnung der Arthrogastres: Pseudoseorpioda. AJterskorpione. Diese kleine Ordnung, welche nur die Familie der Obisiden {Obisium, Chelifer) umfasst, betrachten wir als einen verkümmerten Seitenzweig der vorigen Ordnung, welcher sich zu dieser ähnlich, wie die Milben zu den Araneen verhält. Uebergangsformen zwischen Scorpio und Chelifer finden sich schon in der Steinkohle {Microlabis). Gauz M'ie bei den echten Insecten, ist auch bei den Solifugen der Kampf noch aus drei völlig getrennten Stücken zusammengesetzt, Kopf, Thorax und Abdomen. I Der Kopf trägt 1. das Augenpaar, 2. das Antennenpaar (Kieferfühler) 3. zwei Kiefertasterpaare (zwei Unterkieferpaare). II. Die drei Metameren der Brust tragen die drei echten Bein- paare. III. Der anhangslose Hinterleib ist aus zehn Metameren zusammengesetzt. Bei allen übrigen echten Spinnen sind nicht allein die drei Metameren des Thorax unter sich, sondern auch mit dem Kopfe zusammen zum Cephalothorax verschmolzen. Auch bei den Pnntopoden sind jene vier Metameren noch von einander getrennt. Das natürliche System des Thierreichs. xcvn Fünfte Ordnung der Arthrogastres : Opiliones. Jflersp innen. Die Ordnung der Phalangier, welche aus der einzigen Familie der Opilioniden oder Phalangiden besteht {l*/ialungium , Opilio), steht durch ihre eigenthümlichen Verwandtschafts-Beziehungen so isolirt, dass sie keiner der übrigen Autarachnen- Ordnungen unmittelbar angeschlossen werden kann; bald wird sie mit den Arthrogastres, bald mit den Sphaerogastres vereinigt. In der That steht sie zwischen Beiden in der Mitte. Uns scheint sie ein sehr alter, selbstständiger Ausläufer des Solifugon-Stammes zu sein, welcher sich nicht in andere Ordnungen fortsetzt. Sie ist die einzige Arachniden - Ordnung, welche mit den Solifugen die verästelten Tracheenbüschel theilt. Zweite Legion der Autarachnen: Sphaerogastres, H. Rundspinnen. Diese Legion umfasst die Hauptmasse der Arachniden, nämlich die sogenannten „echten Spinnen" im engeren Sinne oder die Webespinnen (Araneae), und die Milben (Acara). Die Acaren sind nach unserer An- sicht Nichts weiter als ein rückgebildeter Seitenzweig der Araneen, wel- che letzteren sich als selbstständiger Ast aus den Solifugen entwickelt ha- ben. Diese Entwickelung ist vorzüglich erfolgt durch Concentration des articuhrten Rumpfs, durch Verschmelzung der Metameren, und die dadurch bedingte Centralisation der Organsysteme, welche die Sphaerogastren vor allen andern Tracheaten auszeichnet, und ihnen unter diesen eine ähnliche Stellung giebt, wie den Brachyuren unter den Crustaceen. Erste Ordnung der Sphaerogastres; Araneae. Wehespinnen . ^ Diese formenreiche Gattung umfasst die typischen oder „eigentlichen Spinnen" im engsten Sinne, welche sich aus den Solifugen, unabhängig von den divergenten Aesten der Scorpione und Opilionen, entwickelt ha- ben. Die den Solifugen noch am nächsten stehenden scheinen die Salti- ens zu sein. Den eigentlichen Stamm der Ordnung bildet die Unterordnung der Zweilungen-Spinnen (Dipneumones), weichein die beiden Sec- tionen der nichtwebenden Vagabundae {Salticus , Lycosa) und der we- benden Se den täriae (rege^an«, Argyvoneln) zerfällt. Ueber letztere hat sich die zweite Unterordnung der Vierlungen-Spinnen (Tetrapneu- mones) als ein höchst entwickelter Ast erhoben {Cleniza , Mi/gale). Fos- sile Reste der Araneen treten zuerst im Jura auf (Pa/pipes). Zweite Ordnung der Sphaerogastres: Acara. Milben. Diese ebenfalls sehr formenreiche Ordnung, welche gewöhnlich mit Un- recht an den Anfang der Arachnide^-Classe gestellt wird, halten wir nicht für den Ausgangspunkt, sondern für einen einseitig verkümmerten Seitenzweig der Classe, welcher durch besondere einfache Anpassungs - Verhältnisse aus den Araneen (oder vielleicht auch aus den Opilionen?) hervorgegangen ist. Der grösste Theil der hierher gehörigen, raeist sehr kleinen und verküm- Haeckel, Genornlle Morphologie, II. **i|c:|e:ie;|c:ic XCVIII Systeraiitisoho Einleitung in die Entwickelungsgeschichte. merten Spinnen ist durcli das Schtnarotzorleben sehr stark degenerirt, am stärksten die wurmförraigen Linguatuliden {AcmthoUw.m) und Siraoni- den (Uemodcr). Dagegen sind die nicht schmarotzenden Onbatiden {Oribntes) weniger entartet, ebenso die Hydrachniden {Limnockares), Bdelliden {Hdella) etc. i). Dritte Classe der Tracheaten: Ulyriapoda. Tausend füsser. Diese kleine Tracheaten - Gruppe erscheint in entwickeltem Zustande so sehr von den übrigen Articulaten verschieden, dass man sie weder den echten Insecten, noch den Arachniden (und am wenigsten den Crustaceen !) einreihen kann, obwohl man alle drei Versuche gemacht hat. A^'ie jedoch die vero-leichende Anatomie und namentlich die Ontogenie beweist, sind die Mvriapoden den Insecten nächstverwandt, und besasseu ursprünglich, ..leich allen Tracheaten, drei Beinpaare. Die Vielzahl der Boinpaare fst hier (ebenso wie bei den Arachniden die Vierzahl) erst als secundar erworben zu betrachten. Die jungen aus dem Ei entschlüpfenden My- riapoden besitzen nur drei Beinpaare, wie sie ihre alten Voreltern zeit- lebens behielten. Die Myriapoden haben sich wohl viel spater, als die irachniden, von dem in die Insecten-Classe sich fortsetzenden Hauptstamme der 'Tracheaten abgezweigt, jedenfalls vor der Jura-Zeit, da sie sich im Jura bereits fossil finden {Ceop/iifus). Die kleine Classe enthalt nur zwei Ordnungen; Chilopoda oder Syngnatha {Geopldlus, Scolopen- dra) undDiplopoda oder Chilognatha (./«A«, Polijdesmus), jon denen wahrscheinlich die ersteren dem ursprünglichen Myriapoden -Stammvater näher stehen, als die mehr veränderte letztere Gruppe. Vierte Classe der Tracheaten: lusecta. Insecten. Die Classe der echten oder sechsbeinigen Insecten als die forraen- reichste aller Thiergruppen hat in vieler '^^'^"S ^^^1 ° wd/n r- Morphologie eine besondere Bedeutung, besonders auch deshalb weil nir- gends so wie hier die unwissenschaftlichste und gedankenloseste Formen- Serei als „morphologische Wissenschaft" cultivirt und ^«^^^f^^f ^^^^^'^ st Ihr grö stes realet Interesse für die wirklich wissenschatthche Morpho- logie lie't darin, dass sie uns zeigt, wie innerhalb des engsten anatomischen ^l^l^^L und' ohne tiefere wesentliche Organisations- Modificationen d gr'össte Mannichfaltigkeit der Formen reabsirt werden kann. In der That sind alle Insecten, trotz ihrer zahllosen Gattungen und Arten, so inni, verwandt, und durch so wenig wesentliche -^iefer greifende Organ^^^^ tionT Differenzen getrennt, dass sie sich in sehr wenige Hauptabtheilun- len (Ordnungen) zusammenfassen lassen, und dass selbst diese qualitativ weniger diverc^iren, als viele andere „Ordnungen" des Ihierreichs. Was den S sp'rung der Insecten-Classe betrifft, so haben wir berei s hPmJt dass dieselben die wenig veränderte Fortsetzung der aus den Zoe- X entsp-^^^^^^^^^ erste Protracheat, wel- a)Wennn.an die Milben an den Anfang der ^-chniden stellt so j^^^ - durch Anpassung erworben, nicht ursprünglu-h ! Das natürliche System des Thierreichs. XCIX ches zwei entwickelte Plügelpaare bcsass, können wir als den gemeinsa- men Stammvater aller uns bekannten jetzt lebenden und fossilen Insecten betrachten, da die flügellosen Formen zweifelsohne sümratlioh von geflü- gelten Voreltern (ebenso wie die zweiflügeligen von einflügeligen) abstam- men und erst durch Anpassung und secundäre Degeneration ihre Flügel eingebüsst haben. Die Entwickelung jenes Stammvaters fällt in den Zeit- raum zwischen Silurzeit und Kohlenzeit, wahrscheinlich in die antedevo- nische oder die devonische Zeit. In der Steinkohle (vielleicht schon im Devon!) treten zum ersten Male unzweifelhafte Insecten auf, und zwar ausschliesslich kauende Insecten (ürlhopleru , Nouroplera , Coleüpiera), Erst viel später (im Jura) erscheinen die vollkommensten Kauenden (////- mciioptera) und die echten saugenden Insecten {H.f'.mij>titvu , Diplerd) , am spätesten (erst tertiär) die Schmetterlinge (Lepidop/erii). Offenbar haben sich also die Sugentien erst später aus den ursprünglich allein vorhan- denen Masticantien hervorgebildet i). Erste Subclasse der Insecten: M a s 1 1 c a n t i a. Kaa- lusecfen. Diese Gruppe steht den übrigen Tracheateu und namentlich den Sol- pugiden, viel näher, als die erst später von ihr abgezweigte Gruppe der Sugentien. Sie allein ist in der Primärzeit vorhanden gewesen. Die al- lerältesten Insecten waren höchstwahrscheinlich entweder Orthopteren oder ITeuropteren , oder Mischformen zwischen diesen beiden Ordnungen, wel- che wir in der Ordnung der Tocoptera oder Stamm-Inse cten verei- nigen, da wir dieselben in keiner Weise scharf zu trennen vermögen. Erste Ordnung der Insecten: Tocoptera, H. Stamm- Insecten. Diese Ordnung gründen wir für die vereinigten Ordnungen der Ortho- ptera und Neuroptera, welche durch die Pseudoneuroptera so unmittelbar ver- bunden sind, dass wir (bei der bereits bemerkten phylogenetischen Werth- losigkeit der Insecten- Metamorphose) dieselben in keiner Weise scharf zu Sowohl diese paläontologische Urkunde, als viele andere Gründe beweisen, dass beiden Insecten der Umstand, ob die Entwickelung mit oder ohne M et am or p h ose ver- läuft, nur ein secundäres Interesse besitzt, und für die morphologische Erkennt- niss ihrer Verwandtschafts- Verhältnisse nur mit der grössten Vorsicht und Kri- tik verwerthet werden kann. Bei den Crustaceen, bei den Anneliden, bei den Mollusken, bei den Echiuodermen ist der Fall keineswegs selten , dass von nächstverwandten Arten (die oft selbst einem Genus augehöien!) die einen mit der ausgezeichnetsten Metamor- phose, die andern dagegen ganz direct, ohne alle Metamorphose sich entwickeln! Dies rührt daher, dass die Metamorphose bald durch das Gesetz der abgekürzten Vererbung zusammengezogen, bald durch Anpassung weiter ausgedehnt, bald selbst neu erworben wird. Wie Fritz Müller (1. c. S. 80) sehr richtig bemerkt, ist wahrschein- lich auch die vollkommene Metamorphose vieler, wenn nicht aller Insecten als eine solche durch neue Anpassungen während der Ontogenese erworbene (nicht von dem ursprünglichen Stammvater der Insecten ererbte!) anzusehen, wobei jedoch immer Rück- schläge in die Metamorphosen früherer Voreltern mit im Spiel sein mögen. Jedenfalls müssen wir die Eintheilung der Insecten in Ametabola und Metabola völlig verwer- fen. Offenbar ist für diese falsche Trennung das Wort „vollkommene" Metamorphose verhängnissvoll geworden! Nach aller sonstigen Analogie müssten gerade die unvoll- kommensten Insecten die vollkommenste Metamorphose haben (wie die Eucariden unter der Malacostraca), während die vollkommensten Insecten gar keine Metamor- phose mehr besitzen müssten (wie die P^driopbthalmon unter den Malacostraca!). In der That ist es aber gerade u m g e k eh r t ! C Systematische Einleitung in die Entwickelungsgeschichte. trennen im Stande sind. Sowohl die Orthopteren als die Neuropteren umfas- sen eine Anzahl von ziemlich verschiedenartigen, niedrig stehenden und offen- bar sehr alten Insectenformen , von denen mehrere darauf Anspruch raachen könnten, als die nächsten Verwandten der uralten Stammform aller Insecten zu gelten. Nebst den aus ihnen entwickelten Coleopteren sind die Tocopte- ren die einzigen Insecten, die sich schon in der Steinkohle finden. Erste Unterordnung der Tocoptera: Pseudoneuroptera. Urnetzjlügler. Diese Unterordnung ist wahrscheinlich von allen jetzt lebenden Insecten- Gruppen die älteste und umfasst verrauthlich diejenigen Stamminsecten, aus denen sich demnächst erst Orthopteren und Neuropteren als zwei divergente Zweige entwickelt haben. Es gehören hierher die vier Sectionen der A m - phibiotica {Ephemerida , LibelluHda , Perlida), der Corrodentia {Ter- mitida, Embida , Psocida), der Thy samoT^teva, {Physopoda, Thripida) und der Thysanura [Lepismida , Podurida). Von diesen sind wahrscheinlich die Amphibiotica diejenigen, welche von allen bekannten Insecten der ältesten gemeinsamen Stammform am nächsten stehen. Aus den Tracheen- Kiemen, welche die Larven dieser Thiere besitzen, sind vielleicht die In- secten-Flügel entstanden. Fossile Beste derselben finden sich bereits in der Steinkohle {Termes). Zweite Unterordnung der Tocoptera: Neuroptera. Netzflügler . Diese Ordnung hat sich wahrscheinlich erst aus der vorigen, mit der sie nächstverwandt ist, entwickelt. Vielleicht ist jedoch das parentale Verhält- niss auch umgekehrt. Sie umfasst drei Sectionen: I. Planipennia {Pa/ior- pida , Sialida , Hemerobida), welche den eigentlichen Stamm der Gruppe bil- den; II. Trichoptera {Phryganida) und III. Strepsiptera welche beide epst von den ersteren als zwei besondere Aeste sich abgezweigt haben. Die in der Steinkohle gefundene Dichjophlebia stellt eine verbindende Zwischenform zwischen den Sialiden (Neuropteren) und Libelluliden (Pseudo- neuropteren) her. Dritte Unterordnung der Tocoptera: Orthoptera. Grudjlügler. Diese Unterordnung hat sich wahrscheinlich gleich der vorigen von den Pseudoneuropteren abgezweigt, mit welchen dieselbe gewöhnlich vereinigt wird. Jedenfalls ist auch dieser Zweig einer der ältesten und am wenigsten veränderten. Es gehören hierher die beiden Sectionen der Ulonata (Blat- tiden und Heuschrecken) und der Labidura (Forficuliden) , von denen die letztere wahrscheinlich einen kleinen, durch specielle Anpassung abgeänder- ten Seitenzeig der ersteren darstellt. Fossile Reste von Blattiden, Acridiern und Locustiden finden sich bereits in der Steinkohle. Zweite Ordnung der Insecten: Coleoptera. Käfer. Die Käfer -Ordnung ist wohl von allen Gruppen der Organismen dieje- nige, bei welcher die unendliche Mannichfaltigkeit im Einzelnen und Kleinen Das natürliche System des Thierreichs. CI das grösste Missverhältniss zu der typischen Einförmigkeit im Grossen und Ganzen zeigt. Daher erscheint auch eine genealogische Anordnung ihrer zahlreichen Familien , und selbst eine Gruppirung derselben in wenige grös- sere Sectionen noch ganz unmöglich. Zweifelsohne haben sich die Käfer aus den Tocopteren, und zwar wahrscheinlich aus einem Zweige der Orthopteren entwickelt. Sie sind die einzigen Insecten , welche ausser den Tocopteren hereits in der Steinkohle vorkommen (einige Gurculioniden). Dritte Ordnung der Insecten: Hymenoptera. Haiiißügler. Gleich den Käfern erscheint auch die Ordnung der Hymenopteren als eine so einheitliche und in sich abgeschlossene Gruppe, dass keine Verbin- dungsglieder mit andei'n Insecten - Ordnungen bekannt sind. Gleich den Kä- fern sind auch die Hymenopteren jedenfalls aus den Tocopteren entstanden, und zwar wahrscheinlich aus einem Zweige der Neuropteren oder der Pseudo- neuropteren. Von allen kauenden Insecten haben sie sich am spätesten ent- wickelt. Die ersten fossilen lleste derselben gehören dem Jura an. Zweite Subclasse der Insecten: Sugentia. Savg- Insecten. Die Insecten mit saugenden Mundtheilen oder die Sugentien, welche die drei Ordnungen der Hemiptera, Diptera und Lepidoptera umfassen, haben sich erst spät aus der Subclasse der Masticantien entwickelt und zwar höchst- wahrscheinlich aus den Tocopteren. Der nähere Ort ihres Ursprungs aus diesen wird sehr schwierig zu ermitteln sein, da alle drei Ordnungen in sich abgeschlossene Gruppen ohne Uebergangs-Formen (gleich den Hymenopteren und Käfern) darstellen, und da uns weder die Ontogenie noch die Paläonto- logie über ihre Genealogie belehren. Wahrscheinlich sind Hemiptera und Lepidoptera als zwei divergente Zweige aus den Tocopteren , vermuthlich aus den Pseudoneuropteren oder aus den Neuropteren entstanden , wogegen die Dipteren sich aus den Hemipteren entwickelt haben werden. Die ältesten bekannten Beste gehören dem Jura an. Vierte Ordnung der Insecten: Hemiptera. Schnabelkerfe. Diese Ordnung ist höchst wahrscheinlich unter den Insecten mit saugen- den Mundtheilen die älteste , welche sich vielleicht schon in der Primärzeit von den Tocopteren abgezweigt hat. Wenigstens scheint darauf der kürzlich von Dehrn beschriebene Engereon aus dem Perm zu deuten, welcher eine Mischung von Charakteren der Neuropteren und Hemipteren darstellt und auf eine Uebergangsform von erstem zu letztern als auf ihren gemeinsamen Stammvater hindeutet. Von den beiden grossen Unterordnungen, in welche die Ordnung zerfällt, den Homoptera (Blattläusen und Cicaden) und den H eteroptera (Wanzen), sind die ersten wahrscheinlich die älteren. Von Beiden finden sich bereits Beste im Jura vor. Die Läuse oder Pediculiden, welche man als eine dritte Unterordnung betrachten kann, sind Hemipteren, welche durch Anpassung an Parasitismus in ähnlicher Weise rückgebildet sind, wie die Flöhe unter den Dipteren. CII Systematische Einleitung in die Entwickolungsgeschichte. Fünfte Ordnung der Insecten: Diptera. Fliegen. Diese höchst umfangreiche Tnsecten - Ordnung hat sich wahrscheinlich aus den Hemipteren (vielleicht jedoch auch aus gemeinsamer Wurzel mit die- sen oder direct aus den Tocopteren) entwickelt. Von den beiden grossen Unterordnungen, in welche die Ordnung zerfällt, den Nemocera (Mücken) und den Brachj-cera (Fliegen) sind die ersteren sehr wahrscheinlich die älteren, aus denen sich die letzteren erst späler entAvickelt haben. Von Beiden finden sich die ältesten Reste im Jura. Als zwei weitere Unterord- nungen kann man die Aphaniptera (Flöhe) und die Pupipara (Laus- fiiegen) betrachten, welche wahrscheinlich aus den Brachycera (vielleicht aber auch aus einer älteren Gruppe der Dipteren) durch specielle Anpassungs- Verhältnisse entstanden sind. Sechste Ordnung der Insecten : Lepidoptera. Schmeltertiiige. Diese Ordnung, welche in mehrfacher Beziehung als die vollkommenste der saugenden Insecten betrachtet werden kann, und den vorigen gegenüber eine ähnliche Stellung einnimmt, wie die Hymenopteren gegenüber den an- deren Masticantien, scheint sich am spätesten von allen Insecten - Ordnungen entwickelt zu haben. Sichere fossile B,este derselben sind erst aus der Ter- tiärzeit bekannt. Ihre Abstammung erscheint sehr schwierig zu ermitteln, da auch diese Ordnung, gleich den vier vorhergehenden, in der Gegenwart sehr abgeschlossc^n erscheint und da alle verbindenden Zwischenformen und Uebergimgsglieder zu anderen Ordnungen ausgestorben zu sein scheinen. Aller AVahrscheinlichkeit nach haben sich die Schmetterlinge aus den Tocopteren (vielleicht aus gemeinsamer Wurzel mit den Hymenopteren oder aus diesen selbst?; entwickelt. Vierter Stamm des Thieireichs: Mollusca. Weichlhiere. Die Thiergruppe der Mollusken oder Weichthiere wird seit Bär und Cuvier von den meisten Zoologen als eine einheitliche und selbstständige Hauptabtheilung des Thierreichs angesehen, welche der der Wirbelthiere, der Articulaten etc. ä(iuivalent ist, mithin einen selbstständigen Stamm, ein eigenes Phylon des Thierreichs darstellt. Erst neuerdings hat man diesen Stamm in zwei Hauptgruppen gespalten, welche von hervorragenden Zoologen, wie namentlich von Huxley, als zwei besondere „Typen oder Unterreiche" des Thierreichs angesehen werden und demnach zwei besonderen „Phylen" entsprechen würden: die eine dieser Hauptgruppen umfasst dieMoUus- coiden oder falschen Mollusken, die drei Classen der Bryozoen, Tuni- caten und Spirobranchie n; die andere umfasst die Mollusken im onsjeren Sinne, oder die echten Mollusken, die vier Classen der Rudis ten (vielleicht Molluscoiden?), derElatobranchien, Goch Ii den (Cephalo- phoren) und Cephalopoden, Nach unserer Ansicht ist es das Wahrschein- lichste, dass diese beiden Hauptgruppen nicht besondere Phylen , sondern nur Suhphylen eines und desselben Mollusken-Stammes sind. Die Mollu.s- cüiden verhalten sich zu den echten Mollusken ähnlich, wie die Wür- Das natürliche System des Thierreichs. cm nier (Yermes), zu deu Gliederfiissern (Arthropoden); d. h. die ersteren ent- halten die niederen und unvoUkomnmeren phyletischen Entwickelungs - Stu- fen, aus welchen die letztern als höhere und voUlcommnere, stärker differen- zirte Formen sich erst später hervorgehildet h;ibon. Wir glauben die Orga- uisations-Unterschiede zwischen den beiden stammverwandten Hauptgruppen hinreichend hervorzuheben , indem wir dieselben als besondere Subphylen über einander stellen. Die Molluscoiden in dem Umfange, m welchem wir dieselben hier begrenzen (die drei Classen der Bryozoen, Tumcaten und Spi- robranchien^ bezeichnen wir alsHimategen (Mantelthiere oder Sackthiere im weiteren Sinne). Die höheren oder eigentlichen Mollusken, welche sich unter Anderem durch den Besitz einer Herz - Vorkammer und dreier Haupt- Gano-lien- Paare von jenen unterscheiden, stellen wir ihnen als Otocardier (Mollusken mit Herzvorkaramer) gegenüber. Die Paläontologie der Mollusken ist in vieler Beziehung äusserst merk- würdig und lehrreich, insbesondere für die Erkenntniss des Leichtsinns und des Mangels an kritischem Urtheil, mit dem bisher gewöhnlich das paläonto- logische Material verwerthet worden ist. Kein einziger organischer Stamm liat eine solche ausserordentHche Masse von fossilen Resten in allen Schich- ten der Erdrinde, von den silurischen an, hinterlassen, als das Phylum der Mollusken, sowohl was die Anzahl der Arten, als die ungeheuren Mengen der Individuen betrifft. Und dennoch haben diese Massen von petrificirten Mollusken-Resten für ihre Phylogenie nur ein ganz untergeordnetes Interesse. Deutlicher als irgendwo tritt hier die weite Kluft zu Tage zwischen dem Werthe, welchen die empirische Paläontologie für die wissenschaftliche Phylogenie, und demjenigen, welchen sie für die praktische Geologie besitzt. Für die letztere sind die fo.ssilen Mollusken -Reste von der aller- grössten Wichtigkeit, und spielen als „Leitmnscheln", als „Denkmünzen der Schöpfung", welche die einzelnen Formationen und Systeme charakterisiren, die bedeutendste Rolle. Für die Phylogenie dagegen sind die fossilen Mol- lusken-Reste fast von geringerem Interesse, als diejenigen irgend einer an- deren Hauptabtheilung der Organismen, die überhaupt zahlreiche Reste hin- terlassen hat. Im Hinblick auf die ausserordentliche Menge und Mannichfaltigkeit ihrer fossilen Formen besitzt die Pa- läontologie der Mollusken für die Geologie das grösste, für die Phylogenie das geringste Interesse. Dieser auffallende Umstand erklärt sich unserer Ansicht nach einfach daraus, dass die eigentliche Entwickelungs-Zeit des Mollusken -Stammes als Ganzen, seine Epacme, schon in die ältere archolithi&che Zeit fällt, welche vor der Silur - Zeit verfioss. In den silurischen Schichten . den ältesten von allen petrefactenreichen Formationen, finden wir bereits das fertige und reife Resultat des ungeheuer langen Entwickelungs- Processes , welchen die Mol- lusken bereits vor der silurischen Zeit müssen durchgemacht haben. Wir finden daselbst nicht nur die niederen, sondern auch bereits die vollkom- menste Mollusken -Classe, die der Cephalopoden , in der reichlichsten Ent- wickelung vor. Viele Mollusken- Gruppen befinden sich in der Silur -Zeit ofl'enbar bereits in der Acme, viele selbst schon in derParacme. Diese si- lurischen Mollusken führen uns aber nicht, Avi e g e w öh n lieh angenommen wird, die ersten Anfänge, sondern vielmehr ein sehr spätes Eutwickelungs-Stadiura dieses Stammes vor Augen. Oftenbar haben die Mollusken, (und gleicherweise vermuthlich auch die Coelenterateu) in der archolithischen Zeit eine ebenso hervorragende CIV Systematische Einleitung in die Entwickelungsgeschichte. und herrschende Stellung behauptet, wie die Arthropoden und Vertebraten von Beginn der Secundär-Zeit an. Die Blüthe der letzteren bezeichnet ebenso die secundäre und tertiäre, wie die Blüthe der ersteren die primordiale und primäre Zeit. Diese Ansicht erscheint um so zutreffender, je mehr uns auch die ver- gleichende Anatomie und Ontogenie lehrt, dass der Mollusken - Stamm als Ganzes eine sehr tiefe, und unter den drei höheren (dipleuren) Thierstämmen jedenfalls die tiefste Stufe einnimmt. Besonders ist für denselben der fast gänzliche Mangel der Metameren-Bildung sehr bezeichnend. Wäh- rend die Arthropoden und Vertebraten durch allgemeine und sehr reichliche IMetameren-Entwickelung stets als Bionten den Rang von Personen, oder von Form - Individuen fünfter Ordnung einnehmen, bleiben die meisten Mol- lusken (und grade die höheren, die Otocardier, allgemein!) als Bionten auf der vierten Stufe der morphologischen Individualität, auf der des einzelnen Metamer es stehen. Die Skeletbildung ist hier im Ganzen unvollkommener, als in irgend einem anderen Thierstamme, da sie sich meistens auf die Aus- scheidung sehr einfach gebauter Kalkschalen beschränkt. Die Organisation des Central -Nervensystems, des Muskel -Systems etc. ist ebenfalls weit un- voUkoramner, als bei den Vertebraten und Arthropoden, und selbst als bei den Echinodermen. Da die meisten äusseren Mollusken-Schalen (und nur diese sind gewöhn- lich erhalten) an und für sich sehr wenige Beziehungen zu den tieferen Orga- nisations- Verhältissen der Thiere haben, so sind dieselben nur mit grosser Vorsicht zu Schlüssen auf letztere zu verwerthen. Sehr weit entfernte Mol- lusken haben oft höchst ähnliche Schalen, und von zwei sehr nah verwandten Mollusken - Gattungen (z. B. Helix und Ji iuri) besitzt oft die eine eine sehr ausgebildete, die andere gar keine Schale. Die zahlreichen nackten, aller Schalen entbehrenden Mollusken konnten gar keine fossilen Spuren hinter- lassen. Und doch ist zu vermuthen, dass grade in der frühern Zeit die nack- ten Mollusken im Verhältniss noch weit massenhafter werden entwickelt ge- wesen sein , als die beschälten. Nach der gewöhnlichen Logik der Zoologen und Botaniker könnte man allerdings behaupten, dass keine nackten Mol- lusken vor der Jetztzeit existirten, weil wir keine fossilen Spuren von ihnen finden, und daps dieselben alle erst im Anfang der „Jetztzeit" (nach Abschluss der „Vorzeit" !) „geschaffen" worden seien ! Da der Mollusken - Stamm in der Silurzeit bereits einen so hohen Entwi- ckelungs-Grad eiTeicht hatte, dass (ausser den Rudisten) alle Classen desselben, (und selbst die meisten Hauptgruppen der einzelnen Classen) neben einander existirten, so dürfen wir uns nicht wundern, dass uns die Paläontologie über deren successive Entwickelung so wenig Aufschlüsse liefert, und dass namentlich auch verbindende Zwischenformen zwischen den einzelnen Haupt- gruppen hier im Ganzen seltener als sonst sind. Diese, sowie die alten ge- meinsamen Stammeltern aller Mollusken, waren längst vor der Silur- Zeit schon ausgestorben. Auch die Ontogenie der Mollusken liefert uns aus die- sem Grunde über ihre Phylogenie nur verhältnissmässig wenig Aufschlüsse; auch sie bezeugt vorzugsweise (namentlich in der Embryologie der Cephalo- poden!> das ausserordentlich hohe Alter des Stammes. Unter diesen Umstän- den müssen wir die Phylogenie der Mollusken mehr aus ihrer vergleichenden Anatomie, als aus ihrer Ontogenie und Paläontologie construiren. In kurzen Zügen stellt sich die Phylogenie der Mollusken- Classen nach unserer jetzigen Auffassung folgendermaassen dar: Am tiefsten von allen be- Das natürliche System des Thierreichs. CV kannten (!) Mollusken stehen die Bryozoen, welche wir demnach als Aus- Jjgangspunkt betrachten müssen. Aus diesen entAvickelten sich als divergente liZweige einerseits die Tunicaten (welche sich nicht weiter in andere Classen Ii fortsetzten), andrerseits die Spirobranchien, aus denen wahrscheinlich die LKudisten uud die Elatobranchien entsprangen. Unter den letzteren führen |(die Inclusen (Pholadaceen) unmittelbar zu den Scaphopoden (Dentaliden) und l( durch diese zu den Pteropoden hinüber. So hat sich wahrscheinlich die jlhöchst stehende Gruppe der mit Kopf und Zahn -Apparat versehenen Mol- Uusken (Odonlophora) aus den niedern, kopflosen und zahnlosen Mollusken (Elatobranchien und Himategen) hervorgebildet. Die beiden Classen der Odou- litophoren, (Cochliden und Cephalopoden) betrachten wir als zwei divergente JjAeste der Pteropoden -Gruppe (Vergl. Taf. VI). Entweder hat sich der Mollusken -Stamm als ganz selbstständiges Phy- jllum aus einer eigenen autogenen Moneren -Form entwickelt, oder er hängt laan seiner Wurzel mit anderen thierischen Stämmen zusammen. Im letzteren IlFalle hat er sich aller Wahrscheinlichkeit nach von den Würmern, und zwar hvon den Turbellarien abgezweigt (S. unten S. 413). Ealls Himategen und jlOtocardier zwei getrennte Phylen repräsentiren sollten (was wir nicht glau- llhen!), so würden vielleicht die ersteren durch die Bryozoen, die letzteren Iddurch die Lipobranchien (R/todope!) mit den Würmern (Turbellatien) zusam- Inneuhängen. Erstes Subphylum der Mollusken: Himatega, H. Niedere Mollusken (ohne Herzohr). Als Himategen vereinigen wir die drei niederen und unvollkommneren (Classen des Molluskenstammes: Bryozoen, Tunicaten und Spirobranchien, vwelche durch unvoUkommneres Centrainervensystem und Cireulationssystem, ^und speciell durch Mangel der Herzvorkammer, sich wesentlich von dem tzweiten Subphylum, den Otocardiern unterscheiden. Bald werden alle drei |[Classen, bald nur die Bryozoen und Tunicaten, als Molluscoiden zusammen- jgefasst. Vielleicht gehört als eine vierte Classe noch die der Eudisten hier- [iher, welche zwischen den Spirobranchien und Elatobranchien mitten inne isteht. Die Wurzel der Himategen, wie der Mollusken überhaupt, bilden ddie Bryozoen, von denen Tunicaten und Spirobranchien als zwei divergente lyl- lirrhoida, Eh/sida). IL Notobranchia oder Bückenkiemer (Cerahran- e/iia, Cladohranchia, Pygobrauchia). III. P leurobranchia oder Seiten- kiemer (Dipleurobraucina , Monopleurobranchia). Von diesen drei Ord- nungen haben sich wahrscheinlich die beiden letzteren als divergente Zweige aus der ersteren, vielleicht aber auch die Pleurobranchien aus den Noto- branchien, wie diese aus den Lipobranchien entwickelt. Doch könnßn die letzteren auch wohl eine, durch specielle Anpassungen rückgebildete Gruppe darstellen. Die auffallend nahe Verwandtschaft einiger Lipobranchien {liho- dope) mit niederen Plattwürmern (Turbellarien) ist höchst merkwürdig, beruht indessen wahrscheinlich mehr auf Analogie (Anpassung an ahn- liche Existenz -Bedingungen), als auf Homologie (wirkhcher Blutsver- wandtschaft). Die Paläontologie berichtet uns über die Entwickelung der Prosobranchien, welclie wir für die ältesten von allen Delocephalen halten, 80 gut wie Nichts, da die meisten Schnecken dieser Sublegion keine er- haltbaren Schalen besassen. Einzelne hierher gerechnete Schalen werden fast in allen Formationen, von der silurischen an, aufgeführt Vermuthhch Avar diese Gruppe in der archolithischen und paläolithischen Zeit sehr reichlich entwickelt. Als zwei divergente Aeste haben sich aus den Opi- sthobranchien wahrscheinlich einerseits die Opisthocardier und andererseits die Pneumocochlen hervorgebildet. Zweite Sublegion der Kiemenschnecken: Opisthocardia, H. Hinlerherzen. Diese Abtheilung besteht aus der äusserst umfangreichen Ordnung der Prosobranchien und den beiden kleinen Ordnungen der Entomo- cochlen und der Heteropoden, welche m ihrer wesentlichen Orga- nisation so nahe verwandt sind, dass wir sie nicht getrennt lassen können Die Kielfüsser oder Heteropoden, welche sich in die beiden Familien der Pterotracheaceen und Atlantaceen spaten , scheinen uns nur len einzelnen Seitenzweig der auf dem Boden kriechenden Prosobran- chien darzustellen, welcher sich durch Anpassung ^"^«^^^^^ jff gische Lebensweise eigenthümUch verändert hat Unter den Vorder- kiemern oder Prosobranchien bildet die Hauptmasse die äusserst formenreiche Unterordnung der Taenioglossa an ^^^^f^^^'l-^ll^^^^ gente Zweige die kleineren Unterordnungen der Toxog^ossa, Rhacinglossa V^Toglossa un^ Rläpidoglossa (Jspidobraucina) anschliesen E^^en b - ; nd'rn Seitenzweig bildet die eigenthiimliche Unterordnung der C,^^^^^^^^^^ chia (Patelh-da) , welche von allen bekannten Schnecken sich am nächsten an lil^nthLiche Ordnung der Entomocochli ^CkUomda) anschhesst. Das uatürliche System des Thierreichs. cxv Letztere ist vielleicht ein isolirter TJeberrest einer vormals reich entwickel- ten Schnecken- Gruppe, die möglicherweise sehr tief unten von dem ge- meinsamen Opisthocardier- Stamme sich abgezweigt hat. Die harten Kalk- schalen, welche die allermeisten Opisthocardier besitzen, sind in den Erd- schichten von der silurischeu Formation an zahlreich erhalten worden. Es ergiebt sich daraus eine stetige Zunahme dieser Sublegion von der si- lurischen bis zur Jetztzeit. Zweite Legion der Delocephalen : Pneum ocochli, H. {Piilmogasteropoda) Lungenschnecken. Diese Legion, weit kleiner, als die vorhergehende, umfasst nur die einzige Ordnung der Pulmonaten oder Lungenschnecken, zu welcher der bei weitem grösste Theil aller landbewohnenden Schnecken gehört. Sie ist zusammengesetzt aus den Familien der Auriculiden, Limnaeiden, Feroniaden, Veronicelliden , Janellideu, Limaciden, Testacelliden und He- liciden. Diese Legion hat sich am spätesten von allen Schnecken -Gruppen entwickelt, wie sie denn auch in mehrfacher Beziehung als die höchste lind vollendetste erscheint. Die ersten, jedoch vereinzelten Beste dersel- ben finden sich in den untersten Kreideschichten (in der Wälderformation); ^lle hier befindlichen Pulmonaten sind Siisswasserbewohner {Planovbts, Lijmnaeus, PAt/sa etc.). Erst in der Anteocen-Zeit scheinen dieselben zum [.andleben übergegangen zu sein. Schon in den Eocen - Schichten treffen wir zahlreiche landbewohnende Pulmonaten an, welche von nun an durch ille tertiären Schichten hindurch bis zur Jetztzeit zunehmen. Aller "kTahrscheinlichkeit nach haben sich die Pneumocochlen nicht aus den go- lochoristischen Prosobranchien , sondern aus den hermaphroditischen Opi- ;thobranchien entwickelt. Zweite Classe der Odontophoren : Cephalopoda. Dintenßsche. Die Classe der Cephalopoden , welche (in scheinbarem Widerspruch nit dem Fortschritts - Gesetz) bereits in der Silurzeit als eine vielgestaltig ntwickelte Gruppe auftritt, und von da an bis zur Jetztzeit allmählich ab- limmt, obschon sie die vollkommenste aller Mollusken-Classen ist, beweist ms deutlich das hohe Alter des Mollusken -Stammes, welcher bereits in ler archolithischen Zeit seine eigentliche Entwickelung, und schon gegen Code dieser Zeit die Acme derselben erreicht hatte. Allem Anscheine nach laben sich die Cephalopoden (unabhängig von den Delocephalen) aus lenPteropoden entwickelt, welche ihnen von allen Mollusken am näch- ten stehen. Von den beiden Subclassen , in' welche die Classe zerfällt, -etrabranchiaten und Dibranchiaten, scheinen die ersteren sehr lange Zeit lindurch, von der cambrischen bis zur Jura -Zeit, allein die ganze Classe ortreten zu haben, und erst in der Antejura-Zeit haben sich die letzteren .US ihnen entwickelt. Erste Subclasse der Cephalopoden: Tetrabraiichia (Tentamllfera). Vierhiemige Cephalopoden. Diese Subclasse enthält die niederen und unvollkommneren Cephalo- lodun, welche sicli zunächst aus den Pteropoden in der archolithischen ^oit entwickelt haben. Sie zerfällt in die beiden Ordnungen der Nauti- GXVI Systematische Einleitung in die Entwickelungsgeschichte. liden und Ammonitiden. Die Na u tili den als die ältesten von Allen beginnen bereits im cambrischen System und nehmen vom silurischen Sy- stem an allmählich ab, setzen sich jedoch mit einem Genus {Nautilus) durch alle Formationen bis zur Gegenwart fort. Die Ammonitiden haben sich ■wahrscheinlich erst aus den Nautiliden während der antesilurischen oder silurischen Zeit entwickelt, bleiben in der ganzen paläolithischen Zeit sehr spärlich und erreichen erst in der Jura-Zeit eine sehr starke, und in der Kreide -Zeit die stärkste Entwickelung , worauf sie. in der Anteocen- Zeit völlig aussterben. Aus der ganzen Tertiär -Zeit sind keine fossilen Ammonitiden bekannt. Zweite Subclasse der Cephalopoden : Dibranchia (Acetabulifera). Zweikicmige Cephalojmden. Diese Subclasse enthält die höheren und vollkommneren Cephalopoden, welche sich aus den Tetrabranchien erst in der mesolithischen Zeit, wahr- scheinlich erst in der Antejura-Zeit (vielleicht auch schon in der Trias- Zeit) entwickelt haben. Sie zerfällt in die beiden Ordnungen der Deca- brachien und Octobrachien. Die Decabrachien (Belemnitiden , Spiru- liden, Sepiaden und Teuthiden) haben die Subclasse während der Secun- där-Zeit wohl allein vertreten, beginnen im Jura (vielleicht schon in der Trias?) und erreichen ebendaselbst (oder in der Kreide?) ihre Acme, wo- rauf sie in der Teritär-Zeit abnehmen. Von den Octobrachien (Cirro- teuthiden, Eledoniden, Philonexiden) , welche meistens keine harten, der fossilen Erhaltung fähigen Theile besitzen, kennt man nur vereinzelte Reste {Jrgonanta) aus mittlem und neuern Tertiär -Schichten. Vielleicht haben sie sich als die vollkommensten Cephalopoden erst in der Tertiär- Zeit aus den Decabrachien entwickelt. Fünfter Stamm des Thierreichs: Vcrtcbrata. Wirhelthiere. Das Phylum der Wirhelthiere ist in sehr vielen Beziehungen der wichtigste und interessanteste Stamm, nicht allein im Thierreiche, sonder unter allen Organismen. Da der Mensch selbst, als der vollkommenst und höchste aller Organismen, Nichts weiter ist, als ein einzehies, sehr junges Aestchen dieses Stammes, und da die Beweise, welche die ver- gleichende Anatomie und Ontogenie für die Wirbelthier - Natur des Men- schen liefert, auch von denjenigen nie bestritten werden konnten, welche seine Abstammung von andern Vertebraten auf das Hartnäckigste leugne- ten, so musste das Phylum der Vertebraten schon aus diesem Grunde seit den ältesten Zeiten die besondere Aufmerksamkeit auf sich ziehen, und wir kennen seine gesammte Anatomie, Ontogenie und Phylogenie besser, als diejenige irgend einer anderen Abtheilung der drei organischen Reiche. Die Paläontologie liefert uns über die .Phylogenie der Wirbelthierc äusserst zahlreiche und wichtige Aufschlüsse. Zwar sind die fossilen Reste der Wirhelthiere nicht entfernt so massenhaft erhalten als diejenigen der Mollusken und Echinodermen. Auch konnten sehr viele und namentlich niedere Wirhelthiere, wegen Mangels eines festen Skelets, oder (wie die Vögel) wegen dessen Zerbrechlichkeit keine oder nur wenige Spuren hin- terlassen; und offenbar geben alle bekannten fossilen Wirbelthier- Reste zusammengenommen nur eine sehr schwache Vorstellung von dem Formen- Das natürliche System des Thierreichs. CXVII i-eichthum des Stammes in der vormenschlichen Zeit Dennoch sind diese Reste als Fingerzeige von der grössten Bedeutung, und sehr oft schon hat ein einzelner Zahn, ein einzelner Knochen, eine einzelne Schuppe eines Wirbelthiers uns über Alter und Phylogenie einer ganzen Gruppe die wich- tigsten Aufschlüsse gegeben. Diese ausserordentlich hohe Bedeutung der fossilen Vertebraten •• Reste ist vorzüglich darin begründet, dass die erhal- tenen Theile allermeistens Stücke des inneren Skelets sind, eines morpho- logisch höchst wichtigen Organ - Systems , welches in den meisten Fällen besser als irgend ein anderes System des Körpers die Verwandtschafts- verhältnisse und die systematische Stellung des Wirbelthiers erläutert. I^ur die Echinodermen können sich in dieser Beziehung den Vertebraten vergleichen. Freilich sind auch die, Schwierigkeiten, welche sich der Erkenntniss der fossilen Vertebraten - Skelete entgegenstellen, sehr bedeu- tende, zumal nur selten ganze zusammenhängende Skelete, meistens nur einzelne abgetrennte Skelettheile erhalten sind. Wenn nun schon die Paläontologie uns für die Bildung der genea- logischen Hypothesen, durch welche allein wir die Phylogenie der Ver- tebraten construiren können, die wichtigsten empirischen Grundlagen lie- fert, so gilt dies doch in fast noch höherem Maasse von der vergleichen- den Anatomie und Ontogenie der Wirbelthiere , und insbesondere von der letzteren. Nirgends so wie bei den Vertebraten, wird die aus- serordentlich hohe Bedeutung völlig klar, wel.che die drei- fache genealogische Parallele, der causal-m echanische Pa- rallelismus zwischen der phyletischen, biontischen und sy- stematischen Entwickelungsreihe besitzt (vergl. unten S. 371). Es würde ims unmöglich sein, den äusserst wichtigen und interessanten Stammbaum der Wirbelthiere so, wie wir es auf den folgenden Seiten versuchen, zu construiren, wenn nicht die Paläontologie, die Embryologie und die vergleichende Anatomie (die anatomisch begründete Systematik) sich gegenseitig in der ausgezeichnetsten Weise erläuterten, und als drei parallele Entwickelungs- Stufenleitern ergänzten. Weder allein die Palä- ontologie, noch allein die Embryologie (Ontogenie), noch allein die ver- gleichende Anatomie (Systematik) der Wirbelthiere, vermag uns ihre Phy- logenie herzustellen, während dies durch die denkende Benutzung und ver- gleichende Synthese jener drei parallelen und durch den innigsten Causal- nexus verbundenen Erscheinungsreihen in der überraschendsten und lehr- reichsten Weise möglich wird. Da nun in der Eegel die ^Paläontologen Nichts von Embryologie, und nur sehr Wenig von vergleichender Anato- mie, die Embryologen und die vergleichenden Anatomen Nichts oder nur sehr Wenig von Paläontologie verstehen, so erklärt sich hieraus hinrei- chend, warum bisher noch so wenige Versuche gemacht sind, die offen da liegenden Fäden der Wirbelthier - Entwickelung zu dem Gewebe ihres Stammbaums zu verknüpfen, und warum die hierauf zielenden trefflichen Bemühungen von Gegenbaur und Huxley (s. unten S. 277. Anm.) bis- her so isolirt dastehen. Keine andere Gruppe von Organismen zeigt so klar, wie diejenige der Vertebraten, dass nur die gründliche Kenntniss und die denkende Vergleichung ihrer paläontologischen (phylogenetischen), embryologischen (on- togenetischen) und systematischen (anatomischen) Entwicke- lung uns das volle Verständniss der Gruppen und ihrer Ent- stehung eröffnet. CXVni Systematische Einleitung in die Entwickelungsgeschichte. Im vollen Gegensatze zu den Mollusken sind die Wirbelthiere eine verhältnissmässig erst spät entwickelte Thiergruppe. Von allen thierischen Stämmen ist das Phylum der Vertebraten , wie der höchste und vollkom- menste, so auch der späteste und jüngste. Erst in der Tertiär -Zeit er- reicht er seine volle Blüthe und befestigt die in der Secundär-Zeit errun- gene Herrschaft über alle übrigen Organismen. Die Entwickelung der grösseren und kleineren Gruppen liegt, im Grossen und Ganzen betrachtet, hief ausserordentlich klar vor Augen, und liefert sowohl im Ganzen, als im Einzelnen die glänzendsten Beweise für das Fortschritts - Gesetz. A us der ganzen archolithischen Zeit kennen wir von den Vertebraten Nichts, als aus dem allerletzten Abschnitt derselben (aus der jüngsten Silur -Zeit) einige wenige Spuren von Fischen (Selachiern und Ganoiden). In der ganzen paläolithischen Zeit, vom Antedevon bis zum Perm, kennen wir fast ausschliesslich Fische (Selacliier und Ganoiden). Erst in der Kohle treten die ersten vereinzelten landbewohnenden "Wirbelthiere, und zwar gepanzerte Amphibien (Ganocephalen) auf, und erst im Perm die ersten amniotischen Vertebraten, einige eidechsenähnliche Eeptilien {Proferosaurus und Rhopa/odoii). In der Secundär - Periode ist der Stamm ganz vorwie- gend durch die Reptilien vertreten, an deren Stelle in der Tertiär -Zeit die Säugethiere treten. Doch beginnt die Entwickelung der niederen Säugethiere aus den Amphibien, sowie die Entwickelung der Vö^el aus den Reptilien, bereits zu Anfang oder gegen die Mitte der mesolithischen Zeit, woselbst auch die ersten Knochenfische (Teleostier) auftreten. Mo- nodelphe Säugethiere sind mit Sicherheit erst aus der Tertiär -Zeit be- kannt, gegen deren Ende wahrscheinlich bereits (oder vielleicht auch erst im Beginn der Quartär - Zeit) der wichtigste Schritt in der phyletischen Wirbelthier-Entwickelung geschah, die Umbildung des Affen zum Menschen. Die Phylogenie der Wirbelthiere, wie sie uns so durch die Paläonto- logie in ihren Grundzügen skizzirt wird, erhält nun die werthvollsten Er- gänzungen durch die Resultate der vergleichenden Anatomie und Embryo- logie; Hieraus lässt sich folgender Entwickelungsgang unseres Stammes entwerfen: Zuerst, in früherer archolithischer Zeit, war aller Wahrschein- lichkeit nach das Vertebraten - Phylum bloss durch Leptocardier reprä- sentirt, von denen uns der einzige lebende Jinphioxus noch Kunde giebt. Aus diesen entwickelten sich (innerhalb oder vor der Silur- Zeit) die ech- ten Fische (vielleicht zunächst aus den Monorrhinen oder Marsi- pobranchien, die aber vielleicht auch einen selbstständig auslaufenden Zweig der Leptocardier darstellen). Die ältesten echten Fische waren Selachier und zwar wahrscheinlich den Haifischen (Squalaceen) nächst- verwandt. Aus diesen entsprangen fünf divergente Zweige, die drei Grup- pen der Chimären, Rajaceen und Dipneusten (welche sich weiter nicht be- deutend differenzirten), und die beiden Gruppen der Ganoiden und Phract- amphibien, von denen erstere den Teleostiern, letztere den übrigen Am- phibien (Lissamphibien) den Ursprung gaben. Aus den Amphibien ent- standen (wahrscheinlich in der Perm -Zeit) die ersten Amnioten, eidech- senartige Reptilien (Tocosaurier). Aus diesen ersten Eeptilien entspran- gen dnnn als vier divergirende Zweige die Hydrosaurier, Dinosaurier, Le- pidosaurier und Rhamphosaurier, von denen die letzteren den Vögeln den Ursprung gaben. Die Säugethiere dagegen entwickelten sich wahrschein- lich unabhängig von den Reptilien, unmittelbar aus den Amphibien, oder hingen nur unten an der Wurzel mit den ältesten Reptilien zusammen. Das natürliche System des Thierreichs. CXIX Der erste Ursprung der Wirbellhiore ist noch in tiefes Runkel ge- hüllt, da ihre ältesten nnd nnvollkommensten Repräsentanten, /l^« ^«Pt«- cardi;r, obwohl sehr niedrig organisirt. dennoch offenbar bereits das R - snltat eines sehr langen phyletischen Entwickelungs-Processes «^^d J^ie Meisten werden vielleicht geneigt sein, eine besondere antogone Moneren- Form als ersten Anfang das Vertebraten - Phylum -^^^''^^''^^'l.^^^^^^^^ mithin für völlig selbstständig an.nsehe'n. Nach unserem Dafürhalten ist es wahrscheinlicher, dass die ältesten Wirbelthiere (noch tief ^ntei dem . Jrn,,h>o.rns stehend) aus Würmern, und zwar aus ^^"^ sich entwickelt haben. In diesem Falle würden die S^gitten (Chaeto- gnathen) und demnächst die Nematoden, unsere nächsten Verwandten unter den wirbellosen Thieren sein (vergl. oben S. LXXXIl und unten S. 414). Man könnte vielleicht auch die anatomischen „Verwandtschaftsbeziehun- . Familia: Monodouta (Monodon) Familia: Physeterida fPhysettrJ ). Familia: Balaenida (Balaena , Balaenoptera). III. Subordo: Zeugloceta, H. (Zetiglodonla). Drachenwale. 1 . Familia : Zeuglodüiitida (ZeiKjlodon s. Uydrarclioa). Zweite Legion der Monodelphien : Deciduata. Plucentalthiere mit Decidua. Erste Sublegiou der Deciduaten: Zonoiilaceutalia. Deciduaten mit gürtelförmiger Placenta. I. Ordo: Chelophora, H. Huf träge)-. I. Subordo: Lamnungia- Klippduchse. 1. Familia: Hyracida (HyraxJ. II. Subordo : Toxodonta. Pfeilzähner. 1. Familia: Toxodonta (Toxodon, NesodonJ. III. Subordo: Gonyognatha, H. Winkelkiefer. 1. Familia: Dinotherida fDinotheriumJ. lY. Subordo: Proboscidea. Elephanten. . Familia: Elephautida (Mastodon, Elephasj. II. Ordo: Camaria, H. Rmibthiere. I. Subordo : Carnivora. Landraubthiere. 1. Familia: Arctocyonida (Arctocyon, Palaeonyctis) i. Familia: Amphicyonida fAmpkicyon, HyaenodonJ ^. Familia: Ursina (Tylodon , Urstis, Proeyon^ NasuaJ t, Familia: Viverrina ('Vivei-ra, SoricictisJ I. Familia: Mustelina (Mustela, G^do , Lutra, ThalassictisJ ;. Familia: Canina (Palaeocyon, Cynodon, CanisJ '. Familia: Hyaenida (Hyaenaj > Familia : F e 1 i n a (Pseudailurus , Machaerodus , Felis). II. Subordo : Pinnipedia. Seeraubthiere. 1 Familia: Phocida (Phoca, Cystophora, OtariaJ '.. Familia: Trichecida (Ti-ichecusJ. Zweite Sublegiou der Deciduaten : Dis'coplaccntalia. Deciduaten mit sclmbenfürmiger Placenta. I. Ordo: Prosimiae (IhmiyUlieci). Ilalbaff'en. . Familia: Leptodactyla (ChiromysJ j ! Familia: Ptenopleura (OcdeopithecusJ '■ Familia: Macrotarsi (Tarsius , OtolicnwJ Familia: Brachytarsi fLemvr, StenopsJ. CLX System der Säugethiere. II. Ordo: Rodentia (Glires). Nagethier e. I. Subordo: Sciuromorpha. Ekhhornköpßge Nagethiere. 1. Familia: Sciurina {Sciurtis , Tamias , Pteromy») 2. Familia: Arctomyida {Arctoinys, Spermophilus , Plesiarctomya). II. Subordo: Myomorpha. Mäuseköpßge Nagethiere. 1. Familia: Myoxida (Myoxus) 2. Familia: Sciurospalacida (Aacomys , Thomomys) 3. Familia: Murina (Mus, Cncetus , Hypudaeus) 4. Familia: Georrhychida (Spalax, Georrhychus , Bathyergut) 5. Familia: Castorida (Castor) 6. Familia: Jaculina (Jaculus, Dipus , Pedetes). III. Subordo : Hystrichomorpha. Stachelschweinköpßge Nagethiere. 1. Familia: Hystricida {Hystrix, Synetheres) 2. Familia: Psammoryctida [Psammoryctes , Myopotamus , Adelomys) 3. Familia: Lagostomida {Lagostovins , Ei-iomys, Lagidmm) 4. Familia: Dasyproctida s. Subungulata {Dasyprocta, Oavia, Hydrochoeni»). IV. Subordo: Lagomorpha. Hasenköpßge Nagethiere. 1. Familia: Leporina s. Duplicidentata (Lagomys, Lepus). III. Ordo: lusectivora. [iisectenf'resser. I. Subordo: Menotyphla , H. Insectenfresser mit Blinddarm. 1. Familia: Cladobatida s. ScandeiUia (Cladobates, Tupaja) 2. Familia: Macroscelidia s. Salientia {Macroscelides , Rhynchocyon). II. Subordo: LipotypMa, H. Insectenfresser ohne Blinddarm. 1. Familia: Soricida {Sorex, Crossopus, Crocidura) 2. Familia: Talpida (l'alpa, Condylura, ChrysocMoris) 3. Familia: Erinaceidea (Erinacevs , Gymnura) 4. Familia : Centotida (Centetes , Solenodon). IV. Ordo: Chiroptera. (VoUtanlia) Fledermäuse. I. Subordo : Pterocynes. (Frugivora) Früchtefressende Fledermäuse. 1. Familia: Pteropodida {Pteropus Macroglossus) 2. Familia: Hypodermida (Hypoderma). II. Subordo: Nycterides. {Insectivora) Insectenfressende Fledermäuse. 1. Familia: Gy m u orr h i n a (Vespertüio , Dysopes , Noctüio) 2. Familia: Histiorrhina {Bhinolophns , Megaderma, Phyllostoma). V. Ordo: Simiae. (Pitheci) Affen. I. Subordo: Arctopitlieci. Krallenaffen. 1. Familia: Hapalida (Hapale, Midas). II. Subordo: Platyrrhinae. Plattnasige Jffen. 1 . Familia : Aphyocerca, H. (Nyctipühecus , Pithecia , Caüührix) 2. Familia: Labidocerca, H. (Mycetes, Lagothrix, Ateles). III. Subordo: Catarrhinae. Schmalnasige Jffen. 1. Sectio: Menocerca, H. Geschwänzle Catarrhinen. 1. Familia: Anasca, H. (Colobus , Semnopithecus) 2. Familia: Ascoparea, H. {Cynocephalus , Inuus , Cercopithecus). 2. Sectio: Lipocerca, H. Schwanzlose Catarrhinen. 1. Familia: Tylogluta, H. (Hylobates) 2. Familia: Lipotyla, H. {Satyrus, Engeco , Gorilla, Bryopühecue) 3. Familia: Erecta s. Humana {Pitheeanthropus , Homo). Fünftes Buch. Erster Theil der allgemeinen Entwickelungsgeschichte. Generelle Ontogenie oder Allgemeine Entwickelungsgeschichte der organischen Individuen. (Embryologie und Metamoi-phologie.) Ifacckfll, Gflnorcllc Morphologie, II. 1 „Wagt ihr. also bereitet, die letzte Stufe zu steigen Dieses Gipfels, so reicht mir die Hand und öffnet den freien Blick ins weite Feld der Natur. Sie spendet die reichen Lebensgaben umher, die Göttin; aber empfindet Keine Sorge, wie sterbliche Frau'n, um ihrer Gebornen Sichere Nahrung: ihr ziemet es nicht: denn zwiefach bestimmte Sie das höchste Gesetz, beschränkte j egliohes Leben, Gab ihm gemessnes Bedürfniss, und ungemessene Gaben, Leicht zu finden, streute sie aus, und ruhig begünstigt Sie das munti-e Bemühu der vielfach bedürftigen Kinder; Unerzogen schwärmen sie fort nach ihrer Bestimmung." „Zweck sein selbst ist jegliches Thier ; vollkommen entspringt es Aus dem Schooss der Natur und zeugt vollkommene Kinder. Alle Glieder bilden sich aus nach ew'gen Gesetzen, Und die seltenste Form bewahrt im Geheimen das Urbild." „So ist jedem der Kinder die volle reine Gesundheit Von der Mutter bestimmt: denn alle lebendigen Glieder Widersprechen sich nie und wirken alle zum" Leben. Also bestimmt die Gestalt die Lebensweise des Thieres; Und die WeJse zu leben, sie wirkt auf alle Gestalten Mächtig zurück. So zeiget sich fest die geordnete Bildung, Welche aum Wechsel sich neigt durch äusserlich wirkende Wesen. Doch im Innern befindet die Kraft der edlern Geschöpfe Sich im heiligen Kreise lebendiger Bildung beschlossen. Diese Grenzen erweitert kein Gott, es ehrt die Natur sie: Denn nur also beschränkt war je das Vollkommene möglich." „Dieser schöne Begriff von Macht und Schranken , von Willkür "und Gesetz, von Freiheit und Maass, von beweglicher Ordnung, Vorzug und Maligel , erfreue dich hoch ; die heilige Muse Bringt harmonisch ihn dir, mit sanftem Zwange belehrend. Keinen höhern Begriff erringt der sittliche Denker, Keinen der thätige Mann, der dichtende Künstler; der Herrscher, Der verdient es zu sein, erfreut nur durch ihn sich der Krone. Freue dich, höchstes Geschöpf-der Natur, du fühlest dich fähig, Ihr den höchsten Gedanken, zu dem sie schaffend sich aufschwang, Nachzudenken. Hier stehe nun still und wende die Blicke Rückwärts, prüfe, vergleiche, und nimm vom Munde der Muse, Dass du schauest, nicht schwärmst, die liebliche volle Gewissheit." Goethe (die Metamorphose der Thiere. 1819). Sechzehntes CapiteL Be^rifF und Aufgabe der Ontog-enie. Werdend betrachte sie nun, wie nach und nach sich die Pflanze, Stufenweise geführt, bildet zu Blüthen und Frucht. Also prangt die Natur in hoher voller Erscheinung; Und sie zeiget, gereiht, Glieder an Glieder gestuft. Jede Pflanze verkündet dir nuu die ew'geu Gesetze, Jede Blume, sie spricht lauter und lauter mit dir. Aber entzifferst du hier der Göttin heilige Lettern, Ueberau siehst du sie dann, auch in verändertem Zug; Kriechend zaudre die Eaupe, der Schmetterling eile geschäftig, Bildsam andre der Mensch selbst die bestimmte Gestalt! Goethe (die Metamorphose der Pflanzen. 1817). I. Die Ontogenie als Entwickelungsgeschichte der Bionten. Die Ontogenie oder Entwickelungsgeschichte der orga- nischen Individuen ist die gesammte Wissenschaft von den Formveränderungen, welche die Bionten oder physiologi- schen Individuen während der ganzen Zeit ihrer indivi- duellen Existenz durchlaufen, von ihrer Entstehung an bis zu ihrer Vernichtung. Die Aufgabe der Ontogenie ist mithin die Erkenntniss und die Erklärung der individuellen Formver- änderungen, d. h. die Feststellung der bestimmten Naturgesetze, nach welchen die Fonnveränderuugen der morphologischen Individuen erfolgen, durch welche die Bionten repräsentirt werden. Begriff und Aufgabe der Ontogenie im Allgemeinen haben wir be- reits im ersten Buche (Bd. I, S. 53) festgestellt, wo wir die gesammte Morphogenie oder Entwickelungsgeschichte der Organismen in die bei- den coordinirten und parallelen Zweige der Ontogenie und Phylogenie, die Entwickelungsgeschichte der Individuen (Onten oder Bionten) und der Stämme (Phylen oder Typen) gespalten haben. Die nahe Verwandt- 1 * 4 Begriff und Aufgabe der Ontogenie. Schaft zwischen diesen beiden sich gegenseitig ergänzenden Disciplinen ist dort hervorgehoben. Allgemein pflegt man unter Entwickelungsge- schichte der Organismen nur diejenige der organischen Individuen, die Ontogenie, zu verstehen, und dieselbe gewöhnlich als Embryologie zu bezeichnen. Die Entwickelungsgeschichte der organischen Stämme oder Phylen dagegen, die Phylogenie, welche die Genealogie und Paläonto- logie der Organismen umfasst, ist in ihrem wahren Werthe als Ent- wickelungsgeschichte bisher nur von wenigen Naturforschern gewürdigt und von den meisten als eiue weit abliegende, der Embryologie fremde Wissenschaft betrachtet worden. Und doch sind auch die Stämme oder Typen organische Einheiten, welche sich entwickeln, und lassen sich als genealogische Individualitäten höheren Ranges den physiologischen Individuen, welche Object der Ontogenie sind, an die Seite stellen. Die organischen Individuen, deren Entwickelung die Ontogenie un- tersucht, sind die physiologischen Individuen oder Bionten, deren Natur im zehnten Capitel erläutert worden ist. Wie wir dort sahen, haben die actuellen physiologischen Individuen, d. h. die Lebens- einheiten , welche als concreto, räunüich abgeschlossene Repräsentanten der Species sich selbst zu erhalten und eine unabhängige Existenz zu führen fähig sind, in den verschiedenen Abtheilungen der drei organi- schen Reiche, und ebenso in den verschiedenen Lebensaltern einer und derselben organischen Species einen sehr verschiedenen morphologischen Werth. Alle die sechs verschiedenen Ordnungen von morphologischen Individuen, welche wir im neunten Capitel geschildert haben, können zeitlebens die physiologische Individualität repräsentiren und ebenso muss jedes physiologische Individuum, welches eine höhere morphologi- sche Stufe darstellt, im Laufe seiner individuellen Entwickelung die vorhergehenden niederen Stufen, von der ersten Ordnung, der Plastide an, durchlaufen haben. Wenn wir also auch allgemein und mit Recht als die Aufgabe der Ontogenie die , Entwickelungsgeschichte der physiologi- schen Individuen bezeichnen können, so wird doch der reale Inhalt dieser Disciplin eigentlich die concreto Entwickelungsgeschichte der morphologischen Individuen sein, welche in allen sechs ver- schiedenen Stufen, von der Plastide bis zum Cormus, die physiologi- sche Individualität repräsentiren können. Denn immer ist es entweder eine einzelne Plastide, oder (in den meisten Fällen) eine Mehrheit von Piastiden, zu einer höheren morphologischen Einheit verbunden, wel- che der Lebenseinheit des Bion als materielles Substrat dient. Im ersteren Falle, wenn das physiologische Individuum oder Bion zeitle- bens auf der Stufe einer Formeinheit erster Ordnung (Plastide) stehen bleibt, ist seine Ontogenie die Entwickelungsgeschichte dieser Plastide (z. B. bei vielen Protisten, den einzelligen Algen). Im zweiten Falle I. Die Outogeuic als Entwickeluugsgeschichto der Biouten. 5 dagegen, ^Yenn das Bion seine ursprüngliche niederste Existenzstufe als einfache Plastide überschreitet und sich zu einem morphologischen Individuum /weiter oder höherer Ordnung entwickelt, wird seine On- togenie die Entwickelungsgeschichte aller der Stufen sein, welche das Bion durchläuft, von der ersten bis zur letzten. Wir werden daher in jeder individuellen Entwickelungsgeschichte sorgfältig die Ontogenie der einzelnen Individualitäten verschiedener Ordnung zu unterscheiden haben, aus welchen sich der vollendete Organismus zusammensetzt. Dieser wichtigsten und ersten Anforderung der Ontogenie ist bisher in den wenigsten Fällen genügt worden. Man hat z. B. in der Ent- wickelungsgeschichte der Wirbel thiere neuerdings zwar schärfer zwi- schen Entwickelung der Gewebe (Histogenese) und der Organe (Organo- genese) unterschieden, dagegen die Ontogenese der Form-Individuen hö- herer Ordnung (Antimeren, Metameren, Personen) meist nicht besonders hervorgehoben; und doch ist diese Unterscheidung, richtig gewürdigt, von der grössten Bedeutimg für das Verstäudniss des ganzen Körpers. Die genetische Betrachtung des letzteren, die Erkenntniss seiner Zu- sammensetzung aus den diflferenzirten Metameren etc. hat man, im Verhältniss zu der Sorgfalt, welche man auf die Ontogenese der Or- gane verwandt hat, gewöhnlich sehr vernachlässigt, was allerdings aus dem Gnmdfehler der herrschenden analytischen Methoden sich wohl erklären lässt, nur die Kenutniss des Einzelnen zu verfolgen und darüber die höhere Aufgabe der Erkenntniss des Ganzen zu vergessen. Wenn wir diesen Fehler vermeiden wollen, so werden wir bei der individuellen Entwickelungsgeschichte jedes Organismus die Ontogenie der moi-phologischen Individuen aller Ordnungen, aus denen derselbe zusammengesetzt ist, gleichmässig zu berücksichtigen, und danach all- gemein folgende sechs Zweige der Ontogenie, entsprechend den sechs Ordnungen der morphologischen Individualität, zu unterscheiden ha- ben: 1) PlnslMogcnie; 2) Organogenie ; 3) Anüiverogenie ; 4) Meta- mer ogenie ; 5) Prosopogenie ; Q) Cormogenie. Eine allgemeine Dar- stellung derselben versucht das achtzehnte Capitel. , lieber die Ausdrücke, welche wir uns hier zur kurzen und beque- men Bezeichnung der verschiedenen Zweige der individuellen Entwi- ckelungsgeschichte einzuführen erlauben, ist noch zu bemerken, dass wir unter Genesis (yheoig) ein für allemal nur den Vorgang der organischen Entwickelung selbst, unt^r Genie (yered) dagegen die Wissenschaft von demselben, die Entwickelungsgeschichte begreifen wollen. Ontogenesis ist also die Entwdckelung der physiologischen Individuen oder Bionten, Ontogenie dagegen die Entwickelungsge- schichte derselben. Den Ausdruck Gonie (yovela) gebrauchen wir stets nur zur Bezeichnung der Zeugung, also des Entstehungsaktes der organischen Individuen. Ontogonie ist demnach die Zeugung der Biouten. 6 Begriff und Aufgabe der Ontogenie. II. Die Ontogenie und die Descendenztheorie. „Die Entwickelungsgeschichte ist der wahfe Lichtträ- ger für Untersuchungen über organische Körper. Bei jedem Schritte findet sie ihre Anwendung, und alle Vorstellungen, welche wir von den gegenseitigen Verhältnissen der organischen Körper haben, werden den Einfluss unserer Kenntniss der Entwickelungsgeschichte er- fahren. Es wäre eine fast endlose Arbeit, den Beweis für alle Zweige der Forschung führen zu wollen." Carl Ernst v. Bär: „Ueber Ent- wickelungsgeschichte der Thiere. Beobachtung und Reflexion." (1828, Bd. I, S. 231.) Dieser Ausspruch des anerkannt „grössten Forschers im Gebiete der Entwickelungsgeschichte" bezeichnet so treffend die biologische Be- deutung dieser Wissenschaft, dass wir mit keinen besseren Worten un- sere Ueberzeugung von derselben ausdrücken könnten. Auch ist der unschätzbare Werth der Entwickelungsgeschichte, obgleich sie kaum mehr als ein Jahrhundert alt ist, und obgleich seit ihrer Anerkennung als selbstständige Wissenschaft kaum ein halbes Jahrhundert verflossen ist, doch jetzt von den wirklich wissenschaftlichen Zoologen und Bota- nikern so allgemein und tief empfunden, dass wir nicht nöthig haben, ihn besonders hervorzuheben In den letzten dreissig Jahren ist der Ruf „Entwickelung" das maassgebende Losungswort aller wahrhaft wis- senschaftlichen Arbeiten auf dem Gebiete der organischen Morphologie geworden, und es ist die Entwickelungsgeschichte als die erste und unentbehrlichste Grundlage aller anatomischen Erkenntnisse von den hervorragendsten Morphologen anerkannt worden. Alle wirklich bedeu- tenden Fortschritte der organischen Morphologie, welche nicht bloss in einer Bereicherung derselben mit neuen Thatsachen, sondern mit neuen Erkenntnissen bestehen, verdanken wir dem Verständnisse der organi- schen Formen, zu welchem uns allein die Entwickelungsgeschichte hin- zuführen vermag. So allgemeine Anerkennung und Anwendung aber auch die Ent- wickelungsgeschichte in unserem Jahrhundert in der Zoologie und Bo- tanik erlangt hat, so haben dennoch die meisten Biologen unsrer An- sicht nach weder den weiten Umfang ihres Gebiets, nach den eigent- 1) „Die einzige Möglichkeit, zu wisseuschaftliclier Einsiclit in der Botanili zu gelangen, und somit das einzige und unumgängliche methodische Hülfsmittel, welches aus der Natur des Gegenstandes sich von selbst ergiebt, ist das Studium der Ent- wickelungsgeschichte. Alle übrigen Bemühungen haben immer nur adminiculi- renden untergeordneten Werth und führen nie zu einem sicheren Abschlüsse auch nur des unbedeutendsten Punktes. Nur die Entwickelungsgeschichte kann uns über die Pflanze das Verständniss eröffnen." Schleiden, GruiMzüge der wissenschaftl. Botanik I. Bd. III. Aufl. S. 142. Vergl. auch ebendaselbst S. 146. II. Die Ontogeiiie und die Descoudenztheorie. 7 liehen Grund ihres hohen morphologischen Werthes richtig begriffen. Es y\\vd dies sofort klar werden, Nvenn wir daran erinnern, dass man unter Entwickelungsgeschichte bisher fast immer nur diejenige der In- dividuen, und nicht diejenige der Stämme begriffen hat. Die Onto- genie oder Entwickelungsgeschichte der physiologischen Individuen ist aber unzertrennlich und auf das innigste verbunden mit der Phylogenie oder Entwickelungsgeschichte der genea- logischen Stämme (Phylen), welche wir im sechsten Buche als die genealogischen Individualitäten dritter Ordnung näher kennen ler- nen werden. Freilich haben in der ganzen Biologie kaum zwei Wis- senschaftszweige so weit von einander entfernt gestanden, als die Onto- genie und die Phylogenie. Wie innig dieselben überall zusammenhängen, \ne wesentlich sie sich gegenseitig bedürfen und ergänzen , wie erst aus der engen Verschmelzung beider sich die eigentliche Entwickelungsge- schichte der Organismen im vollen Sinne des Wortes construireu lässt, ist bisher von den meisten Biologen entweder nicht richtig gewürdigt oder auch gänzlich übersehen worden. Wie wir selbst dieses Verhält- niss auffassen, haben wir bereits im dritten Capitel kurz dargelegt, wo wir die Nothwendigkeit bewiesen haben, Outogenie und Phylogenie als die beiden coordinirten Hauptzweige der allgemeinen organischen Ent- wickelungsgeschichte, der Morphogenie, zu betrachten. Freilich kann man zu der vollen Einsicht dieses wichtigen Ver- hältnisses und zu der richtigen Schätzung seines ausserordentlichen Werthes nur durch die Descendeuztheorie gelangen, welche uns allein den Schlüssel des Verständnisses für die wundervollen Erschei- nungen der Entwickelungsgeschichte liefert und welche uns zeigt, dass die Ontogenie weiter nichts ist als eine kurze Kecapitula- tiou der Phylogenie. Hierin gerade liegt die unermessliche Bedeu- tung der Abstammungslehre und hierin liegt die Quelle des ausseror- dentlichen Verdienstes, welches sich Darwin durch die Eeformation und die causale Begründung der Descendeuztheorie erworben hat. Die Abstammungslehre allein vermag uns die Entwickelungs- geschichte der Organismen zu erklären. Der Grundgedanke dieser Theorie, den zuerst Lamarck klar ausgeführt hat, dass alle organischen Speeles, auch die höchsten und vollkommensten, die di- vergent entwickelten und umgebildeten Nachkommen einiger wenigen einfachsten autogonen Stammformen oder ürarten sind, dieser Grund- gedanke allein vermag eine Erklärung der organischen Entwickelungs- erseheinungen zu geben. Dieser erhabene Grundgedanke ist es, von dem Goethe mit Recht sagt: ,. Freue dicli, höchstes Ge&cliöpf der Natur, du fühlest dich fähig, Ihr den liöcbsten Gedfinken, zu dein sie schaifend sich aufschwang, Nachzudenken !" 8 Begriff und Aufgabe der Ontogenic. Genau hundert Jahre waren verflossen, seitdem der grosse Wolf f durch seine Theoria generationis 1759 den Grundstein zu dem stolzen Baue der Entwickelungsgeschichte gelegt hatte. Charles Darwin war es vorbehalten, 1859 das erhabene Gerüst dieses Baues durch die Theorie der natürlichen Züchtung zu krönen, und durch die Entwicke- lungsgeschichte der Arten diejenige der Individuen zu erläutern. Ge- nau ein Jahrhundert hat die Entwickelungsgeschichte der Individuen als eine Wissenschaft der ontogenetischen Thatsachen bestanden, bis sie durch die Eeformation der Abstammungslehre eine Wissenschaft der ontogenetischen Ursachen wurde. Und welch' seltsame Parallele der Entwickelung zwischen beiden Entwickeluugstheorieen ! Die Theorie der Epigenesis, welche durch Wolff's bahnbrechende Arbeiten die Grund- lage der ganzen Ontogenie wurde, musste im ersten halben Jahrhun- dert ihrer Existenz ein latentes Leben, gleichsam in embryonaler Abge- schiedenheit, führen, "ehe sie 1806 durch Oken's Entwickelungsge- schichte des Darmcanals neu belebt und 1812 durch Meckel's Ueber- setzung der Wol ff 'sehen Arbeiten in das öfibntHche Leben der Wis- senschaft hinausgeführt wurde. Ebenso musste die Theorie der Trans- mutation oder Descendenz, welche, obwohl von Goethe schon früher ausgesprochen, doch erst durch Lamarck's Philosophie zoologique 1809 begründet und zur Basis der Phylogeuie erhoben wurde, im er- sten halben Jahrhundert ihrer Existenz in einem latenten Leben, in embryonaler Verborgenheit, verharren, ehe sie 1859 durch Darwin neu belebt und zum lebendigen Gemeingute der biologischen Wissen- schaft wurde. Wir sind gewiss weit entfernt davon, die ausserordentlichen Ver- dienste der vielen trefflichen Forscher zu unterschätzen, welche in un- serem Jahrhundert durch eine Keihe der vorzüglichsten Arbeiten die Ontogenie zu einer biologischen Wissenschaft ersten Ranges erhoben haben; Arbeiten, die eben so durch sorgfältige Untersuchung der That- sachen, wie durch das gedankenvolle Streben nach einer harmonischen Verknüpfung derselben sich auszeichnen. Aber das müssen wir doch sagen, dass alle diese Arbeiten vergeblich nach der Erreichung ihres hohen Zieles hinstrebten und dasselbe unmöglich ganz erreichen konn- ten, insofern nicht der Grundgedanke der Desceudenztheorie sie leitete. Zwar ist die auffallende Parallele zwischen der ontogenetischen (em- bryonalen) und der phylogenetischen (paläontologischen) Entwickelung schon seit langer Zeit von den hervorragendsten Genealogen anerkannt worden, und merkwürdiger Weise gerade am meisten von demjenigen, der der eifrigste Gegner der Descendenztheorie' zu sein scheint, von Agassiz. Indessen konnte diese Parallele doch erst ihre richtige Wür- digung finden und die wahre Bedeutung der Phylogenie (Paläontologie) für die Ontogenie (Embryologie) doch erst anerkannt werden, seit- II. Die Outogenie und die Descendenztheoric. 9 dem die Abstammungslehre den Causalzusammenhang derselben ent- hüllt hat. Indem die Descendenztheoric die beiden Zweige der allgemei- nen Entwickelmigsgeschichte oder Morphogenie, diejenige der Indivi- duen (Ontogenie) und diejenige der Stämme (Phylogenie) , unmittelbar verknüpft, indem sie den innigsten causalen Zusammenhang zwischen diesen beiden scheinbar weit entfernten Wissenschaften nachweist, ver- mag sie uns allein zu erklären, w^arum sich die Organismen über- haupt entwickeln, und warum sie sich gerade so entwickeln, wie es uns die parallel laufenden Thatsachen der Embryologie und Pa- läontologie vor Augen legen. Wenn daher im Allgemeinen schon jeder Zweig der biologischen Wissenschaft, welcher ein wirkliches Verständ- niss der Thatsachen, d, h. eine causale Erklärung derselben anstrebt, die Abstammungslehre durchaus nicht entbehren kann, so gilt dies in ^anz besonderem Maasse von der gesammten Entwickelungsgeschichte, der Morphogenie, und von ihren beiden coordinirten Zweigen, der On- togenie und der Phylogenie. Wie wir den Gedanken der Abstammung aller organischen Speeles von wenigen einfachsten Grundformen als die unentbehrliche Grundlage der gesammten Biologie ansehen müssen, wie schon Goethe ihn als den höchsten Gedanken der Naturwissenschaft, und insbesondere der organischen Morphologie bezeichnete, so verdient er diese Würde gewiss ganz besonders als das causale Fundament der 'gesammten Entwickelungsgeschichte; derjenigen Wissenschaft, welche selbst wieder alle biologischen DiscipMnen erklärend verbindet. Keine Gruppe von Naturerscheinungen ist bisher so sehr von dem allein rich- tigen, d. h. dem monistischen Verständniss ausgeschlossen geblieben, keine hat sich so sehr der mechanisch -causalen Erklärung entzogen, als die organische Morphologie und ganz besonders die Entwickelungs- j^eschichte, welche deren allgemeine Grundlage bildet. Nun wird uns dieses -monistische Verständniss aber in der That von der Descendenz- theorie geliefert, welche uns in den physiologischen Functionen der Vererbung (die mit der Fortpflanzung zusammenhängt) und der An- passung (die in der Ernährung begründet ist) die mechanisch wirkenden Ursachen der Morphogenesis nachweist, und da- durch die gesammte Morphologie der Organismen monistisch erklärt. Wir glauben daher, den unschätzbaren Werth der Descendenztheorie, deren Grundzttge wir im neunzehnten Capitel erläutern werden, nicht besser aussprechen zu können, als mit den Worten: Die Descen- denztheoric ist die wissenschaftliche Begründung der ge- rammten Entwickelungsgeschichte durch das allgemeine (Kausalgesetz. Gewiss bleibt Bär 's wichtiges Wort vollkommen richtig: „Die Ent- wickelungsgeschichte ist der wahre Lichlträger für Untersuchungen über 10 Begriff und Aufgabe der Ontogcnie. organische Körper." Aber eben so wichtig und eben so richtig ist nach unserer Ansicht der allgemein maassgebende, fundamentale Satz: ,J)ie Abstammungslehre ist der wahre Lichtträger für die ge- sammte Entwickelungsgeschichte." III. Typus und Grad der individuellen Entwickelung. Der unschätzbare Werth, den die Descendenztheorie als das causal erklärende Fundament der Entwickelungsgeschichte besitzt, zeigt sich nirgends vielleicht schlagender, als in den allgemeinsten Gesetzen, zu welchen sich die letztere erhoben hat. Als das oberste dieser allge- meinen Gesetze, welches aus der verghchenen Summe aller ontogene- tischen Thatsachen hervorgeht, gilt mit Recht die von Bäri) festge- stellte Theorie, dass die individuelle Entwickelung jedes Organismus von zwei verschiedenen und gewissermaassen entgegengesetzten Momen- ten geleitet werde, dem Typus der Organisation und dem Grade der Ausbildung. Bär formulirt dieses Gesetz in folgenden Worten: « „Die Entwickelung eines Individuums einer bestimmten Thieribrm wird von zwei Verhältnissen bestimmt: 1) von einer fortgehenden Aus- bildung des thierischen Körpers durch wachsende histologische und mor- phologische Sonderung; 2) zugleich durch Fortbildung aus einer allge- meineren Form des Typus in eine mehr besondere. — Der Grad der Ausbildung des thierischen Körpers besteht in einem grösse- ren oder geringeren Maasse der Heterogenität der Elementartheile und der einzelnen Abschnitte eines zusammengesetzten Apparats, mit einem Worte, in der grösseren histologischen und morphologi- schen S 0 n d e r u n g (D i f f e r e n z i r u n g). Je gleichmässiger die ganze Masse des Leibes ist, desto geringer die Stufe der Ausbildung. Je verschiedener sie ist, desto entwickelter das thierische Leben in seinen verschiedenen Richtungen. — Der Typus dagegen ist das La- gerungsverhältniss der organischen Elemente und der Or- gane. Dieses Lagerungsverhältniss ist der Ausdruck von gewissen Grundverhältnissen in der Richtung der einzelnen Beziehungen des Le- bens. Der Typus ist von der Stufe der Ausbildung durchaus verschie- den, so dass derselbe Typus in mehreren Stufen der Ausbildung be- stehen kann, und umgekehrt, dieselbe Stufe der Ausbildung in meh- reren Typen erreicht wird. Das Product aus der Stufe der Ausbildung mit dem Typus giebt erst die einzelnen grösseren Gruppen von Thieren, die man Klassen genannt hat." In diesen beiden entgegenwirkenden Principien, dem Typus der Bildung und dem Grade der Ausbildung, hatte Bär vollkommen richtig 1) Carl Ernst v. Bär, über Entwickelungsgeschichte der Thiere. Königsberg 1828. Bd. I, S. 207, 208, 231. III. Typus und Grad der individuellen Ent-wackolung. 11 ÜG beiden einzigen Factoren der organischen Formbildung erkannt und las allgemeinste Eesultat aus seinen classischen embryologischen Un- t-rsucliungen gezogen. Worin bestehen nun aber die weiteren Ursachen, velclie sowohl diesen als jenen, einerseits den Typus als das Lage- iingsvcrhältniss der Theile, andererseits den Grad der histologischen md morphologischen Diflereuzirung bestimmen? Die Antwort auf diese iefer gehende Frage hat mau durch die mannichfaltigsten Phrasen zu icben versucht, die aber in der That nichts weiter, als leere ümschrei- uuigeu des Bär 'sehen Gesetzes sind. Insbesondere hat man denTy- us der Bildung als einen „verkörperten Grundgedanken des Schöp- ers" bezeichnet, als den Ausfluss eines prädestinirten „Planes der Ent- ickelung", eines „typischen Bilduiigsplanes". Eben so hat man ande- rseits den Grad der Ausbildung angesehen als die Folge eines allgemeinen Entwickeluugsgesetzes", eines „Gesetzes der fortschreiten- Icn Entwickeluug" , eines „Planes der typischen Vervollkommnung", Vlle diese Ausdrücke sind entweder nur mehr oder weniger dunkle inschreibungen der beiden von Bär aufgestellten Gesetze, oder nichts- agende, leere Phrasen, die theils wegen ihres offenbaren Anthropo- Dorphismus , theils wegen ihrer teleologischen oder vitalistischen Basis :einen Anspruch auf wissenschaftliche Erörterung machen können. Wie anders erklären sich uns jene Eäthsel, wenn wir die Descen- L'uztheorie befragen, welche dieselben allein zu lösen vermag! Sie er- lärt die gesammte organische Formbildung und Entwickelung aus der »eständigen Wechselwirkung zweier entgegengesetzter physiologischer 'unctionen, der Vererbung, welche eine Theilerscheinung der Fort- •Üanzung, und der Anpassung, welche eine Theilerscheinung der Er- lährung ist. Beide sind reine physiologische Functionen, welche als olche auf rein mechanisch -causaler Basis beruhen und lediglich durch 'hysikalische imd chemische Ursachen bewirkt werden. Nun ist es klar, dass Bär's Typus der Entwickelung weiter ichts ist, als die Folge der Vererbung und Bär's Grad der Aus- ildung weiter nichts als die Folge der Anpassung. Jener lässt ich also auf die Fortpflanzung, dieser auf die Ernährung als auf sei- en physiologischen Grund zurückführen. Offenbar thun wir aber durch lese Zurückführung einen ausserordentlich bedeutenden Schritt. Denn s werden dadurch die beiden morphologischen Grundgesetze, und so- lit überhaupt alle Erscheinungen der organischen Entwickelung aus liysiologischen Fundamenten erklärt, welche ihrerseits lediglich auf Hjchanisch wirkenden Ursachen, auf chemischen und physikalischen rocessen beruhen. Während also die beiden Grunderscheinungen der organischen Ent- ickelung, Bildungstypus und Ausbildungsgrad, welche Bär richtig als i(3 beiden formbildenden Kräfte der gesammten Organismenwelt aus 12 Begriff und Aufgabe clor*Ontogeiiie. rein morphologischen Inductionen erkannte, ohne die Abstamraungslehrd für uns zwei unverstandene Räthsel bleiben, welche weder durch did anthropomorphe Vorstellung eines vorbedachten „Schöpfungsplans oder Entwickelungsplans", noch durch die leere Phrase eines „allgemeinen Entwickelungsgesetzes oder Bildungsgesetzes" dem tieferen wissenschaft- lichen Verständniss, d. h. der monistischen, causalen Erkenntniss näher gerückt werden, so werden uns durch die Descendenztheorie diese bei- den Räthsel im monistischen Sinne gelöst: wir erkennen in dem Bil- dungstypus die Wirkung des inneren Bildungstriebes der Vererbung, in dem Ausbildungsgrad die Wirkung des äusseren Bildungstriebes der Anpassung, jene eine Theilerscheinung der Fortpflanzung, diese der Ernährung. Diese beiden aber beruhen anerkanntermaassen auf den- selben physikalischen und chemischen Processen, welche die gesammte organische und anorganische Natur einheithch beherrschen. So gelan- gen wir denn an das höchste Ziel, welches Bär der Entwickelungsge- schichte gesteckt hat, die Zurückführung der bildenden Kräfte des organisirten Körpers auf die allgemeinen Kräfte des Weltganzen! IV. Evolution und Epigenesis. Unter Entwickelungsgeschichte (Evolutionis liistoria) der organi- schen Individuen versteht man heutzutage allgemein einen organischen Bildungsprocess, der gerade das Gegentheil von dem ist, was man bis zu Ende des vorigen Jahrhunderts fast ohne Ausnahme unter diesem Aus- druck verstand. Bis zu dieser Zeit nämlich war die allgemein herr- schende Vorstellung von der Entstehung der Organismen durch Zeu- gung die Einschachtelungstheorie, wonach die organischen Indi- viduen bereits vollständig in der keimfähigen Substanz des Eies prä- formirt enthalten sein sollten. Gleichsam schlafend oder in einem Zustande latenten Lebens sollte das physiologische Individuum, mor- phologisch vollkommen ausgebildet, in dem Eie enthalten sein. Der Befruchtungsprocess sollte den schlafenden Embryo nur erwecken, sein latentes potentielles Leben zur Action veranlassen; und die ganze em- bryonale EntWickelung sollte demgemäss in einer wirklichen Evolu- tion, d. h. einer blossen Entfaltung und Vergrösserung eines bereits fertig vorgebildeten Organismus bestehen. Hiernach wäre der Embryo nicht das Product, sondern das Educt des befruchteten Eies, welches durch den Zeugungsakt nicht wirklich erzeugt, sondern bloss „ausge- wickelt", zur Evolutionsbewegung veranlasst würde. Diese seit lauger Zeit herrschende Ansicht wurde im vorigen Jahrhundert insbesondere von Bonnet, Leibnitz und Haller unterstützt, welcher letztere sich folgerichtig zu dem Satze verstieg, dass eine eigentliche Zeugung über- IV. Evolution und Epigenesis. 13 aupt nicht existire: ,jtil noriler generar i''. Schon im Alterthume u- eine ähnliche Ansicht von Diogenes und Hippon und von den toikern vorgetragen worden, welche behaupteten, dass in dem männ- chen Sperma bereits der ausgebildete Organismus vorhanden sei, wel- her durch den Begattungsakt nur auf einen zu seiner Entwickelung, . h. Vergrösserung tauglichen Ernährungsboden, das Ei, versetzt werde, lurch die Entdeckung der beweglichen fadenförmigen Zoospermien von ieeuwenhoek schien diese Ansicht eine neue Begründung zu er- ilteu, indem man nun in dem einzelnen „Samenthier" den involvir- •n, bloss des Wachsthums bedürftigen Zustand des ausgebildeten Thie- ■s zu linden glaubte. So entstanden die besonders in der ersten Hälfte es vorigen Jahrhunderts sehr allgemein herrschenden" Streitigkeiten der nimalcidisten und Ovisten, von denen jene behaupteten, dass das räfonuirte Individuum bereits im Samenthiere, diese, dass es im Eie uthalteu sei. Diese falsche Ansicht von der Präformation des Individuums in en Geschlechtsproducten (entweder im Samen oder im Eie) bezeichnet lan allgemein als die Theorie der Evolution, weil der Entwicke- mgsprocess lediglich in einer „Auswickeluug" des eingewickelten prä- »rmirten Embryo bestehen sollte. Sie fand lange allgemeinen Beifall, rotz der Absurdität der Consequenzen , zu denen dieselbe dadurch Ahrt, dass sie die Einschachtelung aller Generationen einer Speeles in inander fordert; und trotzdem eigentlich schon Senebier dadurch, ass er diese Consequenzen mit Klarheit zog , den apagogischen Beweis ilr ihre Unrichtigkeit heferte. Da die Evolutionstheorie im Grunde owohl die Zeugung, als die Entwickelung selbst verneinte, so konnte s auch unter ihrer Herrschaft keine eigentliche Entwickelungsgeschichte eben, und wir können daher deren Existenz erst von dem Zeitpunkte n datiren, in welchem die entgegengesetzte Theorie der Epigene- i s mit Bestimmtheit formulirt und durch die empirische Beobachtung Is die allein richtige Entwickelungstheorie nachgewiesen wurde. Dies eschah im Jahre 1759 durch die Inauguraldissertation von Caspar riedrich Wolff: Theoria generatiouis , in welcher zum ersten Male er wirkliche Nachweis einer epigenetischen Entwickelung und einer »iiferenzirung des zusammengesetzten und verwickelt gebauten Orga- ismus aus einer ganz einfachen Grundlage gegeben wurde. Er ver- )lgte die Epigenese des Hühnchens von seinen ersten Anfängen an und ies bereits nach, dass selbst ein so verwickeltes Gebilde, wie es der "k^irbelthierdarm ist, aus einer ganz einfachen, blattförmigen, primiti- in Alllage durch Differenzirung und Umbildung entstehe. Wolff L^^te aber nicht allein den Grund zu der epigenetischen Entwickelungs- schichte der Thiere, sondern auch der Pflanzen, Er wies nach, dass l)cnso wie bei den Wirbel thieren die complicirtesten Organe aus ganz 14 Begriff und Aufgabe der Ontogenie. einfachen, blattförmigen Anlagen („Keimblättern") sich entwickeln, eben so auch bei den Pflanzen alle verschiedenen Organe und Theile, mit Ausnahme des Stengels, sich aus der gemeinsamen Grundlage der ein- fachen Blattform hervorbilden. So sprach er bereits den Grundgedan- ken aus, welchen nachher Goethe so geistvoll in seiner bemhmten Lehre von der „Metamorphose der Pflanzen" entwickelte, und welcher die Grundlage der ganzen Entwickelungsgeschichte der Pflanzen gewor- den ist. Indessen wurden Wolf f 's epochemachende Entdeckungen, welche wir geradezu als den Zeugungsakt der wahrhaft wissenschaft- lichen, d. h. epigenetischen Entwickelungsgeschichte bezeichnen müssen, ein halbes Jahrhundert hindurch fast gar nicht anerkannt und sie wa- ren selbst Lorenz Oken unbekannt, als er 1806 seine voi'trett'liche Arbeit übei" die Bildung des Darmcanals veröffentlichte. Erst nachdem sie 1812 durch M ecke Ts Uebersetzung bekannt geworden waren, be- gann ein neues Stadium in der Entvvickelung der Ontogenie mit den classischen Arbeiten von Christian Pander (1817) und Carl Ernst V. Bär. Des letzteren „Entwickelungsgeschichte der Thiere, Beobach- tung und Reflexion" (1828), das bedeutendste Werk in der gesammten ontogenetischen Literatur, haben wir bereits wiederholt als ein Muster echtei- Naturphilosophie im besten Sinne des Wortes hervorgehoben. Insbesondere die Entwickelungsgeschichte der Wirbelthiere wurde durcli Bär so weit gefördert, dass selbst der bedeutendste seiner Nachfolger, Remak (1850), nur das Verdienst hat, Bär 's Ansichten im Einzel- nen ausgebildet und verbessert und durch die Entwickelungsgeschichte der Gewebe (Histogenie) wesentlich ergänzt zu haben. Wie nun die p]ntwickelungsgeschichte der Wirbelthiere als die Grundlage der wis- senschaftlichen, d. h. epigenetischen Ontogenie, allein von Deutschen begründet und fast allein von Deutschen entwickelt wurde, so waren es auch Deutsche, welche -in der ei'sten Hälfte dieses Jahrhunderts die epigenetische Entwickelungsgeschichte im Gebiete der wirbellosen Thiere und der Pflanzen begründeten. Wir nennen hier von zahlreichen trefl- lichen Werken über die Entwickelungsgeschichte der wirbellosen Thiere nur die vonRathke (Crustaceen, lusecten etc.) und Johannes Mül- ler (Echinodermcn, Würmer etc.), und von botanischen epochemachen- den Arbeiten die Metamorphose der Pflanzen von Goethe und die vor- züglichen Grundzüge der wissenschaftlichen Botanik von Schleiden, in welchen letzteren die Entwckelungsgeschichte als das allem maassge- bende Fundament auch auf dem botanischen Gebiete mit der gebüh- i-enden Consequenz und der philosophischen Schärfe hervorgehoben ist, die Schleiden vor so vielen anderen Biologen auszeichnet. So können wir Deutschen denn mit gerechtem Stolze die epigenetische Ontogenie oder die Entwickelungsgeschichte der organischen Individuen , die Wis- senschaft, welche das Fundament der ganzen Biologie bildet, als ejm V. Entwicklung und Zeugung. 15 Wissenschaft bezeichnen, welche in Deutschland geboren und von Deut- schen entwickelt ist, und welche fast ausschliesslich in Deutschland das erste Jahrhundert ihrer Existenz durchlebt hat Alle diese- ontogenetischen Werke haben übereinstimmend die Theo- rie der Epigenesis als den allein wirklichen Grundgedanken der Onto- lienie festgestellt und wir können daher von einer „Entwickelung" als Evolution nur noch in einem Sinne sprechen, welcher seinem ursprüng- lichen geradezu entgegengesetzt ist. Alle Evolution, alle Entwickelung der organischen Individuen ist in Wahrheit Epigenesis, d.h. eine Lebensthätigkeit, welche wesenthch auf Vorgängen der Zeugung, des Wachsthums und der Differenzirung beruht, auf einer Um- bildung gleichartiger Theile zu ungleichartigen, und einer wirklichen Entstehung neuer Individuen aus nicht individualisirten Materien. Bei denjenigen Organismen , welche zeitlebens auf der niedrigsten Stufe ei- nes morphologischen Individuums erster Ordnung stehen bleiben, ist die Ontogenie des physiologischen Individuums nur eine Geschichte sei- ner Entstehung durch Zeugung, seines Wachsthums und seiner Diffe- renzirung. Bei der grossen Mehrzahl der Organismen aber, welche die höhere Stufe eines morphologischen Individuums zweiter und höherer Ordnmig erreichen, durchläirft das physiologische Individuum (Bion) die vorausgehenden niederen Stufen, indem durch bleibende Vereinigung, durch Synusie von Individuen niederer Ordnung, Individuen colonieen ent- stehen, welche als physiologische Einheiten sich selbstständig dilferen- ziren und umbilden. In allen diesen Vorgängen, wie verschiedenartig sie sich auch als Hinaufbilduug, Umbildung und Rückbildung, als pro- gressive und regressive Metamorphose äussern mögen, bleibt das lei- tende Grundgesetz die Theorie der Epigenesis. V. Entwickelung und Zeugung. Die eigenthümliche Stellung, welche die Entwickelungsgeschichte zwischen der Morphologie und Physiologie einnimmt, haben wir bereits im sechsten Abschnitt des dritten Capitels (Bd. I , S. 50) eingehend er- örtert. Wir haben dort gesehen, dass die Entwickelungsgeschichte ei- nerseits zur Physiologie oder Biodynamik gerechnet werden kann, in- sofern sie die Reihe von Form Veränderungen, d. h. Bewegungserschei- nungen untersucht, welche die organischen Formen während ihrer in- dividuellen Existenz durchlaufen. Andererseits waren wir genöthigt dieselbe für die Morphologie oder Biostatik in Anspruch zu nehmen, insofern diese als blosse Anatomie, ohne die Entwickelungsgeschichte, keiner wahren wissenschaftlichen Existenz fähig ist. Da die Kenntniss der werdenden Form des Organismus uns allein zum Verständniss der gewordenen oder vollendeten Form desselben hinüberzuleiten 16 Begriff und Aiifgabe der Ontogenie. vennag, mussten wir Anatomie und Morphogenie als die beiden coor- dinirten Hauptzweige der organischen Morphologie betrachten, und wir konnten dies mit um so grösserem Rechte, als die Entwickehingsge- schichte der Organismen bisher fast ausschliesslich Gegenstand anato- mischer und nicht physiologischer Forschungen war, und demgemäss auf ihrer gegenw^ärtigen niederen Entwickelungsstufe wesentlich eine statische und nicht eine dynamische Disciplin darstellt. Denn in Wahr- heit ist fast Alles, was wir in der Zoologie, Protistik und Botanik Ent- wickelungsgeschichte nennen, bisher wesentlich eine Kenntniss der mor- phogenetischen Thatsachen, nicht aber eine Erkenntniss ihrer phy- sikalisch-chemischen Ursachen gewesen. Wenn wir zu letzterer ge- langen wollen, und wenn wir also die Morphogenie wirklich causal begründen wollen, so müssen wir nothwendig auch an die Physiologie der Entwickelung uns wenden. Nun haben wir keineswegs die Absicht, in den folgenden Blättern eine allgemeine Beschreibung der bekannten organischen Entwicke- lungserscheinungen zu geben; vielmehr verfolgen wir das höhere Ziel einer allgemeinen Erklärung derselben. Wir wollen den schwierigen und bisher noch nicht unternommenen Versuch einer solchen mechanisch- causalen Erklärung der morphogenetischen Erscheinungsreihen wenig- stens anbahnen, und zwar auf Grund derjenigen Theorie, welche allein diese Erklärung zu liefern vermag, der Descendenztheorie. Insofern nun aber diese Theorie eine physiologische Erklärung der morphologi- schen Erscheinungen giebt, werden wir uns nicht auf den morphologi- schen Theil der Entwickelungsgeschichte beschränken können, sondern auch ihren physiologischen Theil berücksichtigen müssen (vergl. Bd. I, S. 52). Es ist die Physiologie der Zeugung oder Generation, deren Grundgesetze wir in ihren allgemeinsten Zügen verstehen müs- sen, um zu einem wirklichen monistischen Verständniss der Entwicke- lungsgeschichte zu gelangen. Die Physiologie der Zeugung oder Fortpflanzung hängt, wie wir oben gezeigt haben, auf das engste zusammen mit der Physiologie der Ernährung und des Wachsthums (Bd. I, S. 150, 238). „Das Wachs- thum ist Ernährung mit Bildung neuer Körpermasse — in der That eine fortgesetzte Zeugung, und die Zeugung ist nichts als der Anfang eines individuellen Wachsthums." (Bär 1. c. Bd. E, S. 4.) Die Fort- pflanzung ist eine Ernährung und ein Wachsthum des Or- ganismus über das individuelle Maass hinaus, welche ei- nen Theil desselben zum Ganzen erhebt. Alle Organismen haben eine beschränkte Zeitdauer ihrer individuellen Existenz als Bion- ten, und die Arten der Organismen würden einem beständigen Wechsel durch Aussterben der bestehenden Arten unterliegen, wenn nicht die Fortpflanzung dieser Gefahr entgegenwirkte. Daher ist die Fortpflan- V. Eutwickelung und Zeugung. 17 zung ebenso als die Selbsterhaltung der Art bezeichnet, wie die Er- nährung als die Selbsterhaltung der Individuen. Wie aber die Ernäh- rung nur durch den Stoffwechsel möglich ist, so beruht die Arterhaltung auf dem Individuen -Wechsel. Wie bei der Ernährung beständig die materiellen Bestandtheile des Organismus, welche durch die Lebens- thätigkeit verbraucht wurden, durch andere, neue, gleichartige Theile ersetzt werden, so werden bei der Fortpflanzung beständig die aus- sterbenden Individuen (Bionten) durch neue Individuen ersetzt. Die durch Fortpflanzung entstehenden neuen Individuen, die kind- lichen Organismen (Partus) sind also allgemein Theile von bestehen- den Individuen, von elterlichen Organismen (Parens). Diese Theile haben sich in Folge des übermässigen totalen oder partiellen Wachs- thums von dem Ganzen abgelöst und wachsen' nun selbst wieder zur Grösse und Form des Ganzen heran, indem sie sich ergänzen oder reproduciren. Für diesen Vorgang als Wachsthumserscheinung sind ins- besondere die Ergänzungs- oder Eeproductionserscheinungen sehr lehr- reich, welche wir sehr allgemein bei niederen, aber auch bei höheren Organismen eintreten sehen, wenn einzelne Theile durch traumatische oder sonstige äussere Einflüsse verioren gegangen sind. Bei hochorga- nisirten Wirbelthieren, z. B. den Amphibien, und Gliederthieren, z. B. den Crustaceen, sehen wir, dass selbst ganze verlorene Extremitäten mit Skelet, Muskeln, Nerven etc. vollständig wieder erzeugt, reprodu- cirt werden. Bei niederen Thieren kann durch künstliche Theilung das Individuum vervielfältigt werden, indem jedes der künstlich getrennten Theüstücke sich alsbald wieder zu einem vollständigen Individuum er- gänzt. Diese wichtigen Wachsthumserscheinungen werfen das bedeu- tendste Licht auf die Fortpflanzungsvorgänge, welche uns in ihren höchsten Formen als ein ganz eigenthümlicher und schwer begreifbarer Lebensprocess erscheinen, während doch die niedersten Formen sich un- mittelbar an jene Wachsthums- und Keproductionsprocesse anschliessen. Bei der natüriichen Selbsttheilung, als der einfachsten Fortpflanzungs- form, spaltet sich das Individuum spontan in zwei Hälften, deren jede sich alsbald wieder durch Wachsthum zu einem vollständigen Indivi- duum, einem actuellen Bion reproducirt. Jede Hälfte fungirf hier ebenso als virtuelles oder potentielles Bion , wie bei der Fortpflanzung durch Eier oder Keimzellen (Sporen) die einzelne, vom elterlichen Organis- mus abgesonderte Plastide. Die weitere Betrachtung der verschiedenen Fortpflanzungsformen bleibt dem siebzehnten Capitel vorbehalten. Hier wollten wir als Grund- lage für die Betrachtung der gesammten Octogenie den wichtigen Satz teststellen, dass die Fortpflanzung und die unmittelbar damit zusam- menhangende EntWickelung physiologische Functionen sind, welche in den materiellen Wachsthumsgesetzen begründet sind. Haeckel, Gonorelle Morphologie, II. 9 18 • Begriff' und Aufgabe der Ontogenie. VI. Aufbildmig, Umbildung, Rückbüdung. Wenn wir oben als die Aufgabe der Ontogenie die Erkenntnis« der Formenreihe hingestellt haben, welche jeder individuelle Organismus während der gesammten Zeit seiner individuellen Existenz durchläuft, so haben wir damit der Entwickelungsgeschichte ein weiteres Ziel gesteckt und einen grösseren Umfang vindicirt, als ihr fast all- gemein zugestanden wird. Man pflegt fast immer unter Entwicklung nur diejenigen Formveränderungen zu begreifen, welche das Individuum von dem Momente seines Entstehens an bis zur erlangten Reife durch- läuft und diese Auffassung findet ihre Berechtigung sowohl in der ur- sprünglichen Bedeutung des Wortes „Entwickelung" (Evolutio), als in dem allgemeinen Spracbgebrauche desselben. Der letztere versteht un- ter EntWickelung allgemein eine fortschreitende, aufsteigende Reihe von organischen Formveränderungen, welche wesentlich in einer Zunahme der Grösse und Vollkommenheit des organischen Individuums besteht, also in Wachsthum und Differenzirung. Dagegen versteht man unter EntWickelung gewöhnlich, oder doch bei den meisten Organismen, mcht die rückschreitende Reihe von Forinveränderungen , welche sehr oft auf die fortschreitende folgt, und welche in einer gewissen Abnahme der Voll- kommenheit und oft auch der Grösse des organischen Individuums be- steht Im Gegentheil pflegt man ziemlich allgemein diese regressive Veränderung der individuellen Form jener progressiven scharf entge- genzustellen und „Rückbildung'^ als das Gegentheil der „Entwickelung' zu betrachten. o,^ j i + Dennoch werden wir, sobald wir uns auf den höheren Standpunkt erheben von dem wir alle verschiedenen Formen der individuellen or- ganischen EntWickelung mit einem Blicke vergleichend überschauen, nicht umhin können, diesen Gegensatz von Rückbildung und Entwicke- lun- nur als einen untergeordneten und theilweisen anzusehen, und den" Begriff der Entwickelung auf die gesammte Reihe aller Formver- änderungen auszudehnen, welche das Individuum während der ganzen Zeit seiner Existenz, von seiner Entstehung durch Zeugung bis zu seiner Vernichtung durch Tod oder Selbsttheilung durchläuft. Denn abgesehen davon, dass sehr vielen organischen Individuen die i^gres- sive Veränderung der Rückbildung ganz fehlt, finden wir dieselbe bei den anderen meistens so eng mit der fortschreitenden Entwickelung verbunden, beide greifen so vielfach und innig in emander über, dass es gewöhnlich ganz unmöglich ist, die Grenze zwischen beiden irgend- wie zu fixiren. Einzelne Körpertheile können schon einer weit gegan- genen Rückbildung unterlegen sein, während andere noch in steter Ent- wickelung begriffen sind. Auch pflegt der Rückbildungsprocess so lang- sam und allmählich einzutreten, oft sich auf einen so geringen Grad VI. Aiifbilclung, rrabiklung, Eückbildung. 19 der rückschreitenden Veränderung zu beschränken, dass seihst das We- sen desselben ausserordentlich schwer zu erfassen und zu bestimmen ist. Andere Naturforscher haben die Grenze der eigentlichen Entwicke- lung in der „Eeife" des Organismus finden wollen und danach die Entwickelungsgeschichte als die Lehre von den Formveränderungen be- zeichnet, welche der Organismus von Beginn seiner individuellen Exi- stenz an bis zur erlangten Keife durchläuft. Der Begriff der Reife kann aber eben so wenig als der Begrifl" der Rückbildung scharf be- stimmt werden. Allgemein hat man wohl die Beendigung des Wachs- thums (der Grössenzunahme) als den Beginn der Reife bezeichnet. Das Individuum ist reif, wenn es „ausgewachsen" ist. Die Fortdauer der Wachsthumsbeweguug führt dann nicht mehr zur Vergrösserung des Individuums, sondern zur Fortpflanzung, zur Zeugung neuer Individuen. Es würde dann also der Beginn der Reife mit dem Beginn der Fort- pflanzungsfähigkeit zusammenfallen. Daher hat man bei denjenigen Individuen, welche sich geschlechtlich differenziren, den Eintritt der Reife durch die vollständige Ausbildung der Geschlechtsproducte zu bestimmen gesucht. Der Organismus gilt hier für reif von dem Zeit- punkte an, in welchem er der sexuellen Fortpflanzung fähig wird. Allein diese Bestimmung ist schon deshalb nicht durchführbar, weil sehr viele organische Individuen sich bereits fortpflanzen, ehe sie ihre volle Grösse und Reife erreicht haben (z. B. viele Hydromedusen). Das Wachsthum dauert hier oft noch lange fort, nachdem bereits unge- schlechtliche und selbst geschlechtliche Zeugungsfähigkeit eingetreten ist. Andererseits werden viele Organismen erst geschlechtsreif, nach- dem schon lange der entschiedenste Rückbildungsprocess eingetreten ist, z.B. viele Parasiten (besonders auffallenü parasitische Crustaceen). Hier fällt also die Geschlechtsreife eben so hinter die eigentliche in- dividuelle Reife, sofern man darunter die Höhe der individuellen Voll- kommenheit nach Abschluss des Wachsthums versteht, wie im ersteren Falle die Geschlechtsreife vor diese eigentliche Reife fällt. Endlich werden auch viele Organismen vollständig reif, ohne jemals fähig zu werden, sich auf irgend eine Weise, geschlechtlich oder ungeschlecht- lich, fortzupflanzen. Schon aus diesen Erwägungen, welche leicht noch beträchtlich ver- stärkt und vermehrt werden könnten, geht hervor, dass es eben so un- möglich ist, irgend eine scharfe Grenze zwischen Entwickelung und Reife, wie zwischen Entwickelung und Rückbildung, wie zwischen Reife und Rückbildung zu unterscheiden. Wir werden vielmehr genöthigt, diese drei verschiedenen Bewegungserscheinungen der organischen Formen welche nur in ihren Extremen deutlich getrennt erscheinen, dagegen in ihren weniger ausgeprägten Erscheinungsweisen nicht von einander zu trennen sind, und thatsächlich auf das vielfältigste in einander grei- 2 * 20 Begriff und Aiifgabe der Ontogeme. fen und innigst verbunden sind, als Modificationen und untergeordnete Abstufungen einer und derselben grossen Erscheinungsreihe, einer und derselben continuirlicli zusaramenhcängenden und geschlossenen Kette der individuellen Entwickelung zu betrachten. Wir verstehen demnach unter morphologischer Entwickelung des Individuums, wie wir nochmals ausdrücklich hervorheben, die conti- nuirlich- zusammenhängende zeitliche Kette von Formveränderungen, welche das organische Individuum während der gesammten Zeit seines individuellen Lebens, vom Beginn seiner Existenz an bis zum Ab- schluss derselben, durchläuft. Immerhin wird es in vielen Fällen von Vortheil sein, die verschie- denen Stadien der individuellen Entwickelung, welche wir so eben als „eigentliche Entwickelung", Reife und Rückbildung unterschieden ha- ben, als drei untergeordnete Abschnitte des individuellen Entwicke- lungskreises künstlich zu trennen und die Vorgänge, welche dieselben kennzeichnen, gesondert zu betrachten. In diesen Fällen schlagen wir vor, die drei Stadien der Entwickelung, welche wir im siebzehnten Ca- pitel allgemein zu charakterisiren versuchen werden, bestimmter mit folgenden Benennungen zu bezeichnen. I Anaplasis oder Aufbildung (Evolution). Erstes Stadium der individuellen Entwickelungskette. Sogenannte „eigentliche Entwickelung" oder Entwickelung im engeren Sinne. II Metaplasia oder Umbildung (Transvolution). Zweites Sta- dium der individuellen Entwickelungskette. Sogenannte „Keife" oder Voll- endungszustand des Individuums. III. Cataplasis oder Rückbildung (Involution). Drittes Stadium der individuellen Entwickelungskette. Decrescenz. Senilität. Vn. Embryologie und Metamorphologie. Die Entwickelungsgeschichte der organischen Individuen, welche wir Ontogenie nennen , wd gewöhnlich als Embryologie bezeichnet. Indessen ist dieser Ausdruck nicht hierfür passend und nicht allgemem anwendbar. Die eigentliche Embryologie ist nur ein Theil der Onto- genie und bei sehr vielen Organismenarten kann man überhaupt nicht von Embryologie sprechen. Der Begriff „Embryo" kann, wie bereits im dritten Capitel er- wähnt wurde, nur dann scharf bestimmt und mit Nutzen angewandt werden, wenn man darunter den „Organismus innerhalb der Ei- hüllen" versteht. Diesen festbestimmten Sinn hatte der Begriff des Embryo bereits im ganzen' Alterthum, wo man stets „die ungeborene Frucht im Mutterleibe" (bei den Römern Foetus, richtiger Fetus) dar- unter verstand Mit dem Geburtsakte galt das embryonale oder te- 1) „xä ^vTä; tV5s waxpk ßpvJov" Eust. Zusammengezogen Em-bryon. Vn. Embr3''ologie und Motamorphologie. 21 tale Leben als beendet und der Embryon oder Fetus wurde durch den- selben zum selbstständigen, freien Organismus. Eben so wurde von den meisten neueren Naturforschern sowohl der thierische als pflanz- liche Organismus stets nur so lange als Embryo bezeichnet, so lange er sich innerhalb der Eihüllen befand. Erst den letzten beiden De- cennien, welche sich durch die überhandnehmende Verwilderung der Begriffe und fortschreitende Verwirrung der Anschauungen in stets zu- nehmendem Maasse vor den früheren Zeiten auszeichneten, blieb es vorbehalten, auch diesen klaren und festen Begriff zu vernichten und durch die Einführung von „freien Embryonen" in die Wissenschaft diese aufs Neue eines sicheren Begriffs zu berauben. Seitdem man begonnen hat, die „Larven" als Embryonen mit freiem und selbstständigem Le- ben zu bezeichnen, hat man sich leider in weiten Kreisen daran ge- wöhnt, die gänzlich verschiedenen Begriffe der Larve und des Embryo (besonders bei den niederen Thieren) gemischt zu gebrauchen, so dass gegenwärtig der missbräuchliche Ausdruck des „freien Embryo" statt der „Larve" leider sehr verbreitet ist. Insbesondere nennt man häufig so die bewimperten, frei im Wasser schwimmenden Larven vieler nie- derer Thiere, welche gewissen Infusorien sehr ähnlich sind. Für diese werden die Ausdrücke Schwärm-Embryo , Wimper-Embryo, infusorien- artiger Embryo etc. so vielfältig gebraucht, dass darüber die eigent- hche Bedeutimg des „Embryo" ganz vergessen worden ist. Es ist dies um so mehr zu bedauern, als gar kein zwingendes Moment vorlag, den sicheren und feststehenden Begriff des Embryo aufzugeben. Wir hal- ten daher unbedingt an demselben fest und verstehen ein für allemal unter Embryo ausschliesslich den Organismus innerhalb der Eihüllen, und unter „embryonalem Leben" diejenige Periode der individuel- len Existenz, welche mit der Entstehung des kindlichen Individuums durch den geschlechtlichen Zeugungsakt beginnt und mit seinem Durch- bruch der Eihüllen abschliesst. Diese beiden Momente sind vollkom- men scharf bestimmt und lassen keinerlei Verwechselung zu. Nun ist es ohne Weiteres klar, dass man die gesammte Entwicke- lungsgeschichte des physiologischen Individuums, wie wir deren Umfang soeben bezeichnet haben, in keinem einzigen Falle mit dem Namen der Embryologie belegen darf, falls dieser Ausdruck irgend einen bestimm- ten Sinn haben soll. Denn es giebt keinen einzigen Organismus, des- sen individuelle Existenz sich auf das embryonale Leben beschränkt. Vielmehr erscheint dieses letztere, vom physiologischen Gesichtspunkte aus betrachtet, stets nur als die vorbereitende Einleitung der indivi- duellen Existenz, vom morphologischen Gesichtspunkte aus als die „Re- capitulation der paläontologischen Entwickelung des Stammes", zu wel- chem die durch das Individuum repräsentirte Art gehört. Die Ent- wickelung, welche der Organismus ausserhalb der Eihüllen durchläuft, 22 Begriff und Aufgabe der Ontogenie. ist aber nicht minder Entwickelung, Genesis, als diejenige, welche der- selbe innerhalb derselben durchzumachen hat. Wir werden also bei denjenigen Organismen, welche sich aus einem befruchteten Ei entwi- ckeln, allgemein zu unterscheiden haben zwischen der embryonalen und der postembryonalen Entwickelung, welche beide durch eine unzwei- deutige Grenzmarke von einander getrennt sind. Der Begriff der Em- bryologie ist demnach zu beschränken auf die Wissenschaft von der embryonalen Entwickelung. Dagegen bezeichnen wir die Wissenschaft von der postembryonalen Entwickelung mit dem Namen der Metamorphologie. Embryologie und Metamorphologie als subordinirte Zweige der On- togenie können natürlich nur bei denjenigen organischen Individuen unterschieden werden, welche sich aus einem befruchteten Ei entwi- ckeln, also einem sexuellen Zeugungsakte ihre Entstehung verdanken. Da dies meistens (und nur mit wenigen Ausnahmen) bloss der Fall ist bei Individuen vierter und fünfter Ordnung (Metameren und Personen), seltener auch bei Individuen niederer Ordnung, da ferner auch bei den geschlechtlich zeugenden Arten sehr häufig die sexuelle Zeugung von Bionten mit der geschlechtslosen regelmässig abwechselt (Metagenesis), so kann natürlich bei diesen, wie bei allen denjenigen Speeles, denen die geschlechtliche Zeugung überhaupt fehlt (viele Protisten und nie- dere Pflanzen) , wieder von Embryologie noch von Metamorphologie die Rede sein. Vielmehr müssen wir hier allgemein die Entwickelungsge- schichte der Individuen als Ontogenie bezeichnen. Will man in die- ser noch verschiedene Zweige unterscheiden, entsprechend den drei Ent- wickelungsstadien der Aufbildung (Evolution), Umbildung (Transvolu- tion) und Rückbildung (Involution), so würden diese drei untergeord- neten Theile der Ontogenie allgemein zu bezeichnen sein als Anapla- stologie, Metaplastologie und Cataplastologie. I. Anaplastologie, Aufbildungslehre: Entwickelungsgeschichte des organischen Individuums während der Periode der Aufbildung (Evolu- tion). Dieser Theil der Ontogenie ist derjenige, welcher allen organischen Individuen (erster bis letzter Ordnung) ohne Ausnahme zukommt, da alle ein Stadium der Aufbildung durchmachen, welches vorzugsweise in Wachs- ^ thum und Differenzirung besteht. Es gehört hierher alle Embryologie und derjenige Theil der Metamorphologie, welcher bis zur erlangten Reife sich erstreckt. Die Anaplastologie entspricht mithin der Entwickelungsgeschichte im Sinne der meisten Menschen. II. Metaplastologie, Umbildungslehre: Entwickelungsgeschichte des organischen Individuums während der Periode der Umbildung (Trans- volution). Dieser Theil der Ontogenie fehlt denjenigen organischen Indi- viduen, deren Existenz zugleich mit ihrer Aufbildung abschhesst, z. B. den embryonalen Zellen, den Moneren und vielen anderen Protisten, welche VIII. Eutvvickelung und Metamorphose. 23 sich nach Erlangung der vollständigen Grösse alsbald theilen. Er umfasst hauptsächlich Differenzirungsvorgäuge. III. Cataplastologie, Rückbildungslehre: Eutwickelungsgc- schichte des organischen Individuums während der Periode der Bückbildung (Involution). Dieser Theil der Onlogenie fehlt vollständig bei der grossen Anzahl derjenigen organischen Individuen, welche überhaupt keine Rück- bildung erleiden, vielmehr ihre Existenz mit erlangter Differenzirung ,ab- schliesseu. Dagegen ist er selu- wichtig bei denjenigen Species, welche parasitisch leben. Er umfasst hauptsächlich Degenerationsprocesse. Vm. Entwickelung und Metamorphose. Die Metamorphose oder Verwandelimg und ihre Beziehungen zur Entwickelung der Organismen sind auf verschiedenen Gebieten von den Biologen in einer sehr verschiedenen Bedeutung aufgefasst worden. Die Botaniker verstehen seit Goethe unter „Metamorphose der Pflanzen" die gesammte Entwickelungsgeschichte des Blüthensprosses oder des In- dividuums fünfter Ordnung bei den Phanerogameu , welches denselben morphologischen Werth hat, wie die thierische Persön. Goethe führte 1790 geistvoll den zuerst von C. F. Wolff (1764) ausgesprochenen Ge- danken aus, dass alle wesentlichen Theile der Phanerogamen-Blüthe, mit Ausnahme der Stengelorgane (Axorgane) , nichts Anderes seien , als „umgewandelte, metamorphosirte" Blätter, d.h. verschiedenartig diÖe- renzirte Modificationen eines und desselben Grundorgans, des Blattes. Das Wesentliche in diesem Verwandelungsprocesse der Phanerogamen- Blüthe ist also das Wachsthum und die Differenzirung, auf welcher die gesammte Entwickelung derselben beruht. Die Lehre von der Meta- morphose umfasst daher hier die gesammte Anaplase und Metaplase, und es erscheint nicht nöthig , für diese die besondere Bezeichnung der Metamorphose als eines besonderen ontogenetischen Vorganges beizu- behalten. Vielmehr fällt in diesem allgemeineren Sinne der Begriff der Metamorphose mit dem Begriffe der epigenetischen Entwickelung über- haupt zusammen. In einer wesentlich anderen Bedeutung wird dagegen der Begriff der Metamorphose seit langer Zeit von den Zoologen angewendet. Diese verstehen darimter grösstentheils die auffallenderen Formwandelungen, ') Goethe bestimmte den Begriff der ,, Metamorphose der Pflauzeu" in folgenden Worten (1790): „die geheime Verwandtschaft der verschiedenen äusseren Pflanzentheile, als der Blätter, des Kelchs, der Krone, der Staubfäden, welche sich nach einander und gleichsam aus einander entwickeln — die Wirkung, wodurcli ein und dasselbe Organ sich uns mannichfaltig verändert sehen lässt — das Wachsthum der Pflanze, wodurch gewisse äussere Theile derselben sich manchmal verwandeln und in die Gestalt ^er pächst. liegenden Theile, bald ganz bald mehr oder weniger, übergehen,'^ 24 Begriff uud Aufgabe der Ontogenie. welche zahlreiche, vorzüglich wirbellose Thiere während ihrer postem- bryonalen Entwickeluiig durchmachen, ehe sie ihren Reifezustand er- reichen. Ausgehend von dem am längsten und allgemeinsten bekannten 'Beispiele der Insecten, bei denen Raupe, Puppe und Schmetterling und ebenso Made, Puppe und Fliege als drei auffallend verschiedene und scharf von einander abgegrenzte Entwickelungszustände eines und des- selben organischen Individuums auf einander folgen, belegte man all- gemein die ähnlichen Formfolgen, welche in neuerer Zeit bei so vielen wirbellosen Thieren aufgefunden wurden, und bei denen ebenfalls ein und dasselbe Thier in mehreren auffallend verschiedenen äusseren For- men nach einander erscheint, mit dem Namen der Metamorphose. Da nun aber ähnliche „auffallende" Form Veränderungen , wie sie hier vom Organismus ausserhalb derEihüllen, also in der postembryonalen Zeit, durchlaufen werden, bei vielen anderen Thieren, bei denen dies nicht der Fall ist, innerhalb des embryonalen Lebens durchgemacht werden, so dehnte man späterhin den Begriff der thierischen Metamorphose noch weiter aus und verstand darunter die sämmtlichen auffallenden Form- veränderungen , welche der thierische Organismus während der Auf bil- dungsperiode, der Anaplase, durchläuft. Man konnte demnach zwischen einer embryonalen und einer postembryonalen Metamorphose unterschei- den, wie es auch neuerdings vielfach geschehen ist. Hier würde nun wieder der Begriif der Metamorphose mit dem der individuellen Ent- wickelung überhaupt zusammenfallen, oder man könnte diese letztere höchstens insofern in Ontogenie mit und ohne Metamorphose unter- scheiden, als die Form Veränderungen des sich entwickelnden Indivi- duums bald auffallende und plötzliche, bald unmerkliche und allmäh- liche sind. Da nun aber gerade im embryonalen Leben eine solche Unterscheidung gar nicht durchzuführen ist und da streng genommen alle embryonale Anaplase mit Metamorphose verbunden ist, so müssen wir den Begriff der Metamorphose auf die postembryonale Ontogenie beschränken und denselben auf diesem Gebiete schärfer zu bestimmen versuchen. Ohne nun auf die zahlreichen verschiedenen und sehr divergiren- den Versuche, welche in dieser Beziehung gemacht worden sind, näher einzugehen, wollen wir hier nur denjenigen Begriff der postembryonalen Metamorphose feststellen, der uns allein bei einer vergleichenden Be- trachtung aller Organismen durchführbar zu sein scheint. Wir nennen Metamorphose in diesem engeren Sinne diejenige Art der postembryo- nalen Umbildung oder Entwickelung , bei welcher der jugendMche Or- ganismus, ehe er in die geschlechtsreife Form übergeht, bestimmt ge- formte Theile abwirft; derselbe ist also ausgezeichnet durch den Be- sitz provisorischer Theile (gewöhnlich Organe), welche er später als geschlechtsreifer Repräsentant der Speeles nicht mehr besitzt. Der VIII. Entwickelung und Metamorphose. 25 Verlust dieser provisorischen Theile ist der eigentliche Kern der Metamorphose im engeren Sinne. Diese Theile können sehr ver- schiedenartig sein; gewöhnlich sind es Individuen zweiter Ordnung oder Organe (z. B. die Wimperkränze vieler wirbelloser Larven), oft aber auch Individuen dritter und höherer Ordnung, wie z. B. bei den Ba- trachiern der Schwanz, eine Kette von Metameren. Bei niederen Or- ganismen, welche als geschlechtsreife Bionten nur den Werth von In- ilividueu erster oder zweiter Ordnung haben (z. B. Protisten und nie- dere Algen), können es auch nur Individuen erster Ordnung (Piastiden) ')der selbst nur Theile von solchen sein (z. B. Wimperu, fadenförmige Fortsätze einer Plastide), welche als provisorische Theile abgeworfen oder eingezogen werden und das Wesen der Metamorphose constituiren. Besonders häufig ist die gesammte äussere Körperdecke der provisori- sche Theil und das Wesen der Metamorphose liegt dann in der Häu- tung. Jedoch kann diese nur dann so bezeichnet werden, wenn die alte und die neue Haut wesentliche Verschiedenheiten nicht bloss in der Grösse, sondern auch in Fom und Entwickelung einzelner Theile darbieten. So leicht es übrigens einerseits ist, die Metamorphose als solche da anzuerkennen, wo die provisorischen Theile im Verhältniss zum übrigen Körper durch Grösse und Form sich sehr auffallend aus- zeichnen, so schwierig wird dies andererseits in den ebenfalls häufigen Fällen, wo dieselben im Verhältniss zum Ganzen wenig in die Augen fallen. Hier ist die Grenze zwischen postembryonaler Entwickelung mit und ohne Metamorphose oft vollständig verwischt; so bei sehr vielen Wirbellosen. Ebenso ist es auch oft sehr schwierig, die Metamorphose vom Generationswechsel zu unterscheiden, da nicht selten Fälle vor- kommen, in denen der provisorische Theil, welcher abgeworfen wird, fast denselben moi-phologischen Werth besitzt, wie der Rest dös Kör- ners, welcher sich weiter entwickelt, so dass man beide Theile als ver- schiedene Generationen betrachten könnte. So ist es z. B. bei den Tre- natoden. Aus diesen und anderen Gründen wird es in der ontogene- ischen Praxis oft sehr schwer, die postembryonale Entwickelung mit Metamorphose als solche bestimmt nachzuweisen. Die Entwickelungszustände der metamorphen Organismen, welche lurch den Besitz provisorischer Theile ausgezeichnet sind, hat man ^eit langer Zeit als Larven (Larvae) oder Schadonen (Aristote- es) bezeichnet, die reifen Formen, welche aus der Larve durch die \Ietamoii)hose entstehen, als Bilder (Imagines). Es könnte demnach lie Lehre von den postembryonalen Verwandelungen oder die eigent- iche Metamorphosenlehre auch als Larvenlehre (Schadonologie) i) un- ») Indem wir den Begriff der Schadonologie auf die Lehre von den echten post- ■iiibryonalen Metamorphosen beschränken , corrigiren wir die weitere Fassung des Begriffs, vek-he demselben im dritten Capitel (S. 54) unpassend gegeben war, wo wir denselben 26 Begriff und Aufgabe der Ontogenio. terscliiedeii werdQii. Indessen hat diese Unterscheidung insofern wenig Werth, als sie immer nur einen untergeordneten Theil der Ontogenie bildet, der oft bei nahe verwandten Organismen von äusserst unglei- cher Bedeutung ist. Ebenso wenig Werth besitzt für die allgemeine Ontogenie die Unterscheidung verschiedener untergeordneter Glieder des Larvenlebens, unter denen insbesondere der Ruhezustand der Puppe (Pupa) bei den raetabolen Insecten sich auszeichnet. Je weiter man die Vorgänge der Metamorphose bei den verschiedenen Organismen ken- nen lernt, eine desto grössere Ungleichmässigkeit und Ungleichwerthig- keit derselben stellt sich heraus, was durch die sehr verschiedenen Anpassungsbedingungen zu erklären ist, unter denen die Larvenzustände entstanden sind. Wichtiger ist im Allgemeinen die Unterscheidung zwischen pro- gressiver und regressiver Metamorphose. Diese beiden Formen der echten postembryonalen Metamorphose, obwohl auch bisweilen in ein- ander übergreifend, unterscheiden sich wesentlich dadurch, dass die morphologische Difterenzirung und also die Vollkommenheit des ganzen Individuums im Falle der progressiven Metamorphose grösser ist bei der Imago als bei der Larve; im Falle der regressiven Meta- morphose umgekehrt grösser bei der Larve als bei der Imago. Die fortschreitende oder progressive Verwandlung ist die gewöhnliche Art der Metamorphose; die rückschreiteude oder regressive Verwandlung, welche durch Anpassung an einfachere Existenzbedingungen entsteht, findet sich vorzüglich bei parasitischen Thiereu, z. B. vielen Crustaceen. IX. Genealogische Individualität der Organismen. Ausser der morphologischen und physiologischen Indivi- dualität der Organismen, welche im neunten und zehnten Capitel ge- schildert worden ist, lässt sich auch noch eine genealogische In- dividualität derselben unterscheiden, wie wir im achten Capitel bei der allgemeinen Uebersicht der verschiedenen über die organische In- dividualität herrschenden Ansichten bereits erwähnt haben (Bd. I, S. 262). Bei den vielfachen Versuchen, diesen schwierigen Begriff zu bestimmen, hat man auch die Einheit der Entwickelung als Kri- terium benutzt. Insbesondere ist von Gallesio für die Pflanzen, von Huxley für die Thiere diejenige einheitliche Reihe von zusammenhän- genden Formen, welche aus der Entwickelung eines einzigen Eies her- vorgeht, und welche wir demgemäss am kürzesten als Eiproduct be- zeichnen , als das organische Individuum 7~.a% E^oxriv hingestellt worden. Offenbar sind die genannten Naturforscher zu dieser Bestimmung der als gleichbedeutend mit der Metamorphologie hinstellteu. Die erstere ist aber nur ein Theil der letzteren, ihr subordinirt. IX, Genealogische Individualität der Organismen. \ c^r^ organischen Individualität dadurch gekommen, dass sie von ^^j. j^^ veitem überwiegenden Mehrzahl der höhereu Thiere und Pflauze^ ingen, bei denen die im gewöhnlicheu Sinne als Individuum a.^g_ luochene Formeinheit, nämlich das physiologische Individuum, in V^. hat das Product der Entwickelung eines einzigen Eies ist. Bei allen Wirbelthieren und allen höheren Mollusken, ferner bei ien meisten Arthropoden und einer Anzahl von niederen Weichthie- en, Würmern und Cölenteraten , sowie bei der Mehrzahl der höheren pflanzen, sehen wir in der That, dass jedes physiologische Indivi- uum (welches zugleich dem Individuum im gewöhnlichen Sinne ent- pncht) das Resultat der Entwickelung eines einzigen Eies ist, und lass alle verschiedenen Formen, welche das einzelne Ei im Gange sei- ler Entwickelung durchläuft, zusammen eine continuirliche Kette bil- len, einer einzigen, zwar in der Zeit veränderlichen, aber räumlich ind materiell zusammenhängenden Formeinheit angehören, welche mit (er Geschlechtsreife des werdenden Organismus abschliesst. Hier ent- pricht also das Eiproduct in der That vollkommen der Gesammtheit liier Formen, welche das einzelne Bion durchläuft. Anders aber verhält sich diese Formenreihe, sobald wir zu den liederen Thieren und niederen Pflanzen herabsteigen. Hier fällt verhält- lissmässig nur selten das Eiproduct mit der Formenreihe eines einzi- ;en physiologischen Individuums zusammen. Vielmehr sehen wir, haupt- ächlich durch das häufige Auftreten der ungeschlechtlichen Fortpflan- :ungsweise und ihr Aiterniren mit der geschlechtlichen bedingt, dass ins einem einzigen Eie eine Mehrzahl, oft eine ungeheuere Anzahl von Uonten als physiologische Individuen hervorgehen können ; Bionten, die lald räumlich vereinigt bleiben, bald auch räumlich sich trennen, sich /on einander ablösen können, und die im letzteren Falle Jedermann ils ebenso viele einzelne Individuen betrachten wird, obwohl nicht jede lus einem besonderen Ei hervorgegangen ist. So sehen wir im Laufe ,'ines einzigen Sommers aus einer einzigen Blattlaus -Amme, welche las Product eines einzigen Eies ist, durch innere Keimzeugung Millio- len vollkommen entwickelter und selbstständiger Blattlaus -Individuen lervorgehen, die in jeder Beziehung, mit Ausnahme des Mangels der ieschlechtsorgane , vollkommene Repräsentanten ihrer Art sind, und lie Niemand als Glieder eines einzigen Bion wird betrachten wollen. So sind alle Trauerweiden, die wir in Europa besitzen, auf unge- schlechtlichem Wege (durch Bildung von Ableger-Sprossen) aus einem einzigen weiblichen Baume der Salix babylonica gezogen worden; keine .'inzige ist ein Eiproduct. Sollen wir deshalb alle diese selbstständi- ,^cn Bäume, die über einen ganzen Erdtheil zerstreut sind, als Theile !ines einzigen Individuums betrachten? Wenn wir die geschlechtliche Beugung mit Gallesio und Huxley als das Kriterium der organi- Begriff und Aufgabe der Ontogenie. ochen l^vidualität betrachten, müssen wir dies consequenter Weise thun Allein in diesen wie in sehr vielen anderen Fällen sind diejeui- gejJüdividuen, die auf ungeschlechtlichem Wege, durch Sprossung, laimbildung oder Theilung entstehen, durchaus nicht oder nur in höchst jixergeordneten Beziehungen von dem aus einem Ei hervorgegangenen Individuum zu unterscheiden. Zwar lässt Huxley nur die aus einem Ei entstandenen Thiere als wirkliche Individuen gelten und bezeich- net die ungeschlechtlich erzeugten als „Zooiden". Allein gerade bei den Blattläusen, welche er als Beispiel anführt, ist mit dieser Benen- nung doch wenig geholfen, da der Mangel des vollständigen Geschlechts- apparates bei diesen Zooiden uns gewiss nicht wird bestimmen können, dieselben vom morphologischen Gesichtspunkte aus anders anzusehen, als die geschlechtsreif werdenden Insecten, welche sonst ganz dieselben tectologischen Eigenschaften besitzen. Es wird also, wie wir schon im achten Capitel gezeigt haben , diese Bestimmung der organischen Indi- vidualität sich nicht festhalten lassen, wenn man zu einer anatomischen Begriffsbestimmung derselben gelangen will. Dagegen verdient die organische Individualität, wie sie von Gal- lesio und Huxley als Eiproduct bestimmt worden ist, und wie sie zweifelsohne bei vielen Organismen eine natürliche Entwickelungseinheit darstellt, allerdings Berücksichtigung in der Entwickelungsgeschichte .und wir können die Bezeichnung derselben als Eiproduct mit Vortheil benutzen, wenn es gilt, einen allgemeinen Ueberbhck über die ver- schiedenen Entwickelungsformen der Organismen zu gewinnen. Wir können dann das Eiproduct oder den Eikreis, welcher den ge- schlossenen Formenkreis der geschlechtlichen Zeugung (Cyclus am- phigenes) darstellt, allgemein als ein genealogisches Indivi- duum erster Ordnung bezeichnen, gegenüber der Species und dem Phylon, welche man als genealogische Individuen zweiter und dritter Ordnung auffassen kann (vergl. Bd. I, S. 57). Jedoch bedarf dann der Begriff des Eiproductes einer gewissen J>gänzung, da er nicht auf alle Species anwendbar ist. Der Begriff des Eiproductes ' oder des amphigenen Zeugungski^eises, wie er in dem Individuum von Gallesio und Huxley liegt, würde nur dann auf alle Organismen anwendbar sein, wenn alle Species sich auf geschlechtlichem Wege, wenigstens zeitweise, fortpflanzten. Nun kennen wir aber in den meisten Protisten und in vielen niedersten Pflanzen Organismen, welche niemals zur geschlechtlichen Differenzi- rung sich erheben , sondern ausschliesshch auf ungeschlechtlichem Wege sich fortpflanzen. Es ist dies der Fall bei den meisten Stämmen des Protistenreiches, bei allen Moneren, Protoplasten, Rhizopoden, Diato- meen, Myxomyceten, bei den meisten (wenn nicht allen) Flagellaten, Myxocystoden und einzelligen Algen. Die Erhaltung der Art erfolgt IX. Genealogische Individualität der Organismen. 29 hier lediglich durch Theiluug, Kiiospeiibildiiiig, Keimbildung etc. Zwar ist häufig und auch neuerdings wiederholt das Dogma ausgesprochen worden, dass auch diesen unvollkommensten Organismen eine geschlecht- liche Fortpflanzung zukommen müsse, und uns nur noch nicht bekannt sei; indessen ist dieses Dogma seinem ganzen Wesen nach durchaus falsch und es lässt sich vielmehr, gestützt auf die Descendenztheorie, mit aller Bestimmtheit die entgegengesetzte Behauptung aussprechen, dass nämlich sehr zahlreiche Organismen existirt haben müssen und auch gegenwärtig noch existiren können, welchen die geschlechtliche Fortpflanzung völlig abgeht; denn offenbar kann dieser Process keine m-sprüngliche physiologische Function der Organismen sein, sondern kann sich erst spät durch Differenzirung von Keimen, durch Arbeits- theilung in männliche befruchtende und weibliche befruchtungsbedürf- tige Geschlechtsorgane gebildet haben. Sicher werden lange Zeiträume in der ältesten Erdgeschichte verflossen sein, innerhalb deren sich die autogenen Moneren und ihre differenzirteu Nachkommen lediglich auf dem einfachsten ungeschlechtlichen Wege, durch Theilung und Knos- penbildung, später auch durch Bildung innerer Keime fortgepflanzt ha- ben. Die Differenzirung der Geschlechter ist erst ein verhältnissmässig später Sonderungsprocess einer ursprünglich ungeschlechtlichen Form. Auch steht kein Hiuderniss der Annahme im Wege, dass solche Spe- eles ohne sexuelle Differenzirung noch jetzt existiren und in den auf- gezählten Protisten etc. zu finden sind. Jedenfalls werden wir also den Begriff des Eiproductes, durch wel- chen wir bei den geschlechtlich zeugenden Organismen den geschlosse- nen Cyclus aufeinander folgender Formzustände bezeichnen, der inner- halb der Speeles sich in rhythmischem Wechsel vom mütterlichen Ei bis zum kindlichen Ei beständig wiederholt, nicht allgemein anwenden können. Allerdings existirt der gleiche Cyclus als Entwickelungsein- heit auch bei den geschlechtslosen Speeles. Er wird hier repräsentirt durch die Keihe von Formen, welche zwischen den beiden ungeschlecht- lichen Zeugungsacten eines elterlichen und eines kindlichen Bion mit- ten inne liegt und welche also mit der Entstehung des physiologischen Individuums durch Spaltung (Theilung, Knospenbildung) oder Keimbil- dung beginnt und mit der Spaltung oder Keimbildung desselben Indi- viduums abschliesst. Wir können daher diesen Formenkreis hier all- gemein als Spaltungskreis oder Spaltungsproduct bezeichnen, und es fällt bei diesen Organismen stets der Begriff des physiologischen Individuums, wenn man es nach seiner zeitlichen Existenz beurtheilt, mit dem Begriff" des Spaltungsproductes oder des ungeschlechtlichen Zeugungskreises (Cyclus monogenes) zusammen. Bei den meisten Protisten, ebenso bei den nicht geschlechtlich differenzirteu niöderen Pflanzen, beginnt dieser monogene Zeugungskreis oder Spaltungskreis 30 ' Begriff und Aufgabe der Ontogeuie. mit der Selbsttheilung eines Bionten, oder mit der Entstehung einer Knospe oder Spore, und dauert bis zu dem Momente, in welchem das erwachsene Zeugungsproduct oder das actuelle Bion selbst wieder auf irgend einem ungeschlechtlichen Wege sich fortpflanzt. Das Spaltuugsproduct hat also als genealogisches Individuum er- ster Ordnung für die geschlechtslosen organischen Species dieselbe Be- deutung, wie das Eiproduct für die geschlechtlich dilferenzirte Art. Beide bezeichnen die rhythmisch sich wiederholende Entwickelungsein- heit, aus deren Vielheit sich die Species aufbaut. Beide Generations- kreise zusammen, den ungeschlechtlichen Spaltungskreis und den ge- schlechtlich diiferenzirten Eikreis, können wir allgemein als Zeugungs- product oder Keimproduct bezeichnen, besser vielleicht noch als Zeugungskreis. Dieser Cyclus Generationis ist unser ge- nealogisches Individuum erster Ordnung. Die organische Species oder Art ist nichts als eine Summe von gleichen Zeugungskreisen und setzt sich in ähnlicher Weise aus einer Vielheit von Zeugungskreisen zusammen, wie jeder einzelne Zeugungs- kreis aus einer Vielheit von Formzuständen, welche entweder ein ein- zelnes Bion oder eine Summe von zu einem Cyclus gehörigen Bionten während der Zeit ihrer individuellen Existenz durchläuft. Hierdurch erhalten wir den Begriff der Species als eines genealogischen Individuums zweiter Ordnung. Die Species selbst ist eben so wenig als der Zeugungskreis eine absolute und unveränderliche organische Individualität. Vielmehr än- dert sie ab mit den Existenzbedingungen, unter welchen sie lebt, und durch Anpassung an neue Existenzbedingungen geht sie in neue Arten über. Alle die zahlreichen Arten der drei Reiche, welche jemals auf unserer Erde gelebt haben, sind in dieser Weise, unter dem Einflüsse der von Darwin entdeckten natürlichen Zuchtwahl , im Laufe der Zeit aus einer geringen Anzahl autogener Species hervorgegangen. Diese autogenen Stammformen aller organischen Species können, wie wir im sechsten und siebenten Capitel gezeigt haben, nur structurlose Moneren einfachster Art gewesen sein. So wenig aber die Species und der Zeu- gungskreis eine unveränderliche und geschlossene Entwickelungseinheit ist, so können wir dieselben doch einer vollkommen abgeschlossenen mid natürlichen genealogischen Individualität dritten und höchsten Ranges unterordnen. Diese ist der Stamm oder das Phy Ion, die Summe aller organischen Species, welche aus einer und derselben autogonen Moneren- Form hervorgegangen ist. So gelangen wir zum Begriffe des Phy Ion als eines genealogischen Individuums dritter Ordnung. Wir können demgemäss die Summe aller organischen Entwicke- lungseinheiten in ähnlicher Weise in eine aufsteigende Stufenleiter von genealogischen Individualitäten einreihen, wie wir die Summe aller ana- IX. Genealogische Individualität der Organismen. 31 tomischen Formeinheiten in eine aufsteigende Stufenreihe von morpho- logischen (richtiger anatomischen) Individuen zusammengefasst haben. Wie hier, so entspricht auch dort jede Einheit höherer Ordnung einer Vielheit von Einheiten der nächstniederen Ordnung. Wie jeder ein- zelne Stock eine Vielheit von Personen, jede einzelne Person eine Viel- heit von Metameren ist, so stellt jedes einzelne Phylon eine Vielheit von Species, und jede einzelne Speeles eine Vielheit von Zeugungskrei- sen oder Keimproducten dar. Der einzelne Zeugungskreis selbst aber ist wieder eine Vielheit von morphologischen Individuen, die in der Zeit auf einander folgen, und bei denjenigen Organismen, welche zeit- lebens auf der Piastidenstufe verharren, eine Vielheit von Formzustän- den, welche ein und dieselbe Plastide während ihrer individuellen Exi- stenz durchläuft. Die genealogische Individualität ist demnach nicht, wie die morphologische, eine Raumeinheit, die wir im Momente der Beurtheilung als unveränderlich betrachten, sondern eine Zeiteinheit, die erst durch die geschlossene Reihenfolge ihrer räumlichen Verände- rungen zur Individualität wird. Ohne auf die Naturgeschichte der Species und der Stämme hier näher einzugehen, wollen wir doch schon hier auf ein Verhältniss zwi- schen denselben und den Zeugungskreisen besonders aufmerksam ma- cjien, welches zwar in neuerer Zeit allgemeinere Beachtung, aber doch nur bei sehr wenigen Naturforschern tieferes Verständniss gefunden hat. Dieses äusserst interessante und wichtige Verhältniss, welches wir als eine der grössten und lehrreichsten Erscheinungsreihen der organischen Natur betrachten, ist die dreifache Parallele der drei genea- logischen Individualitäten, d.h. die merkwürdige Uebereinstim- mung in der Stufenleiter von aufeinander folgenden Formzuständen, welche sich zwischen den drei verschiedenen Ordnungen der genealo- gischen Individualität offenbart. In diesem dreifachen Parallelismus der individuellen, der systematischen und der paläontologischen Ent- wickeluug, in der genetischen Analogie des Bion, der Species und des Phylon, erblicken wir einen der unwiderlegiichsten Beweise für die Wahrheit der Descendenztheorie, weil die letztere allein uns diese Pa- rallele mechanisch - causal zu erklären vermag. Die Untersuchung der genealogischen Individualitäten zweiter und dritter Ordnung, der Species und Stämme, bleibt dem sechsten Buche Vorbehalten. Hier beschäftigen wir uns nur mit der Entwickelungs- einheit erster Ordnung, dem Zeuguugskreise oder Generationscyclus, dessen einzelne Formen wir im folgenden Capitel näher betrachten wollen. Entwickelungsgeschichte der physiologischen Individuen. Siebzehntes Capitel. Entwickelungsg-eschichte der physiologischen Individuen. (Naturgeschichte der Zeugungskreise oder der genealogischen Individuen erster Ordnung.) ^ „Die Vergleichung beider Geschlechter mit einander ist, zu tie- ferer Einsicht in das Geheimniss der Portpflanzung, als des wichtig- sten Ereignisses, der Physiologie unentbehrlich. Beider Objecto na- »türlicher Parallelisrnus erleichtert sehr das Geschäft, bei welchem unser höchster Begrifif, die Natur könne identische Organe dergestalt modificiren und verändern, dass dieselben nicht nur in Gestalt und Bestimmung völlig andere zu sein scheinen, sondern sogar in ge- wissem Sinne einen Gegensatz darstellen , bis zur sinnlichen An- schauung heranzuführen ist." Goethe. * I. Verschiedene Arten der Zeugung. Die Entwickelung der organischen Individuen in dem Umfange, welchen wir oben für diesen Begrilf festgestellt haben, dauert ihr gan- zes Leben hindurch; denn das ganze Leben ist eine continuirliche Kette von Bewegungserscheinungen der organischen Materie, welche immer mit entsprechenden Formveränderungen verknüpft sind. Die Er- kenntniss dieser gesammten Formveränderungen, mögen dieselben nun progressive oder regressive sein, ist das Object der Ontogenie, in dem weiteren Sinne, welchen wir dieser Wissenschaft vindiciren. Da die organische Individualität, welche jene Kette von Entwickelungsformen durchläuft, als physiologisches Individuum (Bion) auftritt, so ist die Ontogenie des ganzen Organismus die Entwickelungsgeschichte seiner* physiologischen Individualität. Die Existenz jedes physiologischen Individuums beginnt mit dem Momente seiner Entstehung durch Zeugung und hört auf entweder mit seinem Tode oder mit seinem vollständigen Zerfall in zwei oder meh- rere kindliche Individuen (Selbsttheilung). Wir werden daher die all- gemeine Entwickelungsgeschichte der physiologischen Individuen mit 1 I. Verschiedene Arten der Zeugung. 33 einer allgemeinen Erörterung der Zeiigungserscheinungen anfangen müs- sen, mit denen die Existenz aller organischen Individuen ohne Aus- nahme beginnt. Der Begriff der Zeugung fällt zusammen mit dem Begriff der Entstehung der organischen Individualität. Durch jeden Zeugungsprocess entsteht ein organisches Individuum, welches vorher nicht existirte, und der Moment der Zeugung ist der Moment des Be- ginnes seiner individuellen Existenz und seiner Entwickelung. Alle Zeugung, d. h. also alle Entstehung organischer Individuen, ist ent- weder Urzeugung (Generatio spontanea) oder Elternzeugung (Generatio parentalis). Die letztere geht aus von vorhandenen organischen Indi- viduen, die erstere nicht. A. Urzeiig ii, n g. (Archigonia. Genei-atio spontanea.) Die elternlose Zeugung oder Urzeugung (Generatio spontanea, ori- ginaria, aequivoca, primaria etc.) besteht darin, dass organische In- dividuen erster Ordnung von der einfachsten Beschaffenheit (structur- lose und homogene Moneren) unter bestimmten Bedingungen in einer nicht organisirten Flüssigkeit entstehen, welche die den Organismus zusammensetzenden Stoffe entweder in anorganischen oder in organi- schen Verbindungen gelöst enthält. Wenn die chemischen Elemente, welche zu verwickelten Verbindungen zusammengesetzt den Moneren- Körper constituiren , in anorganischer Form (d. h. zu einfachen und fe- sten Verbindungen, Kohlensäure, Ammoniak, binären Salzen etc.) ver- einigt in der Bildungsflüssigkeit gelöst sind , so nennen wir diesen Mo- dus der Generatio spontanea Autogonie. Wenn dagegen jene Ele- mente bereits zu organischen Verbindungen (d. h. zu verwickelten und lockeren Kohlenstoff -Verbindungen, Eiweiss, Fett, Kohlenhydraten etc.) vereinigt in der Bildungsflüssigkeit gelöst sind, so nennen wir diese Art der Generatio spontanea Plasmogonie. Die elternlose Zeugung in einer „anorganischen" Bildungsflüssigkeit, die Autogonie oder Selbstzeugung, ist derjenige Modus der Ge- neratio spontanea, mit welchem nothwendig das organische Leben auf der fräher unbelebten Erdrinde zu irgend einer Zeit begonnen haben muss. Da uns dieser Vorgang bis jetzt nicht durch empirische Beob- achtung bekannt ist, wissen wir nicht, ob derselbe gegenwärtig noch fortdauert. Nothwendig aber ist der wichtige Deductionsschluss , dass irgend einmal organische Individuen einfachster Art (Moneren) unmit- telbar durch den Zusammentritt einfacher (anorganischer) Verbindungen zu verwickelten (eiweissartigen Kohlenstoff'- Verbindmigen) entstanden sein müssen. In diesem Sinne haben wir den Process der Autogonie im sechsten Capitel eingehend erörtert (Bd. I, S. 179 190). Haiickel, Generelle Morphologie, II, Q ;34 Entwickelungsgesci lichte der phj^siolog'ischeii Individuen. Die andere Art der elternlosen Zeugung, diePlasmogonie oder Piasraazeugung, durch welche organische Individuen einfachster Art ausserhalb bestehender Organismen in einer „organischen" Bildungs- flüssigkeit entstehen, haben wir ebendaselbst bereits einer allgemeinen Betrachtung miterzogen (Bd. I, S. 176). Auch diesen Process, welchen man allgemein als „Generatio aequivoca oder spontanea" bezeichnet (obwohl er nur der eine Modus derselben ist), hat man noch nicht mit Sicherheit beobachtet. Jedoch ist es möglich, und selbst wahrschein- lich, dass derselbe noch jetzt existirt. Die bis jetzt in dieser Bezie- hung angestellten Experimente haben die Existenz der Plasmogonie (welche neuerdings besonders von Pouch et vertlieidigt wird) nicht mit Bestimmtheit nachzuweisen vermocht. Ebenso wenig, oder vielmehr noch weniger haben sie aber die Nichtexistenz derselben (die nament- lich Pasteur vertritt) beweisen können; dieser Beweis ist überhaupt nicht zu liefern (vergl. Bd. I, S. 177). Diejenigen, durch Beobachtung empirisch festgestellten Vorgänge, welche der Plasmogonie am nächsten stehen und dieselbe am besten erläutern, sind die verschiedenen For- men der sogenannten „freien Zellbildung", welche wir als eraplasmati- sche Zellbildung oder Emplasmogonie unten noch besprechen werden; insbesondere die emplasmatische Entstehung neuer Zellen in der durch Histolyse entstandenen formlosen Bildungsmasse der Fliegenlarve, und die emplasmatische .Entstehung neuer Zellen (der Keimbläschen) im Embryosack der Plianerogamen. Der wesentliche Unterschied zwischen dieser Emplasmogonie und der Plasmogonie liegt nur darin, dass dort die formlose organische Substanz, in welcher Piastiden frei entstehen, innerhalb, hier dagegen ausserhalb eines bestehenden Organismus liegt. B. EU er nzeinjung. (Tocogonia. Generatio pareiitalis.) Unter dem Begrifie der elterlichen Zeugung oder Tocogonie fasst man allgemein alle diejenigen Entstehungsweisen organischer Individuen zusammen, welche von bereits bestehenden organischen Individuen aus- gehen. Die Lebensthätigkeit der bestehenden oder elteriichen Indivi- duen, durch welche die neu entstehenden oder kindlichen Organismen hervorgebracht werden, heisst allgemein Fortpflanzung (Propaga- tio). Das Wesen dieses Vorganges als einer Wachsthumserschei- nung haben wir bereits oben erörtert. Indem das Individuum über sein individuelles Maass hinaus wächst, löst sich das überschüssige Wachsthimisproduct in Form eines Theiles von ihm ab, welcher sich alsbald wieder zu einem vollständigen Individuum durch eigenes Wachs- thum ergänzt. Der neu erzeugte, kindliche Organismus (Partus) ist also ein abgelöster Theil des elterlichen Organismus (Parens). Die Ab- lösung kann vollständig oder unvollständig sein. Im ersteren Falle er- I. Verschiedene Arten der Zeugung. 35 hält das neu erzeugte morphologische Individuum durch den Ablösungs- akt die Selbstständigkeit des physiologischen Individuums (Bion), Im letzteren Falle bleibt das kindliche morphologische Individuum mit dem elterlichen mehr oder minder innig verbunden und bildet mit ihm einen Complex oder eine Colonie (Synusia), ein physiologisches Individuum, welches einer höheren morphologischen Ordnung angehört, als die bei- den Componenten. Man pflegt die Tocogonie oder parentale Zeugung allgemein in zwei verschiedene Keihen einzutheilen, unter welche sich alle die zahl- reichen Modificationen , welche dieselbe bei den verschiedenen Organis- mengruppen zeigt, subsumiren lassen: die geschlechtslose oder mono- gene und die geschlechtliche oder amphigone Fortpflanzung. Bei der Monogonie oder ungeschlechtlichen Fortpflanzung ist das einzelne Wachsthumsproduct, welches sich von dem elterlichen Organismus ab- löst, zur Selbsterhaltung und zum selbstständigen Wachsthum befähigt, ohne dazu der Mitwirkung eines anderen Wachsthumsproductes zu be- dürfen. Bei der Amphigonie oder geschlechtlichen Fortpflanzung da- gegen wird das einzelne Wachsthimisproduct erst durch materielle Ver- bindung mit einem zweiten davon verschiedenen Wachsthumsproducte, durch geschlechtliche Veimischung (Gamos) zur Selbsterhaltung und zum selbstständigen Wachsthum befähigt. Die Grenze zwischen diesen beiden, in ihren Extremen sehr abweichenden Fortpflanzungsarten, wel- che früherhin für vollständig verschiedene Zeugungsformen galten, ist durch die neueren Entdeckungen über die Parthenogenesis so sehr ver- wischt worden, dass es schwierig ist, eine scharfe Definition derselben zu geben. Insbesondere haben die Fälle von Parthenogenesis bei den Insecten (Bienen, Psychiden) dazu geführt, als das Kriterium der ge- schlechtlichen Zeugung nicht die materielle Verbindung zweier verschie- dener Individuen zu bestimmen, sondern die Entstehung der Keime, aus denen sich die neuen Individuen bilden, in einem „Geschlechts- apparate"; die in dem „Eierstock" gebildete „Eizelle" soll hier ent- scheidend sein, und es kann diese Ansicht namentlich gestützt werden durch die Betrachtung der Bienen, bei denen eine und dieselbe Zelle, wenn sie befruchtet wird, sich zum Weibchen, wenn sie nicht befruch- tet wird , zum Männchen entwickelt. Indessen ist es nicht möglich, die Geschlechtsorgane und die Geschlechtsproducte, namentlich die Ei- zelle, als solche vom morphologischen Gesichtspunkte irgendwie scharf zu charakterisiren , da bei den niederen Thieren die Bildung der Ge- schlechtsproducte oft nicht auf besondere Organe localisirt ist, und Zel- len, welche morphologisch von Eizellen nicht zu unterscheiden und gleich diesen entwickelungsfähig sind, an den verschiedensten Stellen des Körpers sich bilden können (z. B. bei vielen Hydromedusen). Auch giebt es bei einigen Thieren besondere Keiraorgane, sogenannte „Keim- 3* 36 Entwiokelungsgeschichte der physiologischen Individuen. Stöcke" (z. B. bei den Aphiden, bei den Salpen und anderen Mollus- ken), welche sich in morphologischer Beziehung den Geschlechtsorga- nen sehr ähnlich verhalten und dennoch nicht als solche gedeutet wer- den können. Es bleibt also nichts Anderes übrig, als das Kriterium der geschlechtlichen Zeugung in die materielle Verbindung zweier verschiedener Zeugungsstoffe zu setzen, von denen der weib- liche Zeugungskörper, das befruchtuugsbedürftige Ei (Ovum), erst durch die Berührung mit dem männlichen Zeugungskörper, dem befruchten- den Samen (Sperma), zur Entwickelung befähigt wird. Durch die materielle Verbindung der beiderlei Geschlechtsproducte, die wirkliche chemische Mischung der beiden verschiedenen Stoife, wird die gemischte Uebertragung der Eigenschaften von beiden Eltern auf das Kind be- dingt, welche ebenso für die geschlechtliche Zeugung charakteristisch, wie für die Vererbungsgesetze von der grössten Wichtigkeit ist. 1. Ungesclilechtliche Portpflanzung. (Monogouia. Generatio mowogenea.) Die ungeschlechtliche oder monogene Zeugung (Monogonie) ist da- durch charakterisirt, dass das Wachsthumsproduct des elterlichen Or- ganismus selbstständig entwickeluugsfähig ist, ohne der Befruchtung, der Vermischung mit einem anderen Wachsthumsproducte zu bedürfen. Sie ist auch als Spaltung (Fissio) bezeichnet worden, weil der entwi- ckelungsfähige Theil des Individuums, welcher sich zu einem neuen Individuum entwickelt, sich früher oder später von dem ersteren ab- spaltet, und durch diese unvollständige oder vollständige Spaltung selbst- ständig wird. Indessen scheint es passender, den Begriff der Spaltung auf die beiden Formen der monogenen Fortpflanzung, welche man als Theilung und Knospenbildung bezeichnet, zu beschränken, da die dritte Hauptform derselben, die Sporenbildung, ebenso wie die Bildung der Geschlechtsproducte, mehr auf einer inneren Aussonderung eines ein- zelnen Wachsthumsproductes , als auf einer eigentlichen äusseren Spal- tung des ganzen Individuums beruht. Wir können also allgemein zu- nächst zwei Hauptgruppen unter den verschiedenen monogenen Fort- pflanzungsformen unterscheiden, nämlich I) die Spaltung oder Schi- zogonie (Fission) und II) die Keimbildung oder Sporogonie. Bei der ersteren (Selbsttheilung und Knospenbildung) bleibt das Wachs- thumsproduct entweder dauernd mit dem elterlichen Individuum in Ver- bindung, oder es löst sich (meist äusserlich) von dem parentalen Or- ganismus erst ab, nachdem es schon eine grössere oder geringere Selbst- ständigkeit und Ausdehnung erlangt hat. Meist entspricht dasselbe bereits einem differenzirten Plastidencomplexe, wenn die Abspaltung erfolgt. Bei der Sporogonie dagegen sondert sich das Wachsthumspro- duct (meist innerlich) schon frühzeitig von dem elterlichen Organismus I. Verschiedene Arten der Zeugung. 37 ab, ehe es sich selbststcändig entwickelt hat, und stellt zur Zeit der Ablösung meist eine einfache Plastide dar. In dieser Beziehung er- scheint also die Spore oder Keimplastide nicht sowohl als Spaltungs-, wie als Absonderungsproduct des elterlichen Organismus, und schliesst sich vielmehr den ebenfalls abgesonderten Geschlechtsproducten an, de- nen sie auch in ihren Entwickelungs- und besonders in den Vererbungs- erscheinungen oft näher verwandt ist. Da nämlich die Continuität zwi- schen elterlichem und kindhchem Organismus bei der Theilung und Knospenbildung iimiger ist und längere Zeit hindurch fortdauert, als bei der Sporenbildung und geschlechtlichen Zeugung, so werden auch bei der ersteren die individuellen Eigenschaften des elterlichen Orga- nismus genauer und strenger auf das kindliche Individuum übertragen, als bei der letzteren i). A. Ungeschlechtliche Zeugung durch Spaltung. (Generatio fissipara. Fissio. Schizogonia.) Die Monogonie durch Spaltung (Fissio) ist dadurch charakterisirt, dass das Wachsthumsproduct sich (meistentheils äusserlich) vom elter- lichen Organismus entweder überhaupt gar nicht oder, erst dann ablöst, nachdem dasselbe bereits eine im Verhältniss zu letzterem beträchtli- che Ausdehnung und morphologische Differenzirung erhalten hat. Bei den polyplastiden Organismen stellt dasselbe zur Ablösungszeit bereits eine Mehrheit von Piastiden dar. Die beiden Hauptformen, welche man unter den verschiedenen Modificationen der Spaltung unterschei- det, sind I) die Selbsttheilung oder Divisio und II) die Knos- penbildung oder Gemmatio. Bei der Selbsttheilung ist das die Fortpflanzung einleitende "Wachsthum des Individuums ein totales und es zerfällt dasselbe bei der Spaltung in seiner Totalität, so dass die Theilungsproducte gleichwerthig sind. Bei der Knospenbildung dage- gen ist es ein einzelner Körpertheil des Individuums, welcher durch bevorzugtes Wachsthum zur Bildung einer neuen Individualität (Knospe) 1) Von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet könnte es sogar passender erscheinen, als die beiden Hauptformen der Tocogonie nicht die geschlechtslose und geschlechtliche Fortpflanzung, sondern die Fortpflanzung durch Abspaltung (Fissio) und durch Absonde- rung (Secretio) zu unterscheiden. Für die erstere würde man als das Kriterium entweder die Theilung des Organismus in seiner Totalität oder die Ablösung eines Piastiden - Com- plexes hinstellen müssen, für die letztere die Ablösung einer einzelneu Plastide. Es wür- den dann also unter der Tocogonie folgende Modificationen zu unterscheiden sein: I. Spaltung (Fissio): 1) Selbsttheilung (Divisio); 2) Knospenbildung (Gemmatio). II. Keimabsonderung (Secretio): 1) Einfache oder Ungeschlechtliche Keimbildung (Sporogouia) ; 2) Zweifache oder Geschlechtliche Keimbildung (Amphigonia). 38 Entwickelungsgeschichte der physiologischen Individuen, führt, und diese trennt sich dann von dem elterlichen Individuum un- vollständig oder vollständig, ohne dass dessen eigene Individualität da- durch vernichtet wird. Es sind also die beiden Spaltungsproducte hier ungleichwerthig. Aa. Die Selbsttheilung oder Division. (Generatio scissipara sive divisiva. Divisio. Scissio.) Die Selbsttheilung wird eingeleitet durch ein allseitiges Wachsthum des Individuums, welches bei Ueberhandnahme desselben in seiner To- talität zerfällt und durch den Theilungsprocess selbst vernichtet wird. Die Theilungsproducte sind von gleichem Alter, also coordi- nirt, und auch ihrer morphologischen Bedeutung nach meistens voll- kommen oder doch annähernd gleichwerthig. Aeusserlich beginnt der Theilungsprocess mit der Bildung einer ringförmigen Furche an der Körperoberfläche, welche tiefer und tiefer greift und endlich oft mit der Bildung einer vollständigen Theilungsebene durchschneidet. Indes- sen geht dieser äusserlichen Abschnürung immer als wesentliches Mo- ment des Processes die Bildung zweier neuen Wachsthurascentra in dem decentralisii;ten Individuum vorher. Sehr oft kommt auch die Theilung äusserlich gar nicht als Furchung oder Abschnürung zur Er- scheinung, während sie doch dadurch in gewisser Hinsicht vollständig wird, dass sich eine heterogene Scheidewand zwischen den beiden ho- mogenen I-Iälften ausbildet. Dies ist insbesondere sehr allgemein bei der Selbsttheilung der Piastiden der Fall, Avelche zu Parenchym mit einander verbunden bleiben. Man unterscheidet gewöhnlich vollständige Theilung (Divisio completa), bei welcher die aus der Theilung entstehenden kindlichen Individuen sich gänzlich von einander trennen, und unvollständige Theilung (Divisio incompleta), bei welcher dieselben zu Individuen- complexen oder Synusi'een vereinigt bleiben. Letztere ist ausserordent- lich wichtig, da auf ihr meistens die Bildung der Individuen höherer Ordnung beruht. Ausserdem pflegt man noch, je nach der verschiedenen Eichtung der Theilungsebene zum Körper, Längstheilung und Querthei- lung zu unterscheiden. Da eine schärfere Unterscheidung dieser For- men, als bisher üblich war, für verschiedene Entwickelungsverhältnisse von hoher Bedeutung ist, so wollen wir auf dieselben hier etwas näher eingehen. Zunächst erscheint uns hier besonders wichtig der bisher nicht berücksichtigte Unterschied zwischen der Zweitheilung (Dimidiatio), wobei das Individuum in zwei gleiche Hälften, und der Strahl- theilung (Diradiatio) , bei welcher dasselbe in drei oder mehr gleiche Stücke zerfällt. Die letztere theilen wir wieder ein in paa- rige (artia) und unpaarige Diradiation (anartia). I. VerscWedone Arten der Zongung. 39 I. Die Zweitheilung. (Divisio bifida sive Dinildiatio.) Um die verschiedenen, gewöhnlich nur als longitudinale und trans- versale Theiliing unterschiedenen Zweitheilungs-Formen schärfer zu um- schreiben, ist es nothwendig, auf die Promorphologie der Individuen zurückzugehen. Das Bestimmende für die Unterscheidung und Bezeich- nung der verschiedenen Zweitheilungs-Modificationen finden wir in dem Verhältniss der Theilungsebenen zu der Hauptaxe und zu den Kreuzaxen. Wir können in dieser Beziehung vier verschie- dene Modificationen unterscheiden, nämhch 1) die Stücktheilung, 2) die Längstheilung, 3) die Quertheilung, 4) die Diagonaltheiluug. 1. Die Stücktheilung. (Divisio indefinita sive Partitio.) Die Stücktheilung kommt allgemein bei denjenigen Individuen vor, welche ilirer Grundform nach zu den Anaxonien gehören , bei denen also die Körperform überhaupt nicht zu bestimmen und eine deutliche Axe nicht ausgesprochen ist. Wir finden dies bei vielen Protisten und bei vielen Organen und Piastiden der höheren Thiere und Pflanzen vor. Hier wird also dann der Charakter der Theilung, der sie von der Knos- pung unterscheidet, wesentlich darin zu finden sein, dass die Masse der beiden formlosen Spaltungsproducte gleich oder doch nahezu gleich ist. Die Theilungsebene ist hier vollkommen unbestimmt, da keine eigentliche Axe vorhanden ist, zu der sie eine bestimmte Be- ziehung besitzen könnte. Wenn das formlose Individuum eine kernhal- tige Zelle ist, so wird der Theilungsprocess zugleich dadurch charak- terisirt sein, dass jedes der beiden Theilstücke die Hälfte des vorher getheilten Kernes erhält. Dieselbe Stücktheilung oder Partition ist ferner der ausschliessliche Theilungsmodus bei den vollkommen regel- mässigen Grundformen, den Homaxoni'en (Kugeln), sowie bei den Po- lyaxonien, bei denen mehrere gleiche Hauptaxen vorhanden sind. 2. Die L ä n g s t h e i 1 u u g. (Divisio longitudinalis sive Dicliotomia.) Die Längstheilung findet sich sehr häufig vor bei denjenigen In- dividuen, deren Grundform eine deutlich ausgesprochene Hauptaxe (Läugsaxe) besitzt (Protaxonien). Die Theilungsebene fällt hier stets mit der Längsaxe zusammen. Bei den Zeugiten (allopolen Stauraxonien) , bei denen die beiden Richtaxen verschieden sind, fällt die Theilungsebene ausserdem zugleich mit der Dorsoventralaxe zusam- men, so dass dieselbe durch diese beiden Axen fest bestimmt wird; der Kölker zeifällt bei diesen daher durch die Theilung in eine rechte und linke Hälfte. Die Dichotomie oder Längstheilung ist sehr verbreitet I 40 Entwickelungsgeschiclite der physiologischen Individuen. unter denjenigen Piastiden, welche eine deutliche Längsaxe haben (z. B. die regulären Cylinder-Zellen, Kegel-Zellen etc.). Aber auch bei Indi- viduen höherer Ordnung ist sie in gewissen Abtheilungen sehr häufig, besonders bei den Personen der Anthozoen (bei den Madreporarien und den Zoantharien überhaupt, vorzüglich aber bei den Turbinoliden und Astraeiden). Unter den Infusorien ist sie besonders bei den Vorticel- linen und Ophrydinen verbreitet (jedoch hier neuerdings theilweis als Copulation gedeutet). Unter den Thallophyten ist unvollständige Längs- theilung oder Dichotomie ebenfalls sehr häufig; unter den Phanerogamen dagegen scheint dieselbe nur als Monstrosität vorzukommen, als die sogenannte Fasciation; eine ihrer eigenthümlichsten Formen (den Maeandrinen sehr ähnlich) findet sich bei Celosia cristaia. Die allge- meinste und oft selbst ausschliessliche Form der Fortpflanzung ist die Längstheilung bei den Diatomeen; auch bei vielen anderen Protisten, z. B. Flagellaten , und niederen Algen ist sie häufig. Wenn die Hal- birung unvollständig ist, führt sie in vielen Fällen zur Bildung von sehr regelmässig gabelspaltigen Colonieen, z. B. bei den Vorticellinen, Gomphonemeu, Cocconemen etc., ferner bei den genannten Anthozoen, und bei der Fasciation der Phanerogamen. .3. Die Q u e r t h e i I u n g. (Divisio transversa sive Articulatio divisiva.) Dieser Theilungsmodus ist, wie der vorige, sehr verbreitet bei den- jenigen Individuen, deren Grundfomi durch eine deutliche Längsaxe oder Hauptaxe bestimmt ist (Protaxonien). Die Theilungsebene steht hier immer senkrecht auf der Längsachse. Bei den Zeugiten, bei denen die beiden Richtaxen verschieden sind, fällt die Theilungsebene ausserdem zugleich mit der Lateralaxe zusammen oder läuft ihr parallel. Der Körper zerfällt durch die Quertheilung stets in eine vordere und hintere Hälfte. Dieser Theilungsmodus kommt gleich dem vorigen sehr häufig bei den Piastiden vor, deren Grundform Prot- axon ist. Bei sehr zahlreichen Protisten, niederen Pflanzen (Algen, Nematophyten) und Thieren (Infusorien, z. B. die Ophryoscolecinen, Ilal- tcria; selten bei Würmern) entstehen durch vollständige Querthei- lung neue Bionten. Nicht minder wichtig ist die unvollständige Quertheilung, welche häufig zur Entstehung von Individuen vierter Ord- nung, von Metameren, Veranlassung giebt. Gewöhnlich wird sie hier kurzweg als Articulation oder Gliederung bezeichnet und ist oft sehr schwer zu unterscheiden von der terminalen Knospenbildung, durch welche z. B. die Wirbelsegmente des Vertebraten- Rumpfs, die Zoniten der Articulaten und vieler Coelenteraten , die Stengelglieder der Pha- nerogamen u. s. w. entstehen. Bisweilen sind hier lebhafte Streitigkei- ten darüber geführt worden, ob die Zeugung der Metameren als Quer- I. Verschiedene Arten der Zeugung. 41 theilung oder als Terminalknospenbilduiig zu betrachten sei, so z. B. bei den Naiden , wo auch die Ablösung der Metameren-Ketten, die sich zu selbstständigen Personen entwickeln, von den einen (z. B. Max Schnitze) als Quertheilung , von den anderen (z.B. Leuckart) als Knospenbildung gedeutet worden ist. In beiden Fällen ist das Wesent- liche des Processes ein überwiegendes Wachsthum in der Richtung der Längsaxe, welches entweder durch äussere Bildung eines queren Spaltes oder durch innere Bildung einer queren Scheidewand zur Abgliederung der beiden Metamereii führt. Findet das Wachs thum des Metameres an beiden Polen der Längsaxe statt und zerfällt dasselbe in seiner To- talität in zwei gleichwerthige neue Glieder, so haben wir den Spal- tungsprocess als Quertheilung aufzufassen. Findet dagegen das Wachs- thum des Metameres nur an einem Pole seiner Längsaxe statt, so ver- hält sich das jüngere Wachsthumsproduct gegenüber dem ungleichwer- thigen älteren Hauptstücke als Knospe, und der Spaltungsprocess muss dann als terminale Knospenbildung aufgefasst werden. In beiden Fäl- len ist es gleichgültig für diese Auffassung, ob die Spaltung der beiden Glieder eine vollständige oder unvollständige ist, worauf man früher zu viel Werth legte. Durch fortgesetzte unvollständige Abspaltung von Metameren entstehen Metameren-Ketten vom Werthe der Personen, so- wohl bei bipolarem Wachsthum (Quertheilung), als bei unipolarem Wachsthum (Terminalknospenbildung). 4. Die Schieftheilung. (Divisio diagonalis sive obliqua.) Dieser Theilungsmodus scheint der am wenigsten verbreitete von allen zu sein und ist bisher an freien Bionten nur sehr selten, nur bei wenigen niederen Pflanzen (einigen einzelligen Algen), Protisten (z. B. ChloTogoninw) und Infusorien (z. B. Logenoph-ys) beobachtet worden. Sie unterscheidet sich von allen anderen dadurch, dass sich die Thei- lungsebene unter einem bestimmten schiefen Winkel mit der Längsaxe kreuzt. Bei Clilorogonium findet dieselbe gleichzei- tig wiederholt an einem und demselben Individuum statt und es liegen hier die verschiedenen Theilungsebenen einander parallel. Häufiger findet sich Diagonaltheilung unter den Piastiden des Pflanzen -Paren- chyms vor, wo die Scheidewandbildung zwischen zwei sich theilenden Zellhälften oft unter einem ganz constanten schiefen Winkel gegen die Längsaxe der Zelle gerichtet ist. Viel seltener, als im Gewebe der Pflanzen, ist im Parenchym der Thiere dieser Winkel so constant, dass er sich mit mathematischer Sicherheit bestimmen lässt, so z. B. bei den Knorpelzellen, welche in den sogenannten „fächerig gebauten" Ten- takeln vieler Medusen reihenweise hinter einander liegen. 42 Entwickeluugsgeschichte der ijhysiologiBchen Individuen. II. Die Strahltheilung. (Divisio radialis sive Diradiatio.) Die Strahltlieilung der Individuen oder die Diradiatiiön halten wir für einen äusserst wichtigen und sowohl von den vorher aufgeführten Theilungsformen als von der Knospenbildung wesentlich verschiedenen Theilungsprocess, der aber bisher als solcher, wenigstens in seiner all- gemeinen Bedeutung, nicht gewürdigt ist. Es beruht darauf die Bil- dung der meisten sogenannten „strahligen oder radicären" Formen, also die charakteristische Form der Blüthenknospeu (Personen) bei den al- lermeisten Phanerogamen, der Personen bei den sogenannten Strahl- thieren (Coelenteraten und Echinodermen) etc. Wir haben im vierten Buche gesehen , dass die charakteristische Form aller dieser strahligen oder „regulären" Formen darauf beruht, dass der individuelle Körper aus mehr als zwei, mindestens drei Antimeren zusammengesetzt ist^ welche sich in der Hauptaxe (Längsaxe) berühren. Die Axen, welche in der Mitte der Antimeren, senkrecht auf der Hauptaxe verlaufen, haben wir radiale Kreuzaxen genannt. Der Theilungsprocess durch Diradiation besteht nun im Wesentlichen darin, dass ein nur mit einer Hauptaxe versehener Körper (eine Protaxonform) sich in mehr als zwei, minde- stens drei gleiche Stücke theilt, welche sich in der Hauptaxe berühren. Die Mittellinien dieser Theilstücke sind die Strahlaxen. Es bildet sich hier also nicht, wie bei allen vorigen Theilungsformen, eine einzige Theilungsebene , sondern es entstehen hier stets mehrere, min- destens zwei Theilungsebenen, welche mit der Längsaxe zusammenfallen. Dadurch, dass die Längsaxe in die Theilungs- ebene fällt, schliesst sich die Strahltheilung an die Längstheilung an, welche gewissermaassen den einfachsten Fall derselben darstellt. Die Strahltheilung entfernt sich aber von der liängstheilung und allen an- deren Theilungsarten dadurch, dass durch den Theilungsprocess nicht zwei, sondern drei» oder mehrere Theilstücke entstehen, welche man allgemein als Strahlstücke (Partes radiales) oder Actinomeren be- zeichnen kann. Wenn die Strahltheilung ein Individuum vierter oder fünfter Ordnung betriöt, so nennen wir die Strahlstücke Antimeren oder Gegenstücke; wenn sie ein Individuum zweiter oder erster Ord- nung betrifft, so bezeichnen wir sie als Parameren oder Nebenstücke. So entstehen z. B. als Antimeren durch Diradiation einer Person die sogenannten „Kreisgheder" der Blüthensprosse bei den meisten Phane- rogamen, die „Badialsegmente" vieler Echinodermen und der geglie- derten Coelenteraten (vieler Anthozoen etc.). Ebenso entstehen als An- timeren durch Diradiation eines Metamers die Kadialsegmente von Sten- gelgliedern bei Phanerogamen mit kreuzständigen oder wtelständigeu Blättern. Parameren, welche durch Diradiation eines Organs entstehen. I. Verschiedene Arten der Zeugung. 43 sind z. B. die einzelnen Blätter eines zusammengesetzten handförmigen oder palmatifiden Blattes, die einzelnen fünf Zehen des Wirbel thier- Fusses. Parameren, welche durch Diradiation einer Plastide entstehen, sind die einzelnen divergirenden Fortsätze vieler strahlender oder stern- förmiger Zellen (z. B. Pflanzenhaare, einzellige Algen). Die Diradiation ist meistens eine mehr oder minder unvollständige, so dass die Radial- theile beisammen bleiben. Seltener ist sie vollständig, d. h. mit Ab- lösung der Strahltheile verbunden. Wie wir unter der Zweitheilung oder Dimidiation die vier ver- schiedenen Formen der Stück-, Längs-, Quer- und Diagonal theilung je nach der verschiedenen Lage der Theilungsebene zu den Körperaxen unterschieden haben, so können wir auch nach demselben Princip zwei verschiedene Arten der Strahltheilung unterscheiden, nämlich die paa- rige oder unpaare Diradiation. 1. Die paarige Strahltheilung. (Diradiatio artia s. par.) Die paarige oder artische Strahltheilung besteht darin, dass an einem protaxonien (sehr häufig z. B. konischen oder eiförmigen) Indivi- duum, also einem Körper mit einer Hauptaxe (Längsaxe) sich gleich- zeitig zwei oder mehrere mit der Hauptaxe zusammenfallende (meri- dianale) Theilungsebenen bilden, welche durch den ganzen Körper (in der Richtung von Kreuzaxen) hindurchgehen. Es zerfällt also der Kör- per in doppelt so viel Antimeren (oder Parameren), als Theilungs- ebenen vorhanden sind. Jede Theilungsebene ist hier vollstän- dig interradial und fällt mit def Längsaxe und mit einer Zwischen- strahlaxe zusammen , während in der Mitte der Antimeren (oder Para- meren), die dadurch entstehen, die Strahlaxen verlaufen. Mithin entste- hen durch paarige oder artische Diradiation allgemein diejenigen For- men , welche wir als isopole Homostauren und autopole Heterostauren bezeichnet haben, alle strahligen Formen, deren homotypische Grund- zahl paarig (2n) ist. Es gehören also hierher die Personen-Formen der allermeisten Coelenteraten , insbesondere alle Ctenophoren, die mei- sten Hydromedusen und Anthozoen, ferner diejenigen Blattsprosse (un- geschlechtliche Prosopen) und Blüthensprosse (geschlechtliche Proso- pen) der Phanerogamen , welche eine paarige Grundzahl haben, also z. B. die vierkantigen Stengel init kreuzständigen oder gegenständigen Blättern, die Blüthen mit 4 Antimeren (Cruciferen) und überhaupt mit 2 n Antimeren. Die Differenzirung der gleichartigen radialen Theile (Antimeren oder Parameren), welche sich in der Hauptaxe berühren, kann hier deshalb allgemein als Strahltheilung bezeichnet werden, weil das Individuum in derselben mehr oder weniger vollständig aufgeht. Entwickelungsgeschichte der physiologischen Individuen. 2. Die u Ii p a tt r e S t r a h 1 t h e i 1 u ii g. (Diradiatio anartia s. impar.) Die uiipaare oder auartische Strahltheilung ist der vorigen dadurch entgegengesetzt, dass an einem protaxonien (z. B. kegelförmigen oder eiförmigen) Individuum sich gleichzeitig drei oder mehrere mit der Hauptaxe zusammenfallende (meridianale) Theilungsebenen bilden, wel- che (in der Richtung der Kreuzaxen) nur durch den halben Körper hindurchgehen. Es zerfällt also der Körper in eben so viel Anti- meren (oder Parameren), als Theilungsebenen vorhanden sind. Jede Theilungsebene ist hier halb radial, halb interradial, und fällt mit der Längsaxe und mit einer Halbstrahlaxe zusammen. Die wirkliche Theilung findet nur in der iuterradialen Hälfte der Theilungs- ebene statt, während die radiale Hälfte derselben die Mitte eines An- timeres (oder Parameres) J^ildet. Mindestens drei Theilungsebenen sind hierzu erforderlich. Es entstehen durch diese uupaare oder anartische Diradiation allgemein diejenigen Formen, welche wir als anisopole Ho- mostauren , als Pentamphipleuren etc. bezeichnet haben , alle strahligen Formen, deren homotypische Grundzahl unpaar (2u — 1) ist. Es ge- hören also hierher die Personen-Formen der allermeisten Echinodermen (Pentamphipleura), der dreistrahligen Radiolarien (Triamphipleura), fer- ner diejenigen Blattsprosse und Bltithensprosse der Phanerogamen, wel- che eine unpaare Grundzahl haben, z. B. die Blattsprosse mit dreikan- tigem Stengel, die Blüthen mit 3 Antimeren (die meisten Monocotyle- donen), mit 5 Antimeren (die meisten Dicotyledonen) und überhaupt alle Prosopen mit 2n — 1 Antimeren. Ab. Die Knospung oder Knospenbildung. (Generatio gemmipara. Gemmatio.) Die Knospenbildung oder Gemmation als die zweite Hauptform der Spaltung oder Fission ist, wie oben bemerkt, wesentlich dadurch von der Selbsttheilung verschieden, dass sie durch ein einseitiges (nicht allseitiges) Wachsthum des Individuums eingeleitet wird und dass da- her bei der Abspaltung des einseitig gewucherten Theiles die Indivi- dualität des Ganzen nicht zerstört wird, sondern vielmehr erhalten bleibt. Die Knospungsproducte sind also von ungleichem Werthe und es ist von Anfang an das elteriiche Individuum von dem kindlichen, welches als Knospe aus ihm hervorwächst, verschieden. Die beiden Spaltungsproducte sind bei der Knospung von verschiede- nem Alter, bei der Theilung von gleichem Alter. Bei der letzteren spaltet sich das Individuum in zwei oder mehrere coordinirte, bei der ersteren in zwei oder mehrere subordinirte Theile. Der durch bevorzugtes partielles Wachsthum ausgebildete kindliche Organismus I. Verschiedene Arten der Zoiigimg. 45 oder die Knospe ist dem elterliclieii knospenden Individuum untergeord- net, wenn er auch denselben Grad morphologischer Ausbildung erreicht. Wie bei der Theilung unterscheidet man auch bei der Knospung gewöhnlich nach der verschiedenen Dauer des Zusammenhanges zwi- schen beiden Spaltungsproducten zwei Gemmationsarten : die vollstän- dige Knospenspaltung (Gemmatio completa), bei welcher das kind- liche Individuum, die Knospe, sich vollständig von dem elterlichen ablöst, und die unvollständige Knospenspaltung (Gemmatio in- completa) , bei welcher dieselben als Individuenstock oder Synusie ver- einigt bleiben. Die letztere kommt in ausserordentlich mannichfaltiger Form zur Ausführung, besonders im Pflanzenreiche und bei den Coe- lenteraten, wo die charakteristische Form der Cormen grösstentheils durch die Form der unvollständigen Knospenspaltung bedingt wird. Der Begriff der Knospe (Gemma) ist ein streng physiologischer (so g-ut als der irgend eines anderen Spaltungsproductes) und bedeutet stets ein physiologisches Individuum (Bion), welches von einem vorher bestehenden elterlichen Individuum durch den soeben geschil- derten Spaltmigsprocess, die Knospenbildung oder Gemmation, erzeugt wird. Es ist sehr wichtig, diese einzig durchführbare scharfe Bestim- mung des Begriffs „Knospe" streng festzuhalten, und ebenso sie be- stimmt zu unterscheiden von dem rein morphologischen Begriff des Sprosses (Blastos), welcher sehr häufig, besonders in der Bo- tanik, damit verwechselt wird. Durch diese Verwechselung der beiden ganz verschiedenen Begriffe, welche beide einen scharf bestimmten Um- fang und Inhalt haben, ist schon unendliche Verwirrung angerichtet worden. Der Spross ist von der Knospe ebenso verschieden, wie die Zelle, oder wie der Stock. Der Spross oder Blastos ist, wie wir im neunten Capitel festgestellt haben, das morphologische Individuum fünf- ter Ordnung, die Person oder das Prosopon; bei den Thieren mei- stens als das „eigentliche Individuum", bei den Pflanzen bald als Spross, bald als Knospe bezeichnet. Die Knospe (Gemma) dagegen kann als physiologisches Individuum (Bion). von den morphologischen Individuen aller sechs Ordnungen vertreten werden. Durch Knospung entstehen nicht allein die meisten Sprosse, sondeni auch die meisten Stöcke, die meisten Organe (z. B. Blätter, Extremitäten), sehr viele Zellen und Cy- toden. Alle diese Form -Individuen verschiedenen Ranges können mit Rücksicht auf ihre Entstehung als Knospen (Gemmae) bezeichnet werden. Als die verschiedenen Hauptformen der Knospen werden in der Botanik allgemein die drei Formen der Terminalknospen, Axillarknos- pen und Adventivknospen unterschieden. Wichtiger ist die in der Zoo- logie gebräuchliche Unterscheidung der äusseren und inneren Knospen- bildung, je nachdem die Knospen äusseriich auf der Oberfläche, oder inneriich in einem Hohlraum des elterlichen Individuums entstehen. 46 EntwickelutigBgeschichte der physiologischen Individuen. I. Die äussere Knospenbildung. (Gemmatio externa.) Die äussere Knospenbildung ist weit allgemeiner verbreitet und weit mannichf altiger modificirt, als die innere, und es gehört hierher die grosse Mehrzahl aller Gemmationsformen. Die Knospe ent- steht hier auf der äusseren Oberfläche des elterlichen In- dividuums und wächst über dieselbe in Form eines anfangs sehr klei- nen und einfachen (gewöhnlich kegelförmigen) Höckers hervor, welcher sich mit zunehmender Grösse in Form und Zusammensetzung zu difie- renziren beginnt. Es erhebt sich also hier stets über die Oberfläche des elterlichen Individuums eine Wucherung, ein partielles, locales Wachsthumsproduct , welches sich erst späterhin, nachdem es eine be- stimmte Grösse und Ausbildungshöhe erreicht hat, vollständig oder un- vollständig von dem ersteren ablöst. Bei den Piastiden ist dieser Spaltungsvorgang im Ganzen viel seltener, bei den Personen dagegen viel häufiger, als die Theilung. Die Piastidenknospen sind locale Wu- cherungen der Plastide, welche erst mit der Trennung von der elter- lichen Plastide (durch Scheidewandbildung oder durch Ablösung) den morphologischen Werth eines Individuums erster Ordnung erreichen. Die Knospen von Individuen zweiter und höherer Ordnung sind dage- gen stets Mehrheiten von Piastiden, welche, falls sie durch vollstän- dige Abspaltung sich trennen, schon vorher gewöhnlich durch bestimmte Differenzirungsvorgänge ihre individuelle Selbstständigkeit erreicht ha- ben. Bisweilen entwickelt sich auch bei der äusseren Knospenbildung, wie es öfter bei der inneren geschieht, ein besonderes Knospungsorgau, d.h. ein besonderer Körpcrtheil, welcher gewissermaassen die Knöspungs- function allein, als ein besonderes Individuum zweiter Ordnung, statt des elterlichen Individuums vollzieht. Ein solches besonderes Knos- pungsorgau findet sich als sogenannter „äusserer Knospenstock oder Knospenzapfen" (Blastorganon externum) z. B. bei Doliolum (Tunicaten). Die ärussere Knospenbildung kann, ebenso wie die innere, entweder eine vollständige oder eine unvollständige sein, je nachdem die reife Knospe mit dem elterlichen Organismus in Zusammenhang bleibt oder nicht. Während bei der inneren Knospung die vollständige Ablösung der Knospe die Kegel ist (z. B. Salpen, Medusen), ist bei der äusseren Knospenbildung die bleibende Vereinigung der . gewöhnliche Fall, und es entstehen dadurch die Individualitäten höherer Ordnung, deren jede einzelne eine Mehrheit von coordinirten und vereinigten Knospen m sich begreift. Diese unvollständige äussere Knospung (Gem- matio externa incompleta) findet sich bei Individuen verschiede- ner Ordnungen. So entstehen durch bleibende Vereinigung von ter- minalen Knospen, nämlich hervorgeknospten Metameren, z. B. die I. Verschiedeno Arten der Zeugung. 47 Pei-soneii der Wirbelthiere , der Arthropoden, der höheren Würmer; ebenso die gegliederten Prosopen (Sprosse) der Phanerogamen. Ebenso entstehen durch Beisamnienbleiben von lateralen Knospen, nämlich hervorgeknospten Personen, z. B. die verzweigten Stöcke (Cormen) der Phanerogamen („zusammengesetzte Pflanzen") und der ihnen so ähn- lichen Coelenteraten. Vollständige äussere Knospenbildung (Gemmatio externa completa), d.h. vollständige Ablösung der Knospen, ist viel seltener, und findet sich z. B. bei knospentreibenden Piastiden, bei hervorgeknospten Organen (z. B. Herl ocoiy Ins der Ce- phalopoden, Dorsallappen von Tlieüs)^ bei den durch terminale Knos- pung entstandenen Metameren der Cestoden (Proglottiden) und den ebenso entstandenen Personen der Naiden und anderer Anneliden ; fer- ner bei den durch laterale Knospung entstandenen Infusorien und Medu- sen, und „Brutknospen" (Bulbi und Bulbilli) der Pflanzen, welche den morphologischen Werth von Personen haben oder sich doch bald nach ihrer Ablösung zu solchen entwickeln (z. B. Mnlnm amhogynvvi unter den Moosen, JsjAeiibnn hnlbiferuni unter den Farmen, TAlhim bnlhifervm unter den Monocotyledonen, Denlnria hnlhij'ern unter den Dicotyledonen). Der wichtigste Unterschied , welchen die verschiedenen Formen der äusseren Knospenbildung darbieten, besteht darin, dass die Hauptaxe (Längsaxe) der Knospe in der einen Reihe von Fällen mit der Haupt- axe des elterlichen Individuums zusammenfällt, in der anderen Reihe nicht. Erstere bezeichnen die Botaniker mit dem Namen der Terminal- knospen, letztere mit dem Namen der Lateralknospen. 1. Die Endknospenbilduiig. (Gemmatio termiiialis ) Unter Terminalknospen -Bildung (von vielen Zoologen irrthümlich als Axillarknospenbildung bezeichnet) verstehen wir ein für allemal die Bildung von Knospen (bei Individuen verschiedener Ordnung), deren Hauptaxe (Längsaxe) mit derjenigen des elterlichen Indi- viduums zusammenfällt^). Die ideale oder reale Spaltungsebene steht hier senkrecht auf der Hauptaxe, welche beiden Individuen, dem zeugenden und dem erzeugten, gemeinsam ist. Durch diesen Charak- ter stimmt die Terminalknospenbildung mit der Quertheilung (Divisio transversa) überein, mit welcher sie daher sehr oft verwechselt worden ist, besonders in der Zoologie. Die beiden Spaltungsformen unterschei- 1) Häufig ist allerdings das durch terminale Knospuug entstandene Glied (z. B. bei den „geknieten", d. h. knieförmig gebogenen Stengeln vieler Phanerogamen , caules geni- culati) unter einem bestimmten Winkel gegen das vorhergehende elterliche Glied geneigt, was indessen nur secundäre Folge eines alteruirend ungleichstarken Wachsthums auf ent- gegengesetzten Seiten ist. Ursprünglich ist auch hier jedes neue Glied die unmittelbare Verlängerung des vorhergehenden und aus dem einen Pole seiner Längsaxe hervorge- wachsen. 48 Entwickelungsgeschichte der physiologischen Individuen. den sich aber wesentlich dadurch, dass bei der Quertheilung, die z. B. bei Infusorien und Algen sehr häufig ist, das Individuum als Ganzes (nach beiden Polen der Längsaxe hin, nach vorn und nach hinten) wächst und in seiner Totahtät zerfällt, während bei der Terminalknos- penbildung ein einzelner Endtheil des Individuums (nach einem Pole der -Längsaxe hhi, nach vorn oder nach hinten) wächst und sich als kindliches Individuum von dem elterlichen abgliedert. Beide Spaltungs- producte sind also dort coordinirt und von gleichem Alter; hier dage- gen ist die jüngere Endknospe dem älteren elterlichen Individuum sub- ordinirt. Beide Processe, Endknospenbildung und Querthei- lung, sind also wesentlich verschieden, und das einzige Ge- meinsame zwischen Beiden ist lediglich die sogenannte Gliederung, d. h. die senkrechte Stellung der Längsaxe auf der idealen oder rea- len Spaltungsebene. Wie man daher die Quertheilung als „Gliederung durch Theilung" bezeichnet hat, so kann man die Terminalknospenbil- dung „Gliederung durch Knospung" nennen. Bei der ersteren, der „Articulatio divisiva", mrd das Individuum als solches vernichtet, indem es durch den Theilungsprocess in zwei neue Individuen zerfällt. Bei der letzteren dagegen, der „Articulatio gemmascens", bleibt das elterliche Individuum neben der erzeugten Knospe fortbestehen. Die Terminalknospenbildung hat sowohl im Thierreiche als im Pflanzenreiche eine sehr ausgedehnte Geltung. Es beruht darauf mei- stens die Erscheinung der sogenannten „Gliederung" (Articulatio, Seg- mcntatio, Catenatio), da die Articulatio gemmascens viel häufiger ist, als die Articulatio divisiva. Wenn die Abspaltung der Knospe unvoll- ständig ist, so entsteht dadurch die charakteristische Form der Ketten (Catenae) oder gegliederten Rumpfe und Stengel (Trunci, Caides). Die einzelnen beisammenbleibenden Endknospeu können dann allgemein als Kettengheder oder Stengelglieder (Internodia) bezeichnet werden. Die terminale Gemmation kann, wie die laterale, bei Indivi- duen aller Ordnungen vorkommen. So entstehen z. B. bei vie- len Algen durch Endknospenbildung von Piastiden einfache, ein- reiliige Zellenketten. So entstehen durch Endknospenbildung von Organen echte Organketten, wie sie z! B. die „gegliederten" Extremitäten der Wirbelthiere und Gliederfüsser, die „gefiederten" Blät- ter der Phanerogamen und Farrne darstellen, und wir bezeichnen in diesem Falle die Kettenglieder als Hinterstücke oder Epimeren. Sol- che vollkommen analoge (nicht homologe!) Epimeren sind z.B. die drei Abschnitte der Wirbelthier -Extremitäten, die fünf Abschnitte der Glie- derfüsser (Coxa, Trochanter, Femur, Tibia, Tarsus), die einzelnen Fie- derpaare der gefiederten Blätter etc. Bei weitem die grösste Bedeu- tung hat aber die unvollständige Endknospenbildung als der gewöhnliche und hauptsächliche Entstehungsmodus der Fol- I. Yerschiedene Arten der Zeugung. 49 gestücke oderMetameren. Durch sie entstehen die gegliederten Stämme oder Rumpfe (Trunci) der Wirbelthiere, Gliederthiere und Echi- nodermen; die gegliederten Stengel (Gaules) der Phanerogamen und Farrne. Alle diese zusammengesetzten Individualitäten fünfter Ord- nung oder Personen entstehen durch incomplete terminale Knospung von IndiAäduen vierter Ordnung oder Metameren. Viel seltener ent- stehen dieselben durch echte Quertheilung. Vollständige Abspaltung der terminalen Knospen findet sich seltener, so z. B. bei den Ephyren der Acraspeden, welche sich von der Strobila ablösen, die durch Ter- minalknospung aus dem Scyphistoma entstand; so bei den ganz ana- logen Proglottiden der Taenien, welche sich von der Strobila ablösen, die durch Endknospung aus dem Scolex entstand. Als zwei verschiedene Hauptformen der terminalen Knospung las- sen sich uniparentale und omniparentale unterscheiden. Bei der Gem- matio uniparentalis entstehen alle Glieder der Kette aus einem einzigen, dem ersten Gliede (Strobila der Cestoden und Acraspeden). Bei der Gemmatio omniparentalis entsteht jedes Glied der Kette aus dem vorhergehenden Gliede anternodien der Phanerogamen.) 2. Die S e i t e u k 11 0 s p e n b i 1 d u n g. (Gemmatio lateralis.) Unter Lateralknospenbildung verstehen wir stets nur diejenige Form der äusseren Knospenbildung (bei Individuen verschiedener Ord- nung), bei welcher die Hauptaxe (Längsachse) der Knospe nicht mit derjenigen des elterlichen Individuums zusam- menfällt, sondern vielmehr dieselbe unter einem bestimmten Winkel schneidet. Die ideale oder reale Spaltungsebene schneidet die Längst axe unter einem schiefen (nicht rechten!) Winkel. Durch diese Rich- tung der Spaltungsebene stimmt die laterale Gemmation mit der Dia- gonaltheilung überein. Die Seitenknospe bildet also niemals die ter- ^ minale Fortsetzung („Verlängerung") des Individuums, wie die End- knospe, sondern sie wächst stets seitlich, einer ihr eigenthümlichen, besonderen Hauptaxenrichtung folgend, unterhalb des Endes (des Poles der Längsaxe) aus der seitlichen Peripherie des Individuums hervor. Wie die teiminale, so kommt auch die laterale Knospung bei Individuen aller Ordnungen vor. Es entsteheii so neue iPlastiden (z.B. bei vielen Algen und Protisten); neue Organe (die meisten Blät- ter der Pflanzen, die meisten Extremitäten der Thiere); neue Personen (die meisten „Sprosse" oder Plasten der Pflanzenstöcke). Wie die termi- nale Knospung die grösste Wichtigkeit besitzt für die Bildung der Indivi- duen vierter Ordnung (Metameren), so hat die laterale Gemmation den höchsten Werth füi- die Entstehung der Individuen zweiter, fünfter und sechster Ordnung. Durch seitliche Knospung entstehen als Individuen Hacek Ol, Generelle Morphologie, II. ^ 50 Entwickelungsgeschichte der physiologischen Individuen. zweiter Ordnung insbesondere bei den höheren Thieren viele innere und äussere Organe, bei den Coelenteraten und Pflanzen die meisten Or- gane (Tentakeln der Coelenteraten, Blätter der Pflanzen); durch seit- liche Knospung entstehen bei den Coelenteraten und Pflanzen als In- dividuen fünfter Ordnung die meisten Sprosse (Blasti), welche nicht der Amphigonie oder der Theilung ihren Ursprung verdanken; durch seitliche Knospenbildung entstehen endlich bei den Coelenteraten und Pflanzen als Individuen sechster Ordnung die allermeisten Stöcke (Cormi). Die Botaniker theilen die Lateralknospen fünfter Ordnung (Sprosse oder Elasten) ein in Axillarknospen 0 (Gemmae axillares), welche in der Achsel eines Blattes sich bilden, und in Nebenknospen oder Adventivknospen (Gemmae adventitiae), welche nicht in ei- ner Blattachsel, sondern irgendwo frei an der lateralen Peripherie des Stengels sich bilden. Aehnliche untergeordnete Modificationen der la- teralen Knospenbildung sind mehrfach von den Zoologen (bei den Coe- lenteraten) unterschieden worden, aber meistens in so unlogischer und unbestimmter Weise, dass es nicht lohnt, sie hier aufzuführen. n. Die innere Knospenbildung. (Gemmatio interna.) Die innere Knospenbildung ist viel seltener als die äussere und findet sich vorzüglich bloss bei niederen Thieren vor. Sie ist aber morphologisch von besonderem Interesse als Uebergang von der Spal- tung zur Sporenbildung, und selbst zur geschlechtlichen Zeugung. Die Knospe entsteht hier im Inneren des elterlichen Indivi- duums in einer besonderen Höhle (bei den Salpeu in der Kiemenhöhle, bei den Medusen [Geryoniden, Aeginiden] in der Magenhöhle). Die Knospe wächst aus der Oberfläche der Wand dieser Höhle ganz ebenso in deren Lumen hinein, wie die äussere Knospe über die äussere Ober- fläche des Körpers hervorwächst. Es erhebt' sich hier über die innere Oberfläche zunächst ein kleines (meist kegelförmiges) Wärzchen, wel- ches sich erst mit zunehmender Grösse in äusserer Form und mnerer Zusammensetzung diöerenzirt. Während bei der' äusseren Knospenbil- dung die unvollständige Ablösung der Knospe die Regel ist, finden wir sie hier nur als Ausnahme vor. Daher entstehen durch innere Knos- pung in der Regel keine bleibenden Stöcke. Wohl aber finden mr hier, umgekehrt wie bei der äusseren Knospung, den Knospungsprocess 1) In Leuckarfs Artikel „Zeugung" in R. Wagner's Handwörterbvch der Phy- siologie findet sich (S. 970) der in viele zoologische Schriften übergegangene Irrthum, dass die Terminalknospen (z. B. der Würmer) AxiUarknospen oder „Axenknospen seien. Der Terminus „axinaris" bedeutet aber gerade das Gegenthoil , und ist nicht von Ax« (Am), sondern von Achsel (AxiUa) abgeleitet. I. Verschiedene Arten der Zeugung. . 51 in der Kegel durch ein besonderes, lediglich diese Function erfüllendes Organ des elterlichen Individuums bewirkt, den sogenannten „inneren Knospenstock" oder „Knospenzapfen". Je nach dem Mangel oder der Anwesenheit dieses besonderen „Knospungs-Organes" können wir fol- gende zwei Formen der inneren Knospung unterscheiden. 1. Die innere Knospung ohne Knospenzapfen. (Gemmatio coeloblasta.) Die inneren Knospen wachsen aus der Wand einer inneren Kör- perhöhle (gewöhnlich der Magenhöhle oder eines anderen Abschnittes des Ernährungsapparats) hervor, ohne dass hier ein besonderes Knos- pungsorgan sich findet; so bei niederen Medusen, besonders Aeginiden (z.B. Aegineta prolifera, Gegenbaur). 2. Die innere Knogpung an einem Knpspenz^ipfen. (Gemmatio organoblasta.) Die inneren Knospen wachsen aus einem besonderen Knospungs- organe hervor, dem Knospenzapfen (Blastorganon), welcher aus der Wand einer inneren Körperhöhle (gewöhnlich eines Abschnittes des Ernährungsapparats) entsprosst. Bei den Salpen wächst dieser Knos- penzapfen aus der Wand der Kiemenhöhle in diese hinein, bei den Ge- ryoniden aus der Wand der Magenhöhle (als „Zungenkegel" oder „Zunge"). Bei den Salpen ist es die ungeschlechtliche solitäre Gene- ration, welche an diesem Blastorgane ganze Reihen von geschlechtsreif werdenden Knospen erzeugt, die sich als sociale „Ketten -Generation" ablösen. Bei den Geryoniden ist es die geschlechtsreife Cormarina hastaia, welche an dem Blastorgane (der Zunge) Trauben einer ganz verschiedenen Medusen -Art (Cunina rhodoductyla) hervorbringt. B. Ungeschlechtliche Zeugung durch Keimbildung. (Generatio sporipara. Sporogonia.) Die Sporogonie oder ungeschlechtliche Fortpflanzung durch Keime unterscheidet sich als die zweite Hauptart der Monogonie von der er- sten, der Spaltung, wesentlich dadurch, dass das Wachsthumsproduct im Inneren abgesondert wird und schon sehr frühzeitig, ehe es ent- wickelt und dilferenzirt ist, von dem elterlichen Organismus sich ab- löst. Die Trennung von demselben ist vollständig und erfolgi schon, ehe das locale Wachsthumsproduct eine im Verhältniss zum elterlichen Organismus irgend bedeutende Ausdehnung und morphologische Diffe- renzirung erreicht hat. Von den vorher aufgeführten Formen der Mo- nogonie steht die innere Knospenbildung der Sporogonie am nächsten. Allein dort erreicht die Knospe ßcbon einen weit höheren Grad der 4* 52 Entwickelungsgeschichte der physiologischen Individuen. individuellen Entwickelung, ehe sie sich vom Eltern-Individuum ablöst. Es ist die physiologische Abhängigkeit des kindlichen vom parentalen Organismus bei der Knospenbilduug eine grössere, als bei der Sporo- gonie, während die morphologische Abhängigkeit umgekehrt bei der letzteren grösser erscheinen kann, als bei der ersteren. Die selbst- ständige Centralisation der Spore ist viel bedeutender und beginnt viel früher, als es bei der Knospe der Fall ist. Ein wesentlicher Unter- schied'zwischen Beiden liegt auch darin, dass die innere Knospe in einer Höhle des parentalen Individuums, aber in Contiuuität mit deren Wand, sich entwickelt, während der Keim oder die Spore mitten im Parenchym desselben entsteht, durch Absonderung von der umhüllen- den Parenchymmasse, mit welcher er nur in lockerer Contiguität bleibt. Es ist daher die Sporogonie auch weniger eine Abspaltung (Fissio) als vielmehr eine Absonderung (Secretio), und hierdurch schliesst sie sich, wie oben bemerkt, unmittelbar an die sexuelle Zeugung an, mit wel- cher sie durch die Parthenogenesis fast untrennbar verbunden ist. Die beiden Hauptformen der Sporogonie können mv als polyspore und mo- nospore unterscheiden. Bei der ersteren ist das Absonderungsproduct zur Zeit, wo es sich vom parentalen Organismus vollständig ablöst, eine Mehrheit von Piastiden, bei der letzteren eine einzige Plastide. I, Keimknospenbilduug. (Sporogonia polyspora. Polysporogonia.) Das Wachsthumsproduct, welches, bei der polysporen Sporogonie aus dem Inneren des zeugenden Individuums abgesondert wird, ist ein Plastiden-Complex, eine Einheit von mehreren innig verbundenen Individuen erster Ordnung, welche wir allgemein mit dem Namen der Polyspore bezeichnen .können. Dieselbe schliesst sich unmittelbar an die mehrzelligen inneren Knospen an, von denen sie sich eigentlich nur entweder durch die frühzeitige Trennung (Absonderung) von dem el- terlichen Parenchym oder durch einen geringeren Grad der Differenzi- rung unterscheidet, den sie bei der Ablösung vom parentalen Orgams- mus darbietet. Man hat daher bei einigen Thieren diese innerhch er- zeugten polyplastiden Keime auch wohl als „Brutknospen" (Bulbilh) bezeichnet, welche aber nicht mit den gleichnamigen echten Knospen der Pflanzen zu verwechseln sind. Im Ganzen ist dieser Fortpflan- zungsmodus selten. Er findet sich bei Infusorien und Wtomern, be- sonders Trematoden vor, vielleicht auch bei den Coelenteraten. Auch die Gemmulae der Spongien müssen hierher gerechnet werden. Wenn das letztere, wie wir glauben, berechtigt ist, so können wir zwei ver- schiedene Formen der polysporen Sporogonie unterscheiden narahch eine progressive und eine regressive. Bei der progressiven Polysporo- gonie bilden sich die Polysporen im Laufe der aufsteigenden Entwcke- I. Verschiedene Arten der Zeugung. 53 hing (Anaplase) dadurch, dass mitten im Parencliym des sich entwi- ckeludeu Orgauismus eiiizehie Plastideu - Complexe sich absondern und zu selbstständigen Bionteu ausbilden (Würmer, Infusorien). Bei der regressiven Polysporogonie dagegen entstehen die Polysporen im Laufe der absteigenden Entwickelung oder Rückbildung (Cataplase) dadurch, dass das Parenchym des bereits entwickelten, sich rückbildenden Or- ganismus ganz oder theilweis in einzelne Piastiden -Complexe zerfällt, welche sich absondern und vom Neuen zu selbstständigen Bionten ent- wickeln. 1. Fortschreitende Keimknospenbildung. (Polysporogonia progressiva.) Diese anaplastische Art der polysporen Sporogonie findet sich in sehr ausgezeichneter Weise bei den Würmern und Infusorien, vielleicht auch bei den Coelenteraten. Wir rechnen dahin namentlich die Ent- stehung der Cercarien im Leibe der Sporocysten und Redien bei den Distomeen unter den Platyelmintheu , ferner die Bildung der acineten- ähnlichen SchwärmsprössHnge der Infusorien in denjenigen Fällen, in welchen dieselbe nicht auf geschlechtlichem Wege erfolgt. Auch die merkwürdige Entstehung der in einander geschachtelten Generationen von Gi/i odactylns elegnns kann hierher gerechnet werden. Alle diese Fälle stimmen darin überein, dass sich die Keimknospe oder Polyspore während der Entwickelung oder des Reifezustandes des elterlichen Or- ganismus in seinem Parenchyme absondert. Sie entsteht in der Regel als ein kugeliger oder doch rundlicher Plastidencomplex, welcher zwar mit dem elterlichen Parenchym, von dem er umschlossen ist, durch innige Contiguität verbunden ist, aber doch schon von Beginn seiner Existenz an ein selbstständiges Ernährungs- Centrum, einen autonomen Wachsthumsmittelpunkt bildet. Dadurch unterscheidet sich die pro- gressive Polyspore wesentlich von der inneren Knospe, welche noch längere Zeit nach ihrer ersten Entstehung in unmittelbarer Continuität mit dem elterlichen Individuum und dadurch in grösserer nutritiver Abhängigkeit von demselben verharrt. 2. Bückschreitende Eeimknospenbildung. (Polysporogonia regressiva.) Dieser merkwürdige cataplastische Modus der polysporen Sporo- gonie ist bis jetzt ausschliesslich bei den Spongien bekannt, wo sich derselbe in der Bildung der sogenannten „Gemmulae" äussert. Zu bestimmten Zeiten lösen sich die amoeboiden Schwammzellen, welche das Skeletgerüst des Schwammes überziehen und seine Hohlräume aus- kleiden, von diesem Gerüste ab und sammeln sich in zahlreiche ein- zelne Gruppen. Jede dieser Zellengruppen encystirt sich, indem sie 54 Entwickelungsgeschichte der physiologischen Individuen. sich mit einem kugeligen , festen, dickwandigen Gehäuse umgiebt, wel- ches oft durch besondere Kieselbildungen (Amphidisken) gestützt ist. Da der ganze Schwamm als Bion durch diesen Encystirungsprocess sei- ner Theile vernichtet wird, so haben wir den ganzen Vorgang wesent- lich als eine Cataplase, als einen Rückbildungsprocess zu betrachten. Derselbe ist aber unmittelbar mit der Production zahlreicher Polyspo- ren verbunden. Denn als solche müssen wir zweifelsohne die „Gem- mulae" auffassen. Nachdem dieselben längere Zeit (z. B. den Winter hindurch) in latentem Ruhezustande in ihren Cysten (den Gehäusen oder Schalen der Gemmulae) verharrt haben, kriechen sie durch einen besonderen Porus der Schale wieder hervor und überziehen entweder das alte abgestorbene Schwammgerüste, indem sie sich unter einander verbinden, oder jede Gemmula wächst selbstständig zu einem neuen Spongien - Bion heran. II. Keimplastidenbildung. (Sporogonia monospora. Monosporogonia.) Das Wachsthumsproduct, welches bei der monosporen Sporogonie in dem Inneren des parentalen Organismus sich absondert, ist eine einzelne Plastide, ein Individuum erster Ordnung, welches . schon seit lange mit dem Namen der Spore belegt ist; zwar wird sehr häufig eine grosse Anzahl solcher „Keimkörner" oder Keimpiastiden, wie sie genauer heissen, gleichzeitig abgesondert ; allein jede derselben ent- wickelt sich unabhängig von den anderen zu einem neuen Individuum, ohne sich mit ihnen zu einem Piastiden - Complexe zu verbinden. Die entwickelungsfähige Keim -Plastide oder Spore ist entweder eine Cytode oder eine Zelle. Eine Cytode (also eine kernlose Plastide) ist das so- genannte „Sommer -Ei" der Aphiden, Cocciden und Daphniden, die Spore vieler Protisten (Protoplasten, Rhizopoden etc.) und vieler nie- derer Pflanzen (Algen und Nematophyten). Eine Zelle (also eine kern- haltige Plastide) ist die Spore der meisten sporogonen Pflanzen und Thiere und vieler Protisten (z. B. Myxomyceten, Flagellaten etc.). Die Sporen entstehen entweder an unbestimmten Stellen im Parenchym des Körpers (bei Piastiden mitten im gesammten Protoplasma, so z. B. bei den Protoplasten, Acyttarien) oder an bestimmten Stellen, welche oft zu besonderen Organen diff"erenzirt sind, den Sporenfrüchten oder Keim- organen (Sporocarpia). Die Fortpflanzung durch Keimpiastiden oder Sporen ist in der ganzen Organismenwelt sehr weit verbreitet, besonders aber bei den noch nicht geschlechtlich differenzirten Protisten und niederen Pflan- zen, seltener bei den niederen Thieren (Infusorien und Trematoden) und noch seltener bei höheren Thieren (parthenogonen Crustaceen, In- secten und Bryozoon). Sehr häufig ist die Sporenbildung namentlich I. Verschiedene Arten der Zeugung. 55 bei den wasserbewohneiideii Orgauismen, und hier ist die Spore oft durch besondere Bewegungsorgane (Wimpern) befähigt, sich frei im Wasser umherzubewegen (Schwärmspore) Sehr oft entwickelt sich die Spore noch innerhalb des elterlichen Organismus zum Embryo. Al- lein der Zusammenhang mit dem letzteren ist dann doch bloss ein lo- ckerer, wie bei den Eiern der viviparen Thiere, und die physiologische Selbstständigkeit der Spore als Bion ist von ihrer Absonderung an eben so gross, als bei dem Ei. Wie nun die vollkommene Selbstständigkeit und Entwicklungsfähigkeit der einzelnen abgesonderten Plastide bei der Spore und dem Ei ganz dieselbe ist, so stimmen auch viele Spo- ren mit vielen Eiern wesentlich darin überein, dass sie sich in beson- deren, lediglich zur Bildung der Fortpflanzungszellen bestimmten Or- ganen ausbilden, und sowohl durch Grösse, als durch Form, als durch Bildung besonderer Hüllen, von den übrigen Piastiden desselben Orga- nismus wesentlich unterscheiden. Die Sporenbildungs- Organe, welche einerseits den vorhin erwähnten Knospenstöcken, andererseits den Eier- stöcken morphologisch vollkommen entsprechen und oft kaum zu un- terscheiden sind, werden von den Zoologen gewöhnlich als „Keimstöcke" bezeichnet, besser von den Botanikern als Sporen früchte (Sporo- carpien). Durch alle diese Verhältnisse schliesst sich die Sporogonie so unmittelbar an die sexuelle Fortpflanzung an, dass kein anderes Kriterium zwischen Beiden übrig bleibt, als dass das Ei befruchtungs- bedürftig ist, die Spore nicht. Bei den Bienen wird aber auch diese letzte Grenze dadurch verwischt, dass ein und dieselbe Fortpflanzungs- zelle sowohl als Ei, wie als Spore sich entwickeln kann. Befruchtet entwickelt sie sich als Ei zu einem weibhchen, unbefruchtet als Spore zu einem männlichen Individuum. Will man die Grenze zwischen ge- schlechtlicher und ungeschlechtlicher Fortpflanzung aufrecht erhalten, so ist dies nur dadurch möglich, dass man die wirklich erfolgte Be- fruchtung des Eies, d. h. die thatsächliche Vermischung zweier verschiedenen Zeugungsstoffe, als das Kriterium der ersteren ansieht. Wir werden also auch alle Fälle von echter Par- thenogenesis, wo wirklich unbefruchtete Eier sich entwickeln, zur Sporogonie zu stellen haben. Da wir irgend einen bestimmten und durchgreifenden morphologi- schen Charakter nicht kennen, der alle Eier von allen Sporen unter-' scheidet, da wir eben so wenig irgend einen morphologischen Charak- ter kennen, der alle Sporocarpien von allen Ovarien unterscheidet, so sind wir nicht einmal im Stande, hier zwischen Parthenogenesis und 1} Sehr unpassend werden auch neuerdings wieder die aus befruchteten Eiern hervor- gegangenen bewimperten Larven niederer Organismen (z. B. der Schwämme und Coeleu- teraten) als „Schwärmsporen" bezeichnet. Die Schwärraspore ist aber stets eine einfache Plastide, welche sich ohne vorhergegangene Befruchtung entwickelt, 56 Entwickelungsgeschichte der physiologischen Individuen. echter Sporogonie irgend einen allgemein durchgreifenden Unterschied aufzustellen. Jedoch glauben wir einen hypothetischen Unterschied zwi- schen den bis jetzt bekannten Fällen von Parthenogenesis und der ech- ten Sporogonie in folgender Erwägung zu finden. Offenbar ist die Trennung der Geschlechter ein Differenzirungspro- cess, welcher erst in späterer Zeit der Erdgeschichte entstanden ist, nachdem schon lange Perioden hindurch ungeschlechtliche Fortpflan- zung bestanden und sich durch Theilung und Knospenbildung endlich zur Keimbildung entwickelt hatte.- Man könnte nun vielleicht glauben, in den jetzt bekannten Fällen von Parthenogonie die noch existirende paläontologische Uebergangsstufe von der Sporogonie zur sexuellen Fortpflanzung zu finden. Indessen ist es viel wahrscheinlicher, dass alle bis jetzt bekannten Fälle von Parthenogonie, wenigstens bei den hö- heren Pflanzen^) {Coelehogyne ilicifolia) und Thieren {Aphis, Psy- che, Cecidomyia und vielen anderen Insecten) nicht eine solche noch persistirende progressive Zwischeuform darstellen, sondern durch all- mähliche Rückbildung der amphigenen zur monogenen Fortpflanzung erfolgt sind. Offenbar könnte uns über die wahre Bedeutung der uns bekannten Fälle von Parthenogenesis imr ihre paläontologische Entwi- ckelungsgeschichte Aufschluss geben. Da wir diese aber nicht kennen, müssen wir nach Analogie schliessen, und da ist es das Wahrschein- lichste, dass jene parthenogenetischen, zum Theil sehr hoch entwickel- ten Organismen, deren jetzt lebende niedere Verwandte allgemein sich geschlechtlich fortpflanzen, und deren gemeinsame Voreltern also auch bis zu einer gewissen Zeit hinauf sexuell differenzirt gewesen sind, nur einzelne Ausnahmen darstellen, in denen die Befruchtungsbedürftigkeit der Eier unter gewissen Bedingungen ausgefallen und diese wieder auf den Werth der Spore zurückgesunken sind. Wir glauben also, dass die Voreltern der parthenogenetischen Insecten, Crustaceen, Euphor- biaceen etc., w^enn auch in weit zurückgelegenen Generationen, sexuell differenzirt waren, und dass die einzelnen Rückschläge in den diesen noch vorhergegangenen fmheren Zustand durch Ausfall der Befruch- tungsbedürftigkeit entstanden sind. Wir halten die bekannten Fälle von Parthenogenesis (wenigstens bei den höher differenzirten Organis- men) nicht für progressive, sondern für regressive Uebergangsformen zwischen Amphigonie und Sporogonie und nehmen demnach z. B. an, dass die viviparen parthenogenetischen Blattläuse gegenwärtig Ammen sind, welche in Sporocarpien (Keimstöckea) Sporen erzeugen, während die (vielleicht weit zurückliegenden) Voreltern derselben Blattläuse all- gemein geschlechtlich differenzirt waren, theils Männchen welche Sperma, lieber die Parthenogenesis der Pflanzeu sind die trefflichen Arbeiten von Ale- xander Braun in den Abhandl. der Berl. Alcad. nachzusehen, welclie wir durch die doginatisdicn und kritiklosen Angriffe seiner Gegjier nicht für widerlegt halten. I. Verschiedeue Arteu der Zeugung. 57 theils echte Weibchen, welche in Eierstöcken befmchtungsbedürftige Eier erzeugten. Die Differenzen, welche gegenwärtig zwischen den Eiern der geschlechtlichen und den Keimen (Sporen) der ungeschlechtlichen Generation, ebenso wie zwischen den Eierstöcken der ersteren und den Keimstöcken der letzteren, sowie zwischen der sonstigen Form ihres Geschlechtsapparates existiren (z. B. der Mangel der Samentasche bei den Ammen) erklären sich vollkommen aus den Gesetzen der Descen- denztheorie. Auch der ganze merkwürdige Generationswechsel der Blattläuse erklärt sich von diesem Gesichtspunkte aus vortrefflich, da die geschlechtliche Generation, welche nach einer Reihenfolge von meh- reren ungeschlechtlichen wiederkehrt, uns ja factisch in rhythmischer Wiederkehr die sexuell differenzirte Form vor Augen führt, aus wel- cher sich die parthenogenetischen Generationen erst im Laufe paläon- tologischer Perioden entwickelt haben. Da uns hier ein Rückbildungs- process der Amphigonie vorzuHegen scheint, so können wir erwarten, dass sich die Blattläuse in späteren Zeiten vielleicht ausschliesslich durch Sporen fortpflanzen und also auf den Zustand derjenigen Lepi- dopteren zurücksinken werden, bei denen die Befruchtungsbedürftigkeit der Eier und damit auch das männliche Geschlecht allmählich gänz- lich ausgefallen ist (Psychiden). Wir können demnach wohl allgemein zwei verschiedene Formen der monosporen Sporogonie unterscheiden, nämlich die echte, ursprüng- liche oder progressive und die secundäre oder regressive Monosporo- gonie, welche mit der Parthenogenesis zusammenfällt. I. Fortschreitende Keimplastidenbildung. (Monosporogonia progressiva.) Die progressive Bildung der Keimcytodeu und Keimzellen ist bei den niederen Organismen sehr allgemein verbreitet, unter den Pflanzen insbesondere bei den Algen, Nematophyten (Pilzen und Flechten) und überhaupt den meisten Cryptogamen. Unter den Protisten finden wir dieselbe bei den Myxomyceten, Flagellaten, Rhizopoden, Protoplasten (Pseudonavicellen der Gregarinen) etc. Die progressive Monosporogonie wird gewöhnlich als „Sporenbildung" y^ax e^oxijv bezeichnet, und die dadurch erzeugte Keimplastide als Spore, genauer, als Monospore. Bald ist dieselbe eine kernlose Cytode, bald eine kernhaltige Zelle. Bei vielen niederen Organismen ist die Monosporogonie die einzige Art der Fortpflanzung (viele Protisten und einzellige Algen), tei anderen ist sie durch Generationswechsel mit Amphigonie verbunden (die meisten Cryptogamen). Morphologische Charaktere, welche die Monospore all- gemein von dem Ei unterscheiden, existiren nicht. Das Ei ist bloss dadurch von der Keirnplastide verschieden, dass es zu seiner Entwicke- lung der Befruchtung durch das Sperma bedarf. 58 Entwickelungsgeschichte der physiologischen Individuen. n. Eückschreitende Keimplastidenbildung. (Monosporogonia regressiva.) Die Bildung von Keim - Cytoden oder Keimzellen bei höheren Or- ganismen, deren Stammeltern sexuell differenzirt waren, findet sich als echte Parthenogonie bei vielen Bryozoen, Insecten und Crustaceen, einigen Euphorbiaceeu und Cryptogamen. Wahrscheinlich ist sie durch natürliche Züchtung aus geschlechtlicher Zeugung entstanden ^) und da- durch nach unserer vorher begründeten Ansicht wesentlich von der vor- hergehenden progressiven Monosporogonic verschieden. Erst in den letzten Jahren genauer untersucht, hat sich diese regressive Monospo- rogonie schon bei einer beträchtlichen Anzahl von Articulaten und an- deren Wirbellosen nachweisen lassen. Seltener scheint sie im Ganzen bei den Pflanzen zu sein, wo als ganz sichere Beispiele nur die merk- würdige Euphorbiacee Coelebogyne ilicifolia und die Cryptogame C/iara crinita durch Alexander Braun 's treffliche Untersuchungen festge- stellt sind. Die Spore, genauer Mouospore, ist auch hier bald eine kernlose Cytode (bei den Aphiden, Cocciden, Daphniden), bald eine kernhaltige Zelle (die „Sommer-Eier" der Rotatorien und Bryozoen), die unbefruchtet sich entwickelnden „Eier" (also „falsche Eier"!) der Psychiden und Bienen. Sehr oft entstehen die Monosporen in beson- deren Organen, den Sporenstöcken (Sporocarpia), welche offenbar rückgebildete Ovarien sind und deutlich beweisen, dass die Parthe- nogonie durch Rückbildung aus der Amphigonie entstanden ist. 2. Gesclilechtliche Portpflanzung. (Amphigonia. Generatio digenea.) Die geschlechtliche oder digene Zeugung (Amphigonia) lässt sich, wie wir im Vorhergehenden gezeigt haben, nur dadurch scharf charak- terisiren, dass wir als Kriterium derselben die Vermischung zweier ver- schiedener Stoße festhalten, welche von zwei verschiedenen Individuen oder von zwei verschiedenen Theilen (Geschlechtstheilen) eines und des- selben Individuums producirt sind. Der weibliche, befruchtungsbedürf- tige Geschlechtsstoff erscheint meistens in der organisirten Form emer einzigen Zelle, des Eies (Ovum), welche in mehrfacher Beziehung (wie die Spore) durch Grösse, Form, Zusammensetzung, Umhüllung etc. vor ') Für die VorsteUuug, dass die Parthenogeuesis der höhereu Organismeu durch Rüclcbildung aus der sexueUen Zeugung ihrer Voreltern entstanden sei, erinnern yar daran, dass jede Diflferenzirung , also auch die geschlechüiche , nicht bloss mit Vorthei- len, sondern auch mit Nachtheilen verbunden ist, und dass also auch die geschlechthch rtifferen/.irten Individuen, welche ausschliesslich durch Amphigonie sich fortpflanzten, ge- wisse Nachtheile im Kampfe um das Dasein gehabt haben Werden, gegenüber denjenigen Individuen, welche zuerst wieder anfingen, sich durch Sporen fortzupflanzen. I. Verschiedene Arten der Zeugung. 59 den übrigen Piastiden desselben Organismus besonders ausgezeichnet ist 1). Seltener erscheint der weibliche Zeugungsstoff nur als ein form- loser und structurloser homogener Plasmaklumpen (bei einigen Proti- sten, die durch Copulation zeugen), also auf der einfachsten Stufe der Plastidenentwickelung, der kernlosen Cytode. Wir können diese, zum Unterschiede von der Eizelle, Ei-Cytode nennen. Bisweilen scheint der weibliche Zeugungsstoff nicht eine einzige Plastide, sondern ein Plasti- denaggregat darzustellen. So ist bei den Insecten nach den Beobach- tungen von Stein und Lubbock, welche Weismann neuerdings be- stätigt hat, das Ei wirklich aus mehreren Zellen zusammengesetzt. Wir können also allgemein drei Ausbildungsformen des weiblichen Zeu- gungsstoffes oder Eies unterscheiden, nämlich: 1) die Eicytode, 2) die Eizelle , 3) den Eizellenhaufen. Ebenso erscheint auch der männliche, befruchtende Geschlechtsstoff, der Same (Sperma), auf drei wesent- lich verschiedenen Ausbildungsstufen, nämlich 1) als Samencytode, 2) als Samenzelle, 3) als Zoosperm (Samenzellentheil). Die Samencytode ist ein formloser und structurloser homogener Plasmaklumpen und findet sich bei einigen durch Copulation zeugenden Protisten; er stellt hier die einfachste Stufe der Plastidenentwickelung dar, die kernlose Cytode, eben so wie der entsprechende weibliche Stoff, mit dem er sich bei der Copulation vermischt. Als kernhaltige Samenzelle tritt der befruch- tende männliche Zeugungsstoff auf bei den meisten Crustaceen und den Phanerogamen (hier Pollenkorn genannt) , ferner auch bei gewissen Al- gen; als Zoosperm oder Samenfaden endlich, d. h. als frei beweglicher Faden, welcher durch Umbildung eines Theils einer Samenzelle ent- steht, bei ' den meisten Thieren, den Spongien unter den Protisten und den meisten Cryptogamen. Männliches Geschlechtsproduct (Sperma) und weibliches Geschlechtsproduct (Ovum) kann man allgemein, ohne Rücksicht auf ihre morphologische Eigenthümlichkeit, als Geschlechts- producte (Producta genitalia) bezeichnen. Die verschiedenen Formen der geschlechtlichen Fortpflanzung un- terscheiden sich zunächst am meisten durch die Vertheilung oder Ver- einigung der beiden Geschlechtsproducte, Ei und Samen, auf verschie- dene Individuen. Man pflegt hiernach allgemein „Individuen mit ver- einigten Geschlechtsproducten" (Zweigeschlechtige, Bisexuales, Zwit- ter oder Hermaphroditen) und „Individuen mit getrennten Geschlechts- producten" (Getrenntgeschlechtige oder Eingeschlechtige, Unisexua- les) zu unterscheiden. Die Botaniker unterscheiden ferner zwischen monoecischen und dioecischen Pflanzen. Monoecische oder einhäu- sige sind solche unisexuelle Pflanzen , bei denen beiderlei eingeschlech- tige Individuen (d. h. Blüthen , Individuen fünfter Ordnung) auf einem Von deu Botanikern wird die EizeHe gewöhnlicli als Keimbläschen bezeichnet, während die Zoologen hierunter den Kern der Eizelle verstehen. 60 Entwickelungsgeschichte der phyBiologischen Individuen. und demselben „zusammengesetzten Individuum" (d. h. auf einem In- dividuum sechster Ordnung oder Stock) vereinigt sind. Dioecische oder zweihäusige sind solche unisexuelle Pflanzen, bei denen beiderlei eingeschlechtige Blüthen auf verschiedene Stöcke vertheilt sind. Die- selbe Unterscheidung monoecischer und dioecischer Stöcke ist auch bei den Coelenteraten, insbesondere den Authozoen, welche den „zusam- mengesetzten Pflanzen" in ihrer Stockbildung so auffallend gleichen, von einigen Zoologen richtig gemacht worden. Man kann also zunächst unter den Organismen allgemein Monoecisten und Dioecisten unter- scheiden , je nach der Vertheilung der beiderlei Geschlechtsproducte auf eines oder auf verschiedene Individuen sechster 0,rdnung (Stöcke), und unter den Monoecisten wiederum Bisexuelle und Unisexuelle, je nach der Vertheilung der beiderlei Geschlechtsproducte auf eines oder auf verschiedene Individuen fünfter Ordnung (Personen, Blüthensprosse). Diese Unterscheidung ist aber insofern ungenügend, als dabei die Ver- theilung der beiderlei Geschlechtsproducte auf eines oder auf verschie- dene Individuen der niederen Ordnungen (vierter, dritter, zweiter Ord- nung) nicht berücksichtigt ist. Wie man überhaupt bisher diese nie- deren Individualitätsgrade, die doch für das Verständniss des ganzen Organismus so wichtig sind, nicht gehörig unterschieden hat, so ist auch jenes besondere Verhältniss ihrer geschlechtlichen Difl'ereuzirung meist gänzlich übersehen oder doch nicht richtig beurtheilt worden, und daher, besonders in der Zoologie, eine ungemeine Verwirrung in der Auffassung der Geschlechtsverhältnisse eingerissen. Bei den Coe- lenteraten z. B. weiss Niemand mehr, was er unter vereinigten und getrennten Geschlechtern verstehen soll, da diese Ausdrücke bunt durch einander für mouoecische und dioecische, unisexuelle und bisexuelle Or- ganismen, und ausserdem ohne alle Unterscheidung der Geschlechts- verhältnisse bei den Individuen niederer Ordnung gebraucht werden. Daher erscheint es uns unerlässlich , diese Begriöe scharf zu bestim- men und das Verhältniss der Vereinigung oder Trennung der Geschlechter bei den Individuen aller Ordnungen scharf zu unterscheiden. Wir bezeichnen demnach ganz allgemein zunächst die Vereinigung der beiderlei Genitalproducte auf einem Individuum (gleichviel welcher Ordnung) als Zwitterbildung oder Hermaphroditismus. Jedes Individuum (irgend einer Ordnung) als Zwitter (Hermaphroditus) vereinigt in sich beiderlei Geschlechtsstoffe, Ovum und Sperma. Der Gegensatz hierzu ist die Trennung der Genitalien, die Vertheilung der beiderlei Geschlechtsstoffe auf zwei Individuen (gleichviel welcher Ord- nung), welche wir als Geschlechtstrennung oder Gonochoris- mus bezeichnen »)• Jedes Individuum irgend einer Ordnung als Nicht - 1) yovY]', "n, Genitale, Geschlechtstheil ; fwp^UTÖi, geti-ennt. Wir führen dieses neue 1. Verschiedene Arten der Zeugung. 61 Zwitter (Gonochoristus) besitzt nur einen von beiden Geschlechts- stoflFen, Ovum oder Sperma. Das getrenntgeschlechtliche Individuum mit Ovum, ohne Sperma, wird allgemein als weibliches (femininum), das nichtzwitterige Individuum mit Sperma, ohne Ovum, als männli- ches (masculinum) bezeichnet. Das weibliche Individuum fünfter Ord- nung (weibliche Person, weibliche Blüthe) ist das Weib (femina); das männliche Individuum fünfter Ordnung ist der Mann (mas). Der Go- nochorismus kommt bei Individuen aller sechs Ordnungen vor. Der Hermaphroditismus kommt sicher bei allen fünf höheren Individuali- tätsordnungen vor; dagegen ist es zweifelhaft, ob er auch der ersten zukömmt. Indem wir die zwölf möglichen verschiedenen Fälle des Go- nochorismus und Hermaphroditismus einzeln betrachten, finden wir das Gesetz , dass immer der Hermaphroditismus -einer bestimmten Indivi- dualitätsordnung mit Gonochorismus einer niedrigeren Ordnung ver- bunden ist, I. Geschlechtsverhältnisse der Piastiden (Cytoden und Zellen). la. Hermaphroditismus der Piastiden. Zwitterbildung der Individuen erster Ordnung. Die beiderlei Geschlechtsstoffe sind in einem Indivi- duum erster Ordnung (Plastide) vereinigt. Der Hermaphroditismus der Piastiden ist von den zwölf möglichen Fällen, welche uns die zweifach verschiedenen Geschlechtsverhältnisse der Individuen von sechs verschiedenen Ordnungen darbieten können, der einzige, dessen Existenz nicht ganz sicher nachgewiesen ist. Es ist uns kein Fall mit Sicherheit bekannt, dass eine und dieselbe Pla- stide (sei es nun eine Cytode oder eine Zelle) beiderlei Geschlechts- stoflfe in sich erzeugt hätte. Weder bei den Thieren, noch bei den Pro- tisten , noch bei den Pflanzen sind unzweifelhaft zwitterige Cytoden oder Zellen beobachtet worden, d. h. einzelne Piastiden, die in einem Theile ihres Leibes weibliche, in einem anderen männliche Zeugungsstotfe pro- ducirt hätten. Selbst bei den einzelligen Algen, welche geschlechtlich zeugen, entstehen entweder die beiden Geschlechtsproducte in zwei ver- schiedenen Individuen (Zellen), oder wenn ein einzelnes Individuum sie beide erzeugt, geschieht dies in besonderen Abtheilungen der Zelle, welche sich vorher durch Scheidewände von den übrigen Theilen der Zelle getrennt haben, also im Grunde selbst schon wieder selbststän- dige Zellen darstellen. Vielleicht findet sich jedoch wirklicher Wort hier ein, weil es bisher seltsamer Weise giinzlieh au einer allgemeinen Be- zeichnung der Geschlechtstrennung mangelte, während man für die Zwitterbildung de- ren mehrere besaas (Hermaphroditismus, Androgynie). 62 Entwickelungsgeschichte der physiologischen Individuen. Hermaphroditismus der Piastiden bei einem Theile derjenigen niederen Pflanzen (Desmidiaceen und Zygnemaceen) , Protisten (Grega- rinen) und Thiere (Infusorien), welche durch Conjugation und Co- pulation zeugen. Bekanntlich besteht dieser Process darin, dass zwei Individuen erster Ordnung oder Piastiden (bald Zellen, bald Cytoden) mit einer Stelle ihres Leibes sich an einander legen, hier verwachsen und endlich theilweise oder vollständig verschmelzen. Die vollstän- dige Verschmelzung, bei welcher aus zwei Individuen Eines wird, be- zeichnet man als Copulatiou (z. B. bei Gregarinen und anderen Pro- toplasten, Ehizopoden, einigen Infusorien); dagegen die unvollstän- dige Verschmelzung, bei welcher die Individualität der beiden ver- schmelzenden Piastiden mehr oder weniger erhalten bleibt, als Con- jugation (z. B. bei den Conjugaten [Zygnemaceen, Desmidiaceen]). Das Resultat dieser Verschmelzung ist die Bildung einer einzigen oder meh- rerer, zur selbstständigen Entwickelung fähiger Piastiden, welche man gewöhnhch als Sporen bezeichnet. Nach unserer Auffassung ist die besonders von de Bary aufgestellte Ansicht die richtigere, dass wir es hier mit einer wirklichen geschlechtlichen Zeugung zu thun haben, und das.Product derselben, die Zygospore, ist demnach nicht als Spore, sondern als sexuelles Zeugungsproduct , als „befruchtetes Ei" zu bezeichnen. Oftcnbar ist das AVesentliche dieses Processes, wie bei jeder geschlechtlichen Zeugung, die Vermischung zweier verschie- denen Stoffe, welche zur Bildung eines neuen Individuums führt. Von den übrigen Formen der geschlechtlichen Zeugung ist die Copu- lation und Conjugation nur dadurch verschieden, dass diese beiden ver- schiedenen Geschlechtsstoffe nicht geformt sind, und gerade hierin liegt für uns die grosse Bedeutung derselben, da sie offenbar den pri- mitivsten Anfangszustand der Amphigonie repräsentiren , der sich un- mittelbar an die ungeschlechtliche Sporogonie anschliesst. Man könnte nun wohl daran denken , dass bereits in den noch nicht zur Copulation oder Conjugation gelangten Piastiden eine Sonderung des Plasma in zweierlei verschiedene Zeugungsstoö'e eingetreten sei, und es würde dann der Process der Copulation und Conjugation selbst als eine wech- selseitige Befruchtung zweier hermaphroditischer Indivi- duen erster Ordnung aufzufassen sein, wie wir dieselbe sehr häufig bei zwitterigen Individuen höherer Ordnung (z. B. den Schnecken) fin- den. Insbesondere könnte hierführ angeführt werden , dass unter Um- ständen auch die einzelnen Individuen, welche gewöhnlich conjugiren (z. B. Zygnemeu) oder copuliren (z. B. Gregarinen) selbstständig „Spo- ren" in ihrem Inneren erzeugen können. Indessen muss es voriäufig zweifelhaft bleiben, ob hier eine Selbstbefruchtung einer hermaphrodi- tischen Zelle, oder eine Parthenogenesis, die schon zur Sporogonie zu rechnen sein würde, voriiegt, da wir noch nicht im Stande gewesen L Verschiedene Arten der Zeugung. 63 sind, die Verschiedenheit der beiderlei Zeiigungsstoffe in den einzelnen copiilirenden und conjugirenden Individuen (weder in chemischer, noch in moi-phologischer Beziehung) zu constatiren. Aus diesen Gründen kön- nen wir daher nicht mit Sicherheit die (jetzige) Existenz eines Herma- phi-oditismus der Piastiden annehmen, und es würden demnach sämmt- liche Fälle von Amphigonie, von geschlechtlicher Differenzirung der Piastiden, als Gonochorismus derselben zu betrachten sein. Ib. Gonochorismus der Plastiden. Geschleehtstrennung der Indivi4ueji erster Ordnung. Die beiderlei Geschlechtsstoffe sind auf zwei verschie- dene Individuen erster Ordnung (Plastiden) vertheilt. Dieser Fall der Geschlechtstrennung ist der allgemeinste von allen sechs möghchen Fällen des Gonochorismus, und wenn ein Hermaphro- ditismus der Plastiden nicht existirte, so würden eigentlich sämmtliche Fälle der geschlechtlichen Differenzirung und Zeugung überhaupt hier- her zu ziehen sein. Denn bei allen sexuellen Individuen zweiter und höherer Ordnung, mögen dieselben nun Hermaphroditen oder Gonocho- risten sein, finden wir die beiderlei Geschlechtsproducte von verschie- denen Individuen erster Ordnung erzeugt. In allen uns bekannten Ge- schlechtsorgauen giebt es männliche und weibliche Plastiden (selten Cytoden, meistens Zellen) neben einander, aber keine Plastiden, welche zugleich männliche und weibliche Geschlechtsstoffe bildeten. Zwitterige Zellen sind bisher so wenig innerhalb eines Geschlechtsorgans, als in frei lebenden monoplastiden Organismen beobachtet worden. Wenn wir also von den so eben erwähnten möglichen Fällen des Hermaphroditis- mus bei copulirenden und conjugirenden Plastiden absehen, so würden wir den Gonochorismus der Plastiden als allgemeine Eigenschaft sämmt- licher amphigoner Organismen ansehen können. GewöhnHch sind die geschlechtlich differenzirten Individuen erster Ordnung Zellen, selte- ner Cytoden (bei manchen Algen). Die weibliche Geschlechtszelle er- zeugt gewöhnlich ein einziges Ei, d. h. sie wandelt sich in ihrer Tota- lität in ein Ei um. Seltener bildet dieselbe einen Zellencomplex, z.B. bei den Insecten- Eiern. Die einzelne männliche Geschlechtszelle (Sa- menzelle) dagegen erzeugt sehr häufig einen Complex von mehreren Zoospermien (besonders bei den höheren Thieren); anderemale fungirt sie in ihrer Totalität (Crustaceen, Pollenkorn der Phanerogamen). Die Formen -Mannichfaltigkeit der Zoospermien bei den verschiedenen Or- ganismen ist ausserordentlich gi'oss. Besonders bemerkenswerth ist die auffallende Aehnlichkeit der fadenförmigen beweglichen Zoospermien bei den Cryptogamen und den meisten Thieren. Ebenso zeigt auch die Form der Eizelle, und besonders ihre Hüllenbildung, bei Pflanzen luid Thieren mannichfache Analogieen. 64 Entmckelungsgeschichte der physiologischen Individuen. II. Geschlechtsverhältnisse der Organe. IIa. Hermaphroditismus der Organe. . Zwitterbildung der Individuen zweiter Ordnung. Die beiderlei Geschleclitsproducte sind in einem Indi- viduum zweiter Ordnung (Organ) vereinigt. Die Zwitterbildung der Organe ist im Ganzen selten, da bei den meisten hermaphroditischen Organismen die beiden Geschlechtsstoffe auf zwei verschiedene Individuen dritter oder höherer Ordnung vertheilt sind. Doch finden wir in sehr ausgezeichneter Weise beiderlei Zeu- gungsstolfe von einem einzigen Organe producirt bei manchen Mollus- ken , und zwar am auffallendsten bei den sonst hoch dilferenzirten Lun- genschnecken (Pulmonaten). Trotz der ausserordentlichen Complication, welche der Geschlechtsapparat dieser Thiere im Uebrigen darbietet, werden dennoch die Eier und Samenzellen von einem und demselben Organe unmittelbar neben einander erzeugt. Eine gleiche Zwitter- drüse (Glandula hermaphrodita) findet sich bei Synapta unter den Echinodermen. Sehr allgemein verbreitet scheint ein ähnliches Or- gan bei den Infusorien zu sein, wo als Ovarium der sogenannte Nu- cleus , als Hode • der Nucleolus erkannt worden ist. Da jedoch der letztere dem ersteren unmittelbar anliegt und in manchen Fällen selbst im Inneren desselben zu liegen scheint, so kann man Beide zusammen wohl als Zwitterdrttse bezeichnen. Unter den Pflanzen kommen ähn- liche Zwitterdrüsen, d. h. Orgaue, welche männliche und weibliche Ge- schlechtsproducte zugleich erzeugen, nur sehr selten vor, z. B. bei Mnr- siled , Pilldaria und einigen anderen Rhizocarpeen. IIb. Gonochorismus der Organe. Gesclilechtstrennung der Individuen zweiter Ordnung. Die beiderlei Geschlechtsproducte sind auf zwei ver- schiedene Individuen zweiter Ordnung (Organe) vertheilt. Die Vertheilung der Geschlechtsthätigkeit auf verschiedene Organe ist die allgemeine Regel für die grosse Mehrzahl aller Organismen, auch für die meisten sogenannten „Zwitter -Individuen" (d. h. hermaphrodi- tischen Individuen dritter und höherer Ordnung). Die weiblichen Organe, welche die Eier produciren, heissen bei den Thiereu allge- mein Eierstöcke (Ovaria), bei den phanerogamen Pflanzen Samen- knospen (Gemmulae)i), bei den meisten cr3T)togamen Oogonieu oder 1) Leider werden hier sehr häufig, wie es auch im Uebrigen vielfach geschieht, in der Botanik und Zoologie Objecte, welche gar keine Analogie besitzen, mit denselben Namen, und Objecte, welche wirkliche Analogie besitzen, mit verschiedenen Namen be- legt. In der Regel sollte hier wohl die zoologische Bedeutung des Wortes, als die «Itere und allgemeiner anerkannte, das Recht der PrioritRt haben und die fSlschlich davon abge- I. Verschiedene Arten der Zeugung. 65 Archegonien (oder Pistillidieii). Die männlichen Organe, welche das Sperma produciren, heissen bei den Thieren allgemein Hoden (Testiculi), bei den Phanerogamen Antheren oder Staubblätter, bei den Cryptogamen Antheridien. Bei den Thieren entwickeln sich sehr häufig weibliche und männliche Geschlechtsorgane aus einer und derselben Anlage, so zwar, dass bei den beiderseitigen Embryonen bei- derlei Organe bis zu einer gewissen Zeit nicht zu unterscheiden sind und sich erst später dilferenziren (z. B. bei den Wirbelthieren). Bei den phanerogamen Pflanzen dagegen sind beiderlei Organe in morpho- logischer Beziehung wesentlich verschieden, indem die männliche Ge- schlechtsdrüse ein reines Blattorgan („Staubblatt"), die weibliche Ge- schlechtsdrüse (Samenknospe) dagegen entweder ein reines Axenorgan oder eine wirkliche Knospe (ein Axenorgan mit Blattorganen) ist. Zwi- schen den vollkommen getrennten Geschlechtsorganen und den vorhin erwähnten Zwitterdrüsen giebt es bei den Thieren (insbesondere Schne- cken und Würmern) eine Menge vermittelnder Uebergänge, welche die allmähliche Hervorbildung der ersteren aus den letzteren in schlagen- der Weise bekunden. Insbesondere sind die Ausführungsgänge der männlichen und weiblichen Drüsen oft noch auf kürzere oder längere Strecken hin vereinigt. ni. Geschlechtsverhältnis^e der Antimeren. Die beiderlei Geschlechtsorgane sind in einem Indivi- duum dritter Ordnung (Antimer) vereinigt. leitete botanische Bedeutung eliminirt werden. Was die Botaniker gewölinlich als „Ova- rium" bezeichnen, ist der unterste Theil des PistiHs, welcher besser Fruchtknoten (Ger- man) heisst. Dagegen ist der dem thierischen Ovarium wirklich entsprechende Theil der weiblichen Blüthe die Samenknospe oder Gemmula, welche gewöhnlich von den Botani- kern als Eichen (Ovulum) bezeichnet wird. Das wirkliche Pflanzenei dagegen , welches dem thierischen Ovum entspricht, heisst hier gewöhnlich Keimbläschen, während die Zoo- logen mit diesem Namen den Kern des thierischen Eies belegen. Eine Uebersicht der analogen Theile in den weiblichen Geschlechtsorganen der Tliiere und Pflanzen ergiebt demnach allgemein folgendes Kesultat: nia. Hermaphr 0 ditismus der Antimeren. Zwitterbildung der Individuen dritter Ordnung. Thiere Phanerogamen Cryptogamen Weibliches Geschlechts- organ Ovarium Gemmula (Ovulum) Archegonium (Oogo- uium) Weibliche Geschlechts- zelle Ei (Ovum) Embryobläscheu (Keimbläschen) Kern (des Keim- ArchcgoniuHi - Cen- tralzelle Kern der weiblichen Ge- schlechtszelle . . Keimbläschen (Pur- kyne's Bläschen) Korn der Archego- nium-Centr ftlzell 0 bläsohens) 5 66 Entwickelungsgeschichte der physiologischen Individuen. Dieser Fall ist die allgemeine Regel bei den allermeisten herma- phroditischeu Individuen vierter und höherer Ordnung. Insbesondere bei den zwitterigen Thieren besitzt meist jeder homotypische Abschnitt beiderlei Geschlechtsorgane. Fast allgemein finden wir bei den di- pleuren Zwitterthieren beiderlei Orgaue sowohl auf der rechten als auf der linken Hälfte, bei den centraxonien und amphipleuren Zwitter- thieren in jedem ihrer „Strahltheile". Weniger allgemein ist dieses Verhältniss bei den Pflanzen, wo öfters insbesondere die weiblichen Or- gane in einem oder mehreren Antimeren abortiren, so dass diese bloss eingeschlechtig sind. Illb. Gonochorismus der Antimeren. Gesclilechtstrennung der Individuen dritter Ordnung. Die beiderlei Geschlechtsorgane sind auf zwei verschie- dene Individuen dritter Ordnung (Antimeren) vertheilt. Dieser Fall ist im Ganzen viel seltener als der vorige, besonders im Thierreiche. Hier kommt es nur ausnahmsweise vor, dass bei ei- nem hermaphroditischen Organismus die Genitalien des einen Antime- ren männlich, die des anderen weiblich sind. So giebt es einige An- thozoen- Arten, bei denen die Mesenterialfalten (welche in der Median- ebene der Antimeren liegen) alternirend männliche und weibliche Ge- nitalien einschliessen. Denu'tige Zwitter finden sich bisweilen auch bei dipleuren Thieren, die sonst getrennten Geschlechts sind, bei denen aber beiderlei Organe sich aus derselben Anlage hervorbilden, wie z. B. bei den Wirbelthieren. Unter letzteren sind solche Zwitterbildungen, wo die rechte Hälfte weiblich, die linke männlich differenzirt war, oder umgekehrt, mehrfach beobachtet worden, in einzelnen Fällen auch beim Menschen (sogenannter Hermaphroditismus lateralis). Eben solche Fälle sind auch von unseren Flussmuscheln (Unio, Anodonla) bekannt, wo bisweilen das Geschlechtsorgan der rechten Seite ein Hoden, der lin- ken ein Eierstock ist, und umgekehrt. Häufiger ist diese sexueUe Dif- ferenzirung der Antimeren bei den phanerogamen Pflanzen, wo oft in einer Zwitterblüthe (Person), die im einen Geschlechtskreise (Metamer) weibliche, im anderen männliche Organe auf mehrere Antimeren ver- theilt trägt, der eine oder andere homotypische Abschnitt kein Ge- schlechtsorgan entwickelt (abortirt), so dass ein Theü der Antimeren bloss männlich, ein anderer Theil bloss weiblich wird. Selten aber ist dieser Abortus in beiden Kreisen (männlichen und weiblichen) so regel- mässig complementär, dass die ganze Blüthe (Person) bloss aus rein männlichen und rein weiblichen Antimeren zusammengesetzt ist. Viel- mehr behält meistens ein Theil der Antimeren (gewöhnlich die Mehr- zahl) die ursprüngliche Zwitterbildung bei. In höchst ausgezeichneter Weise findet sich der reine Gonochorismus der Antimeren constant bei I. Verschiedene Arten der Zeugung. 67 Caima. wo nicht zwei Metameren (Blattkreise) geschlechtlich differeu- zirt sind, sondern wo nur ein einziger Blattkreis (Metamer) zur ge- schlechtlichen Eutwickelung gelangt, und wo in diesem, aus drei An- timeren bestehenden Kreise, das eine Antimer männlich, das zweite weibli(^h wird und das dritte abortirt. IV. Geschlechtsverhältnisse der Metameren. IVa. Hermaphroditismus der Metameren. Zwitterbildung der Individuen vierter Ordnung. Die beiderlei Geschlechtsorgane sind in einem Indivi- duum vierter Ordnung (Metamer) vereinigt. Dieser Fall ist die allgemeine Regel bei den hermaphroditischen Thieren, bei welchen die physiologische Individualität den Rang eines Metameres hat. Hier müssen natürlich die beiderlei Genitalorgane auf einem und demselben Metamer vereinigt sein , z. B. bei den Tremato- den, Zwitterschnecken. Bei den zwitterigen Articulaten, welche durch Aggregation von Metameren Personen herstellen, wie z. B. bei den Bandwürmern, wiederholen sich gewöhnlich ganz regelmässig weibliche und männliche Organe in mehr oder minder inniger, theilweiser Ver- einigung in jedem Metamer, mit Ausnahme der geschlechtslosen. Doch kommt es hier auch häufig vor (z. B. bei den Hirudineen, Lumbrici- nen), dass nur einige Metameren hermaphroditisch, die anderen dage- gen unisexuell, bloss männlich oder bloss weiblich sind. Viel seltener als bei den Thieren ist der Hermaphroditismus der Metameren bei den phanerogamen Pflanzen (z. B. Cannn) ; vielmehr ist der umgekehrte folgende Fall hier die Regel. IVb. Gonochorismus der Metameren. Geschlechtstrennung der Individuen vierter Ordnung. Die beiderlei Geschlechtsorgane sind auf zwei verschie- dene Individuen vierter Ordnung (Metameren) vertheilt. Im Gegensatz zu den zwitterigen Thier-Personen zeichnen sich die hennaphroditischen Blüthen der phanerogamen Pflanzen dadurch aus, dass gewöhnlich die männhchen und weiblichen Geschlechtsorgane auf verschiedene Metameren oder Glieder vertheilt sind. In den allermei- sten Fällen ist ein unteres (hinteres) Stengelglied vorhanden, welches den Kreis der männlichen Staubblätter, und ein oberes (vorderes), wel- ches den (inneren) Kreis der weiblichen Fruchtblätter trägt, an denen die Samenknospen sitzen. Da nun morphologisch jedes Stengelglied, das einen Blattkreis trägt, auch wenn es ganz unentwickelt ist, ein vollständiges Metamer darstellt, so sehen wir bei den meisten Phane- rogamen die Blüthe aus einem (oder mehreren) weiblichen (oberen) 6* 68 Entwickelungsgeschichte der physiologischen Individuen. und männlichen (unteren) Metameren zusammengesetzt; das obere weib- liche Metamer heisst der Kreis der Fruchtblätter (Carpella), das untere männliche der Kreis der Staubblätter (Antherae). Unter den geschlecht- lichen Kreisen stehen dann noch mehrere geschlechtslose Metameren, welche nicht sexuell diflferenzirte Blattkreise (Blumen-, Kelch-, Deck- blätter etc.) tragen. Unter den Thieren ist dieser Gonochorismus der Metameren sehr verbreitet bei den gonochoristen Bionten vierter Ord- nung, insbesondere bei den höheren Mollusken, welche alle den mor- phologischen Rang eines Metameres haben. Selten dagegen ist er bei zwitterigen Bionten fünfter Ordnung. In ausgezeichneter Weise findet er sich so bei Sagitta, welche aus zwei zwitterigen Antimeren und zwei Metameren besteht, und wo das vordere Metamer (entsprechend dem oberen [vorderen] der Phanerogamen) weiblich, das hintere (ent- sprechend dem unteren) männlich ist. V. Geschlechtsverhältnisse der Personen. Va. Hermaphroditismus der Personen (Monoclinia). Zwitterbildung der Individuen fünfter Ordnung. Die beiderlei Geschlechtsorgane sind auf einem bise- xuellen Individuum fünfter Ordnung (Prosopon) vereinigt. * Dieser Fall wird von den Zoologen gewöhnlich als „Hemaphrodi- tismus" schlechtweg bezeichnet, weil die meisten Thiere auf der (fünf- ten) tectologischen Rangstufe der Personen stehen bleiben. Bei den Pflanzen dagegen, welche meistens die höhere (sechste) Rangstufe des Stockes erreichen, unterscheiden die Botaniker sorgfältiger zwischen der Zwitterbildung der Personen (Moftoclinia) und der Stöcke (Monoe- cia). Unter den Thieren ist der Hermaphroditismus der Personen vor- zugsweise bei den kleinereu und niederen Formen verbreitet. Im Stamme der Vertebraten findet er sich nur ausnahmsweise (bei einigen Kröten, wenigstens rudimentär; bei Serrunus unter den Fischen); im Stamme der Articulaten selten bei den höher stehenden Arthropoden (Tardi- graden unter den Arachniden, Cirripedien unter den Crustaceen) , häu- figer bei den tiefer stehenden Würmern (Hirudineen , Scoleinen, Sa- gitta etc.); im Echinodermenstamme nur bei Synapta; auch im Coe- lenteratenstamme nur ausnahmsweise. Ungleich verbreiteter ist der Hermaphroditismus der Personen bei den Pflanzen, wo er sich bei der grossen Mehrzahl aller Phanerogamen und sehr vielen Cryptogamen findet. Vb. Gonochorismus der Personen (Diolinia). Geschlechtstrennung der Individuen fünfter Ordnung. Die beiderlei Geschlechtsorgane sind ai^f zwei verschie- dene unisexuelle Individuen fünfter Ordnung vertheilt. Die gonochoristen Personen sind es, welche die Zoologen gewöhn- lich als „getrennt -geschlechtige" Thiere im engereu Sinne, die Botani- I. Yerschiedene Arten der Zeugxiug. 69 ker schärfer als - „diclinische" Pflanzen unterscheiden. Die weibliche Person wird bei den Phauerogamen als „weibliche Blüthe" bezeichnet; die männliche Person als „männliche Blüthe". Dieselbe Trennung der Geschlechter findet sich bei der grossen Mehrzahl aller Thiere; bei allen Vertebraten (einige Kröten und Serranns ausgenommen), bei den meisten Arthropoden (die Cirripedien und Tardigraden ausgenommen), bei den meisten höheren Würmern und den meisten Coelenteraten. Unter den Pflanzen ist sie umgekehrt die Ausnahme. Es gehören hierher alle Personen (Blüthensprosse) der Phauerogamen , welche monoecische und dioecische Stöcke zusammensetzen, ausserdem aber auch alle unisexuellen Blüthen, welche keine Stöcke bilden (besonders unter den Cryptogamen). VI. Geschlechtsverhältnisse der Stöcke. Via. Hermaphroditismus der Stöcke (Monoecia). Zwitterbildung der Individuen sechster Ordnung. Die beiderlei Geschlechtspersonen sind auf einem bise- xuellen Individuum sechster Ordnung (Cormus) vereinigt. Alle hierher gehörigen Fälle von Zwitterbildung bei den Phauero- gamen hat Linn 6 in seiner einundzwanzigsten Phauerogamen -Klasse, den Monoecia, zusammengefasst. Die sogenannte „zusammengesetzte Pflanze", d. h. der Stock, ist hier hermaphroditisch, die einzelnen Per- sonen aber (Blüthensprosse), welche ihn zusammensetzen, diclinische, theils männliche, theils weibliche Blüthen. Es ist dies z. B. der Fall bei den Birken , Buchen , Eichen , Rietgräsern etc. Ganz dieselbe Ver- einigung der beiderlei unisexuellen Personen auf einem Stocke findet sich unter den Thiereu bei den allermeisten Siphonophoren-Stöcken, da- gegen nur ausnahmsweise bei den Corallen-Stöcken (Anthozoen). Vlb. Gonochorismus der Stöcke (Dioecia). Geschlechtstrennung der Individuen sechster Ordnung. Die beiderlei Geschlechtspersonen sind auf zwei ver- schiedene unisexuelle Individuen sechster Ordnung (Cor- men) vertheilt. Dieser zwölfte und letzte, am weitesten gehende Fall von Tren- nung der Geschlechter gab Linn6 Veranlassung zur Aufstellung seiner zweiundzwanzigsten Phanerogamenclasse, der Dioecia. Die sogenannte „zusammengesetzte Pflanze" oder der Stock ist hier unisexuell, entwe- der männlich oder weiblich. Alle einzelnen denselben zusammensetzen- den Personen sind diclinisch und gehören einem und demselben Ge- schlechte an. Es ist dies der Fall bei den Weiden und Pappeln, den meisten Palmen und vielen Wasserpflanzen. Ferner gehören hierher unter den Thieren die meisten Anthozoen-Stöcke , aber nur wenige Si- phonophoren-Stöcke, z. B. Dip/iycs (juadrivalvis. 70 Entwickelungsgeschichte der physiologischen Individuen. n. System der ungeschlechtlichen Fortpflanzimgsarten. Beispiele. A. Unge- schlechtli- che Zeu- gung dui'ch Spaltung Bohizo- gonia a) Selbstthei- lung Divisio I. Zweitheilung Dimidiatio (Theilung in zwei* Hälften) (Spaltung mit Vernichtung des zeugenden Individuums) Genera- tio fissi- para 1. Stücktheilung Divisio indefinita II. Strahltheilung Diradiatio (Theilung in mehr als zwei Stücke) Viele Protisten. Viele Piastiden von Thieren . und Pflanzen. 2. Längstheilung /Diatomeen. Divisio longitudi- 82 Entwickelungsgeschichte der physiologischen Individuen. schlechtlichen Zeugungsakten zusammengesetzt ist, haben wir den Spaltinigskreis oder das Spaltungsproduct benannt (Cyclus monogenes), und den Entwickelungsvorgang innerhalb desselben Mo- nogenesis oder Entwickelung mit ausschliesslich monogener Zeugung. Die entgegengesetzte höhere Hauptform der Zeugungskreise, welche stets von einem geschlechtlichen Zeugungsakte ausgeht und zu diesem zurückkehrt, haben wir als Eikreis oder Eiproduct (Cyclus am- phigenes) unterschieden, und den Entwickelungsprocess innerhalb des- selben als Amphigenesis oder Entwickelung mit geschlechtlicher Zeu- gung. Indem wir von diesem Hauptuuterschiede in der Entstehung der Zeugungskreise ausgehen, können wir unter jeder der beiden Haupt- formen vier untergeordnete Formen von Generationscyclen unterschei- den. Der monogene Zeugung skr eis zerfällt in die beiden Entwi- ckeiungsarten der Schizogenese und Sporogenese, je nachdem er mit einfacher Spaltung (Theilung oder Knospeubildung) oder mit Spo- renbildung abschlicsst. Unter beiden Genesis -Arten können wir wieder als zwei Unterarten die monoplastide und die polyplastide trennen, je nachdem die reife Speciesform (das zeugungsfähige Bion) eine einfache Plastide (Form-Individuum erster Ordmmg) oder einen Plastiden-Com- plex (Form-Individuum zweiter Ordnung) darstellt. Der amphigene Zeugungskreis zerfällt ebenfalls iu zwei untergeordnete Entwicke- lungsarten, die Metagenese (mit Generationswechsel) und die Hy- pogenese (ohne Generationswechsel). Unter der Metagenese unter- scheiden wir die beiden subordinirten Formen des productiven und des successiven Generationswechsels, je nachdem der amphigene Cy- clus aus mehr als zwei, oder nur aus zwei Bionten besteht. Unter der Hypogenese endlich, bei welcher der Eikreis nur durch ein einziges Bion gebildet wird, können wir als zwei untergeordnete Formen die metamorphe und die epimorphe Hypogenese unterscheiden, erstere mit, letztere ohne postembryonale Metamorphose. Indem wir auf den folgenden Seiten eine systematische Uebersicht und eine allgemeine Charakteristik der verschiedenen Arten der Zeu- gungskreise zu geben versuchen, erinnern wir ausdrücklich daran, dass die ontogenetischen Erscheinungen, welche den Inhalt der individuellen Entwickelungsgeschichte bei allen Organismen bilden, nur zu verstehen sind durch die Erkenntniss ihres causalen Zusammenhanges mit der parallelen Phylogenie, mit der Entwickelungsgeschichte des gesammten Stammes (Phylon), und speciell aller Vorfahren, von welchen das Indi- viduum in continuirlicher Erbfolge abstammt. Die Reihe von Form- veränderungen, welche den Zeugungskreis jedes individuellen Orgams- mus constituiren, ist die kurze und schnelle Recapitulation der wich- tigsten Formveränderungen, welche die gesammte Reihe seiner Vorfah- ren während ihrer langsamen paläontologischen Entwickelung in langen Zeiträumen durclilaufen hat. Vn. System der verschiedenen Arten der Zeugungskreise. 83 vn. System der verschiedenen Arten der Zeugungskreise. Mouogenesis. Entwickelung ohne geschlechtli- che Zeugung. Alle Bionten der Speeles entstehen durch unge- schlechtliche Zeu- gung. Genera- tion s- Cyclus ist ein Spaltungskreis (Cyclus mono- genes). Schizogenesis. Spaltungskreis oder Spaltproduct (Cyclus monoge- nes) durch Thei- \ lung oder Knos- penbildung er- zeugt. Sporogenesis. Spaltungskreis oder Spaltproduct (Cyclus monoge- , nes) durch Spo- renbildung er- zeugt. Amphigenesis. Entwickelung mit geschlechtlicher Zeugung. Entweder ein Theil der Bionten oder alle Bionten der Speeles ent- stehen durch ge- schlechtliche Zeu- gung. Genera- tions-Cyclus ist ein Eikreis (Cy- clus amphigencs). ■ Metagenesis. Eikreis oder Ei- product (Cyclus amphigenes) aus zwei oder mehr Bionten zusam- mengesetzt. Reifes , spaltungs- tahiges Bion eine einfache Plastide. Reifes , spaltungs- fähiges Bion eine Plastiden- Colonie. Reifes , sporenbil- dendes Bion eine einzige Plastide. Reifes , sporeubil- dendes Bion eine Plastiden- Colonie. Eikreis aus mehr als zwei Bionten zusammengesetzt. Hypogenesis. Eikreis oder Ei- product (Cyclus amphigenes) aus einem einzigen Bionten beste- hend. Schizogenesis monoplastidis. Die einfechsten monoplastiden Protisten (Moneren, Protopla- sten, Flagellaten, Diatomeen) und die einfachsten „einzelli- gen" Algen. Schizogenesis polyplastidis. Viele polyplastide Protisten (Fla- gellaten , Diatomeen etc.) und einige „mehrzellige" , nicht sporenbildende niedere Pflan- zen. fSporogenesis monoplastidis. I Viele monoplastide Protisten (Protoplasten, Acyttarien, Fla- gellaten) und ,, einzellige Pflan- zen", z. B. Codiolum, Hydro- cytium. ' Sporogenesis polyplastidis. Viele polyplastide Protisten (Pla- gellaten , Radiolarien (?) , My- xocystoden, Myxomyceten) und viele niedere Pflanzen (Desmi- diaceeu und andere Algen). Metagenesis productiva. Aphis , Daphniden , viele Wür- mer (Platyelminthen etc.), viele Mollusken (Tunicaten , Bryo- zoen) , die meisten Hydrome- dusen , viele Cryptogamen, Phanerogameu mit Brutknos- pen. Metagenesis successiva. Eikreis aus zwei |Dje Mehrzahl der Echinodermen und einige Würmer (Pilidium- Neinertine , Actinotrocha - Si- , ^ pmiculido). • Hypogenesis metamorpha. Amphibien und einige Fische. Die Mehrzahl der Articulateu und Mollusken (Cochleen und Laraellibranchien). ■ Hypogenesis epimorpha. Alle allantoidcn und die meisten anallantoidcn Wirbelthierc. Cephalopoden. Ametabole In- secten. Wenige andere Wir- bellose. Die meisten Phane- rogameu. Einige Cryptogamen (Fuoaceön etc.). 6* Bionten zusam- mengesetzt. Postembryonale Entwickelung mit echter Metamoi'- phose. Postembryonale Entwickelung ohne echte Meta- morphose. 84 Entwickelungsgeschichte der physiologischen Individuen. VIII. Allgemeine Charakteristik der Zeugungskreise. I. Monogenesis. Entwickelung ohne Amphigonie. (Ontogenesis der Spaltungsproducte.) Der Zeugungskreis ist ein monogener Generationscy- clus. Alle Bionten, welche die Species repräsentiren , ent- stehen durch ungeschlechtliche Fortpflanzung. Die Bionten, welche die Species zusammensetzen, entwickeln nie- mals Geschlechtsorgane und pflanzen sich niemals durch befruchtete Eier fort. Das Spaltungsproduct oder der Spaltungskreis, die Formen- reihe, welche die Species innerhalb ihres ungeschlechtlichen Fortpflan- zungscyclus (von der vollständigen Spaltung bis zur vollständigen Spal- tung oder von der Spore bis zur Spore) durchläuft, wird stets nur durch ein physiologisches Individuum (Bion) repräsentirt. Die Entwi- ckelung ist entweder ausschliessliches Wachsthum, oder mit Differenzi- rung verbunden. Je nachdem der Fortpflanzungsprocess einfache Spal- tung (Theilung oder Knospenbildung) oder Sporenbildung ist, unter- scheiden wir Schizogenesis und Sporogenesis. 1,1. Schizogenesis. Entwickelung des Spaltuugsproductes ohne Sporenbildung. Monogene Entwickelung mit Spaltung (Theilung oder Knospenbildung) und mit einfachem oder zusammengesetz- tem Wachsthum, ohne Sporenbildung. Der monogene Zeu- gungskreis bildet ein einziges Bion erster oder höherer Ordnung. Der Organismus, welcher entweder einer einzigen oder einem Com- plex von mehreren Piastiden entspricht, pflanzt sich ausschliesslich durch einfache Spaltung (Theilung oder Knospenbildung) fort. Die da- durch erzeugten Theilstücke ergänzen sich durch Wachsthum zu der elterlichen Form, aus deren Spaltung sie entstanden sind. Ist die Spal- tung stets vollständig, so sind die Bionten der Species Monoplastiden ; ist sie abwechselnd unvollständig, so entstehen Polyplastiden. lA. Schizogenesis monoplastidis. Monogene Entwickelung einer einfachen Plastide, mit einfachem Wachsthum. Fortpflanzung durch vollständige Spaltung. Der monogene Zeugungskreis bildet ein Bion erster Ordnung (eine einfache Plastide). Die monoplastide Schizogenese ist die einfachste und urspräng- lichste von allen verschiedenen Arten der Fortpflanzung und Entwicke- lung. Sie findet sich bloss bei den jetzfr noch lebenden Organismen Vin. Allgemeine Charakteristik der Zeugungskreise. 85 niederster Stufe vor, bei den Moneren, vielen einzelligen Protoplasten und Flagellaten, den einzelligen Diatomeen , vielleicht auch einigen ein- zelligen Algen. Die Fortpflanzung ist hier möglichst einförmig, indem sie stets beschränkt bleibt auf die einfache Selbsttheilung oder Knos- penbildung der Individuen. Ebenso beschränkt sich die Entwickelung der durch Theilung entstandenen neuen Individuen auf einfaches Wachs- thum bis zu dem Maasse, welches die Species vor der Theilung als erwachsenes Individuum besass. Diese einfachste Art der Zeugung und Entwickelung ist für uns insofern von besonderem Interesse, als sie höchst wahrscheinlich die ursprüngliche Fortpflanzungsweise der auto- gouen Moneren darstellt, aus denen sich zuerst alle organischen Phy- len entwickelt haben. Eigentlich kann hier von Entwickelung kaum die Rede sein, da die einzige Veränderung des werdenden Organismus eine Grössenveränderung ist, die Form der Species aber in allen Sta- dien dieselbe bleibt. Mehr als alle anderen Organismen schliessen sich diese einfachsten Moneren den anorganischen Krystallen an, so auch darin, däss ihre Entwickelung bloss Wachsthum ist. Das physiologi- sche Individuum (Bion) ist hier jederzeit nur ein einfachstes morpho- logisches Individuum erster Ordnung , eine einfache Cytode oder eine einfache Zelle. IB. Schizogenesis polyplastidis. Monogene Entwickelung einer Plastiden-Colonie, mit zusammengesetztem Wachsthum und unvollständiger Spal- tung. Fortpflanzung durch vollständige Spaltung. Der mo- nogene Zeugungskreis bildet ein Bion zweiter oder höhe- rer Ordnung. Diese Form der Ontogenesis schliesst sich zunächst an die vorige an, und unterscheidet sich nur dadurch, dass die Theilung der einfa- chen Bionten nicht stets vollständig, sondern auch unvollständig ist, so dass dieselben zu einer Plastiden-Colonie vereinigt bleiben. Der ein- fachste derartige Fall findet sich bei den Monerenstöcken der Vibrio- niden, welche durch Gliederung Ketten von vollkommen homogenen und structurlosen Gymnocytoden herstellen. Durch diese Articulation entstehen hier Individuen zweiter Ordnung, Piastiden -Colonieen, wel- che sich dadurch fortpflanzen, dass sich die einzelnen Glieder ablösen und selbstständig durch Articulation zu neuen Ketten entwickeln. Die Entwickelung besteht also auch hier wesentlich, wie bei der Schizo- genese, in dem Wachsthum der homogenen Organismen und in der Ket- tenbildung durch unvollständige Theilung. Indessen kommt hier zu der einfachen Grössenveränderung doch schon die Formveränderung der Species, welche durch die Kettenbildung der einfachen Individuen selbst bewirkt wird. An die einfachste Form der Gemeindebildung bei den Moneren schliesst sich auch die Familienbildung derjenigen Diatomeen 86 Entwickelungsgeschichte der physiologisclien Individuen. an (Bacillarid , Fragillaria etc.), bei denen ebenfalls die durch un- vollständige Theilung entstandenen Individuen vereinigt bleiben. Diese Piastiden - Gemeinden pflanzen sich einfach dadurch fort, dass die ein- zelnen Zellen -Individuen sich ablösen und durch abermalige unvollstän- dige Theilung gleich wieder zu neuen Gemeinden entwickeln. Ausser bei den Protisten, bei welchen die polyplastide Schizogonie unter meh- reren Stämmen sehr verbreitet ist, findet sich dieselbe auch noch bei niederen Pflanzen (Algen und Nematophyten) vor. 1,2. S p 0 r 0 g e n e s i s. Entwickelung des Spaltuugsproductes mit Sporenbilduug. Monogene Entwickelung mit Sporenbildung, mit ein- fachem oder zusammengesetztem Wachsthum, und mit Dif- ferenzirung. Der monogene Zeugungskreis bildet ein ein- ziges Bion erster oder höherer Ordnung. Der Organismus, welcher entweder einer einzigen oder einem Com- plex von mehreren Piastiden entspricht, erzeugt Keimkörner (Sporen), welche sich von ihm ablösen und sich durch Wachsthum und Diffe- renzirung zu der elterlichen Form entwickeln. Die Spore ist meistens eine Monospore (eine einfache Plastide), seltener eine Polyspore (ein Piastiden - Complex). 2A. Sporogenesis monoplastidis. Monogene Entwickelung einer einfachen Plastide, mit einfachem Wachsthum und Differenzirung. Fortpflanzung durch Sporenbildung. Der monogene Zeugungskreis bildet ein Bion erster Ordnung (eine einfache Plastide). Die monoplastide Sporogenese scheint unter den einfachsten Orga- nismen-Arten erster morphologischer "Ordnung weit verbreitet zu sein. Sie besteht darin, dass Species, welche nicht den Rang der einfachen Plastide überschreiten, in ihrem Inneren Keimköruer (Sporen) erzeu- gen, welche aus der elteriichen Plastide heraustreten und sich ausser- halb derselben zu ihres Gleichen entwickeln. Da in diesem Falle die Keimkörner oder Sporen stets nicht allein an Grösse, sondern auch an Form von der elterlichen Plastide sich unterscheiden, so besteht hier die Entwickelung des Bionten nicht allein mehr in einer Veränderung der Grösse, sondern auch der Form. Mithin beschränkt sich die On- togenese nicht auf ein einfaches Wachsthum, sondern ist mit einer Formveränderung verbunden, welche bereits den Namen der Difi"eren- zirung verdient. Wir finden diese einfache Sporogenese unter verschie- denen Stämmen sowohl des Protisten- als des Pflanzenreiches, unter den Protisten besonders bei den Protoplasten, Acyttarieu, Flagellaten, unter den Pflanzen bei „einzelligen Algen" (z.B. Codiolmn, Hydranjthm). Vin. AUgomeine Charakteristik der Zeugungskreise. 87 2B. Sporogeuesis polyplastidia. Monogene Entwickeliiiig einer Plastiden-Colonie, mit /usammengesetztem Wachsthum, Differenzirung und un- vollständiger Spaltung. Fortpflanzung durch Sporeubil- dung. Der monogene Zeugungskreis bildet ein Bion zwei- ter oder höherer Ordnung. Die polyplastide Sporogenese ist, wie die monoplastide , unter den einfacheren Organismen des Protisten- und Pflanzenreiches weit ver- breitet. Sie besteht darin, dass Speeles, welche den Kang einer ein- fachen Plastide überschreiten und durch unvollständige Theilung Pla- stiden-Colonieeu oder selbst differenzirte Piastiden -Aggregate (Form- individueu zweiter imd höherer Ordnung) darstellen, in ihrem Inneren Keimkörner (Sporen) erzeugen, welche sich ausserhalb des elterlichen Piastidenstockes durch fortgesetzte unvollständige Theilung und Diffe- renzirung wieder zu gleichen Piastidenstöcken entwickeln. Dies ist der Fall bei vielen mehrzelligen oder stockbildenden Protisten, bei den Pro- toplasten, Flagellaten, Myxocystoden , Myxomyceten, wohl auch vielen Rhizopodeu (vielleicht bei den Radiolarien). Unter den niederen Pflan- zen ist dieser Fortpflanzungsmodus ebenfalls sehr verbreitet, nament- lich bei den niederen Algen (Desmidiaceen etc.). Bei den letzteren werden zum Theil selbst von einer Piastiden- Speeles verschiedene Spo- ren-Arten gebildet. Die Entwickelung der aus der Spore austretenden Plastide besteht hier in Wachsthum, unvollständiger Theilung und Dif- ferenzirung der Theilproducte. Die Differenzirung erreicht jedoch auch bei dieser vollkommensten Form der Monogenesis niemals dieselbe Höhe, wie bei der Amphigenesis. II. Amphigenesis. Entwickelung mit Amphigonie. (Ontogenesis der Eiproducte.) Der Zeugungskreis ist ein amphigener Generationscy- clus. Entweder ein Theil der Bionten, oder alle Bionten, welche die Speeles repräsentiren, entstehen durch ge- schlechtliche. Fortpflanzung. Alle Bionten oder ein Theil der Bionten, welche die Species zu- sammensetzen, entwickeln weibüche und männliche Geschlechtsorgane und ijflanzen sich durch befruchtete Eier fort. Das Eiproduct oder der Eikreis, die Formenreihe, welche die Speeles innerhalb ihres ge- schlechtlichen Fortpttanzungscyclus (vom Ei bis wieder zum Ei) durch- läuft, wird entweder diu-ch ein einziges oder durch mehrere physiolo- gische Individuen (Bionten) repräsentirt. Die Entwickelung ist niemals Entwickeluugsgeschichte der physiologisclieii Individuen. bloss einfaches Wachsthum, sondern stets mit Differenzirung mid häufig mit Metamorphose verbunden. Je nachdem das Eiproduct von einem einzigen oder von mehreren Bionten repräsentirt wird, unterscheiden wir die Entwickelung der Eiproducte in Hypogenesis und Metagenesis. Beide können mit und ohne Metamorphose verlaufen. II, 1. Metagenesis. Entwickelung des Eiproductes mit Generationswechsel. Amphigene Entwickelung mit monogener Entwickelung von Bionten innerhalb jedes Zeugungskreises abwechselnd. Der amphigene Zeugungskreis ist aus zwei oder mehreren Bionten zusammengesetzt, von denen mindestens eines stets geschlechtlich, das andere nicht geschlechtlich differen- zirt ist. Das Eiproduct oder der Eikreis wird durch zwei oder mehrere verschiedene physiologische Individuen (Bionten) repräsentirt. Aus je- dem befruchteten Ei entsteht eine Formenkette, welche sich mindestens in zwei physiologische Individuen spaltet und dadurch mindestens ein- mal unterbrochen wird, ehe sie mit der Geschlechtsreife abschhesst. Es ist also stets die geschlechtliche mit der ungeschlechtlichen Fort- pflanzung innerhalb des Formenkreises der Speeles combinirt. Der echte Generationswechsel oder die Metagenesis besteht in al- len Fällen aus einer Verbindung von geschlechtlicher und ungeschlecht- licher Zeugung, in der Weise, dass die periodisch wiederkehrende For- menkette des regelmässigen Zeugungskreises mindestens aus zwei Bion- ten besteht, einem ungeschlechtlich und einem geschlechtlich erzeugten physiologischen Individuum. Bei allen Organismen mit echtem Gene- rationswechsel entspringt aus dem befruchteten Ei ein Individuum, wel- ches zunächst bloss auf ungeschlechtlichem Wege, durch Theilung, Knospung oder Keimbildung sich fortpflanzt, und die so erzeugten In- dividuen werden entweder alle oder theilweis wieder geschlechtsreif, oder sie erzeugen selbst wieder auf ungeschlechtlichem Wege eine oder mehrere folgende Generationen, deren letzte endlich meder Geschlechts- producte erzeugt. Hiermit ist der regelmässige Cyclus von Generatio- nen geschlossen. Das geschlechtlich erzeugte Individuum kann zwar in manchen Fällen auch selbst wieder geschlechtsreif werden (z. B. An- neliden), aber doch erst, nachdem es eines oder mehrere neue Bionten auf ungeschlechtlichem Wege erzeugt hat. Die unmittelbar aus dem befruchteten Ei entspringende Generationsform, welche auf irgend ei- nem ungeschlechtlichen Wege die nächste Generation erzeugt, wird all- gemein als Amme (Altrix) bezeichnet. Die Amme als Zwischenform, welche bei dem Generationswechsel in den contiuuirlichen Entwicke- lungslauf des Eiproductes eingeschaltet ist, unterscheidet sich von der VIII. Allgemeine Charakteristik der Zeugungskreise. 89 Larve, welche als Zwischenform bei der Metamorphose sowohl in die Hypogenese als in die Metagenese eingeschaltet werden kann, dadurch, dass die Amme wirklich selbstständige neue Keime von Bionten, die Larve dagegen nur provisorische Organe entwickelt. Die geschlechts- lose Amme geht beim Generationswechsel zu Grunde, ohne in das phy- siologische Individuum, welches geschlechtsreif wird, überzugehen, wäh- rend die geschlechtslose Larve bei der Metamorphose unmittelbar in die letztere übergeht. Um die äusserst verwickelten und mannichfaltigen Vorgänge des Generationswechsels in ihrem eigentlichen Wesen richtig zu erfassen, ist es nothwendig, die oben aufgestellte Charakteristik desselben stets im Sinne zu behalten. Der echte Generationswechsel oder die Meta- genesis, wie ydr sie hier scharf bestimmen, ist wesentlich dadurch cha- rakterisirt und von allen anderen Entwick^lungsarten unterschieden, dass der Zeugungskreis nicht aus einem einzigen physiologischen Indi- viduum oder Bion besteht, sondern aus zwei oder mehreren Bionten zusammengesetzt wird. Sowohl bei allen Formen der Monogenesis, wie bei der Hypogenesis ist es ein und dasselbe physiologische Individuum, an welchem der ganze Generationscyclus, dort ungeschlechtlich als Spal- tungskreis, hier geschlechtlich als Eikreis, von Anfang bis zu Ende abläuft. Bei der Metagenesis dagegen finden wir stets mindestens zwei ■ (Echinodermen), gewöhnlich aber mehrere physiologische Individuen, zu. einem einzigen Zeugungskreis verbunden. Dieser metagenetische Zeu- gungskreis hat das Eigenthümliche, dass er aus einem monogenen und einem amphigenen zusammengesetzt ist. Der eine Theil der Biouten wird ungeschlechtlich, der andere geschlechtlich erzeugt. Durch diese scharfe Charakteristik der Metagenese trennen wir dieselbe bestimmt von ähnlichen, aus ungeschlechtlichen und geschlecht- hchen Zeugungsakten zusammengesetzten Entwickelungsprocessen , auf welche man neuerdings ebenfalls den Begriff des Generationswechsels ausgedehnt hat, welche sich aber wesentlich dadurch unterscheiden, dass der ganze Zeugungskreis, vom Ei bis wieder zum Ei, an einem und demselben physiologischen Individuum abläuft. Dies ist z. B. bei dem sogenannten Generationswechsel der Phanerogameu der Fall, wel- cher nach unserer Ansicht als Hypogenesis aufgefasst werden muss. "Wir werden dies im nächsten Abschnitte zu begründen suchen, wo wir allgemein die dem Generationswechsel ähnlichen Entwickelungsvorgänge, welche sich aus geschlechtlichen und ungeschlechtlichen Zeugungsakten zusammensetzen, aber an einem einzigen Bion ablaufen, als Genera- tionsfolge oder Strophogenesis von der echten Metagenesis un- terscheiden werden, mit welcher wir uns hier allein beschäftigen. Obgleich noch nicht ein halbes Jahrhundert verflossen ist, seitdem der Dichter Adalbert Chamisso 1819 den Generationswechsel der 90 EntwickelungBgeschichte der physiologißchen Individuen. Salpen entdeckte, und noch nicht ein Vierteljahrhundert, seitdem J. Steenstrup 1842 diese Entdeckung mit den inzwischen aufgefun- denen ähnlichen Fortpflanzungsvorgängen bei den Hydromedusen, Tre- matoden etc. verglich und sie unter dem Namen des Generationswech- sels zusammenfasste, ist dennoch seit dieser kurzen Zeit die thatsache der Metagencsis als eine weit im Thier- und Pflanzenreiche verbreitete festgestellt worden. Doch hat man neuerdings sein Gebiet allzusehr ausgedehnt, indem man auch alle verschiedenen Formen der eben er- wähnten Strophogenesis damit vereinigte. Erstere ist aber nur eine Theilerscheinung der letzteren. Die echte Metagenesis, bei welcher der amphigene Zeugungskreis aus zwei oder mehreren, theils geschlechtlich, theils ungeschlechtlich erzeugten Bionten zusammengesetzt ist, findet sich vor: I) im Thier- reiche: Unter den Arthropoden bei den Blattläusen, Cecidomyien, Eo- tatorien, Phyllopoden, Daphnideu etc.; unter den Würmern bei den Anneliden (Protula, SyUis, Sabella, Nais etc.), Gephyreen (Actinotro- cha), Nematoden (Ascaris nigrovenosa) , Platyelminthen (Nemertinen, Trematoden, Cestoden); unter den Mollusken bei den Tunicaten und Bryozoen; unter den Echinodermen fast allgemein; unter den Coelen- teraten vorzüglich bei den Hydromedusen in der mannichfaltigsten > Form ; II) im Protistenreiche bei den Schwämmen , indem die unge- schlechtliche Biontenbildung durch Gemmulae mit der geschlechtlichen durch befruchtete Eier (fälschlich sogenannte „Schwärmsporen") altern- irt; III) im Pflanzenreiche bei vielen Cryptogamen, insbesondere sehr allgemein bei den Gefäss-Cryptogamen: Farmen, Lycopodiaceen, Equi- setaceen und Moosen. Dagegen fehlt die echte Metagenesis bei den meisten Phanerogamen (mit Ausnahme derjenigen, welche durch Brut- knospen [Zwiebeln und Bulbillen] neue Bionten auf monogenem Wege erzeugen). Ebenso fehlt sie allen W^irbelthieren und allen höheren Mol- lusken (Cephalopoden, Cochleu, Lamellibranchien, Brachiopoden), sowie der grossen Mehrzahl der Arthropoden. Nicht allein eme sehr ausgedehnte Verbreitung, sondern auch eine unerwartete Mannichfaltigkeit in der speciellen Ausführung des meta- genetischen Entwickelungsmodus haben uns die fleissigen Untersuchun- gen der letzten beiden Decennien eröffnet; so zwar, dass in dieser Be- ziehung die EntWickelung mit Generationswechsel unendlich viel mau- nichfaltiger erscheint, als alle anderen Entmckeluugsformen zusammen- genommen. Es ist hier nicht der Ort, auf diese zahlreichen und in vieler Hinsicht verschiedenen Modificationen der Metagenese näher em- zucrehen, und es ist auch die Masse der bis jetzt bekannten verschie- denartigen Thatsachen noch keineswegs in der Weise geordnet, dass ein zusammenhängender Ueberblick möghch wäre. Wir wollen daher hier nur einige derjenigen Seiten des Generationswechsels betrachten, Vm. Allgemeine Charakteristik der Zeugungskreise. 91 Avelche sich auf die ludividualitätsfrage beziehen, und nur diejenigen Modificationen hervorheben, welche uns auf einer wesentlich verschie- denen causalen Entstehung zu beruhen scheinen, und die deshalb von ganz verschiedenem morphologischem Werthe sind. Ein sehr wichtiges, bisher nicht hervorgehobenes Moment, welches sich auf die Entstehung, auf die paliiontologische Entwickelung des Generationswechsels bezieht, lässt nach unserer Auffassung alle ver- schiedenen Formen der Metagenese in zwei entgegengesetzte Reihen vereinigen, Avelche den entgegengesetzten Formen der Sporogonie ent- sprechen und welche wir demgemäss als progressive und regressive Reihe unterscheiden können. Der fortschreitende Generations- wechsel (Metagenesis progressiva) findet sich bei denjenigen Organismen , welche gewissermaassen noch auf dem Uebergangsstadium von der Monogonie zur Amphigonie sich befinden, deren frühere Stamm- eltern also niemals ausschliesslich auf geschlechtlichem Wege sich fort- pflanzten. Dies ist wahrscheinlich bei der grossen Mehrzahl der be- kannten Formen von Metagenesis der Fall, z. B. bei den Trematoden, Hydromedusen etc. Hier haben immer, seitdem die geschlechtliche Zeugung aus der ungeschlechtlichen sich hervorbildete, ungeschlecht- liche und geschlechtliche Generationen neben einander bestanden und mit einander abgewechselt. Niemals ist die Speeles in der Lage ge- . wesen, sich ausschliesslich durch Amphigonie fortzupflanzen. Das Ge- gentheil zeigt uns der rückschreitende Generationswechsel (Metagenesis regressiva), welchen wir als einen Rückschlag der Amphigonie in die Monogonie auffassen. Diese merkwürdige Eut- wickelungsweise glauben wir bei denjenigen höheren Organismen mit Generationswechsel zu finden , deren nächste Verwandte sich allgemein auf rein hypogenem Wege, durch ausschliessliche Amphigonie fort- pflanzen, und bei welchen ausserdem die ungeschlechtlich erzeugten Keime (Monosporen, „Sommereier") in besonderen Keimstöcken oder Sporocarpien entstehen, welche ofi"enbar rückgebildete Eierstöcke sind. Dies ist der Fall bei den meisten Insecten mit Generationswechsel (Aphi- den, Cocciden), wahrscheinlich auch bei den Bryozoen, Rotatorien, Daphniden, Phyllopoden etc. Die unverkennbare Homologie, welche die Sporen („Sommereier") dieser Thiere mit den echten Eiern („Win- tereiem") der geschlechtlich entwickelten Generation, die keimbildeu- den Sporocai-pien (Keimstöcke) mit den echten Ovarien (Eierstöcken) der letzteren zeigen, scheint uns diese Formen des Generationswech- sels, welche also in einem regelmässigen Wechsel von Amphigonie und Parthenogonie bestehen, nicht anders erklären zu lassen, als durch die Annahme, dass die früheren Stammeltern der betrefl^nden Oi-ganismeii ausschliesslich auf geschlechtlichem Wege sich fortpflanz- ten und erst später in den ungeschlechtlichen Propagationsmodus noch 92 Entwickeluugsgeschichte der physiologischen Individuen. früherer Zeit zurückfielen, aus welchem sich die sexuelle Zeugung erst differenzirt hatte. Offenbar ist die biologische Bedeutung dieser beiden Metagenesis- Arten eine gänzHch entgegengesetzte, und wie wahrschein- lich ihre paläontologische Entstehung grundverschieden war, so lässt sich vermuthen, dass auch ihre Zukunft es sein wird. Die progres- sive Metagenese der Hydromedusen, Trematoden etc. wird sich all- mählig zu reiner Hypogenese erheben können, wie es bei nahe ver- wandten Formen (z. B. Pelagia, Polystomeen) bereits der Fall ist. Die regressive Monogenese der Insecten, Crustaceen etc. wird dagegen umgekehrt zu reiner Monogenese zurücksinken können, wie es bei den Psychiden thatsächlich stattgefunden hat. Von einem anderen Gesichtspunkte aus kann man die verschiede- nen Formen des Generationswechsels in zwei andere Gruppen zusam- menstellen, welche wir kurz als productive und successive Metagenese unterscheiden wollen. Diese Unterscheidung ist namentlich insofern in- teressant, als der successive Generationswechsel gewöhnlich als meta- morphe Hypogenese aufgefasst wird und als Uebergangsbildung zu letz- terer betrachtet werden kann. Je nachdem nämlich der metagenetische Zeugungskreis bloss aus zwei oder aus mehreren Biouten zusammen- gesetzt ist, können wir allgemein Generationswechsel mit und ohne Vermehrung der sexuellen Bionten unterscheiden. Bei dem producti- ven Generationswechsel, zu welchem die grosse Mehrzahl der Fälle gehört, producirt der ungeschlechtliche Zeugungsakt eine Mehrheit von physiologischen sexuellen Individuen, bei dem successiven dagegen (wie er bei den Echinodermen erscheint) nur ein einziges. Im letzteren Falle ist daher das Eiproduct nur aus zwei, im erstereu aus mehr als zwei Bionten zusammengesetzt. II, lA. Metagenesis productiva. Generationswechsel mit Zusammensetzung des amphi- genen Cyclus aus mehr als zwei physiologischen Indi- viduen. Bei den allermeisten Formen des Generationswechsels erzeugt die ungeschlechtliche Generation, welche aus dem befruchteten Ei entstan- den ist, zwei oder mehrere (nicht bloss ein einziges) Individuen, wel- che entweder selbst oder in ihren ungeschlechtlich erzeugten Nachkom- men wieder zur Geschlechtsreife gelangen. Es besteht das Eiproduct hier mindestens aus drei Bionten, nämlich einem geschlechtlich erzeug- ten und zwei ungeschlechtlich erzeugten. Gewöhnlich ist aber die Zahl der letzteren sehr gross, so dass das Eiproduct aus einer beträchtli- chen Anzahl von physiologischen Individuen zusammengesetzt und die Speeles in ungleich stärkerem Grade vervielfältigt wird, als es bei der bloss sexuellen Fortpflanzung der Fall wäre. Entweder werden die Vm. Allgemeine Charakteristik der Zeugungskreise. 93 durch Theilung, Gliederung, Knospung entstandenen Individuen selbst wieder geschleclitsreif oder sie erzeugen selbst erst eine oder mehrere Generationen, deren letzte wiederum Geschlechtsorgane erhält. Die Formen der verschiedenen Generationen sind bald nur sehr wenig (z. B. bei den Aphiden), bald ausserordentlich stark verschieden (z. B. bei den Hydromedusen). Ebenso ist der Grad und die Art der Metamor- phose , w^elche die verschiedenen Generationen während ihrer Entwicke- lung erleiden, äusserst verschieden. Die Ammen, welche auf unge- schlechtlichem Wege zeugen, bleiben gewöhnlich geschlechtslos, selte- ner werden sie selbst nachträglich geschlechtsreif (z. B. bei den Anne- liden, bei Hydra). Gewöhnlich schliessen sich geschlechtliche und un- geschlechtliche Zeugung als gleichzeitige Functionen eines und desselben Individuums aus. Sehr selten kommen beide gleichzeitig neben ein- ander vor 1). Die Zahl der ungeschlechtlichen Generationen und ihr Verhältniss zu den geschlechtlichen ist sehr verschieden, namentlich bei den Pflanzen. Man pflegt gewöhnlich die ungeschlechtliche Gene- ration allgemein als die erste und niedere anzusehen und die geschlechts- reif werdende Generation als die zweite und höhere. Bei den Thieren ist dies wohl meistens der Fall. Bei den Pflanzen dagegen kann, wie besonders Alexander Braun gezeigt hat, auch die erste und niedere 1) Eine der merkwürdigsten Formen des Generationswechsels, bei welcher dasselbe Individuum gleichzeitig durch geschlechtliche und ungeschlechtliche Zeugung sich fort- pflanzt, und bei welcher ausserdem die geschlechtsreif werdenden, ungeschlechtlich er- zeugten Formen gänzlich von der elterlichen geschlechtsreifen Form abweichen, habe ich im vorigen Jahre unter dem Namen der Alloeogenesis bei einer Geryoniden - Meduse aus dem Mittelmeer beschrieben. Bei Qeryonia (CafmarinaJ hastata nämlich, einer sechs- strahligen Meduse , welche der Geryonia proboscidalis nahe steht , sprossen aus dem in der Magenhöhle befindlichen Zuugenkegel , und zwar bei beiden Geschlechtern zu dersel- ben Zeit, wo sie reife Geschleehtsproducte in ihren Genitalien entwickeln, zahlreiche acht- strahlige Knospen hervor, welche sich zu der sechzehnstrahligen Cunina rhododactyla entwickeln, einer gänzlich von Geryonia verschiedeneu Medusen-Form , welche der Fami- lie der Aeginiden angehört. Die Aeginiden galten bisher für eine von den Geryoniden gänzlich verschiedene Medusen - Familie , so dass sie selbst in verschiedene Ordnungen der Hydromedusen-Classe gestellt wurden. Gegenüber der mehrfach geäusserten Vermu- thung, dass hier ein Parasitismus und kein Generationswechsel vorliege , ' bemerke icli wiederholt und ausdrücklich , dass sich das Hei-vorwachsen der achtstrahligen Cimina- Knospen aus der Zunge der sechsstrahligen Geryonia Schritt für Schritt mit solcher Si- cherheit verfolgen lässt, dass ich einen Parasitismus bestimmt in Abrede stellen muss. Dieser Verdacht wird auch durch die wichtige Thatsache widerlegt, welche das paradoxe Verhältniss wenigstens einigennaassen aufzuklären im Stande ist, dass die sechsstrahligen Larven der Geryonia hastata, deren Metamorphose ich von den frühesten Stadien bis zur geschlechtsreifen Form verfolgt habe, in wesentlichen Grundzügen ihres Baues mehr der achtstrahligen Ounina rhododactyla, als der entwickelten sechsstrahligen Geryonia glei- chen. Vergl. E. Ha ecke 1, Beiträge zur Naturgeschichte der Hydromedusen. Leipzig 1865 (Abdruck aus der Jenaischen Zeitschrift für Medicin und Naturwissenschaft I. und n. Band) und die vorläufige Mittheilung in den Monatsberichten der Berliner Akademie Tom 2. Febniar 1865. 94 Entwickelungsgeschichte der physiologi sehen Individuen. Generation gesclilechtsreif werden, und häufig entwickelt sie allein Ge- schlechtsorgane, während die zweite und höhere Generation nur zur geschlechtslosen Zeugung (durch Sporen) gelangt, so namenüich bei den Equiseten und Farmen. Wir bemerken dazu, dass man natürlich als erste (niedere) Generation stets diejenige betrachten muss, welche in der paläontologischen Entwickelung der Speeles oder des Stammes zuerst aufgetreten ist; als zweite (höhere) diejenige, welche erst später im Laufe der Erdgeschichte sich aus der ersteren entwickelt hat. Sehr wahrscheinlich müssen auch diese Fälle des Generationswechsels (bei den Equiseten, Farmen etc.), gleichwie diejenigen der Insecten, Crusta- ceen etc. ganz oder theilweis als Metagenesis regressiva aufgefasst werden. Olfenbar erklärt sich das Paradoxe ihrer Erscheinung, wel- ches in der Entstehung der morphologisch vollkommneren Form durch die physiologisch unvollkommnere Zeugungsart liegt, am besten durch die Annahme, dass die früheren Stammeltern dieser Organismen sich ausschliesslich geschlechtlich fortpflanzten, und dass diese Form der Metagenese erst secundär aus reiner Hypogenese hervorgegangen ist. Da die geschlechtliche Differenzirung sich bei Bionten von sehr verschiedenem morphologischen Range entwickelt, so wird auch echter productiver Generationswechsel bei Organismen vorkommen können, de- ren Bionten durch verschiedene Grade der morphologischen Individua- lität repräsentirt werden. In der That ist dies der Fall, und wir kön- nen danach Metagenesis von mindestens drei verschiedenen Ordnungen (Metameren, Personen und Stöcken) unterscheiden. Die niederste Form, Metagenesis der Metameren, findet sich in ausgezeichneter Weise bei denjenigen Thieren, bei welchen das Bion zeitlebens die Metame- renstufe nicht überschreitet, bei den niederen Mollusken und Würmern, besonders ausgezeichnet bei den Bryozoen, Tunicaten, Trematoden und einigen wenigen Bandwürmern. Bei den Mollusken (Tunicaten und Bryozoen) erfolgt die ungeschlechtliche Zeugung theils durch Knospen- bildimg, theils durch Sommereier oder Sporen (Keimbildung). Bei den Würmern erfolgt sie theils ebenfalls durch Sporogonie oder Keimbil- dung (Trematoden), theils durch Knospenbildung (Echeneibothrium mi- nimum). Die Metagenesis der Personen ist besonders unter den Arthropoden und Würmern verbreitet. Die ungeschlechtliche Zeugung erfolgt hier theils durch Knospenbildung (Cestoden, Anneliden), theils durch Sporenbildung („Sommereier" der Rotatorien, Phyllopoden, Daph- niden, Cocciden, Aphiden etc.). Bei den Cestoden geht die Metagenesis der Metameren (Echeneibothrium) allmählich in diejenige der Personen über (Taenia). Vergl. Bd. I, S. 353. Als Metagenesis der Cormen endlich kann der Generationswechsel vieler Cryptogamen (Farrne etc.)* angesehen werden. Hier ist es meistens die höhere (zweite) Genera- tion, welche sich ungeschlechtlich fortpflanzt, und zwar durch Sporen. VIIT. Allgemeine Charakteristik der Zeugüngskreise. 95 II, 1 B, Metagenesis s u c c e s s i v a. Generationswechsel mit Zusammensetzung des amphi- genen Cyclus aus zwei physiologischen Individuen. Diejenige Form des Generationswechsels, bei welcher der vollstän- dige Generationscyclus nur aus zwei Bionten zusammengesetzt ist, ei- nem geschlechtlichen und einem ungeschlechtlichen Bion, hat nur einen sehr beschränkten Verbreitungsbezirk in der Organismenwelt, ist aber wegen der hierbei stattfindenden Complicatiouen von ganz besonderem Interesse. Es findet sich diese merkwürdige Form der Metagenesis fast ausschliesslich bei den Echinodermen, und ist erst neuerlich auch bei einigen Würmern (Nemertinen und Sipunculiden) aufgefunden worden. Die Echinodermen -Entwickelung (wobei wir von den seltenen, in diesem Stamme vorkommenden und jedenfalls durch paläontologische Abkürzimg der Metagenese entstandenen Ausnahmsfällen einfacher Hy- pogenesis hier ganz absehen) wird gewöhnlich bekanntemiaassen als Metamorphose aufgefasst, obwohl sie sich wesentlich von allen übrigen Formen der Metamorphose unterscheidet. Aus dem Ei entwickelt sich zunächst eine bewimperte Amme, gewöhnlich Larve genannt, welche zu einem barok geformten mit bewimperten Fortsätzen versehenen eu- dipleuren Gerüste auswächst. Diese geschlechtslos bleibende Amme hat einen Darmcanal mit Mund, Magen und After; später entwickelt sich in ihr noch ein innen wimpernder sackförmiger Schlauch, welcher durch einen Porus der Rückeufläche ausmündet. Ihre ganze eudipleure Kör- perform ist so wesentlich von der gewöhnlich pentactinoteu Form des geschlechtsreif werdenden Echinoderms verschieden, dass die Zusam- mengehörigkeit der beiden verschiedenen Formen erst vor zwei Jahr- zehnden von Johannes Müller erkannt worden ist. Im Inneren der eudipleuren sogenannten Larve, welche aber viel mehr den Namen ei- ner Amme verdient, entwickelt sich nun das junge pentactinote Echi- noderm in höchst eigenthümlicher Weise durch innere Knospung, in- dem der Keim der neuen Person um den Darm der Amme (Larve) herum angelegt wird und so einen Theil des Darms der ersteren, so- wie die aus dem Wimperschlauch und Rückenporus (Madreporenplatte) hervorgebildete Anlage des Ambulacralsystems in seinen eigenen Kör- per mit hinübernimmt. Das Ammengerüste, welches verhältnissmässig nur von sehr geringer Grösse ist, bleibt bald ganz hinter dem mächtig wachsenden und vom Ammendarm aus sich weiter entwickelnden jun- gen peutactinoten Echinoderm zurück und zerfällt in Trümmer, indem es von innen heraus durch dieses verdrängt wird. Sehr wichtig ist dab(!i noch der Umstand, dass bei manchen Astenden und Echiniden die fünf Antimeren des Echinoderms in ihrer ersten Anlage als fünf getrennte Blastemstücke (Zellenhaufen mit Kalkskelet) rings um Darm 96 Entmckelungsgeschichte der physiologiBchen Individuen. und Wassercanal herum angelegt werden, und erst nachträglich zu ei- ner einzigen Person zusammenwachsen. Es führt uns dies zu der ein- zigen Erklärung dieser merkwürdigen und in mehr als einer Beziehung so paradoxen Entwickelungsweise hin, welche uns für jetzt möglich scheint, nämlich, dass ursprünghch fünf getrennte eudipleure Personen durch innere Knospung in der wurmförmigen eudipleuren Amme her- vorgesprosst sind, welche sich erst secundär zu einer Wurmcolonic oder einem Articulateustock verbunden haben. Da wir diese Hypo- these, welche uns zur Annahme einer gemeinsamen Wurzel des Echi- nodermen- und Articulaten - Stammes führt, im sechsten Buche noch näher zu begründen haben, so wollen wir dieselbe hier nur insofern betonen, als sie auch unsere Auffassung der Echinodermen- Metamor- phose als wirklicher Metagenese rechtfertigt. Gewöhnlich wird bekannt- lich diese höchst merkwürdige Art der Entwickelung als Metamorphose und die ungeschlechtliche Zwischenform als Larve bezeichnet. Sie un- terscheidet sich aber von der echten Metamorphose dadurch, dass die Zwischenform nicht bloss durch den Besitz besonderer Organe von ihrer geschlechtlichen Stammform verschieden ist, sondern ein von dieser in jeder Beziehung gänzlich verschiedenes Bion darstellt. Während das sexuelle Echinoderm meistens die reine Pentactinotenform und später häufig die Pentamphipleurenform zeigt, meistens also aus fünf, immer aber aus mehr als zwei Antimeren zusammengesetzt ist, zeigt die Amme die Eudipleurenform oder die Eutetrapleurenform und besteht also bloss aus zwei oder vier Antimeren. Auch entsteht die erstere in der letzteren durch einen Neubildungs-Pj'ocess, der in der That nur als innere Knos- pung bezeichnet werden kann. Zwar nimmt sie einen Theil des Darm- canals aus der Amme mit; allein alle anderen Organe werden selbststän- dig, neu, und nach einer von der Larve völhg verschiedenen Grundform angelegt und ausgebildet, so dass mau diesen Process keinesfalls als einfache Metamorphose im strengeren Sinne auffassen kann. Anderer- seits unterscheidet sich freilich dieser Entwickelungscyclus von den übri- gen Formen des Generationswechsels dadurch, dass nur eines, nicht mehrere Bionten von der ungeschlechthchen Form (Amme) erzeugt werden; indess kann dieser Unterschied doch im Grunde nicht für so wesentlich gelten, dass wir deshalb diesen Modus überhaupt nicht als Metagenese auffassen sollten. Jedenfalls muss zugegeben werden, dass das Eiproduct aus zwei verschiedenen Bionten zusammengesetzt ist, während auch bei den extremsten Formen der echten Metamoi-phose das Eiproduct trotz alles Formenwechsels dennoch stets deutlich nur ein einziges Bion repräsentirt und dieses Bion, immer einfach, ein und dasselbe bleibt. Wenn unsere Ansicht, dass die Echinodermen mit den Articulaten in genealogischem Zusammenhange stehen, richtig ist, so erscheint die Auffassung des ausgebildeten pentactinoten Echinodenns Vni. Allgemeine Charakteristik der Zeugungskreise. 97 als eines aus fünf Articulaten-Persoiien zusammengesetzten Stockes ganz uatürlicli; und dann kann kein Zweifel sein, dass ihre Entwickelung wirkliche, echte und zwar productive Metagenese ist, welche erst durch paläoutologische Abkürzung der Ontogenese zu einer Art Metamorphose zusammengezogen ist. Immerhin wird es uns aus diesen Gründen am natürlichsten er- scheinen, die ganz eigen thümliche Entwickelungsweise der Echinoder- men (zumal sie in einigen Fällen in die einfache Metamorphose über- geht) als einen besonderen Generationsmodus aufzufassen, der zwischen Metamorphosis und Metagenesis in der Mitte steht, und für den aus diesem Grunde vielleicht der Name der Metamorphogenesis am passendsten erscheinen dürfte, falls man nicht lieber denselben als suc- cessive (nicht productive) Metagenese dem echten productiven Gene- rationswechsel anschliessen will. Die Würmer, bei denen eine ähnliche Entwickelung, wie bei den Echiuodermen, vorkömmt, gehören den Klassen der Nemertinen und Ge- phyreen an. Bei den Nemertinen ist es die eigenthümliche , einem Fe- derhut ähnliche Ammenform des Pilidium, welche die Rolle der barok gestalteten Echinodermeu - Larven übernimmt. Wie bei den letzteren entwickelt sich die Person {Alardus\ welche die zweite geschlechtsreif werdende Generation repräsentirt, durch einen eigenthümlichen inneren Keimungsprocess in der Umgebung des Darms der frei umher schwim- menden Amme, zwischen Darm und Leibeswand. Die kahnförmige Bil- dungsmasse umwächst den Darm des PUidhim , den sie sich ebenso aneignet, wie das pentactinote Echinoderm den mittleren Darmtheil der eudipleuren Larve (Amme) und durchbricht endlich den Ammenleib, um als selbstständige, von dem letzteren sehr verschiedene Wurmform weiter zu leben und sich zur Geschlechtsreife zu entwickeln. In ähn- licher Weise entwickelt bei den Gephyreen die frei umher schwimmende gewöhnlich als Larve aufgefasste Ammenform Actinotrncha einen von ihr sehr verschieden geformten Sipunculiden, Gleich dem Pilidivm und den Echinodermen- Ammen schwimmt auch die Avlinotrocha mit- telst eigeuthümlicher bewimperter Lappen und Fortsätze frei im Meere umher und ernährt sich, mit Mund und Danncanal ausgerüstet, als selbstständiges Bion einer ersten geschlechtslosen Generation. An ih- rer Bauchseite entwickelt sich ein langer gewundener Schlauch, der den Darm der Amme in sich aufnimmt, sich umstülpt und zur Leibes- wand des Sipunculiden wird, während der übrige Theil des Ammen- körpers theils durch letztere verdrängt wird, theils zeifällt. In allen diesen Fällen ist nicht daran zu zweifeln, dass die soge- nannte Larve und das ausgebildete Thier ganz verschiedene Bionten sind. Man pflegt die hier angeführte Entwickelung gewöhnlich als „Metamorphose" zu bezeichnen, weil die zweite, geschlechtsreif wer- Haockcl, Generelle Morphologie, II. 7 98 Entwickelungsgeschichte der physiologischen Individuen. dende Generation aus der ersten, geschlechtslosen, einen Körpertheil, nämlich ein Stück des Darmcanals (und bei den Echinodermen auch die Anlage des Ambulacralsystems), in sich aufnimmt. Allein bei jeder Form der geschlechtslosen Zeugung geht ein kleinerer oder grösserer Theil (bei der inneren Keimbildung oft ein sehr bedeutender Theil) des zeugenden Individuums in das erzeugte über, und der einzige Unter- schied ist der, dass hier das übernommene Stück bereits ein Theil ei- nes differenzirten Organes ist. Dieser Umstand scheint uns aber ganz unerheblich gegenüber der viel wichtigeren morphologischen Thatsache, dass der Leib der geschlechtlich sich entwickelnden Thiere von Anfang an als eine selbstständige Person auftritt, deren ganze tectologische Anlage von der der geschlechtslosen Elternform verschieden ist und sich selbstständig diflferenzirt. Wir fassen demgemäss mit Victor Ca- rus die sogenannte „Metamorphose" der Echinodermen und die ver- wandte Entwickelung einiger Nemertinen und Sipunculiden als Genera- tionswechsel auf und betrachten die paradoxen „Larven" der Echinoder- men (P//r/c/A.s, Bipin Ilaria etc.), Nemertinen (PUidium) und Gephyreen (Actin otrocha) als wirkliche Ammen (Altrices). Der wesentlichste Un- terschied von der gewöhnlichen Metagenese liegt darin, dass die mo- nogene Zeugung hier nicht, wie bei der letzteren, mit einer Vermeh- rung der physiologischen Lidividuen verbunden ist. Jedoch ist dieser Unterschied, wie auch J. Müller selbst hervorgehoben hat, ganz un- wesentlich, und wir drücken denselben hinreichend dadurch aus, dass wir die Metagenese ohne Vermehrung der Bionten als bloss successive von der mit Vermehrung der Bionten verbundeneu productiven trennen. Endlich könnte den angeführten Beispielen von successiver Meta- genese vielleicht auch noch die höchst merkwürdige Entwickelung der Musciden angeschlossen werden, welche uns durch Weismann's aus- gezeichnete Untersuchungen in neuester Zeit bekannt geworden ist. Bei der postembryonalen Entwickelung dieser Fliegen, welche man bisher allgemein als „Metamorphose" auffasste, zerfallen sämmtliche Organe der Larve, theils vollständig, theils histoly tisch. Bei dieser von Weis- mann so genannten Histolyse lösen sich die histologischen Elemente zu einem Blastem auf, indem sie der fettigen Degeneration erliegen und einen structurloseu Trümmerhaufen, theils aus Fett- theils aus Eiweiss- Molekülen bestehend, bilden, aus dem neue Elementartheile selbststäu- dig sich herausbilden. Bei den Nervencentreu und den Malpighi'schen Gefässen scheinen die Kerne der Zellen zu persistii-en und den Anstoss zur Bildung neuer Zellen und Zellenderivate zu geben; am Darme schei- nen selbst die Kerne zu zerfallen. In der fettig -albuminösen Detritus- masse entstehen durch freie Zellbildung (Generatio spontanea aus or- ganischem Blastem) neue Zellen, aus denen sich der Fliegenleib voll- ständig neu aufbaut. Allerdings aber ist insofern eine etwelche Con- Vin. Allgemeine Charakteristik der Zeugungskreise. 99 tinuität zwischen der zerfalleneu Larve und der neu sich bildenden Fliege, der Imago, gewahrt, als es kein Stadium während der Pup- pen-Entwickelung giebt, in dem nicht entweder noch Larvenorgaue vor- handen oder aber bereits Theile der Fliege neugebildet sind. Die Auf- lösung des Larvenkörpers geschieht allmählich und ihr parallel geht eine Eeihe von Neubildungsprocessen , die auch darin mit der Neubildung des Echinoderms in der Amme grosse Aehnlichkeit haben , dass im In- neren des Ammen- oder Larvenkörpers mehrere getrennte indifferente Zellenhaufen entstehen, welche sich selbstständig differenziren und erst nachträglich zur Person verbinden. Hierin und besonders in dem Um- stände, dass während der Fliegen -Umbildung kein Wachsthum statt- findet, sieht Weis mann den bestimmenden Grund, dieselbe nicht als Metagenese, sondeni als Metamorphose aufzufassen, und wir schliessen uns ihm an, indem wir auf den letzteren Umstand das Hauptgewicht legen. Das Wachsthum, und zwar das über die individuelle Grenze hinaus schreitende Wachsthum, welches zur Ablösung neuer selbststän- diger Keime vom Individuen führt, ist das charakteristische Moment im Fortpflauzungsprocess , und aus diesem Grunde betrachten wir die Muscideu -Neubildung, welche ohne Wachsthum erfolgt, nur als eine höchst vollendete Metamorphose ; die Neubildung der Echinodermen da- gegen, welche mit beständigem Wachsthum über das individuelle Am- menmaass hinaus verknüpft ist, als Metagenese. n, 2. Hypogenesis. Elitwickelung des Eiproductes ohne Generationswechsel. Amphigene Entwickeluug ausschliesslich die Zeugungs- kreise bildend. Der amphigene Zeugungskreislaesteht stets nur aus einem einzigen Bion, welches geschlechtlich er- zeugt ist und selbst geschlechtsreif wird. Das Eiproduct oder der Eikreis wird durch ein einziges physiolo- gisches Individuum (Bion) repräsentirt. Aus jedem befruchteten Ei ent- steht eine einfache Formenkette, welche continuirlich bis zur Geschlechts- reife durchgeführt wird. Jeder individuelle Formzustand ist ein Glied dieser Kette und das unmittelbare Eesultat einer am vorhergegangenen Zustande oder Gliede stattgefundenen Difierenzirung. Es ist also nie- mals die geschlechtliche mit der ungeschlechtlichen Fortpflanzung in- nerhalb des Formenkreises der Speeles combinirt. Die einfache geschlechtliche Fortpflanzung oder die ausschliessliche Entwickelung der Bionten aus befruchteten Eiern, welche wir hier mit dem Namen der Hypogenese l)elegen, findet sich vorzugsweise bei den höheren und vollkommeneren Classen des Thier- und Pflanzenreiches, und bei den höchsten Abtheilungen der niederen Classen. Insbeson- dere ist sie die ausschliessliche Entwickelungsform bei allen noch jetzt 7* 100 Entwickelungsgeschiclite der physiologischen Individuen. lebenden Gliedern des Vertebrateu-Stammes , bei der grossen Mehrzahl aller Arthropoden, bei allen höheren Weichthieren (Cephalopoden, Ce- phalophoren, Lamellibranchien, Brachiopoden) und vielen höheren Wür- mern, sowie bei der grossen Mehrzahl der Phanerogamen. Dagegen kommt sie bei den Echinodermen, Hydromediisen und Cryptogamen nur selten, bei den Protisten vielleicht niemals vor. In allen Fällen durch- läuft bei dieser einfach continuirlichen Entwickelung das physiologische Individuum, welches aus dem befruchteten Eie entspringt, eine einzige ununterbrochene Formenreihe, welche mit der Production von Ge- schlechtsorganen ihr (Ziel erreicht. Jeder Zustand der Speeles ist das unmittelbare Differenzirungsproduct des nächst vorhergegangenen Zu- standes. Niemals wird diese zusammenhängende Kette von epigene- tisch aus einander hervorgehenden Zuständen durch einen ungeschlecht- lichen Zeugungsakt unterbrochen, welcher ein zweites selbstständiges Bion producirt. Man hat freilich auch viele Wachsthums- und Differeuzi- rungsakte, welche im Bion während der hypogenetischen Entwickelung vor sich gehen, als ungeschlechtliche Zeugungsakte (Knospung, Thei- lung etc.) bezeichnet, und es ist dies vollkommen richtig. Allein alle diese ungeschlechtlichen Zeugungsakte produciren nicht neue physiolo- gische, sondern nur moiiAologische Individuen, und diese letzteren sind niemals von dem Range, welchen die Speeles in ihrer ge- schlechtsreifeu vollendeten Form erreicht, sondern stets morphologische Individuen niederen Ranges. So ist z. B. bei der Epigenese der Wir- belthiere schon die Furchung des Eies ein Akt der Theilung von Pla- stiden, die Entstehung der Urwirbel ein Akt der terminalen Knospen- bildung von Metameren, das Hervorsprossen der Extremitäten ein Akt ^ der lateralen Knospung von Organen, das Hervorsprossen der Zehen ein Akt , der Diradiation, und das Wachsthum, sowie das Entstehen jedes neuen Organes ist mit Theilungsakten von Piastiden verknüpft. Allein alle diese ungeschlechtlichen Zeugungsakte führen zusammen nur zur Entwickelung eines einzigen Bion , welches als morphologisches In- dividuum fünfter Ordnung die reife und vollendete Species-Form reprä- sentirt, und diese Person pflanzt sich nur auf geschlechtlichem Wege fort. Das Eiproduct ist demnach in allen Fällen echter Hypogenesis ein einziges physiologisches Individuum. Man pflegt gewöhnlich die einfache Entwickelung aus befruchteten Eiern, welche wir Hypogenesis nennen, einzutheilen in eine Entwicke- lung mit und ohne Verwandlung, und wir werden, dieser Eintheilung folgend, Hypogenesis metamorpha, mit Metamorphose, und Hypogene- sis epimorpha, ohne Metamorphose unterscheiden. Wir halten dabei den Begrifi" der Metamorphose, wie wir ihn oben definirt haben, fest, als die Entwickelung ausserhalb der Eihüllen mit Production provison- scher Organe, welche durch den Yerwandlungsprocess verloren gehen. VIII. Allgemeine Charakteristik der Zeugungskreise. 101 II, 2A. Hypogenesis metamorpha. Ampliigeiie Entwickelung ohne Generationswechsel, mit postenibryonaler Metamorphose. Das physiologische Individuum, welches aus dem befruchteten Ei hervorgeht, entwickelt sich ausserhalb der Eihüllen zur Geschlechts- reife, nachdem es provisorische Theile abgeworfen hat. Der wesentliche Charakter der postembryonalen Metamorphose, wel- che man gewihnlich schlechtweg als Metamorphose bezeichnet. Hegt, wie wir oben zeigten, darin', dass das Bion nach dem Verlassen der Eihüllen provisorische Organe besitzt oder erhält, welche es verliert, ehe es sich zur Geschlechtsreife entwickelt i). So lange das den Eihül- len entschlüpfte Individuum solche provisorische Organe besitzt, wird dasselbe als Larve (Larva, Nympha) bezeichnet. Der Verlust dieser Organe ist der eigentliche Akt der Verwandelung , durch welchen die Larve entweder zum jungen Bion (Juvenis) oder, wenn dabei die Ge- schlechtsorgane sich entwickeln, zum reifen und vollendeten Bion (Ad- ultum) wird. Das Verhältniss der Larven zu den jungen und reifen Bionten ist bei den verschiedenen Organismen ein ausserordentlich ver- schiedenes, je nach der Grösse, Ausdehnung und Form der provisori- schen Organe. Es Hessen sich hiernach eine Masse von verschiedenen Formen bei der Metamorphose ebenso wie beim Generationswechsel un- terscheiden. Indessen ist die Masse der in dieser Beziehung bekann- ten Thatsachen ebenso ungenügend geordnet, als umfangreich, so dass es vorläufig noch nicht möglich ist, in übersichtlicher Zusammenstel- lung das Verhältniss der einzelnen Metamorphosen -Arten zu einander zu erörtern. Eine zukünftige kritische und denkende Vergleichung der- selben wird hier ebenso wie beim Generationswechsel eine sehr reiche Fülle leichterer und tieferer Modificationen zu unterscheiden haben. Für uns genügt hier die Anführung einiger weniger Beispiele. Als den extremsten Grad der Metamorphose müssten wir vor allen die zuletzt' als successive Metagenese aufgeführte Entwickelungsweise bezeichnen, falls wir der herrschenden Anschauung gemäss diesen Entwickelungs- process, welcher zwischen productiver Metagenese und Metamorphose die Mitte hält, der letzteren und nicht der ersteren anreihen wollten. Warum wir diese höchstgradige „Metamorphose" der Echinodermen, Nemertinen etc. für wirkliche Metagenese halten, haben wir soeben ent- wickelt; ebenso warum wir die daran zunächst sich anschliessende post- embryouale Entwickelung der Musciden für wirkliche Metamorphose halten. Freilich geht diese so weit, dass fast die ganze embryonale Entwickelung des physiologischen Individuums wieder von vorn an- Ueber die verschiedene Bedeutung des Begrifl's der Metamorphose bei den ver- schiedenen Autoren vergl. oben S. 23 — 26, sowie Victor Cavus, System der thie- rischen Morphologie S. 264. 102 EntwickelungBgeschichte der physiologischen Individuen. fängt, und dass eigentlich nicht einzelne Organe, sqndern alle Organ- systeme, mithin die ganze Larve selbst als provisorische Form aufge- fasst werden muss. So sehr nun auch diese extremste Form der Me- tamorphose bei den Fliegen von der Metamorphose sich zu entfernen scheint, so ist sie dennoch in der That durch eine lange und allmäh- liche Kette von Uebergangsformeu mit dem geringeren und zuletzt dem ganz geringen Grade der Metamorphose verbunden, und zwar von Uebergangsformeu, welche alle in derselben Insecteu-Classe vorkommen. Während noch bei den Schmetterlingen, den Käfern und den meisten anderen Insecteu mit sogenannter vollkommener Verwandlung gewöhn- lich drei scharf getrennte Abschnitte der postembryonalen Umbildung sich unterscheiden lassen (Larve, Puppe und Lnago), finden wir da- gegen bei den Insecten mit sogenannter unvollkommener oder halber Verwandelung den Process der Metamorphose auf verschiedene Häu- tungen und auf die Entwickelung der Flügel etc. beschränkt. Die Formunterschiede der verschiedenen Häutungszustände sind bald so be- deutend, dass die Häutung noch als unvollkommene Metamorphose be- zeichnet werden kann, bald so gering, dass sie unmittelbar in die epi- morphe Hypogenesc übergeht. Auch bei den übrigen Articulaten und überhaupt bei der grossen Mehrzahl aller "Wirbellosen sehen wir die Hypogenese mit Metamorphose verbunden, so bei den meisten Crusta- ceen, Würmern, Mollusken, Coelenteraten ; sehr häufig treten hier zu- gleich sehr verwickelte Formfolgen dadurch ein, dass sich die Meta- morphose mit der Metagenese verbindet. Unter den Wirbelthieren ist die postembryonale Metamorphose auf den Amphioxus, die Cyclosto- men und Amphibien beschränkt. tl, 2B. Hypogenesis epimorpha. Amphigene Entwickelung ohne Generationswechsel und ohne postembryonale Metamorphose. Das physiologische Individuum, welches aus dem befruchteten Ei hervorgeht, entwickelt sich ausserhalb der Eihüllen zur Geschlechts- ' reife, ohne provisorische Theile abzuwerfen. Die epimorphe Hypogenese, die postembryonale Entwickelung ohne Verwandlung, ist diejenige Entwickelungsform, welche vorzugsweise für die Ontogenie der grössten und höchst entwickelten Organismen, so- wohl im Pflanzenreich, als im Thierreich, geeignet erscheint, vielleicht schon deshalb, weil hier alle provisorischen Formzustände innerhalb der Eihüllen durchlaufen und alle provisorischeu Organe während des embryonalen Lebens rückgebildet werden und verloren gehen. Der Em- bryo durchbricht hier also die Eihüllen schon in der ausgebildeten we- sentlichen Form des reifen Thieres und alle postembryonalen Verände- rungen beschränken sich auf die Entwickelung der Geschlechtsorgane VIII. Allgemeine Charakteristik der Zeugungskreise. 103 und auf das blosse Waclistliuiii, welches allerdings dadurch, dass es in verschiedenen Köi-pertheilen verschieden rasch fortschreitet und ver- schieden lange dauert, immerhin ziemlich beträchtliche Proportiousuu- terschiede in der Grösse und dadurch auch in der Form des vollen- deten und des werdenden Individuums hervorzurufen vermag. Wir finden diese Hypogenese ohne Metamorphose bei den allermeisten Wir- belthieren (mit Ausnahme der Amphibien, Cyclostomen und Leptocar- dier)^ also bei allen Säugern, Vögeln, Keptilien und echten Fischen. Unter den Mollusken besitzen sie fast nur die Cephalopoden , welche sich auch in anderen Entwickelungsverhältnissen wesentlich von den übrigen Mollusken unterscheiden. Unter den Articulaten ist die epi- morphe Hypogenese im Ganzen selten, ebenso unter allen übrigen Wir- bellosen. Obgleich man diesen Entwickelungsmodus gewöhnlich für ei- nen sehr einfachen zu halten pflegt, ist er doch, entsprechend schon der hohen Organisationsstufe, welche die betreffenden Thiere erreichen, um- gekehrt für einen der complicirtesten zu erachten, und vom phyloge- netischen Standpunkte aus für eine Art der Ontogenese, welche erst durch lange dauernde „Abkürzung der Entwickelung" entstanden ist. Im Pflanzenreiche finden wir die epimorphe Hypogenese ebenso wie im Thierreiche als die fast ausschliessliche Entwickelungsform al- ler höheren und grösseren Organismen wieder (mit Ausnahme der hö- heren Cryptogamen). Wir finden dieselbe vor bei den höheren Algen (Fucaceen), ferner fast allgemein bei den Phanerogamen , nur diejeni- gen ausgenommen, welche durch frei sich ablösende Brutknospen (Bulbi und Bulbilli) auf monogenem Wege neue Bionten erzeugen (echte Me- tagenesis). Warum wir den Zeugungskreis der Phanerogamen nicht als echte Metagenesis anerkennen können, werden wir sogleich bei Betrach- tung der Strophogenese näher begründen. Die ganze Formenfolge vom Ei bis zum Ei bildet hier eine einzige geschlossene Entwickelungskette und erscheint als ununterbrochene Differenzirungsreihe von successiven Formzuständen eines einzigen Bion, ganz wie bei den höheren Thiereu. Es könnte demnach nur die Frage entstehen, ob wir die Ontogenese der Phanerogamen als metamorphe oder als epimorphe auffassen sol- len, d. h. ob mit ihrer postembryonalen Entwickelung eine Metamor- phose verbunden ist oder nicht. Dass die sogenannte „Metamorphose der Pflanzen", und der Phanerogamen insbesondere, wesenthch eine Dif- ferenzirungserscheinung ist, und keine Verwandlung in dem Sinne, in welchem der Begrifl" der Metamorphose von den Zoologen fast allge- mein und täglich gebraucht wird, haben wir bereits oben (S. 23) ge- zeigt. Es könnte sich also nur fragen, ob sich ausserdem noch bei den hypogenen Pflanzen eine echte Metamorphose in dem vorher fest- gestellten Sinne findet, d. h. eine postembryonale Entwickelung mit Ver- lust provisorischer Theile. Als solche „provisorische Theile" könnte 104 Eutwickelungsgesehichte der physiologischen Individuen. man bei den Phanerogamen die Cotyledouen oder Keimblätter auffassen; und wenn man diese Auffassung gelten lässt, so würde die Hypogene- sis der Phanerogamen nicht als epimorphe, sondern als metamorphe Entwickelung zu betrachten sein, und der Verlust der Keimblätter als Akt der Verwandeluug. Die Keimpflanze, d.h. die dem Samen ent- keimte, aus den EihüUen hervorgebrochene junge Pflanze wäre dann als „Larve" zu betrachten, so lange sie noch die Cotyledonen („Lar- venorgane") besitzt. Man pflegt den Entwickelungsmodus der epimoi-phen Hypogenese, wie er den meisten höheren Thieren und Pflanzen zukommt, gewöhn- lich als einen „sehr einfachen" zu bezeichnen, gegenüber der meta- morphen Hypogenese und der Metagenese. Indessen übersieht man dabei, dass die Entwickelungsvorgänge , welche hier innerhalb des Eies verborgen verlaufen, viel complicirtere und aus grösseren Reihen dif- fereuter Zeugungsakte zusammengesetzt sind, als bei denjenigen an- scheinend äusserlich mehr zusammengesetzten Entwickelungsreihen, wel- che beim Generationswechsel etc. auftreten. Wahrscheinlich sind auch die scheinbar einfachsten Formen der epimorphen Hypogenese durch paläontologische „Abkürzung der Entwickelung" secundär aus viel ver- wickeiteren Generationsreihen von metageuetischer Form hervorgegan- gen, in ähnlicher Weise, wie es die sogleich zu besprechende Stropho- genese ahnen lässt. IX. Metagenesis und Strophogenesis. (Generationswechsel und Generationsfolge.) Die Charakteristik des echten Generationswechsels oder der Meta- genesis, welche wir oben festzustellen versuchten, hob als das wesent- lichste Moment dieses Entwickelungsmodus die Zusammensetzung des Zeugungskreises aus zwei oder mehreren successiven Bionten hervor, welche theils auf geschlechtlichem, theils auf ungeschlechtlichem Wege entstehen. Es wird also hier die Speeles durch zwei oder mehr ver- schiedene, theils sexuelle, theils esexuelle Bionten oder physiologische Individuen vertreten, von denen die ersteren die unmittelbaren Erzeug- nisse der letzteren sind. Wie schon dort hervorgehoben wurde, hat man neuerdings den Begriff des Generationswechsels viel weiter ausgedehnt, indem man auch ähnliche Entwickelungsreihen von höheren Organismen und insbeson- dere von den Phanerogamen hereinzog. Allerdings ist der Zeugungs- kreis, welchen die Stöcke der Phanerogamen dmxhlaufen, in mancher Hinsicht der echten Metagenesis sehr ähnlich, aber dennoch unserer Ansicht nach in anderer Beziehung wesentlich verschieden, und gerade derjenige Charakter, den wir oben als den entscheidenden hingestellt i IX. Metageuesis und Strophogenesis. 105 haben, fehlt denselben. Bei allen Phanerogamen-Stöcken entspringt aus der geschlechtlichen Zeugung ein Spross (Blastus), also ein Form-Indi- viduum fünfter Ordnung, welches durch wiederholte ungeschlechtliche Zeugimgsakte , nämlich durch unvollständige äussere Knospenbildung, zahlreiche andere Sprosse erzeugt, die zu einem Stocke oder Cormus vereinigt bleiben. Dieser Cormus ist aber ein einziges Form -Indivi- duum sechster und höchster Ordnung, und als solches zugleich das physiologische Individuum (Bion), welches als concreto Lebenseinheit die Art repräsentirt oder das Speciesglied bildet. Da nun dieser Stock selbst wieder geschlechtsreif wird, oder da, genauer ausgedrückt, un- mittelbar aus den integrirenden Bestandtheilen dieses Stocks, nämlich aus den geschlechtlich differenzirten Personen (Blüthensprossen) der Same amphigen erzeugt wird, welcher dem Stocke selbst den Ursprung giebt, so haben wir den ganzen Zeugungskreis als einen einfachen hy- pogenen Generationscyclus aufzufassen. In der That haben wir vom Ei bis zum Ei die vollkommen geschlossene Formenkette des einen physiolo- gischen Individuums, welches als Stock aus einem Ei entsteht, und selbst wieder Eier zeugt. Der gewöhnliche Zeugungskreis der Phanerogamen ist also eben so gut ein einfacher hypogener, wie derjenige der Wirbel thiere. Die Ansicht, dass der Entwickelungskreis der Phanerogamenstöcke auf einem echten Generationswechsel beruhe, würde dann richtig sein, wenn der Spross (Blastus) das physiologische Individuum derselben wäreO- Dies ist aber nicht der Fall, wie wir im dritten Buche ge- zeigt haben. Vielmehr ist der Spross, welcher als Form - Individuum fünfter Ordnung bei den Wirbelthieren in der That das physiologische Individuum bildet, bei den Phanerogamen nur em untergeordneter Be- staudtheil des Stockes oder Cormus, welcher hier als Form-Individuum sechster Ordnung die physiologische Individualität repräsentirt. Und da der letztere sich allerdings durch ungeschlechtliche Zeugungsakte entwickelt, aber lediglich durch geschlechthche Zeugungsakte fort- pflanzt, so ist unzweifelhaft der gewöhnliche Generationscyclus der Phanerogamen keine Metagenesis, sondern einfache Hypogenesis, wie bei den Wirbelthieren. Der Unterschied zwischen Beiden besteht nur darin, dass die physiologische Individualität hier durch ein morpholo- gisches Individuum fünfter, dort aber sechster Ordnung, repräsentirt 1) Die Ansicht, dass der Spross das „eigentliche" Individuum der Pflanze sei, ist, wie wir im dritten Buche sahen, insofern richtig, als der Spross der thierischen Person morphologisch volllcommen entspricht, insofern aher unrichtig, als er bei den stockbil- denden Pflanzen nicht das physiologische Individuum ist. Die in morphologischer Bezie- hung vollkommen richtige Ansicht von der Aequivalenz des pflanzlichen Sprosses und der thicrischen Person ist am ausführlichsten von Alexander Braun begründet worden in seinen an gedankenvoller Naturbetraclitung so reichen Schriften über die „Verjüngung in der Natur", „das Individuum der Pflanze" etc., wo auch die Ansicht vom Genera- tionswechsel der Phanerogamen am trefl'endsten ausgeführt ist. 106 EntwickelungBgeschichto der physiologischen Individuen. wird. Als echten Generationswechsel, als wirkliche M-etagenesis kön- nen wir hei den Phanerogamen nur jene Fälle auffassen , in denen sich Brutknospeu (Bulhi, Bulbilli etc.) selbstthätig vom Stocke ablösen und also wirklich monogen erzeugte neue Bionten bilden (z. B. LUium bn(- biferum, Dentorla bnlhijera etc.). Die Yergleichung des scheinbaren Generationswechsels der Phane- rogamen mit dem echten Generationswechsel der Cryptogamen und der höheren Thiere führt uns unmittelbar zu einer Betrachtung, welche sowohl für das Verständniss des zusammengesetzten Baues der höheren Organismen überhaupt, als auch besonders ihrer Entwickelungsverhält- nisse von der grössten Bedeutung ist. Bei den Phanerogamen, wie sie uns besonders Alexander Braun's klare Betrachtungsweise tec- tologisch erläutert hat, ist es nämlich ganz richtig, dass der Stock (Cormus), also das morphologische Individuum sechster Ordnung, als einfaches Bion durch eine Reihe von ungeschlechtlichen Zeugungspro- cessen untergeordneter morphologischer Individualitäten entsteht, wel- che endhch mit der Erzeugung geschlechtlicher Keime in den Blüthen- sprossen abschliessen. Verfolgen wir den gewöhnlichen Phanerogamen- Cormus auf seinem Lebenswege von der Theilung des Eies (Keimbläs- chen) an, so können wir eine Reihe von ungeschlechtlichen Zeugungs- akten verschiedener Ordnungen unterscheiden, welche endlich mit der Eibildung den amphigenen Zeugungskreis vollendet. Ganz dasselbe finden wir aber auch, wenn wir die einzelnen Entwickelungsakte der höheren Thiere, z.B. der Wirbelthiere, vergleichen, deren Ontogenesis doch allgemein und ohne Widerspruch als einfache Hypogenesis, als Amphigenesis ohne Generationswechsel, aufgefasst wird. Auch hier stossen wir von der Theilung (Eurchung) des Eies an auf eine ganze Reihe von ungeschlechthchen Zeugungsakten, welche endlich mit der Geschlechtsreife den amphigenen Zeugungskreis abschhesst. Die im nächstfolgenden Abschnitte aufgestellte Parallele zwischen den ontoge- netischen monogenen Zeugungsakten der Vertebraten und Dicotyledo- nen wird diese üebereinstimmung anschaulicher erläutern und sogar his zu einem Grade nachweisen, welcher wahrhaft erstauuhch ist Bei den Wirbelthieren ebenso wie bei den Phanerogamen durchlauft das Bion während seiner ontogenetischen Entwickelung die ganze Reihe von untergeordneten morphologischen Individualitäten, welche derjenigen vorausgehen, in der es schliesslich als reifes Bion die Speeles repra- sentirt. Jede höhere Individualitäts-Ordnung wird durch einen beson- deren ungeschlechtlichen Zeugungsakt von der vorhergehenden nächst niederen erzeugt, und auch innerhalb des Entwickelungs auf es jeder einzelnen Individualitäts -Ordnung finden wir noch massenhaft wiedci- holte monogene Zeugungsakte der Piastiden, welche die Organe etc. constituiren Dennoch wird es Niemand einfallen, diese Entwickelungs- IX. Metageuesis und Sti'ophogenesiß. 107 reihe, die uns einer ganzen Kette von verschiedenen, monogen aus ein- ander hervorgehenden, untergeordneten Generationen besteht, als echte Metagenesis betrachten zu Avollen. Denn die ganze Zeugungskette ver- läuft Schritt für Schritt im ununterbrochenen Zusammenhange an ei- nem und demselben physiologischen Individuum oder Bion. Der ein- zige Unterschied zwischen der Hypogenese der höchsten Pflanzen und Thiere ist der, dass die letztei;en (Vertebraten, Arthropoden) nicht die letzte und . höchste, die sechste Stufe der morphologischen Individua- lität erreichen, sondern vorher auf der fünften stehen bleiben. Der Cormus ist aber ebenso die specifische Form des reifen Bion bei den Phauerogamen , wie die Person bei den Vertebraten und Arthropoden. Ganz ähnliche Reihen von eng verketteten ungeschlechtlichen Zeu- gungsakten begleiten die Ontogenesis bei allen Organismen, die nicht als Bionteu auf der ersten Stufe der Plastide stehen bleiben. Bei den höheren Mollusken z. B. , deren physiologische Individualität stets auf der vierten Stufe des Metameres stehen bleibt, können wir ganz eben solche Zeugungsreihen unterscheiden, ohne dass wir auch hier von ei- ner echten Metagenese sprechen können. Die Cephalopoden, Cochleen, Lamellibranchien etc. verhalten sich in dieser Beziehung ganz ähnlich zu den Wirbelthieren, wie diese ihrerseits zu den Phauerogamen. Wir glauben daher nicht zu irren, wenn wir alle diese unge- schlechtlichen Zeugungsketten, die an einem einzigen, geschlechtlich erzeugten und selbst geschlechtsreif werdenden Bion verlaufen, von dem echten Generationswechsel, der stets an zwei oder mehreren Bionten abläuft, unterscheiden, und schlagen vor, dieselben allgemein mit dem Namen der Generationsfolge oder Strophogenesis zu bezeichnen. Es kann demnach der scheinbare Generationswechsel der Phauerogamen als Strophogenesis von Cormen , die individuelle Entwickelung der Ver- tebraten und Arthropoden als Strophogenesis von Personen, diejenige der höheren Mollusken als Strophogenesis von Metameren bezeichnet werden. Will man diese Auffassung bis zu ihren letzten Consequenzen verfolgen, so muss eigentlich alle Amphigenesis von polyplastiden Organismen als Strophogenesis aufgefasst werden, da alles „zusammengesetzte Wachs- thum" derselben mit Zeugungsakten von Piastiden verbunden ist. Die objective Betrachtung der Strophogenesis und ihr Vergleich mit der Metagenesis ist äusserst wichtig und lehrreich, besonders auch für das Verständniss der Parallele zwischen der Ontogenese und Phy- logenese. Es ist leicht möglich, dass viele Processe, die wir jetzt zur Strophogenese rechnen . müssen , in früheren Zeiten der Erdgeschichte wirkliche Metagenese waren und erst nachträglich durch „Abkürzung der Entwickelung" zusammengezogen wurden. In welcher Weise wir uns die Entstehung der höheren Organismen durch Stropliogenese un- gefähr denken, mag das nachfolgende Beispiel zeigen. 108 Entwickeluugsgescliichte der physiologischen Individuen. X. Parallele Strophogenesis gamen und der L Dicotyledonen. Erster Zeiigungs - Akt : Das Bion ent- steht als Pflanzen-Ei (Embryobläschen) im Embryosack durch Emplasmogonie. Erste Generation: Das Bion ist ein Form-Individuum erster Ordnung, eine einfache Plastide : Pflanzen- Ei (Em- bryobläschen , Keimbläschen). Zweiter Zeugungs - Akt : Das Bion wird durch fortgesetzte Th eilung zum einfa- chen Organ: Proembryo. Ziodte Generation: Das Bion ist ein Körper vom morphologischen Wer- the eines einfachen Organs (aus ei- ner Zellenart zusammengesetzt) oder ein Form - Individuum zweiter Ord- nung: Vorkeim oder Proembryo. Dritter Zeugungs- AJct: Das Bion (jetzt Proembryo) erzeugt durch Spaltung (la- terale Knospenbildung) ein neues In- dividuum zweiter Ordnung: eigentlicher Keim oder Embryo. Da Embryo und Pro- embryo aus differenten Piastiden bestehen, erscheint das ganze Bion jetzt als „zusam- mengesetztes Organ". Dritte Generation: Das Bion ist ein morphologisches Individuum zwei- ter Ordnung (ein zusammengesetz- tes Organ), welches sich auf Kosten des elterlichen Proembryo entwickelt: Keim oder eigentlicher Embryo. Vierter Zeiigungs-Akt : Das Bion (jetzt Embryo) erzeugt durch Wachsthum, Diffe- renzirung und unvollständige laterale Knospenbildung zwei neue Individuen zweiter Ordnung (Organe) , die beiden Co- tyledonen (rechtes und linkes Keimblatt). Durch die gegenständige Stellung derselben und die zwischen beiden sich erhebende Axenspitze (Terminalknospe) zerfällt der Embryo in zwei Form - Individuen dritter Ordnung (Antimeren) und wird dadurch selbst zu einem Individuum vierter Ord- nung : Metamer. der dicotyledonen Phanero- Vertebraten. II. Vertebraten. Erster Zeugungs- Akt : Das Bion ent- stellt als Thier -Ei durch Z eil enth ei- lung (?) im Eierstock. Erste Generation : Das Bion ist ein Form-Individuum erster Ordnung, eine einfache Plastide: Thier-Ei (Ovum, Ovulum). Zrceiter Zeugungs- Akt: Das Bion wird dui-ch fortgesetzte Th eilung zum einfa- chen Organ: Blastoderma. Ztceite Generation : Das Bion ist ein Körper vom morphologischen Wer- the eines einfachen Organs (aus ei- ner Zellenart zusammengesetzt) oder ein Form-Individuum zweiter Ord- nung: Keimhaut oder Blastoderma. Dritter Zeugungs- Akt : Das Bion (jetzt Blastoderma) erzeugt durch Spaltung (Theilung) drei neue Individuen zweiter Ordnung: die drei Keimblätter, welche in der Mitte sich verdicken und zur Embryonal- Anlage (Doppelschild) v6rwachsen. Da die drei Keimblätter aus dififerenten Piastiden bestehen, erscheint das Ganze jetzt als „zu- sammengesetztes Organ". Dritte Generation : Das Bion ist ein morphologisches Individuum zwei- ter Ordnung (ein zusammengesetz- tes Organ), welches sich auf Kosten des elterlichen Blastoderma entwickelt: Dop- pelschild oder Embryonalanlage, eigent- licher Embryo. Vierter Zeugungs- Act : Das Bion (jetzt Embryo) erzeugt durch Wachsthum, Diffe- renzirung und unvollständige Längsthei- lung zwei neue Individuen zweiter Ordnung (Organe) , die beiden MeduUarplatten oder Rückenwülste (rechte und linke Rücken- platte). Durch die gegenseitige Stellung derselben und die zwischen Beiden sich ver- tiefende Asenrinne (Primitivrinne) zerfällt der Embryo in zwei Form-Individuen dritter Ordnung (Antimeren) und wird dadurch selbst zu einem Individuum vierter Ordnung : Metamer. X. Parallele Strophogenesis der Phanerogamen und Vertebraten. 109 \iei-te Generation : D a s B i o n ist ein morphologisches Individuum vier- ter Ordnung (Metamer), welches aus zwei Form - Individuen dritter Ordnung (Antimeren) zusammengesetzt ist: der eudipleure Embryo mit den beiden Cotyledonen, welche denselben in linke und rechte Seiteuhälfte theilen imd die drei Riehtaxen bestimmen. Fünfter Zeugungs-JLkt : Das Bion (jetzt eudipleurer Embryo mit Cotj'ledonen) er- zengt durch wiederholte Terminal knos- penbilduug eine Kette vou unvollständig geti-ennten Metamereu, den Stengelgliedern (Interuodien) , welche als „Plumula" die Grundlage eines Form - Individuums fünfter Ordnung bilden, des Sprosses (Blastos). Fünfte Gcncrati&n: Das Bion als eu- dipleurer Embryo mit Cotyledonen und Plu- mula ist ein morphologisches Indi- viduum fünfter Ordnung (Spross) und verlässt als solcher die EihüUen, um sich ausserhalb derselben weiter zu entwickeln. Die junge einfache Pflanze besteht als Spross aus einem einzigen, aus Stengelgliedern zu- sammengesetzten Axorgan und aus seitlichen Blattorganen (Cotyledonen und Blattanlagen der Plumula), welche diu'ch ihre Stellung die Grundform bestimmen. Sechster Zeugungs-Akt : Das Bion (jetzt vollständiger Spross [Blastos] oder einfache Pflanze) erzeugt durch laterale Knos- penbildung neue Sprosse (Blasien), wel- che mit ihm in Verbindung bleiben und so ein Form - Individuum sechster und letzter Ordnung herstellen, einen Stock (Cormus). Sechste Generation : Das Bion als „zusammengesetzte Pflanze" oder Stock (Cormus) ist ein morphologisches Individuum sechster Ordnung und hat als solches den höchsten Grad der mor- phologischen Individualität erreicht, welcher überhaupt vorkommt. Er entwickelt sich durch einfache Hypogenese (durch zusam- mengesetztes Wachsthum und Differenzi- rung) weiter bis zum geschlechtsreifen Bion. Vierte Generation: Das Bion ist ein morphologisches Individuum vier- ter Ordnung (Metamer), welches aus zwei Form - Individuen dritter Ordnung (Antimeren) zusammengesetzt ist: der eudipleure Embryo mit der Primitiv- rinne und den beiden Medullai-wülsten, wel- che denselben in linke und rechte Seiten- hälfte theilen und die drei Riehtaxen be- stimmen. Fimfter Zeugungs-Akt : Das Bion (jetzt eudipleurer Embryo mit Primitivrinne und Medullarwülsten) erzeugt durch wiederholte Terminalknospenbildung eine Kette von unvollständig getrennten Metameren, den Urwirbeln, welche als „Urwirbelsäule" die Grundlage eines Form-Individuums fünf- ter Ordnung bilden, der Person (Prosopon). Fünfte Generation: Das Bion als eudi- pleurer Embryo mit Medullarrohr und Ur- wirbelsäule ist ein morphologisches Individuum fünfter Ordnung (Per- son) und hat als solcher den höchsten Grad der morphologischen Individualität erreicht, welcher im Wirbelthicr - Phylon vorkommt. Er verlässt als solcher die Eihüllen und ent- wickelt sich durch einfache Pypogenese wei- ter bis zum geschlechtsreifen Bion. 110 EnWickelungsgeschichte der morphologischen Individuen. Achtzehntes Capitel. Entwickelungsgescliichte der morphologischen Individuen. „Betrachten wir alle Gestalten, besonders die organischen, so finden wir, dass nirgend ein Bestehendes, nirgend ein Ruhendes, ein Abgeschlossenes vorkommt, sondern dass vielmehr Alles in einer stäten Bewegung schwankt. Das Gebildete wird sogleich wieder umgebildet, und wir haben uns, wenn wir einigermassen zum le- bendigen Anschaun der Natur gelangen wollen , selbst so beweglieh und bildsam zu erhalten, nach dem Beispiele, mit dem sie uns vorgeht" Goethe. I. Ontogenie der Piastiden. Individuelle EntAvickelungsgeschichte der Plasmastücke. Die Ontogenie der Plastiden oder Plasmastücke, der morphologi- schen Individuen erster Ordnung, ist die allgemeine Basis der gesamm- ten individuellen Entwickelungsgeschichte. Da jeder Organismus als Bion oder physiologisches Individuum entweder durch eine einzige Pla- stide oder durch einen Complex von mehreren vereinigten Plastiden, also durch ein Form -Individuum zweiter bis sechster Ordnung reprä- sentirt wird, so lässt sich die Entwickelung desselben stets auf die Ge- nesis der Plastiden zurückführen. Wie alle physiologischen Functionen des Organismus bei den monoplastiden Bionten die Functionen einer einzigen Plastide, bei den polyplastiden Bionten aber in letzter Instanz nichts Anderes sind, als das Resultat der Functionen aller Plastiden, welche denselben als Aggregat zusammensetzen, so gilt dies natürlich auch von denjenigen liebenserscheinungen , auf welchen alle organische Entwickelung' beruht, von der Zeugung, dem Wachsthum, der Diffe- renzirung und Degeneration. Die Reihe von continuirlichen Formver- änderuugen, welche der concrete, sinnlich wahrnehmbare Ausdruck die- ser Lebensbewegungen und das reale Object der individuellen Entwi- ckelungsgeschichte ist, lässt sich demgemäss in letzter Instanz eben- falls als das nothwendige Gesammtresultat aller derjenigen Formver- T. Ontogenie der Piastiden. III Änderungen ansehen , welche an den constituirenden Piastiden , den Cy- toden und Zellen, verlaufen. Dieses wichtige Gesetz gilt sowohl von , der Structur als von der Grundform aller Individuen zweiter bis sech- ster Ordnung. Sowohl die tectologischen als die promorphologischen Verhältnisse jedes Individuums, welches einer der fünf höheren Indivi- dualitäts- Ordnungen angehört, sind unmittelbar abhängig von den be- stimmenden Verhältnissen der nächstniederen constituirenden Individua- litäts- Ordnung, und also in letzter Instanz allemal von den Piastiden. Wie die vollendete Form, so muss sich auch die werdende verhalten, und so ist in der That die Entwickelung aller zusammengesetzten In- dividuen, vom Organ bis zum Cormus, immittelbar bedingt durch die Plastidogenesis. Diese Andeutungen mögen genügen, um wiederholt auf die ausserordentlich hohe und fundamentale Bedeutung hinzuwei- sen, welche die Plastidogenie für die Entwickelungsgeschichte aller Form- Individuen zweiter bis sechster Ordnung und somit für die gesammte Ontogenie besitzt. Die physiologischen Functionen, auf denen die Entwickelung der Piastiden beruht, sind dieselben wie bei allen übrigen Individualitäten, nämlich Vorgänge der Zeugung, des Wachsthums, der Diflferenzirung und der Degeneration (vergl. S. 72—76). Da von den drei letzteren Entwickelungsfunctionen sich sehr wenig Allgemeines aussagen lässt, was nicht schon im Vorhergehenden erwähnt wäre, so werden wir auf dieselben sowohl hier bei den Piastiden, als auch nachher bei den Form- Individuen zweiter bis sechster Ordnung, nur einen flüchtigen Seiten- blick werfen, und dagegen vorzugsweise die Entstehung der Individuen durch verschiedene Arten der Zeugung berücksichtigen, welche wesent- lichere und allgemeiner zu unterscheidende Differenzen bei den ver- schiedenen Organismen zeigt. Nächst der Zeugung ist es vorzüglich die Ditferenzirung, welche das meiste Interesse darbietet, jedoch im Einzelnen schon zu viel tiefgreifende Verschiedenheiten selbst bei nächst- verwandten Organismen zeigt, als dass eine allgemeine vergleichende Behandlung derselben schon jetzt sehr fruchtbar erscheinen könnte. Wir werden aus diesen Gründen auf eine gleichmässig eingehende Behandlung aller vier verschiedenen Entwickelungsfunctionen bei dem ganz allgemeinen und flüchtigen Ueberblicke, den die Entwickelungs- geschichte der morphologischen Individuen gegenwärtig zu gewähren vermag, verzichten müssen. Dasselbe gilt in noch höherem Grade von den drei verschiedenen Stadien der Entwickelung, welche wir im Vorhergehenden unterschieden haben, der Aufbildung (Anaplasis), der Umbildung (Metaplasis) und der Rückbildung (Cataplasis). Welche gi'ossen Schwierigkeiten auch bei der allgemeinsten Betrachtung einer scharfen Trennung dieser drei Stadien entgegenstehen, ist daselbst be- reits erwähnt. Die Ontogenie der Individuen aller verschiedenen Ord- 112 Entwickelimgsgeschichto der morphologischen Individuen, imiigen legt uns diese Hindernisse überall in unseren Weg, wenngleich an verschiedenen Stellen in verschiedenem Maasse. Die mechanische Entwickelungsgeschichte der Zukunft, welche strenger den Causalnexus der ontogenetischen Erscheinungen erfasst haben wird, kann mit mehr Aussicht auf Erfolg den allgemeinen Versuch einer durchgreifenden Trennung und vergleichenden Darstellung der verschiedeneu Stadien der Ontogenesis unternehmen, als es uns gegenwärtig möglich sein würde. Wir verzichten daher hier vollständig auf eine scharfe Cha- rakteristik der ontogenetischen Stadien, und wenden uns bloss zu ihren allgemeinen Functionen. Die Plastidogenie 1) oder die Entwickelungsgeschichte der Pla- stiden ist, wie die gesammte Plastidologie oder die sogenannte Histo- logie eine' noch sehr junge Wissenschaft, welche erst seit der Begrün- dung der Zellentheorie durch Schleiden (1837) und Schwann (1839) ihr noch weit entferntes Ziel mit Bewusstsein zu verfolgen beginnen konnte. Allerdings ist nun in den drei seitdem verflossenen Decennien durch die reichen empirischen Beiträge zahlloser Einzelforscher die Hi- stologie rasch zu einem ungeheuren Umfang angeschwollen. Indessen ist der wirklich wissenschaftliche Kern, das bleibend werthvolle End- resultat dieses colossalen Materials verhältnissmässig nur ein sehr ge- ringes, da man allgemein viel zu einseitig bestrebt war, Einzelheiten zu sammeln, ohne an die allgemeinen Gesetze zu denken, die sich aus ihnen ergeben solle;i. Den meisten Mikroskopikern war es hauptsäch- lich darum zu thun, möglichst viele neue und seltsame Zellenformen aufzufinden und in der Darstellung und Benennung dieser Formen die- selbe Formenspielerei zu treiben, welche sie bei den makroskopischen descriptiven „Systematikern" verachteten. Nur eine geringe Anzahl von Histologen hat bisher gründlich vergleichende und denkende Beob- achtungsreihen angestellt und nur sehr Wenige sind bisher bestrebt gewesen, in dem Chaos der unendlich mannichfaltigen Zellenformen das Gemeinsame ihrer Bildungsgesetze zu erkennen. Daher hat man auch der Entwickelungsgeschichte der Piastiden verhältnissmässig viel weni-^ ger Aufmerksamkeit, als ihrer Anatomie geschenld, zumal dieselbe eme weit intensivere Beobachtung und denkendere Betrachtung erforderte, als bei den Meisten beliebt, und als zu der blossen Beschreibung der 1) Die Entwickeluugsgeschichte der morphologischeu Individuen erster Ordnung oder der Piastiden (Cytoden und Zellen) wird gewöhnlicli als Entwickelungsgeschichte der Ge- webe oder als Histogenie bezeichnet. Jedoch ist der Begriff des „Gewebes", wxe wir im neunten Capitel gezeigt haben, keiner scharfen Definition fähig; da man un er den einfachen oder niederen Geweben nux- die verschiedenen Formen („Arten' ) der Pla- stiden, unter den zusammengesetzten oder höhereu Geweben aber ^^^J ^"^7^7" ter Ordnung oder Organe (Zclliusionen, Zellstöcke, einfache Organe etc.) versteht.^ Schon aus diesem Grunde erscheint es passend, den gebräuchlichen Namen der Histogen.e durch den schärfer und umfassender bezeichnenden Begriff der Plastidogen.e zu ersetzen. I. Ontogenie der Plastideu. 113 fertigen Elementartheile erforderlich ist. Und doch ist der hohe Werth, den die Entwickelungsgeschichte der Organismen für das Verständniss ihrer Structur, den die Kenntniss des Werdens für die Erkenntniss des Gewordeneu besitzt, nirgends von solcher fundamentalen Bedeutung, als bei den organischen Individuen erster Ordnung, aus denen sich alle höheren erst zusammensetzen. Als den wesentlichen, charakteristischen und nie fehlenden Form- bestandtheil aller Piastiden haben wir im neunten Capitel ein zusam- menhängendes Plasmastttck oder einen Plasmaklumpen nachgewiesen, d. h. ein individuelles Aggregat von Molekülen jener complicirt zusam- mengesetzten, festflüssigen Eiweiss -Verbindung, welche' wir in allen Fällen als den eigentlichen „Lebensstoff", als das materielle active Sub- strat der Lebensbewegungen betrachten müssen. Besteht der ganze active Piastidenkörper bloss aus einem solchen Plasmaklumpen, so nen- nen wir ihn Cytode; hat er sich dagegen in einen centralen Kern und eine peripherische Plasma-Substanz differenzirt, so nennen wir ihn Zelle. Wie alle Functionen, alle activen Lebenserscheinungen der Piastiden, so geht auch ihre Entwickelung, so gehen auch die Functionen der Zeugung und des Wachsthums, der Differenzirung und der Degenera- tion lediglich von jenem activen Bestandtheile aller Piastiden aus, bei den Cytoden also allein vom Plasma, bei den Zellen vom Plasma und zugleich vom Kern. Die Entwickelungsgeschichte der Cytoden sowohl als der Zellen muss daher alle Formveränderungen, welche an diesen Form-Individuen erster Ordnung vor sich gehen, als das uothwendige Resultat der Bewegungs-Erscheinungen zu erkennen suchen, welche von den Molekülen der Eiweiss -Verbindungen ausgehen, die sowohl das Plasma, als den Nucleus constituiren. Sowohl die Anaplase, die Ent- stehung und Aufbildung der Piastiden, als ihre Metaplase und Cata- plase, ihre Umbildung und Ejückbildung, werden in erster Linie immer durch chemisch -physikalische Veränderungen jener activen Albuminate bewirkt, denen alle anderen Gewebsbestandtheile als passive „Plasma- Producte" gegenüberstehen (vergi. Bd. I, S. 279). Die Plastidogenesis beginnt mit der Entstehung der Plasti- den durch Zeugung. Sowohl bei den Cytoden als bei den Zellen wird diese in der Regel durch Spaltung, und zwar meistens durch Zweithei- lung vorhandener Piastiden bewirkt. Die Zellen können immer nur entweder aus vorhandenen elteriicheu Zellen oder aus Cytoden erzeugt werden, wogegen die Cytoden ausser der parentalen Zeugung auch durch Urzeugung oder Archigonie entstanden sein müssen. Bei der ausserordentlich hohen Bedeutung, welche diese ersten Anfänge der organischen Entwickelung für die gesammte Ontogenie haben, wollen wir hier nochmals kurz darauf zurückkommen, und die Genesis der Cytoden und der Zellen gesondert ins Auge fassen. Haeckci, Generelle Morphologie, II. ^ 114 Entwickelungsgeschichte der morphologischen Individuen. Die Cytoden, als die niedrigsten aller organischen Individuen, deren activer Körper lediglich aus einem einfachen, nicht diiferenzir- ten Plasmastücke besteht, sind für uns hier deshalb von besonderer Bedeutung, weil ihre einfachsten Formen, die homogenen, structurlosen Moneren, die einzigen Organismen sind, welche wir uns durch Ur- zeugung entstanden denken können. Mit diesen muss uothwendig das Leben auf unserer Erde zu irgend einer Zeit zum ersten Male begon- nen haben, und zwar mit derjenigen Form der Archigonie , welche wir oben als Autogonie erörtert haben (Bd. I, S. 179). Wie wir dort aus- führten, müssen wir uns die Autogonie oder Selbstzeugung der Mo- neren als einen physikalisch -chemischen, der Krystallisation analogen Akt denken, durch den in einer Flüssigkeit, welche (analog einer Mut- terlauge) die zur Constitution der complicirten Eiweiss- Verbindungen gehörigen Stoffe gelöst enthält, diese unter bestimmten Bedingungen wirklich zur Bildung von Eiweiss -Molekülen zusammentreten. Durch die Aggregation einer Summe von solchen Eiweiss - Molekülen zu einem individuellen, räumlich begrenzten, und lebenden, d.h. sich ernähren- den (und durch Spaltung fortpflanzenden) Körper entsteht autogon eine Cytode einfachster Art, ein Moner. Die Hypothese dieser Autogonie ist für uns ganz unentbehrlich. Denn die allgemein angenommene Erd- bildungstheorie von Kant und Laplace involvirt selbstverständlich die Annahme, dass das Leben auf der Erde zu irgend einer Zeit ein- mal einen Anfang hatte, und diesen Anfang können wir uns nicht als „Schöpfung", sondern nur als Urzeugung (Generatio spontanea), und zwar nur als Autogonie denken. Die noch jetzt lebenden Moneren, die Protamoeben, Protogeniden , Vibrionen, Protomonaden etc. führen uns die wahrscheinliche, oder doch die mögliche Beschaffenheit jener auto- genen Cytoden unmittelbar vor Augen (vergl. S. 33). Ob ausser der Autogonie, durch welche nothwendig die ersten le- benden Organismen auf unserer Erde, die autogoneu Moneren, entstan- den sein müssen, auch die andere Form der Urzeugung, die Plasmo- gonie, zur Entstehung von elternlosen Cytoden die Veranlassung ge- geben hat, und vielleicht noch giebt, ist nicht festgestellt. Die Plas- mogonie unterscheidet sich von der Autogonie, wie wir oben sahen (S 34), dadurch, dass die eiweissartigen Kohlenstoff-Verbmdungen, aus welchen die Cytoden entstehen, bereits in bildungsfähigem Zustande in der Bildungsflüssigkeit (Cytoblastema) gelöst sind. Wenn die Bildung der Gährungspilze, wie sie nach Schleiden und Schwann m gah- renden Flüssigkeiten durch Archigonie erfolgen sollte, richtig wäre so würde dieser Vorgang als eine echte Plasmogonie aufzufassen sein. Ob- gleich durch das herrschende Dogma von der Unmöglichkeit der Ur- zeugung jetzt allgemein zurückgedrängt, existirt diese Plasmogonie vielleicht heute dennoch thatsächlich , selbst in weiterer Ausdehnung. I. Ontogeilie der Piastiden. 115 Jedenfalls seUiesst sich die empirisch festgestellte Emplasmogonie der Zellen, welche sogleich noch zu erwähnen ist, unmittelbar an die- selbe an. Die weitere Entwickelung der archigonen Cytoden können wir uns zunächst nur denken als ein einfaches Wachsthum derselben bis zu ei- nem gewissen Maasse. Wie die Autogonie im Ganzen der Krystallisa- tion, so haben wir auch dieses Wachsthum der Moneren dem Wachs- thum der Krystalle oben eingehend verglichen (Bd. I, S. 142 ff.). Der wesenthche Unterschied zwischen beiden liegt nur darin, dass bei den festen Krystallen das Wachsthum durch Apposition, bei den festflüs- sigen Moneren dagegen durch Intussusception erfolgt. Wenn das Wachsthum des Moueres bis zu einem Maasse fortschreitet, welches die Cohäsion aller Eiweiss-Moleküle zu einer einzigen Masse nicht mehr gestattet, so zerfällt dasselbe in mehrere; es entstehen durch Spaltung der elterlichen Cytode zwei oder mehrere neue, kindliche Cytoden; das Wachsthum geht über in die Fortpflanzung, • Die Spaltung der Cytoden, welche gegenwärtig der gewöhn- liche Vorgang ihrer Vermehrung ist, besteht allgemein darin, dass die Cytode (gleichviel ob sie autogon oder durch Spaltung aus einer an- deren Cytode entstanden ist) in zwei oder mehrere Cytoden zerfällt, sobald sie die Grenze ihres individuellen Wachsthums überschreitet. Sobald die Cohäsion der Eiweiss-Moleküle, welche durch Intussuscep- tion von der wachsenden Cytode aufgenommen und dem Attractions- centrum zugeführt werden, nicht mehr ausreicht, die gesammte Masse als Individuum zusammenzuhalten, bilden sich zwei oder mehrere neue Attractionscentra, um welche sich die Plasma -Moleküle in zwei oder mehreren getrennten Haufen sammeln. Die äussere Form der Cytoden- Spaltung ist sehr maunichfaltig. Am häufigsten ist die Theilung, sel- tener die Knospenbildung derselben. Bei der Theilung zerfällt die ganze Cytode entweder in zwei (Dimidiatio) oder in mehrere (Diradia- tio) gleiche Theile, die entweder gleich bleiben oder sich nachträglich difierenziren können. Bei der Knospenbildung dagegen spaltet sich in Folge localen, partiellen Wachsthums ein einzelnes Stück der Cy- tode als Knospe von der elterlichen Cytode ab. Bei vielen niedersten, besonders monocytoden Organismen -Arten (Protisten, Algen) scheint dieser einfachste Zeugungsmodus der Spal- tung die einzige Propagationsform der Cytode zu sein. Bei anderen dagegen vermehrt sich die Cytode auch durch Keimbildung oder Sporogonie. Es bilden sich dann im Inneren der Cytode mehrere selbstständige (centralisirte) Plasmaklumpen, welche als „Keimkörner" oder Sporen aus dem elterlichen Körper heraustreten und sich ausser- halb desselben zu neuen Individuen seines Gleichen durch Wachsthum ergänzen. Sehr häufig geht dieser Sporogonie der Cytoden eine Con- 8* 116 Entwickeluugsgeschichte der morphologischen Individuen. jugation oder Copulation derselben voraus: Zwei selbstständige Cytoden verschmelzen mit einander und in dem verschmolzenen Plasma entstehen Keimkörner, wie bei der Keimbildung; so z. B. bei manchen Pilzen und kernlosen Algen. Dieser Vorgang ist wesentlich von der einfachen Sporogonie dadurch verschieden, dass nicht die einzelne Pla- stide für sich, sondern erst in Verbindung mit einer anderen, fort- pflanzungsfähig wird. Er bereitet die geschlechtliche Zeugung vor oder kann auch schon als deren Beginn betrachtet werden. Die Zellen, oder die kernhaltigen Piastiden, können eigentlich niemals unmittelbar, gleich den kernlosen Cytoden, durch Urzeugung oder Archigonie entstehen, da ihre Zusammensetzung aus zwei diife- renten Materien, Kern und Plasma, immer bereits einen stattgefunde- nen Differenzirungsprocess voraussetzt. Diejenige Form der Zellenent- stehung, welche sich der Archigonie am nächsten anschliesst, ist die sogenannte „freie Zellenbildung", welche besser als „emplasma- tische Zellenbildung oder Emplasmogonie" bezeichnet wird. Es besteht dieser wichtige und merkwürdige Modus der Cytogonie darin, dass in einer formlosen Eiweissmasse , z. B. in derjenigen, wel- che durch Histolyse der Fliegenlarve entsteht, ferner im Plasma des Embryosacks der.Phanerogamen, durch Aggregation von Plasma-Mole- külen sich Kerne bilden, welche als Attractionscentra auf das umge- bende Plasma wirken, sich mit einer Plasmahülle, oft noch äusserlich mit einer Membran umgeben, und so zu Zellen werden. Der wesent- liche Unterschied zwischen dieser Emplasmogonie und der wirklichen Urzeugung in einer organischen Bildungsflüssigkeit (Plasmogonie) liegt darin, dass bei letzterer das productive Plasma ausserhalb, bei erste- rer innerhalb eines bestehenden Organismus liegt. Allein der Entste- hungsprocess eines individuellen, lebendigen, activen Plasmakörperchens durch Aggregation von Plasma-Molekülen, bedingt durch einfache phy- sikalische Gesetze der Massen- Anziehung und Abstossung, ist in bei- den Fällen derselbe. Ebenso wie wir dadurch bei der empirisch fest- gestellten Emplasmogonie mitten im structurlosen Plasma geformte Kerne (die Centra der Zellen) entstehen sehen, ebenso können wir uns da- durch bei der hyi^othetischen Plasmogonie mitten in dem structurlosen Cytoblastem geformte Cytoden einfachster Art entstehend denken, wel- che durch einen nachfolgenden Differenzirungsprocess von Kern und Plasma zu Zellen werden. Die unmittelbare Entstehung von Zellen aus Cytoden durch Differenzirung von Kern und Plasma, wie wir sie hier hypothetisch als ursprünglichen Entstehungsraodus der ersten Zellen voraussetzen, scheint übrigens, auch abgesehen von jener Emplasmogonie, thatsächhch noch jetzt weit verbreitet zu sein. Wenn die von den meisten Embryologeu noch gegenwärtig behauptete Thatsache wirküch richtig ist, dass m I. Ontogenie der Piastiden. 117 dem ersten Entwickeliiiigsstadiura des thierisclien Eies gewöhnlich das Keimbläschen oder der Eikern nicht unmittelbar in die beiden Kerne der zwei ersten Furchungskugeln sich spaltet, sondern vielmehr in dem Plasma (Dotter) der Eizelle sich vorher auflöst, so wird diese letztere dadurch zur Cytode, und wenn sie durch Neubildung eines neuen Ker- nes im Plasma wiederum zur Zelle wird, so müssen wir diesen Vor- gang zweifelsohne als eine „Entstehung einer Zelle aus einer Cytode durch Differenzirung von Plasma und Kern" ansehen. Die Spaltung der Zellen ist der gewöhnliche Vorgang ihrer Entstehung. Sie besteht allgemein darin, dass die Zelle (gleichviel ob sie durch Differenzirung aus einer Cytode oder durch Spaltung aus einer anderen Zelle entstanden ist), in zwei oder mehrere Zellen zer- fällt, sobald sie die Grenze ihres individuellen Wachsthums überschrei- tet. In den allermeisten Fällen, wahrscheinhch sogar immer, geht der Spaltung der ganzen Zelle eine Spaltung des Kernes vorher, so dass der ganze Spaltungsvorgang der Zelle in zwei Akte zerfällt: I) Spal- tung des Kernes, II) Spaltung des Plasma, welches den Kern umgiebt. Es entstehen also zunächst in der sich theilenden einfachen Zelle, de- ren einer Kern einen einheitlichen Lebensheerd repräsentirt und das Ganze als Individuum zusammenhält, zwei oder mehrere Kerne, indem der eine ursprüngliche Kern sich theilt. Jeder der neuen Kerne wirkt sofort als Attractionscentrum auf die nächstgelegenen, zunächst ihn umschliessenden Piasmatheile, welche sich um ihn ansammeln und so die Spaltung der ganzen Zelle herbeiführen. Trotz der grossen Mannichfaltigkeit, welche die Spaltung der Zel- len bei den verschiedenen Ofganismen- Arten zeigt, kann man dennoch alle verschiedenen Formen derselben entweder als Theilung (Divisio) oder als Knospenbildung (Gemmatio) auffassen. Die Theilung der Zellen, welche besonders im Thierreiche sehr allgemein verbreitet ist, wird eingeleitet durch Theilung des Zellenkernes. Erst nachher zer- fällt auch das Plasma und somit die ganze Zelle in zwei oder mehrere gleiche Theile, die entweder gleich bleiben oder sich nachträglich dif- ferenziren können. Leicht zu verfolgen ist die Zweitheilung bei den Blutzellen der Embryonen, bei vielen Epithelzellen, Furchungskugeln etc. Es sammelt sich um jeden der durch Theilung des ursprüngli- chen Kernes neugebildeten Kerne eine gleiche Quantität von Plasma an; die beiden Kerne weichen auseinander, und zwischen ihnen ent- steht eine Spaltungsebene, welche auch die beiden Plasmahälften von einander trennt. Olfenbar wirken hier die Kerne als active Attractions- centra auf das umgebende Plasma ein. Die Spaltungsebene ist ent- weder ideal und führt zu einer vollständigen räumlichen Trennung bei- der Theilproducte, oder sie ist real und wird durch eine Scheidewand gebildet, welche (gewöhnlich von der Membran der Mutterzelle aus- 118 Entwickelungsgeschichte der morphologischen Individuen. wachsend) die beiden Tochterzellen trennt und zugleich in Contiguität vereinigt erhält. Wenn die Zellenmembran oder die äussere Hülle der Mutterzelle bei ihrem Zerfall in Tochterzellen ungetheilt bleibt, wie z. B. bei den Knorpelzellen, Furchungskugeln und vielen Pflanzenzellen, hat man diese unwesentliche Modification der Zellentheilung als einen besonderen Modus der Zellenvermehrung unter dem Namen der endo- genen Zellenbildung unterschieden. Seit jedoch neuerdings die richtige Auffassung von der secundären Bedeutung der Zellenmembran allgemeiner geworden ist, hat jener Modus seinen früheren Werth ver- loren. Gewöhnlich ist die Zellentheilung Zweitheilung, und zwar bald indefinite, bald longitudinale , bald transversale, bald diagonale Halbirung. Selten ist Strahltheilung der Zellen (Diradiation), wo- bei dieselben gleichzeitig in drei oder mehrere gleiche Stücke zerfallen, z, B. die Epithelialcylinder im Darme der Froschlarven. Die Knospenbildung der Zellen ist besonders im Pflanzen- reiche sehr verbreitet : die ganze Zelle zerfällt hierbei zunächst in zwei oder mehrere ungleiche Theile, die entweder ungleich bleiben oder nachträglich gleich werden können ; so z. B. bei allen Pflanzenzellen, bei denen das Wachsthum einseitig in einer bestimmten Richtung fort- schreitet, und die Gipfelzellen , welche sich von den vorhergehenden Mutterzellen abschnüren, zu diesen sich gleich anfänglich wie Knospen verhalten. Es sammelt sich hier um jeden der durch Theilung des ursprünglichen Kernes neugebildeten Kerne eine ungleiche Quantität von Plasma an. Von den Botanikern wird zwar auch diese Spaltuugs- art der Zelle gewöhnlich als „Zelltheilung" bezeichnet. Indessen kön- nen wir dieselbe nur dann mit vollem Rechte so nennen, wenn das Wachsthum, welches die Theilung der Mutterzelle einleitet, ein totales ist, mid wenn diese dann in zwei oder mehrere gleiche, coordinirte Tochterzellen von gleichem Alter und Werthe zerfällt. Wenn dagegen, wie es bei der sogenannten Theilung der Pflanzenzellen sehr häufig der Fall ist, das einleitende Wachsthum nur ein einseitiges oder partielles ist, und wenn demgemäss die beiden Theilproducte (Tochterzellen) von ungleichem Alter und Werthe sind, die eine der anderen subordinirt, so müssen wir folgerichtig diesen Process als Knospenbildung auffas- sen, und die jüngere Tochterzelle, welche sich von dem älteren Reste der Mutterzelle abschnürt, als Knospe. Dies ist z. B. sehr klar bei der von den Botanikern sogenannten Zelltheilung der Algenfäden und der Fadenzellen der Nematophyten (Pilze und Flechten). Auch der Unterschied von terminaler und lateraler Knospenbildung der Zellen tritt bei den langgestreckten Fadenzellen dieser Thallophyten sehr schön hervor. Nicht minder deutlich ist dies an den langgestreckten cylin- drischen Zellen vieler Phanerogamen (z. B. Haaren) zu unterscheiden. Viel seltener als bei den Pflanzen ist die Fortpflanzung der Zellen durch I. Ontogeme dor Piastiden. 119 Kuospenbildung bei deu Tliiereu, wo als bekanntestes Beispiel- gewöhn- lich die Eier der Nematoden angeführt werden. Während die Entstehung der Zellen durch Spaltung (entweder Theilung oder Knospenbildung) die bei weitem häufigste Zeugungsart der, Zellen ist, und zwar namentlich bei deu Parenchymzellen der Thiere und Pflanzen, findet sich endlich daneben noch ein anderer Zeugungsmodus von Zellen, welcher vorzüglich für viele Protisten wich- tig ist und hier auch oft allein die Fortpflanzung der Art vermittelt (z. B. bei vielen Protoplasten und Flagellaten, auch bei eizelligen Al- gen). Wir glauben denselben als Keimbildung oder Sporogonie der Zellen (und zwar als Monosporogonie oder Keimplastidenbildung) bezeichnen zu können. Es bilden sich in der zeugenden Zelle neben dem Kerne oder nach dessen Auflösung selbstständig im Plasma neue Kerne. Jeder neugebildete Kern wirkt wieder als Anziehungsmittel- punkt auf die benachbarten Plasma-Moleküle, welche dadurch von dem elterlichen Plasma abgelöst und zu neuen Zellen werden. Diese treten als Sporen aus der berstenden Mutterzelle hervor (z. B. Hydrocytien, Gregarinen, Flagellaten). Nicht selten geht dieser Sporogonie eine Conjugation oderCo- pulation der Zellen voraus, welche ebenfalls vorzüglich bei den Pro- tisten und bei den niederen Algen verbreitet ist. Sie unterscheidet sich von allen vorhergegangenen Zeugungsformen der Zellen wesentlich da- durch, dass nicht die einzelne Zelle für sich vermehrungsfähig ist, son- dern erst nach ihrer Verbindung mit einer anderen Zelle. Es ver- schmelzen zwei Zellen theilweis oder völlig mit einander, die Kerne der beiden verschmolzenen Zellen lösen sich gewöhnlich auf, und in dem verschmolzenen Plasma entstehen, wie bei der Keimbildung, neue Kerne, um welche sich Plasma-Portionen ansammeln. Es sind also diese kind- lichen Zellen durch die Verbindung zweier elterlichen erzeugt. Ist die Verschmelzung der beiden zeugenden Zellen vollständig, wie bei den Gregarinen, so nennen wir sie Copulation. Ist sie unvollständig, wie bei den Desmidiaceen , Conjugation. Wir erblicken darin den ersten Schritt zur geschlechtlichen Zeugung. Da das Wesen der letzteren le- diglich in der Nothwendigkeit beruht, dass Plasma-Stolfe von zwei ver- schiedenen elterlichen Individuen sich vereinigen müssen, um die neuen kindUcheu Individuen zu erzeugen, so können wir die Copulation der Piastiden, welche gleicherweise bei den Zellen, wie bei den Cytoden stattfindet, in der That als „geschlechtliche Zeugung der Pla- stiden" von den drei vorher aufgeführten ungeschlechtlichen Zeu- gungsformen trennen (vergl. oben S. 62). Das Wachsthum der Piastiden, welches wir als die zweite fundamentale Entwickelungs-Function hier unmittelbar auf die Zeugmig folgen lassen, besteht in allen Fällen darin, dass die Plastide durch 120 Entwickelungsgeschichte der morphologischen Individuen. Aufnahme neuer Stoff-Moleküle von aussen und Assimilation derselben ihr Volum vermehrt, sich vergrössert. Das Wachsthum der morpholo- gischen Individuen erster Ordnung ist daher stets ein einfaches Wachsthum (Crescentia simplex, primaria) und, wie wir oben zeigten (S. 73), wesentlich von dem zusammengesetzten Wachs- thum verschieden, durch welches sich die Form -Individuen zwei- ter bis sechster Ordnung vergrössern. Diese letzteren wachsen stets nur mittelbar, indirect, durch die wiederholten Zeugungsprocesse und das unmittelbare Wachsthum der constituirenden Piastiden. Aus die- sem Grunde können wir die Crescentia composita (secundaria) aller Organe, Antimeren, Metameren, Personen und Stöcke lediglich als die secundäre, nothwendige Folge des primären, unmittelbaren Wachsthums der Piastiden ansehen. Dieses letztere aber, welches dem- nach als der einzige unmittelbare Wachsthumsprocess aller organischen Körper erscheint, ist in seinen einfachsten Formen nicht wesentlich von dem Wachsthum der Krystalle verschieden und lässt sich auf ein- fache Vergrösserung des Individuums durch Anziehung fremder Theile zurückführen (vergl. Bd. I, S. 141). Die Differenzirungs-Processe der Piastiden sind für die gesammten Differenzirungs-Erscheiniuigen aller übrigen Individualitäten (zweiter bis sechster Ordnung) von ebenso hervorragender und funda- mentaler Bedeutung, wie das einfache Wachsthum der-ersteren für das zusammengesetzte Wachsthum der letzteren. In der That sind sämmt- liche Divergenz-Erscheinungen, alle Akte der Arbeitstheilung oder des Polymorphismus, welche Avir während der individuellen Entwickelung an den Organen, Antimeren, Metameren, Personen und' Stöcken auftre- ten sehen, nichts weiter, als die unmittelbaren Wirkungen und die nothwendigen Resultate der gesammten Differenzirungs-Processe, welche an den constituirenden Piastiden (Cytoden und Zellen) ablaufen. Die Veränderungen aber, welche wir an diesen letzteren schnell und in kurzer Zeit vor unseren Augen vor sich gehen sehen, sind nichts An- deres, als kurze Wiederholungen der gleichen Veränderungen, welche die Voreltern dieser Piastiden langsam und in langen geologischen Pe- rioden während ihrer paläontologischen Entwickelung durchlaufen ha- ben. Diese Veränderungen sind lediglich durch die mechanisch wir- kenden Ursachen der Anpassung und Vererbung bedingt, und durch natürliche Züchtung im Kampfe um das Dasein erworben. Man pflegt in der neueren Histologie die sämmtlichen Differenzirungs-Processe der iPlastiden als „Metamorphose der Zellen" (richtiger Piastiden) zu- sammenzufassen. Diese Metamorphose der Piastiden, wie wir sie wäh- rend des schnellen Laufes der individuellen Entwickelung Schritt für Schritt verfolgen können, ist nicht, wie sie von den Meisten angesehen wird, ein räthselhafter , auf unbekannten Ursachen beruhender, ganz I. Ontogenie der Plastiden. 121 eigeiithünilicher Lebensakt. Vielmehr ist sie eine mechanisch -physiolo- gische Function, causal begründet in den Naturgesetzen der Anpassung und der Vererbung, welche auf Ernährungsfunctionen beruhen. Der physiologische Polymorphismus oder die Arbeitstheilung , welche im Laufe zahlreicher Generationen sich unter den alten Vorfahren der be- treffenden Plastiden allmählich durch natürliche Züchtung im Kampfe um das Dasein ausgebildet hat, lässt die Spuren seiner phylogeneti- schen oder paläontologischen Entwickelung uns noch heutzutage in der Metamorphose oder morphologischen Differenzirung der heutigen Pla- stiden erkennen. Wie uns nun diese Erwägung — und sie allein! — das richtige Verständniss für die Differenzirung der Plastiden oder die sogenannte Zellenmetamorphose eröffnet, so liefert sie uns zugleich den Schlüssel für die Erklärung der Differenzirungs-Phänomene an sämmt- lichen übrigen Individualitäten (zweiter bis sechster Ordnung). Auf die unendlich mannichfaltigen Vorgänge der Differenzirung der Plastiden im Einzelnen einzugehen, oder auch nur die verschiedenen Modificationen ins Auge zu fassen, welche dieselben bei der Ontogenie der Individuen in den verschieden grösseren Organismengruppen dar- bieten, ist hier nicht der Ort. Wir wollen daher nur ganz kurz Fol- gendes hervorheben. Gänzlicher Mangel von Differenzirung findet sich bei den Moneren, jenen einfachsten aller Organismen, welche bloss aus einem homogenen und structurlosen Plasmaklumpen bestehen. Bei die- sen beschränkt sich die ganze Ontogenie des Individuums auf seine Entstehung durch den Zeugungsakt und auf sein einfaches Wachsthum. Nachdem dies eine bestimmte Grenze erreicht hat, zerfällt das Moner, ohne sich differenzirt zu haben, in zwei Moneren u. s. w. Ganz ebenso verhalten sich auch die embryonalen Cytoden und Zellen der meisten Organismen, sowohl die eigentlichen „Furchungskugeln", als die aus diesen zunächst hervorgehenden indifferenten Plastiden. Die Vermeh- rung derselben geht so rasch vor sich, dass sie durch Spaltung in kindliche Plastiden zerfallen, ehe noch irgend welche Differenzirung eingetreten ist. Die Differenzirung der Cytoden, der kernlosen Plastiden, ist im Ganzen bei weitem weniger mannichfaltig, als diejenige der Zel- len. Zunächst äussert sie sich meistens in einer partiellen oder tota- len Encystining der Cytode; diese bildet sich eine unvollständige oder vollständige Schale oder Hülle, d. h. die Gymnocytode wird zur Lepo- cytode, zum kernlosen Schlauche oder. Hautklumpen. Eine vollständige Hülle, ein geschlossenes Säckchen, bilden sich z. B. die langgestreck- ten fadenförmigen Cytoden (sogenannten Fadenzellen) der Nematophy- ten. Eine unvollständige Hülle (und zwar meistens eine sehr compli- cirt gebaute Kalkschale mit vielen Oeffnungen) bilden sich die Cyto- den, welche die actuellen Bionten der meisten Acyttarien repräsentireu 122 Eatwickelungsgeschichte der morphologischen Individuen. (Polythalamien und Athalamien). Andere Differenzirungs-Processe der Cytoden können zur Bildung von festgeformten Inhaltsbestandtheilen („inneren Plasma -Producten") führen, z. B. von Fettkörnern, Pigraent- körnern, Cellulose- Fäden, welche das Plasma der Cytode durchsetzen (z. B. bei Caulerpa) etc. Der wichtigste aber von allen Differenzi- rungsprocessen, welche die Cytode treffen können, ist die Divergenz des Plasma in zwei verschiedene Eiweisskörper , in einen inneren Kern (Nucleus) und ein äusseres Plasma (Protoplasma) im engeren Sinne. Dadurch wird die Cytode zur Zelle. Die Differenzirung der Zellen, der kernhaltigen Piastiden, übertrifft an unerschöpflicher Manuichfaltigkeit bei weitem diejenige der Cytoden. Die Ursache dieser weit grösseren Entwickelungsfähigkeit liegt offenbar zunächst und ursprünglich in dem wichtigen Gegensatze und der beständigen Wechselwirkung von Nucleus und Plasma, deren Differenzirung die Zelle von der homogenen Cytode so wesentlich un- terscheidet. Indem der Zellenkern als hauptsächlicher Träger der Fort- pflanzungs- und somit der Vererbungs-Erscheinungen, das Plasma der Zelle dagegen als das besondere Substrat der Ernährungs- und somit der Anpassungs-Erscheinungen wirksam ist, vermögen Beide zusammen durch diese Arbeitstheilung weit mehr zu leisten, als es dem homo- genen, nicht differenzirten Plasma der kernlosen Cytode für sich allein möglich ist. Die unendlich mannichfaltigen Diftereuzirungs-Producte der Zellen, welche durch die fundamentale und höchst wichtige Arbeits- theilung des Nucleus und Plasma entstehen, haben wir im neunten Capitel als Plasma-Producte im weitesten Sinne zusammengefasst, und auf zwei natürliche Gruppen, innere und äussere Plasma-Producte, ver- theilt. Als äussere Plasma-Producte, welche man gewöhnlich als „Aus- scheidungen" des Plasma zu betrachten pflegt, fassten wir die soge- nannten „Zellenmembranen" und „Intercellularsubstanzen" zusammen, welche in keiner Weise scharf von einander getrennt werden können. Als innere Plasma-Producte bezeichneten wir den sogenannten „Zell- saft" und „Zellinhalt", kurz alle diejenigen, theils formlosen, theils ge- formten Producte des Plasma, welche' durch Differenzirung desselben in seinem Inneren abgelagert werden (vergl. Bd. I, S. 279—289). Die Degeneration der Piastiden ist ebenso die Grundlage sämmtlicher organischen Degenerationsprocesse bei allen zusammenge- setzten morphologischeji Individuen (zweiter bis sechster Ordnung), wie die Differenzirung der letzteren immer auf eine Differenzirung der er- steren sich zurückführen lässt. Es sind also auch in dieser Beziehung die Piastiden die wahren „Elementar- Organismen", und obwohl mau gerade ihren regressiven Veränderungen bisher am wenigsten Aufmerk- samkeit geschenkt hat, verdienen sie dieselbe doch in nicht geringe- rem Grade als die progressiven Vorgänge des Wachsthums und der I. Ontogenie der Piastiden. 123 DifFereiizirung. Denn auf der Degeneration der Piastiden beruhen alle cataplastisclien Vorgänge, welche wir an den organischen Individuen aller Ordnungen wahrnehmen, und in letzter Folge also auch der Tod, welcher durch die Häufung derselben herbeigeführt wird. Ebenso wie das Wachsthum der Piastiden die Anaplasis, die Differenzirung der- selben die Metaplasis, so veranlasst vorzüglich die Degeneration der Piastiden die Cataplasis, nicht allein der Piastiden selbst, sondern auch aller Form -Individuen zweiter bis sechster Ordnung, welche aus den- selben zusammengesetzt sind. Die Degenerations-Processe der Piastiden schliessen sich unmittel- bar an ihre Diiferenzirungs-Erscheinungen an und sind in keiner Weise scharf von diesen zu unterscheiden. Sehr oft ist die Degeneration ei- nes bestimmten Theiles einer Plastide mit einer correspondirenden pro- gressiven Metamoi-phose eines anderen Theiles derselben verbunden, und beide Functionen greifen nach dem Gesetze der Wechselbeziehung der Entwickeiung in einander. Es tritt also bereits bei den Piastiden der Fall ein, der sich bei den Form - Individuen aller Ordnungen wie- derholt, dass die Degeneration eines Theiles nicht nothwendig die voll- ständige Eückbildung des Ganzen nach sich zieht, sondern vielmehr unter Umständen auch der progressiven Entwickeiung eines anderen Theiles und dadurch dem Ganzen zu Gute kommen kann. Für viele Piastiden ist sogar der Degenerations-Process die nothwendige Bedingung für die vollständige Entfaltung ihrer specifischen Function, wie es z. B. bei den verholzten Pflanzenzellen und bei den lufthaltigen Spiralge- fässen der Phanerogamen , bei den Drüsenzellen, Pigmentzellen und Knochenzellen der Thiere der Fall ist. Die Mannichfaltigkeit der physiologischen und der entsprechenden morphologischen Processe, auf denen die verschiedenen Degenerations- Erscheinungen der Piastiden beruhen, ist zwar jedenfalls weit geringer, als diejenige der progressiven Diiferenzirungsvorgänge. Doch ist es sehr schwer, darüber schon gegenwärtig etwas Allgemeines auszusagen, da die ersteren noch viel weniger, als die letzteren, von einem allge- meinen und vergleichenden Gesichtspunkte aus untersucht worden sind. Am meisten hat man sich mit denselben in der pathologischen Physio- logie der Wirbelthiere, und speciell in der Pathologie des Menschen beschäftigt, weil hier die physiologischen Degenerationsprocesse der Piastiden durch eine gefahrbringende, besorgnisserregende Steigerung ihrer Quantität und Intensität zu pathologischen Erscheinungen werden und als Ursachen der „Krankheiten" eine höchst bedeutende praktische Wichtigkeit erlangen. Unter den hier herrschenden Degenerations- Phänoraenen, welche vorzüglich durch Rudolf Virchow's bahnbre- chende Untersuchungen richtiger und schärfer erkannt worden sind, scheint das wichtigste die fettige Entbildung zu sein (Verfettung, fet- 124 Eutwickelungsgeschichte der morphologischen Individuen. tige Entartung der Piastiden) , demnächst die kalkige Entbildung (Ver- kalkung), die amyloide und colloide Degeneration, die verschiedenen Formen der Erweichungen (Malaciae, Emollities) und Verhärtungen (In- durationes, Scleroses), die Pigmentirung etc. Alle diese pathologischen Processe, auf welchen die Degeneration aller Form-Individuen höherer Ordnung beruht, haben ihre normalen Paradigmata in rein physiolo- gischen Vorgängen. Bei den Pflanzen .scheint der wichtigste Degene- rationsprocess der Piastiden die Bildung der Verdickungsschichten der Cellulose- Kapsel zu sein, in welcher sich die meisten pflanzlichen Pla- stiden encystiren, der entsprechende Schwund des Protoplasma, und die partielle und endlich totale Ersetzung desselben durch andere Stofl'e, z. B. in den Spiralgefässen durch Luft. Alle Form Veränderungen , welche wir bei der individuellen Entwi- ckelung der Piastiden wahrnehmen, sowie alle Entwickelungsfunctionen, auf welchen dieselben beruhen, also alle Processe der Zeugung und des Wachsthums, der Dilferenzirung und der Degeneration von Piastiden, welche bei der Plastidogenesis zusammenwirken, sind lediglich entwe- der unmittelbar durch Anpassung an neue Existenzbedingungen erwor- bene Veränderungen, oder zusammengedrängte, schnelle, durch die Ge- setze der Anpassung und Vererbung bedingte Wiederholungen der ur- sprünglichen paläontologischen Erscheinungen, welche in langen Zeit- räumen durch viele Generationen hindurch langsam zur Entstehung der gegenwärtig existirenden specifischen Piastiden -Formen geführt haben. Alle Erscheinungen , welche die individuelle Entwickelung der Piastiden begleiten, erklären sich lediglich entweder aus der unmittelbaren An- passung an die dabei wirksamen Existenzbedingungen oder aus der paläontologischen Entwickelung der Vorfahren der betrefi'enden Plasti- den. Die gesammte Outogenie der Piastiden, insofern sie nicht unmit- telbar durch neue Anpassungsbedingungen modificirt wird, ist eine kurze Eecapitulation ihrer Phylogenie. II. Ontogenie der Organe. Individuelle Entwickelungsgeschichte der Werkstücke. Die Ontogenie der Organe oder Werkstücke, der morphologischen Individuen zweiter Ordnung, ist derjenige Theil der individuellen Ent- wickelungsgeschichte, welcher bisher bei weitem am meisten Berück- sichtigung gefunden hat. Sowohl in der Zoologie als in der Botanik bestehen die meisten Fortschritte, welche die Ontogenie gemacht hat, in der Vermehrung unserer Kenntnisse von der Entwickelung der Or- gane. Erst neuerdings hat man begonnen, neben der Organogenese auch die Plastidogenese eingehender zu berücksichtigen. Dagegen ist die Ontogenese der Form-Individuen dritter bis sechster Ordnung bis- II. Ontogenie der Organe. 125 her gewöhnlich sehr zu Gunsten jener beiden Kategorieen vernachläs- sigt worden. Dies hat seinen natürlichen Grund in der hervorragenden physiologischen Bedeutung der Organe und Piastiden. Dasselbe Ueber- gewicht, welches diese Form -Individuen erster und zweiter Ordnung bisher in der Anatomie und Physiologie besassen, übten sie nicht min- der in der Morphogenie aus. Bei der unendlichen Mannichfaltigkeit , welche die verschiedenen Organe bei den verschiedenen Organismen ebenso in ihrer Entwicke- lung, wie i:i ihren anatomischen Verhältnissen zeigen, ist es sehr schwie- rig, die allgemeinen Bildungsgesetze, welche die Genesis der Organe leiten, in kiu-zen Zügen zusammenzufassen. Es lässt sich hier kaum etwas Anderes aussagen, als dass die gesammte Organogenesis unmit- telbar bedingt ist durch die Entwickelung der constituirenden Plasti- den, und dass die ganze Mannichfaltigkeit, welche wir in den physio- logischen Entwickelungsfuuctionen der Zeugung und des Wachsthums, der Dilferenzirung und Degeneration bei den Piastiden wahrgenommen haben, unmittelbar auch bei der Entwickelung der Organe wirksam ist, welche in allen Fällen einen einheitlichen Complex von eng verbunde- nen Piastiden darstellen. Dies gilt auch von allen fünf Ordnungen von Organen, welche wir im neunten Capitel unterschieden haben (Bd. I, S. 291). Sämmtliche Organe erster bis fünfter Ordnung, die Zellfusio- nen oder „höheren Elementartheile" (S. 296), die Homoplasten oder einfachen Organe (S. 298) , die Heteroplasten oder zusammengesetzten Organe (S. 299), die Organsysteme (S. 301) und endlich die Organ- apparate (S. 302) zeigen uns in ihrer gesammten Entwickelung ledig- lich das nothwendige Kesultat der Entwickelungsfunctionen ihrer con- stituirenden Piastiden (Cytoden und Zellen), luid zwar lediglich der vier Functionen der Zeugung, des Wachsthums, der Difl'erenzirung und Degeneration. Die Entstehung der Organe, mit welcher die Organogenesis beginnt, geht theils aus von vorhandenen Organen, theils von einzelnen Piastiden, Im letzteren Falle haben wir dieselbe auf einfache Zeu- gungsakte der Piastiden zurückzuführen. Die Cytoden oder Zellen, welche durch diese Generationsakte (Theilung, Knospung etc.) sich ver- mehren, bleiben zu einem Complex (Colonie, Synusie) vereinigt und bilden dadurch unmittelbar ein Organ. Im ersteren Falle, wenn die Zeugung der Organe von einem bereits vorhandenen Organe ausgeht, kommen ebenfalls die verschiedenen Formen der ungeschlechthchen Zeu- gung in Betracht, welche wir oben unterschieden haben. Doch ist im Ganzen die Knospenbildung hier bei weitem häufiger und allgemeiner wirksam, als die Theilung. Die Knospenbildung ist der allgemeinste Spaltungsmodus, durch welchen Organe aus bestehenden Organen hervorgehen, und zwar ist 126 Entwickelungsgeschichte der morphologischen Individuen. dieselbe in der Mehrzahl der Fälle laterale, seltener teminale Gem- mation. Durch laterale Knospenbildung entstehen z.B. die mei- sten Extremitäten (Beine, Arme, Tentakeln etc.) der Thiere, die mei- sten Blätter der Pflanzen. . Durch terminale Knospuug dagegen entstehen meistens die einzelnen Abschnitte (Epimeren) dieser Extre- mitäten, z. B. Oberschenkel, Unterschenkel und Fuss am Beine, die einzelnen Fiederpaare und die entsprechenden Blattstiel-Glieder an den gefiederten Blättern. Die Theilung, und zwar bald die vollständige, bald die unvoll- ständige Theilung ist im Ganzen bei der Organogenese seltenei; wirk- sam, als die Knospenbildung. Doch lassen sich als unvollständige Theilungsprocesse auch viele Zeugungsweisen von Organen auffassen, welche man gewöhnlich in der Entwickelungsgeschichte als Differenzi- rung der Organe zu betrachten pflegt. Die Theilung der Organe, durch welche neue Organe in Mehrzahl entstehen, ist entweder Zweitheilung oder Strahltheilung. Durch Zweitheilung oder Dimidiation eines Organs entstehen z. B. die meisten zweispaltigen oder zweitheiligen Extremitäten der Thiere und Blätter der Pflanzen. Ebenso entstehen durch Strahltheilung oder Diradiation die meisten dreispaltigen oder mehrspaltigen (bandförmigen oder palmatifiden) Extremitäten der Thiere (z. B. die fünfzehigen Wirbelthierfüsse) und Blätter der Pflanzen (z. B. die dreizähligen Kleeblätter). Die Theilung ist im Ganzen der häufi- gere Entstehungsmodus bei denjenigen Organen, welche wir Parameren, die Knospenbildung dagegen bei denjenigen, welche wir Epimeren ge- nannt haben (vergl. Bd. I, S. 311, 316). Als einen besonderen, sehr eigenthümlichen und zunächst an die Copulation oder Coujugation der Piastiden sich anschliessenden, wenn auch nur entfernt analogen Process, welcher besonders bei der Entste- hung von zusammengesetzten Organen und Organapparaten eine sehr bedeutende, bisher jedoch sehr wenig berücksichtigte Rolle spielt, ha- ben wir endlich noch die Entstehung von Organen durch se- cundäre Vereinigung von primär getrennten Organen her- vorzuheben. In der Ontogenie der Wirbelthiere ist dieser Process mehr- fach und in sehr merkwürdiger Form wirksam, besonders bei mehreren sogenannten „Verwachsungen von Blättern". Was die Entstehung der Organe verschiedener Ordnung betrifft, so gestalten sich auch bei diesen im Einzelnen die verschiedenen Zeu- gungsprocesse so äusserst mannichfaltig , dass sich kaum etwas weite- res Allgemeines darüber aussagen lässt. Die Zellfusionen (z.B. die quergestreiften Muskelfasern, die Nervenfasern der höheren Thiere, die Gefässe der höheren Pflanzen) entstehen theils durch einfache Spal- tungsprocesse, theils dui'ch einen der Copulation zuzurechnenden Ver- schmelzungsprocess von Piastiden. Unter den Spaltungsprocessen ist II. Ontogenie der Orgaue. 127 hier im Ganzen die unvollständige Theilung häufiger als die Knospen- bildung, und zwar ist unter den verschiedenen Theilungsformen die Dimidiation allgemeiner, als die Diradiation, unter den Knospungsfor- men die terminale häufiger als die laterale Knospenbildung. Die Ho- moplasten oder die einfachen Organe, also Organe zweiter Ord- nung, welche aus einer einzigen Gewebsforra (Piastiden -Art) zusam- mengesetzt sind, können auf den verschiedensten Wegen der Spaltung entweder aus einer einzelnen Plastide oder aus einem bereits existiren- den Homoplasten hervorgehen. Welche Formen der Theilung und Knos- penbildung hier im Ganzen die vorherrschenden sind, lässt sich bei der ausserordentlichen Verschiedenheit derselben in den einzelnen Organis- men-Arten nicht sagen. Im Allgemeinen scheint die Knospung häufiger als die Theilung zu sein, obwohl beide sehr oft vereinigt zusammen- wirken. Dasselbe gilt ebenso auch von den Heteroplasten oder den zusammengesetzten Organen, welche sich als Organe dritter Ord- nung von der vorigen durch die Zusammensetzung aus zwei oder meh- reren verschiedenen Gewebsformen (Piastiden - Speeles) unterscheiden. Doch dürfte bei diesen im Allgemeinen die Knospuug und besonders die laterale Knospung der bei weitem häufigste Zeugungsmodus sein. Selten ist hier die terminale Gemmation und die Theilung, und unter der letzteren wieder die Zweitheilung seltener als die Strahltheilung. Die Organe vierter Ordnung, die Organ-Systeme, entstehen vorzüg- lich durch Differenzirungsprocesse, welche sich, wenigstens in sehr vie- len Fällen, als unvollständige TheiUmg von Organen erster bis dritter Ordnung nachweisen lassen. Viel seltener als die Theilung ist die Knos- penbildung bei der Entstehung von Organ -Systemen wirksam. In die- ser Beziehung ihnen ähnlich verhalten sich auch im Ganzen die Organe fünfter Ordnung, die Organ-Apparate. Doch ist bei deren verwi- ckelter Entstehung die Knospenbildung von bereits existirenden Orga- nen oft nicht minder wesentlich, als ihre Theilung. Ferner sind die Organ -Apparate in ontogenetischer Beziehung dadurch ausgezeichnet, dass häufig zu ihrer Bildung mehrere primär getrennte Organe secun- där in Verbindung treten , durch einen mehr oder minder innigen Ver- schmelzungsprocess, welcher den Vorgängen der Conjugation und Co- pulation im weiteren Sinne zugerechnet werden kann. So z. B. treten bei der Entwickelung des Gesichts- Apparates der Wirbelthiere eine An- zahl von ganz verschiedenen und vorher völlig getrennten Organen se- cundär zur Augenbilduug zusammen^ Der nervöse Theil des optischen Apparates wächst aus der Gehirnblase nach aussen hervor, während der lichtbrechende Theil umgekehrt von der äusseren Haut aus nach innen hineinwächst und den ersteren in sich hineinstülpt. Die Verbin- dung beider, einem Conjugationsprocesse analog, ist nachher so innig, ais ob eine Ditferenzirung eines einzigen, ursprünglich einheitlichen 128 Entwickelungsgeschichte der morphologischen Individuen. Organes stattgefunden hätte. Derartige Entstehung von complicirt ge- bauten Organen durch secundäre, innige Verbindung mehrerer primär getrennter Organe kommt übrigens nicht allein bei den Organ- Apparaten, sondern auch, wie oben erwähnt, bei anderen Organen verschiedener Ordnung (besonders Organ-Systemen und Heteroplasten) nicht selten vor. Das Wachsthum der Organe, welches in der Organogenie nach der Zeugung derselben zunächst in Betracht kömmt, ist, wie schon oben bemerkt wurde, wesentlich von dem Wachsthum der Piastiden verschieden. Die letzteren allein, als die Form-Individuen erster Ord- nung, besitzen ein einfaches oder primäres, unmittelbares Wachsthum, indem das Volum jeder wachsenden Plastide durch Attraction und As- similation neue», von aussen aufgenommener Massen-Moleküle vergrös- sert wird. Bei den Organen dagegen, sowie bei allen anderen Form- Individuen höherer (dritter bis sechster) Ordnung ist das Wachsthum nur ein mittelbares oder secundäres, indem es lediglich das Resultat der Vermehrung und des Wachsthums der constituirenden Piastiden ist. Wir haben diesen mittelbaren Wachsthumsmodus ein für allemal als zu- sammengesetztes Wachsthum (Crescentia composita, se- cundaria) bezeichnet, weil sich derselbe aus zwei verschiedenen Pro- cessen zusammensetzt, nämlich aus dem einfachen Wachsthum der con- stituirenden Piastiden und aus der Vermehrung derselben durch fort- gesetzte Zeugung. Das Wachsthum sämmtlicher Organe, und ebenso das Wachsthum sämmtlicher morphologischen Individuen höherer (drit- ter bis sechster) Ordnung ist also in der That weiter nichts, als die unmittelbare und nothwendige Folge der Vermehrung der constituiren- den Piastiden am Volum (durch einfaches Wachsthum) und an Zahl (durch Zeugung). Die Differenzirungs-Processe der Organe bilden das Object des bei weitem grössten Theiles der gegenwärtig existirenden Ontogenie. Sowohl in der Zoologie als in der Botanik mussten diese Entwickelungs- vorgänge vor allen anderen die Aufmerksamkeit und das Interesse der Beobachter erregen, und' daher kommt es, dass dieser kleine Zweig der Ontogenie vor allen anderen cultivirt und sogar häufig als Entwicke- lungsgeschichte )c«r e^oxrjv bezeichnet wurde. So ist z. B. die soge- nannte „Metamorphose der Pflanze", welche den grössten Theil der Ontogenese bei den Phanerogamen bildet, nichts weiter, als die Diffe- renzirung der Blatt-Organe. So ist der grösste Theil der menschlichen Embryologie im Wesentlichen die Lehre von den Differenzirungs- Pro- cessen der Organe, welche den Körper des menschlichen Embryo zu- sammensetzen. Ebenso war bei den meisten anderen individuellen Ent- wicklungsgeschichten von Thieren und Pflanzen das Augenmerk der Beobachter bisher ganz vorwiegend, und oft ausschliesslich, auf die „EntWickelung der ungleichartigen Körpertheile aus gleichartiger Grand- n. Ontogenie der Organe. 129 t läge" gerichtet, d. h. mit anderen Worten, auf die Differenzirimg oder Divergenz der Organe. Da fast jede individuelle Entwickelungsge- schiclite die Richtigkeit dieser Behauptung bestätigt, so haben wir nicht nöthig, dieselbe hier durch Beispiele zu belegen. Ein näheres Einge- hen auf die unendlich manuichfaltigen Differenzirungs-Processe der Or- gane im Einzelnen ist hier nicht am Orte. Eine umfassende und all- gemeine Erörterung derselben, eine kurze üebersicht ihrer wichtigsten Modificationen ist aber zur Zeit noch ganz unmöglich, da man bisher noch nicht versucht hat, die embryonalen Differenzirungs-Processe der Organe bei den verschiedenen Organismen - Gruppen vergleichend zu- sammenzustellen und nach allgemeinen Gesichtspunkten zu ordnen. Das Einzige, was wir demnach hier darüber zu bemerken haben, worauf wir aber besonders aufmerksam machen wollen, ist der allgemeine Cau- salnexus, welcher überall zwischen der ontogenetischen und der phylo- genetischen Differenzirung der Organe besteht. Alle Diöerenzirungs- Vorgänge der Organe, jvelche während des raschen Laufes der indivi- duellen Entwickelung auftreten, können nur dann richtig verstanden werden, wenn man sie als die kurzen Recapitulationen der Arbeitsthei- lungen betrachtet, welche langsam, im Verlauf langer Zeiträume, unter dem beständigen Einfluss der natürlichen Züchtung im Kampfe um das Dasein, sich bei den Vorfahren oder parentalen Generationen der gegen- wärtig existirendeu Organe allmählich herangebildet haben. Es gilt also von der Differenzirung oder dem Polymorphismus der Organe ganz dasselbe, wie von der Arbeitstheilung oder der Divergenz der Plasti- den, auf welche letztere ohnehin die eptere immer unmittelbar zu- rückzuführen ist. Denn thatsächlich ist die Differenzirung der Organe lediglich das unmittelbare und nothwendige Resultat von der Differen- zirung der constituirenden Piastiden, wie dieselbe andererseits auch allen Differenzirungs- Processen der Form -Individuen höherer Ordnung mittelbar zu Grunde liegt. Die Degeneration der Organe hängt, wie diejenige der Pla- stiden , unmittelbar mit ihrer Differenzirung zusammen und ist oft gar nicht von letzterer zu trennen. Vielmehr greifen der regressive Ent- wickelungsprocess der ersteren und der progressive der letzteren oft so vielfältig in einander, dass sie gemeinsam die wichtigsten Verände- rungen herbeiführen. Auch ist die Degeneration eines bestimmten Thei- les eines Organes oft von entschiedenem und überwiegendem Vortheil für die progressive Entwickelung der übrigen Theile und dadurch des Ganzen, so dass durchaus nicht jede partielle Degeneration eines Or- ganes zu einer Cataplase des Ganzen führt. Ebenso wie bei den Form- Individuen höherer Ordnung oft die Rückbildung einzelner Organe oder anderer subordinirter Form - Individuen einen Fortschritt in der Aus- bildung des Ganzen bezeichnet, so sehen wir oft die Vervollkommnung IIa ecke 1, Genorolle Morpliologic , II. O 130 Entwickelungsgeschichte der morphologischen Individuen. eines zusammengesetzten Organes wesentlich an die Degeneration ein- zelner einfacher Organe und Piastiden, welche dasselbe constituiren, gebunden. Die natürliche Züchtung im Kampfe um das Dasein be- wirkt nicht allein progressive, sondern auch regressive Veränderungen, wenn die letzteren dem ganzen Organismus nützlicher sind, als die ersteren, so namentlich bei der Anpassung an einfachere Existenzbe- dingungen, z. B. Parasitismus. So sind aucl^ im Laufe der paläonto- logischen Organogenese die sogenannten „rudimentären Organe" ent- standen, welche als die Fundamente der Dysteleologie von so hervor- ragender Bedeutung sind. Alle Formveränderungen, welche wir bei der individuellen Entwi- ckelung der Organe wahrnehmen, sowie alle Entwickelungsfunctionen, auf welchen dieselben beruhen, also alle Processe der Zeugung und des Wachsthums, der Differenziruug und Degeneration von den constitui- renden Piastiden (und bei den zusammengesetzten Organen auch von den subordinirten Organen), welche bei der Oj-ganogenesis zusammen- wirken, sind lediglich zusammengedrängte, schnelle, durch die Gesetze der Anpassung und Vererbung bedingte Wiederholungen der ursprüng- lichen paläontologischen Erscheinungen, welche in langen Zeiträumen durch viele Generationen hindurch langsam zur Entstehung der gegen- wärtig existirenden specifischen Organ-Formen geführt haben. Alle Er- scheinungen, welche die individuelle Entwickelung der Organe beglei- ten, erklären sich lediglich aus der paläontologischen Entwickelung ih- rer'Vorfahren. Die gesammte Ontogenie der Organe ist eine kurze Recapitulation ihrer Phylogenie. TTT. Ontogenie der Antimeren. Individuelle Entwickelungsgeschichte der Gegenstücke. Die Ontogenie der Antimeren oder Gegenstücke (homotypen Theile), der morphologischen Individuen dritter Ordnung, ist bisher noch äus- serst wenig berücksichtigt worden; ja man hat selbst bei vielen Orga- nismen, besonders Thieren, deren Organogenese und Histogenese sehr genau untersucht worden ist, auf die Antimerogenese gar keine Rück- sicht genommen. Diese einseitige Vernachlässigmig der morphologisch so wichtigen Antimeren erscheint nicht mehr auffallend, sobald man bedenkt, wie die gesammte Morphologie der Antimeren in Folge ihrer geringen oder uns doch unbekannten physiologischen Bedeutung bisher entweder gar keine oder nur beiläufige und oberflächliche Berücksich- tigung gefunden hat. Da nicht einmal die vollendete Form der Anti- meren welche für die typische Gesammtform der Metameren und Per- sonen so grosse Bedeutung besitzt, von der Anatomie untersucht wor- den ist, so dürfen wir noch weniger erwarten, dass die werdende Form ni. Ontogenie der Antimeren. 131 der Antimeren in der Morphogenie Berücksichtigung gefunden hat. So- wohl letztere als erstere erwarten ihre volle und gerechte Würdigung erst von der Morphologie der Zukunft. Soweit wir aus unseren eigenen Untersuchungen über die homo- typischen Theile und aus dem Wenigen, was die embryologische Lite- ratur beiläufig darüber liefert, die Ontogenie der Antimeren beurthei- len können, so scheint dieselbe im Ganzen nach sehr einfachen und bei den verschiedenen Organismen sehr gleichförmigen Gesetzen zu ver- laufen. Die Entstehung der Antimeren beruht fast immer auf einfachen Spaltungsprocessen von Organen, und zwar besonders auf unvollständiger Längstheilung und Strahltheilung; vielfach kann aber auch die Entstehung der Antimeren als einfache Differenzirung eines Organes aufgefasst werden. Bei den zahlreichen Organismen, deren Grundform die reguläre oder die amphithecte Pyramide, oder überhaupt eine Strahlform ist, und bei denen die Antimerenzahl drei oder mehr ist, entwickeln sich die Antimeren durch den Spaltungsprocess , den wir oben allgemein als Diradiation bezeichnet haben und welcher für die ursprüngliche Ent- stehung der sogenannten strahligen oder regulären Formen (mit mehr als zwei Antimeren) von der grössten Bedeutung ist (S. 42). Die Di- radiation oder Strahltheilung besteht, wie wir sahen, allgemein darin, dass drei oder mehr gleichartige Theile oder Organe aus einer gemein- samen einfachen Grundlage heraus in der Weise hervorwachsen, dass sie von einander und von einer gemeinsamen Axe oder einem gemein- samen Mittelpunkte gleichen Abstand haben, wenn auch bei weiterer EntWickelung dieser Abstand und die ursprünglich gleiche Beschaffen- heit der Theile oder Organe selbst ungleich wird. Solche nach ver- schiedenen Richtungen von einem gemeinsamen Centrum aus divergi- rende gleichartige Theile sind unsere Gegenstücke oder Antimeren. (In gleicher Weise entwickeln sich auch meistens diejenigen untergeordneten Theile von Piastiden und Organen, welche wir wegen ihrer (den An- timeren ähnlichen) Strahlform Parameren genannt haben.) Die Entwickelung der Antimeren durch Diradiation ist an vie- len Geschlechtspersonen der Phanerogamen (Blüthensprossen) und an einzelnen Metameren und Personen der Hydroraedusen , und der Coe- lenteraten überhaupt, leicht wahrzunehmen. Aus der einfachen kegel- förmigen oder cylindrischen Monaxon -Form des unentwickelten Bion, welches noch den Formwerth eines Organs besitzt, wachsen j-ings um den Oralpol der Hauptaxe, in gleichem Abstand von demselben, und in gleichem Abstand von einander, die peripherischen Organe hervor (Blüthcnblätter der Phanerogamen, Tentakehi der Coelentei-aten) , wel- che durch ihre Zahl und Stellung die homotypische Grundzahl und die stereoraetrische Grundfonn der Person bestimmen. Es lässt sich dieses 9* 132 Entwickelungsgeschichte der morphologischen Individuen. Hervorwachsen der peripherischen Theile der radialen Antimeren aus der Peripherie einer monaxonen Form weder als einfache Differenzirung ihrer Peripherie, noch als einfaches Hervorknospen der Organe auffas- sen, sondern als eine Verbindung beider Processe, welche eine unvoll- ständige radiale Theilung des ganzen Körpers bewirkt, und welche wir passend mit dem Ausdrucke der Diradiation oder Strahltheilung zu bezeichnen glauben. Die näheren Verhältnisse dieses wichtigen Vor- ganges sind für die Entwickelung der Gesammtform sowohl bei den Metameren, als bei den Personen äusserst wichtig, aber bisher noch sehr wenig untersucht. Eines der wichtigsten hierauf bezüglichen Ge- setze ist, dass alle Antimeren eines Kreises ursprünglich gleich sind, in gleicher Beschaffenheit aus der Peripherie der Person hervorspros- sen! Die Verschiedenheiten , welche sich bei den Antimeren eines und desselben Kreises später finden, und bei den Amphipleuren- Formen später so auffallend hervortreten (z. B. in den Pentamphipleuren- For- men der „bilateralen" Spatangiden und Clypeastriden , der Legumino- sen und Violaceen etc., in den Triamphipleuren- Formen der Orchi- deenblüthen, vieler Radiolarien etc.), entstehen erst nachträgUch durch Differenzirung der ursprünglich gleichartigen Antimeren. Der Gruppe der „strahligen" Organismen, mit drei oder mehreren Antimeren, steht gegenüber als eine andere Hauptgruppe diejenige der zweiseitigen oder dipleuren Organismen, deren Körper nur aus zwei symmetrisch gleichen Antimeren zusammengesetzt ist. Wie bei jenen ersteren die Antimeren durch unvollständige Strahltheilung, so entste- hen dieselben bei diesen letzteren durch unvollständige Längs- theilung. Wir haben diesen Spaltungsprocess oben gewissermaassen als den einfachsten Fall der Strahltheilung hingestellt (S. 42); beide Spaltungsformen haben das mit einander gemein, dass die Theüungs- ebenen mit der Längsaxe oder Hauptaxe des Körpers zusammenfallen. Diese Auffassung wird durch die Entwickelungsgeschichte gerechtfer- tigt da in der That die Entstehung der beiden Antimeren bei den dipleuren Formen, welche durch Längstheilung erfolgt, sich unmittel- - bar an die Entstehung der drei oder mehr Antimeren bei den strahh- gen Formen anschliesst, welche durch Diradiation erfolgt. Der emzige Unterschied ist, dass im ersteren Falle eine einzige, im letzteren zwei oder mehrere Theilungsebenen entstehen, welche mit der Hauptaxe des Körpers zusammenfallen. Man könnte vielleicht zunächst mehr geneigt sein die Entstehung der zwei symmetrisch -gleichen Antimeren bei den dipleuren Formen allgemein als einen zweiseitigen Differenzirungsprocess aiizufassen, gleichwie die Entstehung der drei oder mehr Antimeren bei den strahligen Formen zunächst oft mehr ein Knospungsprocess zu sein scheint. , Indessen glauben wir, dass diese Betrachtungsweise mehr der äusserlichen Erscheinungsweise als dem inneren Wesen der Anti- in. Ontogenie der Antimeren. 133 merogenese eutspricht, da doch in der That durch dieselbe das vorher einfache Form -Individuum zweiter Ordnung vollständig in zwei oder mehrere Form -Individuen dritter Ordnung zerfällt. Mögen diese Spal- tungsproducte auch noch so innig vereinigt bleiben, so sind doch stets die Grenzebenen, welche dieselben trennen, unql welche sich als inter- radiale Kreuzebenen in der Längsaxe schneiden, so haarscharf ausge- sprochen, dass über die Zugehörigkeit sämmtlicher Körpertheile zu den einzelnen Antimeren gar kein Zweifel stattfinden kann. Allerdings wird bei den höheren Thieren, deren Grundform die dipleure ist, die Ent- stehung der beiden Antimeren in der Regel als eine bilaterale oder zweiseitige Differenzirung der einfachen Körperanlage auf- gefasst. Gewöhnlich tritt dieselbe schon in sehr früher Zeit des em- bryonalen Lebens als Gegensatz von rechter und linker Körperhälfte hervor. Bei den Wirbel thieren z. B. wird sie schon durch das erste Auftreten des Primitivstreifes (Bär) oder der Axenplatte (Remak) gegeben, welche die kreisförmige und bereits in drei Blätter geson- derte Embryonalanlage in die beiden correspondirenden Hälften oder Antimeren (rechte und linke Körperhälfte) spaltet. Sobald hier durch das erste Erscheinen des Primitivstreifes in der Medianlinie der Em- bryonalanlage die Längsaxe oder Hauptaxe derselben ausgesprochen ist, so entwickeln sich fortan die beiden dadurch geschiedenen Körperhälf- teh, rechte und linke, in entgegengesetzter Richtung. Gewiss lässt sich diese absolut entgegengesetzte, aber relativ gleiche Entwickelung der beiden Symmetrisch -gleichen Köi-perhälften von einem gewissen Ge- sichtspunkte aus als eine „bilaterale" oder richtiger dipleure Dif- ferenzirung auffassen, insofern bereits vorhandene und gleichartig angelegte Theile eine verschiedene, und zwar eine diametral entge- gengesetzte Richtung der Entwickelungs- Bewegung einschlagen. An- dererseits aber glauben wir dieselbe doch mit noch grösserem Rechte, und mit mehr Vortheil für das tectologische und promorphologische Verständniss, als unvollständige Längstheilung auffassen zu kön- nen, weil in der That das vorher einfache Individuum zweiter Ordnung oder das „Organ" dadurch in zwei Individuen dritter Ordnung oder Antimeren zerfällt. Allerdings ist die dichotome Spaltung meistens nicht äusserlich durch eine mehr oder minder tiefgehende Furche aus- gesprochen. Allein die longitudinale Halbirungsebene geht als eine ideale, interradiale Grenzebene der beiden entgegengesetzten Körper- hälften so vollständig durch den ganzen Körper hindurch, wie es nur bei der realen Scheidewand zwischen zwei durch Längstheilung ent- stehenden Zellhälften der Fall sein kann. Wir glauben daher, dass sich in den allenneisten Fällen die Entstehung der Antimeren als un- vollständige Theilung auffassen lässt, entweder als Längstheilung (bei Organismen mit zwei Antimeren) oder als Strahltheilmig (bei Or- ganismen mit drei und mehr Antimeren). 134 Entwickeluugsgeschiohte der morphologischen Individuen. Während in allen diesen Fällen die Antimeren durch innere Tren- nung von zwei oder mehreren vorher vereinigten Theilen entstehen, so giebt es nun auch andererseits einige merkwürdige Fälle, in denen umgekehrt die Antimeren durch äussere Vereinigung von zwei oder mehreren vorher getrennten Theilen entstehen. Wir meinen die For- men, welche durch den eigeuthümlichen Verwachsungsprocess der Con- jugation entstehen, z.B. bei der Algengruppe der Conjugaten (Des- midiaceen und Zygnemaceen). Indem hier zwei gleiche Individuen, wel- che den Formwerth eines Organes hatten, mit einer entsprechenden Körperstelle verwachsen, erhalten dieselben offenbar an dem so entste- henden Doppelkörper durch ihre Verbindung den Formwerth von zwei Antimeren und der Doppelkörper selbst erscheint nunmehr als ein Form- Individuum vierter Ordnung, als ein Metamer. Durch einen Vorgang, welcher dieser Conjugation sehr nahe steht, wenn er nicht ursprünglich damit identisch ist, entstehen die Antimeren auch bei einigen Echinodermen. Wir meinen nämlich jene Fälle von Ästenden -Entwicklung, bei denen die fünf Antimeren des Seestern -Körpers als fünf getrennte Anlagen um den Darmcanal der Amme herum isolirt durch innere Keimbildung entstehen und erst nach- träglich mit ihren centralen Enden in Verbindung treten, um die Mit- telscheibe des Seestern -Körpers herzustellen. Wir erblicken in diesem Umstände ein sehr Avichtiges Argument für unsere, im sechsten Buche näher begründete Vermuthung, dass der pentactinote Ecbinodermen- Körper ursprünglich durch secundäre Verbindung oder Conjugation von fünf einzelnen zygopleuren Wurmkörpern entstanden ist, welche im In- neren des elterlichen Wurms (dessen Reste noch in der Amme persisti- ren) getrennt von einander hervorkeimten und erst nachträglich mit ihrem einen Ende sich verbanden. Dann wären die fünf Strahlstücke, welche wir gegenwärtig als Antimeren betrachten, ursprünglich Perso- nen und das ganze Echinoderm eigentlich ein Stock gewesen. Das Wachs thum der Antimeren, welches ihre gesammte -weitere Entwickelung bedingt, beruht wesentlich auf der Entwickelung der nächst untergeordneten Individualitäten, der Organe und der diese con- stituirenden Piastiden. In letzter Linie sind es fortgesetzte Zeugungs- akte von Piastiden, verbunden mit Volumvermehrung derselben, wel- che das Wachsthum der Organe und dadurch dasjenige der Antimeren bedingen, Die Differenzirungs-Processe, welche während der weiteren Ontogenie der Antimeren eintreten, sind ausserordentlich mannichfal- tige und von der hervorragendsten Bedeutung für die Entwickelung der Grundform. Wie wir im vierten Buche gezeigt haben, ist es in den meisten Fällen lediglich die Differenzirung der Antimeren, welche die niedere Grundform des jüngeren Organismus in die höhere Pro- III. Outogenie der Antimeren. 135 morphe des ausgebildeten liinüberfülirt. So entstellt namentlich durch Differenzirung der einfacheren Homostauren -Form die vollkommnere Grundform der Heterostauren. Die Autopolen-Form entwickelt sich durch Ditterenzirung der Antimeren aus der Isopolen -Form, z.B. die Octophragmen-Form der Ctenophoren aus der octactinoten Grundlage, die Hexaphragmen-Form der Madreporeu aus der hexactinoten Grund- lage. In gleicher Weise geht aus der triactinoten Anlage der Grami- neen-Blüthe die triamphipleure Form der ausgebildeten Blüthe hervor, aus der pentactinoten Anlage des jugendlichen Spatangus, der Compo- siten- und Leguminosen-Blüthe die pentamphipleure Form der Erwach- senen. Ebenso entwickelt sich unter den Zygopleuren durch Differen- zirung der Antimeren die dystetrapleure Schwimmglocken -Form der Abyla aus ihrer eutetrapleuren und zuerst sogar tetractinoten Grund- lage, und ebenso die dysdipleure Form der Pleuronectiden aus der eu- dipleuren allgemeinen Wirbelthier-Form. Diese wenigen Beispiele mö- gen genügen, um zu zeigen, welche ausserordentlich hohe Bedeutung die Differenzirung der Antimeren für die Promoi-phologie besitzt, und wie dieser bisher gänzlich vernachlässigte Theil der Entwickelungsge- schichte lediglich schon wegen seiner promorphologischen Bedeutung einer der interessantesten werden wird. Die Degeneration der Antimeren, bisher ebenfalls gänzlich ausser Acht gelassen, ist oft von nicht geringerem promorphologischen Interesse als ihre Differenzirung, und wirkt oft, mit letzterer unmit- telbar verbunden, mächtig bestimmend auf die Grundform ein. Am klarsten und leichtesten nachzuweisen ist dies bei der Phanerogamen- Blüthe, wo sehr allgemein in einzelnen Metameren (Blattkreiseu) der Blüthe das eine oder andere Antimer durch Degenerations-Processe rückgebildet wird, und dann, obwohl ursprünglich angelegt, dennoch späterhin völlig verschwindet. Die Botaniker pflegen diese Entbildung der Antimeren, welche wesentlich modificirend auf die Grundform der Blüthe, und insbesondere auf die homotypische Grundzahl des betref- fenden Metameres einwirkt, als Abortus oder Fehlschlagen zu bezeich- nen. So schlägt z. B. in dem männlichen Metamere (Staubfadenkreise) der Labiaten-Blüthe, welches pentactinot angelegt und eutetrapleurisch ausgeführt ist, fast immer ein Antimer fehl, bisweilen aber (Safvia, Ljjcojnis) sogar drei. So schlagen auch bei den pentactinot angeleg- ten, später aber pentamphipleurisch ausgeführten Holothurien nicht sel- ten zwei Antimeren fehl und bloss drei werden ausgebildet. Alle Formveränderungen, welche wir bei der individuellen Entwi- ckelung der Antimeren wahrnehmen, sowie alle Entwickelungsfunctio- nen, auf welchen cTieselben beruhen, also alle Processe der Zeugung und des Wachsthums , der Differenzirung und Degeneration von Plasti- den und Organen, welche bei der Antimerogenesis zusammenwirken, 136 EntwickelungBgeschiclite der morphologischen Individuen. sind lediglich zusammengedrängte, schnelle, durch die Gesetze der An- passung und Vererbung bedingte Wiederholungen der ursprünglichen paläontologischen Erscheinungen, welche in langen Zeiträumen durch viele Generationen hindurch langsam zur Entstehung der gegenwärtig existirenden, specifischen Antimeren- Formen geführt haben. Alle Er- scheinungen, welche die individuelle Entwickelung der Antimeren be- gleiten, erklären sich iBdiglich aus der paläontologischen Entwickelung ihrer Vorfahren. Die gesammte Ontogenie der Antimeren ist eine kurze Recapitulation ihrer Phylogenie. IV. Ontogenie der Metameren. Individuelle Entwickelungsgeschichte der rolgestücke. Die Ontogenie der Metameren oder Folgestücke, der morphologi- schen Individuen vierter Ordnung, hat sowohl die Entwickelung der Gesammtform bei denjenigen Organismen zu untersuchen, welche als actuelle Bionten durch ein einzelnes Metamer repräsentirt werden (z. B. die meisten Mollusken), als auch die Entwickelung derjenigen homo- dynamen Körperabschnitte, welche als subordinirte Metameren, zu einer Colonie verbunden, die Individuen fünfter Ordnung, die Personen oder Sprosse zusammensetzen. Diese Fälle sind bisher nicht gleichmässig in der Entwickelungsgeschichte berücksichtigt worden. Der erstere hat eine sehr eingehende, der letztere dagegen nur eine sehr oberflächliche Berücksichtigung gefunden; und doch ist dieser von keiner geringeren Bedeutung als jener. Da, wo die Metameren als actuelle Bionten, als die concreten Repräsentanten der Speeles auftreten, ist die Ontogenie der Metameren zugleich im weiteren Sinne die Entwickelungsgeschichte der gesammten Köri^erform der reifen Speeles -Repräsentanten; dies ist der Fall bei den meisten Mollusken, vielen niederen Würmern (Tre- matoden etc.) und Coelenteraten. Hier ist daher die Metamerogenie zugleich derjenige Theil der individuellen Entwickelungsgeschichte, wel- chen man als „die Lehre von der Entwickelung der äusseren Körper- form oder der Gesammtform" zu bezeichnen pflegt. Wo dagegen die Metameren nur als subordinirte „Glieder" eines Form-Individuums fünf- ter Ordnung, einer Person auftreten, und wo man sie deshalb gewöhn- lich nicht in ihrem individuellen Formwerthe anerkannt hat, da hat auch gewöhnlich ihre Entwickelung nur sehr wenig selbstständige Be- rücksichtigung gefunden. Dies gilt insbesondere von denjenigen Pei-so- nen, bei denen die homodyname Zusammensetzung aus einer Metame- renkette nur innerlich deutlich ausgesprochen ist, wie bei den Verte- braten und meisten Echinodermen, weniger von denjenigen, bei welchen dieselbe äusserlich scharf hervortritt, wie bei den Gliederfüssern, Ghe- derwürmern, Phanerogamen und den Cryptogamen mit gegliedertem IV. Ontogenie der Metameren. 137 Stengel. Gewöhulich ist die Metamerogenese hier einestheils mit der Organogenese, anderntheils mit der Prosopogenese vereinigt abgehan- delt worden. Ihre besondere selbstständige Behandlung erscheint uns aber auch hier von grosser Wichtigkeit, namentlich für das Verständ- niss der paläontologischen Prosopogenese. Die Entstehung der Metameren beruht zunächst und unmit- telbar immer auf Spaltungs - Processen , und zwar entweder von schon bestehenden Metameren, oder von untergeordneten Individualitäten er- ster bis dritter Ordnung. Wenn die Zeugung des entstehenden Meta- meres von einem schon existirenden , elterlichen Metamer ausgeht, so ist der gewöhnliche Spaltungsmodus derjenige der Knospenbildung, sel- tener der Theilung. Der bei weitem häufigste Zeugungsmodus, durch welchen Metameren aus bestehenden Metameren entstehen, ist die ter- minale Knospung. Auf diese Weise bilden sich jn den allermeisten Fällen die Metameren, welche den Rumpf der Wirbelthiere, Glieder- thiere und Echinodermen, sowie den gegliederten Stengel der Phane- rogamen und höheren Cryptogamen zusammensetzen. Die Endknospen- bildung ist hier meistens omniparental , seltener uniparental. Bei der gewöhnlichen, omniparentalen Knospung entsteht jedes neue Metamer aus dem nächstvorhergehenden. Bei der selteneren uniparentalen Knos- pung dagegen entstehen alle Metameren aus einem einzigen (so z. B. bei der Strobila der Acraspeden und Cestoden). Im letzteren Falle ist das letzte Glied der Kette das Zweitälteste, im ersteren dagegen das jüngste. Viel seltener entstehen bei den Thieren Metameren durch la- terale Knospung, so z. B. bei den Tunicaten und Bryozoen, und bei vielen Coelenteraten ; sehr häufig dagegen bei den Pflanzen. Die Entstehung der Metameren durch Theilung ist im Ganzen viel seltener als diejenige durch Knospung, vorzüglich bei den subor- dinirten Metameren, welche Ketten -Personen bilden. Am häufigsten ist sie noch bei denjenigen Metameren, welche selbstständig als actuelle Bionten auftreten, wie z. B. bei den Infusorien, einigen Coelenteraten und Cryptogamen. Gewöhnlich ist ' die Theilung hier Längstheilung oder Quertheilung. Die letztere schliesst sich unmittelbar an die End- knospenbildung an, und in manchen Fällen ist es schwer zu entschei- den, ob die Gliederung oder Articulation , durch welche neue Metame- ren entstehen, Quertheilung (Articulatio divisiva) oder Endknospenbil- dung (Articulatio gemmascens) ist. Wenn die Entstehung der Metameren nicht unmittelbar von be- stehenden Metameren ausgeht, sondern von subordinirten Individuen nächst niederer Form - Ordnungen , so ist dieser Akt gewöhnlich als Differenzirung oder als unvollständige Theilung eines Or- gans aufzufassen, und fällt dann zusammen mit demjenigen Processe, den wir im vorhergehenden Abschnitte als den gewöhnlichen Entste- 138 EntwickelungBgeschichte der morphologischen ludividuen. hmigsmodus der Antimeren hingestellt haben. Wie wir dort sahen, können wir ganz wohl den radialen oder bilateralen DifFerenziriings- Process, durch welchen ein Form-Individuum zweiter Ordnung, ein Or- gan, in zwei oder mehrere Antimeren zerfällt, als unvollständige Thei- lung des Organs auffassen, und zwar als Längstheilung, wenn dadurch bloss zwei, als Strahltheilung, wenn dadurch drei oder mehrere Meta- meren entstehen. Dieser wichtige, aber bisher wenig beachtete Process ist nun stets zugleich mit der Entstehung eines Metameres verbunden. Denn indem das Form -Individuum zweiter Ordnung (Organ) in zwei oder mehrere, vereinigt bleibende Form - Individuen dritter Ordnung (Antimeren) zerfällt, wrd aus dem ersteren eo ipso zugleich ein Form- Individuum vierter Ordnung oder ein Metamer. So wird also z. B. die Embryonal -Anlage des Wirbelthieres , welche den Form -Werth eines Organs besitzt, dui"ch das Auftreten des Primitivstreifes nicht bloss in zwei Antimeren getheilt, sondern zugleich selbst in ein Metamer ver- wandelt. Das Wachsthum der Metameren, welches ihre gesammte wei- tere Entwickelung bis zur erreichten vollen Grösse bedingt, beruht we- sentlich auf der Entwickelung der nächst untergeordneten Individuali- täten, der Antimeren. In letzterer Linie sind es fortgesetzte Zeugungs- akte der Piastiden, verbunden mit Volumvennehrung derselben, welche das Wachsthum der Organe und Antimeren und dadurch zugleich das- jenige der Metameren bedingen. Die Differenzirungs-Processe der Metameren, welche ihr Wachsthum und ihre weitere Entwickelung begleiten, sind ausseror- dentlich mannichfaltige. Bei denjenigen Organismen, welche als actuelle Bionten durch Metameren repräsentirt wefden, wie z. B. bei den Infu- sorien, Trematoden, allen höheren und den meisten niederen Mollusken, entstehen dadurch die verschiedenen „Speeles" - Formen. Bei denjeni- gen Organismen, bei welchen die Metameren als subordinirte Glieder zur höheren Einheit der Person verbunden sind, wird ebenfalls die Formen -Mannichfaltigkeit der Speeles durch die Vielseitigkeit in der Differenzirung der Metameren, ausserdem aber auch der Vollkommen- heitsgrad der Personen durch den Differenzirungsgrad der constitui- renden Metameren bedingt. Hierauf beruht also z. B. wesentlich die höhere Vollkommenheitsstufe, welche die „heteronom gegliederten" Ar- thropoden gegenüber den „homonom gegliederten" Anneliden, und eben- so die heteronom gegliederten „Blüthensprosse" der Phanerogamen ge- genüber den homonom gegliederten „Blattsprossen" einnehmen. Wei- terhin ist es dann vorzugsweise die polymorphe Differenzirung der Me- tameren, welche überhaupt eine höhere organische Vervollkommnung des Organismus ermöglicht. Dies zeigen sehr deutlich die „geglieder- ten" Wirbelthiere, Gliederthiere und Echinodermen gegenüber den „un- IV. Outogenie der Metameren. 189 gegliederten" Mollusken etc. Aber auch innerhalb jeder kleineren Ab- theilung ist der Vollkommenheitsgrad der Personen wesentlich durch den Ditterenzirungsgrad der Metameren bedingt, wie es insbesondere bei den verschiedenen Wirbelthier-Abtheilungen durch die maassgebende Difterenzirung der Wirbelabschnitte, bei den verschiedenen Dicotyle- donen- Gruppen (Monochlamydeen , Dichlamydeen) durch den bestim- menden Differenzirungsgrad der Blattkreise der Blüthe sehr deutlich dargethan wird. Die Degeneration der Metameren, gleich derjenigen der An- timeren bisher meist gar nicht berücksichtigt, ist ebenfalls von sehr bedeutendem morphologischen Interesse. Wir erinnern bloss daran, dass dieser Process allein schon in vielen Fällen höchst eigenthümliche Bildungen hervorzubringen vermag, und zwar sowohl regressive als pro- gressive Formen. Lediglich cataplastisch wirkt natürlich die Degene- ration immer auf die einzelnen Metameren, welche dadurch auf eine niedere Bildungsstufe zurücksinken. So ist es namentlich sehr deutlich bei parasitischen Speeles, welche als actuelle Bionten durch einzelne Metameren repräsentirt werden, z. B. bei der in Syiiapta schmarotzen- den Entoconcha mirahilis^ bei vielen parasitischen ungegliederten Wür- mern etc. In solchen Organismen dagegen, bei denen die Metameren bloss als subordinirte Glieder einer Person erscheinen , kann die Dege- neration einzelner Metameren nicht bloss cataplastisch wirken (wie z. B. bei den parasitischen Cmstaceen), sondern auch umgekehrt anapla- stisch. Ja es kann sogar der höhere Vollkommenheitsgrad einer Form gegenüber niederen verwandten Formen wesentlich durch die Entbil- dung eines oder mehrerer Metameren bedingt sein. Es scheint dies damit zusammenzuhängen, dass die regressive Entwickelung , die Ca- taplase einzelner Metameren in einer langen Metamerenkette , unmit- telbar (durch Wechselbeziehung der Entwickelung) die progressive Ent- wickelung, die Anaplase anderer Metameren in derselben Kette begün- stigt. Dies sehen wir z. B. sehr ausgezeichnet bei vielen geschwänzten Thieren. Die Keduction des Schwanzes gilt in vielen Fällen (aus ver- schiedenen Gründen) für eine Vervollkommnung; daher werden allge- mein die brachyuren Deacopoden als vollkommener angesehen gegen- über den unvollkommneren Macruren, ebenso der Mensch und die an- deren ungeschwänzten Affen gegenüber den geschwänzten Affen. Die Rückbildung des Schwanzes, welche hier offenbar wesentlich zur Ver- vollkommnung führte, ist nichts Anderes, als die Degeneration einer Anzahl von Metameren. Alle Formveränderungen, welche wir bei der individuellen Entwi- ckelung der Metameren wahrnehmen, sowie alle Entwickelungs-Functio- nen, auf welchen dieselben beruhen, also alle Processe der Zeugung und des Wachsthums, der Differeuzirung und der Degeneration von 140 Entwickeluugsgeschichte der morphologischen Individuen. Plastiden, Organen und Antiraeren, welche bei der Metamerogenesis zusammenwirken, sind lediglich zusammengedrängte, schnelle, durch die Gesetze der Anpassung und Vererbung bedingte Wiederholungen der ursprünglichen paläontologischen Erscheinungen, welche in langen Zeiträumen durch viele Generationen hindurch langsam zur Entstehung der gegenwärtig existirenden specifischen Metameren- Formen geführt haben. Alle Erscheinungen, welche die individuelle Entwickelung der Metameren begleiten, erklären sich lediglich aus der paläontologischen Entwickelung ihrer Vorfahren. Die gesammte Ontogenie der Metame- ren ist eine kurze Recapitulation ihrer Phylogenie. V. Ontogenie der Personen. Individuelle Entwickelungsgeschichte der Prosopen. Die Ontogenie der Personen oder Prosopen, der morphologischen Individuen fünfter Ordnung, hat bei den höheren Thieren sowohl, wo die physiologische Individualität allgemein in der Ausbildung der Per- son ihr Ziel erreicht, als bei den Coelenteraten und den höheren Pflan- zen, wo dieselbe als Spross oder Gemma gewöhnlich mit anderen Per- sonen oder Sprossen zu Stöcken verbunden ist, eine ausgedehntere Bear- beitung und eine gerechtere Würdigung gefunden, als die Ontogenie der Metameren und Antimeren. In der Botanik spielt die „Entwicke- lungsgeschichte der Knospen", d. h. der Sprosse, schon längst eine her- vorragende Rolle, und ebenso in der Zoologie die entsprechende „Ent- wickelungsgeschichte der Gesammtform oder der äusseren Körperform", besonders bei den am meisten in dieser Beziehung untersuchten und am längsten bekannten Wirbelthieren und Gliederthieren. Da bei allen Wirbelthieren und Echinodermen , den meisten Articulaten und vielen anderen Thieren das actuelle Bion durch die Person oder das moi-pho- logische Individuum fünfter Ordnung repräsentirt wird, so schliesst hier die Ontogenie der Species mit der Prosopogenie ab, während bei den meisten Pflanzen und bei den Coelenteraten, wo sich die morphologi- sche Individualität des Bion bis zur sechsten und letzten Ordnung, dem Stock, erhebt, die Prosopogenie der Cormogenie sich unterordnet. Bei den letzteren kann daher dieselbe nicht als der Schlussstein und das letzte Ziel der gesammten Embryologie und Metamorphologie be- trachtet werden, wie bei den ersteren. Die Entstehung der Personen beruht zunächst und unmittel- bar immer auf Spaltungs-Processen und zwar geht diese Spaltung ent- weder von bereits existirenden Personen, oder von der nächst unter- geordneten Individualität des Metameres aus. Alle Personen müssen entweder durch Spaltung von Personen oder von Metameren entstehen. Die Form -Individuen vierter und fünfter Ordnung verhalten sich in V. Ontogenie der Personen, 141 dieser Beziehung ganz gleich. Der gewöhnliche Spaltungsmodus ist bei beiden die Knospung, seltener die Theilung. Wenn neue Personen von bereits bestehenden Personen unmittelbar erzeugt werden, so ist der gewöhnliche Zeugungsmodus die Knosp en - bildung, und zwar meistens die laterale, seltener die terminale Knos- pung. Durch Lateralknospen bildung entstehen namentlich die allermeisten pflanzlichen Personen, welche bei den Phanerogamen und höheren Cryptogamen (mit wenigen Ausnahmen) zu Colonieen vereinigt die Stöcke oder Cormen zusammensetzen. Ebenso ist es laterale Knos- pung, durch welche die Personen entstehen, die die meisten Coelente- ratenstöcke zusammensetzen. Personen, welche aus vorhandenen Per- sonen unmittelbar durch Terminal knospung entstehen, sind viel seltener, so z.B. manche AnneHden. Es entstehen dadurch, so länge die in einer gemeinsamen Längsaxe hinter einander liegenden Personen vereinigt bleiben, die seltsamen, aber meist rasch sich auflösenden Kettenstöcke, z. B. von Autolytns, Syllis, Nais etc., welche- sich ebenso zu den Personen verhalten, wie die Ketten-Personen zu den Metameren. Viel seltener, als durch Knospung, gehen Personen aus existiren- den Personen durch Theilung hervor, und zwar meistens durch Längs- theilung, seltener durch einen anderen Modus der Division. Am wei- testen verbreitet finden wir diesen Modus der Propagation bei den Anthozoen, und insbesondere bei den Turbinoliden und Astraeiden. Durch fortgesetzte unvollständige Längstheilung entstehen hier die selt- samen Corallenstöcke der Maeandrinen, Manicinen, Coelorien, Stellorien etc., bei denen die Grenzen der einzelnen Personen so verwischt sind, dass ihre Trennung, und selbst die Erkenntniss der Centra der Ein- zelthiere ganz unmöglich wird. "Wenn die Entstehung der Personen nicht unmittelbar von beste- henden Personen ausgeht, sondern von subordinirten Individuen der nächst niederen Ordnung, von Metameren, so ist dieser Zeugungsakt stets eine unvollständige Knospenbildung von Metameren. Denn da der morphologische Charakter der Person oder des Prosopon in der bleibenden Vereinigung von zwei oder mehreren Metameren liegt, so muss jede unvollständige Knospenbildung eines Metameres, d. h. jede bleibende Vereinigung (Synusie) von zwei oder mehreren, durch Knospung aus einem einzigen entstandenen Metameren, eo ipso bereits als eine Person betrachtet werden. Ist die unvollständige Knospenbil- dung der Metameren lateral, so entstehen dadurch Buschpersonen (Prosopa fruticosa), wie bei den meisten sogenannten Stöcken der Tu- nicaten und Bryozoen. Ist dagegen die unvollständige Knospenbildung der Metameren terminal , so entstehen dadurch Ketten-Personen (Pros- opa catenata). Dieser letztere Zeugungsmodus ist äusserst verbreitet; denn es entstehen durch denselben die Personen der Wirbelthiere, Glie- 142 EntwickeluugsgeBchichte der morphologischen Individuen. derthiere, Ecliinodermeii etc., und alle Pflanzensprosse, welche nicht immittelbar durch Lateralknospung aus bereits existirenden Pflanzen- sprossen hervorgehen. Der Wirbelthier -Embryo ist ein einfaches Me- tamer, so lange noch keine Urwirbel an ihm differenzirt sind. Sobald durch den DilFerenzirungs-Process der Urwirbel, welcher ursprünglich offenbar eine Form der unvollständigen Terminalknospung ist, die Ur- wirbelsäule, eine Metamereu-Kette entstanden ist, ist das einfache Me- tamer dadurch bereits zur Person geworden. Ebenso wird die einfache ungegliederte Keimpflanze der Phanerogamen, welche gleichfalls Meta- meren-Rang besitzt, zur Person, sobald das zweite Stengelglied durch Terminalknospung aus dem ersten hervorgegangen ist. Das Wachs th um der Personen, welches ihre gesammte weitere Ent\vickelung bis zur erreichten vollen Grösse bedingt, beruht wesent- lich auf der Entwickelung der nächstuutergeordneten Individualität, der constituirenden Metameren, und zwar auf einer Zunahme derselben sowohl an Grösse und Vollkommenheit, als an Zahl. Die Grössenzu- nahme und Differenziruug der Metameren dauert meistens noch lange fort, nachdem die volle Zahl derselben bereits erreicht ist, insbeson- dere bei den Thieren, weniger bei den Pflanzen. In letzter Linie sind es fortgesetzte Zeugungsakte der Piastiden, verbunden mit Volumver- mehrung derselben, welche das Wachsthum der Organe, Antimeren und Metameren, und dadurch zugleich dasjenige der Personen bedingen. Die Differenzirungs-Processe der Personen, welche das Wachsthum und die weitere Entwickelung derselben begleiten, sind ausserordentlich mannichfaltige. Bei denjenigen Organismen, welche als actuelle Bionten durch Personen repräsentirt werden , also bei allen Wirbel thieren, Gliederfüssern und Echinodermen, bei den meisten Wür- mern etc., beruht die unendliche Manniclifaltigkeit der Speeles zunächst auf der unbeschränkten Difterenzirungs-Fähigkeit der Personen, welche ihrerseits zunächst wieder durch die reiche Differenzirung der consti- tuirenden Metameren und Antimeren bedingt ist. Bei denjenigen Or- ganismen dagegen, bei welchen die Personen als Sprosse integrirende subordinirte Bestandtheile der höheren Einheit des Stockes oder Cor- mus sind, bedingt die Differenzirung der Personen nicht allein die spe- cifische Verschiedenheit der Arten, sondern auch den Vollkommenheits- grad der Cormen. Je grösser dann die Differenzirung oder die Arbeits- theilung der verschiedenen Personen ist, desto vollkommener ist der Stock, wie es z.B. die polymorphen Stöcke der Siphonophoren und Phanerogamen sehr deutlich zeigen. Bei denjenigen Thieren, bei wel- chen viele polymorphe Personen zwar nicht zu der realen Formeinheit des Stockes, aber doch zu der idealen Functionseinheit der Gemeinde, der Heerde oder des Staates verbunden sind, ist es ebenfalls we- sentlich der Differenzirungsgrad der Personen, welcher die Vollkom- Y. Ontogenie (^er Personen. 143 menheit des idealen staatlichen Organismus bedingt. Je grössere Frei- heit hier den einzelnen Individuen behufs ihrer selbstständigen Entwi- ckeluug und Differenzirung gegeben ist, desto vollkommener ist auch der Staat. Daher erhebt sich der republikanische Staat über den mon- archischen nicht niu' hinsichtlich seiner Gesammtleistung, sondern auch hinsichtlich der vollkommenen Entwickelung der constituirenden Perso- nen. Dies zeigt deutlich der republikanische Ameisenstaat gegenüber dem monarchischen Bienenstaat. Dieselben Gesetze, welche in dieser Beziehung die Entwickelung der menschlichen Staatenbildung leiten, gel- ten in gleicher Weise für die Gemeinden und Staaten der übrigen Thiere. Die Degeneration der Personen wirkt, ebenso wie diejenige der Metameren, bloss dann ausschliesslich rückbildend, wenn sie ein- zelne Personen an sich betrifft. Auch hier treten die Wirkimgen dieser Entwickelungsfunction besonders dann deutlich hervor, wenn Personen durch Anpassung an niedera Existenzbedingungen zu allgemeiner Eück- bildung veranlasst werden. Am auffallendsten zeigen diese Verhältnisse unter den Thieren die parasitischen Arthropoden, und namentlich die Crustaceen, wo fast alle Ordnungen ausgezeichnete Beispiele von die- ser Cataplase durch Parasitismus liefern. Unter den Pflanzen nehmen wir dasselbe bei den parasitischen Orobanchen, Cuscuten etc. nicht min- der deutlich wahr. Bei den Thieren genügt häufig schon für den Ein- tritt entschiedener Degenerations-Processe der üebergang von der frei beweglichen Lebensweise der umherschweifenden jugendlichen Person zu der festsitzenden Lebensweise der Erwachsenen. Bei denjenigen Per- sonen dagegen, welche als polymorphe Glieder einer höheren Einheit, sei es nun der realen Formeinheit des Stockes oder der idealen Form- einheit des Staates vereinigt leben, kann ebenso, wie wir es vorher von den Metameren gezeigt haben, die Degeneration einzelner Perso- nen der vollkommenen Ausbildung anderer und selbst des Ganzen zum Vortheil gereichen. Auch dieses Gesetz der Wechselbeziehung der Ent- wickelung gilt ebenso für die Staaten der Manschen und der höheren Thiere, wie für die Stöcke der Pflanzen und Coelenteraten. Bei den letzteren ist z. B. die Degeneration der passiven Schutz-Individuen, der Deckstücke, von Vortheil für die höhere Entwickelung der activen Schutz -Individuen, der Nesselfäden. Ebenso ist in den menschlichen Staaten die Degeneration der Aristokratie z. B. , die Rückbildung der Adelskasten und Priesterkasten, von Vortheil für die vollkommnere und freiere Entwickelung der von diesen unterdrückten niederen Volksklas- sen, und dadurch zugleich des ganzen Staates. Eine eingehendere ver- gleichende Beobachtung zeigt auch hier wieder überall, dass dieselben Entwickelungsgesetze die Staatenbildung der Menschen und der ande- ren höheren Thiere, wie die Stockbildung der niederen Thiere und der Pflanzen beherrschen. 144 Entwickclungsgeschichte dei- morphologischen Individuen. Alle Formveränderungen , welche wir bei der individuellen Entwi- ckelung der Personen wahrnehnien, sowie alle Entwickelungs- Functio- nen, auf welchen dieselben beruhen, also alle Processe der Zeugung und des Wachsthums, der Differenzirung und Degeneration von Plasti- den, Organen, Antimeren und Metameren, welche bei der Prosopoge- nesis zusammenwirken, sind lediglich zusammengedrängte, schnelle, durch die Gesetze der Anpassung und Vererbung bedingte Wiederho- lungen der ursprünglichen paläontologischen Erscheinungen, welche in langen Zeiträumen durch viele Generationen hindurch langsam zur Ent- stehung der gegenwärtig existirenden specifischen Personen-Formen ge- führt haben. Alle Erscheinungen, welche die individuelle Entwicke- lung der Personen begleiten, erklären sich lediglich aus der paläonto- logischen Entwickelung ihrer Vorfahren. Die gesammte Ontogenie der Personen ist eine kurze Recapitulation ihrer Phylogenie. VI. Ontogenie der Stöcke. Individuelle Entwickelungsgeschichte der Cormen. Die Ontogenie der Cormen oder Stöcke, der morphologischen In- dividuen sechster Ordnung, ist der beschränkteste von allen sechs Thei- len der Ontogenie, weil einerseits die Bildung echter Stöcke auf die Phanerogamen und höheren Cryptogamen, die Coelenteraten und wenige andere Thiere beschränkt ist, andererseits aber die morphologischen Verhältnisse derselben im Ganzen viel weniger Mannichfaltigkeit zei- gen, als diejenigen der fünf untergeordneten Individualitäts-Ordnungen. Auch hat bisher die Zoologie der Entmckelungsgeschichte der Stöcke nur sehr geringe Aufmerksamkeit zugewendet, selbst bei denjenigen Thieren, welche, wie die Siphonophoren und Anthozoen, am meisten dazu auffordern. Viel ausgedehntere Berücksichtigung hat die Cormo- genesis in der Botanik gefunden, besonders in der Lehre von der Sprossfolge und von der ^ntwickelung der Blüthenstände. Doch steht auch hier die Cormogenie noch keineswegs auf gleicher Stufe der Aus- bildung, wie die Prosopogenie. Die Entstehung der Cormen oder der echten Stöcke zeigt, wie es schon ihre einfacheren promorphologischen Verhältnisse vermu- then lassen, trotz aller Mannichfaltigkeit im Einzelnen, doch im Gan- zen grosse Uebereinstimmung. Der allgemeine Entwickelungsprocess, durch welchen zunächst unmittelbar alle Stöcke entstehen, ist die un- vollständige Spaltung von Personen, und zwar ist diese Spal- tung allermeistens Knospenbildung, viel seltener Theilung. Die unvollständige Knospenbildung von Personen, durch welche die allermeisten Stöcke entstehen, ist fast immer laterale Knospenbildung. So entstehen die Stöcke der aUermeisten Coelen- VI. Ontogenie der Stöcke. 145 teraten und höheren Cryptogamen und aller Phanerogamen. Die grösste Mannichfaltigkeit in der gegenseitigen Lagerung, Verbindung, Grösse, Zahl und Dilferenzirung der Personen, welche durch Lateralknospun'g den Stock zusammensetzen, findet sich bei den sexuellen Stöcken der Phanerogamen, den sogenannten Blütheuständen. Durch terminale Knospe nbildung von Personen können zwar auch Stöcke entstehen, aber diese persistiren nicht, sondern stellen nur eine schnell vorüber- gehende Vereinigung von mehreren Personen dar, welche nachher ge- trennt weiter leben. Dies ist der Fall bei den provisorischen Ketten- stöckeu der Annehden, z.B. Antohjtns, Syllis, Nais etc. Die unvollstcändige Theilung von Personen ist als Entste- hungsmodus von Stöcken viel seltener und beschränkter, als die un- vollständige Knospung. Sie findet sich bei den Anthozoen unter den Coelenteraten , vorzugsweise bei den Astraeiden und Turbinoliden , fer- ner bei niederen Cryptogamen. Unter den Phanerogamen kommt sie nur ausnahmsweise, als Fasciation vor, nicht unter normalen Verhält- nissen. Die incomplete Personentheilung, durch welche Cormen ent- stehen, ist fast immer Längstheilung, seltener Strahltheilung (bei ei- nigen Astraeiden), oder Stücktheilung. Das Wachsthum der Stöcke, welches ihre gesammte weitere Entwickelung bedingt, beruht wesentlich auf der Entwickelung der nächst untergeordneten Individualitäten, der constituirenden Personen, und zwar vorzugsweise auf einer fortdauernden Zunahme derselben an Zahl und Grösse. Dieses Wachsthum ist bei den Cormen viel weniger beschränkt, als bei allen übrigen Individualitäten; ja, in vielen Fällen scheint dasselbe sogar unbeschränkt zu sein. Während wir bei den Form-Individuen der fünf niederen Ordnungen, von der Plastide bis zur Person, fast immer eine bestimmte Wachsthumsgrenze antrelfen, welche für die betreffende Organismen- Art charakteristisch ist, so fehlt diese bei sehr vielen Stöcken gänzhch. Es hängt dieses unbegrenzte Wachsthum der Cormen in vielen Fällen damit zusammen, dass der Cormus beständig am einen Ende der Längsaxe abstirbt, während er am anderen Ende fortwächst, so namentlich bei den unterirdischen krie- chenden Stöcken (Wurzelstöcken, Rhizomen) vieler Pflanzen, und bei den ähnlichen Formen vieler Corallenstöcke. Bei den letzteren kommt dazu noch der Umstand, dass die abgestorbenen Skelettheile zahlloser früherer Generationen untrennbar mit denen der jüngsten und allein lebenden Generation von Anthozoen, die sich auf der Oberfläche des Corallenstocks befindet, zusammenhängen, und dass bei eintretenden langsamen Senkungen des Meerbodens das an der Obeiüäche beständig fortdauernde Wachsthum des sinkenden Corallenstocks das Volum des- selben zum Umfange von grossen Inseln anzuschwellen vermag. In letzter Instanz sind es natürlich auch hier die unaufhörlich fortgesetz- Haeckel, Generelle Morphologie, II. -in. 146 Ent-wickelungsgeBcliichte der morphologischen Individuen. teil ZeugUTigsakte der Plastiden , verbunden mit Vohimverraehrung der- selben , welche das Wachsthum der Organe, A^ntimeren, Metameren und Personen, und dadurch zugleich dasjenige der Cormen bedingen. Die Differenzirungs-Processe der Stöcke, welche das Wachsthum und die weitere Entwickelung derselben begleiten, sind im Ganzen viel weniger auffallende und mannichfaltige , als bei den Per- sonen und bei den anderen subordinirten Individualitäten. Es geht dies schon hervor aus der grossen Einfachheit und geringen Mannich- faltigkeit der Grundformen, welche die meisten Stöcke vor den übrigen Individualitäten auszeichnet. Ferner zeigt sich dieser geringe Diffe- renzirungsgrad deutlich in dem Umstände, dass die Gesamratform des Stockes nur selten für die betreffenden Organismen-Species charakteri- stisch ist, und nur in wenigen Fällen als diagnostisches Merkmal be- nutzt werden kann. Daher haben auch die Stöcke allgemein in der Systematik eine viel geringere Berücksichtigung gefunden, als die Per- sonen. Offenbar ist es die festsitzende Lebensweise der allermeisten Stöcke, welche diesen geringen Differenzirungsgräd grösstentheils be- dingt. Dies zeigt schon die verhältnissmässig grosse Differenziruug der frei beweglichen Siphonophorenstöcke. Am einförmigsten und am we- nigsten mannichfaltig difterenzirt zeigen sich die Stöcke der Anthozoen und die geschlechtslosen (nicht blühenden) Phanerogamen - Stöcke. Je weiter die Arbeitstheilung unter den constituirenden Personen geht, desto grösser wird die Differenziruug des Stockes. Die höchste Ent- wickelung zeigen in dieser Beziehung die polymorphen Cormen der Si- phonophoren. Unter den Pflanzen zeigt sich die mannichfaltigste Dif- ferenzirung in der Bildung der Geschlechtsstöcke bei den Phaneroga- men, in der Form der Blüthenstände oder Inflorescentien. Dass im Uebrigen die Diöerenzirung der Cormen als realer Bionten sechster Ordnung uacli denselben Entwickelungsgesetzen erfolgt, wie die Diffe- renziruug der Staaten als idealer Bionten sechster Ordnung, und dass sowohl hier wie dort die Differenziruug der höheren Einheit unmittel- bar durch diejenige der constituirenden Personen bedingt ist, haben wir schon im vorhergehenden Abschnitte gezeigt. Die Degeneration der Stöcke ist an sich, ebenso wie ihre Difierenzirung, von viel geringerer Bedeutung als diejenige der Perso- nen. Da die Stöcke, abgesehen von dem Unterschiede der einfachen und zusammengesetzten Cormen (vergl. Band I, S. 330), niemals als untergeordnete Form -Individuen eine höhere Individuahtät zusammen- setzen und da es mithin reale morphologische Individuen siebenter Ordnung bei keiner Organismen-Species giebt, so kann die Degenera- tion einzelner Stöcke auch niemals in der Weise zur Differenziruug und correspondirenden Entwickelung einer höheren Individualität bei- tragen, wie es bei den Personen, Metameren etc. der Fall war. De- VI. Outogenie der Stöcke. 147 generation von Stöcken durch Anpassung an einfachere Existenzbedin- gungen sehen wir an vielen parasitischen Pflanzen stocken eintreten. Sehr häufig ist an den Stöcken partielle Degeneration zu beobachten, so na- mentlich bei den durch unbeschränktes Wachsthum ausgezeichneten Cormen. Oft geht hier die Degeneration des einen Endes der Haupt- axe (z. B. bei den kriechenden Rhizomen) gleichen Schritt mit den fortschreitenden Zeugungs- und Wachsthums - Processen am anderen Ende derselben, so dass wir an einem und demselben Stocke vorn ana- plastische, in der Mitte metaplastische und hinten cataplastische Pro- cesse gleichzeitig vorfinden ^ ). Alle Formveränderungen, welche wir bei der individuellen Entwi- ckelung der Stöcke wahrnehmen, sowie alle Entwickelungsfunctionen, auf welchen dieselben beruhen, also alle Processe der Zeugung und des Wachsthums, der Difierenzirung und Degeneration von Piastiden, Or- ganen, Antimeren, Metameren und Personen, welche bei der Cormo- geuesis zusammenwirken, sind lediglich zusammengedrängte, schnelle, durch die Gesetze der Anpassung und Vererbung bedingte Wiederho- lungen der ursprüngHchen paläontologischen Erscheinungen, welche in langen Zeiträumen durch viele Generationen hindurch langsam zur Ent- stehimg der gegenwärtig existirenden specifischen Stock -Formen ge- führt haben. Alle Erscheinungen, welche die individuelle Entwicke- lung der Stöcke begleiten, erklären sich lediglich aus der paläontolo- gischen Entwickelung ihrer Vorfahren. Die gesammte Ontogenie der Stöcke ist eine kurze Recapitulation ihrer Phylogenie. 1) Die vier Entwickelungsfunctionen (S. 72) sind also bei den Stöcken dieselben, wie bei allen untergeordneten Form -Individuen. Vielleiclit könnte an diese noch als eine fünfte Entwickelungsfunction die Verwachsung (ConcrescentiaJ angeschlossen werden, d. h. die secandäre Verbindung von mehreren primär geti-ennten Individuen, durch welche zugleich ein Form - Individuum nächst höherer Ordnung entsteht. Bei den Stö- cken zeigt sich dieser Vorgang in dem Verschmelzen von zwei oder mehreren, in un- mittelbarer Berührung befindlichen Baumstämmen (sehr häufig an den Oelbäumen in Süd- enropa zu beobachten), sowie in dem Zusammenhange der Wurzeln der verschiedenen Tannenbäume eines Waldes. Bei den Personen ist eine gleiche Verwachsung nicht sel- ten unter den Coelenteraten (besonders Anthozoen) und Pflanzen zu beobachten, sowohl an freien Personen, als an Sprossen der Stöcke. Als Concrescenz von Metameren könnte die Doppelbildung von Diplozoon paradoxum, als Verwachsung von Antimeren die oben (S. 134) erwähnten FäUe von Ästenden - Entwickelung angesehen werden. Auch die Entstehung der gamopetalen Blumenkrone aus der polypetalen beruht auf einer se- cundären Concrescenz von Antimeren. Endlich würden als Concrescenz von Form -Indi- viduen zweiter und erster Ordnung die oben angeführten Vorgänge von Verwachsung, Conjugation und Copulatiou der Organe (S. 127) und der Piastiden (S. 119, 62) hier- her gezogen werden können. Doch sind uns im Ganzen diese Verschmelzungs -Processe noch zu wenig bekannt, als dass wir die Concrescenz als eine besondere fünfte Ent- wickelungsfunction ansehen könnten. 10* 148 Die Descendenz - Theorie und die Selectione - Theorie. Neunzehntes Capitel. Die Descendenz - Theorie und die Selections- Theorie. „Diess also hätten wir gewonnen, uugescheut behaupten zu dür- fen, dass alle voUkommneren organischen Naturen, worunter wir Fische, Amphibien, Vögel, Säugethiere und an der Spitze der letz- ten den Menschen sehen, alle nach Einem Urbilde geformt seien, das nur in seinen sehr b es tän di gen Th eil en mehr oder weniger hin- und herweicht, und sich noch täg- lich durch Fortpflanzung aus- und umbildet." Goethe 1796. I. Inhalt und Bedeutung der Descendenz - Theorie. Alle Organismen, welche heutzutage die Erde be- wohnen und welche sie zu irgend einer Zeit bewohnt ha- ben, sind im Laufe sehr langer Zeiträume durch allmäh- liche Umgestaltung und langsame Vervollkommnung aus einer geringen Anzahl von gemeinsamen Stammformen (vielleicht selbst aus einer einzigen) hervorgegangen, welche als höchst einfache Urorganismen vom Werthe einer einfachsten Plastide (Moneren) durch Autogonie aus unbelebter Materie entständen sind. In diesem Satze formuliren wir den Inhaltskern der Descendenz- TheorieO, jener äusserst wichtigen Lehre, die wir bereits an ver- schiedenen Stellen unserer allgemeinen Anatomie als den unentbehr- lichen Grundgedanken der gesammten wissenschaftlichen Biologie, und der organischen Morphologie insbesondere bezeichnet haben (vergl. be- sonders das vierte, sechste und siebente Capitel). Wie wir bereits m den einleitenden Bemerkungen zur allgemeinen Entwickelungsgeschichte hervorhoben, wird diese letztere erst durch die Descendenz -Theorie zur 1) DieDescendenz-Theorie oder Abstammungs -Lehre wird von anderen Autoren auch oft als Tr ansmutationsl oder Transformations-Theorie (Umwandlungs- oder Umbildungs-Lehre) bezeichnet. Diese verschiedenen Ausdrücke sind identisch. 1. Inhalt und Bedeutung der Descendeuz - Theorie. 149 eigentlichen Wissenschaft, indem dadurch ihre empirischen Kenntnisse zu philosophischen Erkenntnissen werden. Ohne die Abstammungs- lehre ist die Morphogenie nur eine empirische Sammlung von That- sachen , Avelche erst in den von der ersteren enthüllten wirkenden Ur- sachen ihre Erklärung finden. Wir durften daher den wichtigen Grund- satz aussprechen: „die Descendenz-Theorie ist die wissen- schaftliche Begründung der gesammten Entwickelungs- geschichte durch das allgemeine Causalgesetz" (S. 9). Da es von der grössten Wichtigkeit ist, diese fundamentale Vor- stellung stets im Gedächtnisse zu behalten, und da dieselbe seltsamer Weise von den meisten Naturforschern, sowohl Anhängern, als Geg- nern, theils nicht genug gewürdigt, theils ignorirt, theils nicht be- gi'iffen wird , so müssen wir hier nochmals ausdrücklich auf das bereits oben darüber Gesagte verweisen (S. 6 — 12). Was speciell die Bedeu- tung der Abstammungslehre für die Morphologie der Organismen betrifft, so erblicken wir diese vorzüglich darin, dass sie die letztere als eine monistische oder mechanische Wissenschaf t auf die Lehre von den „wirkenden Ursachen" (Cmisae ef/icientcs) be- gründet und dadurch dieselbe auf eine Stufe mit den gesammten übri- gen Naturwissenschaften erhebt. Bisher stand die organische Morpho- logie in der That ganz ausserhalb der letzteren, und steht hier bei den Gegnern der Descendenz-Theorie noch heute. Der widerspruchsvolle und absolut verwerfliche Dualismus der letzteren scheidet die gesammte Naturwissenschaft in zwei vollkommen getrennte und schroiF entgegen- gesetzte Wissenschaftsgebiete, in eine mechanische und eine vitalisti- sche Hälfte. Die mechanische oder monistische Naturwissenschafts- hälfte, welche das gesammte Gebiet der Abiologie (oder Anorganolo- gie, Bd. I, S. 21) und zugleich die Physiologie der Organismen (Bio- dynamik) umfasst, erklärt die empirischen Thatsachen mechanisch, aus physikalisch - chemischen Verhältnissen , aus wirkenden Ursachen ( Can- sae ejficientes). Die vitalistische oder dualistische Naturwissenschafts- hälfte dagegen, welche das gesammte Gebiet der organischen Morpho- logie oder Biostatik (Anatomie und Entwickelungsgeschichte Bd. I, S. 30). umfasst, erklärt die empirischen Thatsachen teleologisch, aus unbe- kannten vitalistischen Verhältnissen , aus zweckthätigen Ursachen ( Cau- sae finales; vergl. Bd. I, S. 94 — 105). Der unlösliche Widerspruch, welcher in diesem Dualismus liegt, tritt so handgreiflich zu Tage, dass man ihn für längst übemunden halten sollte, zumal neuerdings die mechanische Natur der Physiologie (allerdings gewöhnlich diejenige des Central -Nervensystems ausgenommen!) allgemein anerkannt ist. Man sollte meinen , dass die Morphologie der Organismen schon längst noth- wendig der Physiologie auf das mechanisch - causale Gebiet des Monis- mus hätte folgen müssen. Dennoch ist dies thatsächlich nicht der Fall. 150 Die DesceHdenz - Theorie und die Selections- Theorie. Die tiefen Wurzeln, welche der vitalistisch - teleologische Dualismus im Laufe von Jahrtausenden in dem menschlichen Gehirne geschlagen hat, sitzen hier bei der grossen Masse der Menschen noch fest und uner- schüttert. Sowohl die gesammte Morphologie der Organismen , als auch die Physiologie des Central -Nervensystems, die Psychologie, wird von den Meisten noch immer dualistisch aufgefasst , während die gesammte übrige Physiologie und die gesammte Abiologie von denselben Leuten monistisch behandelt wird. Dieser unhaltbare Zwiespalt, welchen aller- dings schon consequentes Denken in seiner ganzen Absurdität enthül- len sollte, wird von der Descendenz - Theorie vollständig vernichtet. Sie zeigt uns, das die gesammte Morphologie der Organismen eben so wie die Physiologie und die Abiologie auf mechanich - causaler Basis beruhen muss , und dass die Ursachen sämmtlicher Naturerscheinungen, auch der am meisten zusammengesetzten organischen Entwickelungs- Phänomene, lediglich mechanische, wirkende Ursachen, niemals finale, zweckthätige Ursachen sind. Diesen äusserst wichtigen Punkt glauben wir nicht genug hervor- heben zu können. Er ist die unangreifbare Citadelle der wissenschaft- lichen Biologie. Wenn man dieses fundamentalen Punktes stets einge- denk ist, so wird man die unermessliche Bedeutung der Abstamnlungs- lehre niemals unterschätzen. Es giebt in der That nur noch eine ein- zige Theorie, welche sich in diesen Beziehungen mit ihr messen kann, die Gravitatious- Theorie der Weltkörper. Was diese für die anorga- nische, das leistet die Descendenz -Theorie für die organische Natur. Nur durch sie werden alle biologischen Zweige der Naturwissenschaft auf mechanischer Basis causal begründet, und dadurch mit allen abio- logischen Zweigen zu einer monistischen Gesammtwissenschaft vereinigt. Nur durch sie gelangen wir zu der Ueberzeugung von der Einheit der organischen und anorganischen Natur, von der absoluten Nothwendig- keit, welche dieselbe beherrscht, von dem allgemeinen Causalgesetz, welches dieselbe mechanisch regiert. Nur durch sie lösen wir die letzte und höchste Aufgabe, welche Bär der Entwickelungsgeschichte , und dadurch zugleich der gesammten Morphologie der Organismen gesteckt hat: „die Zurückführung der bildenden Kräfte des organi- sirten Körpers auf die allgemeinen Kräfte des Weltgan- zen" (S. 12). n. Entwickelungsgeschichte der Descendenz - Theorie. Eine umfassende oder auch nur einigermassen vollständige Entwi- ckelungsgeschichte der Descendenz -Theorie zu schreiben, ist weder hier am Ort, noch gegenwärtig schon an der Zeit. Diese schöne und inter- essante Aufgabe wird erst später gelöst werden können, wenn die un- II. Eutwickelungsgeschichte der Descendenz - Theorie. 151 erniesslichc Bedeutung der Abstanimuugslehre praktische Anwendung im Leben der gesanimtcn Wissenschaft gefunden und wenn dieselbe die gesammte menschliche Weltanschauung auf mechanischer Basis re- formirt haben wird. Zuvor müssen die nothwendigen Consequenzen der Descendenz -Theorie allgemein anerkannt werden: die vollständige Ein- heit der gesammten organischen und anorganischen Natur und die al- leinige Geltung der mechanisch -wirkenden Ursachen in allen Natur- erscheinungen, die vollständige Einheit von Kraft und Stoff und die alleinige Geltung der chemisch - physikalischen Nothwendigkeits-Gesetze in allen wahrnehmbaren Vorgängen , die vollständige Einheit derStructur und Abstammung des Menschen und der übrigen Wirbelthiere, und die alleinige Geltung der causal - mechanischen Nothwendigkeits-Herrschaft auch in der gesammten Anthropologie, die Psychologie nicht ausge- nommen. Erst wenn diese nothwendigen Consequenzen der Abstam- mungslehre in Wissenschaft und Leben als unwiderlegliche, auf empi- rischer Basis begründete Naturwahrheiten anerkannt sein werden , erst wenn durch ihre reformatorische Kraft menschliche Wissenschaft und menschliches Leben aus ihrem gegenwärtigen niederen und rohen Zu- stande auf eine höhere Stufe der Entwickelung erhoben sein werden, wird eine vollständige „Entwickelungsgeschichte der Descendenz -Theo- rie" an der Zeit sein. Für uns kann hier nur die Aufgabe vorliegen, die ersten Stadien dieses weltbewegenden Entwickelungsvorganges , in denen wir uns noch gegenwärtig befinden, in ihren wesentlichsten Momenten zu fixireu, imd mit unparteiischer Hand den Lorbeerkranz auf das Haupt jener kühnen Geisteshelden zu legen, welche zuerst mit gewaltiger Hand den Grundstein' zur Descendenz - Theorie gelegt und die Zwingburg des herr- schenden teleologisch -vitalistischen Wunderglaubens in Trümmer ge- schlagen haben. Dieser schönen Pflicht aber können wir uns um so weniger entziehen, als schon gegenwärtig nicht nur unter den Gegnern, sondern auch unter den Anhängern der Descendenz - Theorie die Stim- men über Verdienst und Antheil ihrer Begründer sehr getheilt sind. Zunächst scheint es uns hier nöthig, hervorzuheben, dass keiner von denjenigen Recht hat, welche den Ruhm die Descendenz -Theorie begründet zu haben, einem einzelnen ^Naturforscher ganz allein vindi- ciren möchten. Weder Darwin, noch Wallace, weder Goethe, noch Oken, weder Geoffroy S. Hilaire, noch Lamarck können ausschliesslich für sich allein diesen Ruhm beanspruchen. Vielmehr gilt von der Descendenz -Theorie dasselbe, wie von allen anderen epo- chemachenden Entdeckungen und Fortschritten des Menschengeistes, dass sie ein Kind ihrer Zeit sind, und dass sie mehr oder minder be- stimmt geahnt und angedeutet wurden, ehe der selbstbewusstc Genius sie an das Tageslicht förderte und mit voller Klarheit scharf formu- 152 Die Descendenz - Theorie und die Selectionß - Theorie, lirte. Wie die Entwickelungsbeweguiig der gesaniniten organischen Natur eine continuirlidie Kette von successiv fortschreitenden Differen- zirungs- Processen ist, die mit absoluter Nothwendigkeit aus einander hervorgehen, so waltet auch in dem geistigen Entwickelungsgange der denkenden Menschheit, der nur ein Theil jener grossen Kette ist, das- selbe Nothwendigkeits-Gesetz. Sobald die Zeit der Reife für eine neue grosse Idee gekommen, sobald die Hülle des herrschenden Dogma zu eng für den wachsenden Menschengeist geworden , muss mit Nothwen- digkeit diese Hülle gesprengt werden und der Häutungs-Akt stattfin- den, gleichviel ob dieser oder jener grosse Genius den ersten Anstoss zum Durchbruch giebt. Unnütz und wirkungslos ist ein solcher An- stoss zwar nie; wohl aber kann er nur unbedeutende Resultate erzie- len und scheinbar wirkungslos vorübergehen, wenn er vor der vollen Reifezeit erfolgt. Die Gültigkeit dieses Naturgesetzes, die wir bei allen grossen gei- stigen Metamorphosen der fortschreitenden Menschheit bestätigt finden, zeigt sich auch in der Entwickelungsgeschichte der Descendenz-Theorie. Durch Goethe und Lamarck ein halbes Jahrhundert zu früh ins Dasein gerufen , blieb sie fast ohne Wirkung. Erst der Reifegrad , den in den folgenden fünfzig Jahren die gesammte Biologie durch das co- lossale Wachsthum ihrer empirischen Kenntnisse erlangt hatte, lieferte den fruchtbaren und empfänglichen Boden zur Aufnahme der Ideen von Darwin und Wallace. Je mehr in allen Zweigen der Biologie, und besonders in der Physiologie, durch die allseitig zunehmende Ausdeh- nung unserer Erfahrungskenntnisse die monistische Naturauffassung an Boden gewann, desto mehr musste sie sich auch Geltmig in der orga- nischen Morphologie erwerben, und zum Angriff" auf das herrschende teleologische Dogma der Species - Schöpfung vorbereiten. So finden wir denn auch, namentlich von hervorragenden deutschen Biologen, in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts wiederholt den Grundgedanken der Descendenz-Theorie, die Abstammung der verwandten Species von gemeinsamen Stammformen, ausgesprochen, so besonders von Bär^), der durch seine classischen Untersuchungen über die gemeinsamen Ent- wickelungsformeu der verschiedenen Thierclassen , von Schleiden 2), der durch seine philosophische Untersuchung des Species-Begriffes, und von Victor Carus, der durch sein „System der thierischen Moi-pho- logie" (S. 5) mit Nothwendigkeit zur Auflehnung gegen das bestehende 1) C. E. V. Bär, Das aHgemeinste Gesetz der Natur in aUer Entwickelung (1834) in ,, Reden" etc., Petersburg 1864, und besonders die ' vortrefflichen beiden Aufsätze „Zwei Worte über den jetzigen Zustand der Naturgeschichte." Königsberg 1821. 2) Schleiden, Grundzüge der wissenschaftl. Botanik III. Aufl. 1850, U. Tbl. S. 515. Ueber Species und Specificatiou. n. Entwickelungsgeschichte der Descendenz - Theorie. 153 Dogma hingeführt wurde. Doch gelangten dieselben nicht zu einer bestimmten und vollständigen Formulirung der Abstammungslehre^). Wenden wir uns nun zu denjenigen Naturforschern, welche in en- gerem Sinne als die Begründer der Abstammungslehre bezeichnet zu werden verdienen, so glauben wir vor Allen Lama rck und Geoffroy S. Hilaire in Frankreich , Goethe und Oken in Deutschland, Dar- win und Wallace in England hervorheben zu müssen^). Das Ver- 1) Ebenso wie in Deutschland von Bär, Schleiden und Carus, wurden auch von einigen englischen und französischen Naturforschern im vierten und fünften Decennium unsers Jahrhunderts mehrfach Andeutungen im Sinne der Descendenz - Theorie gemacht. Vergl. Darwin 's Vorrede zur deutschen Uebersetzung seines Werkes. 2) Die Descendenz - Theorie ist eiu Kind unseres Jahrhunderts, und ihr Geburts- jahr, diu-ch Lamarck's fundamentales Werk bezeichnet, ist 1809. Allerdings hatte Goethe seine wichtigsten darauf bezüglichen Ideen schon im letzten Decennium des vori- gen Jahrhunderts (1790, 1796) niedergeschrieben; doch wurden sie (abgesehen von .der Metamorphose der Pflanze, die bereits 1790 erschien) erst später veröflentlicht. Was den ersten Ursprung der Transmutations -Theorie und ähnlicher Ideen betrifft, so haben aller- dings schon einzelne hervorragende Naturforscher früherer Jahrhunderte , und selbst schon mehrere bedeutende Philosophen des Alterthums mehr oder minder bestimmt den Ge- danken ausgesprochen, dass die verschiedenartigen, aber doch von einem gewissen Zuge von Familienähnlichkeit zusammengehaltenen Arten der Organismen entweder aus einander oder aus einem gemeinsamen Grnndtypus , einer uralten Stammform , durch allmähliche Umbildung entstanden seien. Und in der That wird dieser Gedanke durch einen syn- thetisch vergleichenden Ueberblick der ungleichen und doch so ähnlichen organischen Formen, durch einen weiter eingehenden Eückblick auf ihre zeitliche Entwickekmg, durch eine aufmerksame Erwägung der individuellen Unterschiede von mehreren Kindern eines und desselben Elternpaars, dem denkenden Menschen so nahe gelegt, dass es niclit der entwickelten biologischen Wissenschaft bedurfte, um von der Wahrheit desselben durch- drungen zu werden. Indessen sind die einzelnen Aeusserungen dieses Gedankens , welche' vor dem neunzehnten Jahrhundert gethau wurden, theils so unbestimmt und allgemein gehalten , theils in so phantastischer Form ausgesprochen , dass sie in keiner Weise gegen die Verdienste Lamarcks und seiner Nachfolger Prioritätsansprüche erheben können. Die Einheit des Bauplanes in den verwandten Organismen („l'unite de composition or- ganique") wurde zwar schon von der vergleichenden Anatomie des vorigen Jahrhundefts als ein Grundgesetz anerkannt, aber doch niemals auf ihre gemeinsame Abstammung als mechanische Ursache bezogen. Wir finden diesen monistischen Einheitsgedanken schon beim A^'ater der Naturgeschichte, Aristoteles, ausgesprochen, welcher im Anfang seiner Geschichte der Thiere sagt, dass man zwischen verschiedenen und doch ähnlichen Thie- ren eine „Analogie" finden könne; die Vogelfeder entspricht nach ihm der Fischschuppe, und die Theile, welche die verschiedenen Individuen zusammensetzen, sind ,,£'T£pa xal -y. aura". In der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts bezeichnet Belon die homologen Theile des menschlichen und des Vogel - Skelets mit denselben Buchstaben und sagt aus- drücklich, dass diese gleiche Bezeichnung zeigen solle: „combieu l'affinite est grande des uns et des autres." Auch der gi-osse Newton konnte nicht zweifeln, dass die thie- rischen Körper nach demselben Gesetz der einheitlichen Bildung gebaut sind, wie die Weltkörper. Herder hebt in seinen berühmten „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit" die Einheit des Organisationstypus in der unendlichen Mannigfaltigkeit der lebenden Wesen hervor, und ähnlich äusseren sich in Frankreich Buffon und Vicx d ' A z y r. 154 Die "Descendenz- Theorie und die Selcctions - Theorie. dienst, die Grundgedanken der Species- Transmutation und der sich daraus unmittelbar ergebenden Folgerungen zuerst klar und bestimmt als wissenschaftliche Theorie ausgesprochen zu haben, gebührt jeden- falls dem grossen französischen Naturforscher Jean Lamarck, dessen merkwürdige Plrilosoplne Zoolo(ji(/ne (1809), als die erste, systema- tisch abgerundete und offen bis zu allen Consequenzen verfolgte Dar- stellung der Abstammungslehre den Beginn einer neuen Periode in der geistigen Entwickelungsgeschichte der Menschheit bezeichnet 0. 1) J. Ii P. A. Lamarck (Jean Baptiste Pierre Antonie, geboren 1744, gestorben 1829) Philosophie Zoologique ou Exposition des considerations relatives h Vhi- stoire naturene des animaux; k la diversitd de leur Organisation et des facultes, qu'ils eu obtiennent; aux causes physiques, qui inaintiennent en eux la vie et donnent lieu aus mouvemens, qu'ils executent; enfin , k Celles qui produisent, les unes le sentiment, et les autres l'intelligence de ceux qui eu sont doues." II Tomes. Paris, Dentu, 1809. In neuer Form entwickelte Lamarck dieselbe Lehre 1815 im ersten Bande seiner be- rühmten „Histoire naturelle des animaux sans vertfebres". Da die „Philosophie Zoologi- que" wenig bekannt ist, und es von hohem Interesse ist, zu sehen, wie weit Lamarck der ihn nicht verstehenden Zeit vorausgeeilt war, so geben wir hier die wichtigsten von seinen kühnen Sätzen wörtlich wieder. DieCapitel, in denen sie sich finden, sind dui-ch römische Ziffern bezeichnet. Premiere Partie: L Les dis tr ub uti ous syst^ma- tiqucs, les classes , les ordres, les familles, les genres, et la nomenclature , ne sont que des parties de l'art (!). U. La comiaissance des rapports entre les productioiis naturelles connuos, fait la base des sciences natureUes, et donne de la solidite a la distribution gönferelle des animaux. IIL Les espfeces se sont formees successi- vement, n'ont qu'une constance relative, et ne sont invariables, que temporairement (!). IV. Los actions des animaux ne s'executent que par des mou- vemens excites; et il n'est pas vrai, que tous les animaux jouissent du sentiment, ainsi que de la faculte d'executer des actes de volonte (!)• V. La connaissance des rapports. • qui existent entre les difförens animaux, est le seul flambeau qui puisse guider dans l'etablissement de leur distribution, eu Sorte que son usage cn fait disparaitre l'arbitraire. VI. La Progression dans la composition de Vorganisation subit, (fä et \k, dans la serie generale des animaux, des anomaliees opörees par l'influence des circonstances d'habi- tation, et par celle des habitudes contractees. VII. La diversite des crcon- stances influe sur l'6tat de l'organis at.ion, la forme generale, et les partiees des animaux (!). VIIL La nature, ayant formes les animaux successivement, a n ecessairement comm en c e p ar les p 1 us s im ples, et n'a produit qu'en dernier lieu ceux qui ont l'organis ation la plus com- posee (!) S eco n de P ar ti e : L Le^ animaux sont essentiellement distmgu^S des ve- gdtaux par l'irritabilit^. U. La vie en elle-meme n'est qu'un phenomene phy- sique (!). Tome second. UL Les mouvemens organiques , ainsi que ceux qm con- stituent les actions des animaux, ne s'executent que par l'action d'une cause excitatince. IV L'irritabilite est une faculte exclusivement propre aux parties souples des animaux. V. Le tissue cellulaire est la matrice generale de toute Organisation (!). VI. Au moyen de gdndrations directes ou spontan<5es , formees au commencement de l^chelle, soit ani- male, soit vegetale, la nature est parvenue k donner progressivement l'existence ä tous les autres corps vivans (!). VU. II n'est pas vrai que les corps vivans aient U facultd de resister aux lois et aux forces auxquelles tous les corps non vivans sont asujettis, et qu'ils se regissent par des lois qui leur sont particulitres (!). VIIL La vie donne generalemeut k tous les corps qui la n. Entwickelungsgeschichte der Deecendenz- Theorie. 155 Lamarck hatte durch das sorgfältigste Studium der wirbellosen Thiere, insbesondere der lebenden Mollusken und ihrer auffallenden Ver- wandtschaft mit den fossilen Formen der Tertiärzeit, sich die Vorstel- lung eines genealogischen Zusammenhanges derselben erworben , und er bildete diese systematisch aus, indem er die Abstammung aller höher organisirten Thiere und Pflanzen von einer Anzahl höchst einfacher, durch Urzeugung entstandener Stammformen annahm. Aus diesen ha- ben sich nach ihm im Laufe der Zeit die unendlich mannigfach ge- bildeten verschiedenen Arten oder Species in ganz ähnlicher Weise entwickelt, wie es die „Rassen" der Hausthiere und Culturpflanzen unter unseren Augen thun. Die Ursachen der allmählichen Umbildung suchte Lamarck theils in der Einwirkung der äusseren Lebensbe- dingungen, theils in der Kreuzung und Bastardiruug der Arten, vor- zugsweise aber in der "Wirkung der Gewohnheit, in dem Gebrauche und Nichtgebrauche der Organe. Für diese, allmähhge Transformation der Orgaue nahm Lamarck sehr lange Zeiträume (geologische Pe- rioden) in Anspruch. Die Kategorieen der botanischen und zoologi- schen Systeme erklärte er für künstliche Abgrenzungen , welche nur den Dilferenzgrad der natürlichen Blutsverwandtschaft bezeichnen. Beson- ders interessant aber ist es, dass Lamarck bereits die wichtigste und weitgreifendste Consequenz der Umwandelungslehre vertrat, und die Transmutation des Affen in den Menschen behauptete, welche nach seiner Ansicht vorzüglich durch die veränderte Lebensweise der Affen und insbesondere durch die Gewohnheit des aufrechten Ganges und die damit verbundene Differenzirung der vorderen und hinteren Extre- mitäten erfolgte^). possedent des facultes qui leur sont communes. IX. Toute faculte particuliere ä certains Corps vivans, provieut d'un Organe special qui y donne lieu. Troisieme partie. I. Le Systeme nerveux est particulier k certains animaux, et parmi ceux qui le posse- dent, on le trouve dans des diflerens etats de composition et de perfectionnenmeut (!). II. Le fluide nerveux est l'agent singulier par lequel se formeut les idees, et tous les actes d'intelligence (!). III. Le sentiment est le produit d'une action sur le fluid nerveux. IV. Le sentiment Interieur est le lieu qui reunit le physique au moral (!)./ V. L'instinct dans les animaux, est un penchant qui entraine, que des sensations provoquent en faisant naitre des besoins, et qui fait executer des actions , sans la participation d'aucune pensee , ui d'aucun acte de volonte. VI. L a v o - lonte n'est jamais ve ri tab lernen t libre (!). VII. Tous les actes de l'entende- ment exigent im Systeme d'organes particulier pour pouvoir s'executer. VIII. La rai- son n'est autre chose qu'un degre acquis dans la nectitude des juge- m en s (!). 1) Allerdings zog sich Lamarck „dadurch die entschiedenste Missachtung Napo- leons des Ersten zu, den er durch seine übrigen systematischen, wirklich classischen Untersuchungen kaum versöhnen konnte." So erzählt W. Kefersteiu in einer höchst iRsenswerthen Kritik der Transmutations- Lehre, welche für den Standpunkt der Gegner Darwins sehr bezeichnend ist (Göttinger gelehrte Anzeigen 1862, V. S. 198). Es ist gewiss ein wahres Glück für unsere Wissenschaft, dass Darwin von diesem schreck- 156 Die Descendenz - Theorie und die Selections- Theorie. Wie weit der grosse Lamarck seiner Zeit vorauseilte, geht am schlagendsten daraus hervor, dass sein Werk an den allermeisten Zeit- genossen spurlos vorüber ging. Cuvier hielt es in seinem Bericht über die Fortschritte der Naturwissenschaften nicht der Mühe werth, Lamarcks Buch, welches seine ganze Wissenschaft von Grund aus umgestaltete, auch nur mit einem Worte zu erwähnen, obwohl die unbedeutendsten Kleinigkeiten in jenem Berichte Aufnahme fanden. Merkwürdig ist es aber , dass auch die Schule der französischen Natur- philosophen, die sich bald nach jener Zeit entwickelte, von dem Ein- fiuss Lamarcks wenig berührt worden zu sein scheint. Selbst der be- deutendste derselben, E. Geoffroy S. Hilaire, scheint viele der wich- tigsten Ideen seines grossen Vorgängers gar nicht verstanden oder doch ihren Werth nicht erkannt zu haben. Zwar nimmt er auch im Wesent- lichen die Abstammungslehre an , allein ohne sie so klar und bestimmt, wie Lamarck, zu präcisiren. Als die Hauptursache der allmählichen Umänderung der organischen Welt betrachtet er gewisse Veränderun- gen in der Beschaffenheit (Wärme, Dichtigkeit, Wassergehalt, Kohlen- säuregehalt etc.) der Atmosphäre. Diese äusseren Einflüsse sind ge- wiss auch von hoher Wichtigkeit, aber an unmittelbarer Tragweite nicht mit den viel bedeutenderen Wirkungen der Uebung und Gewohn- heit zu vergleichen, denen Lamarck mit Kecht eine allgemeine und ausserordentlich hohe Bedeutung zuschrieb. Während der letztere sich in der scharfen Hervorhebung der „wirkenden Ursachen" als ein- ziger formbildender Elemente entschieden als mechanisch erklärenden Monisten zeigt, sehen wir dagegen Geoffroy durch die stärkere Be- tonung eines gemeinsamen Bauplanes aller Organismen sich mehr zu einem teleologischen Duahsmus hinneigen. Wir haben bereits oben (Bd. 1, S. 69) den Conflikt erwähnt , welcher später zwischen Geoffroy und Cuvier im Schoosse der Pariser Akademie ausbrach, und wobei es sich /wesentlich um die Trausmutations - Theorie handelte. Die letz- tere unterlag den unmittelbar anschaulichen und greifbaren Argumenten Cuvier s, welcher sich einfach auf die Behauptung empirisch fest- stehender Thatsachen beschränkte, und den über die Erfahrung hin- ausgreifenden Speculationen der Naturphilosophen keinerlei Einfluss zu- gestand. Im Grunde leugnete Cuvier damit nicht nur die Berechtigung einzelner inductiver und deductiver Schlüsse, durch deren Anwendung liehen Schicksale Lamarcks Nichts gewusst hat! Sonst hätte er vielleicht gewaltige Angst bekommen, möglicherweise sich die „entschiedenste Missachtuug» Napoleons des Dritten zuzuziehen, und würde dann wahrscheinlich seine Theorie der ..Natural selection" gar nicht veröffentlicht haben! Und ob jetzt Nap o le on d er D ri t te durch Darwins „systematische, wirklich classische" Monographie der Cirripedien so leicht zu versöhnen wäre, wie Napo leo« der Erste durch Lamarcks „Historie naturelle des animaux Sans vertfeb res", muss dem vergleichenden Psychologen in der That sehr zweifelhaft sein! n. Entwickelungsgeschichte der Descendenz - Theorie. 157 er selbst so grosse Resultate erzielt hatte, sondern " auch den hohen Werth, welchen die Theorie überhaupt, als Ausdruck für allgemein gültige Naturgesetze, behaupten muss. Durch jenen anerkannten Sieg Cuviers (entschieden am 22. Februar 1830) wurde nicht nur das seit Linn6 herrschende Dogma von der Constanz der Speeles aufs neue be- festigt, und die Umwandelungslehre in den Bann gethan, sondern es wurde zugleich die einseitig empirische Richtung der organischen Mor- phologie herrschend , welche in den nächsten drei Decennien allgemein für die allein berechtigte galt, und welche sich mit der Kenntniss der nackten moi-phologischen Thatsachen begnügte, ohne sich um die Erkenntniss der ihnen zu Grunde liegenden Ursachen und Ge- setze zu bekümmern. Unter den deutschen Naturphilosophen, welche sich unabhängig von der französischen Schule entwickelten, haben wir vor allen Goethe und Oken als entschiedene Anhänger der monistischen Naturbetrach- tung und der damit verknüpften Transmutations - Theorie hervorzuhe- ben. Mit besonderem Stolze dürfen wir Deutschen hier Wolf gang Goethe als einen der wenigen Naturforscher hervorheben, welcher sich am eifrigsten „im Stillen um die Analogieen der Geschöpfe und ihre geheimnissvoUen Verwandtschaften bemüht hat", und welcher am tiefsten in das eigentliche Wesen dieser Verwandtschaft eingedrungen ist. Wir Deutschen pflegen in der Regel unseren grössteu Dichter , um den uns alle Nationen beneiden müssen , nicht als Naturforscher zu be- trachten, und weil er in seiner „Farbenlehre" auf einen Irrweg gera- then war, das viel tiefere Verständniss der organischen Natur gänzlich zu übersehen, welches sich in einem wahrhaft überraschenden Grade an zahlreichen Stellen von Goethe's Werken ausspricht. Wir glau- ben, es wird hinlänglich aus den goldenen Worten Goethe's hervor- leuchten, mit denen wir den Eingang in die Bücher und Capitel dieses Werkes geziert haben. Freilich hat Goethe nicht, wie viele andere sogenannte Naturforscher , dicke Bände von Beschreibungen organischer Naturkörper hinterlassen;' freilich war er nicht mit alle dem gedanken- losen systematischen und anatomischen Wüste, der unsere zoologische und botanische Literatur erfüllt, in Einzelnen vertraut; freilich hat er nicht Bücher mit Verhandlungen über die alberne Streitfrage angefüllt, ob diese oder jene Thier- oder Pflanzenform als Genus, als Speeles, oder als Varietät anzusehen sei. Wenn wir aber als Naturforscher nicht bloss den grossen Tross der gedankenlosen Naturbeschreiber an- sehen dürfen, sondern auch die hervorragenden Männer, welche mit rastlosem und kühnem Forschungstriebe bis in die innersten Geheim- nisse des Naturlebens hineingedrungen sind, welche mit tiefinnerem Verständnisse das Wesen der Erscheinungen von dem Zufälligen zu sondern verstanden , welche die unermessliche Complication der Lebens- 158 Die Descendenz -Theorie und die Selections- Theorie. bewegungeii in ihrer zartesten und liöclisten Blüthe zu würdigen wusb- ten, so dürfen wir gewiss mit Recht Goethe nicht nur als den gröss- ten deutschen Dichter, sondern auch als einen der grössten Naturfor- scher verehren 1). Erst in neuerer Zeit sind wir auf diese bewun- dernswürdige Seite des begabtesten deutschen Geistes aufmerksamer geworden, besonders seitdem Helmholtz '■^), Oscar Schmidt^), Lewes*) und Virchow^) „Goethe als Naturforscher" gefeiert ha- ben. Kein anderer Mensch hat es vermocht, das tiefste Verständniss der Erscheinungen der lebendigen Natur in so vollendeter dichterischer Form auszusprechen, als dies unser Goethe so viel und so mannich- faltig gethan hat. Jene seltene Objectivität, jene klare „Gegenständ- lichkeit", welche einen hervortretenden Charakterzug von Goethe 's We- sen bildeten, und seine herrlichen Dichtungen überall beleben, befähig- ten ihn zugleich in besonderem Maasse, seine geliebte „lebendige Natur" selbst in ihrem innersten Wesen zu erkennen und darzustellen. Allein abgesehen von den vielen wundervollen Gedanken, welche Goethe über die Natur im Ganzen und insbesondere über die Natur des Lebendigen, dieses „köstlichen herrlichen Dinges" ausgesprochen hat, finden wir speciell hier doppelte Veranlassung, seine grossen Ver- dienste um die organische Morphologie besonders hervorzuheben. Seine Metamorphose der Pflanzen, in welcher er das Blatt als das einfache, unendlich mannichfaltig differenzirte und metamorphosirte Grundorgan der verschiedenartigsten pflanzlichen Organe nachwies und so die Ent- wickelungsgeschichte der Pflanzen begründete, seine Wirbeltheorie des Schädels, worin er denselben als zusammengesetzt aus mehreren typi- schen, eigenthümlich metamorph osirten Wirbeln erkannte, dürfen wir 1) Was die Deutschen leider so oft erfahren , dass ihre Verdienste eher im Auslande, als daheim gewürdigt werden, hat auch Goethe als Naturforscher erfahren müssen. Geoffroy S. Hilaire in Frankreich, Richard Owen in England haben seine aus- serordentlichen naturwissenschaftlichen Verdienste früher, als die deutschen Landsleute, gebührend hervorgehoben. Letzterer sagt: „Durch seine Entdeckung des Zwischenkno- cheus in der oberen Kinnlade des Menschen hat Goethe für aUe derartigen Unter- suchungen, welche die durchgehende Einheit der Natur erweisen, die Führung genommen, und 'die naturphilosophischen Anschauungen in seinen berühmten anatomischen Abhand- lungen haben die werthvollen Arbeiten verwandter Geister, eines Oken, Bojanus^ Meckel, Carus imd anderer bedeutender Forscher auf diesem Gebiete in Deutschland hervorgerufen." 2) H. Helmholtz, „Ueber Goethe's naturwissenschaftliche Arbeiten" in der Kieler „Monatsschrift für Wissenschaft und Literatur" 1853, I, S. 383. 3) Oscar Schmidt, Goethe's Verhältniss zu den organischen Naturwissenschaften. Berlin 1853. 4) G. H. Lewes, Goethe's Leben und Schriften, aus dem Englischen übersetzt von J. Frese. Berlin 1858. (Die bei weitem beste Biographie Goethe's.) 5) Rudolf Vir chow, Goethe als Natm-forscher , und in besonderer Beziehung auf Schiller. Berlin 1861. II. Entwickeluugsgesclii eilte der Descendenz - Theorie. 159 geradezu für morphologische Entdeckungen ersten Ranges erklären, welche ihm schon allein einen bleibenden Namen in unserer Wissen- schaft sichern. Und wie charakteristisch ist es, dass die Kleinigkeits- krämer der Wissenschaft auch hierin den grossen Genius , der seiner Zeit so weit vorausgeeilt war, völlig verkannten, und dass erst eine ^del spätere Zeit diesen grossen Entdeckungen die verdiente Anerken- nung erringen musste! Dabei müssen wir noch besonders hervorheben, dass Goethe zu diesen höchst bedeutenden Entdeckungen keinesweges bloss durch glückliche Einfälle und geistvolle Combination zufällig sich darbietenden Beobachtungen gelangte, sondern auf Grund anhaltender und sorgfältiger, viele Jahre hindurch mit rastlosem Eifer fortgesetz- ter, selbstständiger Untersuchungen^). „Freudig war seit vielen Jahren Eifrig so der Geist bestrebt, Zu erforsclien , zu erfahren, Wie Natur im Schaffen lebt!" Es ist bekannt, mit welchem unermüdlichen Fleisse, fast ganz auf seine eigene Kraft angewiesen, Goethe als originaler Autodidact in die verschiedensten Fächer der Naturwissenschaft eindrang, und wie er durch keine Hindernisse, durch keine Missgunst der engherzigen Fachgelehrten sich in seiner emsigen Arbeit stören Hess. Weniger be- kannt aber sind die herrlichen Früchte dieser Arbeit, besonders auf dem Gebiete der organischen Morphologie, und wir wollen daher hier nochmals ausdrücklich hervorheben, dass er, auch abgesehen von der Metamorphose der Pflanzen und von der Wirbeltheorie des Schädels, mehrere grosse allgemeine Gesetze entdeckte, die gegenwärtig, späte- ren Naturforschern zugeschrieben , als fundamentale Grundsätze der or- ganischen Morphologie gelten, so insbesondere die Gesetze von der Arbeitstheilung und Diflferenzirung , von der Subordination der verschie- denen Individualitäten, von der Correlation der Theile u. s. w. (vergl. 1) Für das lebendige Interesse und die echt n a tur w i s s en s c Ii a f tl i ch e , em- pirisch-philosophische Methode, mit der Goethe seine anatomischen Beobach- tungen anstellte, ist unter den osteologischen Entdeckungen besonders diejenige des Zwi- schenkiefers sehr merkwürdig. Bekanntlich bestritten die vergleichenden Anatomen zu Goethe's Zeit, dass der Mensch, gleich den übrigen Säugethieren , einen Zwischen- kiefer besitze, und fanden hierin einen der wesentlichsten anatomischen Unterschiede des Menschen von den letzteren und namentlich von den Affen. Goethe wies anatomisch nach, dass dieser Unterschied nicht existire, und dass der Mensch so gut sein ,,0s inter- maxillare" habe, als die übrigen Säuger; und er wies dies nach gegenüber den bedeu- tendsten vergleichenden Anatomen seiner Zeit, welche weder seine wichtige Entdeckung anerkennen wollten, noch auch den hohen theoretischen Werth derselben begriffen. Be- sonders charakteristisch dabei war aber die echt philosophische Methode , mittelst welcher Goethe diese Entdeclcung machte , nicht durch zufälliges Finden , sondern durch be- wusstes , planmässiges Suchen, ein Muster von echter Induction und De- duction. Der Mensch „musste" einen Zwischenkiefer haben und so fand er sich! 160 Die Descendenz - Theorie und die Selections- Theorie. die citirten Sclirifteii, besonders Lewes und Virchow). Was später- hin Cuvier und Geoffroy, Bär und Johannes Müller, Milne- Edwards und Bronn hierüber im Einzelnen gesagt und empirisch begründet haben, ist im Allgemeinen und Wesentlichen bereits lange zuvor von Wolf gang Goethe klar und kurz ausgesprochen worden (vergi. Bd. I, S. 240). Das Wichtigste aber, was wir von Goethe als Naturforscher hier hervorheben müssen, und was unseres Erachtens noch Niemand gebüh- rend gewürdigt hat, ist, dass wir ihn als den selb st ständigen Be- gründer der Descendenz-Theorie in Deutschland feiern dür- fen. Zwar führte er dieselbe nicht, wie Lamarck, in Form eines wissenschaftlichen Lehrgebäudes aus, und er versuchte nicht, wie Dar- win, physiologische Beweise für die gemeinsame Abstammung der Or- ganismen aufzufinden; aber die Idee derselben schwebte ihm klar Und bestimmt vor; alle seine morphologischen Arbeiten waren von diesem monistischen Gedanken der ursprünglichen Einheit der Form und der Abstammung durchdrungen, und wir finden den Grundgedanken der Abstammungslehre vor Lamarck und vor dem neunzehnten Jahrhun- dert nirgends klarer und schärfer ausgesprochen als bei Goethe, welcher ihn (schon 1796!) für die Wirbelthiere in den oben angeführ- ten merkwürdigen Worten aussprach: „Diess also hätten wir ge- wonnen, ungescheut behaupten zu dürfen, dass alle voll- kommneren organischen Naturen, worunter wir Fische, Amphibien, Vögel, Säugethiere imd au der Spitze der letzten den Menschen sehen, alle nach Einem ürbilde geformt seien, das nur in seineu sehr beständigen Theileu mehr oder we- niger hin- und her weicht, und sich noch täglich durch Fort- pflanzung' aus-uud umhildet ')." Wenn je der dichterische Genius in Wahrheit auf den Flügeln der Phantasie seiner Zeit weit voraus- geeilt war, so ist es gewiss hier der Fall, wo wir Goethe mit der voll- sten Klarheit und Bestimmtheit auf der Höhe einer Anschauung sehen, die eben so wohl zu den wichtigsten Errungenschaften des menschlichen Forschungsgeistes gehört, als sie noch weit entfernt ist, die allgemeine Anerkennung einer fundamentalen Wahrheit gefunden zu haben. Als der bedeutendste der deutschen Naturphilosophen wird ge- wöhnlich nicht Goethe, sondern Lorenz Oken angesehen, welcher allerdings nicht nur an speciellen Kenntnissen auf dem ganzen Gebiete der Naturwissenschaft ersterem weit überlegen war, sondern auch durch den Ausbau eines speciell durchgeführten naturphilosophischen Systems sich eine weit allgemeinere Geltimg als Naturforscher erwarb. Verglei- iT^Goethe, Vorträge über die drei ersten Capitel des Entwurfs einer aHgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie, ausgehend von .der Osteologie (1796). II. Entwickelungsgeschichte der Desceudenz- Theorie. 161 chen wir jedoch seine Arbeiten mit denen von, Goethe, so finden wir bei dem letzteren nicht nur tieferes Verständniss der organischen Natur, und insbesondere der Moi-phologie der Organismen, sondern auch grös- sere Vorsicht und Umsicht in der Aufstellung allgemeiner Gesetze, und selbst eine schärfere und klarere Beurtheilung der Einzelheiten in den organischen Formverhältnissen. Oken verlor sich, bei allen seinen Verdiensten, doch nur allzuleicht und allzutief in unbestimmten und mystischen naturphilosophischen Träumereien, und brachte noch dazu diese phantastischen Einbildungen in einer so dunkeln orakelhaften Weise vor,- oft so leichtfertig die empirische Basis verlassend, dass die bald emporkontmende exact- empirische Schule Cu vi er 's sich gar nicht mehr um ihn bekümmerte. Um aber doch gerecht zu sein, müssen wir hervorheben, dass manche Grundgedanken Oken 's vollkommen richtig waren und ^selbst seiner Zeit weit vorauseilten. Dem Ur- schleim, welchen Oken als das allgemeine active Substrat der Le- benserscheinungen in den Organismen erkannte, schrieb er, als dem allgemeinen activen Träger der Lebensbewegungen, wesentlich dieselben Eigenschaften zu, die wir heutzutage vom Protoplasma oder Plasma kennen. Ferner sprach Oken mit Bestimmtheit aus, dass alle Orga- nismen aus sehr kleinen, mikroskopischen, aus solchem Urschleim be- stehenden Bläschen zusammengesetzt seien , welche er Mile oder Infu- sorien nannte, und denen er wesentlich alle dieselben Eigenschaften zutheilte, die wir heute den Zellen vindiciren. Die ersten Organismen sollten als solche einfache Urschleim - Bläschen frei im Meere durch Ur- zeugung entstanden sein, und aus diesen sich durch Fortpflanzung, Syn- these und Metamorphose alle höheren Organismen allmählich entwickelt haben. Kein Organismus sollte selbstständig erschaffen, alle allmäh- lich entwickelt sein. Wie man hieraus sieht, sprach Oken sowohl die Grundzüge der Zellen-Theorie, als auch der Transmutations-Lehre deut- lich schon zu einer Zeit aus, wo jene noch gar nicht vorhanden, und diese noch nicht in Geltung war^). Die Niederlage, welche Cuvier in seinem Kampfe mit Ge off roy 1830 öffentlich der Naturphilosophie und speciell der Descendenz - Theo- rie bereitet hatte, war scheinbar so gründlich und wurde so allgemein anerkannt, dass in der nun folgenden Periode, beinahe volle drei De- cennien hindurch, von einer Umwandlung der Speeles, ja überhaupt von einer Entstehung derselben, fast nirgends mehr die Rede war. Diese Frage galt für ein unauflösliches Problem, dessen Lösung jenseits der Grenzen der Naturwissenschaft liege. Um eine Theorie zu vemeiden, welche noch nicht hinlänglich bewiesen und begründet erschien, um 1) Diese Bemerkung gilt besonders von einigen fruliereu Arbeiten Oleen 's, in denen sich zum Theil sehr treffende Bemerkungen und Belege fdi- die Entwickeluugs - Theorie tinden. Späterhin verlor er sich immer mehr in phantastischen Träumereien. ilaeck.el. Generelle Morphologie, II. 162 Die Descendenz- Theorie und die Seleotions- Theorie. als allgemeine Basis der Biologie zu dienen, warf man sich einem Dogma in die Arme, dessen einzige Stärke in seiner Unbegreiflichkeit und seiner Unvereinbarkeit mit allen allgemeinen Entwickelungserschei- nungen der Natur bestand. Dieses Dogma Yon der Constanz und ab- soluten Selbstständigkeit der Speeles, welches nunmehr zur Basis der organischen Morphologie erhoben wurde, konnte natürlich Nichts er- klären , sondern musste bei jedem Erklärungsversuche auf lauter Wider- sprüche und übernatürliche Eingriffe in den gesetzlichen Gang der Na- tur, auf „Wunder" stossen. Und diese metaphysischen Vorstellungen wurden um so beliebter und mächtiger, als man dadurch jeder An- strengung des Nachdenkens über die Ursachen überhoben wurde, und als eine Menge äusserlicher , egoistischer Motive diese Vorstellungen kräftigst unterstützten. So kam es, das man sich in der organischen Morphologie allmählich daran gewöhnte, auf eine natürliche Erklärung ihrer Erscheinungen überhaupt zu verzichten, und die blosse Beschrei- bung derselben als Wissenschaft anzusehen. So entstand zugleich die sich rasch erweiternde Kluft zwischen der Physiologie und der Mor- phologie der Organismen. Während die Physiologie , in richtiger Er- kenntniss ihres Zieles und der dahin führenden Methoden, sich immer ausschliesslicher einer monistischen, d. h. absolut mechanischen und wirklich causalen Beobachtung der Lebensvorgänge zuwandte, entfernte sich die Morphologie in gleichem Grade immer entschiedener von der- selben und warf sich einer dualistischen, d. h. durchaus vitalistischen und wirklich teleologischen Betrachtung in die Arme. So entstand das gedankenlos zusammengehäufte Chaos von zahllosen unzusammenhän- genden Einzel -Beobachtungen, welches gegenwärtig die Moi^hologie der Organismen repräsentirt. So entschieden wir nun auch die dogmatische Einseitigkeit der seit 1830 als Alleinherrscherin anerkannten „exact- empirischen" Rich- tun- der organischen Morphologie und ihres gänzHch unwissenschaft- lichen Grundgedankens von einer selbstständig^n Erschaffung aller em- zelnen „Speeles" verurtheilen müssen, so sind wir doch weit entfernt davon den hohen Werth zu unterschätzen, den die massenhafte An- häufung des empirischen Rohmaterials zu dieser Zeit besass. Indem sich auf allen Gebieten der botanischen und zoologischen Morpho bgie, in der Histologie und Organologie, in der Embryologie und Palaeontologie, Beobachtung auf Beobachtung, Entdeckung auf Entdeckung tMrmte, in- dem alle diese riesigen Massen von empirisch festgestellten Thatsachen ohne Ordnung und bunt durch einander gewürfelt sich häuften wurde das Bedürfniss nach einer Uchtvollen Ordnung und einer denkenden Ver- bindung derselben immer dringender, der stille oder ausgesprochene Wunsch nach der Auffindung leitender Gesetze in diesem Chaos immer allgemeiner. So bereitete sich, gerade durch die emsige Thatigkeit I n. EntwickelungBgesohichte der D^sceudenz - Theorie. 163 der reiD empirischen Morphologie, immer schneller die Zeit vor, in welcher eine philosophische Reform deraelbeu, eine Erlösung von dem fesselnden Wüste der todteu Thatsachcn durch den befreienden Ge- danken der lebendigen Ursachen, noth wendig eintreten musste. Diese Erlösung konnte nur erfolgen durch eine Wiederbelebung und Neube- -ründung der Descendenz - Theorie , und der Held, au dessen Namen sich diese Reformation in erster Linie knüpft, ist C ha vi es Darwin. „Ueber die Entstehung der Arten im Thier- und Pflan- zenreich durch natürliche Züchtung oder Erhaltung der vervollkommneten Rassen im Kampfe ums Dasein" lautet der Titel des gTOSsartigen Werkes, durch welches Charles Darwin i) 1859 eine neue Periode zunächst der gesammteu Morphologie und Phy- siologie, da^lurch aber zugleich der Anthropologie und der gesammten menschlichen Wissenschaft überhaupt begründete. Indem wir nun in eine nähere Betrachtung von Darwin' s Lehre eintreten, können wir nicht umhin zunächst der ausserordentlichen Bewunderung und der 1 hohen Verehrung Ausdruck zu geben, mit welcher uns die Geistesthä- tigkeit dieses grossen Naturforschers erfüllt hat. Wenn man aufmerk- sam und nachdenkend Darwin 's Buch liest und wieder liest, steigert sich die Verehrung des ausserordentlichen Mannes in immer höherem Grade, und man weiss wirklich nicht, was man mehr bewundern soll, die Fülle und Allseitigkeit seiner empirischen Kenntnisse, oder die ffieinheit und Folgerichtigkeit seines philosophischen Verständnisses, öden sittlichen Muth seiner tiefen Ueberzeugung, oder die uugeheuchelte EBescheidenheit, mit welcher er dieselbe ausspricht, die Innigkeit und ITiefe seiner Naturbeobachtuug im Kleinen und Einzelnen, oder die m&cht und Grösse seiner Naturanschauung im Grossen und Ganzen. 1) Charles Darwin, geboren 1808, wurde zu einer umfassenden und grossartigen iSaturbetrachtung zunächst hiugeleitet durch eine Erdumsegelung, welche er als Natur- .Corscher an Bord des „Beagle" in den Jahren 1832 — 1837 ausfülu-te, und auf welcher nt namentlich in Südamerika zahlreiche und verschiedenartige EindriicJce sammelte, die hhn auf die Erforschung des Problems von der Entstehung der Arten hinleiteteu. Seit «einer Rückkehr war er mehr als zwanzig Jahre lang im Stillen eifrigst beschäftigt, mög- ■iiqljst umfangreiche Mengen von Thatsachcn zu sammeln , welche ihn zur Lösung jenes ^Problems hinführen könnten. Insbesondere beschäftigte er sich angelegentlich mit den Röchst lehrreichen, von den Naturforschem meist ganz vernachlässigten, Veränderungen, »"welche die „Rassen" und „Arten" der Hausthiei e und Culturpflanzen imter unseren Augen > n verhältnissmässig kurzer ^eit eingehen. Indem er das causale Wesen und den mecha- nischen Verlauf der Entstehung neuer Formen, die unsere künstliche Züchtung unter un- ■^-leren Augen bewirkt, auf das gegenseitige Wechselverhältuiss der Organismen im wilden Naturzustände übertrug, und in der geistvollsten Weise mit dem „Kampfe um das Da- •ein" zusammenwirken Hess, entdeckte er die „natürliche Zuchtwahl", welche die Basis ider ihm ei;,'enthümlicbeu Selections - Theorie ist. Mit weiterer Ausarbeitung derselben be- schäftigt lebt Darwin gegenwärtig, leider sehr Ju-änkelnd, auf seinem Gute Down- wromley in Kent. 11 * 164 Die Descendenz- Theorie und die Selections- Theorie. Durch eine seltene Vereinigung dieser seltenen menschhchen Eigen- schaften steht Darwin unendlich erhaben über der Mehrzahl seiner Gegner da, deren beschränkter Horizont gewöhnlich nicht ausreicht, um auch nur das von ihm entworfene einheitliche Gesammtbild der orga- nischen Natur als Ganzes übersehen zu können. Darwin's epochemachendes Buch ist übrigens nur em kurzer und in Eile vollendeter Auszug aus den umfangreichen Vorarbeiten, mit denen derselbe seit mehreren Decennien behufs der Herausgabe eines grösseren und mit den umfassendsten Beweismitteln ausgerüsteten Wer- kes über denselben Gegenstand beschäftigt ist. Von den berühmten englischen Naturforschern Lyell und Hooker, welche seine hierauf bezüghchen Untersuchungen seit vielen Jahren kennen, wiederholt ver- geblich zur vorläufigen Veröffenthchung seiner. Theorie gedrängt, wurde Darwin endhch hierzu vermocht, als 1858 ein anderer englischer Na- turforscher Alfred Wallace, ihm ein Manuscript zusendete, welches denselben Gegenstand in nahezu gleicher Weise behandelte. Wallace, welcher seit vielen Jahren die Thierwelt des ostindischen Archipelagus an Ort und Stelle, und mit besonderer Beachtung ihrer geographischen und systematischen Verhältnisse studirt hatte, war dadurch, ganz un- abhängig von Darwin, zu denselben Grundideen, wie der letztere, ge- langt und namentlich auch zu der Annahme, dass die Entstehung neuer Speeles durch unbegrenzte und divergente Abänderung der vorhande- nen von einem „natürlichen Auswahl-Process" (Natural Selection) ge- leitet werde Dieser folgt mit Nothwendigkeit aus der natürhchen Neigung aller Organismen, sich in geometrischer Progression zu ver- mehren, während ihre nothwendigen Existenz - Bedingungen (und be- sonders die unentbehrlichen Nahrungsmittel) nur in anüimeüscher Pro- gr ssion wachsen. Es wird dadurch ein „Kampf um das Dasein" be- ll gt, welcher „züchtend" neue Speeles hervorbringt. Dieser Grund- S.e, welcher eine Uebertragung der Uebervölkerungs - Lehi-e von Malthus auf das gesammte Thier- und Pflanzenreich ist, wurde so- wohl von Wallace als von Darwin, unabhängig von emander ent- wickelt wie aus den beiden ersten hierauf bezüglichen Mit hei lungen Jf beldeTenglischen Naturforscher zu ersehen ist, die gleichzeitig fsöst d n Scliften der Linn6^schen Gesellschaft ^.rö^fellthcht wur- den V 1859 erschien dann das berühmte Buch von Darwin welches nicht nur jenen Grundgedanken ausführlich begründet, sondern auch dlf gesammte Abstammungslehre in einem bisher ungeahnten Glänze unter Benutzung aller biologischen Argumente entwickelt. ^T^d wallace: über die Neigung der Spielarten , sich unbegränzt von ihrem 1) Altrea waiia Charles Darwin: über die Neigung der .„pr» V„,W,d .u e„t .r„» " ^ «'»"-^^^ ,^„,„,,, a„cb dl. Arten, Spielarten zu bilden, und über ü.e i^oriua natürlichen Mittel der Auswahl. Journal of the Linnean bociety. August I808. n. Entwickelungsgcschichte der Descendenz - Theorie. 165 Nach unserer Ansicht hat Charles Darwin als Reformator der Transmutations- Theorie zwei grosse und wesentlich verschiedene Ver- dienste. Erstens hat er die Abstammungslehre in einer weit strenge- ren und eingehenderen Weise, als seine Vorgänger durchgeführt, und hat dazu das inzwischen massenhaft angehäufte Material aus allen Ge- bieten der Biologie in der umfassendsten Weise benutzt; und zweitens hat er durch die Aufstellung der Selections -Theorie der Umwand- lungslehre einen causalen Beweisgrund gehefert, gegen welchen alle vorher noch möglichen Zweifel verstummen müssen. Was zunächst das erste Verdienst betrifft, so würde es allein schon genügen, Darwin als wirklichen Reformator der Abstammungslehre unsterblich zu ma- chen. Mit bewunderungswürdigem Ueberblick des organischen Natur- ganzen und allseitiger Kenntniss aller einzelnen Gebietstheile dessel- ben, hat derselbe die verschiedenartigen Thatsachen - Reihen zusammen- gestellt, welche Systematik und Verwandtschaftslehre, Anatomie und Entwickelungsgcschichte, Geologie und Palaeontologie , Physiologie der Zeugung und der geographischen Verbreitung uns liefern, und aus de- ren genereller Vergleichung allein schon die Descendenz - Theorie mit unabweisbarer Nothwendigkeit folgen muss. Von der Morphologie, und zwar sowohl von der Anatomie, als von der Morphogenie zeigt Darwin 1), dass alle ihre allgemeinen Resultate mit den Ge- setzen der Descendenz - Theorie im vollsten Einklänge stehen , und dass die letztere allein im Stande ist, alle allgemeinen Gesetze der Syste- matik (Classification) und der vergleichenden Anatomie, und ebenso diejenigen der Ontogenie (Embryologie) und Phylogenie (Palae- ontologie) wirklich zu erklären. Dasselbe gilt von der Physiolo- gie, deren gesammte Conservations- und Relations - Phaenomene (Bd. I, S. 238) mit der Descendenz - Theorie vollkommen übereinstimmen. Un- ter den Functionen der Relation sind dafür besonders wichtig die bis- her so wenig berücksichtigten, vielfältigen Beziehungen der Thiere und Pflanzen zu einander und zu den umgebenden Existenzbedingungen, 1) V7enn wir die biolo^schen Erscheinungsreihen , welche in D a r w i n 's Werli be- züglich ihrer Bedeutung fih- die Transmutations -Theorie erläutert und zusammengefasst ■werden , und welche in verscliiedenen Capiteln des Werkes in etwas lockerer Form geordnet auftreten , von strengerem biologischen Gesichtspunkt axis ordnen , so würden sich dieselben etwa folgen dermaassen auf die verschiedenen Capitel (die wir durch die eingeklammerten römischen Ziffern bezeichnen) vertheilen. A. Morphologie (IX, X, XIII). a) Anatomie (XIII); b) Morphogenie: 1) Ontogenie (XIII), 2) Phylogenie (IX, X). B. Physiologie, a) Physiologie der Nutrition (Ernährungs -Functionen) (I, II, V); b) Physiologie der Generation (Fortpflanzungs - Functionen) (IV, VI, VIII) ; c) Physiologie der Relation (Beziehungs -Functionen) (III, VU, XI, XII). Im XIV. Capitel giebt Darwin eine allgemeine Wiederholung und Zusammenfassung seiner Lehre, und im XV. Capitel begleitet der Uebersetzer des Werkes, der treffliche, der Wissenschaft zu früh entrissene Bronn (einer der wenigen denkenden Morphologen) das Werk mit einem empfehlenden Nachwort. 166 Die Descendenz - Theorie und die Selections - Theorie. wodurch die Anpassungen im Kampfe um das Dasein und die äusserst verwickelten Erscheinungen der geographischen Verbreitung bedingt werden. Auch diese lassen sich lediglich aus der Descendenz -Theorie erklären und begreifen, wie es Darwin schlagend nachweist. Das grösste Gewicht legte derselbe jedoch unter allen physiologischen Er- scheinungsreihen auf die Abänderungen durch Anpassung und auf die Fortpflanzung s-Functionen, welche sowohl in den Erscheinun- gen der Bastardbildung, als ganz besonders der Vererbung uns eine Reihe von Thatsachen lehren, die eben so von der grössten Wichtig- keit, als bisher fast ganz vernachlässigt sind. Indem Darwin diese Erscheinungen, auf denen die künstliche Züchtung beruht, in der geist- vollsten Weise mit den complicirten Verhältnissen der Wechselbeziehung der Organismen , und besonders des Kampfes um das Dasein combinirt, gelangt er zur Aufstellung der auch von Wallace in ähnlichem Sinne ausgedachten Selections-Theorie, deren ausführliche und auf brei- tester morphologischer und physiologischer Basis ausgeführte Begrün- dung wir als das zweite grosse Verdienst von Darwin und als sein besonderes Eigenthum hier einer eingehenden Betrachtung zu unter- werfen haben. in. Die Selections-Theorie. (Der Darwinismus.) Die Lehre von der natürlichen Züchtung („Natural Selection") der Organismen oder von der „Erhaltung der vervollkommneten Rassen im Kampfe um das Dasein", welche wir im Folgenden immer kurz als die Zuchtwahl-Lehre oder Selections-Theorie bezeichnen wer- den, ist von Charles Darwin zuerst aufgestellt und in so voll- kommener Weise als die eigentlich causale oder mechanische Basis der gesammten Transmutations- Theorie nachgewiesen worden, dass die letz- tere erst durch die erstere als eine vollberechtigte und vollkommen sicher gestellte Theorie ersten Ranges ihren unvergänglichen Platz an der Spitze der biologischen Wissenschaften erhalten hat. Diese Se- lections-Theorie ist es, welche man mit vollem Rechte, ihrem alleinigen Urheber zu Ehren, als Darwinismus bezeichnen kann, während es nicht richtig ist, mit diesem Namen, wie es neuerdings häufig geschieht, die gesammte Descendenz-Theorie zu belegen, die bereits von Lamarck als eine wissenschaftlich formulirte Theorie in die Biologie eingeführt worden ist, und die man daher entsprechend als Lamarckismus bezeichnen könnte 0- Die Descendenz-Theo- rie fasst die gesammten allgemeinen (morphologischen und physiolo- 1) Die entgegengesetzte dogmatische Lehre von der absoluten Constanz und der selbstständigen Erschaffung der Speeles, kann eben so nach Cuvier, ihrem hervorra- gendsten Vertheidiger , Cuvierismus genannt werden. m. Die Selections -Theorie. (Der Darwinismus.) 167 gischeii) Erscheinungsreihen der organischen Natur in ein einziges gros- ses harmonisches Bild zusammen, und zeigt, wie sich uns alle Züge desselben aus einem einzigen physiologischen Natur -Processe, aus der Transmutation der Speeles, harmonisch und vollständig erklä- ren. Die Selections- Theorie zeigt uns dagegen, wie dieser Pro- cess der Speeles -Transmutation vor sich geht, und warum derselbe nothwendig gerade so vor sich gehen muss, wie es thatsächlich ge- schieht; sie erklärt diesen physiologischen Process selbst, indem sie uns seine mechanischen Ursachen, dieCausae efficientes, ken- nen lehrt. Wenn daher Lamarck immer das Verdienst bleiben wird, die Abstammungslehre zuerst in die Wissenschaft als selbstständige Theorie eingeführt zu haben, so wird dagegen Darwin das nicht ge- ringere Verdienst behalten, dieselbe nicht allein, entsprechend dem wissenschaftlichen Fortschritt eines halben Jahrhunderts, vielseitiger und umfassender ausgebildet, sondern das grössere und ebenso un- sterbliche Verdienst, ihr durch die Aufstellung der Zuchtwahl - Lehre erst die causale, d.h. die unerschütterliche mechanischeBasis ge- geben zu haben 1). Der Grundgedanke von Darwin's Selections -Theorie liegt in der Wechselwirkung zweier physiologischer Functionen, wel- che allen Organismen eigenthümlich sind, und welche wir, ebenso wie die Ernährung und Fortpflanzung, mit denen sie unmittelbar zusam- menhängen, als allgemeine organische Functionen bezeichnen können. 1) Wir heben hier absichtlich diese wesentliche Verschiedenheit der Verdienste von Lamarck und Darwin scharf hervor, weil der kleinliche Neid bald Lamarck und bald Darwin, am liebsten aber allen Beiden, das Verdienst der Aufstellung und Begründung der Desceudenz -Theorie entreissea möchte. Aus mancherlei der Theorie günstigen Aeusserungen , welche in neuerer Zeit laut geworden sind , blickt nicht sel- ten ein theils persönlicher, theils nationaler Egoismus hervor, welcher jenes Verdienst Anderen zuwenden möchte. Einige' Franzosen haben hervorgehoben, dass ja Lamarck und Geoffroy schon ganz dasselbe, wie Darwin, gesagt hätten, und dass des letzteren Arbeit nur ein schwacher Abklatsch von jenen der ersteren sei. Diesen ist einfach zu entgegnen, dass sie Darwin's Werk gar nicht verstanden und die Selections - Theorie gar nicht begi'iffen haben. Einige Deutsche haben gleicher Welse behauptet, dass schon mehr als ein hervorragender deutscher Naturforscher die Desceudenz- Theorie ausgespro- chen habe, und dass diesen die Priorität vor Darwin gebühre. Auch dies ist nicht richtig. Dass der Grundgedanke der D e s ce nd en z -T h e o r ie ein alter ist, und dass er sich schon vielen denkenden Naturforschern früherer Zeiten mehr oder minder be- stifinmt aufdrängen musste, haben wir oben gezeigt, ebenso, dass Von den neueren deut- schen Natutforschern mehrere Coi7phaeen , namentlich Bär ulid Schleiden, denselben betont haben. Keiner von ilinen aber hat ihn als seibstständige Theorie ausgebildet, wie dies von Lamarck und Darwin geschehen ist. Auch die merkwürdigen Aussprüche von Goethe, die- allein neben letzteren genannt werden können, entbehren der ausführ- lichen Begründung. Was aber zweitens die Sclcctions-Theorie betrifft, so ist deren Aufstellung und wissenschaftliche Durchfuhrung Darwin's eigenthümliches Vordienst, und nur Wallace könnte auf Theilnuhmc nn derasolbon Anspruch erheben. 168 Die Descendeuz -Theorie und die Selections- Theorie. Es sind dies die beiden äusserst wichtigen Leistungen der Verer- bung und der Anpassung, welche nach unserer Ansicht wesentlich den beiden formbildenden Elementen entsprechen, die wir oben im zweiten Buche als inneren und äusseren Bildungstrieb einander gegen- übergestellt haben. (Vergi. Bd. I, S. 154.) Die Erblichkeit oder der innereBildungstrieb (die innere Gestaltungskraft) äussert sich darin, dass jeder Organismus bei der Fortpflanzung seines Gleichen erzeugt, oder, genauer ausgedrückt, einen ihm (nicht gleichen, sondern) ähn- lichen Organismus. Die Anpassungsfähigkeit oder der äus- sere Bildungstrieb dagegen (die äussere Gestaltungskraft) äussert sich darin, dass jeder Organismus durch Wechselwirkung mit seiner Umgebung einen Theil seiner ererbten Eigenschaften aufgiebt und da- für, neue Eigenschaften annimmt, so dass er mithin dem Organismus, der ihn erzeugte, niemals absolut gleich, sondern nur ähnlich ist. Aus der allgemein stattfindenden Wechselwii'kung dieser beiden gestalten- den Priucipien geht die ganze Mannigfaltigkeit der Organismenwelt hervor. Wäre die Erblichkeit eine absolute, so würden alle Organis- men eines jeden Stammes einander gleich sein; wäre umgekehrt die Anpassung eine absolute, so würden alle Organismen völlig verschie- den sein. Der factisch vorhandene Grad der Wechsehvirkung zwischen beiden Bildungskräften bedingt den factisch vorhandenen Grad der Aehn- lichkeit imd Verschiedenheit zwischen allen Lebewesen. Alle Cha- ractere der Organismen (und zwar sowohl chemische, als mor- phologische, als physiologische Eigenschaften) sind entweder durch Vererbung, oder durch Anpassung erworben; ein drittes formbildendes Element neben diesen beiden existirt nicht (vergl. Buch II, Capitel V). Die nächste Folge der Wechselwirkung zwischen der Vererbung und der Anpassung, und insbesondere der Vererbung der durch An- passung erworbenen Abänderungen, ist die dadurch bewirkte Diver- genz ihres Charakters oder die Differenzirung. Indem die Orga- nismen auf ihre Nachkommen durch Vererbung nicht allein die von ihnen ererbten, sondern auch die von ihnen durch Anpassung erst er- worbenen Eigenschaften (Abänderungen) übertragen, gehen ihre Nach- kommen aus einander, divergiren, und indem diese Divergenz wegen der unbegrenzten Abänderungsfähigkeit oder Variabilität in einem ge- wissen Sinne keine Schranken hat, indem- vielmehr der Organismus stets anpassungsfähig, also variabel bleibt, so können im Laufe zahl- reicher Generationen aus einer und derselben ursprünglichen Stamm- form gänzlich verschiedene Nachkommen hervorgehen. Aus einer und derselben Art entstehen durch Anpassung an sehr verschiedene Le- bensbedingungen im Laufe von Generationen sehr verschiedene Arten. Je mehr die Erblichkeit in der Generationsfolge überwiegt, desto con- in. Die Selections - Theorie. (Der Darwinismus.) 169 staiiter ist die Art und desto längere Zeit erhält sie sich; je mehr die Anpassung überwiegt, desto variabler ist die Art und desto rascher entstehen aus ihr neue Arten. Die ganze unendliche Mannichfaltigkeit der organischen Formen wird also in letzter Instanz lediglich durch die Wechselwirkung dieser beiden physiologischen Functionen, der Anpassung und der Vererbung hervorgebracht. Sehr wichtig sind aber weiter die besonderen Verhält- nisse, unter denen diese Wechselwirkung überall stattfindet, und von denen sie in hohem Maasse begünstigt ward. Die Summe dieser Ver- ^iältnisse nennt Darwin mit einem metaphorischen Ausdruck den ..Kampf ums Dasein". Indem nämlich jeder Organismus den auf i]in einwirkenden äusseren Umständen entgegenwirkt, kämpft er mit denselben. Da nun alle Individuen einer Organismenart nicht absolut gleich, sondern bloss ähnlich sind, so verhalten sie sich den gleichen äusseren Einflüssen gegenüber verschieden. Ausser diesem Kampfe mit den Anpassungs-Bedingimgen findet aber ferner auch überall ein Wett- kampf zwischen den zusammenlebenden Organismen statt. Da näm- lich alle Organismen eine weit zahlreichere Nachkommenschaft produ- ciren, als sich zu erhalten iin Stande ist, so werden von derselben diejenigen sich am leichtesten und besten erhalten, welche sich am leichtesten und besten den umgebenden Existenz-Bedingungen , dem äus- seren Bildungstriebe anpassen. Es sterben daher die am wenigsten an- gepassten Individuen frühzeitig aus, ohne sich fortpflanzen zu können, während die am besten angepassten Individuen erhalten bleiben und sich fortpflanzen. Die erstereu werden von den letzteren in dem un- vermeidlichen Wettkampfe um die Erlangung der unentbehrlichen, aber nicht für Alle ausreichenden Existenz-Bedüigungen besiegt. Es kommt hier die oben erwähnte Populations-Theorie von Malthus zur Anwen- dung. Diesen Sieg der befähigteren und besser angepassten Organismen imKampfeum das Dasein nennt Darwin „Natural selection" oder natürliche Zuchtwahl (natürliche Züchtung oder Auslese), weil der Kampf um das Dasein hier dieselbe auslesende, auswählende (züch- tende) Wirküng auf viele ungleiche Individuen einer und derselben Art ausübt, welche bei der „künstlichen Züchtung" die absichtliche, zweck- mässige Auswahl des Menschen übt. Die natürliche Selection wählt also im Kampfe um das Dasein 'liejenigen Individuen zur Fortpflanzung aus, welche sich am besten den Existenz -Bedingungen anpassen können, und da in den meisten Fällen diese Individuen die besseren, die vollkommneren sind, so ist im Allgemeinen (einzelne besondere Fälle ausgenommen !) damit zugleich liine zwar langsame, aber beständig wirkende Vervollkommnung, i;in Fortschritt in der Organisation nothwendig verbunden. Da ferner der Kampf um das Dasein zwischen den zusammenlebenden In- 170 Die Descendenz - Theorie und die Selections- Theorie. dividueii einer und derselben Art um so heftiger (also auch um so gefährlicher) sein muss, je mehr sie sich gleichen, um so weniger hef- tig, je mehr sie von einander abweichen, so werden die am stärksten divergirenden oder von einander abweichenden Individuen am meisten Aussicht haben , neben einander fortzuexistiren und sich fortzupflanzen, und dadurch besonders wird allgemein die oben hervorgehobene Di- vergenz des Charakters begünstigt, welche uns die allgemeine Nei- gung der Organismen erklärt, immer mehr abzuändern, und immer mehr neue und mannichfaltige Arten zu bilden. Aus der unendlich verwickelten Wechselwirkung dieser inneren und äusseren formbilden- den Verhältnisse, und aus den nothwendigeh Folgerungen, welche sich immittelbar daraus ableiten lassen, erklärt sich die ganze Mannichfal- tigkeit der organischen Natur, welche uns umgiebt. Um dieses äus- serst wichtige Verhältniss zu würdigen, müssen wir zunächst die bei- den entgegenwirkenden Functionen der Vererbung und der Anpassung einer eingehenderen physiologischen Betrachtung unterwerfen, als es bisher geschehen ist. rV. Erblichkeit und Vererbung. (Atavismus , Hereditas.) IV, A. Thatsache und Ursache der Vererbung. Die Erblichkeit (Atavismus) als virtuelle Kraft, und die Vererbung (Hereditas) als actuelle Leistung der organischen Individuen, sind allgemeine physiologischeFunctionen der Or- ganismen, welche mit der fundamentalen Function der Fortpflan^ zung unmittelbar zusammenhängen, und eigentlich nur eine Theiler- scheinung der letzteren darstellen. Sie äussern sich in der Thatsache, dass jeder Organismus, wenn er sich fortpflanzt, Nachkommen erzeugt, welche entweder ihm selbst ähnlich sind, oder deren Nachkommen doch wenigstens (nach Dazwischentreten einer oder mehrerer Generationen) ihm ähnlich werden. Diese Erscheinung ist eine so allgemeine, und alltäglich zu beobachtende, dass sie, eben wegen dieser Allgemeinheit, als etwas Selbstverständiches gilt. Die wichtigen biologischen Schlüsse aber, welche aus dieser Thatsache hervorgehen, werden von der ge- wöhnlichen oberflächlichen Naturbetrachtung entweder übersehen oder doch nicht in ihrer vollen Bedeutung für die CharakterbUdung der Or- ganismen erkannt. Gewöhnlich werden nur auffallende Abweichungen von der Erblichkeit besonders hervorgehoben. Denn mau findet es allgemein ganz „natürlich", dass das Kind Eigenschaften seiner Eltern theilt („erbt"), und dass der Baum dem elterlichen Stamme ähnlich ist, von dem er als Same oder als Knospe entnommen wurde. „Der IV. Erblichkeit und Vererbung. 171 Apfel fällt nicht weit vom Stamm." Der allgemeinste Ausdruck für das Grundgesetz der Erblichkeit dürfte in den Worten liegen: „Aehnliches erzeugt Aehnliches", oder genauer: „Jedes or- ganische Individuum erzeugt bei der Fortpflanzung di- rect oder indirect ein ihm ähnliches Individuum." Die Ursachen der Erblichkeit sind ebenso wie die Gesetze ihrer vielfachen Modificationen , bisher noch äusserst wenig untersucht worden. Sie hängen aber olfenbar direct mit den Gesetzen der Fortpflanzung des Organismus zusammen und bestehen wesentlich in einer unmittelbaren Uebertragung von ma- teriellen The ilen des elterlichen Organismus auf den kind- lichen Organismus, die mit jeder Fortpflanzung nothwendig ver- bunden ist. Alle , auch die verschiedenartigsten und scheinbar von den Fortpflanzungs - Erscheinungen unabhängigsten Vererbungs- Erscheinun- gen sind physiologische Functionen, welche sich in letzter Instanz auf die Fortpflanzungs-Thätigkeit des Organismus zurückführen lassen. Die Erblichkeit ist also keinesweges eine besondere organische Function. Vielmehr ist in allen Modificationen derselben das wesentliche causale Fundament die materielle Continuität vom elterlichen und kindlichen Organismus. „Das Kind ist Fleisch und Bein der Eltern." Lediglich die partielle Identität der specifisch - constituirten Materie im elterli- chen und im kindlichen Organismus, die Theilung dieser Materie bei der Fortpflanzung, ist die Ursache der Erblichkeit. "Wir haben im dritten Abschnitt des fünften Capitels gezeigt, dass die individuelle Form jedes Naturkörpers das Product aus der Wechsel- wirkung von zwei entgegesetzten Factoren, einem äusseren und einem inneren Bildungstriebe ist. Bei allen organischen Individuen, welche nicht durch spontane, sondern durch parentale Generation entstehen, ist der innere Bildungstrieb oder die innere Gestaltungskraft (Vis plastica interna) identisch mit der Erblichkeit (Bd. I, S. 155). IV, B. Vererbung und Fortpflanzung. Die Fortpflanzung (Propagatio) ist eine physiologische Function der Organismen, welche unmittelbar mit den allgemeinen organischen Functionen der Ernährung und des Wachsthums zusammenhängt, wie bereits im fünften und im siebzehnten Capitel ausgeführt wurde. Wir konnten dies allgemein mit den Worten ausdrücken: die Fortpflan- zung ist ein Wachsthum des Organismus über das indivi- duelle Maass hinaus. Die Wachsthumserscheinungen der Orga- nismen und die Eigenthümlicheitcn , welche dasselbe von dem Wachs- thum der Anorgane unterscheiden, haben wir dort bereits in Betracht gezogen. Insbesondere fanden wir dabei von hoher Wichtigkeit die verwickelte atomistische Zusammensetzung der activen lebendigen Ma- 172 Die Descendenz - Theorie und die Selections- Theorie. terien , der Kohlenstoff- Verbindungen , und namentlicli der Eiweissstoffe, aus denen der lebendige Piastiden - Körper besteht; ferner ihre Imbibi- tionsfähigkeit, den festflüssigen Aggregatzustand, als Eigenschaften, wel- che die eigenthümliche Art des Wachsthums der Organismen durch „In- tussusception" bedingen. Um diesen Vorgang des "Wachsthums und die daraus erfolgende Function der Fortpflanzung richtig zu verstehen, ist es besonders vortheilhaft, die einfachsten aller Organismen ins Auge zu fassen, die Moneren (Prniogenes etc. Bd. I, S. 133, 135), deren ganzer Körper einen einzigen einfachen, formlosen und durch und durch structurlosen Plasmaklumpen darstellt , ein Stück Eiweiss , welches sich durch Imbibition ernährt (assimilirt) , wächst und durch Theilung fort- Ijflanzt. Ein solches Moner theilt sich, sobald sein Wachsthum, die Aufnahme neuer Moleküle in das Innere des lebendigen Eiweissklum- pens, denjenigen Grad übersteigt, welcher eine Cohäsion der Moleküle zu einer einzigen individuellen Plastide gestattet. So lange dieser Grad des Wachsthums, dieses Maass der Grössenzunahme nicht überschrit- ten ist, vermögen sich die Plasma -Moleküle zu einem einzigen Klum- pen zusammengeballt zu erhalten, indem (vielleicht in Folge unglei- chen Wassergehalts in verschiedenen peripherischen Schichten des Mo- neres) eine bestimmte Gruppe (von vielleicht dichter beisammenstehen- den Molekülen) die übrigen durch Attraction zusammenhält. Sobald aber dieses Maass der individuellen Grösse erreicht ist, und nun durch fortdauernde Aufnahme neuer Moleküle überschritten wird, so bilden sich statt des einen vorhandenen zwei oder mehrere neue Central- lieerde von dichter beisammenstehenden Molekülen, welche nun in der Weise als Attractionsceutren auf die übrigen Moleküle einwirken, dass der ganze Plasmakörper in zwei oder mehrere selbstständige Individuen zerfällt. Wir heben diese einfachste Form der Fortpflanzung, durch Selbst- theilung, hier deshalb nochmals ausdrücklich hervor, weil dieselbe uns in der einfachsten und klarsten Weise die Thatsache der Vererbung als eine nothwendige Theilerscheinung der Fortpflanzung erklärt. Denn es müssen natürlich die Theilproducte , welche aus jenem einfachen Spaltungsprocess hervorgehen, die Eigenschaften des Ganzen, zu wel- chem sie sich alsbald wieder durch Reproduction ergänzen, „erblich" beibehalten. Wir finden unter den Protisten (Protoplasten, Ehizopo- den, Diatomeen, Flagellaten etc.) zahlreiche „Speeles", welche entwe- der (Profamoeha, Proiogcncs) zeitlebens auf dem einfachen Zustande eines Moneres verharren oder doch höchstens den morphologischen W^erth einer einfachen Plastide (bald Cytode, bald Zelle) erhalten, und welche als solche einfache (monoplastidc) Organismen sich fortpflanzen. Hier finden wir es ohne Weiteres ganz natüriich, dass das Theilungs- product, welches z. B. durch Halbimng entstanden ist, und sich als- IV. Erblichkeit und Vererbung. 116 bald durch Reproduction der anderen Hälfte wieder ergänzt, dem frü- heren Ganzen ähnlich oder fast gleich wird. Ganz dieselbe Auffassung lässt sich aber auch auf alle höheren Organismen anwenden. Wir wissen, dass alle ohne Ausnahme entweder einfache Piastiden oder in- di\idualisirte Aggregate von mehr oder weniger differenzirten Piastiden sind, und wir wissen, dass die Fortpflanzung dieser Piastiden immer in der allereinfachsten mechanischen Weise, und allermeist nach dem eben geschilderten Typus, durch einfache Theilung oder durch Knos- penbildung geschieht. Wenn sich nun ein solcher höherer Organismus fortpflanzt, der eine Summe von Piastiden repräsentirt , der also nicht den Werth eines Individuums erster, sondern zweiter oder höherer Ordnung besitzt, so ist auch hier der Vorgang ein ganz ähnlicher. Auch hier muss uns die Vererbung der elterlichen Eigenschaften auf den kindlichen Organismus als die nothwendige Folge der Fort- pflanzung erscheinen. Wie bei den monoplastiden Organismen ein Theil der constituirenden Plasma -Moleküle, so geht bei den polyplastiden ein Theil der constituirenden Piastiden vom zeugenden Organismus auf den erzeugten über. Die Vorgänge der Theilung , und somit auch der Ver- erbung, sind in beiden Fällen ganz ähnliche. Wie die Theilung der Moneren und der übrigen einfachen Piastiden dadurch zu Stande kömmt, dass eine gewisse Anzahl von Plasma - Molekülen sich um ein oder meh- rere neue Attractionscentra gruppiren und nun die neu hineintretenden Moleküle sich ebenfalls um diese neuen Anziehungs- Mittelpunkte (Grup- pen von dichter gestellten Molekülen) ansammeln, so geschieht auch bei den höheren, mehrzelligen Organismen die einfachste Art der Fort- pflanzung, die Selbsttheilung , dadurch, dass eine oder mehrere Plasti- den (Zellen oder Cytoden) , welche vorher den übrigen coordinirt wa- ren, sich von denselben sondern und als selbstständige Anziehungs- Mittelpunkte auftreten, zu denen die eintretende Ernährungsflüssigkeit vorzugsweise hingeleitet wird, und von denen aus nun der neue Plasti- denbildungs-Process, das „zusammengesetzte Wachsthum" des Ganzen lebhaft ausgeht. So entstehen um die gesonderten Zellen gesonderte Zellgruppen, welche sich dann endlich mehr oder weniger vollständig trennen und so den Zerfall des elterlichen Organismus in zwei oder mehrere neue Individuen herbeiführen. Wie bei der Selbsttheilung der Piastiden (oder der Individuen erster Ordnung) einzelne stärker an- ziehende Plasma -Moleküle, so sind es bei der Selbsttheilung mehrzel- liger Organismen (oder der Individuen zweiter oder höherer Ordnung) einzelne stärker anziehende Zellen , welche über die anderen coordinir- ten das Uebergewicht gewinnen, und so innerhalb des einen indivi- duellen, centralisirten Organismus zwei oder mehrere neue Bildungs- centra, Anziehungs -Mittelpunkte für die Ernährung herstellen. Diese neuen centralen Bildungsheerde , welche bereits die Anlagen der neuen 174 Die Descendenz - Theorie und die Selections - Theorie. Individuen sind und welche vollkommen selbstständig werden, sobald sie sich in die Restbestandtheile des elterlichen Organismus getheilt haben, müssen natürlich die wesentlichen, specifischen Eigenschaften desselben beibehalten, und wir finden es auch hier nicht wunderbar, dass diese kindlichen Individuen bei ihrer Ergänzung zum elterlichen die gleiche Ernährungsrichtung, und somit auch die gleiche Bildungs- richtung beibehalten. Wie nun die Vererbung der specifischen Eigenschaften durch die Fortpflanzung uns bei dieser einfachsten Form derselben, bei der mo- nogenen Spaltung, und insbesondere bei der Selbsttheilung, als eine nothwendige Folge der partiellen Identität des kindlichen und paren- talen Organismus ganz natürlich erscheinen muss, so gilt dies auch von allen anderen Arten der Fortpflanzung , welche wir im siebzehnten Capitel unterschieden haben. Mögen dieselben noch so" sehr verschie- den sein , so stimmen sie dennoch sämmtlich in der fundamentalen Er- scheinung überein, dass ein (bald totales, bald partielles) Wachsthums- product des individuellen Organismus, und zwar stets ein grösserer oder kleinerer Theil des lebendigen bildung,sfähigen Eiweissstoö'es (Plasma der Piastiden) sich von demselben ablöst, um als neues Individuum selbstständig weiter zu leben. Da es dieselben Stoffe sind, welche die active Grundlage des elterlichen und des kindlichen Organismus bilden, dieselben specifisch constituirten Eiweiss- Verbindungen, so kön- nen wir schon a priori erwarten, dass dieselben Kräfte (Lebenser- scheinungen) und dieselben Formen an dem kindlichen ebenso wie an dem elterlichen Individuum haften werden. Dies sehen wir über- all bestätigt a posteriori durch die Erscheinungen der Erblichkeit, Wel- che einzig und allein in jener materiellen Continuität wurzeln. Bei den höheren Organismen erscheint es uns wunderbar, dass eine einzige einfache Zelle, das Ei, alle die äusserst complicirten morphologischen und physiologischen Eigenschaften des elterlichen Organismus auf den kindlichen zu übertragen vermag, vmd es scheint schwer zu begreifen, wie die Plasma -Moleküle des Eies und des Sperma lediglich vermöge ihrer specifischen materiellen Constitution diese äusserst* verwickelten Complexe hoch diff"erenzirter Eigenschaften sollen übertragen können. Indessen verliert sich diese Schwierigkeit, sobald wir an die unend- liche Feinheit in der uns unbekannten Molekular- Structur und atomi- stischen Constitution des Plasma denken und an die wichtige That- ßache, dass die ganze individuelle Entwickelung eine continuirliche Kette von molecularen Bewegungs-Erscheinungen des activen Plasma ist. Der Anstoss zu dieser specifischen Bewegung wird bei dem Fortpflanzungs- Akte zugleich mit dem materiellen Substrate selbst vom elterlichen auf den kindlichen Organismus übertragen, und die unmittelbare Continui- tät jener unendlich verschiedenartigen und complicirten Entwickelungs- IV. Erblichkeit uud Vererbung. 175 Bewegungen ist die wirkende Ursache der unendlich verschiedenartigen und complicirten Vererbungs- Erscheinungen. IV, C. Grad der Vererbung. Da die materielle Continuität des elterlichen und des kindlichen Organismus bei den verschiedenen angeführten Arten der Fortpflanzung einen verschiedenen Grad der Ausdehnung und der Dauer zeigt, so lässt sich von vornherein schon erwarten, dass auch der Grad der Erb- lichkeit bei denselben verschieden sein werde, und auch dies sehen wir überall durch die Erfahrung bestätigt. Je grösser im Verhältniss zum ganzeil zeugenden Individuum der Theil desselben ist, der sich als überschüssiges Wachsthumsproduct von ersterem isolirt, desto grös- ser ist die Gemeinschaftlichkeit der materiellen Grundlage, desto grös- ser ist der Grad der Erblichkeit, d.h. die üebereinstimmung in Form und Function des zeugenden und des erzeugten Organismus. Daher ist die letztere viel bedeutender bei der Theilung und Knospenbildung, wo ein verhältuissmässig grosser Theil sich von dem zeugenden Indi- viduum ablöst , als bei der Keimzellen-Bildiuig und geschlechtlichen Zeu- gung, wo nur ein verhältnissmässig kleiner Theil aus dem elterlichen Organismus sich abscheidet. Ebenso ist die längere Dauer des Zusam- menhanges beider Organismen hierbei von Einfluss. Je länger der ma- terielle Zusammenhang beider dauert, je später sich das kindKche In- dividuum von dem elterlichen trennt, desto gleichartiger werden sich beide, als Theile eines und desselben materiellen Ganzen, ausbilden, und desto grösser wird der Grad der Erblichkeit, , der biologischen üebereinstimmung zwischen beiden sein. Dieser Umstand wirkt meist mit dem vorigen zusammen. Da auch diese Dauer des Zusammen- hanges bei der Theilung und Knospenbildmig grösser ist, als bei der Keimbildung und sexuellen Fortpflanzung, so wird auch aus diesem Grunde der Grad der hereditären Aehnlichkeit bei letzteren geringer, als bei ersteren sein. Die Beispiele hieiiür sind bei denjenigen Or- ganismen zahlreich, welche sich gleichzeitig auf geschlechtlichem und ungeschlechtlichem Wege fortpflanzen. Unsere veredelten Obst- sorten z. B. können wir nur durch ungeschlechtliche Vermehrung (Ab- lösung von Knospen , Ablegern , Senkern etc.) fortpflanzen , wodurch die feinen individuellen Vorzüge _ des veredelten Baumes sich genau auf seine Nachkommen übertragen, während dieselben bei der geschlecht- lichen Fortpflanzung (durch Samen) Nachkommen liefern , die sich weit von ihren Eltern entfernen und Rückschläge in die nicht veredelte wilde Stammform zeigen. Ebenso können sogenannte Spielpflanzen, mit sehr ausgeprägten, und namentlich mit plötzlich aufgetretenen indivi- duellen Charakteren (z. B. die Blutbuche, die Rostkastanien mit gefüll- ten Blüthen, viele Trauerbäume oder Bäume mit hängenden Zweigen) 176 Die üescendenz - Theorie und die Selections - Theorie. nur auf ungeschlechtlichem, nicht auf geschlechtlichem Wege fortge- pflanzt werden. Dagegen entstehen solche auszeichnende individuelle Bildungen, Monstrositäten etc., weit häufiger bei solchen Individuen, die sexuell , als bei solchen , die esexuell erzeugt sind. Allgemein lässt sich das Erblichkeits-Gesetz, welches diesen Erscheinungen zu Grunde liegt, folgendermaassen formuliren: „Jede Vererbungs-Erschei- nung der Organismen ist durch die materielle Continuität zwischen elterlichem und kindlichem Organismus bedingt und der Grad der Vererbung (d, h. der Grad der morphologi- schen und physiologischen Aehnlichkeit zwischen elterlichem und kind- lichem Organismus) steht in geradem Verhältnisse zu der Zeit- dauer des continuirlichen Zusammenhanges zwischen zeu- gendem und erzeugtem Individuum, und in umgekehrtem Verhältniss zu dem Grössenunterschiede zwischen Beiden." IV, D. Conservative und progressive Vererbung. (Vererbung ererbter und erworbener Charaktere.) Die ausserordentliche Wichtigkeit der Erblichkeits - Erscheinungen für die Erklärung der organischen Form -Bildung konnte erst erkannt werden, seit man den Grundgedanken der Descendenz- Theorie erfasst hatte, und es hat sich daher auch die allgemeine Aufmerksamkeit den ersteren erst dann mehr zugewendet, als Darwin die letztere durch seine Selections -Theorie causal begründet hatte. Wir werden uns da- her nicht wundern, dass vorher noch keine ernstlichen Versuche ge- macht worden waren, die Masse der hierher gehörigen verschiedenar- tigen Erscheinungen zu ordnen und als „Erblichkeits -Gesetze" zu for- muliren. Auch in den wenigen seitdem verflosseneu Jahren sind hierzu keine umfassenderen Schritte gethan worden ; und es ist dies erklärlich bei den grossen Schwierigkeiten, welche jeder geordneten Betrachtung des ungeheuren Chaos von ontogeuetischen Thatsachen sich entgegen- stellen. Die sehr zahlreichen und verschiedenartigen Beobachtungen über Vererbung , welche wir aus älterer und neuerer Zeit besitzen, sind grösstentheils nicht von streng naturwissenschaftlich gebildeten Beob- achtern, sondern von Landwirthen, Gärtnern, Thierzüchtern u. dergl. mehr gesammelt worden, deren Angaben zum grossen Theil sehr un- genau und unzuverlässig sind. Auch war für diese bei Wiedergabe ihrer Beobachtungen meist nicht der theoretisch- wissenschaftliche, son- dern vielmehr der praktisch ^zweckdienliche Standpunkt maassgebend, und es ist daher sehr schwer, diese Angaben mit Sicherheit zu ver- werthen. Die Zoologen und Botaniker aber, für welche die wissen- schaftliche Erkenntniss der Vererbungserscheinungen schon längst die dringendste Pflicht hätte sein sollen, waren meist viel zu sehr mit der Speeles -Fabricatiou und der anatomischen Dai'stellung der vollendeten IV. Erblichkeit iind Vererbung. 177 Formen in ihren todteu Museen und Herbarien beschäftigt, als dass sie Zeit und Lust gehabt hätten, die Erblichkeits- Erscheinungen an den lebendigen Organismen zu studiren, und in der Erkenntniss des Werdens der Formen das Verständniss der vollendeten zu gewinnen. Es gilt also von den Vererbungs - Gesetzen dasselbe, wie von den Anpas- sungs- Gesetzen, dass ihre wissenschaftliche Begründung der Zukunft angehört. Vor Allem wird diese das äusserst werthvolle Material zu ver- werthen haben , welches die Aerzte über die Vererbungen pathologischer Zustände gesammelt haben, und welches ebenfalls noch ganz ungeord- net ist. Wenn wir trotzdem hier den Versuch machen, die wichtig- sten Gesetze der Vererbung und der Anpassung voriäufig zu formuliren, so wollen wir damit nur eine neue Anregung zur weiteren Gesetzes- Erforschung, keinesweges aber eine vollständige Reihe von feststehen- den Gesetzen geben. Wir müssen deshalb für diesen Versuch beson- dere Nachsicht beanspruchen. Bevor wir die verschiedenen Gesetze der Erblichkeit, welche sich mit einiger Sicherheit schon jetzt als besonders wichtig hervorheben lassen, einzeln formuliren, erscheint es nothwendig, den wesentlichen Unterschied zwischen zwei verschiedenen Hauptformen der Heredität hervorzuheben, nämlich zwischen der Vererbung ererbter und derjenigen erworbener Charaktere. Alle verschiedeneu Erblichkeits-Erscheinungen lassen sich entweder der einen oder der anderen Kategorie unterordnen. Beide sind aber bisher in sehr ungleichem Maasse berücksichtigt wor- den. Die meisten Zoologen und Botaniker haben immer das grösste Gewicht auf Vererbung bereits ererbter Charaktere oder auf die con- s e r V a t i V e V e r e r b u n g gelegt, und dagegen die Vererbung erworbener Charaktere oder die progressive Vererbung entweder gar nicht berücksichtigt oder doch nicht in ihrem ausserordentlichen morpholo- gischen Werthe erkannt. Hieraus vorzüglich erklärt sich die Zähig- keit, mit welcher das falsche Dogma von der Constanz der Speeles selbst noch von Einsichtigeren festgehalten wird. Denn aus der einseitigen Beräcksichtigung bloss der conservativen Vererbung entspringt die ir- rige Vorstellung , dass alle Glieder einer Speeles durch eine bestimmte Summe von unveränderiichen Charakteren als ein natüriiches Ganzes zusammengehalten werden, und dass ihre unbestreitbare Variation oder Abänderung bestimmte enge Grenzen nicht überschreitet. Erst durch die gerechte Würdigung der entgegengesetzten progressiven Vererbung wird die unbegrenzte Veränderiichkeit der organischen Formen und die freie Transnmtation der Speeles erkannt, aus welcher sich alle That- sachen der organischen Morphologie erklären. Das Gesetz der conservativen oder beharrlichen Here- dität oder der Vererbung ererbter Charakter e sagt aus, dass alle Descendenten ihren Eltern ebenso wie allen vorhergehenden Gene- Haeckel, Generelle Morphologie, II. -, q 178 Die Descendenz- Theorie und die Selections- Theorie. rationell gleichen. Jeder Organismus vererbt dieselben mor- phologischen und physiologischen Eigenschaften auf seine Nachkommen, welche er selbst von seinen Eltern und Vor- fahren ererbt hat. In der einseitigen Auffassung, in welcher das- selbe gewöhnlich die dogmatischen Vorstellungen der Systematiker be- herrscht, würde dasselbe lauten: Alle Eigenschaften, welche der Or- ganismus von seinen Eltern ererbt hat, und nur diese, vererbt der- selbe auch ebenso vollständig auf seine Nachkommen. Daher sind alle Generationen einer und derselben Speeles wesentlich gleich und die Ab- änderungen durch Anpassung überschreiten niemals bestimmte enge Grenzen. Die Speeles muss hiernach wirklich constant sein; denn „Gleiches erzeugt Gleiches". Wenn diese falsche Vorstellung in ihrer ganzen Einseitigkeit consequent festgehalten wird, so bleibt die erste Entstehung der erblichen Eigenschaften, welche durch die Fortpflan- zung unverändert übertragen werden, vollständig unerklärt und man muss nothwendig zu der absurden dualistischen Vorstellung einer „Schö- pfung der einzelnen Speeles" flüchten. Jede organische Art entsteht dann" plötzlich zu irgend einer Zeit der Erdgeschichte ledigHch durch den „Willen des Schöpfers", d. h. ohne Ursachen! Sie überträgt alle ihre "„specifischen, wesentlichen Charaktere" unverändert auf ihre Nach- kommen mittelst der Fortpflanzung (also durch wirkende Ursachen!), und nachdem sie eine bestimmte Reihe von Generationen hindurch sich in dieser Constanz erhalten hat, geht sie ganz unmotivirt wieder unter, ohne Ursachen! Dass diese Vorstellung von der einseitigen und ausschliesslichen Gültigkeit der conservativen Heredität grundfalsch ist, liegt auf der Hand. Zwar beherrscht dieselbe noch heute die ganze zoologische und botanische Systematik, weil die nicht monistisch gebildete Mehrheit der Morphologen daraus das Dogma von der Speeles - Constanz ablei- tet welches sie für unentbehrlich hält. Allein es bedarf nur eines einfachen Hinweises auf die alltäglichen Züchtungs-Erfahrungeii der Gärt- ner und Landwirthe, um sie zu widerlegen. Die ganze künstliche Züch- tung (mid ebenso die natürliche) beruht darauf, dass die conservative Heredität nicht ausschliesslich wirkt, sondern vielmehr beständig und überall neben und mit der progressiven Vererbung thätig ist. Das Gesetz der progressiven oder fortschreitenden Heredität oder der Vererbung erworbener Charaktere sagt aus dass alle Descendenteii von ihren Eltern nicht bloss die alten, von diesen ererbten, sondern auch die' neuen, von diesen erst wahrend ihrer Lebenszeit erworbenen Charaktere, wenigstens theilweis, erben Jeder Organismus vererbt auf seine Nachkommen nicht bloss die morphologischen und physiologischen Eigen- schaften, welche er selbst von seinen Eltern ererbt, sou- IV. Erblichkeit und Vererbung. 179 dern auch einen Theil derjenigen, welche er selbst wäh- rend seiner individuellen Existenz durch Anpassung er- worben hat. Dieses äusserst wichtige Gesetz läuft dem vorigen in gewisser Beziehung beschränkend zuwider, und wenn man dasselbe in gleicher Weise wie jenes berücksichtigt hätte, so würde man längst das Dogma von der Speeles -Constanz, und damit die hinderlichste Schranke der monistischen Morphologie beseitigt haben. Obwohl die Thatsachen, auf welchen dieses fundamentale Gesetz unumstösshch fusst, alltäglich zu beobachten und allbekannt sind, haben sich den- noch die meisten Morphologen seiner Anerkennung auf das beharrlich- ste verschlossen. Freilich führen die nothwendigen Cousequeuzen des- selben den vollständigen Ruin des unheilvollen Species-Dogma und des darauf begründeten teleologischen Dualismus unaufhaltsam herbei. Denn es ist klar, dass daraus zunächst die unbegrenzte Veränderlichkeit der Speeles folgt. Dass die einzelnen Individuen während ihrer beschränk- ten Lebenszeit, in Folge der unendlich mannichfaltigen Abänderung ihrer Ernährung, den mannichfaltigsten und tiefgreifendsten Abände- rungen unterliegen können, uud dass eine bestimmte Schranke dieser individuellen Abänderung nicht existirt, ist allgemein anerkannt; wenn nun zugleich das Gesetz von der progressiven Heredität als wahr an- erkannt wird, — und es ist dies bei aufrichtiger Betrachtung mit of- fenen Augen nicht zu vermeiden — so folgt daraus unmittelbar, dass auch eine Schranke der Speeles - Transmutation nicht existirt, dass die Veränderlichkeit der Art mibegrenzt ist, weil jede neue, durch An- passung erworbene Eigenschaft unter günstigen Umständen vom elter- lichen Organismus auf den kindlichen vererbt werden kann. Uud so ist es in der Thal. Die ganze Formen -Mannichfaltigkeit der Thier- und Pflanzenwelt, wie sie uns gegenwärtig umgiebt, und wie sie sich während deren pa- läontologischer Entwickelung allmählich umgestaltet hat, liefert uns für diese Wechselwirkung von progressiver und conservativer Verer- bung den deutlichsten Beleg. Denn das beständige Schwanken zwi- schen Erhaltung und Abänderung, zwischen Constanz und Transmuta- tion, welches uns alle Thier- und Pflanzen - Speeles zeigen, erklärt sich uns einfach aus der Thatsache, dass die Vererbung der Charak- tere niemals ausschhesslich eine conservative, sondern stets zugleich eine progressive ist. Wenn die conservative Vererbung der ererbten Charaktere allein herrschte, so würde die gesammte Organismen- Welt durchaus coiistant, zu allen Zeiten der Erdgeschichte dieselbe sein, und es würden nur soviel Speeles existiren, als ursprünglich „geschaften" wurden (d. h. durch Archigonie entstanden). Dies wird durch die Pa- laeontologic widerlegt. Wenn umgekehrt die progressive Vererbung allein wirksam wäre, so würde die gesammte Organismen-Welt duixh- 12* 180 Die Descendenz - Theorie und die Selections - Theorie. aus inconstant sein, und es würden sicli gar keine verschiedenen Spe- cies unterscheiden lassen. Es würden eben so viele Speeles als Indi- viduen existiren. Auch dies wird durch die Palaeontologie widerlegt. Alle palaeontologischen und systematischen (anatomischen) Thatsachen erklären sich nur aus der Annahme eines fortwährenden Ineinander- greifens, einer beständigen Wechselwirkung der conservativen und pro- gressiven Heredität. Eine eingehende physiologische Betrachtung der Ernährungs - und Fortpflanzungs- Verhältnisse der Organismen zeigt uns, dass dies gar nicht anders sein kann. Wir sahen, dass die Vererbung durch die Fortpflanzung vermittelt wird und in einer materiellen Continuität, einer partiellen Identität des elterlichen und kindlichen Organismus besteht. Andererseits werden wir bei der Betrachtung der Anpassung sehen, dass jede Anpassung auf einer Ernährungs- Veränderung beruht. Da nun die Ernährungs- Verhältnisse, d.h. überhaupt die gesammten Existenz -Bedingungen, im weitesten Sinne, überall und zu jeder Zeit verschieden sind , da jeder individuelle Organismus sich seinen speciel- len Ernährungs -Bedingungen bis zu einem gewissen Grade anpassen muss und dadurch bestimmte Veränderungen erleidet, da endlich jede Veränderung nicht einen einzelnen Körpertheil ausschliesslich betrifft, sondern auf alle anderen Theile mit zurückwirkt, so muss auch bei der Fortpflanzung des Individuums stets ein , wenn auch noch so klei- ner, Theil der erworbenen Veränderung mittelst der elterlichen Materie auf die kindliche übertragen werden und in dieser wirksam bleiben. Das Resultat dieser Untersuchung ist also die uothwendige Wech- selwirkung von conservativer und progressiver Vererbung. Der Grad der Constanz jeder organischen Speeles wird durch den Antheil der conservativen Vererbung, der Grad der Abänderung jeder organischen Speeles durch den Antheil der progressiven Vererbung bedingt. IV, E. Gesetze der Vererbung. Ea. Gesetze der conservativen Vererbung. \. Gesetz der ununterbrochenen oder continuirlichen Vererbung. (Lex hereditatis contimiae.J Bei den meisten Organismen sind alle unmittelbar auf einajider folgenden Generationen einander in allen morpho- logischen und physiologischen Charakteren entweder nahezu gleich oder doch sehr ähnlich. Die ununterbrochene Conservation der specifischen Charaktere in allen auf einander unmittelbar folgenden Generationen einer und der- selben Speeles ist die allgemeine Regel bei allen höheren Thieren und Pflanzen. Wenn wir die Kette der successiven Generationen mit den IV. Erblichkeit und Vererbung. 181 BiichstabeD des xVlpliabets bezeichnen, so ist bei den meisten höheren Organismen A = B = C = D = E = F ii. s. w. Die Gültigkeit dieses Gesetzes ist aber nicht allein allgemein anerkannt, sondern auch übertrie- ben worden, indem man die continuirliche Vererbung als das allgemeine Grundgesetz der Vererbung für alle Organismen ansah. Erst als man die weite Verbreitung des Generationswechsels kenneu lernte, und als dasjenige, was man zuerst „als Ausnahme ansah, sich im Gange der Natur als die Eegel" herausstellte , nämlich das Aiterniren der Gene- rationen bei den niederen Organismen entsprechend dem nächstfolgen- den zweiten Gesetze, musste das Gesetz der continuirlichen Vererbung als das nicht ausschliesslich herrschende erkannt werden. Auf jener früheren allzuweit gehenden Verallgemeinerung desselben beruht auch die weit verbreitete, aber unbegründete Definition der Species, als des „Inbegriffes aller Individuen von gleicher Abkunft , und derjenigen, welche ihnen eben so ähnlich, als diese unter sich sind." 2. Gesetz der unterbrochenen oder verborgenen oder abwechselnden Vererbiing. (Lex heredüatis interniptae s. latentis s. alteniantü.J Bei vielen Organismen sind nicht die unmittelbar auf einander folgenden Generationen einander in allen mor- phologischen und physiologischen Charakteren entweder nahezu gleich oder doch sehr ähnlich; sondern nur die- jenigen, welche durch eine oder mehrere davon verschie- dene Generationen von einander getrennt sind. Die Vererbungserscheinungen, welche dieses wichtige Gesetz be- gründen, sind allbekannt. Die Kette der auf einander folgenden Gene- rationen ist hier aus zwei oder mehreren verschiedenen Gliedern zu- sammengesetzt, die alterniren. Nur die mittelbaren Descendenten jedes Individuums sind demselben nahezu gleich oder nur sehr wenig ver- schieden, während die unmittelbaren Descendenten einen geringeren oder höheren Grad bemerkbarer Abweichung zeigen. In sehr vielen menschhchen Familien z. B. besitzen die Kinder, sowohl in psychischer als in somatischer Beziehung, eine weit auffallendere Aehnlichkeit mit ihren Grosseltern, als mit ihren Eltern. Dasselbe ist an den Haus- thieren sehr oft zu beobachten. Es bleibt also hier ein Theil der am meisten auffallenden und das Individuum auszeichnenden (individuellen) Charaktere eine oder mehrere Generationen hindurch latent , ohne sicht- bare Uebertragung durch die unmittelbare Fortpflanzung, um erst nach Verlauf derselben plötzlich wieder in einer entfernteren Generation zu Tage zu treten. Dieses Gesetz ist äusserst wichtig für die Erklärung des Gene- rationswechsels, da offenbar ein sehr grosser (vielleicht der grösste) 182 Die Descendenz - Theorie und die Selections - Theorie. Theil der verschiedenen Metagenesis - Formen unmittelbar durch eine lai;vge Zeit hindurch fortgesetzte und dadurch befestigte „latente Ver- erbung" entstanden ist. So lässt sich z. B. der Generationswechsel der Salpen sicher auf diese Weise erklären, indem sich allmählich die un- mittelbar auf einander folgenden Generationen (Eltern und Kinder) mehr und mehr differenzirten , während die dritte Generation (Enkel) immer wieder in die erste Generation zurückschlug , so dass Enkel und Grosseltern einander constant gleich wurden. Wenn wir verschiedene Formen des Generationswechsels in dieser Beziehung vergleichen, so können wir mehrere- verschiedene Modificationen der latenten Erblichkeit unterscheiden, zunächst je nachdem eine oder zwei oder mehrere Ge- nerationen überschlagen werden, ehe der ursprüngliche Charakter der Stammeltern sich wieder geltend macht. Bezeichnen wir die unmittel- bar auf einander folgende Kette der Generationen mit den laufenden Buchstaben des Alphabets, so ist I, im ersten Falle, bei Ueberschla- gung einer Generation (z. B. beim Generationswechsel der Salpen) , A = C = E = G und ebenso B = D = F = H etc.; II, im zweiten Falle, bei Ueberschlagung zweier Generationen (z. B. beim Generationswechsel vieler Treraatoden etc. , einiger Arten von Dolinlvm) A = D = G und ebenso B = E = H , ferner C = F = J u. s. w. In denjenigen weiteren Fällen, wo mehr als zwei Generationen überschlagen -werden, com- pliciren sich die Verhältnisse oft ausserordentlich. Wir wollen jedoch auf dieselben hier um so weniger eingehen, als fast noch nichts ge- schehen ist, um den Generationswechsel vom Gesichtspunkt der Ver- erbungsgesetze aus zu erklären. Wenn ein individueller Charakter eine längere Reihe von Gene- rationen hindurch latent bleibt, und erst nach Einschaltung einer grös- seren Anzahl verschieden gebildeter Zwischen - Generationen wieder zur Geltung kommt, so bezeichnet man diese Modification der latenten Erb- lichkeit als Rückschlag. Bekanntlich spielt derselbe bei der Züch- tung unserer Hausthiere und Culturpfianzen eine ausserordentlich grosse und wichtige Rolle, und es ist erstaunlich, welche ausserordentlich lange Reihe von Generationen verstreichen kann, ehe gewisse auszeichnende Charaktere einer alten Stammform wieder zur Geltung kommen. Dies gilt z. B. von den bisweilen auftretenden Streifen an unseren einfarbi- gen Pferden, welche als Rückschlag in ihre uralte gestreifte Stammform erklärt werden müssen. Dasselbe beobachtet man sehr häufig bei der „Verwilderung" domesticirter Formen, z. B. der Obstsorten, des Kohls etc. Regelmässig tritt dieselbe Erscheinmig in vielen Formen des Genera- tionswechsels (z. B. bei den Blattläusen, vielen Phanerogamen) auf, wo die geschlechtlich entwickelten Generationen nur periodisch auftreten, nachdem eine längere oder kürzere Reihe von Zwischen - Generationen eingeschaltet worden ist. IV. Erblichkeit und Vererbung. 183 3. Gesetz der geschlechtlichen Vererbung. (Lex hereditatis sexnalia.) Bei allen Organismen mit getrennten Geschlechtern vererben sich die primären und secundären Sexualcharak- tere einseitig fort; d. h. es gleichen die männlichen De- scendenten in der wesentlichen Summe der secundären Se- xual-Charaktere mehr dem Vater, die weiblichen mehr der Mutter. Dieses Gesetz ist von grosser Bedeutung für die Conservation, Befestigung und weitere Diiferenziruug der Geschlechtsunterschiede, und besonders der secundären Sexualcharaktere, bei den amphigonen Or- ganismen. Wir verstehen darunter diejenigen Unterschiede der bei- den Geschlechter, welche dieselben, auch abgesehen von der Differenz der primären Sexualcharaktere (der unmittelbar die Fortpflanzung be- wirkenden Geschlechtsorgane), unterscheiden. Solche secundäre Ge- schlechtseigenthümlichkeiten sind sowohl unter den niederen als unter den höheren Thieren mit getrennten Geschlechtern sehr allgemein ver- breitet : es gehören dahin z. B. die ausgezeichneten Unterschiede der ge- sammten Köperform und Grösse, welche die getrennten Geschlechter vie- ler Hydroidpolypen , vieler Insecten, Crustaceen etc. zeigen, ferner die auffallenden Differenzen in Grösse, in Färbung des Federkleides, in der Bildung gewisser Zierrathe (z. B. Hahnenkamm) der Vögel, ferner die meist bloss dem männlichen Geschlechte eigenen Geweihe, Hörner, Haar- büschel etc. der Wiederkäuer. Beim Menschen gehört dahin der Bart und die entwickeltere Muskelkraft, Willensthätigkeit und Denkthätig- keit des Mannes, die zartere Beschaffenheit und geringere Behaarung der Haut, die entwickeltere Empfindungsthätigkeit des Weibes. Alle diese nur einem der beiden Geschlechter zukommenden Eigenthümlichkeiten werden von demselben nach dem obigen „Gesetz der sexuellen Ver- erbung" in der Regel nur auf das eine der beiden Geschlechter und zwar auf das entsprechende weiter vererbt. So bleiben im Laufe lan- ger Generations- Reihen die männlichen Individuen den männlichen Vor- fahren, die weiblichen Individuen den weiblichen Vorfahren gleich oder doch in allen wesentlichen Charakterzügen sehr ähnlich. 4. Gesetz 'der gemiscMen oder beiderseitigen Vererbung. (Lex hereditatis mixtae s. amphigonae.) Bei allen Organismen mit getrennten Geschlechtern vererben sich die nicht sexuellen Charaktere gemischt fort, d. h. es gleichen die männlichen Descendenten zwar in den meisten und wichtigsten Charakteren mehr dem Vater, aber in einigen auch mehr der Mutter, und ebenso gleichen 184 Die Descendenz - Theorie und die Selections - Theorie. die weiblichen Descendenten zwar in den meisten und wichtigsten Charakteren mehr der Mutter, aber in einigen auch mehr dem Vater. Dieses Gesetz scheint dem vorigen, dem der sexuellen Vererbung, in gewisser Beziehung zu widersprechen und es ist in der That eine Modificatiou desselben. Es verhält sich zu jenem ähnlich, wie das Gesetz der latenten zu dem der continuirlichen Vererbung. Wahr- scheinlich ist es sehr allgemein herrschend, allein gewöhnlich schwer zu constatiren, weil die betreffenden „gekreuzten" Charaktere, welche vom Vater auf die Tochter, von der Mutter auf den Sohn übergehen, meist untergeordneter Natur oder doch für unsere groben Beobachtungs- Mittel schwer oder gar nicht wahrzunehmen sind. Von der grössten Bedeutung ist das Gesetz der gemischten Vererbung für die Erschei- nungen der Bastard- Zeugung und Kreuzung. Die Hybridismus- Gesetze, welche gegenwärtig sich noch nicht scharf formuliren lassen, werden grossentheils auf dieses Gesetz zurückzuführen sein. Am deut- lichsten gewahren wir die Wirkungen der gemischten Vererbung bei Betrachtung der Erblichkeits- Erscheinungen am Menschen selbst, wel- cher überhaupt für das Studium der gesammten Erblichkeitsgesetze weit interessantere und lehrreichere Beispiele liefert, als die meisten ande- ren Thiere. Es hängt dies theils ab von der grösseren individuellen Dilferenzirung des Menschen, theils von unserer grösseren Fähigkeit, die feineren Differenzen in Form und Function hier zu erkennen. Nun ist es allbekannt, wie allgemein in den menschlichen Familien die ge- mischte oder gekreuzte Vererbung herrschend ist, wie der eine Junge oder das eine Mädchen in dieser oder jener Beziehung bald mehr dem Vater, bald mehr der Mutter gleicht. Grade durch diese Mischung der Charaktere von beiden Geschlechtern in den Nachkommen wird die unendliche Mannichfaltigkeit der individuellen Charaktere in erster Linie bedingt. Bekannt ist, was Goethe in dieser Beziehung von sich aussagt: „Vom Vater hab ich die Statur , Des Lebens ernstes Führen; Vom Mütterchen die Frohnatur Und Lust zu fabuliren." 6. Gesetz der abgekürzten oder Vereinfachten Vererbung. (Lex hereditatis abbreviatae s. simplicatae.J Die Kette von ererbten Charakteren, welche in einer bestimmten Reihenfolge successiv während der individuel- len Entwickelung vererbt werden und nach einander auf- treten, wird im Laufe der Zeit abgekürzt, indem einzelne Glieder derselben ausfallen. IV. Erblichkeit und Vererbung. 185 Obgleich im Ganzen die individuelle Entwickelungsgeschichte jedes organischen Individuums eine kurze "Wiederholung der langen paläonto- logischen Entwickelung seiner Vorfahren , die Ontogenie eine kurze Re- capitulatiou der Phylogenie ist, so müssen wir dennoch als eine sehr wichtige Ergänzung dieses fundamentalen Satzes hinzufügen, dass diese Wiederholung niemals eine ganz vollständige ist. Es finden bei jeder individuellen Entwickelungsgeschichte zahlreiche Abkürzungen und Ver- einfachungen statt, indem nach und nach die vollständige Kette aller derjenigen Veränderungen, welche die Vorfahren des Individuums durch- liefen, durch Ausfall einzelner Glieder immer kürzer zusammengezogen und dadurch immer unvollständiger wird. Wie Fritz Müller in sei- ner ausgezeichneten und höchst nachahmungswürdigen Schrift über die Morphogenie dei" Crustaceen ^) schlagend gezeigt hat, „wird die in der individuellen Enwickelungsgeschichte erhaltene geschichthche Urkunde allmählich verwischt, indem die Entwickelung einen immer geraderen Weg vom Ei zum fertigen Thiere einschlägt, und sie wird häufig ge- fälscht durch den Kampf ums Dasein, den die frei lebenden Larven zu bestehen haben. Die Urgeschichte der Art (Phylogenie) wird in ihrer Entwickelungsgeschichte (Ontogenie) um so vollständiger erhalten sein, je länger die Reihe der Jugendzustände ist, die sie gleichmässi- gen Schritts durchläuft, und um so treuer, je weniger sich die Lebens- weise der Jungen von der der Alten entfernt, und je weniger die Eigen- thümlichkeiten der einzelnen Jugend zustände als aus späteren in frü- here Lebensabschnitte zuriickverlegt oder als selbstständig erworben sich auffassen lassen." Je verschiedenartiger die Existenzbedingungen sind, unter denen das Individuum in den verschiedenen Zeitabschnitten sei- ner Entwickelung lebt, desto mehr wird dasselbe sich diesen anpassen müssen und dadurch von der Entwickelung seiner Vorfahren entfernen. Je heftiger der Kampf um das Dasein ist, den die jungen Individuen und die Larven zu bestehen haben, desto mehr ist es für sie von Vor- theil, wenn sie möglichst rasch den vollendeteren späteren Zuständen sich nähern, und indem also die schneller sich entwickelnden, bei de- nen die Ontogenesis zufällig abgekürzt wird, oder bei denen einzelne 1) Fritz Müller, Für Darwin. Leipzig. W. Eiigelmann 1864. Wir können diese geistvolle und höchst wichtige Schrift , welche ein Muster denkender Naturforschung liefert, hier nicht envähnen, ohne dieselbe als ein unübertroffenes Beispiel monistisch- causaler Behandlung der Entwickelungsgeschichte besonders hervorzuheben, und ohne darauf aufmerksam zu machen, wie dieselbe durch die wichtige Verbindung der indivi- duellen und der paläontologischen Entwickelungsgeschichte einige der schwierigsten und verwickeltsten Fragen der thierischen Morphologie zu einer ebenso klaren als einfachen Lösung führt. Wenn die von Fritz Müller meisterhaft durchgeführte Behandlung eini- ger der schwierigsten morphogenetischen Aufgaben erst allgemein geworden sein wird, so wird unsere W^issenschaft 'auf den gegenwärtigen Zustand der Morphologie als auf ein Stadium unbegreiflicher Gedankenlosigkeit zurückblicken. 186 Die Descendenz -Theorie und die Selections- Theorie. Abschnitte derselben ausfallen, dadurcb einen Vortheil im Kampf um das Dasein erlangen, werden sie die langsamer sich entwickelnden über- leben, und so ihre individuelle schnellere Entwickelungsweise als eine nützliche „Abkürzung oder Vereinfachung der Entwickelung" auf ihre Nachkommen vererben. Wenn diese Vereinfachung weit geht, so kann sie selbst bei nächst verwandten Arten eine sehr verschiedene Ontoge- nese bedingen. So ist z.B. nach Fritz Müllers schöner Entdeckung die gemeinsame ursprüngliche Larvenform der Podophthalmen und vieler niederer Crustaceen, der Navpliiis, bei den allermeisten stiel- äugigen Krebsen, wo derselbe späterhin in die Zoed-Yavm übergeht, durch Vereinfachung der Entwickelung verschwunden, und nur bei einigen Garneelen (Penevs) übrig geblieben. Bei den letzteren ist also nicht dieselbe Abkürzung der Vererbung (durch Ausfall des Navplins- Stadiums) eingetreten , wie bei den meisten anderen Podophthalmen, wo die Zoea unmittelbar aus dem Ei kommt. In ähnhcher Weise er- klärt uns die Abkürzung oder Vereinfachung der Entwickelung viele der wichtigsten ontogenetischen Erscheinungen, besonders bei den hö- heren Thieren und Pflanzen. Eb. Gesetze der progressiven Vererbung. 6. Gesetz der angepassten oder erworbenen Vererbung. (Lex hereditatis adaptatae s. accommodatae.) Alle Charaktere, welche der Organismus während sei- ner individuellen Existenz durch Anpassung erwirbt, und welche seine Vorfahren nicht besassen, kann derselbe un- ter günstigen Umständen auf seine Nachkommen vererben. Gleichwie alle von den Voreltern ererbten, so können auch alle neu erworbenen Eigenschaften der Materie durch die Vererbung fortgepflanzt werden. Es giebt keine morphologischen und physiologischen Eigen- thümlichkeiten, welche das organische Individuum durch die Wechsel- wirkung mit der umgebenden Aussenwelt erwirbt, mit einem Worte keine „Anpassungen", welche nicht durch Vererbung auf die Nachkom- menschaft übertragen werden könnten. Dieses grosse Gesetz ist von der höchsten Wichtigkeit, weil darauf unmittelbar die Veränderlichkeit der Arten, die Möglichkeit, dass verschiedene neue Speeles aus einer vor- handenen hervorgehen, beruht. Wir kennen in der That kerne einzige, in die Mischung, Form oder Function des Organismus eingreifende Ver- ändemng, welche nicht unter bestimmten (uns gewöhnlich ganz unbe- kannten) Verhältnissen auf wenige oder auf viele Generationen hinaus vererbt werden könnte. Am leichtesten geschieht dies, wenn die Ver- änderung sehr langsam und allmählich erfolgt (wie z. B. bei Erwerbung chronischer Krankheiten, die viel leichter als acute vererbt werden). IV. Erblichkeit und Vererbung. 187 Am schwersten dagegen tritt die Vererbung der Veränderung ein, wenn die letztere ganz plötzlich (z. B. traumatisch) erfolgte i). Gewöhnlich springen die Fälle, wo eine plötzlich aufgetretene Veränderung auf eine oder mehrere Generationen vererbt wird, sehr deutlich dann in die Augen-, wenn die betreffende Veränderung eine „monströse" ist, d. h. einzelne Theile des Organismus in ungewöhnlicher Zahl, Grösse, Form oder Farbe entwickelt zeigt, so z. B. die Fälle, in denen sechs Finger an jeder Hand mehrere Generationen hindurch beim Menschen vererb- lich blieben, ferner die berühmten Stachelschwein - Menschen aus der Familie Lambert, wo eine eigenthümliche schuppenähnliche monströse Hautbildung von Edward Lambert an (1735) sich durch mehrere Generationen auf die Nachkommen vererbte, und zwar bloss auf und durch die männlichen Nachkommen. Auch die häufigen Fälle von erblichem Albinismus gehören hierher, ferner die Fälle, wo ein einzel- ner Schafbock oder Ziegenbock mit keinem oder mit 4 — 8 Hörnern ge- boren wurde, und nun diesen individuellen Charakter auf seine Nach- kommen übertrug. Viel wichtiger, als diese monströsen, auffallend vortretenden Ab- änderungen, welche durch die angepasste Vererbung übertragen wer- den, sind die unscheinbaren und geringfügigen Abänderungen, welche erst im Laufe von Generationen durch Häufung und Befestigung ihre hohe Bedeutung für die Umbildurg der organischen Form erhalten. Die gesammten Vorgänge der künstlichen Züchtung liefern in dieser Beziehung für das Gesetz der angepassten Vererbung eine lange Be- weiskette. 7. Gesetz der befestigten Vererbung. (Lex hereditatis constitutae.) Alle Charaktere, welche der Organismus während sei- ner individuellen Existenz durch Anpassung erwirbt, und welche seine Vorfahren nicht besassen, werden um so si- cherer und vollständiger auf alle folgenden Generationen vererbt, je anhaltender die causalen Anpassungs-Bedin- gungen einwirkten, und je länger sie noch auf die nächst- folgenden Generationen einwirken. Die grosse Bedeutung dieses Gesetzes ist wegen seiner ungemeinen praktischen "Wichtigkeit für die künstliche Züchtung allgemein aner- 1) Gewöhnlich werden bekanntlich traumatische oder durcli Verwundung entstandene Veränderungen nicht vererbt. Um so wichtiger ist es, die Fälle aufzubewahren, in denen dies doch bisweilen geschieht. So wurden kürzlich, wie mir Herr Hofrath Stöckhardt als sicherer Ocwährsniaim mittlieilte , auf einem Gute in der Nähe von Jena mehrere schwanzlose Kälber geboren, deren Vater der Schwanz beim unvoi'sichtigen Zuschlagen eines Thores eingeklemmt und abgequetscht worden war. 188 Die Descendenz - Theorie und die Selections- Theorie. kannt. Jeder Gärtner und Landwirth weiss, dass neu erschienene Ab- änderungen von Thieren und Pflanzen auf die Nachkommenschaft nur dann dauernd übertragen und befestigt werden können, wenn die Ursache, welche die Veränderung bedingte, entweder wiederholt, oder längere Zeit hindurch, am sichersten, wenn sie andauernd durch eine Reihe von vielen Generationen einwirkte. Ist dies nicht der Fall, so schlägt die veränderte Form in ihrer Nachkommenschaft sehr leicht wieder in die Stammform zurück.. Die Befestigung aber ist um so tiefer, je länger die Ursache einwirkte. Jeder Organismus besitzt in dieser Be- ziehung einen gewissen Elasticitätsgrad. Wenn die Biegung der elasti- schen Form längere Zeit durch einen biegenden äusseren Einfluss er- halten wird, so bleibt sie nach dem Aufliören dieses Einflusses von selbst bestehen, während sie in den früheren, nicht gebogenen Zustand zurückschnellt, wenn der biegende Einfluss sie nur kurze Zeit zur Bie- gung zwang. Wie in einem künstlich gebogenen elastischen Metallstabe sich die Moleküle des Metalls bei längerer Dauer der Biegung so an- ordnen, dass sie auch nach Aufhören derselben diese Anordnung bei- ' behalten, dagegen in ihre frühere Anordnung zurückkehren, wenn die biegende Kraft nur kurze Zeit einwirkte, so verhalten sich auch die Moleküle de? Eiweisses in einem Organismus, welcher durch die An- passung „gebogen" wird. Die allgeöieine Gültigkeit des Gesetzes von der „Befestigung der Vererbung" ist so bekannt, dass wir kaum Bei- spiele anzuführen brauchen. Jeder Landwirth kann eine neue Abän- derung einer Thierform, jeder Gärtner eine neue Anpassung einer Pflan- zenform nur dadurch „erhalten" und dauerhaft erhalten , d. h. befesti- gen, wenn er sorgfältig darauf achtet, dass die neue Form erst einige Generationen hindurch unter denselben Bedingungen erhalten und „rein" fortgepflanzt wird. Wenn hierbei nicht die uöthige Vorsicht angewen- det wird, so schlägt die veränderte Form schon in den ersten Genera- tionen wieder in die ursprüngliche Stammform zurück. Es steht also der Grad der Befestigung einer Verändenmg (eines erworbenen Charakters) in gradem Verhältnisse zur Zeitdauer des verändernden Einflusses und zur Zahl der Generationen, durch welche er sich bereits vererbt hat. 8. Gesetz der gleichörtlichen Vererbung. (T^x hereditatin homotopae.J Alle Organismen können die bestimmten Veränderun- gen irgend eines Körpertheils, welche sie während ihrer individuellen Existenz durch Anpassung erworben haben, und welche ihr-e Vorfahren nicht besassen, genau in der- selben Form auf denselben Körpertheil ihrer Nachkommen vererben. Auch dieses Gesetz der gleichörtlichen oder homotopen Vererbung IV. Erblichkeit und Vererbung. 189 hat im ganzen Thier - und Pflanzen - Reiche so allgemeine Geltung, dass man sich niemals über diese alltägliche Erscheinung wundert. Und doch ist dieselbe von der grössteu Bedeutung; denn es kann kaum et- was Wunderbareres und schwerer zu Erklärendes geben, als die allbe- kannte Thatsache, dass der Organismus einen localen Charakter, den er während seiner individuellen Existenz erworben hat, auch genau auf denselben Körpertheil seiner Nachkommen überträgt. In der That ist ' der unvermeidliche und nothwendige Gedanke äusserst schwierig zu verfolgen, dass das Zoosperm des Vaters und die Eizelle der Mutter, j diese minimale Quantität einer formlosen Eiweiss - Verbindung , eine I äusserst geringfügige und unbedeutende Abänderung, welche irgend ein Körpertheil der Eltern zu irgend einer Lebenszeit erfahren hat, genau 1 auf denselben Körpertheil des Embryo oder selbst erst des erwach- senen Organismus überträgt, der sich aus jenem, vom Zoosperm be- fruchteten Eie epigenetisch entwickelt und erst allmählich zur specifischeu Form differenzirt hat. Und doch sehen wir diese Thatsache alltäglich verwirklicht vor Augen. Sie giebt uns einen Begriff von der unend- : liehen Feinheit der organischen Materie und der unbegreiflichen Com- ipHcation der in derselben stattfindenden Molecular - Bewegungen , zu (deren richtiger Würdigung gegenwärtig weder das Beobachtungs - Ver- 1 mögen unserer Sinne, noch das Denk -Vermögen unsers Verstandes aus- I reicht. In der auffallendsten Weise offenbart sich das Gesetz der homo- ttopen oder gleichörtlicheu Vererbung in den häufigen Fällen, in denen t ein menschliches Individuum eine ihm eigenthümliche, von seinen Vor- t eitern nicht besessene, und äusserhch leicht wahrnehmbare Verände- irung in der Grösse, Form, Farbe etc. eines bestimmten Organs zeigt, (die sich gleicherweise au dem gleichen Organe seiner Nachkommen 1 wiederholt. Sehr deutlich ist dies wahrzunehmen an den sogenannten .„Muttermalen" oder „Lebei-flecken" , localen Pigmentanhäufungen' an • den verschiedensten Stellen der Haut, die sehr häufig bei allen oder »doch bei einigen Nachkommen dieses Individuums Generationen hin- < durch an genau derselben Stelle der Haut wieder erscheinen. Dasselbe jzeigen sehr auffallend die gefleckten Spielarten unserer Hausthiere und (Culturpflanzen, bei denen unter gewissen 'Bedingungen dieser oder jener .^auffallende Pigmentfleck, der unvermittelt in einer Generation zum fersten Male aufgetreten ist, nun in ganz gleicher Form, Grösse und IFarbe an derselben Stelle des Körpers der Nachkommen wieder auftritt. IFemer ist dasselbe bekanntlich in ausgezeichneter Weise an vielen pa- tthologischeu Erscheinungen wahrzunehmen. Eine krankhafte Verände- rrung eines inneren oder äusseren Organs, (z. B. eine Hypertrophie, .'Atrophie, chronische Entzündung), welche von einer einzelnen Person »während ihres Lebens erworben ist, kehrt sehr oft in genau derselben 190 Die Desceudenz - Theorie und die Selections - Theorie. Form an demselben Organe der Nachkommenschaft wieder. Wenn wir aber vom weiteren Standpunkte aus das Gesetz der homotopen oder gleichörtlichen Vererbung betrachten, so erkennen wir darin, wie in dem folgenden Gesetze der homochronen oder gleichzeitlichen Vererbung, eines der ersten und wichtigsten Grundgesetze der gesammten Em- bryologie und der Ontogenie überhaupt. 9. Gesetz der gleichzeitlichen Yererbung. (Lex hereditatis homochronae.J Alle Organismen können die bestimmten Veränderun- gen, welche sie zu irgend einer Zeit ihrer individuellen Existenz durch Anpassung erworben haben, und welche ihre Vorfahren nicht besassen, genau in derselben Lebens- zeit auf ihre Nachkommen vererben. Dieses Gesetz ist gleich dem vorigen von der äussersten Wichtig- keit für die Erklärung der allgemeinen Erscheinungen der Embryologie und der Ontogenie überhaupt. Darwin, der zuerst hierauf hingewie- sen hat, nennt dasselbe das „Gesetz der Vererbung in corre- spondirendem Lebens- Alter." Bequemer ist der kürzere Aus- druck: Gesetz der gleichzeitlichen (oder homochronen) Vererbung. Auch die Wirkungen dieses Gesetzes sind, wie die des vorigen, so alltäglich zu beobachtende, und so allgemeine, dass sie eben desshalb noch nie- mals besondere Bewunderung erregt und zu eingehender Untersuchung Veranlassung gegeben haben. Und doch sind auch sie von der gröss- ten biologischen Bedeutung, und gehören zu den wunderbarsten und am schwersten zu erklärenden Erscheinungen, welche überhaupt in der Natur vorkommen. Denn ist nicht wirklich die allbekannte Thatsache äusserst wunderbar, dass eine bestimmte Veränderung, welche der Kör- per eines Organismus zu irgend einer Zeit seines Lebens erlitten hat, genau zu derselben Zeit auch an seinen Nachkommen wiederkehrt? Auch hier können wir kaum begreifen, wie die feinen Molecularbewe- gungen des Plasma, welche solchen Veränderungen zu Grunde liegen, beim Zeuguugsact in der Weise mittelst des Sperma oder des Eies auf den gezeugten kindlichen Organismus von den Eltern übertragen wer- den, dass sie eine ganz bestimmte Zeit hindurch an dem Kinde mcht zur Erscheinung kommen (also latent existiren) und erst dann bemerk- bar werden, wenn der kindliche Organismus in dieselbe Lebensperiode eingetreten ist, in welcher der elterliche jene Veränderung erworben hat. Die Beispiele auch für diesen höchst wunderbaren Vorgang sind in der That zahllose, da die gesammte individuelle Entwickelmigsge- schichte der Organismen als Illustration dieses Gesetzes angesehen wer- den muss. Besonders auffallende Beispiele liefert aber auch hier wie- • der der so fein diifereiizirte und so mamiichfaltig abändernde mensch- V. Veränderlichkeit und Anpassung. 191 liehe Organismus. Namentlich sind hier häufig und allbekannt viele merkwürdige Thatsachcn aus der Pathologie, wie z. B. die gleichzeit- liche Vererbung von Krankheiten der Ernährungsorgane, des Darmes, der Leber , der Lungen etc. Alle diese Erkrankungen Aviederholen sich gewöhnlich in den Familien, wo sie erblich werden, an den Nachkom- men genau zu derselben Zeit, zu welcher die Eltern sie zum ersten Male erworben haben. Ferner sehen wir dasselbe Gesetz bestätigt an unseren Hausthieren und Culturpflanzen , wo ebenfalls sehr häufig auf- fallende äussere Veränderungen (z. B. in Form und Grösse einzelner Organe), die in späterer Lebenszeit erst von einem einzelnen Individuum erworben wurden, sich auf die Nachkommen desselben vererben, an- fänglich aber latent sind, und erst dann sichtbar werden, wenn das entsprechende spätere Lebensalter erreicht ist. Wenn dagegen eine tiefe Veränderung der Organisation , wie es sehr häufig der Fall ist , bereits in sehr früher Lebenszeit des Individuums, während seiner embryonalen Entwickelung eintritt, so erscheint dieselbe auch an seinen Nachkommen zur selbigen frühen Zeit waeder, und es werden die letzteren, gleich dem erstereu, bereits mit dieser Veränderung geboren. Auch dieses äusserst wichtige, von den Erscheinungen der em- bryonalen Entwickelung (Ontogenese) inductiv abgeleitete Gesetz der ho- mochrouen Vererbung erlaubt gleich demjenigen der homotopen Ver- erbung die weiteste deductive Anwendung auf das Gebiet der paralle- len palaeontologischen Entwickelung (Phylogenie) und es ergiebt sich hieraus z. B. , warum die Kälber hörnerlos geboren werden und ihre Hörner erst später erhalten, warum die Kaulquappen zuerst in fisch- ähnlicher Form existiren und erst später die ausgebildete schwanzlose Froschform annehmen u. s. w. V. Veränderlichkeit und Anpassung. (Variabilitas. Adaptatio.) V, A. Thatsache und Ursache der Anpassung. Die Anpassungsfähigkeit (Adaptabilitas) oder Veränder- lichkeit (Variabilitas) als virtuelle Kraft, und die Anpassung (Adaptatio) oder Abänderung (Variatio) als actuelle Leistung der organischen Individuen, sind allgemeine physiologische Fun- ctionen der Organismen, welche mit der fundamentalen Function der Ernährung unmittelbar zusammenhängen und eigentlich nur eine Theilerscheinung der letzteren darstellen. Sie äussern sich in der Thatsache, dass jeder Organismus sich während seiner individuellen Existenz in einer von den Erbliclikeits- Gesetzen unabhängigen Weise, lediglich durch den Einfluss der ihn umgebenden Existenzbedingungen,' 192 Die Descendenz - Theorie und die Selections - Theorie. verändern, sich den letzteren anpassen und also Eigenschaften erwer- ben kann, welche seine Voreltern nicht besassen. Diese Erscheinung ist, wie die Erblichkeit, eine so allgemeine und alltäglich zu beobach- tende, dass sie, eben wegen dieser Allgemeinheit, von der gewöhn- lichen oberflächlichen Naturbetrachtung entweder gar nicht in Betracht gezogen oder doch in ihrer fundamentalen Bedeutung für die Cha- rakterbildung des ganzen Organismus bei weitem unterschätzt wird. Am bekanntesten, weil von unmittelbarer praktischer Bedeutung, sind diejenigen Erscheinungen der Veränderlichkeit und Anpassung, wel- che als Angewöhnung, Erziehung, Dressur, Erkrankung u. s. w. so vielfältig in das Cülturleben des Menschen eingreifen. Alle diese Er- scheinungen beruhen auf Veränderungen der Organismen, die durch ihre Anpassungsfähigkeit bedingt sind. Der allgemeinste Ausdruck für das Grundgesetz der Anpassung dürfte sich in dem Satze finden lassen: „Kein organisches Individuum bleibt den anderen absolut gleich." Die Ursachen der Veränderlichkeit und die Gesetze ihrer vielfachen Modificationen sind, ebenso wie diejenigen der Erblichkeit, bisher noch äusserst wenig untersucht. Sie hängen aber offenbar di- rect zusammen mit den Gesetzen der Selbsterhaltung und speciell mit den Gesetzen der Ernährung des Organismus; und bestehen wesentlich in einer materiellen Wechselwirkung zwischen Theilen des Organismus und der ihn umgebenden Aus - senwelt. Alle, auch die verschiedenartigsten und scheinbar von der Ernährungsfunction unabhängigsten Anpassungs - Erscheinungen sind physiologische Functionen, welche sich in letzter Instanz als Ernäh- rungs- Veränderungen des Organismus nachweisen lassen. Wenn wir sagen, dass diese oder jene Veränderung des Körpers „durch Uebung, durch Gewohnheit, durch Wechselbeziehungen der Entwickelung" u. s. w. entstehe, so erscheint es zunächst, dass diese Ursachen der Anpas- sung ganz selbstständige organische Functionen seien. Sobald wir aber denselben näher nachgehen und auf den Grund derselben zu kommen suchen, so gelangen wir zu dem Resultate, dass alle diese Functionen ohne Ausnahme zuletzt wieder von der Ernährungs-Function abhängig sind. Die Veränderlichkeit oder Anpassungs - Fähigkeit ist also keinesweges eine besondere organische Function, wie dies sehr häufig angenommen wird. Vielmehr ist es sehr wichtig festzuhalten, dass alle Anpassungs-Erscheinungen in letzter Instanz auf Ernährungs- Vorgängen beruhen, und dass die materiellen, physikalisch - chemischen Processe der Ernährung ebenso die mechanischen Causae efticientes der Anpassung und der Abänderung sind, wie die materiellen physio- logischen Processe der Fortpflanzung die bewirkenden Ursachen der A'ererbung sind. V. Veränderlichkeit und Anpassung. 193 Wie wir im dritten Abschnitt des fünften Capitels ausführten, ist die gesammte Form jedes individuellen Naturkörpers das nothwendige Resultat aus der Wechselwirkung zweier entgegengesetzter Potenzen, eines äusseren und eines inneren Bildungstriebes. Bei allen organi- schen Individuen ist der äussere Bildungstrieb oder die äussere' Gestaltungskraft (Vis plastica externa) identisch mit der physikalisch- chemischen Wechselwirkung des Organismus und der umgebenden Aus- sen weit, und insofern diese durch die Ernährung vermittelt wird, identisch mit der Anpassung. V,B. Anpassung und Ernährung. Die Ernährung (Nutritio), welche auf dem organischen Stoff- wechsel beruht, haben wir im fünften Capitel des zweiten Buches als die allgemeinste und fundamentalste physiologische Function aller Or- ganismen nachgewiesen, als diejenige, welche zum Bestehen aller Or- ganismen ohne Ausnahme nothwendig ist, und als diejenige, aus wel- cher alle übrigen Functionen, auch die Fortpflanzung, unmittelbar oder mittelbar sich ableiten lassen. Die Ernährung ist zugleich diejenige physikalisch -chemische Leistung der Organismen, welche dieselben am durchgreifendsten von den Anorganen unterscheidet. Die Selbst- erhaltung der organischen Individuen ist nur durch den mit der Ernährung unzertrennlich verbundenen Stoff- wechsel möglich, während die Selbsterhaltung der anorganischen Individuen (Krystalle etc.) gerade umgekehrt nur durch den Ausschluss jedes Stoffwechsels, durch das Beharren in der durch das Wachsthum erlangten Form möglich ist. Die Existenz der anorganischen In- dividuen ist also an die Co n stanz der gegenseitigen Lagerung und Verbindung der Moleküle ihres Körpers, die Existenz der organischen Individuen gerade umgekehrt an den Wechsel der gegenseitigen La- gerung und Verbindung der Moleküle ihres Körpers geknüpft, und an den Ersatz der durch die Lebensthätigkeit verbrauchten Stofftheilchen durch neue Stofftheilchen, welche von aussen aufgenommen werden. Dieser Stoffwechsel, welcher allen Ernährungs -Erscheinungen zu Grunde liegt, ist' nun zugleich die Ursache und die Grundbedingung aller der Veränderungen, welche der Organismus durch Anpassung eingeht. Wenn wir die letzten Ursachen des Stoffwechsels aufsuchen, so gelangen wir wiederum zu den eigenthümlichen , im fünften Capitel ausführlich erörterten chemischen und physikalischen Eigenschaften der „organischen" Materien, und vor allen der wichtigsten und complicir- testen dieser Kohlenstoff- Verbindungen , der Eiweisskörper oder Albu- minate. Die ausserordenthchc Imbibitionsfähigkeit dieser Materien, ihr starkes Vermögen, durch Quellung bedeutende Flüssigkeitsmengen 'z wi- Haeckel, OencreUe Morphologie, II. -,0 194 Die Descendenz - Theorie und die Selections -|Theorie. sehen die Moleküle aufzunehmen, bedingt die Möglichkeit, beständig die durch die Lebensthätigkeit verbrauchten Stoffe nach aussen abzu- führen, und dagegen neue brauchbare Stoffe von aussen einzuführen, zu assiiniliren. Die complicirte und lockere Verbindung der Atome in diesen Alburainaten zu höchst zusammengesetzten und leicht zer- setzbaren Atomgruppen bedingt ihre ausserordentliche Fähigkeit der Umsetzung, ihr ausgezeichnetes Vermögen, sich selbst zu verändern und verändernd , metabolisch auf' die benachbarten Stoffe einzuwirken. Dadurch ist aber zugleich den umgebenden Materien der Aussenwelt Gelegenheit gegeben, vielfach ändernd auf diese Eiweiss- Verbindun- gen einzuwirken , und in dieser Wechselwirkung zwischen beiden be- ruhen die Vorgänge der Ernährung und die unmittelbar damit zusam- menhängenden Vorgänge der Veränderung der organischen Formen, der Anpassung. Wir wissen, dass die complicirten Kohlenstoff- Verbmdungen der Eiweissgruppe die „lebendigen Materien" x«r e^oxrp>, die vorzugsweise activen „Lebensstoffe" sind, dass von ihnen als individualisirten Al- buminatstücken (Piastiden) die Bildung der übrigen organischen Ma- terien ausgeht. Alle organischen Individuen sind entweder emfache (einzelne Plastiden) oder zusammengesetzte (Plastiden-Complexe). Das einfache Individuum bleibt entweder, als Moner, auf der untersten Stufe eines ganz einfachen, formlosen oder geformten Alburainatklumpens stehen (nackter Plasma- Klumpen oder Gymnocytode) , oder es ent- wickelt sich der individualisirte Eiweissklumpen durch Differenzn-ung von Plasma und Hülle (Membran) zur Lepocytode, oder weiterhin durch Differenzirung von Plasma und Kern zur Zelle. Die wachsende Pla- stide vermehrt sich, wenn das Wachsthum die Grenze des individuellen Maases überschreitet, durch monogone Fortpflanzung, meistens durch Theilung oder Knospung. Ist die Ablösung des neu erzeugten Indi- viduums unvollständig, so entsteht ein zusammengesetzter polyplasti- der Orc-anismus, ein Form -Individuum zweiter oder höherer Ordnung, welches aus mehreren morphologischen Individuen erster Ordnung zu- sammengesetzt ist. Alle die unendlich mannichfaltigen Formen und Functionen, welche wir an diesen zusammengesetzten «Organismen wahr- nehmen, sind bedingt durch unendlich mannichfaltige Modificationen in der Lagerung der Moleküle in jenen Piastiden oder Eiweissklum- pen welche als Individuen erster Ordnung die letzten wirksamen Le- benseinheiten sind. Jene unendlich verschiedenartige Lagerung der Moleküle ist wiederum in der verschiedenartigen Ernährung der Plasti- den begründet, d.h. in der verschiedenartigen Wechselwirkung ihrer Plasma-Moleküle mit den verschiedenen Stoff- Molekülen ihrer Hin- gebung, und dieser unendlich complicirte und verschiedenartige Stofl- V. Yeränderlichkeit und Anpassung. 195 \veclisel ist die wirkende Ursache der unendlich complicirtcn und ver- schiedenartigen Anpassungen. V, C. Grad der Anpassung. Wenn wir die vorhergehenden, im fünften Capitel näher begrün- deten Erwägungen stets im Sinne behalten, so finden wir, dass alle die unendhch manniclif altigen und scheinbar so äusserst zweck- mässigen Anpassungen der Formen und Functionen der Organismen in letzter Instanz nichts Anderes sind, als nothwendige Folgen des unendhch mannichfaltigen Stoffwechsels, der unendlich mannich- taltigen Wechselwirkung zwischen den constituirenden Piastiden der Organismen und der sie umgebenden Aussenwelt, den unendlich man- iiichfaltigen Existenz -Bedingungen. Es waltet also auch hier, wie liberall in der Natur, das allgemeine Causal - Gesetz. Jede Verände- rung, jede Anpassung eines Organismus ist die nothwendige Folge aus dem Zusammenwirken von mehreren Ursachen , und zwar aus der Wechselwirkung der materiellen Theile des Organismus selbst und der materiellen Theile seiner Umgebung. Es muss demnach auch der Grad dder Abänderung oder Anpassung dem Grade der Veränderung in den ääusseren Existenz-Bedingungen entsprechen, welche mit dem Organismus iin Wechselwirkung stehen. Je grösser die Verschiedenheit in den Exi- sstenz- Bedingungen ist, unter welchen der Organismus und unter welchen sseine Eltern leben, desto intensiver wird die Einwirkung der ersteren sein uund desto grösser die Abänderung, d. h. die Differenz in der Beschaffenheit ides kindhchen (angepassteu) und des elterlichen Organismus. Ebenso wvird diese Differenz (die Anpassung) um so stärker sein, je längere Zeit Hindurch die umbildenden neuen Existenz -Bedingungen auf den kind- iiichen Organismus einwirken. Der Grad der Anpassung ist also mit ^^othwendigkeit causal bedingt durch den Grad und die Zeitdauer der :Sinwirkung veränderter Lebensbedingungen auf den Organismus. Der Grad der Wirkung steht in bestimmtem Verhältnisse zum Grade der Jrsache; So einfach und selbstverständlich dieses Gesetz ist, so wird es dennoch vielleicht nirgends häufiger übersehen und ignorirt, als in der Lehre von den Abänderungen und Anpassungen der Organismen von denen viele (und wohl die meisten!) Morphologen die Ansicht haben' das sie „von selbst" , d. h. ohne bestimmte vorhergegangene Ursache BDtstünden, oder gar in Folge eines ausserhalb der Materie befind- dchen „schöpferischen Gedankens". Dem gegenüber heben wir hier als oberstes Grundgesetz der Anpassung ausdrücklich folgenden Satz her- •mr: „Jede Anpassungs-Erscheinung (Abänderung) der Organismen ist durch die materielle Wechselwirkun«- zwi (ichen der Materie des Organismus und der Materie wel- che denselben als Aussenwelt umgiebt, bedingt, und der 13* 196 Die Descendenz- Theorie und die Selections - Theorie. Grad der Abänderung (d.h. der Grad der morphologischen und physiologischen Ungleichheit zwischen dem abgeänderten Organismus und seinen Eltern) steht in geradem Verhältnisse zu der Zeit- dauer und zu der Intensität der materiellen Wechselwir- kung zwischen dem Organismus und den veränderten Exi- stenz-Bedingungen der Aussenwelt." V, D. Indirecte und directe Anpassung. Bevor wir den Versuch machen, diejenigen Erscheinungen der Anpassung, welche als mehr oder minder bedeutende allgemeine Ge- setze der Variabilität sich schon gegenwärtig formuliren lassen, zu unter- scheiden, ist es nothwendig, den Unterschied hervorzuheben, welcher zwischen zwei wesentlich verschiedenen Hauptformen der Anpassung, der directen und der indirecteu Adaptation besteht. Zwar ist dieser Unterschied bisher noch kaum urgirt worden; doch erscheint er uns von solcher Bedeutung, dass wir glauben, alle verschiedenen Variabi- litäts-Phaenomene entweder als Wirkungen der directen oder der m- directen Anpassung betrachten zu können. Directe Anpassungen nennen wir solche, welche durch eme unmittelbare Ernährungs- Veränderung des Organismus zu irgend einer Zeit seiner individuellen Existenz veranlasst werden und noch während derselben durch bestimmte Veränderungen der Mischung, Function und Form in die Erscheinung treten. Indirecte Anpassungen da- gegen nennen wir diejenigen Ernährungs- Veränderungen des Orgams- mus, welche erst in den von ihm erzeugten Nachkommen, also mittel- bar, ihre Wirkung äussern, und bestimmte Veränderungen in der Mi- schung Form und Function des ländlichen Organismus zur Erscheinung bringen, welche an dem unmittelbar betroffenen elterlichen Orgamsmus nicht sichtbar wurden. Um diesen wichtigen Unterschied richtig zu würdigen, müssen wir zuerst die Grenzen und den Begriff der individuellen Existenz, und namentlich deren Beginn scharf zu bestimmen suchen, bo einfach und leicht diese Aufgabe zunächst erscheint, so zeigt doch eine eingehende Vergleichung bald, dass ihre Lösung oft äusserst schwierig und in vielen Fällen ganz unmöglich ist. Eigentlich muss- ten wir jedes durch Fortpflanzung erzeugte organische Individuum von- dem Momente an für selbstständig erklären, in welchem es als selbst- ständiges Wachsthumscentrum den übrigen Theilen des elterlichen Or- ganismus gegenübertritt. Doch ist dieses Moment niemals scharf zu bezeichnen. Andererseits könnte man bei der ungeschlechtlichen Fortpflanzung den Beginn der individuellen Existenz m das Moment setzen, in welchem das kindliche Individum sich von dem elterlichen räumlich vollständig trennt; bei der Theilung, Knospenbildung, Keim- V. Veräuderlichkeit und Anpassung. 197 l)ildiiiig also in das Moment , in welchem aus einem Körper zwei oder mehrere räumlich getrennt werden, entweder durch eine vollständige Spaltungsebene oder durch Bildung einer realen Scheidewand. Allein in zahlreichen, nahe mit dieser vollständigen Trennung verbundenen Fällen erfolgt die räumliche Loslösung oder die Bildung eines voll- ständigen realen Septum thatsächlich nicht, so z. B. bei der unvoll- ständigen Theilung und Knospenbilduug; und es ist dann oft ganz L'benso unmöglich, zeitlich wie räumlich, die Grenze des selbstständi- gen und unselbstständigen individuellen Lebens zu fixiren. Bei der geschlechtlichen Fortpflanzung werden wir den Beginn der individuellen selbstständigen Existenz allgemein in das Moment der Befruchtung setzen können. In diesem Moment hört das Ei auf, ein reiner Bestandtheil des mütterlichen Organismus zu sein, und ver- schmilzt durch wahre materielle Vermischung mit dem väterlichen Sperma zu einem neuen Individuum, welches weder Ei noch Sperma allein, sondern eine wirkliche Verbindung von beiden, ein neuer, drit- ^r Körper ist. Die weitere Entwickelung dieses befruchteten Eies zum ■Ibstständigen kindlichen Individuum kann zwar äusserlich noch län- _rfre Zeit vom mütterlichen Organismus abhängig erscheinen (wie bei den lebendig gebärenden Thieren, den Phanerogamen etc., wo sich der l'mbryo innerhalb des mütterlichen Organismus bis zu einem gewissen i rrade entwickelt. Allein durch das Moment der Befruchtung ist der Beginn der individuellen Entwickelungs-Bewegung, des selbstständigen Wachsthums imd überhaupt der physiologischen Selbstständigkeit des tieu erzeugten Organismus bestimmt bezeichnet, und der mütterliche Organismus, mag er mit dem kindlichen noch so eng (wie bei den >äugethieren) verbunden erscheinen, ist eben so gut, wie der väter- liche, für den kindlichen doch nur Aussenwelt, äussere Existenz- Bedingung. Wenn daher der kindliche Organismus hier schon,' noch während seiner embryonalen Entwickelung, Veränderungen erfährt (z. B. iionströse Ausbildung einzelner Theile durch mechanische, experimen- tell herbeigeführte Störung der Entwickelung), so sind diese Verände- ungen wirkliche directe Anpassungen. Wir haben sie als solche ben so gut zu bezeichnen, wie in denjenigen Fällen, in welchen der Beginn der individuellen selbstständigen Existenz mit einer vollstän- ligen räumlichen Trennung des elterlichen und kindlichen Organismus ('rbunden ist (z. B. bei der vollständigen Theilung einzelliger Proti- sten, der Diatomeen etc., und der Zellen innerhalb mehrzelliger Orga- lismen). Anders aber steht es in den eben berührten Fällen, in denen eine olche natürliche Begrenzung des Beginnes der individuellen Existenz licht möglich ist. Hier können wir nicht so scharf zwischen der di- cten und indirecten Anpassung miterscheiden , weil die Ernährung 198 Die Deseendenz - Theorie und die Selections - Theorie. der beiden Organismen, des elterlichen und kindlichen, gemeinsam bleibt und wegen der fortdauernden Continuität beider (z. B. bei der Stockbildung durch unvollständige Knospenbildung) eine beständige nu- tritive Wechselwirkung zwischen beiden fortdauert. Der theoretische Unterschied zwischen der directen und indirecten Anpassung ist frei- lich auch hier klar. Im ersteren Falle beruht die morphologische und physiologische Abänderung stets in einer Veränderung der Ernährung des angepassten Individuums selbst; im letzteren Falle dagegen auf einer Ernährungs - Veränderung , welche sowohl allein vom kindlichen, als allein vom elterlichen Organismus, als endlich auch gemischt von bei- den zusammen ausgehen kann. Im concreten einzelnen Falle wird es aber ganz unmöglich sein, die Grenze zwischen diesen drei abstracten Möglichkeiten scharf zu bestimmen, ebenso unmöglich, als die Grenze der nutritiven Selbstständigkeit zwischen dem continuirlich materiell zusammenhängenden elterlichen und kindlichen Organismus scharf fest- zustellen ist. Wie die Knospen, welche unvollständig getrennt zu ei- nem Stocke verbunden bleiben, so verhalten sich in dieser Beziehung auch diejenigen kindlichen Organismen, welche durch Polysporogonie und durch Parthenogonie entstehen. Die letztere erscheint auch in dieser Beziehung als ein wahrer Uebergang von der ungeschlechthcheii zur geschlechtlichen Fortpflanzung. Bei den Bienen z. B., wo wir dcu Beginn der selbstständigen individuellen Existenz , also den Beginn zu- gleich der individuellen Entwickelung und Anpassung auf das Moment der Befruchtung für die aus befruchteten Eiern sich entwickelnden weiblichen Individuen (Königinnen und Arbeiterinnen) festsetzen können, ist dies für die aus unbefruchteten Eiern entstehenden männlichen In- dividuen (die Drohnen) nicht möglich. Ebenso müssen Avir in zahlreichen anderen Fällen theils aus theoretischen, theils aus practischen Grün- den darauf verzichten, den Beginn der individuellen Existenz, d.h. der virtuellen physiologischen Individualität des Organismus scharf zu fixiren, weil sich hier die Trennung der materiellen Continuität zwi- schen elterlichem und kindlichem Organismus entweder niemals voll- ständig, oder nur ganz allmählich und unmerklich vollzieht. . Obwohl es also in diesen und in vielen anderen Fällen nicht mög- lich ist, die Grenze der nutritiven Selbstständigkeit des kindlichen Individuums scharf zu bestimmen, wird dadurch doch der Unterschied zwischen der indirecten und der directen Anpassung keinesweges auf- gehoben. Denn es ist klar, dass der Begriff der individuellen An- passung eigeuthch streng genommen nur auf diejenigen Fälle der Abänderung angewendet werden kann, in denen die Abänderung that- sächlich durch Wechselwirkung zwischen den selb st ständigen In- dividuen und der Aussenwelt erfolgt. Nur in diesen Fällen ist es le- diglich eine Veränderung in der Ernährung dieses einzelnen Individuunis. V. Veränderlichkeit und Anpassung. 199 welche der Anpassung zu Grunde liegt. In den zahlreichen Fällen da- gegen, wo dieselbe ein nicht vollkommen selbststäudiges Individuum betrifti ist es unmöglich, zu sagen, wieviel von der erworbenen Ver- änderung auf Kosten einer Ernälirungs- Veränderung des Individuums selbst kömmt, wieviel auf Kosten einer Ernährungs- Veränderung des elterlichen Organismus, welcher mit dem kindlichen noch in bleiben- der Wechselwirkung, in unmittelbarer materieller Continuität und be- ständigem Stoöaustausch verharrt. Diese Erwägung ist, wie Darwin zuerst gezeigt hat, von äusser- ster Wichtigkeit. Denn thatsächlich lehrt die Erfahrung, dass Ernäh- rungs-Veränderungen , welche den elterlichen Organismus betreffen, und welche an diesem selbst nur eine geringe, oft in Form und Function nicht wahrnehmbare Mischungs -Veränderung hervorbringen, in ihrer Wirkung auf den kindlichen, von jenem erzeugten Organismus sehr bedeutende, in Form mid Function oft äusserst auffallende Abän- derungen hervorbringen. Obwohl also hier die wirkende Ursache l)loss den eiterlichen Organismus trifft, kommt sie doch nicht an die- sem, sondern erst an dem kindlichen Organismus zur Erscheinung. Dieses wichtige Gesetz zeigt sich äusserst auffallend bei unseren Haus- thieren und Cidturpflanzen , bei denen wir nicht selten im Stande sind, durch ganz bestimmte Beeinflussung ihrer Ernährung ganz bestimmte Veränderungen in Form und Function zu erzielen, welche aber nicht an ihnen selbst, sondern erst an ihren Nachkommen in die Erschei- nung treten. Dies gilt aber nicht nur für alle oben erwähnten Fälle von unvollständiger Trennung des elterlichen und kindlichen Organis- mus, sondern es gilt auch für alle Fälle von vollständiger Trennung und namentlich auch für alle Fälle von geschlechtlicher Fortpflanzung. Es zeigt sich hier die höchst merkwürdige und wichtige Thatsache, dass selbst leichte Ernährungs -Veränderungen, welche in den meisten Organen und Functionen des elterlichen Organismus keine bemerkbare oder nur eine ganz unbedeutende Abänderung bewirken, auf die Ge- schlechtsorgane desselben (nach dem Gesetz von der Wechselbezie- hung der Organe) eine verhältnissmässig colossale Wirkung ausüben, und namentlich auf die noch nicht vereinigten Geschlechtsproducte (Sperma und Eier) so bedeutend einwirken, dass diese Einwirkung nach erfolgter Vereinigung derselben (Befruchtung) in Abänderungen der Form und Function des kindlichen Organismus äusserst auffallend hervortritt. Allerdings sind uns im Einzelnen diese höchst wichtigen nutritiven Wechselbeziehungen zwischen den Fortpflanzungsorganen und den übrigen Theilen des Organismus noch fast gan:^ unbekannt, und zum ^rössten Theil sehr räthselhaft. Allgemeine und sehr merkwürdige Be- weise für deren Existenz besitzen wir aber sehr viele, wie z. B. die bekannten Veränderungen im Stimmorgan, in der Fettbildung und in 200 Die Descendenz - Theorie und die Selections - Theorie. den psychisdieu Thätigkeiten bei castrirten männlichen Thieren; ferner die wichtige Thatsache , dass schon leichte Ernährungs-Störungen , und bei vielen wilden Thieren sogar schon der Verlust ihrer natürlichen Freiheit und das Leben in Gefangenschaft ausreichen, um sie voll- ständig unfruchtbar zu machen. So pflanzen sich z. B, die Affen und die bärenartigen Eaubthiere, der Elephant, die Raubvögel, Papageyen und viele andere Thiere , ebenso auch viele Pflanzen- Arten, in der Ge- fangenschaft und im Culturzustande niemals oder nur sehr selten fort, während andere dies regelmässig thun. Oft genügt schon übermässig reichliche Nahrung, um Sterilität (und zugleich vielfache Variationen) hervorzurufen. Ebenso wie die Sterilität, wird aber auch die Pro- duction einer sehr abweichenden und selbst monströsen Nachkommen- schaft sehr oft lediglich durch derartige Ernährungs - Störungen des elterlichen Organismus bedingt, ohne dass er selbst bereits die auf- fallenden Charaktere seiner Kinder ausgebildet zeigt. Diese äusserst wichtige Erscheinung, welche wir bei allen Arten der Fortpflanzung beobachten, und welche uns wiederum den innigen Zusammenhang zwischen der Fortpflanzung und Ernährung vor Augen führt, lässt sich, streng genommen, nicht als individuelle Anpassung bezeichnen, insofern es nicht das selbstständige Individuum ist, wel- ches die Abänderung durch Wechselwirkung mit der Aussenwelt er-t fährt. Vielmehr wird der Grund der Abänderung vermittelst der mate- riellen Grundlage des elterlichen Organismus in diejenige des kindli- chen Individuums gelegt, schon bevor dasselbe sich überhaupt vom el- terlichen Organismus irgendwie isolirt hat. Eine individuelle Ernäh- rungs - Modification des letztern ist die eigenthche erste Ursache. Es wird also die Anlage zur Abänderung bereits im elterhchen Organis mus (durch die Ernährung) bewirkt und von diesem auf den kindli- chen Organismus (durch die Fortpflanzung) übertragen. In letztere Hinsicht könnte man versucht sein, den Vorgang eher eine Erschel nung der Vererbung, als der Anpassung zu nennen. Allein der we. sentlicbe Unterschied von der Vererbung liegt darin, dass bei dieser letzteren die (chemischen, physiologischen, morphologischen) Eigen- schaften, welche der eilerhche Organismus auf den kindlichen über-t trägt, bei dem elterlichen bereits wirklich entwickelt in die Erschei nung getreten waren und also nicht bloss poteniia , sondern auch act in ihm vorhanden waren. Im ersteren Falle dagegen sind jene Eigen Schäften in dem elterlichen Organismus bloss potenün , nicht actu vor banden, und zwar latent in dem Keime des kindhchen Organismus, bei dessen Entwickelüng erst sie in die Erscheinung treten. Wir kön- nen daher diesen Vorgang seinem Wesen nach nicht als eine Erblich; keits - Erscheinung , sondern müssen ihn als eine Anpassungs- Erschei nung auffassen, wenngleich wir hervorheben müssen, dass er ein V. Veränderlichkeit und Anpassung. 201 uunraittelbare Uebergangsstufe zwischen den cntgegengesetz- tten und entgegenwirkenden Erscheinungen der Verer- fcbung (die mit der Fortpflanzung) und der eigentlichen indivi- dduellen Anpassung (die mit der Ernährung zusammenhängt), dar- s stellt. Um ihn von der letzteren, der actuellen oder directen Anpassung szu unterscheiden, wollen wir ihn ein für allemal als indirecte oder p potentielle Anpassung bezeichnen. Alle Anpassungen, welche bei den (Organismen vorkommen, gehören einer von diesen beiden Katego- nrieen an. Das Gesetz der indirecten oder potentiellen Anpas- >sung oder der Abänderung des Organismus durch Ernährungs - Modi- Sficationeu seines elterlichen Organismus lässt sich demnach folgen- ddermaassen formuliren: „Jeder Organismus kann durch Wech- sseiwirkung mit der umgebenden Aussenwelt nutritive ) Veränderungen erleiden, welche nicht, in seiner eigenen IFormbildung, sondern erst mittelbar in der Formbildung :seiner Nachkommenschaft, als indirecte Anpassung, in cdie Erscheinung treten." Das Gesetz der directen oder actuellen Anpassung loder der Abänderung des Organismus durch eigene, ihn selbst betref- ffende Ernährungs - Modificationen würde dagegen lauten: „Jeder Or- jganismus kann durch Wechselwirkung mit der umgeben- iden Aussenwelt nutritive Veränderungen erleiden, welche «unmittelbar in seiner eigenen Formbildung, als directe .Anpassung, in die Erscheinung treten." Hierher gehören die »meisten Fälle individueller Abänderungen, welche man gewöhnlich als . Anpassung (im engeren Sinne) bezeichnet. Wenn wir nunmehr an die Betrachtung der verschiedenen Gesetze (der indirecten und der directen Anpassung herantreten, welche wir } gegenwärtig unterscheiden zu können glauben , so müssen wir zunächst ! leider dieselbe Bemerkung vorausschicken, welche wir so eben bei 1 Besprechung der Erblichkeits - Gesetze gemacht haben, dass wir uns 1 nämlich auf einem eben so ausgedehnten als wichtigen Gebiete der 1 Biologie befinden, auf welchem fast noch Nichts geschehen ist, um « die werthvollen daselbst verborgen liegenden Schätze zu heben. Zwar : sind den Zoologen und Botanikern, seitdem Linne das systematische : Studium der äusseren Morphologie begründete , zahllose Varietäten, i Rassen, Spielarten und andere Abänderungs- Formen der sogenannten . „guten Arten" bekannt geworden, und der grösste Theil der zoologi- • sehen und botanischen Literatur ist mit Beschreibung dieser zahllosen Abänderungsformen gefüllt und mit den unnützesten und hirnlosesten Streitigkeiten über die Frage, ob diese oder jene Form als „gute Art" ' oder bloss als Unterart, als Gattung oder als Varietät, als Rasse oder III 202 Die Descendenz - Theorie und die Selections - Theorie. ' nur als individuelle Abänderung zu deuten sei. Da indessen die mei- sten hierauf bezüglichen Untersuchungen nur mit einem höchst be- schränkten Materiale und mit einem noch mehr beschränkten Verstände angestellt sind, so haben dieselben keinen oder nur sehr geringen wissenschaftlichen Werth. Die meisten Botaniker und Zoologen, die ihr Leben mit solchen unnützen Spielereien zugebracht haben, sind ohne alle philosophische Basis zu Werke gegangen und haben sich weder die Mühe gegeben , über die eigentliche Bedeutung der Begriffe „Art, Unterart, Rasse, Abart, Varietät, Spielart etc." nachzudenken, noch über die Ursachen , durch welche die thatsächlichen Verschieden- heiten dieser subordinirten Kategorieen entstanden sind. An eine wis- senschaftliche Untersuchung der Abänderungs - Gesetze hat aber vor Dar\Yin fast noch Niemand gedacht und auch Darwin hat mehr Verdienst um die klare Hervorhebung der causalen Verhältnisse der Abänderungen , als um die ordnungsgemässe Unterscheidung ihrer ver- schiedenen Modificationen , die in diesem Chaos von ungeordneten Thatsachen allerdings eben so schwierig als wichtig ist. ' Unter diesen Umständen können wir eine vollständige Erkenntniss der mannichfal- tigen Verhältnisse erst von der intelligenten Morphologie 'der Zukunft hofifen, welche bemüht sein wird, grade die feinen individuellen Un- terschiede und die geringen Differenzen der Varietäten, Rassen etc. sorgfältig zu wägen und daraus zusannnenhängende Entwickelungsrei- hen herzustellen, während die bisherige künstliche Systematik grade das Gegentheil erstrebte und nur bemüht war, die Arten scharf zu trennen, indem sie die vorhandenen Zwischenformen bei Seite schob und ignorirte. Der folgende Versuch, die verschiedenen Abänderungs- Erscheinungen als geordnete Gesetze aufzuführen, kann unter diesen Umständen nur ein ganz provisorischer sein. V, E. Gesetze der Anpassung. Ea. Gesetze der indirecfen oder potentiellen Anpassung. 1. Gesetz der iudividuellen Abänderung. f Lex variationis individualis. J Alle organischen Individuen sind von Beginn ihrer individuellen Existenz an ungleich, wenn auch oft höchst ähnlich. Dieses wichtige Gesetz der individuellen Abänderung, welches wir auch das der angeborenen Ungleichheit nennen könnten, ist das allgemeinste, welches sich auf die Abänderungs- Verhältnisse bezieht und steht unmittelbar gegenüber dem allgemeinsten Vererbungs-Gesetze, wonach die unmittelbaren Descendenten der Organismen ihren Eltern entweder nahezu gleich oder doch sehr ähnlich sind. Beide Gesetze 4 V. Veränderlichkeit und Anpassung. ^Ud widersprechen sich nicht. Denn wenn auch alle Individuen einer und derselben „Art" oder „Abart" noch so sehr ähnlich sein mögen, und wenn wir auch mit unseren besten Hülfsmitteln keine Unterschiede zwischen denselben wahrnehmen können, so haben wir doch Gründe genug zu der Annahme, dass niemals oder doch nur höchst selten und zufällig eine absolute Gleichheit zweier ähnlicher Individuen stattfindet. Wir begründen dieses Gesetz inductiv auf die allgemein bekannte Ungleichheit der menschüchen Individuen von der Zeit ihrer Geburt an. Niemand wird behaupten, dass es jemals zwei Menschen oegeben habe, welche absolut gleich gewesen seien, welche absolut dieselbe Grösse, Form und Farbe, dasselbe Gesicht, dieselbe Zahl von Epidermiszellen, Blutzellen etc., dieselben Seelenbewegungen (Wille, Empfindung , Denken in absolut gleicher Form) besessen haben. Schon bei der Geburt sind allgemein individuelle Ungleichheiten vorhanden, wenn sie auch oft schwer zu erkennen sind und erst später deutlicher hervortreten. Wenn wir allerdings auch nicht in der Lage sind, die- ses Gesetz scharf beweisen zu können, so sprechen dafür doch so allgemeine Gründe, dass in der That eigentlich wohl Niemand an sei- ner Geltung zweifelt. Denn man nimmt ja allgemein an, dass jeder Mensch ein bestimmtes Quantum von verschiedenen Eigenschaften (z. B. Talenten) mit „auf die Welt bringe", welche nicht erst nachträg- lich durch Anpassung erworben werden. Und dieses Quantum wird bei allen Individuen für verschieden gehalten. Was vom Menschen, das gilt auch von den übrigen Säugethieren , und es ist allen Menschen, die sich eingehend mit einer grösseren Anzahl von Individuen einer Ali beschäftigt und dieselben genau und lange Zeit beobachtet haben (z. B. den Hirten von Vieh - Heerden , den Förstern , Ausstopfern) wohl bekannt, dass alle einzelneu Individuen einer und derselben Speeles, trotz der grössten Aehnlichkeit , dennoch individuelle Unterschiede zei- gen. Dasselbe wissen alle systematischen Botaniker, welche Massen von Individuen einer und derselben Speeles eingehend verglichen ha- ben. Dasselbe weiss Jedermann von allen Bäumen eines Waldes. Niemand wird z. B. behaupten, dass es jemals zwei Bäume von einer und derselben Art, z. B. zwei Apfelbäume oder zwei Kosskastanien gegeben habe, welche in allen Beziehungen, in der Zahl der Blätter und Blüthen, der Bildung der Rinde, der Verzweigung des Stammes, in der Zahl und Form aller constituirenden Zellen absolut gleich ge- wesen seien. Schon eine Betrachtung einer Baumschule lehrt hiervon das grade Gegentheil , und eine sorgfältige Vergleichung der jüngsten Samenpflanzen zeigt , dass sie schon von erster Jugend an individuelle Unterschiede zeigen. Nun könnte mau zwar behaupten, dass diese absolute Ungleichheit aller organischen Individuen durch die univer- selle directe Anpassung erworben sei, und zum grossen Theile ist dies 204 Die Descendenz- Theorie und die Selections - Theorie. gewiss der Fall, da niemals zwei Individuen ihr ganzes Leben unter absolut denselben Existenzbedingungen zubringen. Allein Darwin hat gezeigt, dass wir hinreichende Gründe haben, die allgemeine indi- viduelle Ungleichheit der Organismen auch theilweis als Folge einer indirecten Abänderung derselben anzusehen , hervorgebracht durch pri- mitive Verschiedenheiten der von den Eltern erzeugten Keime. Hier- für spricht allein schon die allgemeine Ungleichheit aller Jungen eines und desselben Wurfes, aller Sämlinge einer und derselben Frucht. Diese kann nur. dadurch bedingt sein, dass die Ernährungs - Bedingun- gen innerhalb des elterlichen Organismus für die sich bildenden Keime verschiedene waren. In der That müssen wir hier bis zu einer ur- sprünglichen Ungleichheit der Geschlechtsproducte , aus denen die kind- lichen Individuen entstehen , zurückgehen , und auch diese anzunehmen, steht Nichts im Wege, da offenbar niemals zwei Piastiden eines und desselben Organismus unter absolut gleichen Verhältnissen entstehen und sich entwickeln. Für unsere groben und rohen Beobachtungsmittel wird freilich meistens die ursprüngliche individuelle Verschiedenheit der Organismen verborgen bleiben. 2. Gesetz der monströsen Abänderung. ( Lex variationis monstrosae.J Alle Organismen sind unter bestimmten, sehr abwei- chenden und ungewöhnlichen Ernährungsbedingungen fä- hig, eine Nachkommenschaft zu erzeugen, welche nicht in dem gewöhnlichen geringen Grade der individuellen Ver- änderlichkeit, sondern in einem so ausserordentlichen und ungewöhnlichen Grade von den Charakteren des el- terlichen Organismus abweicht, dass man dieselben als Monstra oder Missbildungen bezeichnet. Dieses noch sehr wenig bekannte, und auch hinsichtlich der zu Grunde liegenden Thatsachen noch sehr wenig untersuchte Gesetz ist, so viel wir bis jetzt wissen, nur von geringer, bisweilen vielleicht aber auch von sehr bedeutender Wichtigkeit für die Entstehung von neuen Arten. Es würden nämlich hieher wahrscheinlich alle diejeni- gen Fälle gehören, welche man als sprungweise Abänderung, plötzliche Ausartung, monströse Entwickelung u. s. w. bezeichnet. Bei den Menschen sowohl, als bei den andern im Culturzustande le- benden Thieren , ebenso bei den Culturpflanzen , sind solche monströse Abänderungen verhältnissmässig häufig und oft so bedeutend, dass sie nicht allein über den Charakter der Art und Gattung, sondern auch sehr oft über denjenigen der Familie und Ordnung weit hinausgreifeu. Es gehören hierher z. B. die bekannten Fälle von Menschen mit sechs Fingern an jeder Hand und jedem Fuss , ferner die berühmten Sta- V. Veränderlichkeit und Anpassung. 205 chelschweinmenschen mit schuppen artiger Epidermis , die cavicornien \Viederkäiier- Monstra ohne Hörner (von einer sonst gehörnten Art) oder mit 4 — 6 — 8 (statt der normalen zwei) Hörnern, dann der all- gemeine Pigmentmangel der Haut (Leucosis) bei den Albinos der ver- schiedensten Thierarten, die ungewöhnlichen Grössenproportionen ein- zelner Körpertheile unter einander und zum Ganzen, ferner die zahl- -•■^ichen höchst auffallenden und plötzlich entstehenden „monströsen" Abänderungen in Grösse, Farbe, Blätterzahl u. s. w. bei den Blüthen und Früchten unserer Culturpflanzen, viele „gefüllte Blüthen" etc. Aber «nicht allein solclie auffallende äusserliche, leicht erkennbare Missbil- < düngen treten oft ganz plötzlich in einer Generation auf, sondern auch itdie wichtigsten Abweichungen von in der Lage, Grösse und Gestalt liinnerer Organe, so z. B. die ümkehrung von Kechts und Links bei idipleureu Thieren (Perversio viscerum des Menschen, links gewundene nlndividuen von regelmässig rechts gewundenen Schnecken u. s. w.). Die causale Entstehung der meisten dieser plötzlich auftretenden ^Monstrositäten ist uns mit Sicherheit nicht bekannt. In vielen Fällen »sind es mechanische oder nutritive Störungen in der Entwickelung des ■Embryo, w^elche die „Missbildung" verursachen (dann also directe An- spassungen!), in sehr vielen anderen Fällen dagegen sind es sicher i Nutritions - Störungen des elterlichen Organismus, welche auf das Ge- mitalsystem desselben zurückwirken und die auffallende Abänderung des kindUchen Organismus schon im ersten Keime, im noch nicht be- "fruchteten Ei oder im Sperma bedingen. In einigen Fällen lässt sich idies experimentell nachweisen. Hierbei tritt der ungeheure Einfluss, «den die veränderte Ernährung des Organismus auf seine Fortpflan- izungsorgane hat, besonders auffallend hervor. Wie bereits Darwin «hervorgehoben hat, sind solche monströse Abweichungen, welche er {als „generative" bezeichnet, fast durchgängig zuerst sehr unbeständig mnd zeigen dies besonders darin, dass, wenn sie sich mehrere Gene- »rationen hindurch vererben, der Grad der monströsen Ausbildung in ^verschiedenen Generationen und Individuen ein sehr verschiedener ist, .■Auch verschwinden sie oft eben so plötzlich wieder in einer Genera- Ütion, wie sie in einer vorhergehenden entstanden sind. Indess gelingt >es der künstlichen Züchtung doch oft, dieselben zu erhalten und durch »generationenlange Pflege zu befestigen, wie es z. B. bei den vierhör- inigen und sechshörnigen Schafen der Fall gewesen ist, bei dem be- irühmten hörnerlosen Bullen von Paraguay, von dem man eine ganze lEinderrasse erzog , bei dem krummbeinigen Schaafbock von Seth SWright in Massachusetts , der ebenfalls der Stammvater einer ganzen rkrummbeinigen Schaafrasse (der Otterschaafc) wurde u. s. w. Ebenso igut ist es nun denkbar und vielleicht in der That sehr oft geschehen, »dass eine plötzliche und starke Veränderung in der Ernährung einer 206 Die Descendenz - Theorie und die Selections - Theorie. Speeles im Naturzustande (z. B, dadurch dass sich plötzlich das Klima einer Gegend ändert) auf die Generationsorgane plötzlich zurückwirkt, und zur massenhaften sprungweisen Erzeugung neuer monströser For- men führt , welche sich -durch Inzucht fortpflanzen und eine neue „Art" bilden. So gut wir diesen Process bei wilden Pflanzen und Thieren in umgekehrter Reihenfolge, als plötzlichen „Rückschlag" verfolgen können , so gut ist es auch denkbar , dass dieselbe sprungweise Umbil- dung nach vorwärts eintritt und zur Bildung neuer Arten führt. So finden wir z. B. bei Lippenblüthen (und besonders häufig bei der be- kannten Linarid rnlgnris) nicht selten die auffallende „Monstrosität", welche mit dem Namen Peloria belegt wird, und welche ofi'enbar als einfacher Rückschlag in die weit zurückliegende pentactinote (regulär- strahlige füufzählige) Stammform der pentamphipleureu Lippenblüthe zu deuten ist. Wie wir hier plötzlich (oft an einzelnen Blüthen eines sonst Lippenblüthen tragenden Stockes) den weiten Sprung in die alte regulär - radiale Stammform zurück eintreten sehen, welche man als „Monstrum" bezeichnet, so kann auch umgekehrt ursprünglich die pentamphipleure Lippenblüthe, die wir jetzt als die „normale" ansehen, durch einen plötzlichen Sprung aus der ersteren als „Monstrum" ent- standen sein. Besonders weit dürfte der Spielraum für die sprung- weise Entstehung solcher monströser „Abarten", oder „Ausartungen", die sich dann unter günstigen Umständen zu „guten Arten" befestigten, bei den meisten Organismen hinsichtlich der Zahl der Antimeren und Metameren gewesen sein, wovon uns noch heute die grosse Varia- bilität der homotypischen und homodynamen Grundzahlen bei vielen Thier- und Pflanzen - Arten berichtet. Auch in Gruppen, in deren meisten Arten sich diese Grundzahlen fixirt haben, kommen einzelne Arten vor, bei denen dieselbe noch schwankt, so unter den fünfzähli- gen Echinodermen einzelne mit mehr als fünf (und dann mit einer schwankenden Anzahl!) Antimeren versehene Asteriden. Ofi'enbar findet hier die Bestimmung der Grundzahl für jedes Individuum schon im ersten Anfang seiner Entwicklung statt. 3. Gesetz der geschlechtlichen Abänderung. f Lex variatioiiis sexucdis.J Bei allen Organismen mit geschlechtlicher Fortpflan- zung vermag sowohl eine Ernährungs-Veränderung, weiche auf die männlichen, als eine solche, Avelche auf die weib- lichen Geschlechtsorgane einwirkt, eine entsprechende Abänderung der geschlechtlich erzeugten Nachkommen- schaft zu veranlassen, und es äussert sich dann entweder ausschliesslich oder doch vorwiegend die Ernährungs- Veränderung der männlichen Genitalien in der Abände- V. Veränderlichkeit und Anpassung. 207 rung der inäiiulichen, diejenige der weiblichen Genitalien in der Abänderung der weiblichen Nachkommen. Dieses Gesetz der sexuellen Abänderung hängt sehr eng mit dem- jenigen der sexuellen Vererbung zusammen. Bei der letzteren fanden wir, dass die Gesammtcharaktere jedes der beiden Geschlechter, und /Avar sowohl die primären als die secundären Sexualcharaktere, sich meistens einseitig, also entweder vorwiegend oder fast ausschhessHch nur auf das entsprechende Geschlecht vererben, so dass Generationen liindurch sich einerseits die männhchen, andrerseits die weibhchen Desceudenteu mehr gleichen, als beide Reihen unter sich. Bei der se- xuellen Abänderimg finden wir dem entsprechend, dass jede Ernäh- • rungs- Veränderung, welche eines der beiderlei Geschlechts - Organe betritft und das andere nicht berührt, entweder vorwiegend oder selbst ganz ausschliesslich eine Veränderung bloss in demjenigen Geschlechte der Nachkommen hervorruft, welches dem veränderten Sexualsystem "der Eltern entspricht; während das andere Geschlecht nicht abändert. Wenn also z. B, bei den Hühner - Vögeln eine eingreifende Verände- rung in der Ernährungsweise bloss den Hahn betrifft und auf dessen Hoden zurückwirkt, während die Henne und also auch ihr Eierstock "icht von derselben betroffen wird, so wird eine entsprechende, viel- eicht monströse, Abänderung in der Bildung der von beiden ge- chlechthch erzeugten Nachkommen nur an den Hähnen, nicht an den "enneu sichtbar werden. Im Ganzen ist diese Erscheinung noch sehr Unkel, sehr wenig beachtet, und meist auch sehr schwierig in ihrem rsächhchen Zusammenhang zu verfolgen, vielleicht aber von grosser Wichtigkeit für die Erklärung der Entstehung der secundären Sexual- charaktere. E b, Gesetze der directen oder actuelten Anpassung. 4. Gesetz der allgemeinen Anpassung. (Lex adaptationis universalis. J ■ Alle organischen Individuen werden während ihrer dividuellen Existenz durch Anpassung an verschiedene ebens-Bedingungen ungleich, wenn sie auch oft höchst hnlich bleiben. Dieses Gesetz bewirkt, im Verein mit demjenigen der individuel- en Anpassung, die allgemeine Ungleichheit aller organischen Indivi- duen. Durch die universelle Anpassung wird die erworbene, urch die individuelle Anpassung dagegen die angeborene Un- leichheit aller Einzelwesen bedingt. Die erstere lässt sich viel leich- er nachweisen, als die letztere, denn während wir über die angebo- ene Verschiedenheit aller organischen Individuen noch so sehr im nklarcn sind, dass wir die allgemeine Gültigkeit des Gesetzes der 208 Die Descendenz - Theorie und die Selections - Theorie. individuellen Abänderung nur mit sehr geringer Sicherheit und nur auf allgemeine Gründe gestützt, behaupten können, so ist das Gegen- theil bei der erworbenen Ungleichheit der Fall, welche sich mit ma- thematischer Sicherheit aus dem allgemeinen Causal- Gesetze folgern lässt. Indem die äusseren Existenz - Bedingungen , wie allgemein an- erkannt wird, umbildend auf den Organismus einwirken, indem ferner diese Existenz - Bedingungen für alle Individuen ungleich (niemals absolut dieselben) sind, so müssen , selbst den unwahrscheinlichen Fall angeborener Gleichheit der Individuen angenommen , in Folge der allgemeinen Ungleichheit der einwirkenden Ursachen, im Laufe der indi- viduellen Existenz stets mehr oder minder bedeutende Unterschiede in der Bildung der Individuen eintreten. So lässt sich, selbst ohne die bestätigenden Beweise der unmittelbaren Beobachtung , eine allgemeine Ungleichheit sämmtlicher organischen Individuen mit Sicherheit be- haupten. Hinsichtlich der empirischen Bestätigung berufen wir uns auch hier wieder zunächst auf den Menschen selbst, von welchem es allgemein anerkannt ist, dass die verschiedene Lebensweise und Be- schäftigung, der verschiedenartige Umgang mit anderen Menschen, kurz die für jedes Individuum allgemein verschiedenen Verhältnisse der Ernährung sowohl, als der Beziehungen zur Aussenwelt, individuelle Verschiedenheiten in der Bildung, dem Charakter, den somatischen und psychischen Eigenschaften veranlassen , welche um so grösser wer- den, je älter der Mensch wird, d. h. je länger jene verschiedenen Ur- sachen einwirken. Dasselbe gilt ebenso von den Individuen aller an- deren Thiere und Pflanzen, wie schon oben bei Erläuterung des Ge- setzes der angeborenen Ungleichheit bemerkt wurde. Bei den Pflanzen tritt gewöhnlich die individuelle Ungleichheit viel auffallender als bei den Thieren hervor, weil die Organe dort äusserlich, hier innerhch entfaltet werden. Wie wir aber oben bereits sagten, ist es ausseror- dentlich schwierig, zu sagen, wieviel Antheil an der thatsächlich exi- stirenden Verschiedenheit der erwachsenen Individuen auf Rechnung der angeborenen Ungleichheit, wieviel auf Rechnung der erworbenen Ungleichheit zu setzen ist. Darwin scheint im Ganzen grösseres Ge- wicht der ersteren (dem Gesetz der individuellen Abänderung) zuzu- schreiben, während wir glauben möchten, dass die letztere (das Ge- setz der universellen Anpassung) eine allgemeinere und eingreifendere Wirksamkeit entfalte. 5. Gesetz der gehäuften Anpassung. (Lex adaptationis cumulativae.J (Gesetz der Gewohnheit, der Uebung, der Akklimatisation, der Reaction etc.) Alle Organismen erleiden bedeutende und bleibende (chemische, morphologische und physiologische) Abän- V. Veränderlichkeit und Anpassung. 209 (leruiigen, wenn eine an sich unbedeutende Veränderung in den Existenz-Bedingungen lange Zeit hindurch oder zu vielen Malen wiederholt auf sie einwirkt. In dem „Gesetze der gehäuften Anpassung" glauben wir mehrere, scheinbar sehr weit von einander entfernte Anpassungs- Gesetze ver- einigen zu müssen, welche gewöhnlich als ganz verschiedene betrach- tet werden, die wir aber nicht scharf zu trennen im Stande sind. Die Abänderungen nämlich, welche wir als gehäufte oder cumulative zusammenfassen, sind solche, welche von Darwin und vielen Ande- ren mehrfach unterschieden und wenigstens in zwei ganz verschiedene Kategorieen gebracht werden, nämlich: I) Unmittelbare Folgen der Einwirkung der äusseren Existenzbedingungen: Nah- rung, Klima, Bodenbeschaffenheit, Umgebung etc. II) Folgen der Gewohnheit oder Angewöhnung (Uebung, Gebrauch oder Nicht- gebrauch der Organe, Acclimatisatiou etc). Wir gestehen, dass wir unfähig sind, diese Kategorieen scharf zu scheiden und vielmehr glau- ben, dass die eigentliche ursächliche Grundlage bei allen diesen An- passungs-Erscheinungen dieselbe ist, nämlich eine langsame aber an- dauernde Veränderung in der Ernährung des Organismus oder einzel- ner Theile, welche zwar zuerst und in jedem einzelnen Falle nur eine sehr unbedeutende Einwirkung auf die physiologische und morpholo- gische Beschaffenheit der Orgaue ausübt, allein durch lang andauernde und oft wiederholte kleine Einwirkungen schliesslich sehr bedeutende Umbildungs-Resultate zu erzielen vermag. Wir wollen, um diese An- schauung zu stützen und womöglich zu beweisen, jede der beiden Ka- tegorieen, die man unnützer Weise noch in verschiedene kleinere ge- spalten hat, gesondert für sich betrachten. Wir können die beiden verschiedenen Gruppen 'von Existenz - Bedingungen , welche durch cu- mulative Einwirkung gehäufte Anpassungen verursachen, als äussere und innere Existenz -Bedingungen unterscheiden. I. Gehäufte Anpassun gen durch di e VS'' i r kun gen aus s ere r E xis te n z - B e - dingungen. (Anpassungen an die Nahrung, das KJima, die Umgebung etc.) Die Abänderungen der Organismen durch die sogenannte „unmit- telbare Wirkung der äusseren Existenz - Bedingungen" oder den „un- mittelbaren Einfluss der Aussenwelt" sind die bekanntesten von allen und sehr viele Naturforscher sind von jeher geneigt gewesen, densel- ben überhaupt alle Veränderungen zuzuschreiben, die wir an den Or- ganismen wahrnehmen. Jedermann weiss, dass die verschiedene Qua- lität der Nahrungsmittel, des Lichts, der Wärme, der Feuchtigkeit einen bestimmten Einfluss auf die Grösse, Farbe, Form und innere Beschaffen- heit der Organismen, auf ihre morphologische Ausbildung und ihre physio- II a e c k e 1 , GenereUc Morphologie ,11. ^ j 210 Die Descendenz - Theoi-ie und die Seleotions - TheoHe. logische Function ausübt. Wir brauchen statt aller Beispiele hier bloss an die Thatsachc zu errinnern, wie äusserst empfindlich der menschliche Organismus gegen diesen Einfluss der „Medien" ist, wie jede Veränderung des Klimas, der Nahrung (Diät), der Umgebung u. s. w. unmittelbar eine bestimmte Veränderung des Organismus hervor- ruft, welche sich in seinen Functionen noch deutlicher, als in seinen Formen äussert, und welche wir entweder als heilsame, oder als gleich- gültige, oder als schädliche betrachten. Dasselbe nun, was wir Alle vom Menschen anerkennen, gilt ebenso auch von allen anderen Thie- ren und von allen Organismen überhaupt i). Jeder ohne Ausnahme ist empfänglich für den Einfluss der verschiedenen Qualität und Quan- tität der unmittelbar eingeführten Nahrungsstoffe, des Klimas (den ver- schiedenen Grad von Licht, Wärme, Feuchtigkeit) u. s. w. Zunächst ist die Einwirkung derselben gewöhnlich nur an einer Abänderung der Function bemerkbar und erst später an einer Abänderung der Form des Organs, welche sich natürlich der Function entsprechend verändern muss. Man kann diese abändernden Einflüsse allgemein als die che- mischen und physikahschen Agentien oder besser als die anorgani- schen Agentien zusammenfassen, im Gegensatz zu den organischen Agentien, welche bei der folgenden Art der Anpassung thätig sind. So wichtig diese Agentien sind, so ist dennoch gewiss ihr Einfluss gewöhnlich in so fern sehr überschätzt worden, als man sie meist viel zu ausschliesslich als die einzigen oder doch die vorzügüehsten An- passungs -Bedingungen betrachtet hat, und insofern hat Dar win voll- kommen Recht, wenn er denselben eine viel geringere Bedeutung bei- misst. Indessen möchten wir ihren Einfluss doch nicht so gering, wie letzterer, schätzen, wenn wir daran denken, welche enonnen Verände- rungen z. B. allein unser Central -Nervensystem (die Vorstellungen des Wollens, Empfindens und Denkens) durch die Einwirkung des Klimas (Licht, Wärme, Feuchtigkeit), der verschiedenen Nahrungsmittel (alko- hohsche Getränke, Kafl"ee und Thee, Fleisch, Amylaceen etc.) zu er- leiden hat ; wie der Charakter ganzer Nationen durch das Klima und die Art der Nahrung bestimmt wird, wie wir bei unseren Hausthieren und Kulturpflanzen durch geringe Veränderungen der Nahrung und des 1) Die Beispiele für diese Thatsachen sind überaU sehr leicht zu haben. Wir dür- fen aber hier natürlich nur diejenigen Abänderungen durch den unmittelbaren Einfluss der Existenz -Bedingungen anführen, welche sich unmittelbar am einzelnen Individuum, nicht diejenigen, welche sich erst nach Generationen länger Einwirkung äussern. So z. B. ver- liert jede Pflanze, die man längere Zeit dem Einfluss des Sonenlichts entzieht, ihre grüne Farbe, indem die Chlorophyll - Bildung sistirt wird, welche nur unter dem Einfluss des Sonnenlichts stattfinden kann. Jede mehrjährige Pflanze, die man längere Zeit einer er- höhten Temperatur aussetzt, wächst rascher und wird in einer bestimmten Zeit grösser, als es sonst der Fall ist. Jede stark behaarte Pflanze, die man von einem trocknen in ei- nen feuchten Standort versetzt , verliert einen Theil ihrer Behaarung oder wird ganz kah . V. Veräuderlichkeit und Anpassung. 211 Klimas bedeutende Abänderungen in Form und Function hervorrufen können etc. Nach unserer Ansicht liegt die falsche Auffassung, welche man diesem Einflüsse gewöhnlich hat angedeihen lassen, vorzüglich darin, dass man den Organismus dabei als ein ganz oder doch vorwiegend passives Wesen aufgefasst hat, während doch in der That derselbe sich allen Einflüssen gegenüber zugleich activ verhält. Jede Action eines äusseren Agens, gleichviel ob dasselbe Licht oder Wärme oder Wasser oder irgend ein anderes Nahrungsmittel, ein Medicament oder ein Gift ist; jede Action eines solchen unmittelbar auf die Er- nährung des Organismus einwirkenden Agens, ruft eo ipso zugleich eine Eeaction des Organismus hervor, die sich eben in der Mo- dification der Ernähruugsthätigkeit und in dem activen (abwehren- den, indifi"erenten oder aufnehmenden) Verhalten der Ernährungs- Or- gane gegenüber den Medien und der Nahrung äussert, sowie in der Rückwirkung auf die Ernährung des Ganzen. Man fasst gewöhnhch, dieses Verhältniss ignorirend, den unmittelbaren Einfluss der äusse- ren Existenzbedingungen als einen einseitigen, bloss äusserlicheu auf und berücksichtigt nicht die active Gegenwirkung des Organismus, durch welche allein die allmähliche Anpassung möglich ist. Diese ver- mögen wii- aber nicht von der „Gewöhnung" zu unterscheiden, welche man gewöhnlich als eine ganz verschiedene Art der Anpassung an- zusehen pflegt. U. Gehäufte Anpassungen durch die W^irkungen innerer Existenz. B edingun gen. (Anpassungen durch Gewohnheit, Gebrauch und Nichtgebrauch der Organe etc.) Die Abänderungen der Organismen durch die sogenannte „Gewöh- nung und Uebung, den Gebrauch und Nichtgebrauch der Orgaue" etc. scheinen auf den ersten Bhck von den vorher betrachteten hinsicht- lich der bewirkenden Ursachen sehr verschieden zu sein und werden auch von Darwin und Anderen in dieser Weise aufgefasst. Es schei- nen dort äussere, hier dagegen innere, im Organismus selbst lie- gende Impulse zu sein, welche die Abänderung veranlassen, und man könnte die bewirkenden Ursachen insofern als innere Existenz-Be- dingungen jenen äusseren gegenüberstellen. Wie man aber dort die äusseren Einflüsse allein hervorhob und die innere Gegenwirkung des Organismus ignorirte , so hebt man hier umgekehrt die innere Gegen- 1) Wir erinnern in dieser Beziehung bloss an die vorzugsweise Fleisch e.ssenden Engländer, und die vorzugsweise Kartoffeln essenden Irländer; an die Fleisch essenden Jägervölker und Nomaden, und an die Brot essenden Ackerbauvölker etc. Neben vielen anderen Einflüssen ist hier sicher die Art des vorwiegenden Nahrungsmittels nicht bloss indirect, sondern auch direct auf die Charakterbildung äusserst wirksam. 14* 212 Die Descendenz- Theorie und die Selectious - Theorie. Wirkung allein hervor und ignorirt die äusseren Einflüsse, durch wel- che die erstere überhaupt erst hervorgerufen wurde. Man vergisst ganz, dass die scheinbar spontan von innen heraus geschehenden Wir- kungen des Organismus, welche man als „Angewöhnung, Uebung, Ge- brauch der Organe" etc. bezeichnet, nichts weniger als spontane sind, •sondern erst hervorgerufen durch die Einwirkung (den „Reiz") der äusseren Existenz -Bedingungen, also erst eine Reaction, eine Gegen- wirkung des Organismus, welche jenem äusseren Einflüsse adaequat ist und so lange fortdauert, als jener anhält. Untersuchen wir näher den Ursprung der falschen Vorstellungen, welche man sich vom Wesen der Gewöhnungs- Verhältnisse gemacht hat, so glauben wir als den Grundirrthum , welcher diese lange Kette unrichtiger Vorstellungen hervorgerufen hat, das falsche Dograa von der Freiheit des Willens bezeichnen zu müssen. Man ging bei Untersuchung jener Verhältnisse aus von der Beobachtung des Men- schen und anderer Thiere, und fand bald, dass die cumulativen An- passungs-Thätigkeiten, welche wir als Gewöhnung, Uebung u. s. w. bezeichnen, ihren scheinbar letzten Grund in dem „freien Willen" der Thiere haben, welcher die Bewegungen bestimmt und durch Veranlas- sung bestimmter, oft wiederholter und anhaltender Bewegungen auch, die Ursache der Functions- Modification und Form -Veränderung der Or- gane wird. Nun ist diese Ansicht von der cumulativen Wirkung der Willensbewegungen auf die Anpassung vollkommen richtig. Falsch ist nur das eine Glied der Schlusskette, dass der Wille „frei" ist, und dass er der letzte Grund der Gewöhnungs -Erscheinungen ist. Jede eingehende und objective Prüfung der freien W^illenshandlungen an uns selbst und an anderen Thieren zeigt uns, dass der Wille niemals frei ist, vielmehr jede, und auch die scheinbar freieste Willenshand- lung, die nothwendige Folge ist von einer langen und höchst ver- wickelten Kette von bewirkenden Ursachen, von Empfindungen, Denk- bewegungen und anderen Ursachen, die alle selbst wiederum niemals frei, sondern in letzter Instanz causal bedingt sind entweder durch die vorher besprochenen äusseren Existenzbedingungen (Licht, Wärme, Klima etc.) oder durch die der individuellen organischen Materie in- härenten (durch Vererbung erhaltenen) Kräfte. Dass diese Ansicht richtig ist, ergiebt sich mit Nothwendigkeit, wenn wir einzelne, aus scheinbar freiem Willen entsprungene und durch oftmalige Wiederholung (Cumulation) zur Gewohnheit gewordene Wil- lenshandlungen (freiwilUge Bewegungen) und die cumulativen Anpassun- gen i), welche der Organismus in Abänderung der Form und Function 1) Beispiele solcher cumulativen Anpassungen durch „Uebung und Gewohnheit" sind so leicht überall in der lebendigen Natur aufzufinden, dass es überflüssig scheinen könnte eiu einzelnes auszuwählen. Dennoch woUen wir wegen der so allgemeinen Verkennung Y. Veränderlichkeit und Anpassung. 213 der „geübten" Theile dabei erlittten hat, scharf untersuchen und bis auf ihre letzten Gründe zu verfolgen streben. Es zeigt sich dann allemal, dass sie ganz ebenso wie die vorhin aufgeführten „Wirkun- ler RoHe, ■welche der ..freie Wille" dabei spielt, eines anführen. Nehmen wir z.B. die lusserordentliche Abänderung in Grösse, Form, Zusammensetzung und Function (Kraft), ^^ elcho eine Muskel durch andauernde üebung zu erfahren im Stande ist. Nehmen wir ■inen Turner, der die Beugemuskeln des Armes durch fortgesetzte üebung in kur- 'er Zeit um das Doppelte ihres Volums und das Vielfache ihrer Leistungsfähigkeit ver- nehrt. Der Uebungs-Act selbst, die oft wiederholte Bewegung des Muskels, veranlasst nmäclist eine Veränderung in der Ernähning des Muskels, welche einen vermehrten Zu- rtuss von Nährstoffen herbeiführt. Dadurch wächst der Muskel ; er nimmt zu an Zahl der Muskelprimitivfasern , vielleicht auch an denjenigen chemischen Bestandtheilen der Mus- kcJsubstanz, welche vorzugsweise bei der Contraction thätig sind; er verbessert sich ilso wahrscheinlich nicht bloss quantitativ, sondern auch qualitativ, indem die im un- eübten Muskel abgelagerten Fette durch die üebung verschwinden und durch die edleren riiweisstoflfe ersetzt werden. Jedenfalls ist diese durch den Gebrauch des Organs her- ieigeführte Verbesserung desselben ein reiner Ernährungs-Process , also von den äusse- en Existenz -Bedingungen der Nahrung abhängig. Aber auch, wenn wir auf die letz- on Gründe der üebung des Muskels zurückgehen, werden wir auf Ernährungs - Abän- lerungen als wirkende Ursachen hingeleitet. Die Willens - Bewegung , welche den Turner iir üebung der Muskeln veranlasst, ist keineswegs „frei", sondern vielmehr die uoth- «endige Wirkung von Ursachen, welche in seinem Central -Nervensystem liegen. Diese ■ lewirkenden Ursachen sind bestimmte Vorstellungen, d. h. Functionen der Ganglienzellen, welche durch die Ernährung des Gehirns bestimmt, geregelt und modificirt werden. Diese \'orstellungen können theils unmittelbar im Nervencenti-um in Folge veränderter Ernäh- rungs-Verhältnisse entstehen, theils mittelbar, reflectirt nämlich von Empfindungen, die durch den unmittelbaren Einfluss der äusseren Existenz - Bedingungen (Licht, Wärme, P'euchtigkeit etc.) hervorgerufen werden. Die fortdauernde oder oft wiederholte Einwirkung '1er letzteren bedingt hier zunächst eine „üebung" der empfindenden centripetalen Nerven, eiche ebenso wie jene üebung des Muskels, mit einer Ernährungs -Veränderung des Or- _aus verbunden ist. Diese Veränderung überträgt sich im Nervencentrum entweder un- mittelbar freflectorisch) oder durch Einschaltung von Vorstellungen auf die motorischen nder centrifugalen Nerven, die ihrerseits wieder auf den Muskel wirken. Ueberall sind es aber in dieser zusammengesetzten Kette von Ursachen und Wirkungen zuletzt „Ernäh- •ungs- Abänderungen" (Veränderungen in der gegenseitigen Lagerung, Zusammensetzung iid Zahl der Stoff- Moleküle) , welche die Action. (eigentlich Reaction) und durch oft •\ iederholte Action die üebung und die cumulative Anpassung des Organs bedingen. Ich habe eben absichtlich die Beugemuskeln des Arms erwähnt, weil ich an meinem eigenen Körper erfahren habe, welche colossale Veränderung die fortgesetzte üebung in diesen Bewegnngs- Organen, und durch Wechselwirkung der Theile auch im übrigen Organismus hei-vorzubringen im Stande ist. Der Umfang meiner ganz ungeübten Oberarme hatte sich innerhalb eines Zeitraumes von anderthalb Jahren durch fortgesetzte energische Turn-Uebun- gen fast genau verdoppelt. Dieses enorme Muskelwachsthum und die damit verbundene üebung der Willens- Vorstellungen wirkte nun mächtig zurück auf die übrigen Vorstellungen meines Gehirns und insbesondere auf diejenigen des Denkens. Ihnen verdanke ich zum gros- sen Theile (zum grossen Theile allerdings auch anderen cumulativ einwirkenden Ursachen), dass die in meinem Gehirne vorherrschenden dualistischen und teleologischen Irrthümer immer mehr den monistischen und causalen Vorstellungen wichen und ihnen zuletzt voll- ständig das Feld Hessen. Die letzten Gründe sind in diesem und ähnlichen Fällen, so befremdend diese Behauptung auch erscheinen mag, mechanische Anpassungen, und mei- stens cumulative Abänderungen in den Ernährungs - Verhältnissen. 214 Die Descendenz - Theorie und die Selections- Theorie. gen der äusseren Existenzbedingungen" nicht einseitige Wirkungen von (hier äusseren, dort inneren) Einflüssen sind, sondern viehnehr ausnahmslos „Wechselwirkungen zwischen dem Organismus und der Aussenwelt". Auch die scheinbar freie Willenshandlung, welche durch anhaltende oder oftmalige Wiederholung zur „Gewohn- heit" wird, ist in der That Nichts als eine nothwendige Reaction, eine innere Gegenwirkung gegen den äusseren Einfluss der physikalisch und chemisch einwirkenden Existenz -Bedingungen. In letzter Instanz sind es auch liier, wie dort, Ernährungs-Abänderungen, wel- che durch die letzteren bewirkt werden, und welche erst indirect die Abänderung auf das Central -Nervensystem, den Willen, etc. übertra- gen. Hier wie dort erblicken wir eine verwickelte Kette von causal bedingten und causal wirkenden Molekular -Bewegungen, bei welchen dadurch, dass die Moleküle oftmals wiederholt oder lange Zeit hin- durch in einer neuen, aber immer in einer und derselben Richtung bewegt oder geordnet werden, endlich diese neue Anordnung oder Be- wegungsrichtuug der Moleküle zur bleibenden wird, d. h. eine feste Abänderung hervorruft. Dass diese theoretische Anschauung in der That die richtige ist, zeigt sich auch darin, dass wie bei der praktischen Beurtheilung - der gehäuften Anpassungen sehr oft nicht im Stande sind, zu sagen, ob dieselben „durch unmittelbare Einwirkung der äusseren Ezistenz- Bedingungen" oder aber durch „Uebung und Gewohnheit" bedingt sind. Dies ist z. B. bei den bekannten und wichtigen Vorgängen der Akkli- matisation der Thiere und Pflanzen der Fall. Eine genaue Analyse dieser Erscheinungen beweist, dass die sogenannte „unmittelbare" Ein- wirkung auch hier allerdings immer die erste Ursache, aber niemals die unmittelbare Ursache der bewirkten Abänderung ist, dass diese vielmehr immer erst eine Folge der Gegenwirkung, der Reaction des Or- ganismus ist. Auch dadurch wird diese Auffassung bestätigt, dass man bei der cumulativen Anpassung der Pflanzen fast immer ganz ausschliess- lich oder doch vorwiegend die „unmittelbare Wirkung der äusseren Exi- stenz-Bedingungen", bei der gehäuften Anpassung der Thiere dage- gen ebenso ausschliesslich oder vorwiegend die „Uebung und Gewohn- heit" als die wirkende Ursache betrachtet, wobei man wiederum durch die falsche Vorstellung geleitet wird, dass sich die Thiere durch ei- nen freien Willen vor den Pflanzen auszeichnen, was wir bereits im siebenten Kapitel widerlegt haben. In Wahrheit ist es hier wie dort, sowohl wenn die cumulative Anpassung durch die scheinbar „unmittelbare" Wirkung der äusseren Bedingungen (des Lichts, der Wärme etc.), als wenn sie durch die scheinbar „freie" Wirkung der inneren Bedingungen (der Gewohnheit, Uebung etc.) hervorgerufen wird, die Gegenwirkung (Reaction) V. Veränderlichkeit uad Anpassung. ^10 des Organismus gegen die Einwirkung der Au^senwelt, welche umbildend, abändernd auf den Organismus einwirkt. Der Orga- nismus verhält sich weder dort rein passiv, noch hier rein activ. Viel- mehr verhält er sich in beiden Fällen reactiv, und diese Beaction ist in letzter Instanz stets eine von der Ernährung abhängige Func- tion. Das wesentlich wirksame Moment, welches wir aber noch dabei besonders hervorheben müssen, ist die Häufung oder Cumulation der Einwirkungen und Gegenwirkungen, da sie allein blei- bende Abänderungen hervorzurufen im Stande ist. Eine abändernde Ursache, welche nur einmal oder wenige Male, oder nur kurze Zeit hindurch auf den Organismus einwirkt, z. B. ein neues, wesent- lich von den gewohnten verschiedenes Nahrungsmittel, ein Gift, eine Verwundung etc. vermag entweder gar keine bleibende Veränderung des Organismus hervorzurufen, oder nur dadurch, dass sie neue Mo- lekular-Bewegungen in demselben veranlasst, welche (als Reaction) lauge Zeit in demselben anhalten (z.B. bei einer traumatischen Affec- tion). Auch in diesen, scheinbar nicht cumulativen Anpassungen ist es also dennoch im Grunde eine Cumulation von zahlreichen, oft wie- derholten oder lange andauernden Molekular -Bewegungen, welche die bleibende Abänderung veranlasst. Für unsere Betrachtung sind aber diese Fälle einmaliger Einwirkung um so weniger wichtig, als die durch sie hervorgerufene Abänderung, auch wenn sie im Individuum bleibt, sich doch im Ganzen nur selten vererbt. Um so wichtiger dagegen ist die Wirkung der Häufung oder Cumulation der Reaction, d. h. die Erscheinung, dass sehr ge- geringe und unscheinbare Einwirkungen der Aussenwelt durch sehr oft wiederholte oder andauernde Einwirkung endlich die bedeutendsten und scheinbar in keinem Verhältniss stehenden Abänderungen, zunächst in der Ernährung des Organismus oder einzelner Organe, weiterhin in der Function derselben, und endlich auch, dieser entsprechend, in der Form der verändert ernährten Organe hervorrufen. Dies ist der Grundzug der cumulativen Anpassung, welche wir Uebung, Gewöh- nung u. s. w. nennen , und hierin gleicht das Gesetz der gehäuften An- passung dem oben erläuterten Gesetze der befestigten Vererbung. Wie mächtig dieses Gesetz der Angewöhnung wirkt, ist so allbe- kannt, dass wir keine weiteren Beispiele anzuführen und bloss an das bekannte Sprüchwort zu erinnern brauchen : Consuetudo altera natura. Wir wollen nur noch ausdrücklich hervorheben, dass der Nichtgebrauch der Organe, welcher rückbildend auf dieselben wirkt, nicht minder wichtig ist, als der Gebrauch der Organe, welcher aus- bildend auf sie wirkt. ' Durch die Gewohnheit des Nichtgebrauchs ent- stehen z.B. die meisten rudimentären Organe, welche für die Dyste- leologie so bedeutsam sind. 216 Die Descendenz- Theorie und die Selections - Theorie. 6. Gesetz der wechselbezüglicheu Anpassung. (Lex adaptatioiiis correlativae.J (Gesetz von den Wechselbeziehungen der Bildung, von der Compeusation der Entwicke- lung, von der Correlation der Theile etc.) Alle Abänderungen, welche in einzelnen Theilen des Organismus durch cumulative oder sonstige Anpassung entstehen, wirken dadurch auf den ganzen Organismus und oft besonders noch auf einzelne bestimmte Theile desselben zurück, und bewirken hier Abänderungen, wel- che nicht unmittel bar durch jene Anpassung bedingt sind. Dieses Anpassungs - Gesetz ist eines der wichtigsten und ist in sei- nen "Wirkungen schon längst anerkannt. Die vergleichende Anatomie musste auf dieses allgemein gültige Gesetz schon sehr frühzeitig auf- merksam werden , und so finden wir es denn von fast allen bedeuten- den „vergleichenden Anatomen" hervorgehoben, oft unter sehr ver- schiedenen Namen, als das Gesetz von der Wechselbeziehung der Entwickelung, von der Correlation der Organe, von der Compensation der verschiedenen Körpertheile u. s. w. Besonders die Naturphilosophen, und vor Allen Goethe, haben auf die ausnehnJende "Wichtigkeit die- ses Gesetzes beständig hingewiesen. Indessen haben die meisten Mor- phologen doch nur die fertige W^irkung dieses Gesetzes vor Augen gehabt, ohne sich dessen bewirkender Ursachen bewusst zu wer- den. Diese können nur in dem Zusammenhange der Ernährungs- Er- scheinungen des Organismus gefunden werden, und zwar in einer nutritiven Wechselwirkung zwischen allen Theilen des Organismus. Eine durch äussere Einflüsse, und namentlich durch die cumulative Anpassung bewirkte Veränderung in der Ernährung eines Organs wirkt stets verändernd zurück auf den gesammten Organismus, welcher ja eine geschlossene physiologische Ernährungs -Einheit dar- stellt. Gewöhnlich aber sind es einzelne Theile, welche vorzugsweise durch, jene rückwirkende Veränderung betroffen werden und demgemäss zunächst in ihrer Ernährung, weiterhin in ihrer bestimmten Function und Form, entsprechende Abänderungen erleiden. Vorzugsweise sind ho- mologe und analoge Theile , wie z. B. die verschiedenen Theile des Hautsystems oder die verschiedenen Theile des Centralnervensysteras von dieser wechselbezüghchen Anpassung abhängig, wie z. B. bei den Cavicornien (Rindern, Schaafen, Ziegen etc.) jede eintretende Verände- rung in der Haarbildung gewöhnlich zugleich eine entsprechende Ver- änderung in der Ausbildung der Hörner, der Hufe etc. veranlasst. Ferner bewirkt eine Veränderung eines Sinnesorgans in der Regel eine compensatorische in den übrigen Sinnesorganen. Aber auch Theile die scheinbar in sehr geringem morphologischen und physiologischen V. Veränderlichkeit und Anpassung. 217 Zusammenhange stehen , z. B. Hautsystem und Muskelsystem , stehen in compensatorischer Wechselbeziehung, wie denn bekanntlich bei den Cavicornien bestimmte Veränderungen in der Haarbildung (z. B. der Schaafwolle) auf die Qualität des Fleisches zurückwirken. Oft sind diese Wechselbeziehungen der merkwürdigsten Art; so z.B. sind Katzen mit blauen Augen allezeit taub; Vögel mit langen Beinen haben meist auch lange Hälse und Schnäbel; blonde Menschen mit hellen Haa- ren und heller Hautfarbe sind für gewisse innere Krankheiten , z. B. klimatische Fieber, Leberentzündungen etc. weit empfänglicher, als brünette mit dunklen Haaren und dunkler Hautfarbe; besonders merk- würdig ist die innige Wechselbeziehung zwischen den Geschlechtsor- ganen und dem Centrainervensystem, welche sich bekanntlich in einer Fülle der auffallendsten Wechselbeziehungen äussert. Wie sehr gerade (las Genitalsystem auf die übrigen Organsysteme zurückwirkt, zeigt vielleicht kein Beispiel auffallender, als dasjenige der Castraten, bei welchen die künstliche Verhinderung der sexuellen Entwickelung eine entsprechende Hemmungsbildung des Kehlkopfes und eine compensa- torische Entwickelung des Panniculus adiposus der Haut hervorruft Ebenso befördert man bei den Pflanzen die Blattentwickelung durch Un- terdrückung' der Blüthenentwickelung. Dieser allgemeine Gegensatz zwi- schen den generativen und nutritiven Theilen gehört zu den wichtigsten Erscheinungen , weche unter das Gesetz von der Correlation der Theile fallen. Lediglich eine Folge dieser Gegenwirkung , eine Folge der äus- serst empfindlichen Reaction des Genitalsystems gegen die Ernährungs- Veränderungen des übrigen Körpers ist das äusserst wichtige Gesetz der potentiellen Anpassung oder indirecten Abänderung, welches wir in den vorhergehenden Abschnitten erläutert haben. 7. Gesetz der abweichenden Anpassung. (Lex adaptationis divergentis.J (Gesetz von der ungleichartigen Abänderung gleichartiger Theile.) Gleiche Theile (gleiche Individuen einer und dersel- ben Individualitäts-Ordnung), welche in Mehrzahl in dem Organismus verbunden sind, erleiden ungleiche Abände- rungen, indem dieselben in verschiedenem Grade der cu- inulativen Anpassung unterliegen. • Auch dieses Anpassungs- Gesetz ist von der grössten Wichtigkeit. Denn dieses ist es vorzüglich, welches in Wechselwirkung mit den Vererbungs - Gesetzen die grossen Erscheinungen der organischen Ditfe- renzirung, der divergenten Entwickelung gleichartiger Theile bewirkt, und dadurch in erster Innie bei der Erzeugung der unendlichen Man- tiichfaltigkeit organischer Formen mitwirkt. Hier haben wir die di- vergente Adaptation natürlich nicht in der grossartigen Wirksamkeit zu 218 Die Desceudeuz - Theorie und die Selectious - Theorie. betrachten, welche sie, in Verbindung mit der Erbliclikeit, im Laufe von Generationen entfaltet, sondern nur insofern sie innerhalb des Lau- fes der individuellen Existenz wirksam ist. Da aber auf dieser be- schränkten ontogenetischen Wirksamkeit des Divergenz - Gesetzes seine umfassendere Wirksamkeit als phylogenetisches Differenzirungs- Gesetz beruht, so müssen wir dasselbe hier gebührend hervorheben, um so mehr, als es in dieser Beziehung meist nicht gehörig gewürdigt wird. Das Gesetz der divergirenden oder abweichenden Anpassung be- hauptet, dass allgemein in den Organismen, welche eine Wiederholung von gleichartigen Theilen enthalten, diese das Bestreben haben, sich nach ganz verschiedenen Richtungen hin zu entwickeln, indem sie in verschiedenem Grade der cumulativen oder correlativen Anpassung un- terliegen. Dieses Gesetz gilt von den Individuen aller Ordnungen, von der Plastide bis zur Person hinauf, und ist die Basis des bemhm- ten Gesetzes der Arbeitstheilung, welches allgemein, bei den Individuen aller Ordnungen, von der ersten bis zur sechsten wirksam ist. Wir sehen also, dass in einem Organe oder Organismus, welcher anfangs aus vielen gleichen Piastiden besteht, im Laufe seiner individuellen Existenz eine Differenzirung derselben eintritt, indem die einen Cyto- den oder Zellen in dieser, die andern in jener Weise abändern. So differenziren sich in allen Organen (Individuen zweiter Ordnung) die anfangs gleichen Zellen später durch divergirende Anpassung in ver- schiedene Gewebe, indem z. B. an einer aus lauter gleichen Zellen zusammengesetzten embryonalen Extremität die einen zu Muskeln, die andern zu Nerven, die dritten zu Gefässen etc. sich gestalten. Ebenso entstehen durch Differenzirung von mehreren urspmnglich gleichartigen Organen (z. B. den fünf Zehen des Wirbelthier- Fusses) später durch divergente Ausbildung ungleichartige Organe. Ferner diiferenziren sich in derselben Weise die ursprünglich gleichen Metameren des Glieder- thier-Körpers; während sie bei den niedersten Würmern alle gleich bleiben, sehen wir bei den höheren Würmern und den Arthropoden eine divergente Entwickelung eintreten und zwar ebenso im Laufe der Ontogenese, wie der Phylogenese. Dasselbe gilt von den Antimeren, welche ursprünglich immer gleichartige Theile darstellen und erst se- cundär der divergenten Anpassung unterliegen. Ebenso differenziren sich endlich die gleichartigen Personen, welche zu Stöcken zusammentreten, durch divergente Anpassung (Arbeitstheilung) zu verschiedenen Personen. Dieses allgemeine Differenzirungs -Gesetz oder Divergenz -Gesetz ist in den vollendeten Folgen seiner Ungeheuern und äusserst mannich- faltigeu Wirkung* von allen Naturforschern anerkannt. Viele haben auch seine causale Bedeutung und active Wirksamkeit während des Laufes der embryologischen, Wenige während des parallelen Lautes der palaeontologischen Entwickelung erkannt. Die Wenigsten aber smd V. Veränderlichkeit und Anpassung. 219 von der äusserst wichtigen Thatsache durchdrungen, dass alle DiiFe- renzirungen oder Divergenzerscheinungen, welche wir während jener laufenden Entwickelungsreihe beobachten, nur die gehäuften Folgen und Wiederholungen von zahllosen einzelnen divergenten Anpassungen sind, welche die individuellen Organismen während des Laufes ihrer individuellen Existenz allmählich erfahren haben. Die Ursachen der divergenten Anpassung Hegen ganz einfach in dem Nutzen, den die Arbeitstheilung oder Differenzirung, die ungleichar- tige Ausbildung von ursprünglich gleichartigen Theilen, einem jeden Organismus gewährt. Jeder Mensch weiss, dass er einen Nutzen davon hat , rechte und linke Hand z. B. in verschiedener Weise auszubilden. Indem von mehreren gleichen Organen (Individuen verschiedener Ord- nung) Jedes nur eine einzige Function vorzugsweise ausbildet, und zwar durch cumulative Anpassung, wird die anfangs gleichartige Er- nährung der gleichen Organe eine verschiedene, und es erfolgt schliess- lich als Endresultat für den Organismus die vollendete Arbeitstheilung der Organe, auf welcher alle Vervollkommnung beruht. 8. Gesetz der unbeschränkten Anpassung. Lex adaptationis infinitae. Alle Organismen können zeitlebens, zu jeder Zeit ihrer Entwickelung und an jedem Theile ihres Körpers, neue Anpassungen erleiden; und diese Abänderungsfähigkeit ist unbeschränkt, entsprechend der unbeschränkten Mannich- faltigkeit und beständigen Veränderung der auf den Or- ganismus einwirkenden Existenzbedingungen. Auch dieses Gesetz, mit welchem wir unsere Aufstellung der wich- tigsten Anpassungs-Gesetze beschliessen, ist für die Umbildung der or- ganischen Formen von nicht minderer Wichtigkeit, als alle vorherge- henden. Während die Aufstellung desselben von allen Physiologen, und von denjenigen Morphologen, welche einen weiteren Ueberblick über die gesammten Erscheinungen der organischen Natur besitzen, vielleicht für überflüssig, weil selbstverständlich, erachtet werden wird, muss dasselbe dagegen von denjenigen Morphologen, welche auf Grund ihrer beschränkten Naturanschauung die Species-Constanz vertheidigen, (und es ist dies leider noch heute die grosse Mehrzahl!) mit aller Macht bekämpft werden. Denn aus diesem grossen Grundgesetz allein schon, auch ohne Rücksicht auf die übrigen, muss die Unhaltbarkeit des Dogma von der Species-Constanz folgen. Alle Speeles -Dogmatiker, auch die vernünftigeren, welche einen grossen Spielraum der Variabi- lität für jede Speeles zulassen, behaupten, dass dieser Spielraum inner- halb ganz bestimmter Grenzen beschränkt sei, und dass eine „Art", möge sie noch so sehr durch Anpassung an verschiedene Lebens -Be^- 220 Die Descendenz- Theorie und die Selections - Theorie. dinguiigen abändern, sich immer innerhalb eines bestimmten, von dem Schöpfer uranfänglich in dem systematischen Cataloge seiner Bau- pläne festgestellten Formenkreises bewege. Indem der Schöpfer jede „Speeles" als geschlossene Einheit nach einem vorher von ihm ausge- dachten Modelle, einem architectonischen Entwürfe schuf, gab er ihr zugleich die Fähigkeit mit, sich an bestimmte Lebensbedingungen bis zu einem gewissen Grade anzupassen, bestimmte er ihr einen geschlos- senen Variabilitäts- Kreis, erlaubte ihr aber nicht, diese Grenze zu überschreiten. Diese unter der grossen Mehrzahl der Morphologen noch heute verbreitete Vorstellung ist eben so absurd, als alle übrigen Cou- sequenzen, zu welchen das Dogma von der Speeles -Constanz nothwen- dig hinführt. Indessen thut diese Absurdität der Geltung jener Vor- stellung, da sie bereits durch Vererbung sich stark befestigt hat, kei- nen Eintrag. Um so mehr müssen wir uns hier auf das Entschiedenste dagegen erklären und das eben aufgestellte Gesetz von der unbeschränk- ten Anpassungsfähigkeit der Organismen auf das Bestimmteste aufrecht erhalten. In der That finden wir in der gesammten organischen Natur nicht eine einzige Erscheinung, welche der Annahme widerspricht, dass alle Organismen zu jeder Zeit ihres Lebens und an jedem Theile ihres Kör- pers eine neue Abänderung erleiden können, sobald sie neuen Existenz- Bedingungen unterworfen werden. Dass immer neue Existenz -Bedin- gungen entstehen, dass die vorhandenen einer beständigen Veränderung unterworfen sind, dass die ganze Welt nicht still steht, sondern sich in einer beständigen Veränderung, und zwar in einer fortschreitenden Entwickelungs- Bewegung befindet, wird Niemand leugnen, der einen allgemeinen Ueberblick der uns umgebenden Erscheinungs-Welt besitzt, und bei dem nicht durch langjährige Anpassung an den beschränkten Gesichtskreis der degenerirten systematischen Morphologie sein Er- kenntniss - Vermögen rudimentär geworden oder ganz verloren gegangen ist. Aus dieser beständigen, unaufliörlichen , wenn auch langsam und allmählich stattfindenden Umänderung der Aussenwelt, welche dem Organismus seine Existenz -Bedingungen vorschreibt, folgt nun schon unmittelbar eine entsprechende Umänderung der Organismen selbst, denn wo die Ursachen sich ändern, da kann auch die Wirkung nicht dieselbe bleiben. Entsprechend der überall und jederzeit stattfindenden Veränderung der Aussenwelt, mit welcher die Organismen in Wechsel- wirkung leben, muss auch überall und jederzeit eine Anpassung der letzteren an die erstere, also eine unbeschränkte Umgestaltung statt- ' finden. Diese kann zu jeder Zeit des Lebens und an jedem Theil des Organismus eintreten, da die umgestaltenden Kräfte, d. h. die Verän- derungen der Existenz - Bedingungen zu jeder Zeit stattfinden und auf jeden Theil des Körpers mittelbar oder unmittelbar einwirken können. V. Veränderlichkeit und Anpassung. 221 Selbstverständlich ist eiue bestimmte Schranke der Anpassungs- fähigkeit allgemein durch die ihr entgegenwirkende Erblichkeit gesetzt, durch den „Typ"s" des Stammes; allein innerhalb dieses Typus, innerhalb der unveräusserlichen Charaktere des Phylon, ist eine Schranke nicht vorhanden , und die parasitischen Crustaceen z. B. scheinen auch jjene Grenze der Typus - Charaktere zu überschreiten. Mit der gleichen Nothwendigkeit , niit welcher sich dieses Gesetz aals eine unmittelbare Folgerung aus der grossen Erscheinung der be- 5 ständigen Umänderung der Gesammtnatur (und speciell der anorgani- ? sehen Natur) ableiten lässt , mit derselben Nothwendigkeit drängt sich Duns unmittelbar seine allgemeine Geltung auf, wenn wir die gesamm- tten Erscheinungsreihen der organischen Natur von dem höheren allge- I meinen Gesichtspunkte aus vergleichend betrachten. Die gesammte Phy- llogenie, die gesammte Physiologie der Organismen liefert eine über- e einstimmende Kette von Beweisen für dasselbe. Die Phylogenie zeigt tuns, wie ein und derselbe Stamm von organischen Formen, z.B. der cder Wirbelthiere , aus einfacher Basis entspringend, sich nach allen ^ Seiten reich verzweigt, wie die Mannichfaltigkeit seiner divergenten .'Aeste mehr und mehr im Laufe der Erdgeschichte zunimmt und wie fdieselben noch in der Gegenwart eine unbegrenzte Fähigkeit zur Ab- iänderung zeigen. Freilich ist diese Fälligkeit sehr verschieden. Die feinen Speeles sind äusserst variabel, die anderen sehr eonstant, eine tdritte Gruppe nur in massigem Grade abänderungsfähig. Diese That- ssache entspricht aber vollkommen der ungleichen physiologischen Con- sstitution und Lebensweise der verschiedenen Arten. Solche Arten, die mur unter ganz beschränkten Bedingungen existiren können, die sich Ibereits einer grossen Summe specieller Existenz- Verhältnisse angepasst fhaben (wie z. B. viele Parasiten), die also auch nur einen beschränkten Werbreitungs-Bezirk haben werden, können sich nur in geringem Grade Eund nur nach bestimmten eng begrenzten Richtungen hin verändern und meu anpassen. Solche Arten dagegen, die unter sehr verschiedenen Be- ddingungen existiren können, die sich nur einer kleinen Summe speeiel- Wer Existenz -Verhältnisse angepasst haben (wie z. B. die Mäuse), die »also auch einen weiteren Verbreitungs- Bezirk haben werden, können isieh noch in hohem Grade und nach vielen verschiedenen Richtungen ihin verändern und neu anpassen. Wir können die letzteren Arten mit ^SnelP) als ideale, die ersteren dagegen als praktische Typen be- Rzeichnen. 1) CarlSnell, die Schöpfung des Menschen. Leipzig 1863. Dieses Schrift- ^chen ist sehr zu empfehlen wegen der anschaulichen Beweisführung, dass alle Entstehung »»organischer Formen nicht als Schöpfung, sodann nur als Eutwickelung gedacht 'werden kann. Wenn auch die zoologischen Beispiele zum Theil nicht glücklich ge- 'wählt, und in der einzelnen genealogischen Speculation manche Irrthümer sind, so 222 Die Descendenz - Theorie und die Selections - Theorie. Dieser Unterschied zwischen den praktischen oder ein- seitigen und den idealen oder vielseitigen Organisations- | Typen gilt nicht allein von den einzelnen Arten, sondern auch von || den Gattungen, Klassen und überhaupt von allen Zweigen des syste- | matischen Stammbaumes. Wir können alle Kategorieen desselben all- gemein in die beiden (natürlich nie scharf zu trennenden, sich aber doch im Ganzen gegenüber stehenden) Gruppen der idealen oder in weitem Umfang anpassungsfähigen Gestalten und der praktischen oder in engem Umfang adaptablen Gestalten scheiden. Ideale oder po- lytrope Typen sind z. B. unter den Echinodermen die Ästenden, unter den Articulaten die Anneliden, unter den Phanerogamen die Cupulife- ren. Praktische oder monotrope Typen dagegen sind unter den Echi- nodermen die Crinoiden und Echiniden, unter den Articulaten die Ce- stoden und Insecten, unter den Phanerogamen die Palmen und Orchi- deen. Ferner sind ideale oder vielseitige Gruppen unter den Wirbel- thieren z. B. die Selachier , die Eidechsen , die Halbaffen ; praktische oder einseitige Gruppen dagegen sind die Teleostier, die Schildkröten, die Fledermäuse. Die idealen oder vielseitigen Gruppen passen sich weniger speciell bestimmten Bedingungen an und bleiben dadurch in höherem Grade entwickelungsfähig. Die praktischen oder einseitigen Gruppen passen sich dagegen ganz speciell bestimmten Bedingun- gen an, leisten auf diesem beschränkten Gebiete Grösseres, büssen da- durch aber die weitere Entwickelungsfähigkeit ein. Dieser höchst wich- tige Unterschied ist auch unter den Individuen der menschlichen Ge- sellschaft überall und also auch in der Wissenschaft zu verfolgen. Die idealen und vielseitigen philosophisch gebildeten Köpfe, welche die Er- scheinungen synthetisch vergleichen und denkend ordnen, sind es, wel- che die Menschheit im Ganzen weiter bringen, weil sie sie anpas- sungsfähig erhalten. Die praktischen und einseitigen Gelehrten dage- gen, welche die Erscheinungen nur analytisch zergliedern, und welche sich nicht höheren Ideen anpassungsfähig erhalten, können jenen bloss das Material liefern, das sie zum Besten des Ganzen verwerthen. Wie der Mensch, als das am genauesten und am längsten unter- suchte Thier, für alle allgemeinen biologischen Erscheinungen, und namentlich für die von uns hier untersuchten Gesetze der Vererbung und der Abänderung die besten und schlagendsten Beispiele liefert, so giebt er uns auch den sichersten Beweis für das grosse Gesetz der unbeschränkten Anpassung. In diesem Gesetze liegt die ganze unbe- grenzte Entwickelungsfähigkeit des Menschengeschlechts eingeschlossen, und für uns speciell die tröstliche Aussicht, dass der vielgerühmte Culturzustand des neunzehnten Jahrhunderts sicher nach Verlauf weni- verdienen doch viele allgemeine Bemerkungen als höchst treflfend besondere Beherzigung, nnd keineswegs die Verachtung, die manche Empiriker gegen dieselben ausgesprochen haben. YI. Vererbung und Anpassung. 223 i^er Jahrhunderte, und vielleicht schon vor Beginn des zweiten Jahr- tausends n. Chr. als der Zeitpunkt des Erwachens aus den scholasti- schen, halb barbarischen Vorurtheilen des Mittelalters und seiner Fort- :>etzung bis zur Gegenwart bezeichnet werden wird. Es hiesse an dem Werthe der Menschheit und dem ungeheuren Fortschritt, den sie bereits seit ihrer Divergenz von den übrigen Affen gemacht hat, verzweifeln, wenn man nicht die gleiche Fähigkeit der dauernden Anpassung und Vervollkommnung auch für alle kommenden Zeiten behaupten wollte. Wie aber im Gehirne des Menschen sich die unbegrenzte Anpassungs- fähigkeit des Organismus auf das schlagendste bekundet, so gilt die- selbe auch als allgemeines Gesetz für alle übrigen Organismen. VI. Vererbung und Anpassung. (Atavismus und Variabilität.) Vererbung und Anpassung sind die beiden einzigen physiologischen Functionen, welche in ihrer beständigen Wechselwirkung die unendlich mannichf altigen Unter- schiede aller Organismen bedingen, und zwar nicht bloss die morphologischen, sondern auch die davon nicht trennbaren physiologi- sche Unterschiede. Alle Eigenschaften, welche wir an den einzelnen Organismen wahrnehmen, und durch welche wir sie von den andern unterscheiden , und zwar ebenso alle Eigenschaften der Form , wie des Stoffes und der Function, sind lediglich die nothwendigen Producte der Wechselwirkung -jener beiden formenden Kräfte. Im Allgemeinen ist jeder ausgebildete Charakter, jedes entwickelte Merkmal, jede we- sentliche Eigenschaft des Organismus ein Product beider Factoren, der auf der Fortpflanzung beruhenden Vererbung und der auf der Er- nährung beruhenden Anpassung. Im Besonderen jedoch können wir von jedem einzelnen Merkmal sagen, dass es in seinem gegenwärtigen Zustande entweder vorwiegend durch Vererbung oder vorwiegend durch Anpassung erworben sei; und ursprünglich sind alle Charaktere ent- weder vererbte oder erworbene. Wir können also, und es ist dies von der grössten Wichtigkeit für die Systematik, alle Eigenschaften, alle ' 'haraktere der Organismen in zwei gegenüberstehende Gruppen brin- -en: Ererbte Eigenschaften (Characteres hereditarii) und ^lurch Abänderung der vererbten erworbene, angepasste Eigen- chaften (Characteres adaptati). Während diese Vereinigung von ererbten und durch Anpassung t;rworbenen Charakteren sich bei allen Organismen findet, welche durch Fortpflanzung von elterlichen Organismen entstehen, existirt ein etwas anderes Verhältniss bei denjenigen Organismen, welche elternlos durch Selbstzeugung oder Autogonie entstanden, bei den structurlosen Mo- \ 224 Die Desceudenz - Theorie und die Selections- Theorie. neren also, die im sechsten Capitel besprochen worden sind. Bei die- sen fällt natürlich das Moment der Ererbimg weg und an dessen Stelle tritt die unmittelbare physikalische und chemische Beschaffenheit der Materie, aus welcher das autogone Moner besteht. Diese ist es, welche hier der Anpassung entgegenwirkt, und welche zum erblichen Charakter wird, wenn das Moner sich fortpflanzt. Im Grunde ist aber dieser Unterschied nur sehr unwesentlich, da ja auch das Wesen der erb- lichen Eigenschaften in der unmittelbaren physikalischen und chemi- schen Beschaffenheit der Materie liegt, aus welcher der Organismus besteht. Wir kommen hier im Wesentlichen zurück auf den Unterschied der beiden in Wechselwirkung stehenden gestaltenden Kräfte, welche wir im fünften Capitel untersucht haben, auf den inneren und äusse- ren Bildungstrieb. Wir sprachen dort aus, dass jeder Organismur^ ein Product der Wechselwirkung dieser beiden Factoren ist, des inne- ren Bildungstriebes, d. h. der physikalischen und chemischen Kräfte, welche der den Organismus constituirenden Materie inhäriren, und des äusseren Bildungstriebes, d. h. der physikalischen und chemischen Kräfte, welche der den Organismus umgebenden Materie der Aussenwelt innewohnen und auf erstere einwirken. Offenbar ist jener nun bei allen Organismen, die durch Fortpflanzung entstanden sind, der in der Vererbung wirkende, dieser dagegen in allen Fäl- len der in der Anpassung und Abänderung wirkende Gestaltungstrieb. Wir können also das wichtige Gesetz , welches die gesammte Mannich- faltigkeit der Organismen-Welt auf die Wechselwirkung von nur.zwei gestaltenden Kräften zurückführt, in folgeitde Worte zusammen- fassen: Alle Eigenschaften oder Charaktere der Organismen sind das Product der Wechselwirkung von zwei gestalten- den physiologischen Functionen, dem inneren, auf der ma- terieM.^;n Zusammensetzung, des Organismus beruhenden und du^i-ch die Fortpflanzung vermittelten Bildungstriebe der Vererbung, und dem äusseren, auf der Gegenwirkung des Organismus gegen die Aussenwelt beruhenden und durch die Ernährung vermittelten Bildungstriebe der An- passung. In jeder Eigenschaft des Organismus kann aber der eine der beiden Bilduugstriebe als die vorzugsweise bewirkende Ursache erkannt werden, und in dieser Beziehung sind alle Charaktere des Organismus in erster Instanz entweder ererbt oder durch Anpassung erworben. Aus Gründen, welche wir im sechsten Buche erörtern werden, bezeichnen wir die ererbten oder Vererbungs- Charaktere als ho- mologe, die angepassten oder Anpassungs-Charaktere als ana- loge. Eine Hauptaufgabe der gesammten Morphologie der Organis- VI. Vererbung und Anpassung. 225 meii beruht in der Erkeniitiiiss dieses Unterschiedes, und wenn die Systematik und die vergleichende Anatomie immer in erster Linie be- strebt gewesen wäre, diesen Unterschied zu entdeclcen, so würde sie ihrer Aufgabe, der Erkenntniss der natürlichen Verwandtschaften der Organismen , schon uuendhch näher sein. Denn es liegt auf der Hand, dass nur die homologen oder ererbten Charaktere uns auf die Erkennt- niss der natürlichen Blutsverwandtschaft hinleiten können, während die analogen oder angepassten Charaktere nur geeignet sind, dieselbe uns zu verhüllen. Die ganze Kunst der vergleichenden Morphologie (die man nur künstlich in vergleichende Anatomie und Systematik trennt) beruht also darauf, zu erkennen, ob die Aehnlichkeit , welche zwei „verwandte" Organismen verbindet, eine Homologie oder eine Analogie ist. Je mehr zwei verwandte Organismen gemeinsame Homologieen besitzen, desto enger sind sie verwandt; je mehr ihre Aehnlichkeit bloss auf Analogieen beruht, d. h. auf der Anpassung an gleiche oder ähnliche Lebens -Bedingungen, desto weniger sind sie verwandt. So stehen die Walfische durch Analogie den Fischen, durch Homologie den Menschen näher. Ebenso stehen die Insekten durch Analogie den Vögeln, durch Homologie den Würmern näher. Die beiden allmächtigen bewegenden Kräfte der Vererbung und der Anpassung, welche wir oben auf die physiologischen Functionen der Fortpflanzung und Ernährung zurückgeführt haben, sind in ihrer allgemeinen Wechselwirkung die beiden einzigen Factoren, welche die gesammte organische Welt gebildet haben und noch immerfort bilden. Sie haben an die Stelle der inneren Idee, des Schöpfers, des zweck- mässigen Bauplanes zu treten, und wie alle die irrthümhchen Vorstel- lungen weiter heissen mögen, welchen die Teleologie und der Dualis- mus überhaupt die „Schöpfung" der Organismen zuschreibt. So einfach nun dieses grosse Gesetz ist, so fest wir überzeugt sind, dass diese beiden Factoren allein die organische Welt geschaffen haben, so ausserordentlich schwierig ist es im Einzelnen den Process ihrer Wechselwirkung zu verfolgen und von jeder einzelnen Function, von jeder einzelnen Formeigenschaft des Organismus zu sagen, wieviel davon Wirkung der Vererbung, wieviel Wirkung der Anpassung sei. Denn alle die verschiedenen Modificationen der Heredität und Adapta- tion, welche wir in den oben begründeten Gesetzen aufgeführt haben, treten im Organismus in eine so äusserst compHcirte Wechselwirkung, dass es, wenigstens bei unseren jetzigen, noch höchst unvollständigen Kenntnissen, äusserst schwierig ist, den Process der organischen Um- bildung selbst zu verfolgen. Hier nun gelangen wir zur Betrachtung der ungemein wichtigen Gesetze, welche sich bis jetzt aus der Wechselwirkung der Vererbung und Anpassung haben ableiten lassen und deren Aufstellung das be- Hacckel, Genorelle Morphologie , 11. 1 F, 226 Die Desceiidenz -Theorie und die Selections- Theorie. sondere und höchst hewunderungswürdige Verdienst von Charles Dar- win ist. Zunächst haben wir die wichtigen Vorgänge der natürlichen und künstlichen Züchtung oder Auslese (Selection) zu betrachten, wel- che den Werth vollen Kern seiner Selections - Theorie l)ilden, und dem- nächst die weitgreitenden Gesetze der Divergenz oder Differenzirung, und des Fortschritts oder der Vervollkommnung, welche sich als Con- sequenzen aus dem Selections - Gesetz ergeben. VII. Züchtung oder Selection. (Zuchtwahl, Auslese.) Das erste und oberste Gesetz, welches die Entstehung neuer or- ganischer Formen durch die Wechselwirkung von Vererbung und An- passung regelt, ist das Gesetz der Züchtung oder Selection. Das We- sen des Züchtungs- Vorganges liegt darin, dass von zahlreichen neben einander lebenden ähnlichen, aber ungleichen Individuen von einerlei Art nur eine bestimmte Anzahl zur Fortpflanzung gelangt , und, also seine individuellen Eigenschaften auf die Nachkommenschaft vererbt und dadurch erhält, während die anderen, nicht zur Fortpflanzung ge- langenden Individuen derselben Art aussterben , ohne ihre individuellen Eigenschaften vererben und so in den Nachkommen erhalten zu kön- nen. Es findet also bei der Fortpflanzung aller Organismen von einer- lei Art eine Auswahl oder Auslese, Selection, statt, welche die einen Individuen bevorzugt, indem sie ihnen gestattet, ilire individuellen Charaktere auf die Nachkommenschaft zu vererben, während sie die anderen Individuen beuachtheiligt , indem sie ihnen dies nicht gestat- tet. Dui'ch diese Auslese oder Zuchtwahl wird eine allmähliche Ab- änderung der ganzen. Organismen-Art bedingt, indem die individuellen Charaktere des sich fortpflanzenden Bruchtheils der Art Gelegenheit erhalten, sich durch Vererbung zu befestigen und so immer stärker hervorzutreten. Der Vorgang der Züchtung oder Auslese ist von dem Menschen künstlich betrieben worden seit jener weit zurückliegenden Zeit, in welcher er, selbst erst dem niedersten Zustande thierischer Rohheit entwachsen, zum ersten Male anfing, Thiere und Pflanzen zu seinem Nutzen bei sich zu halten und fortzupflanzen')- Dieser Process war von Anfang an mit einer, zunächst allerdings unbewussten Auslese oder Zuchtwahl (Selection) verbunden, indem der Mensch nur einen Bruch- theil der zu seinem Nutzen gezogenen Thiere und Pflanzen zur Fort- pflanzung der Art benutzte, die übrigen dagegen in verschiedener 1) Viel frühw, als vou den Mensehen, ist der künstliche Zilchtungs - Process wahr- schoinlich schon von anderen Thieren beü-ieben worden, so z.B. von den Ameise«, wel- che Sclaven halten , and welche die Blattläuse als ihr Melkvieli züchten. •VII. Züchtung oder Selection. 227 Weise zu seinem Nutzen verwandte. Nun wird der Mensch, sobald er den grossen Nutzen einsah, der ilim, durch die Cultur der Thiere und Pflanzen erwächst, schon frühzeitig auf den Gedaiiken gekommen sein, nicht allein dieselben durch Fortpflanzung bloss zu . erhalten, sondern auch, bei der offenbaren Ungieicheit der Individuen, die für seinen Vortheil tauglicheren Individuen allein zu erhalten, die übrigen, we- niger tauglichen dagegen zu vernachlässigen. Er wird also bloss die crsteren, nicht die letzteren zur Fortpflanzung (Nachzucht) benutzt haben, und hiermit war bereits die Kunst der individuellen Auswahl, der Auslese zur Nachzucht erfunden, welche das Wesen der künst- lichen Züchtung bildet. Indem nämlich der Mensch bei dieser Aus- wahl der tauglichsten Individuen zur Nachzucht Generationen hindurch diejenigen Individuen aussuchte, die einen bestimmten (für ihn vor- theilhaften) Charakter oder eine neu erworbene Abänderung besonders deutlich zeigten, die anderen dagegen, die denselben weniger ausge- sprochen oder gar nicht zeigten, ausschied, wurde nicht allein dieser erwünschte Charakter oder die neue Abänderung erhalten, sondern er wurde auch nach den Vererbungs-Gesetzen durch Häufung gestei- gert und befestigt. Lediglich durch diese, Generationen hindurch fortgesetzte Auswahl bestimmter Individuen zur Fortpflanzung (Nach- zucht) , lediglich durch diese andauernde künstliche Anslese oder Zucht- wahl, war der Mensch im Stande, die Wechselwirkung zwischen Ver- erbung und Abänderung so zu benutzen, dass er schliesslich die zahl- losen Culturformen der Hausthiere und Nutzpflanzen erzeugte, die zum Theil von ihren natürlichen Vorfahren viel weiter verschieden sind, als es verschiedene sogenannte „gute Arten" und selbst verschiedene Gattun- gen im Naturzustande sind. Es ist nun Darwin 's unschätzbares und besonderes Verdienst, nachgewiesen zu haben, dass einem ganz analogen Züchtungs- Vorgange auch die unendliche Mannichfaltigkeit der Thiere und Pflanzen im wil- den Zustande ihre Entstehung verdankt, und dass überall und jeder- zeit in der vom Menschen unabhängigen Natur eine „natürliche Zucht- wahl" wirksam ist, welche der künstlichen vom Menschen betriebenen Auslese durchaus analog ist. Dasjenige auslesende Princip, welches in der Natur die auswählende willküi-liche Thätigkeit des Menschen ersetzt, ist das von Darwin zuerst entdeckte, äusserst wichtige und comphcirte Wechsel verhältniss der Organismen zu einander, welches er mit dem Namen des „Kampfes um das Dasein" (Struggie for life) be- legt. Die „natürliche Züchtung" (Natural selection), welche dieses be- ständig thätige Princip ausübt, wirkt dmxhaus analog der vom mensch- lichen Willen ausgeübten „künsthchen Züchtung" und erzielt durchaus ähnliche Residtate. Allein während die neuen Formen, welche die künstliche Züchtung hervorbringt, der menschlichen Auslese entspre- 15* 228 Die Descendenz - Theorie und die Selectious - Theorie. chend dem Nutzen des Menschen dienen , sind dagegen die neuen For- men, welche die natürliche Züchtung hervorbringt, dem Nutzen des abgeänderten Organismus selbst dienstbar. Auch wirkt aus gleich zu erörternden Gründen die letztere zwar langsamer, aber ungleich mäch- tiger, stetiger und allgemeiner, als die erstere. Um den äusserst wich- tigen Process der natürlichen Züchtung, welcher das Skelet der gan- zen Selections- Theorie bildet, richtig zu verstehen, wollen wir zuvor den besser bekannten, aber ganz analogen Vorgang der künstlichen Züchtung noch etwas näher ins Auge fassen. Doch können wir schon jetzt den wesentUchen Unterschied zwischen beiden analogen Erschei- nungen in folgenden Worten zusammenfassen: Die künstliche Züchtung besteht darin, dass der plan- mässig wirkende Wille des Menschen die Fortpflanzung derjenigen Individuen begünstigt, welche durch eine für den Vortheil des Menschen nützliche individuelle Eigen- thümlichkeit sich auszeichnen. Die natürliche Züchtung besteht darin, dass der planlos wirkende Kampf ums Da- sein die Fortpflanzung derjenigen Individuen begünstigt, welche durch eine für ihren eigenen Vortheil nützliche individuelle Eigenthümlichkeit sich auszeichnen. Vn, A. Die künstliche Züchtung {Selectio arfificialis). (Zuchtwahl oder Auslese durch den Willen des Menschen.) Die Vorgänge der künstlichen Züchtung sind ebenso für die rich- tige Auffassung der Veränderlichkeit des Organismus von der grössten Wichtigkeit, als sie bisher von den allermeisten Zoologen und Bota- nikern in der bedauerlichsten Weise vernachlässigt sind. Die letzteren hatten meistens entweder mit den unnützen Speeles - Spielereien oder mit den gedankenlosen anatomischen Form -Beschreibungen so Viel zu thun, dass sie sich um die unendlich wichtigeren und interessanteren Vorgänge des Lebens selbst und die dabei stattfindende beständige Umbildung der organischen Formen gar nicht kümmerten, und insbe- sondere die unter ihren Augen vor sich gehenden Veränderungen der Organismen im Culturzustande gänzlich ignorirten. Auch warfen sie wohl gegen eine Vergleichung der Producte künstlicher und natürlicher Züchtung ein, dass jene eben künstliche, nicht natürliche seien, und bis zu welchem Grade der Thorheit sich diese grundlosen Einwürfe verstiegen, kann das Beispiel von Andreas Wagner zeigen, welcher alles Ernstes behauptete, dass auf die Hausthiere und Culturpflanzen, welche so viel variabler, als die wilden Formen sind, überhaupt der Species-Begriff nicht anwendbar sei, weil dieselben gleich vom Schöpfer für den Culturgebrauch des Menschen geschafien seien. Um nun zunächst dieses meist ganz irrig aufgefasste Verhältniss Vn. Züchtung oder Selection. 229 des züchtenden Menschen zu den von ihm erzielten Producten klar festzustellen, müssen wir hervorheben, dass der Mensch keinesweges durch seine Züchtmigskünste etwas ausserhalb der Natur der gezüch- teten Thiere und Pflanzen Liegendes zu erzielen vermag. Vielmehr beschränkt sich die Thcätigkeit des Menschen bei der künstlichen , Züchtung lediglich darauf, dass er die Thiere und Pflanzen, welche er umändern oder „veredeln" will, unter neue einflussreiche Existenz- Bedingungen versetzt, und dass er die dadurch hervorgebrachten Ab- änderungen sorgfältig ausliest, und durch Vererbung befestigt und ■ steigert. So wenig man, wenn der Mensch Natron und Salzsäure zu- j sammenbringt, sagen kann, er habe Kochsalz „künstlich geschaffen", • so wenig kann man jemals bei der Züchtung sagen, der Mensch habe - neue Formen „künstlich geschaffen", sobald wenigstens damit augge- drückt werden soll, dass er etwas ausser der Natur der gezüchteten t Organismen Liegendes erreicht habe. So wenig die Krankheit, wie die , älteren Aerzte glaubten, eine „vita praeter naturam" ist, sondern viel- mehr lediglich die natürliche und nothwendige Reaction des Organismus ! gegen neue, störende, krankmachende Existenz-Bedingungen, so wenig ) sind die Resultate der künstlichen Züchtung „producta praeter natu- ' ram", sondern einzig und allein die natürliche und nothwendige Wir- i kung der neuen, umgestaltenden Existenz - Bedingungen , denen der Mensch die abänderungsfähigen Organismen unter sorgfältiger Regelung •| der Ernährung und Fortpflanzung aussetzte. Alle Gesetze der Vererbung und alle Gesetze der Anpassung, wel- I che wir oben erörtert haben, kommen bei der künstlichen Züchtung : zur Anwendung, und die grosse und schwere Kunst des tüchtigen Züch- ters besteht darin, diese Gesetze richtig zu erkennen und zu hand- : haben , ihre Wirksamkeit passend zu regeln und die äusserst genaue ! Kenntniss der Züchtungs-Objecte sich zu erwerben , welche hierfür un- entbehrlich ist. Für einen guten Züchter ist daher eine scharfe und ' sorgfältige Naturbeobachtung sowohl , als eine tiefe und auf langen in- I timen Verkehr gegründete Bekanntschaft mit der Physiologie der Er- nährung und Fortpflanzung, und vor allem mit der unendlichen Bieg- samkeit des Organismus unentbehrlich. Er muss die kleinsten und ! unscheinbarsten individuellen Abweichungen einzelner Thiere und Pflan- ; zen, welche seinem Vortheil entsprechen, erkennen, benutzen und durch sorgfältige Vererbung häufen, befestigen und steigern. Der Schlüssel für die Züchtungserscheinungen, sagt Darwin, liegt in des Menschen „accumulativem Wahlvermögen, d. h. in seinem Vermögen, < durch jedesmalige Auswahl derjenigen Individuen zur Nachzucht, wel- ' che die ihm erwünschten Eigenschaften im höchsten Grade besitzen, • diese Eigenschaften bei jeder Generation um einen wenn auch noch ! 80 unscheinbaren Betrag zu steigern. Die Natur liefert allmählich 230 Die Descendenz - Theorie und die Selections - Theorie. mancherlei Abänderungen; der Mensch befördert sie in gewissen ihm nützlichen Richtungen. In diesem Sinne kann man von ihm sagen, er schaffe sich nützliche Rassen." Es kömmt also Alles darauf au , unter zahlreichen cultivirten Individuen von einer und derselben Art dieje- nigen heraus zu erkennen und zur Nachzucht auszulesen, welche ir- gend eine ganz unbedeutende Abänderung, z. B. eine neue Färbung, zeigen, die dem Wunsche des Züchters entspricht. Indem nun diese Individuen sorgfältig fortgepflanzt werden, und indem unter ihren Nachkommen immer diejenigen zur weiteren Fortpflanzung ausgewählt werden, welche jene Abänderung am meisten ausgesprochen zeigen, wird dieser Charakter, welcher anfänglich höchst unbedeutend und dem ungeübten Auge gar nicht erkennbar war, durch Vererbung be- festigt, durch fortdauernde Anpassung gehäuft, und dadurch endlich so stark entwickelt, dass er zuletzt eine neue Rasse charakterisirt. "Welche ausserordentlichen Erfolge der Mensch durch umsichtig verfahrende und andauernd wirkende Züchtung, durch sorgfältige und fortgesetzte Auslese erreichen kann, ist erstaunlich, und wenn die or- ganischen Morphologen diese Thatsachen fmher erkannt und richtiger gewürdigt hätten, so würden die mmützen und kindischen Streitig- keiten über die Dilferenz von Rasse und Varietät , Subspecies und Spe- cies, mit denen die systematische Literatur gefüllt ist, längst beseitigt sein. Jeder Zweig der Viehzucht und des Gartenbaues liefert uns für diese bewundernswürdige Biegsamkeit und für die in der That unbeschränkte Variabilität des Organismus so schlagende Belege, dass wir auf die Anführung einzelner Beispiele hier verzichten können; wir wollen nur an die unendlich mannichfaltigen künstlich erzeugten Umbildungen der Hunde, Pferde, Schweine, Rinder, Schafe, Kartoffeln, Erdbeeren, Aepfel, Birnen, Astern, Georginen u. s. w. erinnern. Das wichtigste allgemeine Resultat, zu welchem uns die bewun- derungswürdigen Erfolge der planmässig betriebenen künstlichen Züch- tung hinführen, lässt sich in folgende Worte zusammenfassen: Die Unterschiede in physiologischen und morphologischen Charakteren der Thiere und Pflanzen, welche der Mensch durch künstliche Züchtung bei verschiedenen Nachkom- men eines und desselben Organismus hervorzubringen ver- mag, sind oft viel bedeutender, als die Unterschiede in physiologischen und morphologischen Charakteren, wel- che die Botaniker und Zoologen bei den Pflanzen und Thie- ren im Naturzustande für ausreichend erachten, um dar- auf verschiedene Speeles oder selbst verschiedene Genera zu begründen 1) Dieser hochwichtige Satz ist unbestreitbar, obwohl gegenwärtig noch viele Böta- niker und Zoologen demselben ihre Zustimmung versagen werden. Wer aber selbst ein- YII. Züohtuug oder Selection. 231 Vn,B. Die natürliche Züchtung {Selecüo naturalis). (Zuchtwahl oder Auslese durch den Kampf ums Dasein.) Die Zuchtwahl, die auslesende Thätigkeit, auf welcher die Züch- tung beruht, und welche bei der künstlichen Züchtung durch den „Willen des Menschen" geübt wird, dieselbe wird bei der natürlichen Züchtung durch das gegenseitige Wechsel -Verhältniss der Organismen geübt, welches Darwin als „Kampf ums Dasein" bezeichnet. Auf eine richtige Erfassung dieses Satzes und auf seine beständige Geltend- machung kömmt Alles an, wenn man Darwin 's Entdeckung der „na- türlichen Züchtung im Kampfe ums Dasein" richtig verstehen und in ihrer ungeheuren causalen Bedeutung würdigen will. Wir müssen da- her deren wesentlichen Inhalt kurz erörtern, um so mehr, als auffal- lender W^eise derselbe den gröbsten Missverständnissen und den albern- sten Entstellungen ausgesetzt worden ist. Der Kampf um das Dasein oder das Bingen um die Exi- stenz oder die Mitbewerbung um das Leben (Struyyle for lijc. am passendsten vielleicht als „Wettkampf um die Lebens- Bedürfnisse" zu bezeichnen) ist eines der grössteu und mäch- tigsten Naturgesetze, welches die gesammte Organismen- Welt, die Menschen-Welt nicht atisgeschlossen, regiert, mal mit uubefaugenem Blick eine Thier - oder Pflanzen - Gruppe systematisch bearheitet hat; wer da weiss, wie gänzlich willkürlich die Aufstellung der unterscheidenden Cha- raktere der Gattungen und Arten ist; wer dann die oft höchst unbedeutenden und ober- rtächlicliou Unterschiede , welche zur Trennung der Speeles oder Genera benutzt werden, mit den oft höchst bedeutenden und tiefgreifenden Unterschieden zwischen vielen soge- nannten künstlichen Bassen vergleicht, die von einer und derselben Stammform abstam- men; wer endlich Objectivität genug besitzt, diese und jene Unterschiede vergleichend wägen und messen zu können : der kann nicht in Zweifel darüber bleiben , dass der Differenz - Grad zwischen sogenannten Kassen oder Spielarten einer Art oft viel be- deutender ist, als der Differenz - Grad zwischen sogenannten „guten Arten" einer Gattung iider selbst zwischen verschiedenen „Genera" einer Familie. Man vergleiche nur z. B. die zahllosen Arten von Salix , Itubus , Hieracium etc. , welche durch die unbedeutendsten und schwankendsten ,,specifischen Charaktere'" von einander nur ganz künstlich getrennt werden können, oder die verschiedenen Arten und Gattungen z. B. der Nagethiere (na- mentlich der Mäuse, llypudaeus etc.), bei welchen Genera und Speeles durch die klein- lichsten Unterschiede getrennt werden ; und dann vei"gleiche man andererseits z. B. das Riesenpferd der Londoner Brauer und den Pony von Shetland, den Pariser Karrengaul und den englischen Kenner; oder die unendlich mannichfaltigcn Hunde- Rassen , Wind- spiel und Doggo , Mops und Pudel, Dachshund und Neufundländer; oder die zahllosen Kassen und Varietäten unserer edlen Obstbäume etc. Es sind hier nicht bloss etwa Ab- änderungen in äusserer Körperform, Grösse, Färbung, Behaarung u. s. w. , welche die Hassen trennen, sondern auch viel bedeutendere und tiofergreifeudc Abänderungen im Bau des Skelets und der Muskeln, und oft selbst im Bau der edelsten inneren Organe, welche zum Theil unmittelbar durch die künstliche Züchtung, zum Theil mittelbar durch Correlation der Theile entstanden sind. Wenn diese Rassen wild vorkämen , wüi-den dar- aus die Systematiker verschiedene Genera machen. 232 Die Descendenz - Theorie und die Selections - Theorie. und welches allenthalben und zu jeder Zeit bei der unaufhörlichen Le- bensbewegung der Organismen thätig ist. Da dasselbe überall unter unseren Augen wirksam ist, könnte es höchst auffallend erscheinen, dass vor Darwin Niemand dasselbe hervorgehoben und Wissenschaft- lieh formulirt hat, wenn es nicht eine bekannte Thatsache wäre, dass die Menschen auf die nächstliegenden Beobachtungen immer zuletzt kommen und das Einfachste und Natürlichste am wenigsten begreifen wollen; eine Thatsache, für welche die Geschichte der organischen Morphologie und vor Allem ihrer wissenschaftlichen Grundlage, der Descendenz - Theorie , auf jeder Seite schlagende Beweise liefert. Die wesentliche Grundidee des Gesetzes vom Kampfe ums Dasein bildet die Erwägung , dass alle Organismen ohne Ausnahme durch Fort- pflanzung eine unendlich viel grössere Anzahl von Individuen erzeugen, als unter den allgemein beschränkten Lebens- Verhältnissen der Orga- nismen, innerhalb der bestimmten Grenzen ihrer noth wendigen Existenz- Bedingungen, neben einander fortexistiren können. Die bei weitem überwiegende Mehrzahl aller organischen Individuen muss nothwendig in früherer oder späterer Zeit (die meisten in der frühesten Zeit) ihrer individuellen Existenz zu Grunde gehen, ohne zur Fortpflanzung ge- langt zu sein. Die allermeisten Individuen unterliegen mannichfaltigen Hindernissen der Entwickelung , und gehen frühzeitig unter in dem „Wettkampfe", den sie mit ihres Gleichen um die Erlangung der un- entbehrlichen Existenz -Bedingimgen zu kämpfen haben. Nur verhält- nissmässig wenige von den zahlreichen Nachkommen jedes organischen Individuums sind vor den übrigen in diesem Ringen um die Existenz bevorzugt, überleben dieselben und gelangen zur Reife und zur Fort- pflanzung. Diese Wenigen werden aber off'enbar, da alle Individuen ungleich sind, diejenigen sein, welche sich den für Alle nicht ausrei- chenden Existenz -Bedingungen am besten anpassen konnten und vor den übrigen eine ihnen vortheilhafte individuelle Eigenthümlichkeit voraus hatten. Wenn sich nun dieser Vorgang, diese „Auslese der Besten", d. h. die Auswahl der am meisten Begünstigten zur Nach- zucht , Generationen hindurch wiederholt , so wird sich die individuelle Eigenthümlichkeit, der vortheilhafte Charakter, die nützliche Abände- rung, welche den am meisten begünstigten Individuen jenen Vortheil im Wettkampfe verlieh, nicht allein erhalten, sondern auch befestigen und häufen. So entstehen aus einer individuellen Abänderung nach den Gesetzen der Vererbung und Anpassung im Verlaufe von Genera- tionen neue Varietäten oder Rassen, welche sich allmählich zu neuen Species divergent entwickeln und immer weiter divergirenden Nach- kommen den Ursprung geben können. So bringt der Kampf ums Da- sein durch natürliche Züchtung zunächst neue Varietäten, weiterhin aber auch neue Arten, Gattungen u. s. w. hervor. Vn. Züchtung oder Selection. 233 Bei der ausserordentlichen Wichtigkeit dieses Verhältnisses wollen wir auf einige der wichtigsten Seiten desselben noch specieller ein- gehen. Was erstens die Zahlenverhältnisse der Vermehrung aller Or- ganismen betrifft, so ist es eine allen Zoologen und Botanikern be- kannte Thatsache, dass die Zahl der möglichen Individuen, d. h. derjenigen, welche als Keime producirt werden, ohne sich zu entwi- ckeln, in gar keinem Verhältnisse steht zu der Zahl der verschwin- dend geringen Zahl der wirklichen Individuen, welche thatsächlich aus einzelnen Keimen zur Entwickelung gelangen. „Es giebt," sagt Darwin, „keine Ausnahme von der Regel, dass jedes organische We- sen sich auf natürliche Weise in dem Grade vermehre, dass, wenn es nicht durch Zerstörung litte, die Erde bald von der Nachkommenschaft eines einzigen Paares bedeckt sein würde ^)." Die allermeisten orga- nischen Individuen erzeugen während ihres Lebens Hunderte und Tau- sende, sehr Viele aber Hunderttausende und Millionen von Keimen, welche neuen Individuen den Ursprung geben könnten. Und doch ge- langen nur verhältnissmässig äusserst Wenige von diesen Keimen, oft mir ein oder zwei, sehr häufig nur ein paar Dutzend, zur Entwicke- lung, und von diesen sich entwickelnden ist es wiederum nur ein ganz geringer Bruch theil, welcher zur vollständigen Reife und zur Fort- pflanzung gelangt. Diese unbezweifelbare und höchst wichtige That- sache zeigt sich am schlagendsten darin, dass die absolute An- zahl der organischen Individuen, welche unsere Erde be- völkern, im Grossen und Ganzen durchschnittlich dieselbe bleibt, und dass nur die relativen Zahlen-Verhältnisse der einzelnen Arten zu einander beständig sich ändern. Das Missverhältniss, welches überall zwischen der äusserst gerin- gen Zahl der wirklich entwickelten Individuen und der äusserst gros- sen Zahl ihrer entwickelungsfähigen Keime besteht, äussert sich nicht allein in dieser merkwürdigen Thatsache von der durchschnittlichen Constanz der Individuen -Zahl überhaupt, sondern auch in dem eben- 1) Die Zahlenverhältnisse der Fortpflanzung und Vermehrung jedes einzelnen Orga- nismus liefern hierfür den Beweis. Zu welchen ungeheuren Zahlen die einfache geome- trische Progression führt , zeigt das bekannte Beispiel vom Schachbrett und dem Weizen- kom. Schon Linne berechnete, dass, wenn eine einjährige Pflanze nur zwei Samen er- zeugte (und es giebt keine Pflanze , die so wenig productiv wäre) , und ihre Sämlinge j^äbeu im nächsten Jahre wieder zwei u sw., sie in 20 Jahren schon eine Million Pflanzen liefern würde. Von dem Elephanten , der sich am langsamsten von allen Thieren zu vermehren scheint, hat Darwin das wahrscheinliche Minimum der natürlichen Vermeh- rung berechnet. Vorausgesetzt, dass seine Fortpflanzung erst mit 30 Jahren beginnt und bis zum 90sten Jahre dauert, und dass er in dieser ganzen Zeit nur 3 Paar Junge zur Welt bringt , würde nach 500 Jahren die Nachkommenschaft dieses einzigen Paares schon die ungeheuere Zahl von 15 Millionen erreicht haben. Auch der Mensch, der sich doch nur langsam fortpflanzt, würde seine Anzahl schon in 25 Jahren verdoppelt haben. 234 Die Descendenz - Theorie und die Selections - Theorie, falls sehr auffallenden Umstände, dass die sehr verschiedene Anzahl der von den verschiedenen Arten producirten Keime gar keinen Ein- Üuss hat auf die verschiedene Anzahl der wirklich entwickelten Re- präsentanten dieser Arten. Organismen, die nur sehr wenige Keime erzeugen, sind in ungeheurer Zahl über die ganze Erde verbreitet; und andere Organismen, die äusserst zahlreiche Keime produciren, existiren umgekehrt in nur wenigen Individuen wirklich. Der Eis- Sturmvogel (Praveilar'ia (jlaciaUs) . welcher von allen Vögeln der Welt der absolut zahlreichste sein soll, legt nur ein einziges Ei, und an- dere Vögel (z. B. gewisse Singvögel und Hühnervögel), welche zahl- reiche Eier legen, existiren nur in sehr geringer Anzahl. Viele Or- chideen, welche Tausende von Samen produciren, gehören zu den sel- tensten Pflanzen , und viele einköpfige Compositen , die nur eine geringe Anzahl von Samen erzeugen, zu den allerhäufigsten Pflanzen. Die menschlichen Bandwürmer, welche Millionen von Eiern erzeugen, sind viel weniger zahlreich, als die Menschen, welche nur eine geringe Anzahl von Eiern produciren. Die absolute Anzahl der Individuen, welche zu einer bestinmiten Zeit von einer Species wirklich leben, ist also entweder gar nicht oder nur in ganz untergeordnetem Maasse ab- hängig von der Zahl der Keime, welche die Species producirt, dage- gen fast ganz oder doch vorwiegend abhängig von der Quantität und Qualität der Existenz - Bedingungen , auf welche jeder Organismus an- gewiesen ist. Von diesen Existenz -Bedingungen der Organismen ist nun zunächst hervorzuheben, dass sie für alle Organismen -Arten ganz beschränkte sind. Kein Organismus kann auf allen Stellen der Erde leben. Viel- mehr sind alle auf einen Theil der Erdoberfläche, und die allermeisten Arten auf einen sehr kleinen Theil derselben beschränkt. Mit anderen Worten , für jede einzelne Art giebt es nur eine bestimmte Anzahl von Stellen im Haushalte der Natur. Es ist durch die absolute Beschrän- kung der Existenz-Bedingungen ein absolutes Maximum von Individuen bestimmt, welche im günstigsten Falle auf der Erde neben einander leben können. Was die Natur der Existenz -Bedingungen selbst be- trifft, so sind sie für jede einzelne Art äusserst complicirt, in den meisten Fällen aber uns ganz unzureichend bekannt oder sogar gänz- lich unbekannt. Wir haben oben, als wir von den Existenz - Bedin- gungen der Aussenwelt sprachen, vorzugsweise die anorganischen im Auge gehabt, den Einfluss des Lichts, der Wärme, der Feuchtig- keit , der anorganischen Nahrung u. s. w. Viel wichtiger aber noch als diese und viel einflussreicher auf die Umbildung und Anpassung der Arten sind die organischen, d. h. die Wechselbeziehungen aller Organismen unter einander. Jede einzelne Organismen- Art ist abhängig von vielen anderen, welche mit ihr am gleichen Orte Vn. Züchtung oder Seleetion. 235 leben, uud welche ihr entweder schädlich oder gleichgültig oder nütz- lich sind. Jeder Organismus hat unter den anderen Feinde und Freunde, solche die seine Existenz bedrohen und solche die sie begünstigen. Die ersteren können ihm Nahrung entziehen, z. B. Parasiten, die letz- teren dagegen ihm Nahrung liefern, z. B. Nährpflanzen. Offenbar muss also die Zalil und Qualität aller organischen Individuen, welche au einem und demselben Orte beisammen leben, sich gegenseitig bedin- gen, uud offenbar muss jede Abänderung einer einzelnen Art in Zahl und Qualität auf die übrigen, mit ihr in Wechselwirkung stehenden zurückwirken. Dass diese gegenseitigen Wechselbeziehungen aller be- nachbarter Organismen äusserst wichtige sind, und dass sie auf die Abänderung und Anpassung der Arten weit mehr Einfluss haben, als die anorganischen Existenz -Bedingungen, ist zuerst von Darwin mit aller Schärfe hervorgehoben worden. Leider sind uns nur diese äus- serst verwickelten Wechselbeziehungen der Organismen meist gänzlich unbekannt, da man bisher fast gar nicht auf dieselben geachtet hat, und so ist denn in der That hier ein ungeheures und ebenso interes- santes als wichtiges Gebiet für künftige Untersuchungen geöffnet^). Die Oecologie oder die Lehre vom Naturhaushalte, ein Theil der Physiologie, welcher bisher in den Lehi-büchern noch gar nicht als 1) Welch hohes Interesse dieser Zweig der Physiologie bietet, mag hier das von Darwin aufgeführte Beispiel von den Wechselbezieliungen der Katzen in England zum rothen Klee erLäutern. Der rotlie Klee , eine der wichtigsten Futterpflanzen Englands, kann allein dann Samen zur Entwickelung bringen , wenn seine Blumen von Hummeln besucht und bei dieser Gelegenheit befruchtet werden. Da andere Insekten den Nektar in diesen Bliithen nicht erreichen können, muss also die Fruchtbarkeit des Klee's von der Zahl der Hummeln in derselben Gegend abhängig sein , die ihrerseits durch die Zahl der Feldmäuse bedingt wird, welche die Nester uud Waben der Hummeln zerstören. Die Zahl der Feldmäuse steht wieder in umgekehrtem Verhältnisse zu der Zahl der Katzen, ihrer ärgsten Feinde. Und so kann denn , durch die Kette von Wechselbeziehungen zwi- schen Katzen, Feldmäusen, Hummeln und rothem Klee, der gi'osse Einfluss der Katzen ;iuf den Klee daselbst nicht geleugnet werden. Das Beispiel lässt sich aber, wie Carl Vogt gezeigt hat, noch sehr hübsch weiter verfolgen. Da der rothe Klee eines der wichtigsten und besten Nahrungsmittel für das englische Eindvieh ist, so beeinflusst seine Qualität und Quantität diejenige des Kindfleisches, welches bekanntlich für die gesunde Ernährung des englischen Volkes unentbehrlich ist. Da ferner die höchst entwickelten Functionen des letzteren, die Entwickelung seiner Industrie, seiner Marine, seiner freien htaatlichen Institutionen durch die starke Entwickelung des Gehirns der Engländer bedingt ist, die wiederum von ihrer kräftigen Ernährung durch gutes Fleisch abhängig ist, so linden wir den rothen Klee von grossem Einfluss auf die gesammte Culturblüthe , durch welche gegenwärtig England in vielen Beziehungen an der Spitze aller Nationen steht. Wir haben hier also folgende interessante Kette von Wechselbeziehungen zwischen der linglischen Cultur und den englischen Katzen : Viel Katzen , wenig Feldmäuse , viel Hum- uielii, viel Klee, viel Kiudfleisch, wenig Krankheit des Menschen, viel Nervencntwickc- hing desselben, viel Geliirn-Difierenzirung , viel Gedanken, viel Freiheit, viel Cultur. 236 Die Descendenz- Theorie und die Selections - Theorie. solcher aufgeführt wird, verspricht in dieser Beziehung die glänzend- sten und überraschendsten Früchte zu bringen i). Die Thatsache , dass zwischen allen Organismen , welche an einem und demselben Orte der Erde beisammen leben, äusserst zusammen- gesetzte Wechselbeziehungen herrschen, kann nicht geleugnet werden, ebensowenig die Thatsache, dass von den zahlreichen individuellen Keimen aller Organismen nur eine ganz geringe Anzahl zur Entwicke- lung und Fortpflanzung gelangt. Bringen wir nun diese unleugbaren Thatsachen mit den oben festgestellten Gesetzen der Vererbung und Abänderung in Zusammenhang, so folgt aus dieser Combination mit absoluter Noth wendigkeit die Existenz und Wirksamkeit der natürlichen Züchtung. Denn da alle Individuen ungleich und abänderungsfähig sind, da nur eine beschränkte Anzahl der im Keime existirenden Individuen si.ch entwickeln kann, so muss noth- wendig ein Kampf um das Dasein, d. h. ein Wettkampf zwischen den Organismen um die Erlangung der Existenz - Bedingungen stattfinden, in welchem die ungleichen Individuen ungleiche Stellungen und un- gleiche Aussichten haben. Diejenigen Individuen, welche durch irgend eine individuelle Eigenthümlichkeit , irgend eine neu erworbene Abän- derung, einen Vorzug vor den übrigen ihrer Art voraus haben, wer- den ihnen überlegen sein und sie besiegen. Sie allein werden zur Fort- pflanzung gelangen und ihre Abänderung auf die Nachkommenschaft übertragen. Diese individuelle Eigenschaft wird sich auf die Nach- 1) Die bisherige einseitige, wenn aiicli in einzelnen Zweigen bewunderungswürdig hohe Ausbildung der Physiologie veranlasst mich hier ausdrücklich hervorzuheben , dass die Oecologie, die Wissenschaft von den Wechselbeziehungen der Or- ganismen unter einander, und ebenso die Chorologie, die Wissen- schaft von der geographischen und to p o g raphis eben Verb reitung der Organismen, integrirende Bestan dtheile der Physiol ogie sind, obwohl sie gewöhnlich gar nicht dazu gerechnet werden. Nach meiner Ansicht muss die Physio- logie in drei Hauptabschnitte zerfaUen : I. Physiologie der Ernährung (Nutrition) ; II. Physiologie der Fortpflanzung (Generation); III. Physiologie der Be- ziehung (Relation). Zu dieser letzteren gehört die Oecologie als die Physiologie der Wechselbeziehungen der Organismen zur Aussenwelt und zu einander, und ebenso die Chorologie als die Physiologie der geographischen und topographischen Verbreitung (if) j^bipa., der Wohnort). Die Physiologie der Beziehungs - Verrichtungen der Thiere würde also nicht bloss die Functionen der Nerven, der Sinnesorgane, der Muskeln zu erörtern ha- ben, sondern auch die zusammengesetzteren Functionen, welche die oecologischen und chorologischen Erscheinungen verursachen, und welche aus der einheitlichen Lebensthä- tigkeit des ganzen Organismus resultiren. Da die Ernährung die Erhaltung des Indivi- duums, die Fortpflanzung die ^Irhaltung der Speeles (oder richtiger des Stammes) be- wirkt, so kann man die Wissenschaft von diesen beiden Functionen auch als „Conserva- tions - Physiologie" oder Lehre von den Sclbsterhaltungs- Verrichtungen der Organismen zusammenfassen, und ihr als anderen Hauptzweig die „Relations- Physiologie" oder die Lehre von den Beziehungs-Verrichtungen der Organismen gegenüberstellen. Vergl. Bd. I, S. 238. Vn. Züchtimg oder Selection. 237 kommen in ungleichem Maasse vererben , und da von diesen wiedemm diejenigen, welche dieselben am weitesten entwickelt zeigen, die im Kampfe bevorzugten sind, so werden sie abermals zur Fortpflanzung gelangen und ihren Vorzug weiter vererben. Indem sich dieser Pro- cess Generationen hindurch wiederholt, muss er nothwendig zunächst zur Erhaltung, dann aber weiter zur Befestigung, Häufung nnd immer ■ stärkeren Entwickelung jenes ursprünglich erworbenen Charakters füh- ren. Da nun offenbar die Mitbewerbung der ähnlichen Individuen, der 1 Kampf zwischen den verschiedenen Kepräsentanten einer und derselben : Art um so heftiger und gefährlicher sein muss , je weniger sie ver- . schieden sind, dagegen um so milder und schwächer, je verschiedener i ihre Eigenschaften und Bedürfnisse sind , so werden die am meisten 1 von einander abweichenden Formen einer und derselben Art sich am 'wenigsten bekämpfen, am leichtesten neben einander fortbestehen kön- men, und hieraus folgt die wichtige Consequenz der natürlichen Züch- itung, welche wir als Divergenz-Gesetz oder Differenzirungs-Gesetz i sogleich noch näher betrachten werden. Wie wir hieraus sehen, ist es eigenthch vor Allem die Mitbe- •werbung, der Wettkampf zwischen den zusammenlebenden Indivi- »duen derselben Art und der nächstverwandten Arten, welcher durch .„natürhche Züchtung" umbildend wirkt. Aehnliche oder nahezu glei- iche Individuen, welche dieselben Bedürfnisse haben, denselben Exi- .' Stenz -Bedingungen unterworfen sind, machen sich die Erlangung der- : selben streitig und suchen sich gegenseitig in diesem Kampfe zu über- ; flügeln. Es findet also in dieser Hinsicht ein wahrer Wettkampf statt, lund dieser Wettkampf muss natürlich um so heftiger sein, je gleichar- tiger die Natur der mit einander ringenden Individuen und die Na- tüi ihrer Lebensbedürfnisse ist. Daher werden zwar immer alle Or- iganismen überhaupt, die an irgend einem Orte der Erde zusammenle- ! ben , sich vermöge ihrer nothwendigen Berührungen und Wechselbezie- ihungen mit einander im Kampfe befinden; der Kampf wird aber zwi- I sehen den verschiedenen Arten von sehr verschiedener Heftigkeit , am ! heftigsten und wirksamsten immer zwischen Individuen einer und der- ! selben Art sein , welche nahezu die gleiche Form und die gleichen I Lebensbedürfnisse haben. Wie die Gesetze der Vererbung und Anpassung auf den Men- ! sehen ganz ebenso wie auf alle anderen Organismen ihre Anwendung I finden, so sehen wir auch das Gesetz der natürlichen Züchtung im i Kampfe um das Dasein, welches auf der W'echselwirkung von Verer- Ibung und Anpassung beruht, in der menschlichen Gesellschaft ganz « ebenso wirksam wie in der übrigen Natur. Der Kampf ums Dasein, » der Wettkampf der Individuen um die unentbehrlichen Lebensbedürf- inisse, und die daraus hervorgehende natürliche Auslese, die Zucht- 238 Die Descendenz - Theorie und die Selections- Theorie. walil der den Kampf am besten bestehenden Individuen ist es, wel- che die Differenziruug, Umbildung und Vervollkommnung der mensch- lichen Gesellschaft ganz ebenso wie der übrigen organischen Natur bedingt. Nur sind beim veredelten, hochcivilisirten Menschen die Wechselbeziehungen der zusammenlebenden Individuen und also auch die Bedingungen des W.ettkampfes unendlich viel complicirter und man- nichfaltiger als bei den übrigen organischen Individuen. Zwar sind auch bei den meisten Menschen, wie bei allen übrigen Organismen, die einzigen oder doch die letzten Triebfedern aller Handlungen die Triebe der Selbsterhaltung (Ernährung, Hunger) und die Triebe der Arterhaltung (Fortpflanzung, Liebe). Allein abgesehen von den nie- deren Menschenrassen und den niedrigst stehenden Individuen der hö- heren Menschenrassen, welche auf der tiefsten Stufe der thierischen Eohheit stehen geblieben sind, haben sich diese beiden Grundtriebe des Hungers und der Liebe bei den höher stehenden Menschen allge- mein in hohem Maasse veredelt, höchst vielseitig entwickelt und dif- ferenzirt, so dass bei den höchst entwickelten Menschen besondere Zweige derselben sich zu besonderen, neuen, den übrigen Thieren feh- lenden Trieben entwickelt haben ; solche höchste menschliche Triebe sind vor allen der Anschauungstrieb (Trieb des Naturgenusses und Kunstgenusses), der Ehrgeiz und der edelste von allen, der Erkennt- nisstrieb. So sehr nun auch diese neuen, nur bei dem höheren Men- schen ausgebildeten Triebe denselben über die niederen erheben, so finden dennoch die Gesetze der Vererbung und Anpassung, und die Wechselwirkung derselben im Kampfe um das Dasein auch hier über- all ihre Anwendung, und auch hier ist es die natürliche Züchtung, welche bei dem Wettkampfe der Bewerber um die Befriedigung jener Triebe dem am meisten bevorzugten d. h. dem talentvollsten und mu- thigsten oder scharfsinnigsten Kämpfer den Sieg verschafft. Auch hier muss der Kampf zwischen den nächstverwandten Individuen natüriich am heftigsten sein, und so werden z. B. zwei Künstler welche Mar- morbilder schaffen, in der stärksten Mitbewerbung befindlich sein, wäh- rend zwei Künstler, von denen der eine ein Bildhauer, der andere ein Maler ist, in viel geringerem Grade in Concurrenz sich befinden, und endUch zwei Künstler von denen der eine ein Bildhauer, der andere ein Musiker ist, kaum noch einen künstlerischen Kampf ums Dasein zu be- stehen haben. Die freie Concurrenz der Menschen, welche als Freihandel, Freizügigkeit «tc. alle unsere Culturthätigkeit hebt, alle unsere Culturerzeugnisse veredelt, ist in der That nichts Anderes, als die natürliche Züchtung im Kampfe um das Dasein. Wenn wir den Begriff des „Kampfes ums Dasein" scharf bestimmt anwenden wollen, so müssen wir denselben beschränken auf die gegenseitige Wechselwirkung der Organismen, auf VII. Züchtung oder Selection. 239 die uoth wendige Mitbewerbung der Organismen um die mehr oder weniger unentbelirliclien Lebensbedürfnisse. Wir heben dies deshcilb besonders hervor, weil Darwin den Begriff allerdings vorzugsweise in dieser eigentlichen Hauptbedeutung ge- braucht, gelegentlich aber auch in einer weiteren metaphorischen Aus- dehnung, welche seiner Reinheit schadet und leicht zu Missverständ- nissen führt. Er nennt nämlich auch die Abhängigkeit der Organis- men von organischen und anorganischen Existenz - Bedingungen einen Kampf ums Dasein"; er sagt z.B., dass Pflanzen und Thiere in Zu- ständen des Mangels mit den nothwendigeu Existenz-Bedingungen rin- gen; und nennt dies ein Ringen „um die Existenz", während man nur dasjenige Ringen als solches bezeichnen sollte, welches zwischen mehreren Organismen um jene nothwendigeu Lebensbedürfnisse statt ; findet^). Allerdings kann man sagen, und sagt in der That häufig: 1) Da es uns sehr Trichtig erscheint, unter „Kampf ums Dasehi" lediglich den Wett- I katnpf der in Mitbewet-bung stehenden Organismen und nicht ihi'e Abhängig- ! keit von anorganischen Existenzbedingungen zu verstehen, so wollen wir die betreffende ' anders lautende Stelle Darwins hier ausdrücklich widerlegen; er führt (I. c. p. 68) ver- ■ schiedene Beispiele vom Kampfe ums Dasein in einer Keihe an , unter denen nach unse- rer Ansicht echte und unechte gemischt sind. Wir wollen die unechten in Cursivschrift 'in [Klammetn] einschalten. Darwins Worte lauten: ,,lch will voraussenden, dass ich ' den Ausdruck: Ringen ums Dasein in einem weiten und metapliorischeu Sinne gebrauche, ! in sich begreifend die Abhängigkeit der Wesen von einander , und , was wichtiger ist, ' nicht allein das Leben des Individuums , sondern auch die Sicherung seiner Nachkommen- schaft. Man kann mit Recht sagen, dass zwei Hunde in Zeiten des Mangels um Nah- rung und Leben mit einander kämpfen. [Aber man kann auch sagen, eine._ Pflanze ringe I am Bande der Wüste um ihr Dasein mit der Trochniss , obivohl es angemessener laäre , : sagen sie »ei von Feuchtigheit abluingig.] Von einer Pflanze, welche alljährlich tausend ' Samen erzeugt , unter welchen im Durchschnitt nur einer zur Entwicklung kommt , kann ) man noch richtiger sagen , sie ringe ums Dasein mit anderen Pflanzen derselben oder an- I derer Arten , welche bereits den Boden bekleiden. [ Die Mistel ist abhängig vom Apfel- i haum und einigen anderen BaumaHen ; doch hann man nur in einem iveit ausholenden Sinne sagen, sie ringe mit diesen Bäumen; denn luetm »u viele dieser Schmarotzer auf demselben Stamme uachsert , so vdrd er oerkümmern tuad sterbeni] Wachsen aber mehrere Sämlinge I derselben diclit auf einem Aste beisammen , so kann man in Wahrheit sagen , sie ringen imit einander. Da die Samen der Misteln von Vögeln ausgestreut werden, so hängt ihr 1 Dasein mit von dem der Vögel ab und man kann metaphorisch sagen , sie ringen mit 1 anderen beerentragenden Pflanzen , damit die Vögel eher ihre Früchte verzehren und ihre ! Samen ausstreuen , als die der anderen. In diesen mancherlei Bedeutungen , welche in 1 einander übergelien , gebrauche idi dei- Bequemlichkeit halber den Ausdruck : Ums Da- 1 »ein ringen " Von diesen Beispielen sind nacli unserer Ansicht die cursiv gedi~uckten und eingeklam' ■ merten Fälle nicht unter die echte Kategorie des eigentlichen Kampfes um das Dasein zu I rechneu , weil sie nur die Abhängigkeit des Organismus von gewissen Existenz- \ bedingongen aiwdrücken , welche zwar au sich uiubiidend , anpassend , aber olnie die Älit- \ Wirkung der Vererbung nicht züchtend auf den abhängigen Organismus wirken kauu. IDer wirkliche Kampf ums Dasein kann nur ein Wettkampf zwisbloss im Winter , so lange der reine weisse Schnee die Landschaft be- ideckt, weiss, dagegen im Sommer, wo derselbe theilweis abgeschmol- zen ist, graubraun, gleich der entblössten Erde. Nun erklärt sich Idiese scheinbar so auffallende Erscheinung ganz einfach durch die Wirk- Haeckel, Generelle Morphologie, II. ^ /. 242 Die Descendenz -Theorie und die Selections- Theorie. samkeit der natürlichen Züchtung. Nehmen wir an, dass-jede Thier- Art ein veränderliches Farbenkleid besessen habe (wie es ja in der That der Fall ist) und dass verschiedene Individuen derselben Art in alle möglichen Farben - Nuancen hinein variirt haben, so haben offenbar diejenigen einen grossen Vortheil im Kampfe ums Dasein ge- habt, deren Färbung sich möglichst enge an diejenige ihrer Umge- bung anschloss. Denn sie wurden von ihren Feinden, die ihnen nach- stellten , weniger leicht bemerkt und aufgespürt , und konnten umge- kehrt, wenn sie selbst Raubthiere waren, sich ihrer Beute leichter und unbemerkter nähern, als die übrigen Individuen der gleichen Art, welche eine abweichende Färbung besassen. Die letzteren, weniger be- günstigten, mussten allmählich aussterben, und den ersteren, mehr be- günstigten das Feld räumen. Aus diesem Causal-Verhältnisse der sympathischen Farbenwahl ist, wie wir glauben, auch eine der merkwürdigsten, bisher aber noch we- nig gewürdigten, zoologischen Erscheinungen zu erklären, nämlich die Wasserähnlichkeit der pelagischen Fauna. Von allen den wundervollen- und neuen Erscheinungen, welche den im Binnenlande er- zogenen Zoologen bei seinem ersten Besuche der Meeresküste und beim ersten Anblick der unendlich mannichfaltigen Meeresfauna üben-aschen, erscheint vielleicht keine einzige so wunderbar, so auffallend, so uner- klärlich, als die Thatsache, dass zahlreiche Seethiere aus den ver- schiedensten Classen und Ordnungen, ganz abweichend von den aller- meisten Thieren der süssen Gewässer und des Binnenlandes, sich aus- zeichnen durch vollständigen Mangel der Farbe oder durch eine nur schwach bläuliche, violette oder grünliche Färbung, gleich der des Meerwassers, und dass diese farblosen Thiere dabei so vollkommen wasserhell und durchsichtig, wie Glas sind, oder wie das Meerwasser, in welchem sie leben; bei den Meisten erlaubt die vollständige glasar- tige Durchsichtigkeit des krystallhellen Körpers ohne Weiteres den voll- ständigsten Einblick in alle gröberen und feineren Verhältnisse der inneren Organisation. Zu dieser pelagischen Fauna der Glas- thier e, wie man collectiv alle diese ausschliesslich im Seewasser schwim- mend sich bewegenden (nicht auf dem Grunde oder an der Küste le- benden) wasserklaren Seethiere nennen kann, gehören: von den Fi- schen die Gruppe der Helmichthyideu (Lcptocephnlus, HelmichtJnjs, Tdnrvs etc.); von den Mollusken sehr zahlreiche Repräsentanten verschiedener Classen (von den Cephalopoden Loligopsis, von den Cephalophoren P/njdirrhoe und die allermeisten Pteropo den und Heteropoden; von den Tunicaten Piirosomn, Dnliohim und sämmtliche Salpen); von den Crustaceen sehr zahlreiche Reprä- sentanten fast aller Ordnungen, vorzugsweise aber Copepoden und Am- phipoden; von den Würmern die AIcinpe Sagittn und zalüreiche VII. Züchtung oder Selection. 243 Larven; von den Echi nodermen die schwimmenden Larven ; von den Coeleuteraten endlich fast alle pelagischen Formen, also die ganze Classe der et enop hören und alle pelagischen Hydromedusen (Acras- peden, Craspedoten, Siphonophoren). Gewiss muss es äusserst merk- würdig und seltsam erscheinen, dass so zahlreiche und in ihrer ganzen Organisation so äusserst verschiedenartige Thiere der verschiedensten Classen, als es die genannten und viele andere pelagische Thiere sind, sämmtlich in dem so höchst auffallenden Charakter der glasartigen Durchsichtigkeit des wasserhellen Körpers übereinstimmen und sich dadurch so ausserordentlich in ihrem ganzen Habitus von ihren näch- sten Verwandten entfernen, welche den Boden oder die Küsten des Meeres, oder das Süsswasser oder das Festland bewohnen. Grade in diesem offenbaren thatsäcMichen Zusammenhange zwischen der wasser- klaren Durchsichtigkeit der Glasthiere und ihrer pelagischen Lebens- weise, ihrem beständigen Aufenthalte in dem durchsichtigen Wasser, müssen wir nothwendig auch ihre causale Erklärung suchen. Der letz- tere ist die bewirkende Ursache der ersteren. Offenbar ist allen die- sen Glasthieren in dem unaufhörlichen Kampfe, den sie mit einander führen, die glashelle Körperbeschaffenheit vom äussersten Nutzen. Die Verfolger können sich ihrer Beute unbemerkter nähern, die Ver- folgten können sich den ersteren leichter entziehen, als wenn Beide ge- färbt und undurchsichtig, und also im hellen Wasser leicht sichtbar wären. Nehmen wir pun an, dass von diesen Glasthieren ursprünglich zahlreiche verschiedene Varietäten, verschieden hauptsächlich in dem Grade der Durchsichtigkeit und dem Mangel der Farbe, neben einan- der existirt hätten, so würden sicherlich die am meisten durchsichti- gen und farblosen Individuen im Kampfe um das Dasein das Ueber- gewicht über die anderen errungen haben, und indem sie Generationen hindurch diese individuelle vortheilhafte* Eigeuthümlichkeit befestigten und verstärkten, schliesslich nothwendig zur Ausbildung der vollkom- men glasartigen Körperbeschaffenheit gelangt sein. Dass letztere in der That auf diesem Wege, durch natürliche Züchtung entstanden ist, kann um so weniger zweifelhaft sein, als die nächsten Verwandten der pelagischen Glasthiere, welche nicht pelagisch an der Oberfläche des Meeres (oder in tieferen Wasserschichten) leben, sondern den Grund des Meeres oder die Küste hewohnen, die glasartige Körperbeschaffen- heit nicht besitzen, sondern vielmehr undurchsichtig und entsprechend den bunten Felsen und Fucoideen gefärbt sind, zwischen und auf wel- chen sie leben. Zur besonderen Bestätigung dieser Auffassung kann auch noch der Umstand dienen, dass viele Scethiere nur in der Ju- gend, so lange sie als Larven pelagisch leben, glashell und farblos sind, dagegen später, wenn sie den Meeresgrund oder die Küste be- 16* 244 Die Descendenz- Theorie und die Selections - Theorie. wohnen, undurchsichtig und bunt gefärbt werden, so z. B. die aller- meisten Echinodermen , sehr viele Würmer etc. Die sexuelle Zuchtwahl oder geschlechtliche Auslese (Selecüo sexnalis) wird von Darwin als eine besondere Form der Auslese oder Sclection aufgeführt, „welche nicht von einem Kampfe ums Dasein, sondern von einem Kampfe zwischen den Männchen um den Besitz der Weibchen abhängt". Indessen werden wir diese sexuelle Selection doch nur als eine Modification oder eine speciellere Weise des „Kampfes um das Dasein" aufzufassen haben, sobald wir uns er- innern, dass der letztere überhaupt den „Wettkampf um die Lebens- bedürfnisse" bezeichnet. Nun ist aber die Fortpflanzung (die sich bei den höheren Thieren im Triebe der sexuellen „Liebe" äussert) ebenso ein Lebensbedürfniss, eine Existenz - Bedingung , wie die Ernährung (die sich, bei den höhereu Thieren im Triebe des „Hungers" äussert). Und daher werden wir auch den Wettkampf der Männchen um die Weibchen, welcher bei den meisten höheren Thieren in ähnlicher Weise, wie beim Menschen stattfindet, als einen Theil des Wettkampfes ums Dasein betrachten können. Dieser sexuelle Wettkampf ist äusserst wichtig und interessant; denn auf ihm beruht grossentheils die Ent- stehung der merkwürdigen secundären Sexualcharaktere, durch welche sich die beiden Geschlechter der höheren Thiere so oft unterscheiden. Die Auswahl oder Selection, welche bei der künstlichen Züchtung der durch den menschlichen Vortheil geleitete Wille des Menschen, bei der natürlichen Züchtung stets der Vortheil des gezüchteten Organismus selbst ausübt, wird bei der sexuellen Züchtung, welche nur ein Theil der letzteren ist, durch den Vortheil des einen Geschlechts geübt. Darwin berücksichtigt hierbei nur das männüche Geschlecht, indem er die sexuelle Auslese allgemein als einen „Wettkampf der Männchen um den Besitz der Weibchen darstellt, dessen Fol- gen für den Besiegten nicht in Tod und erfolgloser Mitbewerbung, son- dern in einer spärlicheren oder ganz ausfallenden Nachkommenschaft bestehen. Im Allgemeinen werden die kräftigsten, die ihre Stelle in der Natur am besten ausfüllenden Männchen die meiste Nachkommen- schaft hinterlassen". Indessen glauben wir, dass die sexuelle Auslese auf beide Geschlechter wirkt und dass es auch einen „Wett- kampf der Weibchen um den Besitz der Männchen" giebt, welcher entschieden ebenso umbildend und züchtend auf die Weibchen wirkt, als der von Darwin dargestellte auf die Männchen; dies lehrt schon' das Beispiel des Menschen. Wir können daher allgemein die sexuelle Selection als einen beide Geschlechter umbilden- den Züchtungsprocess bezeichnen; der Wettkampf der Männchen um den Besitz der Weibchen, bei welchem das auslesende, züchtende Princip unmittelbar die Vorzüge der Männchen, mittelbar aber die VII. Züchtung oder Selection. 245 dadurch be^Yirkte active Auswahl der Weibchen ist, und bei welchem also eigenthch die Weibchen wählend, auslesend wirken, kann die weibliche Zuchtwahl (SelccHo fcmhuMa) umgekehrt kann der Wettkampf der Weibchen um den Besitz der Männchen, bei wel- chem das auslesende züchtende Princip unmittelbar die Vorzüge der Weibchen, mittelbar die dadurch bewirkte active Auswahl der Männ- chen ist, und bei welchem also eigentlich die Männchen wählend, aus- lesend wirken, die männliche Zuchtwahl (Seleclio mascul'mu) ge- nannt werden; hier wählen die Männchen, dort die Weibchen. Die sexuelle Züchtung ist desshalb eine besonders interessante und wichtige Form der natürlichen Züchtung, weil sie auch im mensch- lichen Leben, wie bei den übrigen höheren. Thieren, eine sehr bedeu- tend umgestaltende Wirkung auf beide Geschlechter ausübt. Die so- matischen und psychischen Vorzüge des Weibes sind Producte der männlichen Zuchtwahl; die somatischen und psychischen Vorzüge des Mannes sind Producte der weibhchen Zuchtwahl. Diese auswählende, züchtende, umgestaltende Wechselwirkung beider Geschlechter ist äus- serst wichtig, und wir glauben, dass ein sehr grosser Theil der vielen Vorzüge, welche den Menschen vor den übrigen Primaten auszeichnen, eine unmittelbare Wirkung der beim Menschen so sehr viel höher entwickelten sexuellen Zuchtwahl ist. Wie beim Kampfe um das Dasein überhaupt, so sind auch beim 'Kampfe um die Fortpflanzung die Kämpfe unter den höheren Thieren theils mittelbare Wettkämpfe, theils unmittelbare Vernichtungskämpfe der wetteifernden Nebenbuhler. Unmittelbare Vernichtungskämpfe der um den Besitz der Weibchen streitenden Männchen finden sich häufig bei den Säugethieren ; die Mähne des Löwen, die Wamme des Stiers sind offenbar Schutzwaffen — das Geweihe des Hirsches, der Hauer des Ebers, der Sporn des männlichen Schnabelthiers, der Sporn des Hahns, der geweihähnliche Oberkiefer des männlichen Hirschkäfers etc. sind offenbar Angriffswaffen, welche durch Anpassung im unmittelbaren Ver- nichtungskampfe der um die Weibchen kämpfenden Männchen, durch natürliche Züchtung sich entwickelten. Ebenso wird allgemein die grössere Muskelkraft der männlichen Säugethiere von diesem Kampfe abzuleiten sein. Vom Menschen wurden diese Kämpfe besonders im Alterthum und Mittelalter ausgeübt, wo zahlreiche Duelle und Tur- niere von den Rittern ausgeführt wurden, und wo allgemein der Stär- kere die Braut heimführte, und durch Vererbung seiner individuellen Körperstärke die Muskelkraft des männlichen Geschlechts häufen und befestigen half. Mittelbare Wettkämpfe um die Fortpflanzung finden namentlich häufig in sehr ausgezeichneter Weise bei den Vögeln und beim Men- schen statt. Die Vorzüge, welche dem begünstigten Mitbewerber den 246 Die Desceudenz- Theorie uud die Selections - Theorie. Sieg verleihen, sind hier nicht, wie beim unmittelbaren Vemichtungs- kampfe, körperliche Stärke und besondere Waffen, sondern vielmehr andere individuelle Eigenschaften, welche die Neigung des anderen Ge- schlechts erwecken. Besonders kommen hier die Vorzüge körperlicher Schönheit und der Stimme (des Gesangs) uud beim Menschen die fei- neren psychischen Vorzüge in Betracht. Die körperliche Schönheit ist insbesondere bei den Vögeln und Schmetterlingen sehr wirksam, und zwar meistens als weibliche Zuchtwahl, indem gewöhnlich das männ- liche Geschlecht es ist, welches durch Ausbildung besonderer Zierden, z. B. Federbüsche, Hautlappen, bunte Flecken etc. die besondere Auf- merksamkeit und Neigung der auswählenden Weibchen zu erregen sucht. Auf diese Weise ist .wohl grösstentheils die ausgezeichnet schöne und mannichfaltige Färbung vieler männlichen Vögel und Schmetter- linge entstanden, deren Weibchen einfarbig oder unansehnlich sind. Ebenso sind zweifelsohne die mannichfaltigen Hautauswüchse und Kör- peranhänge entstanden, die besonders bei den Hühnervögeln so entwi- ckelt vorkommen, der radbildende Sclmeif des Pfauen, des Tnithahns, der Pfauentaube, die Fleischkämme und bunten Hautlappen oder Fe- derbüsche und Haarbüsche auf dem Kopfe und an der Brust des Haus- hahns, des Truthahns und vieler anderer Hühnervögel. Beim Menschen kann der männliche Bart als eine auf diesem Wege erworbene Zierde gelten. Gewöhnlich ist es aber beim Menschen nicht die weibliche, sondern die männliche (active) Zuchtwahl, welche durch die Entwicke- lung körperlicher Schönheit geleitet wird, indem hier vorzugsweise das weibliche Geschlecht die körperlichen Zierden entwickelt, durch welche es die Bewerber des andern Geschlechts anzulocken sucht. Es ist be- kannt, welcher Aufwand in unseren „hoch civilisirten" Gesellschaften von den Weibern entwickelt wird, um durch künstliche Zierrathe (Ge- schmeide, bunte Kleider, Kopfputz u. s. w.) die vorhandenen körper- lichen Vorzüge zu erhöhen oder die mangelnden zu ersetzen, und so durch möglichst starke Anziehung der wählenden Männer die übrigen Weiber in der Mitbewerbung zu überwinden. Ausser der durch anziehende Formen und reizende Farben wirkenden körperlichen Schönheit ist es insbesondere die Entwickelung der modu- lirten Stimme zum Gesänge, welche von einem der beiden Geschlechter benutzt wird, um das andere anzulocken, und die vollkommneren Sän- ger sind es, welche in diesem Falle den. Sieg über ihre Mitbewerber gewinnen und vor ihnen zur Fortpflanzung gelangen. Am stärksten ist diese Art der sexuellen Auslese bei den Singvögeln und beim Menschen entwickelt, vielleicht auch bei manchen Insecten, z. B. den Heuschre- cken und Cicaden. Bei den Singvögeln ist es bekanntlich gewöhnlich das Männchen , welches durch eine ausserordentliche und höchst bewun- derungswürdige Modulation der Stimme sich liebenswürdig zu machen VII. Züchtung oder Selection. -^^Y und vor seinen Nebenbuhlern bei der Bewerbung um die Weibchen sich auszuzeichnen sucht. In dieser Beziehung kommen manche Sing- vögel nicht allein den besten menschlichen Sängern gleich, sondern sie übertreften sie noch bedeutend, an Wohlklang, Umfang, Zartheit, Modulationsfähigkeit der Stimme und an Mannichfaltigkeit der Sing- weisen. Ottenbar ist die hohe Differenzirung des Kehlkopfs, welche dieser herrlichen Function zu Grunde liegt, erst durch den musikali- schen Wettkampf der Männchen um die Weibchen entstanden, ebenso bei den Singvögeln, wie beim Menschen. Doch ist es gewöhnlich beim Menschen umgekehrt das weibliche Geschlecht, welches sich durch die vielseitigere und feinere Ausbildung des Stimmorgans auszeichnet, und durch einen schön modulirten Gesang die auswählenden Männer anzu- ziehen sucht. Diesem Umstände ist gewiss vorzugsweise die allgemeine Uebung und hohe Ausbildung des weiblichen Gesangs in unseren hoch- civilisirten Gesellschaften zu verdanken. Die starke und vielseitige Differenzirung der beiden menschlichen Geschlechter, die sich auf fast alle Theile des Körpers und seiner Functionen erstreckt, und welche gewiss eine Hauptbedingung für die fortschreitende Entwickelung der menschlichen Cultur ist, beruht also sicher zum grössten Theile auf sexueller Zuchtwahl, welche von beiden Geschlechtern gegenseitig ausgeübt wird. Wie nun aber der veredelte Mensch sich durch Nichts so sehr vor den übrigen Thieren auszeich- net, als durch die ausserordentlich weit gehende Differenzirung des Gehirns und der von diesem ausgehenden psychischen Functionen, so wird auch die sexuelle Zuchtwahl bei den höher stehenden, veredelten Menschenrassen vorzugsweise durch psychische Functionen vermittelt, und es ist dies um so mehr zu berücksichtigen, als sie offenbar in hohem Grade veredelnd auf das Gehirn selbst zurückwirkt. Dadurch kommt es, dass bei den höchst entwickelten Menschen vorzugsweise die psychischen Vorzüge (und zwar die Vorzüge der höchsten psychi- schen Functionen, der Gedanken) des einen Geschlechts bestimmend auf die sexuelle Wahl des anderen einwirken, und indem so bestimmte psychische Vorzüge gleich den somatischen vererbt, durch Generatio- nen hindurch befestigt werden, erlai|gen die beiderseitigen Vorzüge der beiden sich ergänzenden Geschlechter jenen hohen Grad der Ver- edelung, welcher in der harmonischen Wechselwirkung der beiden ver- edelten Geschlechter in der Ehe das höchste Glück des menschlichen Lebens bedingt. Gleich der sexuellen Zuchtwahl wirken auch die verschiedenen anderen Formen der natürlichen Auslese eben so auf den Menschen, wie auf alle übrigen Organismen, umbildend, vervollkommnend, ver- edelnd ein, und bringen als unscheinbare Ursachen die grössten Wir- kungen hervor. 248 Die Descendeuz - Theorie und die Selections - Theorie. VII, C. Vergleichung der natürlichen und der künst- lichen Züchtung. Dass die künstliche und natürliche Züchtung durchaus ähnliche physiologische Vorgänge sind, und dass beide Selectionen lediglich auf der Wechselwirkung zweier allgemeiner physiologischer Functionen, Vererbung und Anpassung, beruhen, haben wir oben bereits gezeigt. Auch die wesentlichen Unterschiede, welche beide Formen der Aus- lese von einander trennen, sind dort bereits berührt. Doch scheint es nicht überflüssig, die wichtigsten übereinstimmenden und trennenden Momente beider Auslese -Formen nochmals vergleichend hervorzuheben, da die unmittelbar daraus folgende Selectionstheorie die causale Grund- lage der ganzen Descendenztheorie bildet, und da die meisten Naturfor- scher, wie aus ihren unverständigen Einwürfen hervorgeht, Darwin ent- weder gar nicht verstanden oder doch grossentheils missverstanden haben. L Natürliche und künstliche Züchtung sind gleichartige physiolo- gische Umbildungs- Vorgänge der Organismen, welche auf causal-mechani- schem Wege, durch die Wechselwirkung der Vererbungs - und der Anpas- sungs-Gesetze, neue Formen und Functionen der Organismen hervorrufen. IL Die Regulirung und Modification der Wechselwirkung zwischen den beiden wirkenden Grandursachen, der Vererbung und der Anpas- sung, wird bei der natürlichen Züchtung durch den planlos wirkenden „Kampf ums Dasein", bei der künstlichen Züchtung durch den plan- mässig wirkenden „Willen des Menschen" ausgeübt. III. Die Umbildungen der Formen und Functionen der Organis- men , welche die Züchtung hervorruft, fallen bei der natürlichen Züch- tung zum Nutzen des gezüchteten Organismus, bei der künstlichen Züchtung zum Nutzen des züchtenden Menschen aus. IV. Die natürliche Züchtung wirkt sehr langsam und unmerklich umbildend, da das auslesende Princip, der Kampf ums Dasein, sich nur sehr langsam und unmerklich ändert, und selten plötzlich ganz neue Existenzbedingungen einwirken lässt. Die künstliche Züchtung dagegen wirkt verhältnissmässig sehr rasch und auffallend umbildend, da das auslesende Princip, der Wille des Menschen, sich oft sehr rasch und auffallend ändert, und oft plötzlich ganz neue Existenzbedingun- gen einwirken lässt. V. Die Veränderungen der Organismen, welche die natürliche Züchtung hervorbringt, wachsen sehr langsam, weil die abgeänderten Individuen sich leicht mit nicht abgeänderten kreuzen können und da- her leicht wieder in die Form der letzteren zurückschlagen. Dagegen wachsen die Veränderungen, welche die künstliche Züchtung hervor- bringt, sehr rasch, weil die Kreuzung der abgeänderten und der nicht abgeänderten Individuen, und dadurch der Rückschlag der ersteren in die Form der letzteren sorgfältig vermieden wird. Vni. Die Seleetions - Theorie und das Divergenzgesetz. 249 VI. Die durch die natürliche Züchtimg bewirkten Veränderun- gen der Organismen gehen meist sehr tief und bleiben dauernd, weil sie durch sehr langsame Häufung der Anpassungen allmählich entste- hen; die durch die künstliche Züchtung bewirkten Veränderungen da- gegen sind meist nur oberflächlich und verschwinden leicht wieder , weil sie durch sehr rasche Häufung der Anpassungen in kurzer Zeit entstehen. Vni. Die Seleetions - Theorie und das Divergenz - Gesetz. Die Differenzirung (Dirergentia) oder Arbeitstheilung (Polymorphisvius) als nothwendige Wirkung der Selection, Die Welt steht niemals still, sondern sie ist fortwährend in Be- wegung. Dieses grosse Gesetz der rastlosen Bewegung , welches in letzter Instanz auf den beständig wechselnden Anziehungs- und Ab- stossungs - Verhältnissen der materiellen Theilchen , auf der Wechsel- wirkung zwischen den anziehend wirkenden Masse -Atomen und den abstossend wirkenden Aether- Atomen beruht, ist überall und zu jeder Zeit wirksam , in der anorganischen , wie in der organischen Welt. In der letzteren finden wir die Atome, welche die Organismen zusammen- setzen, beständig in Bewegung, indem sie die beiden grossen orga- nischen Fundamental -Functionen der Ernährung und Fortpflanzung vermitteln. Mit der Ernährung finden wir die Anpassung, mit der Fortpflanzung die Vererbung verknüpft. Indem die conservative Ver- erbung und die progressive Anpassung einander entgegenwirken, ent- steht jener merkwürdige Kampf zwischen Beharrung und Veränderung, zwischen Constanz und Variabilität , der in allen Organismen beständig waltet. Durch das üebergewicht der Constanz, der Erblichkeit, ent- steht die scheinbare Gleichförmigkeit der Organismen - „Arten", welche M viele Jahrhunderte, ja oft Jahrtausende hindurch kaum oder nur wenig sich ändern; durch das üebergewicht der Variabihtät, der An- passungsfähigkeit, entsteht die Umbildung, die Transformation der 3rganismen- „Arten", welche alle, auch die constantesten Arten nach ängerer oder kürzerer Zeit in neue Speeles überführt. Die Wechsel- wirkung zwischen diesen beiden Functionen jedes Organismus führt ladurch zur Entstehung neuer bleibender Formen, dass sie sich zu -gemeinsamer Thätigkeit mit der Wechselwirkung verbindet, welche wir zwischen allen um die ExistenzbedingungcQ mit einander ringenden Organismen als „Kampf ums Dasein" kennen gelernt haben. Dadurch entsteht die natürliche Züchtung, welche zwar viel langsamer und illmählicher, als die künstliche Züchtung wirkt, aber um so tiefer ein- . greifende und fester bleibende Veränderungen in den Organismen her- vorruft, und welche nach Verlauf von längeren Zeiträumen zu den ,Tössten Umgestaltungen der Lebewelt führt. ' 250 Die Descendenz - Theorie und die Selections - Theorie. Die ganze unendliche Mannichfaltigkeit der organischen Natur und das harmonische Ineinandergreifen ihres höchst complicirten Räderwerks, welches uns so leicht zu der falschen teleologischen Vorstellung eines „zweckmässig wirkenden Schöpfungsplanes" verführt, ist lediglich das nothwendige Resultat Jeuer unaufhörhchen , mechanischen Thätigkeit des „Kampfes ums Dasein", welcher durch natürliche Züchtung um- bildend wirkt. Um die ganze, ungeheuere Wichtigkeit dieses interes- santesten Vorgangs richtig zu würdigen, müssen wir nun noch einige unmittelbare Consequenzen desselben besonders hervorheben, deren richtiges" Verständniss für die mechanische Auffassung der organischen Natur von der grössten Bedeutung ist. Zu diesen unmittelbaren und nothwendigen Wirkungen rechnen wir in erster Linie die bekannten Erscheinungen der organischen Differenziruug und sodann diejenigen der organischen Vervollkommnung. Die organische Differenziruug (Bicergentia) oder Ar- beitstheilung (Polymorpliismiis) haben wir oben (S. 74) als eine der vier fundamentalen physiologischen Entwickelungs - Functionen auf- gefasst, auf denen die gesammte Morphogenie beruht; und wir haben im achtzehnten Capitel gezeigt, dass der Differenzirungs - Process bei der Ontogenese aller morphologischen Individuen die hervorragendste Rolle spielt Die drei anderen Entwickelungs - Functionen , die Zeu- gung, das Wachsthum und die Degeneration konnten wir unmittelbar auf die rein physiologischen (physikalisch - chemischen) Processe der Ernährung, als auf ihre mechanische Ursache zurückführen. Dasselbe gilt auch von dem Vorgange der Verwachsung oder Concrescenz , falls wir diesen als eine besondere fünfte Entwickeln gsfunction auffassen wollten (S. 147 Anm.). Dagegen konnten wir die Entwickelungs -Func- tion der Differenziruug oder Divergenz nicht unmittelbar als eine 1) Das überaus wichtige und grossartige Gesetz der Arbeitstheilung oder des Poly- morphismus ist als allgemeines organisches Gesetz zuerst am deutlichsten von Goethe (1807, vergl. Bd. I. S. 240) ausgesprochen und später besonders von Bronn und von Miln'e -Edwards ausgeführt und auf die gesammte Entwickelung der Organisations- Verhältnisse angewendet worden. Neuerdings ist dasselbe von allen denkenden Zoologen und Botanikern so allgemein und widerspruchslos als das wichtigste Organisations-Gesetz anerkannt und auf allen einzelnen Gebieten der Biologie mit so glücklichem Erfolge durch- geführt worden , dass wir hier von einer weiteren Erörterung seiner einzelnen Thatsachen absehen und auf die besonderen Schriften verweisen können, welche dasselbe am aus- führlichsten begründen. Die eingehendste Darstellung findet sich bei Miln e -Edward . (in seiner „Introduction k la Zoologie generale», Paris 1851) und bei Bronn (m semen vorzüglichen „Morphologischen Studien über die Gestaltungsgesetze der Naturkorper-, 1858). Bronns Erörterungen sind sowohl intensiv als extensiv bedeutender. In seinem „Gesetze progressiver Entwickelung" ist die „Differenzirung der Functionen und Organe- ais das wichtigste aller morphologischen Grundgesetze sehr ausführlich und gründlich sowohl bei den Pflanzen, als insbesondere bei den Thieren , und bei letzteren an allen einzelnen Organen in aUen Classeu nachgewiesen worden (Morpholog. Stud. p. 161-40«). VIII. Die Selections - Theorie und das Divergenzgesetz. 251 einfache Tlieilerscheinuiig der Ernährung und des Wachsthums auffas- sen. Die mechanische Erklärung dieser Function ist vielmehr nur möglich durch die Descendenz- Theorie, welche es klar zeigt, dass die Divergenz des Charakters keine besondere räthselhafte organische Erscheinung, sondern vielmehr eine nothweudige Folge der natürlichen Züchtung ist. Die Divergenz des Charakters oder die Differenzirung er Individuen folgt nothwendig unmittelbar aus der echsel Wirkung zwischen der Vererbung und der Anpas- sung, und zwar speciell aus dem vorher erörterten Umstände, dass "er Kampf ums Dasein zwischen Organismen, die an ei- aem und demselben Orte mit einander um die Lebensbe- ürfnisse ringen, um so heftiger ist, je gleichartiger sie selbst, je gleichartiger also auch ihre Bedürfnisse sind. Umgekehrt können an einer und derselben Stelle des Naturhaushalts m so mehr Individuen neben einander existiren, je mehr ihr Cha- akter und ihre Bedürfnisse verschieden sind , je mehr sie „divergiren". ^0 können z. B, auf einem Baume viel zahlreichere Käfer neben einan- er existiren, wenn die einen bloss von den Früchten, die anderen von en Blüthen, noch andere bloss von den Blättern leben, als wenn sie He bloss von den Blättern leben können , und noch viel grösser wird ene Zahl, wenn daneben auch noch andere Käfer vom Holze oder von der Rinde oder von der Wurzel leben können. So können in iner und derselben kleinen Stadt sehr gut fünfzig Handwerker neben Jnander existiren, die zehn oder zwanzig verschiedene Professionen reiben, während sie unmöglich neben einander existiren könnten, Venn sie alle auf ein und dasselbe Handwerk angewiesen wären. Fer- er können alle Concurrenten , die eine und dieselbe Profession trei- en, um so besser neben einander bestehen, je mehr sich dieselben luf einzelne verschiedene Zweige ihres geraeinsamen Handwerks be- chränken, und je mehr jeder ein einzelnes Specialfach nach einer estimmten Richtung hin ausbildet. Mit einem Worte, die Concurrenz :;wischen allen Organismen, welche an einem und demselben Orte ne- Den einander sich die unentbehrlichen Lebensbedürfnisse zu erringen suchen, wird um so weniger heftig, um so weniger für jeden Einzel- aen gefahrdrohend sein, je verschiedenartiger ihre Bedürfnisse und iemgemäss ihre Eigenschaften , ihre Thätigkeiten und ihre Charaktere ind. Es wird also durch die natürlichen Verhältnisse des Kampfes im das Dasein überall die Ungleichartigkeit, die Divergenz der Cha- raktere der verschiedenen Individuen begünstigt, weil sie ihnen selbst KTortheilhaft ist, und weil eine Anzahl von Individuen an einer und erselben beschränkten Stelle im Naturhaushalte um so leichter und esser neben einander existiren können, je stärker sie divergiren. 252 Die Descendenz- Theorie und die Selections - Theorie. Hieraus folgt dann unmittelbar weiter die höchst wichtige Thatsache, dass der Kampf um das Dasein das Erlöschen der Mittel- formen, den Untergang der verbindenden Zwischenglieder zwischen den Extremen, mit Nothwendigkeit zur Folge hat. Denn diese sind immer die am meisten gefährdeten, und wenn eine Art in zahl- reiche Varietäten aus einander geht, so werden die am stärksten di- vergirenden die vortheilhafteste , die verbindenden Zwischenformen da- gegen die gefährlichste Position im Kampfe um das Dasein einnehmen. Jede unbefangene und tiefere Betrachtung der Selections -Theorie zeigt uns, wie der Divergenz -Process der organischen Formen, das fortschreitende Auseinandergehen der divergirenden Extreme und das Erlöschen der verbindenden Mittelglieder und namentlich der gemein- samen Stammformen der ersteren , unmittelbar und mit causaler Noth- wendigkeit aus dem Kampfe um das Dasein und aus der Wechsel- wirkung zwischen Vererbung und Anpassung folgt. Wenn es wahr ist, dass alle Organism.en den Gesetzen der Erblichkeit und Verän- derlichkeit unterworfen sind — was Niemand leugnen kann — wenn es ferner wahr ist, dass alle Organismen sich überall und beständig im Kampfe um das Dasein befinden, — was eben so wenig geleugnet werden kann — so folgt hieraus von selbst und mit absoluter Noth- wendigkeit die natürliche Selection , die Divergenz des Charakters und das Erlöschen der vermittelnden Zwischenformen. Darwin hat diese nothwendigen Folgerungen in dem vierten Capitel seines Werkes so meisterhaft und so ausführlich begründet, dass wir hier bloss darauf 1^ zu verweisen brauchen. Wir können aber die bindende Nothwen- digkeit dieses Causalnexus zwischen Divergenz und Selec- ||| tion nicht genug hervorheben, weil sie uns die sicherste Gegenprobe für die Wahrheit der Selections -Theorie liefert. Die unendlich man- nichfaltigen Erscheinungen der Divergenz sind allbekannte Thatsachen und werden von Niemand geleugnet. Sie erklären sich vollständig aus der Selectionstheorie, und nur allein aus dieser. Ohne letztere sind sie vollkommen unverständlich. Wir können daher mit der voll- sten Sicherheit aus den Thatsachen der Differenzirung auf die Rieh- j| tigkeit der Zuchtwahllehre zurückschliessen. Wenn wir Nichts von Palaeontologie und Geologie, Nichts von Embryologie und Dysteleologie wüssten, so würden wir die Abstammungslehre schon allein desshalb für wahr erkennen müssen, weil sie allein uns die mechanisch-causalc Erklärung der grossen Thatsache der Divergenz zu liefern vermag. Das Divergenz -Gesetz oder Differenzirungs-Princip, in dem Sinne wie Darwin dasselbe als die nothwendige Folge der natürlichen Zücli- tung entwickelt, umfasst nur diejenigen Differenzirungs- Phänomene, welche zwischen physiologischen Individuen einer und derselben Art |(| stattfinden, und zunächst zur Bildung neuer Varietäten , späteriiin zur YIII. Die Selectious - Theorie und das Divergenzgesetz. 253 IBildung neuer Arten, Gattungen u. s. w. führen. Darwin begreift ialso unter seiner „Divergenz des Charakters" eigentlich nur (die physiologische Differenzirung der Bionten, oder der physio- llogischen Individuen , welche die Zeugungskreise und dadurch die „Ar- Iten" zusammensetzen. Nach unserer Ansicht ist jedoch diese Diver- Igenz der Speeles nicht verschieden von der sogenannten „Differen- izirung der Organe", d.h. von der Arbeitstheilung der untergeord- ineten Form - Individuen verschiedener Ordnung, welche die Bionten tconstituiren. Vielmehr glauben wir, in allen Differenzirungs -Erschei- mungen ein und dasselbe Grundphänomen, die durch natürliche Züch- Itung bedingte physiologische Arbeitstheilung erblicken zu müssen, gleichviel ob dieselbe selbstständige physiologische Individuen betrifft, i welche an einem und demselben Orte mit einander um das Dasein Ikämpfen, oder untergeordnete morphologische Individuen verschiede- mer Ordnungen, welche jene als constituirende Theile zusammense- ttzen. Die wesenthche Thatsache des Processes ist in allen Fällen feine Hervorbildung ungleichartiger Formen aus gleichar- ttiger Grundlage, und die mechanische Ursache derselben ist die 1 natürliche Zuchtwahl im Kampf um das Dasein. Da die verschiedenen Organismen - Speeles , welche nicht durch .Archigonie, sondern durch Differenzirung aus bestehenden Speeles • entstanden sind, als Bionten durch morphologische Individuen aller f sechs Ordnungen repräsentirt werden können, so folgt hieraus von $ selbst schon, dass alle sechs Individuahtäts- Ordnungen, von der Pla- sstide bis zumCormus, dem Differenzirungs - Gesetze unterliegen. Dies jgilt aber von allen diesen Ordnungen nicht allein dann, wenn sie als IBionten selbstständig leben, sondern ebenso auch, wenn sie als mor- ]phologische Individuen untergeordnete Bestandtheile eines Bion bilden. 'Wir haben bereits im achtzehnten Capitel hervorgehoben, dass die ] Differenzirungs -Processe in der individuellen Entwickelungs - Geschichte (der morphologischen Individuen aller sechs Ordnungen die bedeutend- jste Rolle spielen, bei den Piastiden (S. 120), den Organen (S. 128), (den Antimeren (S. 134), den Metameren (S. 138), den Personen (S. 142) und den Stöcken (S. 146). Alle Vorgänge der Arbeitstheilung, ' welche diese verschiedenen Individuen betreffen , gleichviel ob sie bloss I morphologische oder zugeich physiologische Individuen sind, müssen wir als die mechanische Wirkung der natürlichen Züchtung im Kampfe 1 um das Dasein betrachten. Diese bewirkte sehr langsam und allmählich, 1 im Verlaufe sehr langer Zeiträume , die paläontologische Differenzirung , welche keineswegs eine Divergenz, aber dennoch ei- nen Fortschritt bewirken. Bronn, welcher am genauesten diese ver- schiedenen Vorgänge untersucht hat, unterscheidet demgemäss sechs verschiedene Gesetze progressiver Entwickelung. Diese Gesetze sind 1) Die Differenzirung oder Arbeitstheilung der Organe und Functionen wird von Bronn mit Recht als das bei weitem wichtigste und oberste Gesetz der progressiven Ent- wickelung betrachtet. Doch irrt auch er darin, dass er aUe Diflferenzirungs -Processe als Fortschritte ansieht, während dies, wie bemerkt, entschieden nicht der Fall ist 2) Das wichtigste der von Bronn aufgestellten sechs Fortschritts - Gesetze ist zwei- felsohne nächst dem der Differenzirung das von ihm ausschliesslich erkannte Gesetz der Reduction der Zahl gleichnamiger (homonymer) Organe. Da Bronn dasselbe hi seinen morphologischen Studien (S. 409 — 459) sehr ausführlich begründet und durch das ganze Pflanzen - und Thier -Reich hindurchgeführt hat, so woUen wir uns hier dabei nicht weiter aufhalten , sondern nur bemerken , dass dasselbe einer sehr bedeu- tenden Modification bedürftig ist. Zunächst gilt dasselbe nicht für alle gleichartigen Theile, welche in A^ielzahl zu einer höheren Individualität verbunden sind, und auch nicht für alle ungleichartigen Theile, welche sich aus gleichartiger Grundlage hervorgebildet haben. Für die Antimeren, Parameren, Metameren und Epimeren unterliegt es zwar in sehr vie- len Fällen keinem Zweifel , dass im Grossen und Ganzen genommen die Zahlenreduction dieser Theile einen Fortscln-itt in der Organisation der aus ihnen zusammengesetzten hö- heren Individualität bekundet, in den meisten FäUen jedoch nur dann (wie Bronn selbst richtig bemerkt-), wenn die Zahlenreduction der gleichartigen Theile zugleich mit einer Differenzirung der zu reducirenden Theile verbunden ist. Bei anderen Individualitäten gilt dasselbe gar nicht, und es würde sich sogar eher ein entgegengesetztes Gesetz nachwei- sen lassen (das Gesetz der Aggregation gleichartiger Theile). Es ist in der von Bronu gegebenen Erläuterung des Zahlen -Reductions- Gesetzes sehr viel Richtiges, aber auch viel Irrthümliches. Nach miserer Ansicht muss dasselbe in mehrere verschiedene Gc- IX. Die Selections- Theorie und das Fortsohritts- Gesetz. 259 1) Differenziruijg der Functionen und Organe; 2) Reduction der Zahlen gleichnamiger Organe; 3) Concentrirung der Functionen und ihrer Organe auf bestimmte Theile des Körpers; 4) Centralisirung eines je- den ganzen oder theilweisen Organ - Systems , so dass seine ganze Thätigkeit von einem Central - Organe abhängig wird; ö) Internirung insbesondere der edelsten Organe, so weit sie nicht eben nothwendig an der Obei"fläche hervortreten müssen, um die Beziehungen des Or- ganismus mit der Aussenwelt zu unterhalten; 6) grössere räumliche Ausdehnung im Einzelnen und Ganzen. Obwohl es gewiss ein gros- ses Verdienst Bronns ist, hierdurch gezeigt zu haben, dass nicht alle Progress - Phaenomene einfache DilFerenzirüugen sind, so müssen wir doch gegen die allgemeine Gültigkeit der sechs von ihm unter- schiedenen Fortschritts - Gesetze vielfache Bedenken erheben. Nicht bloss die vier letzten, welche nur sehr beschränkte und specielle Gültig- keit haben, sondern auch das zweite Gesetz (das Gesetz der Zahlen- reduction gleichartiger Theile), welches nächst dem Differenzirungs-Ge- setze oflfenbar das wichtigte ist, müssen noch sehr bedeutende Modi- ficationeu erleiden und in anderer Form präcisirt werden. Da jedoch dieser Gegenstand, wie überhaupt die ganze Frage von der fortschrei- tenden Vervollkommnung der Organismen und von den Kriterien der organischen Vollkommenheit äusserst schwierig und verwickelt ist, setze gespalten werden. Wir wollen jedoch hier auf deren Unterscheidung und Motivi- mng nicht eingehen, da dieselbe ausserordentlich schwierig und verwickelt ist, und uns viel zu weit von unserem Gegenstaude abführen würde. Wir beabsichtigen bei einer anderen Gelegenheit den Versuch zu machen, diese ebenso schwierige als interessante Aufgabe zu lösen. 3) Das Gesetz der Concentrirung (Concentrationj der Functionen und ihrer Orgaue auf bestimmte Theile des Körpers, auf welches Broun (1. c. p. 459 — 471) mit Recht viel weniger Wertli als auf die vorliergehendeu legt, ist von einer viel beschränk- teren Gültigkeit. In den meisten Fällen ist diese Concentration entweder eine Locali- sation (und dann auf Differenzirung zurückzuführen) oder eine Concrescenz, und dann als ein physiologischer Process der Verwachsung anzusehen (vergl. oben p. 147, An- merkung). Oft liegt auch eine einfache Anpassung zu Grunde. Jedenfalls hat dieses Gesetz, wie aucli die drei folgenden, sehr zahlreiche Ausnahmen. 4) Das Gesetz der Centralisirung ( C e n tr a Ii s atio n) der Organ-Sy-- Sterne gilt vorzüglich für die Thicre, weniger für die Pflanzen, jedocli auch bei den ersteren nur in beschränktem Maasse (Bronn, I.e. p. 471 — 475). Die Centralisation der Organ - Systeme ist offenbar ein einfaches Product der n^itürlichen Züchtung , und die dadurch bedingte Vervollkommnung liegt in dem Vortheil, den die einheitliche Centra- lisation für die Regierung des ganzen Organismus liefert. 5) Das Gesetz der Internirung der Organe hat ebenfalls nur eine sehr be- schränkte Gültigkeit und lässt sich einfach aus den Anpassungs- Gesetzen erklären, und aus dem Vortlieil , den die Internirung besonders der edelsten Organe im Kampfe um da.s Dasein bietet. 6) Das Gesetz der Grössen -Zunahme gilt ebenfalls nur innerhalb eines sehr beschränkten Gebietes und lässt sieb ebenso wie die vorhergehendou aus der Selections- Thcorie erklären. 17* 260 Die Descendenz - Theorie und die Selections - Theorie. und da nocli keine weiteren ernstlichen Versuche gemacht sind, in das Chaos des unendlichen Materials , welches für diese wichtige Frage vorliegt, klares Licht zu bringen, so können wir nicht näher darauf eingehen und müssen die Auseinandersetzung und Begründung unse- rer hierauf bezüglichen Ansichten einer anderen Gelegenheit vorbehal- ten (vergl. Bd. I, S. 371, Anmerkung). Nur darauf wollen wir hin- deuten, dass die genaue Unterscheidung der idealen (vielseitigen oder polytropen) und der praktischen (einseitigen oder monotropen) Ty- pen (S. 222) für diese Frage von sehr grosser Bedeutung werden wird. Dass die Frage die grösste Tragweite hat, geht schon daraus hervor, dass die Fortschrittsfrage in der ganzen Menschheits-Entwickelung nicht von derjenigen in der Entwicklung der übrigen Thiere, und spe- ciell der Wirbelthiere zu trennen ist. Wir selbst haben oben in unserer allgemeinen Anatomie den vor- läufigen Versuch gemacht, wenigstens einige der wichtigsten Vollkom- menheits- Gesetze zu formuliren. Vor Allem fanden wir es nöthig, zwischen tectologischer und promorphologischer Vervollkommnung (so- wohl Differenzirung, als Centralisation) zu unterscheiden. Die tecto- logischen Thesen, welche sich auf die Vollkommenheits- Frage bezie- hen, sind im elften Capitel (S. 370— 374), die promorphologischen Thesen im fünfzehnten Capitel (S. 550) nachzusehen. Da die allermeisten Fortschritts - Erscheinungen unmittelbar mit DilTerenziriings- Prozessen verknüpft, oder selbst mit diesen identisch sind, so bedarf es für diese, in Hinblick auf den vorhergehenden Ab- schnitt, keines Beweises, dass sie unmittelbare und nothwendige Wir- kungen der natürlichen Züchtung im Kampfe um das Dasein sind. Aber auch für die anderen Erscheinungen der Vervollkommnung , wel- che wir vorher angeführt haben, und welche nicht unmittelbar als Divergenz -Phänomene angesehen werden können, unterliegt es keinem Zweifel, dass dieselben vollständig durch die Selections-Theorie erklärt werden. Die Centralisation der Organ -Systeme, die Concentration und Internirung der Organe, die Grössenzunahme und die Zahlenre- duction der gleichartigen Theile sind immer, und ganz besonders in den Fällen, wo sie einen entschiedenen Organisations-Fortschritt bekunden, entweder unmittelbare Anpassungen, oder aber durch die Wechselwir- kung von Anpassung und Vererbung bedingt. Da diese progressiven Entwicklungs-Processe in allen Fällen den betreffenden Organismen im Kampfe um das Dasein nützlich sind, und ihnen entschiedene Vor- theile über die nächstverwandten, nicht progressiv abgeänderten For- men gewähren, so werden sie einfach durch die natürliche Züchtung erhalten und befestigt. Alle diese Erscheinungen des Progresses oder der VervoÜkoramnung lassen sich mithin als nothwendige Folgen der Wechselwirkung von Vererbung und Anpassung nachweisen, und sind IX. Die Selections - Theorie und das rortschritts- Gesetz. 261 keineswegs die Folgen eines unbekannten und unerklärten, auf räth- selhafteu Ursachen beruhenden „Gesetzes der fortschreitenden Ent- wickelung". Einige Autoren haben das Fortschritts-Gesetz oder das Ge- setz der fortschreitenden Entwickelung als ein absolutes, allgemein gül- tiges und ausnahmsloses betrachtet, und behauptet, dass dasselbe aller- orten und allerzeit die gesammten Organisatious- Verhältnisse vorwärts treibe und ohne Unterbrechung zur beständigen Vervollkommnung an- sporne. So richtig diese Behauptung im Grossen und Ganzen ist, so muss sie dennoch durch zahlreiche Ausnahmen modificirt werden. Es ist natürlich und nothwendig, dass die immer zunehmende Diffe- renziruug aller irdischen Verhältnisse und aller Existenz - Bedingungen füi* die Organismen auch eine entsprechende Differenzirung der Orga- nismen selbst zur unmittelbaren Folge hat, und in den allermeisten Fällen ist diese Differenzirung selbst ein entschiedener Fortschritt, eine unzweifelhafte Vervollkommnung. Andrerseits ist aber nicht zu ver- gessen, dass jede Arbeits-Theilung neben den ganz überwiegenden Vor- theilen und Fortschritten auch ihre grossen Nachtheile und Kückschritte nothwendig im unmittelbaren Gefolge hat. Wir sehen dies überall in dem Polymorphismus der menschlichen Gesellschaft, welche uns in ihrer staatlichen, und socialen, besonders aber in ihrer wissenschaftlichen Entwi- ckelung die comphcirtesten und am meisten zusammengesetzten von allen Differenzirungs-Phänomenen zeigt. Wir brauchen bloss auf die Morpho- logie der Organismen in ihrem gegenwärtigen traurigen Zustande einen Blick zu werfen, um diese erheblichen Schattenseiten der weit vorge- schrittenen Arbeitstheilung klar vor Augen zu sehen (Vergl. Bd. I, S. 236). Wäre dies nicht der Fall, so müsste die Selections- Theorie, der grösste Fortschritt der menschlichen Wissenschaft in unserem Jahr- hundert, bereits die gesammte Biologie beherrschen. Die grössten Nach- theile für die Wissenschaft entstehen dadurch , dass sich die meisten Arbeiten ganz auf ein einzelnes kleines Arbeits -Feld beschränken und den engsten Special- Anschauungen anpassen, während sie sich um das gi'osse Ganze nicht mehr bekümmern. Dadurch verlieren sie aber nicht nur den freien Ueberblick für das umfassende Allgemeine, sondern auch die Fähigkeit, in dem auserwählten Special - Gebiete weiter greifende Fortschritte herbeizuführen. Dieser grosse Nachtheil der einseitigen Specialisirung wird von den Meisten übersehen, gegenüber den bedeu- tenden Vortheilen, welche jene einseitige, specielle „Fachbildung" dem ! Detail -Arbeiter gewährt; und gerade dieser praktische Nutzen ist es, • welcher die rückschreitende allgemeine Bildung der Specialisten be- '. günstigt. Was uns so die menschlichen Verhältnisse, und besonders die wis- ' senschaftlichen, in den verwickeltsten Ditferenzirungs- Processen zeigen, 262 Die Descendeuz - Theorie uud die Selections - Theorie. das gilt ebenso für die gesaramte organische Natur. Ueberall wird die Entwickelung der praktischen Typen auf Kosten der idealen durch die natürliche Züchtung begünstigt. Zugleich entstehen immer neben den höchsten Plätzen und den einseitig vervollkommneten Stellen im Na- turhaushalte zahlreiche unvollkommene Plätze und sehr beschränkte Stellen; und die Organismen, die diesen sich anpassen, erleiden da- durch gewöhnlich eine sehr bedeutende Rückbildung. Rückschritt ist also hier neben und mit dem Fortschritt eine unmittelbare Folge der Diflferenzirung durch die Züchtung. Die schwächeren uud unvollkomm- neren Individuen, welche im Wettkampfe mit den stärkeren und voU- kommneren unterliegen, und nicht der von der letzteren eroberten be- sten Existenz -Bedingungungen theilhaftig werden, können sich nur da- durch erhalten, dass sie auf jenes höhere Ziel verzichten und sich mit einfacheren Verhältnissen begnügen. Indem sie sich diesen aber an- passen, erleiden sie nothwendig mehr oder minder bedeutende Rück- bildungen, welche bei sehr einfachen Verhältnissen (z. B. Parasitismus) oft erstaunlich weit gehen. Schon aus dieser einfachen Erwägung folgt, dass die natürliche Züchtung keineswegs ausschliesslich fortbildend und vervollkommnend, sondern auch rückbildend und erniedrigend wirkt. Die Veränderungen der organischen Natur halten mit denen der anorga- nischen immer gleichen Schritt. "Wir finden, dass in Beiden die fort- schreitende Differenzirung im Ganzen zwar überwiegt, aber doch im Einzelnen zugleich nothwendig vielfache Rückschritte bedingt. Wäh- rend die höheren und besseren Stellen im Naturhaushalte an Zahl und vollkommener Ausstattung beständig zunehmen, und von entsprechend verbesserten und vervollkommneten Organismen besetzt werden, benu- tzen die weniger begünstigten und von letzteren im Wettkampfe be- siegten Organismen die gleichzeitig frei werdenden einfacheren und schlechteren Stellen des Naturhaushalts, um ihre Existenz zu retten. Während die ersteren fortschreiten , gehen die letzteren zurück. Keine Gruppe von organischen Erscheinungen zeigt uns die hohe Bedeutung dieser Thatsache so schlagend, als die mannichfaltigen Phänomene des Parasitismus, vorzüglich in den Abtheilungen der Crustaceen, Würmer und Orobancheen. Wie die Ontogenese dieser Organismen unwiderleg- lich zeigt, beruht ihre Phylogenese auf einer entschiedenen rückschrei- tenden Differenzirung, die durch die natürliche Züchtung veranlasst ist. Wenn wir daher die gesammten Differenzirungs-Phänomene in der organischen Natur nach ihrem historischen Verlauf vergleichend über- blicken, so gelangen wir zu demselben grossen und erfreulichen Ge- sammt- Resultat, welches uns auch die Geschichte der menschlichen Völker (oder die sogenannte Weltgeschichte) und namentlich die Cul- turgeschichte, allein schon deutlich zeigt: Im Grossen und Gan- zen ist die Entwickelungs-Bewegung der gesammten orga- IX. Die Selections- Theorie und das Fortöchritts - Gesetz. 263 iiischoii Welt eine stetig und überall fortschreitende, wenn gleich die überall wirkenden Difterenzirungs - Processe nothwendig ne- ben den überwiegenden Fortschritts- Vorgängen im lüeinen und Ein- zelnen auch zahlreiche, und oft bedeutende Rückschritte in der Or- ganisation bedingen. Indessen treten diese Rückschritte, wie sie in der Völkergeschichte vorzüglich durch die Herrschaft der Priester und Despoten, in der übrigen organischen Natur vorzüglich durch Parasi- tismus bedingt werden, doch im Grossen und Ganzen vollständig zurück gegenüber der ganz vorherrschenden Vervollkommnung. Der Fortschritt zu höheren Stufen der Vollkommenheit ist in der gesammten organi- schen Natur ein genereller und universeller , der gleichzeitig stattfin- dende Rückschritt zu niederen Stufen ein specieller und localer Pro- cess. Sowohl der überwiegende Fortschritt in der Ver- vollkommnung des Ganzen als der hemmende Rückschritt in der Organisation des Einzelnen sind mechanische Na- turprocesse, welche mit Nothwendigkeit durch die natür- liche Züchtung im Kampfe um das Dasein bedingt sind, und durch die Selections-Theorie (und nur durch sie allein!) vollständig erklärt werden. Dieser letztere Satz muss besonders betont werden, weil gerade an diesem Punkte die teleologische und dualistische Dogmatik besonders tiefe und feste Wurzeln geschlagen hat. Dies zeigt sich nicht allein in den kindlichen und keiner Widerlegung bedürftigen Behauptungen derjenigen Teleologen, welche in dem Gesetze der fortschreitenden Ent- wickelung einen besonderen Beweis für die Vortretflichkeit des Schö- pfungs- Plans mid für die Weisheit des (natürlich ganz anthropomorph gedachten) Schöpfers erblicken wollten i). Auch monistische Naturfor- scher, welche im Ganzen unsere Ansichten theilen, haben sich der Annahme eines besonderen „Vervollkommnungs-Princips" nicht entzie- hen zu können geglaubt. So hat insbesondere Nägeli in einer treff- lichen Abhandlung^), welche werthvolle Beiträge zur Befestigung der 1) Der grobe Anthropomorphismus, welcher aUen Vorstellungen eines persönlichen Schöpfers zu Grunde liegt, tritt kaum irgendwo so auffallend zu Tage, als bei seiner Wirksamkeit in dem ,. zweckmässigen Plane der fortschreitenden Vervollkommnung", und doch ist er merkwürdiger Weise grade hier von sehr bedeutenden Naturforschern mit grosser Zähigkeit festgehalten worden, so namentlich von Agassiz (im „Essay on Clas- sification" und an anderen Orten). Offenbar muss sich der Schöpfer nach dieser Vorstel- lung, indem er zuerst nur ganz rohe Schöpfungs - Entwürfe zu Stande bringt, und sieh nachher stufenweis zu immer höheren Plänen erhebt, selbst erst entwickeln und einen mechanischen Lehrcursus durchmaclicn. Seine Pläne wachsen mit seiner eigenen Vollkom- menheit. „Es wächst der Mensch mit seinen höher'n Zwecken". Der Schöpfer ist auch in diesen absurden Vorstellungen ganz das „gasförmige Wirbelthier", welches schon der alte Reil in ihm erkannte (vcrgl. Bd. I, S. 172, 173 Anm.). 2j Carl Nägeli, Entstehung und Begriff der naturhistorischen Ai't. München 1865. 264 Die Desceudeuz - Theorie und die Selections - Theorie. Descendenz- Theorie liefert, neben der „Nützlichkeits- Theorie", wie er Darwins Selections-Theorie nennt i), noch eine besondere „VcrvoU- komninungs - Theorie" festhalten zu müssen geglaubt, welche' die An- nahme fordert, „dass die individuellen Abänderungen nicht unbestimmt, nicht nach allen Seiten gleichmässig, sondern vorzugsweise und mit be- stimmter Orientiruug nach Oben, nach einer zusammengesetzteren Or- ganisation zielen". Nägeli glaubt zwar, für dieses VervoUkommnungs- Princip „keine übernatürliche Einwirkung nöthig zu haben". Indessen ist er den Beweis einer nothwendigen Existenz desselben und einer me- chanischen Erklärung seiner Wirksamkeit schuldig geblieben, und wir glauben nicht, dass dieser wird geliefert werden können. Durch Na- ge Ii 's Annahme, „dass der Organismus in sich die Tendenz habe, in einen complicirter gebauten sich umzubilden," gerathen wir auf die schiefe Ebene der Teleologie, auf der wir rettungslos in den Abgrund dualistischer Widersprüche hinabrutschen und uns von der allein mög- lichen mechanischen Naturerklärung völlig entfernen. Wir können uns aber um so weniger zur Annahme eines solchen besonderen, bis jetzt ganz unerklärlichen Vervollkommnungs - Princips entschliessen , als uns die Selections-Theorie die vorwiegend fortschreitende Richtung der Differenzirung durch die natürliche Züchtung ganz wohl erklärt, und als daneben die überall vorkommenden Rückbildungen zeigen, dass der Fortschritt keineswegs ein ausschliesslicher und unbedingter ist. Indem wir also den allgemeinen und überwiegenden, jedoch durch viele einzelne Rückschritte unterbrochenen Fortschritt als ein allgemeines mechanisches Naturgesetz festhalten, welches mit Nothwendigkeit aus der beständigen Wirksamkeit der natürlichen Züchtung folgt, haben wir schliesslich noch einen Blick auf die drei verschiedenen Erschei- nungsreihen der fortschreitenden Entwickeluug zu werfen, welche deu drei Differenzirungsreihen entsprechen, und welche in ihrer auffallen- den Parallele uns einen der wichtigsten Beweise für die Wahrheit der Descendenz -Theorie liefern. Es sind dies die drei parallelen Fort- schrittsketten der paläontologischen, embryologischen und systemati- schen Vervollkommnung. Die paläontologische Vervollkommnung oder der phylogenetische Fortschritt ist von diesen drei parallelen fort- schreitenden Entwickelungs - Reihen (wie dies auch ebenso von den drei parallelen Differenzirungs - Reihen gilt) der ursprünglichste und daher wichtigste. Wenn wir vorher zeigten, dass der Fortschritt eine noth- 1) Die Bezeichnung „Nützlichkeits-Theorie" für Darwins Selections-Theorie ist aus mehreren Gründen nicht recht passend, einmal weil hiermit sehr leicht teleologische Vor- stellungen verknüpft werden , und besonders weil dieselbe grade für gewisse 'teleologische Schöpfungs-Theorieen im Gegensatze zu den mechanischen Entwickelungs-Tbeorieeu auge- wandt worden ist. IX. Die Selectious- Theorie uud das Fortschritts - Gesetz. 265 wendige Folge der Wecliselwirkuiig von Anpassung und Vererbung sei, so galt dies zunächst nur von der phylogenetischen Vervollkommnung, welche sich in der allmählich fortschreitenden Entwickelung der Arten und Stämme zeigt, darin also, dass die Transmutation der Speeles nicht allein zur Erzeugung neuer, sondern im Ganzen auch v oll- komm ner er Arten führt, und dass mithin auch die Stämme im Gan- zen sich beständig vervollkommnen. Die gesammte Paläontologie liefert hierfür eine fortlaufende Beweiskette. Die embryologische Vervollkommnung oder der onto- genetische Fortschritt, welcher sich in der gesammten individuel- len Entwickelungs - Geschichte der Organismen als die am meisten auf- fallende Erscheinung offenbart, ist die natürliche Folge des paläonto- logischen Fortschritts, und durch die Vererbungs- Gesetze (besonders durch die Gesetze der abgekürzten, der homochronen und homotopen Vererbung) mit Nothwendigkeit bedingt. Da die gesammte Ontogenie nichts weiter, als eine kurze und schnelle Recapitulation der Phylo- genie des betreffenden Organismus ist, so muss natürlich auch die vor- zugsweise fortschreitende Bewegung der letzteren in derselben Weise wieder in der ei'steren zu Tage treten. Da wo der überwiegende pa- läontologische Fortschritt durch Anpassung der vollkommneren Orga- nismen an einfachere Existenz - Bedingungen local modificirt und be- schränkt worden ist, wie namentlich bei den Parasiten, da muss derselbe natürlicli auch ebenso in der individuellen Entwickelung eine entspre- chende „regressive Metamorphose" zur Folge haben (sehr ausgezeichnet bei den parasitischen Crustaceen). Die systematische Vervollkommnung oder der speci- fische Fortschritt endlich, welcher vorzugsweise Object der ver- gleichenden Anatomie ist, folgt ebenso unmittelbar wie der ontogene- tische, aus dem paläontologischen Fortschritt. Zunächst ist hier zu erwägen, dass die Vervollkommnung bei den verschiedenen Organismen einen äusserst ungleichen Verlauf hinsichtlich ihrer Ausdehnung und Schnelligkeit nimmt. Während einige Organismen in verhältnissmässig kurzer Zeit einen sehr hohen Grad der Differenzirung und der Voll- kommenheit erreichen (z. B. die Säugethiere unter den Wirbelthieren, und besonders die Carnivoren und Primaten) verändern sich andere, verwandte Organismen auch in sehr langen Zeiträumen nur sehr wenig, und zeigen nur einen sehr geringen Grad der Vervollkommnung und Divergenz (z. B. die Fische unter den Wirbelthieren, und besonders die Ganoiden und Rochen). Noch andere, diesen verwandte Organismen verändern sich zwar bedeutend, aber nicht in fortschreitender, sondern in rücksch reitender Richtung (z. B. die Parasiten). Daher finden wir, dass sehr viele . gleichzeitig existirende Organismen , obgleich sie von einer und derselben gemeinsamen Stammform abstammen, dennoch 266 Die Desccndenü -Theorie iiud die Selections- Theorie. einen äusserst verschiedenen Grad der Vollkommenheit, ebenso wie der Difterenzirung zeigen. Dieser systematische oder specifische Fortschritt, wie ihn die Anatomie (Systematik und vergleichende Anatomie) bei Vergleichung der verwandten und coexistenten Organismen in der Form des Systems so deutlich nachweist, erklärt sich eben so einfach, wie die beiden anderen Fortschrittsreihen, aus der Selections - Theorie (Vergi. das XXIV. Capitel). Er zeigt uns nur die reifen Früchte des fort- schreitenden Vervollkommnungs-Processes, wie er sich in der Phylo- genie divergirend gestaltet, und wie er sich in der Ontogenie kurz wiederholt. Die vollkommene Parallele dieser drei fortschreitenden Entwickelungsreihen , der paläontologischen, der embryologischen und der systematischen Vervollkommnung, ist einer der stärksten Beweise der Wahrheit für die Descendenztheorie. X. Dysteleologie oder TJnzweckmässigkeitslehre. ("Wissenschaft von den rudimentären, abortiven, verkümmerten, fehlge- schlagenen, atrophischen oder cataplastischen Individuen.) X, A. Die Dysteleologie und die Selections-Theorie. Von allen grossen und allgemeinen Erscheinungsreihen der orga- nischen Morphologie, welche uns durch die Descendenz - Theorie voll- kommen erklärt werden, während sie ohne dieselbe gänzlich unerklärt bleiben, ist nächst der dreifachen Parallele der paläontologischeu , em- bryologischen und systematischen Entwickelung vielleicht keine einzige von so mächtiger und unmittelbar überzeugender Beweiskraft, als der ebenso interessante als wichtige Phänomenen - Complex der sogenann- ten „rudimentären Organe", welche man häufig auch als abortive, atrophische, verkümmerte oder fehlgeschlagene Organe bezeichnet. Wenn nicht die gesammte generelle Biologie, ebensowohl die Morphologie als die Physiologie, in allen einzelnen Abschnitten und Zweigen eine fort- laufende Kette von harmonischen Beweisen für die Wahrheit der Ab- stammungslehre wäre, so würde allein schon die Kenntniss jener „Or- gane ohne Function" uns von derselben auf das Bestimmteste überzeu- gen. In gleichem Maasse aber, als die Organe, welche man sowohl in der Zoologie, als in der Botanik mit jenen Namen bezeichnet, die höchste morphologische Bedeutung besitzen, in gleichem Maasse sind sie bisher fast allgemein vernachlässigt, oder doch bei weitem nicht in dem Grade, Avie sie es verdienen, gewürdigt worden. Es war dies auch ganz natürlich, so lange man in Ermangelung der Descendenz- Theorie Nichts mit ihnen anfangen konnte, und auf eine allgemeine mechanisch -causale Erklärung der morphologischen, und namentlich der ontogenetischen Thatsachen überhaupt verzichten musste. Erst als Darwin die Abstammungslehre neu belebte und durch die Selec- i i ; X. Dysteleologie oder UnzweckmässigkeitBlehre. 267 I tions- Theorie fest begilindete , kamen auch die rudimentären Organe l wieder hoch zu Ehren. Sie werden von jetzt an als eines der schla- fe gendsten und wichtigsten Argumente zu Gunsten derselben gelten müs- (, sen und als solche eine bisher nicht geahnte Bedeutung erlangen. ; Wie wir schon in unserer methodologischen p]inleitung hervorho- i ben , als wir den Gegensatz zwischen der Teleologie und Causalität be- sprachen, und die alleinige Anwendbarkeit der mechanisch - causalen Methode nachwiesen, giebt es nach unserer Ansicht keinen stärkeren Beweis für letztere, als die Erscheinungsreihe der rudimentären Organe, welche geradezu der unmittelbare Tod aller Teleologie ist. (Vergl. . Bd. I, S. 99, 100.) Wenn die teleologische und dadurch dualistische Biologie noch heute allgemein behauptet und bis auf Darwin fast un- angefochten behauptet hat, dass die morphologischen Erscheinungen im Thier- und Pflanzen -Keiche „zweckmässige Einrichtungen" seien, dass sie nach einem „zweckmässigen Plane" augelegt und ausgeführt, durch „zweckthätige Ursachen" (causae finales) bestimmt seien, so wird diese grundfalsche Ansicht, abgesehen von ihrer sonstigen Unhalt- barkeit, durch Nichts schlagender widerlegt, als durch die rudimen- tären Organe, Avelche entweder ganz gleichgültig und unnütz, oder so- gar entschieden „unzweckmässig" sind. Die ausserordentliche theore- tische Bedeutung, welche dieselben dadurch besitzen, die unerschütter- liche Basis, welche sie der von uns vertretenen und allein wahren mo- nistischen, d.h. mechanisch - causalen Erkenntniss der organischen Na- tur liefern, ermächtigt uns, die Wissenschaft von den rudimentären Organen zu einer besonderen Disciplin der organischen Morphologie zu erheben, welcher wir die bedeutendste Zukunft versprechen können. Wir glauben diese Lehre mit keiner passenderen, und ihre hohe phi- losophische Bedeutung richtiger andeutenden Bezeichnung belegen zu können, als mit derjenigen der „Unzweckmässigkeitslehre oder Dyste- leologie". Die Organe, oder allgemeiner gesagt, organischen Körpertheile, welche das Object der Dysteleologie bilden, sind in der Botanik und Zoologie mit mehreren verschiedenen Namen belegt worden: rudimen- täre oder verkümmerte , atrophische oder unentwickelte , abortive oder fehlgeschlagene Theile, auch wohl Hemniungsbildungen. Am besten würde man sie wohl, mit Rücksicht auf ihre Entstehung durch regres- sive oder cataplastische Entwickelung, „cataplastische oder rückgebil- dete" Theile nennen, oder, mit Rücksicht auf den physiologischen De- generations-Process, der diese bewirkt: „degenerirte oder entbildcte Theile". Im Ganzen hat man denselben in der Botanik eine weit allgemeinere Aufmerksamkeit geschenkt, als in der Zoologie, ohne dass jedoch, dort wie hier, die eigentliche Bedeutung derselben ge- wöhnlich richtig erkannt worden wäre. Allerdings liegen bei den Pflan- 2ß8 Die Descendeuz - Theorie und die Selections - Theorie. zen, deren Organ - Differenzirung durchschnittlich ja sehr viel einfacher als diejenige der Thiere ist, diese cataplastischen Organe viel offener und augenfälliger zu Tage , und es lässt sich hier auch oft durch ver- gleichend anatomische und morphogenetische Untersuchung viel leich- ter der Nachweis ihrer eigentlichen Entstehung und Bedeutung führen, als bei den Thieren , doch sind dieselben auch bei den letzteren so allgeuiein vorhanden, dass es bei jeder genaueren vergleichenden Be- trachtung dieselben in Menge nachzuweisen gelingt. Wir können fast bei allen Organismen, Thieren, Protisten und Pflanzen, rudimentäre oder cataplastische Theile erkennen , sobald dieselben überhaupt einen gewissen Differenzirungs - Grad tiberschritten und eine gewisse Reihe von Entwickelungs - Stadien durchlaufen haben. Die einzige Vorsicht, welche bei der Untersuchung der rudimen- tären oder abortiven Theile nöthig ist, besteht darin, dass man sich vor einer Verwechslung derselben mit werdenden oder neu entstehen- den Theilen hütet. Auch diese, in Anaplase begriffenen Theile, kön- nen als „Rudimente", d. h. als unbedeutende und unscheinbare, phy- siologisch werthlose und morphologisch unentwickelte Theile erschei- nen. Meistens wird aber entweder ein Blick auf den Gang der indi- viduellen Entwickelung oder auf die Bildung desselben Organs bei verwandten Organismen, genügen, uns erkennen zu lassen, ob das- selbe in fortschreitender Anaplase oder in rückschreitender Cataplase begriffen ist. Nur im letzteren Falle - verdient dasselbe den Namen des „abortiven oder atrophischen Organs". Am leichtesten werden wir zur Erkenntniss der rudimentären Theile gewöhnlich auf physiologischem Wege geleitet, durch die Fest- stellung nämlich, dass der betreffende Körpertheil, obwohl morpholo- gisch vorhanden, dennoch physiologisch nicht existirt, indem er keine entsprechenden Functionen ausführt. In dieser Beziehung kann also der betreffende Körpertheil entweder für den Organismus vollständig nutzlos, gleichgültig, ein „Organ ohne Function", ein „Werkzeug aus- ser Dienst" sein, oder aber ihm sogar positiv nachtheilig und schäd- lich. Sehr häufig bedarf es jedoch keiner physiologischen Reflexion, um die rudimentären oder cataplastischen Theile als solche zu erken- nen. Ein Blick auf ihre empirisch leicht festzustellende individuelle Entwickelung, oft schon ein vergleichend anatomischer Blick auf ihre Bildung bei verwandten Organismen , genügt, um sie als wirklich rück- gebildete, cataplastische Theile nachzuweisen. Sobald man hinrei- chenden Ueberblick über die Morphologie der Organismen besitzt, um die dreifache Parallele der paläontologischen, embryologischen und systematischen Entwickelungsreihe zu erkennen und richtig zu würdi- gen , so fällt es nicht mehr schwer , bei den allermeisten Organismen- Arten rudimentäre Theile mit Sicherheit nachzuweisen. X. Dysteleologie oder TJnzweckmüssigkeilslehre. - 269 X, B. Entwickelungsgeschichte der rudimentären oder cataplastischen Individuen. Wenn es wirklich solche „mizweckiucässige , unnütze" oder sogar uachtheilige und positiv schädliche Theile (Form -Individuen) im Kör- per der meisten Organismen giebt, wie sie von der Dysteleologie in der ausgedehntesten Verbreitung nachgewiesen werden, so kann die Erklärung dieser höchst merkwürdigen Erscheinungen nur von der Entwickelungsgeschichte geliefert werden. Da die Existenz der rudi- mentären Theile vollkommen unvereinbar ist mit der herrschenden teleologischen Dogmatik, und speciell mit der dualistischen Annahme, dass der Organismus in allen seinen Theilen zweckmässig eingerichtet sei, dass alle Theile durch eine Cavsa fbuiUs bestimmt werden, als zweckthätige Organe zum Besten des Ganzen zusammenzuwirken, so können nur blinde mechanische „Cnnsae ef/icicntes"' als die Ursachen ihrer Entstehung gedacht werden. Die einzig mögliche Annahme, welche dieselben zu erklären vermag, welche sie aber auch vollstän- dig und in der befriedigendsten Weise erklärt , ist aus der Descendenz- Theorie zu entnehmen; diese behauptet, dass die cataplastischen Theile die ausser Dienst getretenen, unbrauchbar gewordenen Reste von wohl entwickelten Theilen sind, welche in den Voreltern der be- treffenden Organismen zu irgend einer Zeit vollständig entwickelt, functionsfähig , und thatsächlich wirksam waren; und diese Erklärung der Abstammungslehre wird durch die Thatsächen der phylogenetischen und ontogenetischen Entwickelungsgeschichte vollkommen bestätigt. Dass diese fi'üher gut entwickelten und leistungsfähigen Theile später in der jüngeren Generation der Speeles leistungsunfähig wurden, und verkümmerten, liegt zunächst und unmittelbar an einer Ernährungs- Veränderung des betreffenden Theils, welche durch besondere An- passungs- Bedingungen verursacht ist. Diese Adaptations - Verhältnisse können sehr verschiedener Natur sein. Die grösste Rolle spielt dabei gewöhnlich der Nichtgebrauch des Organs, die mangelhafte oder ganz ausfallende Function. Ebenso wie durch andauernden Gebrauch und üebung eines bestimmten Körpertheils dessen Ernährung und damit auch das Wachsthum gefördert wird, wie Gebrauch und üebung zur Vergrösserung und Verstärkung (Hypertrophie) eines Körpertheils füh- ren, ebensp führt umgekehrt der mangelhafte oder unvollständige Ge- brauch zur Schwächung und Abnahme desselben (Atrophie), indem zunächst das Wachsthum und die Ernährung herabgesetzt wird. In- dem nun diese durch Anpassung an bestimmte Existenzbedingungen bewirkte Modification eines Körpertheils von dem betreffenden Orga- nismus auf seine Nachkommen vererbt wird , indem durch fortdauernden Nichtgebrauch des abnehmenden Organs sich die Schwächung dessel- 270 Die Descendenz - Theorie und die Selections - Theorie. ben häuft, führt dieser Generationen hindurch fortgesetzte Mangel an Uebung endlich zu einem vollständigen Ausfallen, einem gänzlichen Schwunde des Organs. Es werden also Körpertheile , welche Genera- tionen hindurch gar nicht oder nur schwach gebraucht werden, nicht allein beständig schwächer, atrophischer, rudimentärer, sondern ihr Rückbildungs-Process, ihre Cataplase, führt schliesslich zum vollstän- digen Schwunde, zum vollendeten „Abortus". Der Weg, auf dem die rudimentären Theile entstehen, ist also offenbar derselbe, wie derjenige, auf dem neue Theile entstehen. Nur die Richtung der Bildungsbewegung ist in beiden Fällen entgegenge- setzt. Ebenso wie bei der Neubildung eines Organs eine Reihe von vielen Generationen hindurch zahlreiche kleine Zunahmen sich häufen, und so endlich zur Entstehung eines ganz neuen Theils führen, so häufen sich bei der Rückbildung eines Organs allmählich zahlreiche kleine Abnahmen, bis dasselbe nach Verlauf einer grösseren Genera- tions -Reihe endlich ganz verschwindet. Hier wie dort ist es die An- passung und die Vererbung, welche zusammen wirken und welche, im Kampfe ums Dasein wirksam , die natürliche Zuchtwahl als die bil- dende Ursache erkennen lassen. Wir kommen hierbei zurück auf die schon vorher (S. 262) erläu- terte wichtige Thatsache, dass die natürliche Züchtung keineswegs immer bloss fortbildend, auaplastisch, sondern auch rückbildend, ca- taplastisch, wirkt. Sobald die Existenz -Bedingungen (z. B. beim Pa- rasitismus) so einfach werden, dass der Organismus, vorher an com- plicirtere Bedingungen angepasst, seine entsprechend complicirten Organe nicht mehr braucht, so werden diejenigen Individuen, welche / sich am meisten und am schnellsten zurückbilden, diesen einfacheren Lebens - Bedingungen sich am besten und vollständigsten anpassen, und daher einen Vortheil im Kampf ums Dasein vor den vollkommne- ren Individuen der gleichen Art besitzen. So entstehen also durch natürliche Zuchtwahl nicht nur vollkommnere, sondern auch unvoll- kommnere Individuen und Organe. Ein und derselbe Process führt in einem Falle zur höheren Ausbildung und Vervollkommnung des Or- gans und selbst zur Neubildung vorher nicht existirender Theile, im anderen Falle dagegen umgekehrt zur Rückbildung und Verkümmerung desselben , und endlich selbst zum Verschwinden mancher existirenden Theile. Schon hieraus geht hervor, dass, wie wir in den beiden vor- hergehenden Abschnitten zeigten, die Differenzirung der Organismen keineswegs immer und nothwendig mit einer Vervollkommnung, viel- mehr häufig mit entschiedener Rückbildung verbunden ist. Es ist be- sonders wichtig, hierbei ins Auge zu fassen, dass durch den Besitz hoch differenzirter Theile dem Organismus nicht allein Vortheile, son- dern auch Lasten erwachsen, und dass also das Verschwinden solcher X. Dysteleologie oder TJnzweckmässigkeitslehre. 271 rheile, welche immer eine bestimmte Quantität von Nahrung erfordern, für ihn ein positiver Vortheil ist, sobald dieselben nicht mehr in Ge- brauch, ihm nicht mehr von Nutzen sind. So wird für eine Vogel- Art, welche aus irgend einem Grunde sich das Fliegen abgewöhnt und sich zum Laufen ausbildet, die allmähliche Verkümmerung und Reduction der Flügel schon allein aus dem Grunde ein grosser Vor- theil sein, weil der beträchtliche Aufwand von Nahrungsmaterial , den die Flügel erforderten, nunmehr dem übrigen Körper zu Gute kommt. Die schwächere Ernährung der oberen , nicht mehr gebrauchten Extre- mitäten, wird hier unmittelbar eine entsprechend stärkere Ernährung der unteren, allein zur Ortsbewegung gebrauchten Extremitäten her- beiführen , und der Aufbildung der letzteren wird die Rückbildung der ersteren parallel gehen. Für ein parasitisches Krustenthier, welches in der Jugend frei beweghch und mit Sinnes -Orgauen versehen ist, wird späterhin, wenn es zur parasitischen Lebensweise übergegangen ist und sich festgesetzt hat, der Verlust der Sinnes- und Bewegungs- Organe ein entschiedener Vortheil sein. Denn dieselben Ernährungs- Säfte, dieselben Massen von Materie, welche vorher für die Unter- haltung und üebung jener Organe verwandt wurden, können nunmehr, Avo diese nicht mehr in Wirksamkeit sind, zur Bildung von Fortpflan- zungs - Stoffen verwandt werden. Es ist also die möglichst ausgedehnte Rückbildung und der eventuelle Schwund der unnützen Theile für den übrigen Körper von entschiedenem Nutzen , wie wir es schon nach dem Gesetz der wechselbezüglichen Anpassung , bei der grossen Wichtigkeit der Wechselbeziehungen der verschiedenen Körpertheile zu einander, erwarten konnten. Der negative Vortheil, den der Verlust bestimmter überflüssiger oder schädlicher Theile dem Organismus gewährt, wird also im Kampfe um das Dasein ebenso züchtend wirken , wie irgend ein anderer positiver Vortheil. Er wird die Rückbildung (Cataplase) und endlich die vollständige Vernichtung (Abortus) des cataplastischen Theils bewirken. Die Parallele zwischen der Phylogenie und Ontogenie tritt auch in diesem Falle wiederum auf das schlagendste an's Licht; denn die gesammte individuelle Entwickelunggeschichte der rudimentären Theile zeichnet uns in kurzer Zeit mit flüchtigen aber charakteristischen Stri- chen die Grundzüge des langen und langsamen cataplastischen Pro- cesses, durch welchen die rudimentären Theile im Laufe vieler Gene- rationen durch Anpassung an einfachere Lebens - Bedingungen , durch Nichtgebrauch, NichtÜbung etc. von ihrer früheren Ausbildungs - Höhe herabsanken. Hier, wenn irgendwo, kann auch der eifrigste Duahst, falls er nicht ganz mit teleologischer Blindheit geschlagen ist, sich monistischen Anschauungen nicht entziehen ; ja dieselben sind hier so- gar unbewusst schon durch den Sprachgebrauch ausgedrückt, denn 272 Die Descendenz - Theorie und die Selections - Theorie. die Bezeichnungen der „verkümmerten, fehlgeschlagenen, abortirten, atrophischen" Theile involviren selbstverständlich die Annahme einer früher dagewesenen höheren Ausbildung. Bei Betrachtung der para- sitischen Crustaceeu und ihrer regressiven Metamorphose muss jeder Zweifel verschwinden. Hier hört jeder dualistische Erklärungs-Versuch auf. Jede Ideologie unterliegt dem Gewichte dieser handgreiflichen Argumente, und der Monismus feiert durch die Descendenz - Theorie seinen glänzendsten Sieg^). X, C. Dysteleologie der Individuen verschiedener Ordnung. 1. Dysteleologie der Plastideu. (Lehre von den cataplastischen Individuen erster Ordnung.) Wenn bisher von rudimentären, verkümmerten, fehlgeschlagenen, atrophischen, abortiven Theileu die Rede war, hat man fast immer vorzugsweise oder allein von „Organen" gesprochen; und auch Dar- win, welcher im dreizehnten Capitel seines Werkes zuerst deren hohe Bedeutung vollkommen gewürdigt hat, spricht nur von „rudimentären Organen". Da nun aber die Organe, morphologisch betrachtet, nichts Anderes als Individuen zweiter Ordnung sind, wird sich uns unmittel- bar die Vermuthung aufdrängen, dass auch die Individuen der übrigen Ordnungen in rudimentärem Zustande sich werden finden können. Dies ist in der That der Fall, und zwar in der weitesten Ausdehnung. Individuen aller sechs Ordnungen werden in rudimentärem oder cata- plastischem Zustande angetroffen, und zwar sowohl im Thier- als im Pflanzenreich in den verschiedensten Graden der Rückbildung. Obgleich gerade an den Organen, wegen deren hervorragender physiologischer Wichtigkeit, die Entstehung und Bedeutung der rudimentären Be- schaffenheit recht auffallend hervortritt, so ist diese desshalb doch bei den anderen fünf Individualitäten in nicht geringerem Grade häufig und bedeutend; ja wir glauben, dass für die Morphologie, und vor- züglich für die Promorphologie, die paläontologische Cataplase der 1) Welche ausserordentlich hohe Bedeutung gerade die parasitischen Crnstaceen in. dieser Hinsicht besitzen , hat Niemand richtiger erkannt , als Fritz Müller in seiner bewundernswürdigen Schrift „Für Darwin" (Leipzig 1864. p. 2). „Nirgends," sagt er, „ist die Versuchung dringender, den Ausdrücken: Verwandtschaft, Hervorgehen aus ge- meinsamer Grundform — und ähnlichen, eine mehr -als bloss bildliche Bedeutung beizu- legen , als bei den niedern Krustern. Namentlich bei den Schmarotzerkrebsen pflegt ja längst alle Welt , als wäre die Umwandlung der Arten eine selbstverständ- liche Sache, in kaum bUdlich zu deutender Weise von ihrer Verkümmerung durchs Schmarotzerleben zu reden. Es mochte wohl Niemandem als eines Gottes würdiger Zeit- vertreib erscheinen, sich mit dem Ausdenken dieser wunderlichen Verkrüppelimgen zu belustigen, und so Hess mau sie durch eigene Schuld, wie Adam beim SündenfaU , von der früheren Vollkommenheit herabsinken." X, Dysteleologie oder TTiiz-weckmässigkeitslehre. 273 Form -Individuen erster und vierter Ordnung, der Piastiden und Me- tameren, noch viel bedeutender und wichtiger ist, als diejenige der Organe. Wir wollen hier daher einen flüchtigen Blick auf die ver- -^chiedene Anwendung der Dysteleologie bei morphologischen Individuen aller sechs Ordnungen werfen. Die Piastiden oder Plasmastücke, die morphologischen Individuen erster Ordnung sind in rudimentärem oder cataplastischem Zustande äusserst verbreitet. Denn jedes zusammengesetzte Form -Individuum zweiter bis sechster Ordnung, welches wir als cataplastisches betrachten müssen, verdankt seinen rudimentären Zustand und die bewirkende Ursache desselben, seine phylogenetische Degeneration, zunächst einer paläontologischen Cataplase seiner constituirenden Piastiden. Ebenso wie jede physiologische und morphologische Eigenschaft eines polypla- stiden Individuums, vom Organ bis zum Stock hinauf, das unmittelbare Resultat oder die uothwendige Summe der physiologischen und mor- I)hologischen Eigenschaften der Piastiden ist, welche dasselbe zusam- mensetzen, ebenso ist auch jeder atrophische, abortive, cataplastische Zustand eines polyplastiden Organismus durch die entsprechende Cata- plase der ihn zusammensetzenden Piastiden bedingt. Da mithin alle Fälle von Dysteleologie, welche wir an den Form -Individuen zweiter bis sechster Ordnung wahrnehmen, zugleich Fälle von Dysteleologie der Piastiden sind, so brauchen wir hier keine speciellen Beispiele für diese äusserst verbreitete Erscheinung anzuführen. Wir bemerken nur, dass die übergrosse Mehrzahl aller polyplastiden Organismen eine An- zahl von rudimentären Piastiden besitzt, da in den allermeisten Fällen die DifiFerenzirung ihrer Vorfahren nicht ausschliesslich in progressiven, -sondern auch an einzelnen Theilen des Körpers zugleich in regressiven Anpassungen bestanden hat. Gewöhnlich ist mit der fortschreitenden Metamorphose der meisten Körpertheile eine rückschreitende an einigen Stellen verbunden, und diese beruht wesentlich auf der Cataplase der constituirenden Piastiden. Die physiologischen Processe, welche unmittelbar die Cataplase ' der abortirenden oder verkümmernden Piastiden bedingen, sind die ver- schiedenen Vorgänge der Degeneration oder Entbildung, welche wir 'Oben bereits namhaft gemacht haben, also besonders einfache Atro- I phie, Erweichung, fettige Degeneration, Verhärtung, Verkalkung u. s. w. :Im Einzelnen sind diese physiologischen Grundlagen der Piastiden - Ca- itaplase noch sehr wenig untersucht. 2. Dysteleologie der Organe. (Lehre von den cataplaatinchen Individuen zweiter Ordnung.) Die Organe oder die morphologischen Individuen zweiter Ordnung >sind bisher, wie bemerkt, fast ausschliesslich Gegenstand dysteleologi- H a e c k e 1 , Generelle Morphologie , II. a q 274 I)ie Descendenz- Theorie und die Selections- Theorie. scher Betrachtungen gewesen, und es erklärt sich dies daraus, dass gerade hier das physiologische Paradoxon ihrer Existenz bedeutend in die Augen springt. Da bei den meisten Organen mehr, als bei den meisten Form -Individuen anderer Ordmingen, die bestimmte physio- logische Bedeutung klar ausgesprochen und in den meisten Fällen uns bekannt ist, so muss gerade hier der räthselhafte Widerspruch zwi- schen der morphologischen Existenz und der physiologischen Bedeu- tungslosigkeit der rudimentären Individuen besonders auffallend her- vortreten und der teleologischen Naturbetrachtung unübersteigliche Hin- dernisse bereiten. Daher ist auch gerade hier sehr leicht zu beweisen, dass nur die Descendenz -Theorie diese, von teleologischem Standpunkte durchaus unerklärlichen Erscheinungen ebenso einfach als befriedigend zu erklären vermag. Denn was kann ein „Schöpfer" in seinem „Schöp- fungsplan" mit der Bildung von urizweckmässigen Organen „bezweckt" haben, mit der zweckmässigen Einrichtung von Werkzeugen, welche niemals in Function treten? Wenn irgendwo die monistisch - mechani- sche Auffassung der organischen Natur vollkommen unwiderlegbar ist, so ist es an diesem Punkte; und wenn wir vorher die gesammte Dys- teleologie als die Klippe bezeichnet haben, an der jeder teleologische und vitalistische Dualismus rettungslos zerschellt, so gilt dies in ganz besonderem Grade von der Dysteleologie der Organe. „Organe" im engeren, rein morphologiscTien Sinne (also morpholo- gische Individuen zweiter Ordnung), welche die Bezeichnungen „rudi- mentärer, atrophischer, abortiver, fehlgeschlagener, verkümmerter, ent- arteter Organe" u. s. w. verdienen und welche wir sämmthch als „cata- plastische Organe" zusammenfassen wollen, sind in der gesammten Or- ganismenwelt, im ganzen Thierreich, Protistenreich und Pflanzenreich so ausserordentlich weit verbreitet, und so äusserst mannichfaltig ge- bildet, dass die gesammte vergleichende Anatomie in fast allen Or- ganismen-Gruppen uns eine Fülle von schlagenden Beispielen liefert. Wir wollen nur einige der wichtigsten hervorheben. Am auffallendsten und bemerkenswerthesten sind diejenigen Fälle von cataplastischen Organen, bei denen eine ganz bestimmte, specielle und besonders ausgebildete Function eines sehr zusammengesetzten Or- gans vollständig aufgehoben ist, trotzdem das Organ selbst vorhanden ist. Kein Organ des thierischen Körpers ist in dieser Beziehung Yiel- leicht so ausserordentlich merkwürdig, als das Auge, und die rudi- mentären Augen der parasitischen und unterirdischen Thiere müssen selbst dem befangensten und blödesten Naturforscher - Auge die Un- möglichkeit teleologisch -vitaüstischer Erklärungen klar machen. Wir finden solche rudimentäre Augen in den verschiedensten Stadien der Cataplase, nicht selten noch mit vollständig erhaltenen lichtbrechen- den Medien und dem gesammten optischen Apparate der ausgebildeten X. Dystelcologie oder Unzwockmässigkeitslehre. 275 und functionirenden Augen, während sie doch statt der durchsichtigen Cornea vollständig von undurchsichtiger Haut bedeckt sind, so dass kein Lichtstrahl in sie hineinfallen kann. Bei parasitischen und be- sonders bei Höhlen bewohnenden Thiereu der verschiedensten Gruppen können wir sie von diesem ersten Stadium der Cataplase bis zur voll- ständigen Verkümmerung und endlich zum gänzlichen Schwunde ver- folgen. Von den zahlreichen Beispielen erwähnen wir bloss: von den Säugethieren: mehrere Maulwürfe (Ta/pn raeni, Chriisorliloris) und Blindmäuse (Spalax lyphlns, Ctenovnjs ^) etc.); von den Reptilien: viele unterii'disch lebende Eidechsen und Schlangen (Typhi ine, Dihn- miis, Acontins cnecus, Amphisbaemi, Ti/p//lops etc.) ; unter den Am- phibien: CaeciUdj Proteus anguinens und andere Proteiden; unter den Fischen: die Heteropygier (Ambli/opsis speiaens und Typ/zächthys snbterranem) , einige Welse (Sllnrns caecnüens) , einige Aale ApLer- ir/ithys c(ieciis) , und diej parasitischen {Myxinoiden (besonders G/islro- hrdnclins cdcvas). Noch viel zahlreicher, als unter den Wirbelthieren, sind Beispiele von rudimentären Augen unter allen Abtheilungen der Wirbellosen zu finden, besonders bei Parasiten, Höhlenbewohnern, und solchen, die auf dem dimkein Grunde des tiefen Meeres leben ; wir er- innern bloss an die zahlreichen blinden Insecten (besonders Hymenop- teren und Käfer), Ayachniden, Crustaceen^), Schnecken, Würmer etc. Alle Stadien der paläontologischen Cataplase sind hier anzutreffen und liefern die uuwiderleghchsten Beweise für die Descendenz - Theorie. Nächst den Gesichts - Organen sind es vorzüghch die Flugorgane, welche unter den cataplastischen Organen besonders merkwürdig und wichtig sind. Wir haben bloss zwei Thierklassen mit entwickelten Flug- 1) Die nidimeutären Augen, von Ctenomijs sind besonders deshalb interessant, weil nach einer von Darwin darüber gemachten Mittheilung die Rückbildung der Augen bei diesem Nagethier noch gegenwärtig im Gange ist, und deutlich zeigt, dass nicht aus- schliesslich der „Nichtgebrauch", sondern auch andere secundäre Ursachen die Cataplase durch natürliche Züchtung begünstigen oder veranlassen können. Darwin macht hier- über im fünften Capitel seines Werks folgende interressante Mittheilung: „Ein südameri- kanischer Nager, Ctenomys, hat eine noch mehr unterirdische Lebensweise, als der Maxil- wurf, und ein Spanier, welcher oft dergleichen gefangen, versicherte mir, dass solche oft ganz blind seien; einer, den ich lebend bekommen, war es gewiss, und zwar, wie die Section ergab, in Folge einer Entzündung der Nickhaut. Da häufige Augen -Entzündun- gen einem jeden Thiere nachtheilig werden müssen, und da für unterirdische Thiere die Augen gewiss nicht unentbehrlich sind, so wird eine Vermindenmg ihrer Grösse, die Ver- wachsung des Augenlides damit, und die Ueberziehung derselben mit dem Felle für sie von Nutzen sein; und wenn dies der Fall, so wird natürliche Züchtung die Wirkung des Nichtgebrauchs beständig unterstützen." 2) Unter den historisch erblindeten höheren Crustaceen sind ganz besonders merk- würdigeinige stieläugige Krabben (Po d Ophthal m e n), bei denen der Augenstiol noch vorhanden, obwohl das Auge selbst verloren ist. Wie Darwin treffend bemerkt, ist hier das Teleskopen-Gestell geblieben, obwohl das Teleskop selbst mit seinem Glase ver- loren gegangen ist. 18* 276 Die Descendenz - Theorie und die Selections - Theorie. Organen, welche hier in Betracht kommen, die Vögel und die Insec- ten ; denn die unvollkommenen Flügel (Brustflossen) der fliegenden Fische (Dacty/opferns , Exococtiis , Pegasus), sowie der fliegenden Leguane (Draco), Beutel thiere (Petaurus), Nagethiere (Plevomys) und Dermo- pteren (Gniaopit/tccus) , sind erst werdende (anaplastische), nicht verkümmernde Flugorgane, und unter den fliegenden Fledermäusen und Pterodactylen mit vollkommen entwickelten Flugorganen sind uns keine rudimentären oder verkümmerten Fälle bekannt. Unter den Vögeln sind durch die mehr oder weniger weit gehende Reduction der Flug- werkzeuge vorzüglich diejenigen ausgezeichnet, welche sich das Laufen angewöhnt und dabei das Fliegen verlernt haben: die merkwürdige Ordnung der Cursores: Strauss, Rhea, Casuar, Apteryx, Didus. Als rudimentäre Flugorgane können auch die Flügel der Pinguine ( Aplo.no- dytes), betrachtet werden, welche jedoch in gute Schwimmorgane um- gewandelt, und daher nicht so ohne Function, wie die Flügel der Cur- sores oder Laufvögel sind. Unter den Insecten sind die Beispiele von rudimentären oder verkümmerten Flügeln in allen Ordnungen, und in sehr vielen Familien, so überaus zahlreich, dass wir in dieser Bezie- hung einfach auf die Handbücher der Entomologie verweisen können. Es finden sich hier nicht allein viele Arten, bei denen eines der beiden Geschlechter (gewöhnlich das Weibchen) flügellos, das andere (gewöhn- lich das Männchen) geflügelt ist, sondern auch viele Gattungen, von denen einzelne Arten mit rudimentären, die andern mit entwickelten Flügeln versehen sind, ferner ganze flügellose Gattungen neben ande- ren geflügelten Gattungen derselben Familie, flügellose Familien neben geflügelten Familien derselben Ordnung, und endlich, eine so grosse Gruppe von niederen flügellosen Insecten ohne Verwandlung, dass man dieselben sogar als eine besondere Ordnung unter dem Namen der flü- gellosen Insecten (Aptera) vereinigt hat. Die Flugwerkzeuge finden sich in allen diesen Fällen auf den verschiedensten Stadien der palä- ontologischen Cataplase, so dass über ihre Verkümmerung durch natür- liche Züchtung gar kein Zweifel existiren kann. Es sind aber diese Fälle um so wichtiger, als offenbar alle anatomischen und morphoge- netischen Verhältnisse der Insecten bestimmt darauf hinweisen, dass alle Mitglieder der Insecten - Classe , in dem Umfange, in welchem wir heutzutage dieselbe kennen (also auch alle jetzt lebenden Insecten aller Ordnungen) von gemeinsamen geflügelten Voreltern abstammen, und dass demnach alle gegenwärtig existirenden Fälle von Insecten mit rudi- mentären Flügeln (ebenso wie alle Fälle von Vögeln mit rudimentären Flügeln) einer phylogenetischen Cataplase durch natürliche Zuchtwahl ihrem Ursprung verdanken. Wie die Flug -Werkzeuge, so liefern uns auch die übrigen Bewe- gungs-Organe der Thiere eine endlose Fülle von schlagenden Bei- X. Dysteleologie oder Unzweckmässigkeitßlehre. 277 spielen für die Dysteleologie. Es gehören hierher die interessantesten Phaenomene aus der vergleichenden Anatomie der activen (Muskeln) und passiven Bewegungs- Werkzeuge (Skelettheile). Wir erinnern bloss an einen der wichtigsten und am besten bekannten Theile der verglei- chenden Anatomie, an die comparative Osteologie und Myologie der Wir- belthiere. Wie dieser Theil der Morphologie von den geistreichsten ver- gleichenden Anatomen aller Zeiten, von Aristoteles an bis auf Goe- the, Cuvier, Johannes Müller, Gegenbaur und Huxley^), mit Recht als besonderer Lieblingszweig bevorzugt worden ist, und wie er uns auf jeder Seite die schlagendsten Beweise für die Descendenz- Theorie in Hülle und Fülle liefert, so bereichert derselbe auch die Dysteleologie mit einer solchen Masse von Material, dass es schwer wird, einzelne Fälle besonders hervorzuheben. Es giebt fast keinen Theil des Wirbelthier - Skelets und der Wirbelthier -Muskulatur, welcher nicht durch alle Stadien der phylogenetischen Catapla^se hindurch (in sehr vielen Fällen sogar bis zum vollständigen Schwunde) zu verfolgen wäre. Ganz vorzüglich gilt dies von den Extremitäten. Wir erinnern bloss daran, dass alle uns bekannten Wirbelthiere (vielleicht mit einzi- ger Ausnahme des Amphioxus) von gemeinsamen archolithischen Vor- eltern abstammen, welche zwei Extremitäten- Paare, ein Paar Vorder- beine (Brustflossen) und ein Paar Hinterbeine (Bauchflossen) besassen, und dass diese vier Extremitäten sowohl unter den jetzt noch lebenden Vertebraten, als unter ihren ausgestorbenen Voreltern, durch alle Sta- dien der historischen Rückbildung oder der phylogenetischen Cataplase hindurch zu verfolgen sind, und zwar sowohl die ganzen Extremitäten, als alle ihre einzelnen Theile, von letzteren namentlich auch die fünf Zehen (welches offenbar die ursprüngliche Zehenzahl für jeden Fuss der gemeinsamen Stammeltern aller höheren Wirbelthiere von den Ana- phibien aufwärts war). Den Gipfel der paläontologischen Reduction der vier urspninglichen Wirbelthier -Extremitäten finden wir erreicht in ihrem vollständigen Schwunde bei den meisten Schlangen und bei 1) Während die vorzüglichen vergleichend -anatomischen Arbeiten von Aristoteles, Cuvier und Johannes Müller zeigen, wie auch der grösste Genius das vielfach ver- schlungene Räthsel der organischen Morphologie von teleologisch - vitalistischem Stand- punkte nicht zu lösen vermag, und wie auch die sorgfältigsten Untersuchungen ohne den monistischen Grundgedanken der gemeinsamen Abstammung vergeblich nach Erklärung dieser unendlich verwickelten Erscheinungen ringen, sp finden wir dagegen in den ent- sprechenden Arbeiten von Go eth e, Gegenbaur und Huxley den augenfälligen Beweis, wie dieselben durch den monistischen Grundgedanken der Descendenz - Theorie eine ebenso einfache nls harmonische und vollständige Erklärung finden. Vergl. vorzüglich Gegen- baur's ausgezeichnete „Untersuchungen zur vergleichenden Anatomie der W^irbelthiere" (I. Carpus und Tarsus; II. Schulterglirtel der Wirbelthiere, Brustflossen der Fische) Leip- zig, 1864. 180.5. ; und ferner Huxley's vortreffliche ,,Lecturcs on the Clements of com- parative auatomy"; London, 1864. I 278 Die Descendeuz - Theorie und die Selections - Theorie. den flossenlosen Fischen (Ajdericlithys , üroyieryr()sseren Theil verkümmert zeigen, und dass von den beiden abdo- minalen Aortenstämmeii bei den Vögeln der linke, bei den Säugern der rechte atrophirt. Vollständigen Schwund des Circulations- Systems, und ebenso auch "des Respirations - Systems finden wir bei vielen durch Parasitismus rückgebildeten Thieren, besonders Gliederthieren. Durch Schwund einer von beiden Lungen zeigen sich die meisten Schlangen und viele schlaugenähnliche Eidechsen aus. Partieller Schwund der Kiemen (an der Zahlenreduction der Kiemenblattreiheu sehr deutlich nachzuweisen) findet sich bei vielen Fischen. Ebenso erleiden die verschiedenartigen Secretions- und Excretions- Organe in den verschie- denen Thierklassen, oft bei nahe verwandten Arten, den verschieden- sten Grad der Cataplase. Auch die Fortpflanzung s-Orgaiie liefern uns eine Fülle der tretfUchsten dysteleologischen Beweise, die besonders dann von Interesse sind, wenn die Sexual -Organe bei beiden Geschlechtern in derselben Form angelegt und ursprünghch in der Weise differenzirt sind, dass beim männlichen Geschlecht eine Reihe, beim weiblichen Geschlecht eine andere Reihe von Theilen rudimentär geworden ist, während eine dritte Reihe bei beiden Geschlechtern zur vollständigen Entwickelung gekommen ist. Auch hier wieder sind die Wirbelthiere und nament- lich die Säugethiere von besonderer Wichtigkeit. Hier werden beim Manne die Müllerschen Fäden rudimentär und nur die Reste ihres unteren Endes bilden den Uterus mascuhnus (die Vesicula prostatica), die Reste des oberen Endes die Morgagnische Cyste des Nebenhoden- kopfs, während beim Weibe Uterus und Eileiter aus denselben Mül- lerschen Fäden gebildet werden. Umgekehrt verhalten sich die Wolff- schen Gänge oder die Ausführungsgänge der Primordial -Nieren, wel- che beim. Weibe (als sogenannte „Gartnersche Canäle") rudimentär werden, während dieselben beim Manne sich zu den Saamenleitern ausbilden. Ebenso schwinden auch beim Weibe die ürnieren selbst (oder die Wölfischen Körper), indem als abortiver Rest derselben bloss die Rosenmüllerschen Organe oder Nebeneierstöcke (Parova- ria) übrig bleiben, wogegen aus denselben l)eim Manne sich der Ne- benhoden (Epididymis) entwickelt. Was dagegen die äusseren Geni- talien betriff"!, die ebenso wie die inneren bei beiden Geschlechtern 280 Die Desceudenz - Theorie und die Selections - Theorie. aus derselben gemeinschaftlichen Grundlage sich entwickeln, so ist f die weibliche Clitoris, welche jiem männlichen Penis entspricht, nicht - als ein rudimentäres cataplastisches , sondern als ein werdendes Or- gan zu betrachten. Die Milchdrüsen (Mammae) und die dazu gehöri- gen Milchzitzen (Brustwarzen) der Säugethiere finden sich ebenfalls | bei beiden Geschlechtern der Säugethiere, beim männlichen aber bloss | rudimentär. Bisweilen können sie auch hier wieder in Function tre- ten und sich nochmals anaplastisch entwickeln, wie die bekannten Beispiele von säugenäen Männern und Ziegenböcken beweisen, welche durch A. v. Humboldt und andere sichere Gewährsmänner festge- stellt sind. Bei den alten gemeinsamen Voreltern der Säugethiere haben demnach wahrscheinlich beide Geschlechter die Jungen gesäugt und erst später ist 'zwischen Beiden die Arbeitstheilung des Säuge- geschäfts eingetreten. Im Pflanzenreiche haben die rudimentären Organe, hier ge- wöhnlich als „fehlgeschlagene oder abortirte" bezeichnet, schon seit langer Zeit weit mehr Beachtung als im Thierreiche gefunden , obwohl auch hier die wahre Erklärung der längst bekannten, aber immer falsch gedeuteten Thatsachen erst durch die Descendeuz- Theorie mög- lich geworden ist. In allen Abtheilungen des Pflanzenreichs sind ru- dimentäre Organe, und bei den Cormophyten sowohl Elatt- als Sten- gel-Organe, in entschieden cataplastischera Zustand sehr leicht nach- zuweisen. Doch müssen wir auch hier ebenso wie im Thierreiche wohl unterscheiden zwischen werdenden (anaplastischen) und rück- schreitenden (cataplastischen) Organen, welche letzteren allein den Namen der „rudimentären Organe" in engerem Sinne verdienen. Diese wichtige theoretische Unterscheidung ist oft sehr schwierig, sowohl bei rudimentären Blatt- als Stengel - Organen. Als unzweifelhaft ca- taplastisclie Ernährungs-Organe können wir z. B. die haarförmi- gen, borsteuförraigen und schuppenförmigen Blattrudimente der Cac- teen, des Rnscus, vieler Schmarotzer (Orobanche, Lathraea) etc. ansehen. Aeusserst verbreitet sind cataplastische Blätter in den Fortpflanzungs-Organen (Blüthentheilen) der Phanerogamen, von denen wohl die allermeisten jetzt lebenden Arten dergleichen be- sitzen. Es ist nämlich aus vielen (besonders promorphologischen) Gründen zu vermuthen, dass die homotypische Grundzahl oder die Antimeren - Zahl (bei den Monocotyledonen ganz vorherrschend drei, bei den Dicotyledonen fünf, seltener vier) ursprünglich in allen Blatt- kreisen (Metameren) der Blüthe dieselbe gewesen ist, und dass erst durch nachträgliche Reduction (Cataplase) einzelner Antimeren in ein- zelnen Blattkreisen die betreflFenden Geschlechtsorgane rückgebildet worden oder verloren gegangen sind. Am häufigsten trifft diese phy- logenetische Cataplase die weiblichen, viel seltener die männlichen Ge- X. Dysteleologie oder Unzweckmässigkeitslehre. 281 schlechtstlieile, und von den Blüthenhüllblättern viel häufiger die Krone, als den Kelch. In sehr zahU'eichen Fällen liefert uns noch gegenwärtig die Outogenie der Blüthe den unwiderleglichen Beweis dafür, indem die später verkümmernden Theile in der ursprünglichen Anlage nicht allein vorhanden, sondern auch ebenso gut entwickelt sind, als diejenigen, welche später allein vollständig ausgebildet er- scheinen. Doch ist es auch hier oft sehr schwer, zwischen der blos- sen Hemmungsbildung fd. h. dem Stehenbleiben einzelner Organe auf früherer, niederer Stufe und der einseitigen Ausbildung anderer coor- (linirter Organe) und der wirklichen paläontologischen Rückbildung zu unterscheiden. Die letztere scheint jedoch im Ganzen sehr viel häu- figer als die erstere zu sein. Die besonderen Verhältnisse der natür- lichen Züchtung, welche im Kampfe um das Dasein diese äusserst häufige Reduction einzelner Geschlechtsorgane bedingt haben und noch jetzt beständig begünstigen, sind uns noch ganz unbekannt. Je ge- ringer aber das physiologische, um so höher ist das morphologische Interesse dieser für die Dysteleologie äusserst wichtigen Erscheinungs- Reihen. Die gesammte vergleichende Anatomie der Phanerogamen - Blüthen liefert solche Massen von Beispielen für die phylogenetische Cataplase einzelner Geschlechtsorgane, dass wir hier nur ein paar Exempel für beiderlei Genitalien erwähnen wollen. Die weiblichen Genitalien, welche hierin am meisten ausgezeichnet sind, bieten dergleichen fast überall. Von den drei Griffeln der Gräser ist der eine abortirt, ebenso meist die eine von den drei Narben der Cyperaceen. Von den fünf Griffeln der ümbelliferen sind drei verkümmert, von den fünf Griffeln der Parnassin nur einer. Die Reduction eines Theiles der männlichen Genitalien charakterisirt oft grosse „natürliche Fa- milien" der Phanerogamen. So ist z. B. bei den Labiaten (Didynamia) von den ursprünglichen fünf Staubfäden fast immer einer, bisweilen aber auch drei fehlgeschlagen (z.B. Lycopus. Hosmarimis, Salvia). Ebenso sind bei den Cruciferen (Tetradynamia) fast allgemein von den ursprünglichen acht Staubfäden zwei (der dorsale und ventrale des äusseren Kreises) abortirt, bisweilen aber auch sechs (Lcpidium ru- ilci-ale). Ebenso geht sehr häufig das eine oder andere Blatt aus den vollzähligen Blattkreisen der Blüthenhüllen , des Kelchs und be- sonders der Krone verloren. 3. Dysteleologie der Antimeren. (Lehre von den cataplastischen Individuen dritter Ordnung.) Im Gegensatz zu den rudimentären Organen, welche bisher fast ausschliesslich berücksichtigt wurden, sind die rudimentären Antime- ren bis jetzt noch gar nicht in Erwägung gezogen worden. Es erklärt 282 Die Descendenz - Theorie und die Selectious - Theorie. sich dies einestheils aus der allgemeinen Vernachlässigung, welche diese . für die Morphologie so äusserst wichtigen Theile bisher allgemein er- i fahren haben: anderentheils aus dem Umstände, dass die Cataplase 1 der Antimeren nicht von derjenigen Bedeutung für die Promorphologie f ist, wie ihre Dilferenzirung. Doch ist sie sehr häufig unmittelbar mit dieser verbunden, und wird in vielen Fällen schon dadurch wichtig, ^ dass sie die homotypische Grundzahl abändert. Dies ist insbeson- ; dere sehr häufig bei den Blüthen der Phanerogamen der Fall, wo so- wohl die ursprüngliche Antimeren - Zahl einzelner Metameren (Blatt- kreise) , als auch der gesammten Blüthe durch die mehr oder weniger vollständige Reduction einzelner Antimeren verändert werden kann. Fast alle so eben angeführten Fälle von vollständigem „Abortus" ein- zelner Griffel und Antheren liefern hierfür Beispiele, da ein solches • Fehlschlagen eines Geschlechtsorganes in den meisten dieser Fälle zu- gleich von einem Abortus des ganzen zugehörigen Antimeres (in dem- ^ selben Metamere !) begleitet ist. Seltener wird die ursprüngliche Grund- zahl der ganzen Blüthe durch diese phylogenetische Cataplase einzel- •, ner Antimeren verändert, dann nämlich, wenn alle Blattkreise oder Metameren derselben die gleiche Reduction erleiden. Im Thierreiche findet sich dieser Fall von vollständigem Abortus einzelner Antimeren bei den höchst differenzirten Spatangiden, bei welchen von den fünf ursprünglichen Antimeren das unpaare ventrale bisweilen fast ganz rück- gebildet wird. Ebenso finden wir bei den Siphonophoren von den ui- | sprünglichen vier Antimeren oft zwei rudimentär oder auch ganz ge- schwunden, so dass nur noch zwei davon übrig sind. Sehr allgemein finden wir im Thierreich partielle Degeneration einzelner Antimeren. 4. Dyßteleologie der Metameren. f (Lehre von den cataplastischen Individuen vierter Ordnung.) Weit bedeutender als die phylogenetische Cataplase der Antime- ren , ist diejenige der Metameren. Im Pflanzenreiche äussert sich die- selbe vorzüglich in der Bildung der Dornen (Spinae) und der Ran- ken (Capreoli) und derjenigen sogenannten „unentwickelten Stengel- glieder", deren Vorfahren „entwickelt" waren, die also in der Tliat rückgebildet sind. Als solche müssen wir z.B. zweifelsohne die äus- serst verkürzten Internodien (Metameren) an den ganz niedrigen Sten- geln der Alpenpflanzen und der Polarpflanzen ansehen, die erst in posttertiärer Zeit durch Anpassung an das kalte Elima entstanden sind, während die Vorfahren derselben in dem wärmeren Klima der Tertiärzeit meistens lange und entwickelte Stengelglieder gehabt ha- ben werden. Im Thierreiche ist diese Cataplase ebenfalls sehr ver- breitet und bei allen deutlich „segmentirten oder gegliederten" Thier- - klassen in sehr vielen Graden und Modificationen wahrzunehmen. Be- X. Dysteleologie oder Unzweckmässigkeitslchro. 283 sonders ist es in sehr zahlreichen Personen des Vertebraten- und Ar- ticulaten- Stammes das hintere oder aborale Ende des gegliederten Leibes, welches uns in dem mehr oder minder verkümmerten „Schwänze" eine Reihe von mehr oder minder cataplastischen Metameren erken- nen lässt. Als ausgezeichnete Beispiele können hier eigentlich alle schwanzlosen oder kurzgeschwänzten Wirbelthiere angeführt werden, da deren paläontologische Entwickelung deutlich zeigt, dass ihre ge- meinsamen Vorfahren sämmtlich langgeschwänzt waren; dies gilt also z. B. vom Menschen und den anderen ungeschwänzten Affen, bei denen übrigens das Kudiment des früheren Schwanzes noch in der kurzen Steisswirbelsäule (aus wenigen verkümmerten Vertebrae coccygeae zu- .mimengesetzt) zu erkennen ist ; ebenso sind die kui'zen Schwauzstum- mel der Hasen, der Faulthiere, der meisten Cavicornien etc. offenbar rudimentäre Ketten von Metameren, welche in den langschwänzigen Vorfahren der betreffenden Säugethiere wohl entwickelt waren und sich in vielen verwandten Arten noch erhalten haben. Fast allgemein ist die paläontologische Rückbildung der caudalen Metameren bei den Vögeln , von denen nur ArvhaeopLeryx den langen Schwanz zeigt, den zweifelsohne die gemeinsamen Stammeltern der Vögel und Repti- lien besassen. Unter den Amphibien zeigen uns die ausgebildeten Ecaudaten (Frösche, Kröten) den höchsten Grad von Verkümmerung der langen Metameren -Kette, und dieser Fall ist besonders desshalb sehr bemerkenswerth, weil uns hier die Ontogenie den handgreiflichen Beweis von der phylogenetischen Cataplase derselben liefert. Denn die Larven der schwanzlosen Amphibien besitzen noch sämmtlich den langen, aus zahlreichen Metameren zusammengesetzten Schwanz, den ihre nahen Verwandten, die Sozuren (Salamander etc.) zeitlebens be- halten, und den sie mit diesen zusammen von ihren langschwänzigen Vorfahren ererbt haben. Ebenso unzweifelhaft zeigt sich die paläon- tülogische Degeneration einer Metameren -Kette in dem rudimentären Schwänze der Krabben oder brachyuren Decapoden, deren nächste Verwandte, die macruren (der Flusskrebs etc.) noch den langen Schwanz behalten haben, den ihre gemeinsamen Vorfahren besassen. Da in sehr vielen Fällen das Schwanzrudiment dieser kurzschwänzi- gen oder schwanzlosen Thiere ohne alle Bedeutung und ganz offen- l)ar ohne jegliche physiologische Function ist , da ferner die Ontogenie in sehr vielen Fällen, im schönsten Einklang mit der Phylogenie, uns die historische Verkümmerung des Schwanzes unmittelbar vor Augen führt, so halten wir auch die rudimentären Metameren, ebenso wie die echten rudimentären Organe, für die stärksten Grundlagen der Dysteleologie, an denen jeder teleologische P>klärungs -Versuch rettungslos zerschellt, während dieselben durch die Descendenz-Theorie ebenso einfach als vollständig causal erklärt werden. 284 Die Descendenz - Theorie und die Selections - Theorie. 5. Dysteleologie der Personen. (Lehre von den cataplastischen Individuen fünfter Ordnung.) Als rudimentäre, verkümmerte oder cataplastische Personen kön- nen wir alle diejenigen Individuen fünfter Ordnung betrachten, welche in allen ihren Theilen eine so bedeutende paläontologische Rückbil- dung erlitten haben, dass ihr gesammter Körperbau weit unvollkom- mener und einfacher ist, als derjenige ihrer viel höher entwickelten Vorfahren. Dass sie in der That von solchen abstammen, wird sehr häufig auf das Bestimmteste durch ihre individuelle Entwickelungs- Geschichte bewiesen, deren frühere Stadien weit vollkommener organi- sirt sind, und meist noch lebendige Erinnerungen an die höher stehen- den Vorfahren erhalten. Die Ursachen der phylogenetischen Reduction sind auch hier, wie bei den meisten Individuen der anderen Ordnungen, Anpassungen der Organismen an einfachere Lebens -Bedingungen, welche zunächst einfachere Ernährungs- Verhältnisse, und durch fortgesetzten Nichtge- brauch der meisten Organe, welche die Beziehungen zur Aussenwelt vermitteln, Verkümmerung derselben, und dadurch des ganzen Körpers herbeiführen. Kein Verhältniss wirkt in dieser Beziehung so mächtig ein, als der Parasitismus, und besonders der innere (Entozoismus) und wir können eigentlich sämmtliche parasitische Organismen als mehr oder minder rückgebildete , rudimentäre Bionten betrachten. Wo diese durch Individuen fünfter Ordnung repräsentirt werden, wie bei den Arthropoden und Cestoden, da können wir dieselben mithin als „rudimentäre oder cataplastische Personen" bezeichnen. Unter den Thieren sind es vorzüglich die Articulaten, sowohl die Arthropoden als die Würmer, welche in ihrer unendlich mannigfaltigen Anpassung an parasitische Lebensweise uns die verschiedensten For- men und Grade der phylogenetischen Cataplase von Personen vor Au- gen führen. Unter den Arthropoden finden wir dergleichen bei den verschiedenen Ordnungen der Insecten, Spinnen (Milben) und ganz besonders der Crustaceen (namentlich bei den parasitischen Copepo- den und Isopoden). Die letzteren sind vorzüglich desshalb von so hohem Interesse, weil uns ihre individuelle Entwickelungsgeschichte, die regressive Metamorphose der höher entwickelten Larven, den handgreiflichen Beweis von ihrer paläontologischen Rückbildung lie- ^| fert und deren Geschichte in kurzen treffenden Zügen erzählt. In | vielen Fällen sinkt hier die reife Person zu einem einfachen, mit Ge- f schlechtsproducten erfüllten Sacke herab, der sich auf die einfachste Weise, fast ohne besondere Ernährungs - Organe, ernährt (die Rhizoce- | phalen, Saccvlinn und Peliognster , Lcrnaea etc.). Dasselbe finden f wir unter den Würmern bei den Acanthocephalen und Cestoden wie- ^ X. Dysteleologie oder Unzweckmässigkeitslehre. 285 der. In ähnlicher Weise zeigen sich aber auch viele parasitische Pflan- zen-Sprossen (Viisriäd, Orohanche etcj in hohem Grade verkümmert. Eine besonderes interessante Form der Cataplase von Perso- nen finden wir bei vielen Thieren mit getrennten Geschlechtern, wo Uald das Männchen bald das Weibchen durch Anpassung an einfachere Kxistenz- Bedingungen (besonders wiederum Parasitismus) einen mehr )der minder bedeutenden Grad von Verkümmerung erlitten hat. Be- kannt sind in dieser Beziehung die „rudimentären Männchen" der Rä- -lerthiere (welchen der Darmcanal der Weibchen fehlt) und einiger liisecten und parasitischen Crustaceen. Bei anderen parasitischen l 'rustaceen sind umgekehrt die Weibchen weit mehr verkümmert als die Männchen, ebenso bei den Strepsipteren (Sfylops, XenosJ und ande- len parasitischen Insecten. In den meisten Fällen liegt hier eine Degeneration beider Geschlechter vor, die nur in dem einen von bei- den einen höheren Grad erreicht hat. Durch vollständige Cataplase des männlichen Geschlechts sind vielleicht diejenigen Fälle von Par- thenogonie zu erklären, in denen überhaupt nur Weibchen in einer Speeles vorkommen, wie bei den Sackträgern (Psychiden). 6. Dysteleologie der Cormen. (Lehre von den cataplastischen Individuen sechster Ordnung.) Die wenigsten und geringfügigsten Beiträge zur Lehre von den rudimentären oder cataplastischen Individuen liefern uns die Indivi- duen der sechsten und höchsten Ordnung, die Stöcke oder Cormen. Kigentlich können wir hier nur die entschieden degenerirten parasiti- ihen Pflanzenstöcke anführen, bei denen sowohl die vergleichende Vnatomie als die Ontogenie beweisen, dass sie degenerirte Nachkom- men von höher entwickelten Vorfahren sind. Dahin gehören z. B. die < Truppen der Orobancheen, Cuscuteen, Cytineen, bei denen die palä- jütologische Rückbildung durch Anpassung an parasitische Lebens- weise sowohl die einzelnen Personen (Sprosse) als auch den ganzen aus ihnen zusammengesetzten Stock in hohem Grade verändert hat. • regenüber den nächstverwandten freilebenden Phanerogamen können fliese parasitischen Stöcke entschieden als rückgebildete gelten, und liaben dieselbe physiologische und morphologische Bedeutung, wie die .iehlgeschlagenen, abortiven, atrophischen" Individuen der anderen Ordnungen. Dagegen tritt, abgesehen von der individuellen Entwicke- lungsgeschichte, die dysteleologische Bedeutung hier mehr in den Hin- t(irgrund. Diese ist immer nur dann ganz klar, wenn die phylogene- tische Degeneration Form - Individuen betroff"en hat, welche subordi- iiirte Bestandtheile von Individuen höherer Ordnung bilden, und hier, wegen mangelnder physiologischer Function, als nutzloser und über- flüssiger Formen - Ballast erscheinen. 286 Die Descendenz- Theorie und die Selections - Theorie. XI. Oecologie und Chorologie. In den vorhergehenden Abschnitten haben wir wiederholt darauf hingewiesen, dass alle grossen und allgemeinen Erscheinungsreihen der organischen Natur ohne die Descendenz -Theorie vollkommen un- verständliche und unerklärliche Räthsel bleiben, während sie durch dieselbe eine eben so einfache als harmonische Erklärung erhalten^). Dies gilt in ganz vorzüglichem Maasse von zwei biologischen Phaeno- men - Complexen , welche wir schliesslich noch mit einigen Worten be- sonders hervorheben wollen, und welche das Object von zwei besonderen, bisher meist in hohem Grade vernachlässigten physiologischen Discipli- nen bilden, von der Oecologie und Chorologie der Organismen ^ ). Unter Oecologie verstehen wir die gesammte Wissenschaft von den Beziehungen des Organismus zur umgebenden Aussenwelt, wohin wir im weiteren Sinne alle „Existenz-Be- dingungen" rechnen können. Diese sind theils organischer, theils anorganischer Natur; sowohl diese als jene sind, wie wir vorher ge- zeigt haben, von der grössten Bedeutung für die Form der Organis- men, weil sie dieselbe zwingen, sich ihnen anzupassen. Zu den an- organischen Existenz -Bedingungen, welchen sich jeder Organismus anpassen muss, gehören zunächst die physikalischen und chemischen Eigenschaften seines Wohnortes, das Klima (Licht, Wärme, Feuchtig- keits- und Iiilectricitäts- Verhältnisse der Atmosphäre), die anorgani- schen Nahrungsmittel, Beschaffenheit des Wassers und des Bodens etc. Als organische Existenz - Bedingungen betrachten wir die sämmt- lichen Verhältnisse des Organismus zu allen übrigen Organismen, mit denen er in Berührung kommt, und von denen die meisten entweder zu seinem Nutzen oder zu seinem Schaden beitragen. Jeder Organis- ? mus hat unter den übrigen Freunde und Feinde, solche, welche seine Existenz begünstigen und solche , welche sie beeinträchtigen. Die Or- ganismen, welche als organische Nahrungsmittel für Andere dienen, oder welche als Parasiten auf ihnen leben, gehören ebenfalls in diese t Kategorie der organischen Existenz -Bedingungen. Von welcher unge- heueren Wichtigkeit alle diese Anpassungs- Verhältnisse für die ge- sammte Formbildung der Organismen sind, wie insbesondere die or- 1) Diese ungeheure mechanisch-causale Bedeutung der D e s cen d e nz- Th e o- rie für die gesammte Biologie, und insbesondere für die Morphologie der Organismen, können wir nicht oft genug und nicht dringend genug den gedankenlosen oder dualistiscli verblendeten Gegnern derselben entgegen halten, deren teleologische Dogmatik nur dariu ihre Stärke besitzt, dass sie alle diese grossen und allgemeinen Erscheinungsreihen der organischen Natur gar nicht zu erklären vermögen. 2) olxo;, 6, der Haushalt, die Lebensbeziehungen; idpa, tq, der Wohnort, der Verbreitungsbezirk. XI. Oecologie und Chorologie. 287 panischen Existenz -Bedingungen im Kampfe um das Dasein noch viel tiefer umbildend auf die Organismen einwirken , als die anorganischen, haben wir in unserer Erörterung der Selections-Theorie gezeigt. Der ausserordentlichen Bedeutung dieser Verhältnisse entspricht aber ihre wissenschaftliche Behandlung nicht im Mindesten. Die Physiologie, welcher dieselbe gebührt, hat bisher in höchst einseitiger Weise fast bloss die Conservations -Leistungen der Organismen untersucht (Er- lialtung der Individuen und der Arten, Ernährung und Fortpflanzung), und von den Relations- Functionen bloss diejenigen, welche die Bezie- hungen der einzelnen Theile des Organismus zu einander und zum Ganzen herstellen. Dagegen hat sie die Beziehungen desselben zur Aussenwelt, die Stellung, welche jeder Organismus im Naturhaushalte, in der Oecouomie des Natur- Ganzen einnimmt, in hohem Grade ver- nachlässigt, und die Sammlung der hierauf bezüglichen Thatsachen der kritiklosen „Naturgeschichte" überlassen, ohne einen Versuch zu ihrer mechanischen Erklärung zu machen. (Vergl. oben S. 236 Anm. und Bd. I, S. 238.) Diese grosse Lücke der Physiologie wird nun von der Selections- Theorie und der daraus unmittelbar folgenden Descendenz - Theorie vollständig ausgefüllt. Sie zeigt uns, wie alle die unendlich compli- cirten Beziehungen, in denen sich jeder Organismus zur Aussenwelt befindet, wie die beständige Wechselwirkung desselben mit allen or- ganischen und anorganischen Existenz -Bedingungen nicht die vorbe- dachten Einrichtungen eines planmässig die Natur bearbeitenden Schö- pfers, sondern die nothwendigen Wirkungen der existirenden Materie mit ihren unveräusserlichen Eigenschaften, und deren continuirlicher Bewegung in Zeit und Raum sind. Die Descendenz -Theorie erklärt uns also die Haushalts -Verhältnisse der Organismen mechanisch, als die nothwendigen Folgen wirkender Ursachen, und bildet somit die monistische Grundlage der Oecologie. Ganz dasselbe gilt nun auch von der Chorologie der Organismen. Unter Chorologie verstehen wir die gesammte Wissen- schaft von der räumlichen Verbreitung der Organismen, von ihrer geographischen und topographischen Ausdehnung über die Erdoberfläche. Diese Disciplin hat nicht bloss die Ausdehnung der Standorte und die Grenzen der Verbreitungs - Bezirke in horizontaler Richtung zu projiciren , sondern auch die Ausdehnung der Organismen oberhalb und unterhalb des Meeresspiegels, ihr Herabsteigen in die Tiefen des Oceans, ihr Heraufsteigen auf die Höhen der Gebirge in verticaler Richtung zu verfolgen. Im weitesten Sinne gehört mit- hin die gesammte „Geographie und Topographie der Thiere und Pflan- zen" hierher, sowie die Statistik der Organismen, welche diese Ver- breitungs-Verhältnisse raathematisch darstellt. Nun ist zwar dieser 288 Die Descendenz - Theorie und die Selections-Theoiie. Theil der Biologie in den letzten Jahren mehr als früher Gegenstand der Aufmerksamkeit geworden. Insbesondere hat die „Geographie der Pflanzen" durch die Bemühungen Alexander von Humboldt's und Frederik Schouw's lebhaftes und allgemeines Interesse erregt. Auch die „Geographie der Thiere" ist von Berghaus, Schmarda und Anderen als selbstständige Disciplin bearbeitet worden. Indessen verfolgten alle bisherigen Versuche in dieser Richtung entweder vor- wiegend oder selbst ausschliesslich nur das Ziel einer Sammlung und geordneten Darstellung der chorologischen That Sachen, ohne nach den Ursachen derselben zu forschen. Man suchte zwar die unmit- telbare Abhängigkeit der Organismen von den unentbehrlichen Exi- stenz-Bedingungen vielfach als die nächste Ursache ihrer geographi- schen und topographischen Verbreitung nachzuweisen, wie sie dies zum Theil auch ist. Allein eine tiefere Erkenntniss der weiteren Ur- sachen, und des causalen Zusammenhangs aller chorologischen Er- scheinungen war unmöglich, so lange das Dogma von der Species- Constanz herrschte und eine vernünftige, monistische Beurtheilung der organischen Natur verhinderte. Erst durch die Descendenz- Theorie, welche das erstere vernichtete , wurde die letztere möglich , und wurde eine ebenso klare, als durchschlagende Erklärung der chorologischen Phaenomene gegeben. Im elften und zwölften Capitel seines Werkes hat Charles Darwin gezeigt, wie alle die unendlich verwickelten und mannichfaltigen Beziehungen in der geographischen und topogra- phischen Verbreitung der Thiere und Pflanzen sich aus dem leitenden Grundgedanken der Descendenz-Theorie in der befriedigendsten Weise erklären, während sie ohne denselben vollständig unerklärt bleiben. Wir verweisen hier ausdrücklich auf jene geistvolle Darstellung, da wir an diesem Orte keine Veranlassung haben, auf den Gegenstand selbst näher einzugehen. Alle Erscheinungen, welche uns die rein empirische Chorologie ' als Thatsachen kennen gelehrt hat — die Verbreitung der verschie- denen Organismen - Arten über die Erde in horizontaler und verti- caler Richtung; die Ungleichartigkeit und veränderhche Begrenzung dieser Verbreitungs - Bezirke ; das Ausstrahlen der Arten von soge- nannten „Schöpfungs- Mittelpunkten"; die zunehmende Variabilität an den Grenzen der Verbreitungs -Bezirke; die nähere Verwandtschaft der Arten innerhalb eines engeren Bezirkes; das eigenthüraliche Ver- hältniss der Süsswasser -Bewohner zu den See -Bewohnern, wie der Inselbewohner zu den benachbarten Festlands-Bewohuern ; die Differen- zen zwischen den Bewohnern der südlichen und nördlichen, wie der östlichen und westlichen Hemispluere — alle diese wichtigen Erschei- nungen erklären sich durch die Descendenz-Theorie als die nothwen- digen Wirkungen der natürlichen Züchtung im Kampfe um das Da- XII. Die Descendenz-Theorie als Fundament der organ. Morphologie. 289 sein, als die mechanischen Folgen wirkender Ursachen. Wenn wir von jener Theorie ausgehend uns ein allgemeines theoretisches Bild von den nothwendigen allgemeinen Folgen der natürlichen Züchtung für die geographische und topographische Verbreitung der Organismen entwerfen wollten, so würden die Umrisse dieses Bildes vollständig mit den Umrissen des chorologischen Bildes zusammenfallen , welches uns die empirische Beobachtung liefert. Wir finden also, dass die thatsächlich existireuden Beziehungen der Organismen zur Aussenwelt, wie sie sich in der gesammten Sum- me der oecologischen und chorologischen Verhältnisse aussprechen, durch die Descendenz-Theorie als die nothwendigen Folgen mechani- scher Ursachen erklärt werden, während sie ohne dieselbe vollkom- men unerklärt bleiben, und wir erblicken in dieser Erklärung einen starken Stützpfeiler der Descendenz-Theorie selbst. Xn. Die Descendenz-Theorie als Fundament der organischen Morphologie. Die Selections-Theorie und die durch sie causal be- gründete Descendenz-Theorie sind physiologische Theo- rieen, welche für die Morphologie der Organismen das un- entbehrliche Fundament bilden. Die Darstellung der beiden Theorieen, welche wir in den vorhergehenden Abschnitten gegeben ha- ben, hielten wir für uuerlässlich , weil wir in denselben — und nur in ihnen allein! — den Schlüssel zum monistischen Verständuiss der Ent- wickeluugsgeschichte, und dadurch zur gesammten Morphologie der Organismen überhaupt finden. Die uuermessliche Bedeutung jener Theo- rieen liegt nach unserer Ansicht darin, dass sie die gesammten Er- scheinungen der Biologie, und ganz besonders der Morphologie der Or- ganismen, monistisch, d. h. mechanisch erklären, indem sie dieselben als die nothwendigen Folgen wirkender Ursachen nachweisen. Die beiden physiologischen Functionen der Anpassung, welche mit der Ernährung, und der Vererbung, welche mit der Fort- pflanzung zusammenhängt, genügen, um durch ihre mechanische Wech- selwirkung in dem allgemeinen Kampfe um das Dasein die ganze Man- nichfaltigkeit der organischen Natur hervorzubringen, welche die ent- gegengesetzte dualistische Weltausicht nur als das künstliche Product eines zweckmässig thätigen Schöpfers betrachtet, und somit nicht er- klärt. Bei den vielfachen Missverständnissen, welche in dieser Hinsicht über die Bedeutung der Selections-Theorie imd der Descendenz-Theorie herrschen, und bei der falschen Beurtheilung , welche dieselben in so weiten 'Kreisen gefunden haben , erscheint es passend, das Verhältniss Haeckel, Generelle Morpholojfie, II. , „ 1 *7 290 Die Descendenz -Theorie und die Selections- Theorie. der beiden Theorieen zu einander, zur Entwickelungsgeschichte und dadurch zur gesamraten Morphologie der Organismen nochmals aus- drücklich hervorzuheben. Die Selections-Theorie von Darwin ist die causale Be- gründung der von Goethe und Lamarck aufgestellten De- scendenz- Theorie. Die erstere zeigt uns, warum die unendlich mannichfaltigen Organismen-Arten sich in der Weise aus gemeinsamen Stammformen durch Umbildung und Divergenz entwickeln, wie es die Descendenz- Theorie behauptet hatte. Wir selbst haben gezeigt, wie die beiden formenden Bildungstriebe, welche Darwin als die beiden Factoren der Selection nachwies, Vererbung und Anpassung, keine be- sonderen, unbekannten und räthselhaften Naturkräfte, sondern ein- fache und nothwendige Eigenschaften der organischen Ma- terie, mechanisch erklärbare physiologische Functionen sind. Es ist möglich, dass neben der natürlichen Züchtung auch andere ähnhche mechanische Verhältnisse in der organischen Natur werden entdeckt wer- den, welche bei der Umwandlung der Speeles mit wirksam sind. In- dessen erscheint uns die natürliche Züchtung vollkommen ausreichend, um die Entstehung der Speeles auf mechanischem Wege zu erklären. Die Descendenz-Theorie ist die causale Begründung der Entwickelungsgeschichte, und dadurch der gesamm- ten Morphologie der Organismen. Wie wir zu dieser höchst wichtigen Erkenntniss gelangt sind, haben die vorhergehenden Capitel gezeigt, und werden die folgenden noch weiter eriäutern. Hier wollen wir nur als besonders wichtig nochmals hervorheben, dass der Grund- gedanke der Descendenz-Theorie, die gemeinsame Abstammung der „verwandten" Organismen von einfachsten Stammeltern, der einzige Gedanke ist, welcher überhaupt die Entwickelung der Organismen und dadurch ihre gesammten Form -Verhältnisse mechanisch erklärt. Es giebt keine andere Theorie und es ist auch keine andere Theorie denkbar, welche uns die gesammten Form-Ver- hältnisse der Organismen erklärt. Hierin finden wir einen Un- terschied zwischen der Descendenz-Theorie und der Selections-Theorie. Die Descendenz-Theorie steht nach unserer Ansicht als einzig mögliche unerschütterlich fest und kann durch keine andere ersetzt werden. Es giebt keine andere Erklärung für die morphologischen Erscheinungen, als die wirkliche Blutsverwandtschaft der Organismen. Eine Vervollkommnung der Descendenz-Theorie kann daher nur insofern stattfinden, als die Abstammung der einzelnen Orga- nismen-Gruppen von gemeinsamen Stammformen im Einzelnen näher bestimmt, und die Zahl und Beschaffenheit der letzteren ermittelt wird Dagegen kann die Selections-Theorie, wie bemerkt, wohl da- durch noch ergänzt werden, dass neben der natürhchen Züchtung XII. Die Descendenz- Theorie als Fundament der organ. Morphologie. 291 andere mechaDische Verhältnisse entdeckt werden, welche in ähnlicher Weise die Umbildung der Arten bewirken oder doch befördern helfen. Die der Descendenz-Theorie entgegengesetzte dua- listische Behauptung, dass jede Art oder Speeles unab- hängig von den verwandten entstanden sei, und dass die Formen-Verwandtschaft der ähnlichen Arten keine Bluts- verwandtschaf t sei, ist ein unwissenschaftliches Dogma, und als solches keiner Widerlegung bedürftig. Es erscheint daher hier keineswegs angemessen, noch weiter auf dieses ganz un- haltbare Dogma einzugehen und die absurden Consequenzen, zu denen' dasselbe nothwendig führt, hervorzuheben. Nur das wollen wir hier noch bemerken, dass gerade in dieser Absurdität und vollständigen Grundlosigkeit des Species-Dogma und der damit zusammenhängenden Schöpfungs-Hypothesen seine innere Stärke liegt. Die Culturgeschichte der Menschheit, und ganz besonders die Religionsgeschichte zeigt uns auf jeder Seite, dass willkürlich ersonnene Dogmen um so fester und tiefer wurzeln , um so sicherer und allgemeiner geglaubt werden , 'je unbegreiflicher sie sind, und je mehr sie sich einer wissenschaft- lichen Beginindung entziehen. Es fehlt dann der gemeinschaftliche Boden, auf welchem der Kampf zwischen Beiden entschieden werden könnte. Zugleich finden alle solche Dogmen eine kräftige Stütze in der Trägheit des Denkvermögens bei den meisten Menschen. Die grosse Mehrheit scheut sich, anstrengenden Gedanken über den tieferen Cau- salnexus der Erscheinungen nachzuhängen und ist froh, wenn ein aus der Luft gegriffenes Dogma sie dieser Anstrengungen überhebt. Dies gilt ganz besonders von den organischen Morphologen, welche von jeher in dieser Beziehung sich vor allen anderen Naturforschern ausgezeich- net haben. Natürlich liegt dies nicht an den Personen , sondern an der Sache selbst. Die Beschäftigung mit der unendlichen Fülle , Man- nichfaltigkeit und Schönheit der organischen Formen, sättigt so sehr ' den Anschauungstrieb (Naturgenuss) der organischen Morphologen, dass darüber der höhere Erkenntnisstrieb meistens nicht zur Entwickelung kömmt. Man begnügt sich mit der Kenntnis s der Formen, statt nach ihrer Erkenntniss zu streben. Der heitere Formen -Genuss tritt an die Stelle des ernsten Formen - Verständnisses. Hieraus und aus der mangelhaften philosophischen Bildung der meisten Morphologen erklärt sich genügend ihr Abscheu gegen den wissenschaftlichen Ernst der Descendenz-Theorie, und ihre Voriiebe für das sinnlose Species- Dogma. Die Annahme einer selbstständigen Erschaffung constanter Speeles und die damit zusammenhängenden dualistisch - teleologischen Vorstellungen wenden sich an transcendentale , vollkonnuen unbegreif- liche, unerklärliche und unerforschliche Kräfte und Processe, und ent- fernen sich somit gänzlich von dem empirischen Boden der Wissenschaft. 19* 292 Die Desceudeuis- Theorie und die Selections - Theorie. Die Descendenz-Theorie und die Selections-Theorie sind keine willkührlichen Hypothesen, sondern vollbe- rechtigte Theorieen. Nicht allein die verblendeten und unver- ständigen Gegner derselben, sondern auch manche treffliche und ver- ständige Anhänger derselben nennen die Descendenz-Theorie eine Hy- pothese i). Diese Bezeichnung müssen wir entschieden verwerfen. Die Descendenz-Theorie behauptet keine Vorgänge, welche nicht empi- risch festgestellt sind, sondern sie verallgemeinert nur die Resultate zahlloser übereinstimmender empirischer Beobachtungen und zieht dar- aus einen mächtigen Inductions-Schluss, welcher so sicher steht, wie jede andere wohl begründete Induction. Eine solche Induction ist aber keine blosse Hypothese, sondern eine vollberechtigte Theorie. Sie verbindet die Fülle aller bekannten Erscheinungen in der organischen Formen -Welt durch einen einzigen erklärenden Gedanken, welcher keiner einzigen bekannten Thatsache widerspricht. Eine Hypothese, wenngleich eine nothwendige, und zugleich eine Hypothese, welche die Schlusskette der gesammten Descendenz-Theorie vervollständigt, ist unsere Annahme der Autogonie, welche im sechsten Capitel des zweiten Buches von uns begründet worden ist. Wir bedürfen dieser Hypothese durchaus, um die einzige Lücke noch auszufüllen, welche die Descendenz-Theorie in dem mechanischen Gebäude der monisti- schen Morphologie gelassen hat. Wir können nicht zweifeln, dass zu irgend einer Zeit des Erdenlebens Moneren durch Autogonie entstan- den sind. Indessen bleibt die Autogonie (und ebenso die Plasmo- gonie als die andere Form der Archigonie), eine reine Hypo- these, weil wir darin einen Naturprocess, den Uebergang lebloser Materie in belebten Stoif, annehmen, welcher bis jetzt noch durch keine sichere Beobachtung eine empirische Begründung erhalten hat. 1) In einer der neuesten, so eben erschienenen Kritiken des „Darwinismus" (Preussische Jahrbücher, 1866, p. 272 und 404) verurtheilt Jürgen Bona Meyer den- selben, weil er eine „schlechte Hypothese" ist. Wir verweisen auf diese KrUik besonders desshalb , weü sie zeigt, wie gänzlich schief jede philosophische Beurthei- lung der Descendenz-Theorie ausfallen muss , die sich nicht auf gründliche empiri- sch e Ke nntn is s e auf dem gesammten Gebiete der organischen Morphologie stutzt Fast alle Thatsaehen, die der Verfasser anführt, kennt er nur halb und oberflächlich, und kann daher auch aus ihrer Verknüpfung nur ein ganz schiefes Bild gewinnen. Der Ver- fasser besitzt, wie er in seiner trefflichen Schrift über die „Thierkunde des Aristoteles - gezeigt hat, weit umfassendere morphologische und speeieU zoologische Kenntnisse, als sie sonst bei speculativen Plülosophen zu finden sind. Wenn er trotzdem zu einer so ganz- lich verfehlten Auffassung, oder vielmehr zu gar keinem V.rständniss der Descendenz- Theorie gelangt ist, zeigt er nur, dass jene Kenntnisse nicht gründlich sind. Um so we- niger dürfen wir uns wundern, in den hohlen Kritiken, welche andere, aller empiri- schen Basis entbehrende Philosophen gegen den „Darwinismus", diese »«^^^f J^JP"" these" (!), geschleudert haben, den erheiterndsten Unsinn und die unglaubhchsten Proben von ünkenntniss der realen Natur zu finden. XIL Die Descendeiiz-Theorie als Fundament der orgau. Morphologie. 298 Ganz anders verliälj: es sich mit der Desceiidenz- Theorie und der Se- lectioiis- Theorie, welche sich in jedem Punkte auf eine Fülle von em- pirischen Erfahrungen stützen, und für welche die gesaramte Morpho- logie der Organismen, sobald man ihre Thatsachen - Ketten objectiv beurtheilt und richtig verknüpft, eine einzige zusammenhängende Be- weiskette herstellt. Daher wissen auch die kenntnissreicheren Mor- phologen, welche Gegner derselben sind, keine Thatsache gegen die- selbe vorzubringen, sondern nur Einwürfe, welche theils Ausflüsse 1}lin- den Autoritäten -Glaubens, theils consequente Folgen einer falschen dualistisch -teleologischen Gesammtauffassung der organischen Natur sind Die Selections-TheorieDarwin's bedarf zu ihrer vollen Gültigkeit keine weiteren Beweise. Sie stützt sich auf allge- mein anerkannte physiologische Processe , die sich gleich allen ande- ren auf mechanische Ursachen zurückführen lassen. Wer überhaupt 1) Eine vergleichende Zusammenstellung der verschiedenen antidarwinistischen ür- theile ergiebt eben so erheiternde als belehrende Eesultate. Doch können wir hier nicht näher auf dieselben eingehen und versparen uns dies auf eine andere Gelegenheit. Auf der einen Seite finden wir bei ausgebildetem Verstände und gesunder Urtheilsfähigkeit grosse ünkenntuiss der Thatsachen, auf der anderen Seite bei reicher Kenntniss derselben völlige Unfähigkeit, sie richtig zu beurtheilen und aus ihrel- Verknüpfung allgemeine Schlüsse zu ziehen. Sehr oft endlich sind sowohl Thatsachen -Kenntniss als Urtheilsfähig- keit vorhanden; aber Vorurtheile , die seit vielen Generationen ererbt, und durch lange Vererbung befestigt sind, hindern die Entwickelung einer vernünftigen Erkenntniss. Die ausserordentliche Stärke, welche der A u torit äts - Glaub e an das gelehrte Dogma be- sitzt, zeigt sich hier in seiner ganzen Macht. Da der Verstand nichts gegen Darwin und seine Lehre auszurichten vermag, so appellirt das autoritätsbedürftige Gefühl an den ..Glauben", und an die „allgemeine Meinung der Menschheit von Alters her". Für letz- teres nur ein Beispiel. Einer der eifrigsten Gegner Darwins, Kefer stein, Pro- fessor der Zoologie (nicht der Theologie!) in Göttingen, äussert sich in den „Göttinger gelehrten Anzeigen" (1861, p. 1875 und 1862, p. 198) folgendermaassen über die ,, neuer- dings von Darwin ausgesprochenen Ansichten, welche bei allgemeiner Theilnahme und dem grössten Aufsehen jetzt von Einigen als eine besondere Lehre der Naturwissenschaf- ten (!) unter dem Namen Darwinismus betrachtet werden, und selbst in Deutschland nicht ohne Anhänger zu sein scheinen (!)" : — „Es erfüllt den strebenden Naturforscher mit Be- ruhigung, einen Mann wie Agassiz, durch die grossartigsten Arbeiten in der Zoologie zur Autorität (!) geworden, eine Lehre unbedingt verwerfen zu sehen, die den Jahr- hunderte langen Fleiss der Systematiker auf einmal zu Schanden machen wollte (!!), und zu sehen, dass also die durch Generationen ausgebildeten Ansichten und zugleich die allgemeine Meinung der Menschheit von Alters her(!!) fester stehen , als die , wenn auch mit noch so grosser Beredsamkeit ausgeführten Lehren eines Einzelnen (!)." Wenn wir nicht irren, so war früher auch ,,die allgemeine Meinung der Menschheit von Alters her," dass die Sonne sich um die Erde drehe, dass die Krankheiten Strafen der Gottheit für die sündigen Menschen , und .dass die Peti'cfactcn ,, Naturspiele", so wie die Walfische Fische seien. Und doch sind diese „durch Generationen ausgebilde- ten Ansichten" auf den bösen Anfang des Zweifels „eines Einzelnen" hin jetzt wohl ziemlich allgemein verlassen. 294 Die Descendenz- Theorie und die Selections - Theorie. eines logischen Schlusses aus anerkannt richtigen Prämissen fähig ist, kann ihr seine Anerkennung nicht vorenthalten. Wie selten aber sol- che Logik unter den „empirischen" Naturforschern und unter den scho- lastischen „Gelehrten" sind, beweisen am besten die zahlreichen Ver- dammungs-Urtheile über Darwin 's bewunderungswürdiges Werk, die, wie Huxley sehr richtig sagt, „keineswegs das darauf verwendete Pa- pier Werth sind." Die Descendenz-Theorie Lamarck's und Goethe's bedarf zu ihrer vollen Gültigkeit keine weiteren Beweise. Wer sich auf Grund aller bisherigen Erfahrungen noch nicht von ihrer Wahr- heit überzeugen kann, den wird auch keine einzige mögliche weitere „Entdeckung" davon überzeugen. Abgesehen davon, dass Darwin 's Selections -Theorie eine vollkommen ausreichende causal - mechanische Begründung derselben liefert, finden wir die stärksten Beweise für ihre Wahrheit in der gesammteu Morphologie und Physiologie der Organis- men. Alle uns bekannten Thatsachen dieses Wissenschafts-Gebiets, na- mentlich alle Erscheinungen der paläontologischen, individuellen und sy- stematischen Entwickelung , sowie die äusserst wichtige dreifache Pa- rallele zwischen diesen drei Entwickelungsreihen, die gesammte Dyste- leologie , Oecologie und Chorologie — kurz alle allgemeinen Phänomen- Complexe der organischen Natur sind uns nur durch den einen Grund- gedanken der Descendenz-Theorie verständlich und werden durch ihn vollkommen erklärt. Ohne ihn bleiben sie gänzlich unverständlich und unerklärt. Andererseits existirt in der gesammten organischen Natur keine einzige Thatsache, welche mit demselben in unvereinbarem Wi- derspruch steht. Wir haben also bloss die Wahl zwischen dem völligen Verzicht auf jede wissenschaftliche Erklärung der organischen Natur-Erscheinungen und zwischen der unbedingten Arinahme der Descendenz-Theorie. Ontogenetische Thesen. 295 Zwanzigstes Capitel. Ontogenetische Thesen. ..Kein Phänomen erklärt sich aus -sieh selbst; nur viele sammen überschaut, methodisch geordnet, geben zuletzt etwas, für Theorie gelten könnte." Goethe. I. Thesen von der mechanischen Natur der organischen ' Entwickelung. 1. Die Entwickelung der Organismen ist ein physiologischer Pro- cess, welcher als solcher auf mechanischen „wirkenden Ursachen", d. h. auf physikalisch -chemischen Bewegungen beruht i). 2. Die Bewegungs- Erscheinungen der Materie, welche jeden phy- siologischen Entwickelungs-Process veranlassen und bewirken, sind in letzter Instanz Anziehungen der Massen -Atome und Abstossungen der Aether -Atome, aus welchen die organische Materie ebenso wie die an- organische zusammengesetzt ist. 1) Indem wir am Schlüsse dieses und des folgenden Buches eine Anzahl von allge- meinen Grundsätzen der organischen Entwickelungsgeschichte in Form von „Thesen", zusammenstellen, wiederholen wir, was wir bereits am Eingange des elften Capitels in Betreff unserer morphologischen „Thesen" bemerkt haben (Bd. I, S. 364 Anmerkung): „Wir wollen damit nicht sowohl eine „Gesetzsammlung der organischen Mor- phologie" begründen, als vielmehr einen Anstoss und Fingerzeig zu einer solchen Be- gründung geben. Eine Wissenschaft, die noch so sehr in primis cuuabulis liegt, wie die Mor- phologie der Organismen, muss noch bedeutende Metamorphosen durchmachen, ehe sie es wagen kann , für ihre aUgemeinen Sätze der Rang von unbedingten , ausnahmslos wirken- den Naturgesetzen in Anspruch zu nehmen. Statt daher das Schlusscapitel jedes unserer vier morphologischen Bücher mit dem mehr versprechenden als leistenden Titeh „Theo- rieen und Gesetze" zu schmücken, ziehen wir es vor, die Primordien derselben, ge- mischt mit einigen allgemeinen Regeln, als „Thesen" zusammenzufassen, deren weitere Entwickelung zu Gesetzen wir von unseren Nachfolgern hoffen." Was speciell die ontogenetischen Thesen des zwanzigsten Capitels betrifft, so heben wir hier nur die wichtigsten allgemeinen Sätze nochmals hervor , da wir im fünften Buche bereits mehr, als es in den übrigen Büchern uns möglich war, eine Anzahl von festste- henden einzelnen Gesetzen formulirt und in bestimmter Form präcisirt haben. In Betreff Ontogenetische Thesen, 3. Die Entwickelung der Organismen äussert sich in einer conti- nuirlichen Kette von Formvcränderungen der organischen Materie, wel- che sämmtlich auf derartige physilcalisch- chemische Bewegungen, als auf ihre wirkenden Ursachen zurückzuführen sind. 4. Gleich allen wahrnehmbaren JBewegungs - Erscheinungen in der Natur, also auch gleich allen physiologischen Erscheinungen, welche wir überhaupt kennen, erfolgen auch diejenigen der organischen Ent- wickelung mit absoluter Nothwendigkeit und sind bedingt durch die ewig constauten Eigenschaften der Materie und die beständige Wech- selwirkung ihrer wechselnden Verbindungen. 5. Alle organischen Entwickelungs- Bewegungen gehen unmittelbar und zunächst aus von den labilen und höchst zusammengesetzten Koh- lenstoff-Verbindungen der Eiweissgruppe, welche als „Plasma» der Pla- stiden das active materielle Substrat oder den „Lebensstoff" im Körper aller Organismen bilden. 6. Es existirt weder ein „Ziel", noch ein „Plan" der organischen Entwickelung. II. Thesen von den physiologischen Functionen der organischen Entwickelung. 7. Die physiologischen Functionen, auf denen ausschliesshch alle organische Entwickelung beruht, lassen sich sämmtHch als Theiler- scheinuugen auf die allgemeine organische Fundamental - Function der Selbsterhaltung oder der Ernährung im weiteren Sinne zurückführen. 8. Die physiologischen Entwickelungs-Functionen, auf welche sich alle während der Morphogenese eintretenden Formveränderungen, als auf ihre bewirkenden Ursachen zurückführen lassen, sind die fünf Functionen der Zeugung , des Wachsthums, der Verwachsung, der Dif- ferenzirung und der Degeneration. 9. Die erste Entwickelungs - Function , die Zeugung (Generatio) oder die Entstehung des morphologischen Individuums, mit welcher jeder organische Entwickelungs - Process beginnt, ist entweder Urzeu- gung (Archigonia, Generatio spontanea) oder Elternzeugung (Fortpflan- zung, Tocogonia, Propagatio, Generatio parentalis), und im letzteren Falle stets mit der Vererbung verknüpft, und als ein Ernährungs-Pro- cess aufzufassen, w^elcher über das individuelle Maass hinausgeht. dieser einzelnen „individueUen Entwiekelungs-Gesetze", welche zum grossen Theil übrigens ebenso gut als „phyletische Entwickelungsgesetze" im sechsundzwanzigsten Capitel des sechsten Buches stehen Itönnten , verweisen wir ausdrücklich auf die einzelnen Abschnitte des vorhergehenden Textes , und vorzüglich des neunzehnten Capitels. SpecieU sind zu vergleichen: I. über die Gesetze der (ungeschlechtlichen und geschlechtlichen) Fortpflan- zung S. 70, 71; II. über die Gesetze der Diiferenzirung der Zeugungskreise S. 83, 84; III. über die Gesetze der Vererbung S. 170 — 190; IV. über die Gesetze der Anpassung S. 192 — 219; V. über die Gesetze der (natürlichen und künstlichen) Züchtung S. 248. Ontogeuetischo Thesen. 297 10. Die zweite Entwickeluiigs- Function, das Wachsthum (Cre- scentia), welches als einfaches oder zusammengesetztes Wiichsthum jeden organischen Entwickelungs-Process, mindestens in der ersten Zeit, be- gleitet, ist eine Ernährungs-Erscheimmg, welche mit Volumszunahme des Individuums verbunden ist. 11. Die dritte Entwickelungs - Function , die Differenziruug (Di- vcrgentia), welche sich in einer Hervorbildung ungleichartiger Theile aus gleichartiger Grundlage äussert, ist eine Ernähruugs-Veränderung, welche durch die Anpassung an die Aussenwelt, d. h. durch die mate- rielle Wechselwirkung der Materie des organischen Individuums mit der umgebenden Materie bedingt ist. 12. Die vierte Entwickelungs - Function , die Entbildung (Degene- ration) , welche zuletzt stets das Ende der individuellen Eutwickelung herbeiführt, ist eine Ernährungs- Veränderung, welche mit Abnahme der physiologischen Functionen verbunden ist. 13. Die fünfte Entwickelungs - Function , die Verwachsung (Con- crescentia) welche gleich den vorigen die morphologischen Individuen aller sechs Ordnungen betreffen kann, besteht in einer secundären Ver- bindung von mehreren vorher getrennten Individuen einer und dersel- ben morphologischen Ordnung, durch welche ein neues Individuum nächst höherer Ordnung entsteht^). ni. Thesen von den organischen Bildungstrieben. 14. Die Formveränderungen, welche die organische Materie wäh- rend ihrer Entwickelung durchläuft, sind das Kesultat der Wechsel- wirkung zweier entgegengesetzter Bildungstriebe oder Gestaltungskräfte, eines inneren und eines äusseren Bildungstriebes ^). 15. Der innere Bildungstrieb oder die innere Gestaltungskraft (Vis plastica interna) ist die unmittelbare Folge der materiellen' Zu- sammensetzung des Organismus, und daher mit der Erblichkeit (Ata- vismus) identisch. 16. Der äussere Bildungstrieb oder die äussere Gestaltungskraft (Vis plastica externa) ist die unmittelbare Folge der Abhängigkeit, in 1) In der Charakteristik der Entwickelungs - Functionen , welche wir im siebzehnten Capitel (p. 72) gaben, haben wir bloss die vier erstgenannten als die wichtigsten Func- tionen der Ontogenese angefühi't. Wir schliessen hier die weniger wichtige und weniger bekannte Function der Concrescenz oder Verwachsung als eine fünfte denselben an, um die Aufmerksamkeit auf diesen interessanten Entwickelungs - Vorgang mehr hinzideu- ken. Vergl. darüber S. 147 Anmerkung. 2) Vergl. über die Natur der beiden Bildungstriebe, welche nicht allein bei der Entstehung jedes individuellen Organismus , sondern auch bei der Entstehung jeder indi- viduellen anorganischen Form wirksam sind, das fünfte Capitel, woselbst wir die beiden entgegenwirkenden Gestaltungskräfte als das nothwendige Eesultat der allgemeinen Wech- selwirkung der gesammten Materie nachgewiesen haben (Bd. I, S. löA ff.). 298 Ontogenetische Thesen. welcher die materielle Zusammensetzung des Organismus von derjeni- gen der umgebenden Materie ,der Aussenwelt) steht, und daher mit der Anpassimgsfähigkeit (Variabilitas) identisch. 17. Die beiden fundamentalen Bildungstriebe, welche durch ihre beständige Wechselwirkung die jeden organischen Entwickelungs-Process begleitenden Form -Veränderungen bedingen, sind demnach nicht ver- schieden von den oben angeführten Entwickelungs- Functionen, da die Vererbung unmittelbar durch die Fortpflanzung, die Anpassung dage- gen unmittelbar durch die Ernährung des Organismus vermittelt wird. 18. Alle Charaktere der Organismen sind entweder ererbte (durch Heredität erhaltene) oder angepasste (durch Adaptation erworbene) Eigenschaften. 19. Die ererbten Eigenschaften (Characteres hereditarii) erhält der Organismus durch Vererbung von seinen Eltern und Voreltern mittelst der Fortpflanzung. 20. Die angepassten Eigenschaften (Characteres adaptati) erwirbt der Organismus entweder unmittelbar durch seine eigene Anpassung oder mittelbar durch Vererbung der Anpassungen seiner Eltern und Voreltern. 21. Die erblichen Charaktere sind in letzter Instanz Wirkungen der materiellen Zusammensetzung der Eiweissverbiudungen , welche das Plasma der constituirenden Piastiden bilden, und welche in gewisser Beharrlichkeit durch alle Generationen übertragen werden. 22. Die angepassten Charaktere sind in letzter Instanz die Fol- gen der Wechselwirkung zwischen den Eiweissverbiudungen der Pla- stiden des Organismus und den damit in Berührung kommenden Ma- terien der Umgebung, welche in allen Generationen eine gewisse Ver- schiedenheit zeigen. 23. Die erblichen Charaktere zeigen sich vorzugsweise in der Bildung morphologisch wichtiger, physiologisch dagegen unwichtiger Körpertheile; sie erscheinen daher nur bei blutsverwandten Organismen ähnlich, als Homologieen. 24. Die angepassten Charaktere zeigen sich vorzugsweise in der Bildung physiologisch wichtiger, morphologisch dagegen unwichtiger Körpertheile; sie erscheinen daher auch bei nicht blutsverwandten Or- ganismen ähnlich, als Analogieen. 25. Im Laufe der individuellen Entwickelung treten die erblichen Charaktere im Ganzen früher als die angepassten auf, und je früher ein bestimmter Charakter in der Ontogenese auftritt, desto weiter liegt die Zeit zurück, in welcher er von den Vorfahren erworben wurde, und desto bedeutender ist sein morphologischer Werth. 26. Für die Erkenntniss der Blutsverwandtschaft verschiedener Ontogenetische Thesen. 299 Organismen haben nur die erblichen oder homologen Charaktere, nicht die angepassten oder analogen Charaktere Bedeutung. IV. Thesen von den ontogeuetischen Stadien. 27. Die Ontogenesis oder bioutische Entwickelung , d. h. die Ent- wckelung jedes Bionten oder physiologischen Individuums ist ein phy- siologischer Process von bestimmter Zeitdauer. 28. Die Zeitdauer der individuellen Entwickelung jedes Bionten wird durch die Gesetze der Vererbung und Anpassung bestimmt, und ist lediglich das Resultat der Wechselwirkung dieser beiden physiolo- gischen Factoren. 29. In dem zeitlichen Verlaufe der individuellen Entwickelung lassen sich allgemein drei verschiedene Abschnitte oder Stadien unter- scheiden, welche mehr oder minder deutlich von einander sich ab- setzen. 30. Jedes Stadium der individuellen Entwickelung ist durch einen bestimmten physiologischen Entwickeluugs- Process charakterisirt, wel- cher in demselben zwar nicht ausschliesslich, aber doch vorwiegend wirksam ist. 31. Das erste Stadium der biontischen Entwickel-ung , das Jugend- alter oder die Aufbildungszeit, Anaplasis, ist durch das Wachsthum des Individuums charakterisirt. 32. Das zweite Stadium der biontischen Entwickelung , das Reife- alter oder die Umbildungszeit, Metaplasis, ist durch die Ditferenzirung des Individuums charakterisirt, 33. Das dritte Stadium der biontischen Entwickelung, das Grei^ senalter oder die Rückbildungszeit, Cataplasis, ist durch die Degene- ration des Individuums charakterisirt. V. Thesen von den drei genealogischen Individualitäten. 34. Da die Lebensdauer der organischen Individuen eine be- schränkte ist, die durch sie repräsentirte bestimmte organische Form (Art) aber sich durch die Fortpflanzung der Individuen erhält, so müssen wir bei Betrachtung der organischen Entwickelung unterscheiden zwi- schen derjenigen der Bionten und derjenigen der Arten. 35. Die individuelle odei' biontische Entwickelung (Ontogenesis) umfasst die gesammte Reihe der Formveränderungen, welche das phy- siologische Individuum (Bion) und der durch eines oder mehrere ver- schiedene Bionten repräsentirte Zeugungskreis (Cyclus generationis) während der ganzen Zeit seiner individuellen Existenz durchläuft. 36. Die paläontologische oder phyletische Entwickelung (Phyloge- nesis) umfasst die gesammte Reihe der Form Veränderungen , welche die Art (Speeles) und der durch eine oder mehrere verschiedene Ar- 300 Oütogenetisclie Thesen. teil repräsentirte Staiiini (Phylum) während der ganzen Zeit seiner individuellen Existenz durchläuft. 37. D.er Zeugungskreis (Cyclus generationis) bildet entweder als Spaltungskreis (Cyclus monogenes) oder als Eikreis (Cyclus amphige- nes) die genealogische Individualität erster Ordnung. 38. Die Art (Species) bildet als die Summe aller gleichen Zeu- gungskreise die genealogische Individualität zweiter Ordnung. 39. Der Stamm (Phylum) bildet als die Summe aller blutsver- wandten Arten die genealogische Individualität dritter Ordnung. VI. Thesen von dem Causalnexus der biontischen und der phyletischen Entwickelung. 40. Die Ontogenesis oder die Entwickelung der organischen Indi- viduen , als die Reihe von Formveränderungen , welche jeder indivi- duelle Organismus während der gesammten Zeit seiner individuellen Existenz durchläuft, ist unmittelbar bedingt durch die Phylogenesis oder die Entwickelung des organischen Stammes (Phylon) , zu welchem derselbe gehört. 41. Die Ontogenesis ist die kurze und schnelle Recapitulation der Phylogenesis, bedingt durch die physiologischen Functionen der Ver- erbung (Fortpflanzung) und Anpassung (Ernährung). 42. Das organische Individuum (als morphologisches Individuum erster bis sechster Ordnung) wiederholt während des raschen und kur- zen Laufes seiner individuellen Entwickelung die wichtigsten von den- jenigen Form Veränderungen , welche seine Voreltern während des lang- samen und langen Laufes ihrer paläontologischen Entwickelung nach den Gesetzen der Vererbung und Anpassung durchlaufen haben. 43. Die vollständige und getreue Wiederholung der phyletischen durch die biontische Entwickelung wird verwischt und abgekürzt durch sccundäre Zusammenziehung, indem die Ontogenese einen immer ge- raderen Weg einschlägt; daher ist die Wiederholung um so vollständi- ger , je länger die Reihe der successiv durchlaufenen Jugendzustände ist. 44. Die vollständige und getreue Wiederholung der phyletischen durch die biontische Entwickelung wird gefälscht und abgeändert durch secundäre Anpassung, indem sich das Bion während seiner individuellen Entwickelung neuen Verhältnissen anpasst ; daher ist die Wiederholung um so getreuer, je gleichartiger die Existenzbedingungen sind, unter denen sich das Bion und seine Vorfahren entwickelt haben. Sechstes Buch. iZweiter Theil der allgemeinen Entwickelungsgeschichte. G-enerelle Phylogenie oder Allgemeine Entwickelungsgeschichte der organischen Stämme. (Genealogie und Paläontologie.) 1 „Die Kenntniss der organischen Naturen überliaupt, die Kenntniss der vollkomm- neren, welche wir im eigentlichen Sinne Thiere und besonders Säugethiere nennen, der Einblick, wie die allgemeinen Gesetze bei verschieden beschränkten Naturen wirksam sind, die Einsicht zuletzt, wie der Mensch dergestalt gebaut sei, dass er so viele Eigen- schaften und Naturen in sich vereinige und dadurch auch schon physisch als eine kleine Welt, als ein Repräsentant der übrigen Thiergattungen existire alles dieses kann nur dann am deutlichsten und schönsten eingesehen werden, wenn wir nicht, wie bisher lei- der nur zu oft geschehen , unsere Betrachtungen von oben herab anstellen und den Mensehen im Thicre suchen, sondern wenn wir von unten herauf anfangen und das einfachere Thier im zusammengesetzten Menschen endlich wieder entdecken. „Es ist hierin schon unglaublich viel gethan ; allein es liegt so zerstreut, so manche falsche Bemerkungen und Folgerungen verdüstern die wahren und echten, täglich kommt zu diesem Chaos wieder neues WaJn-e und Falsche hinzu, so dass weder des Menschen Kräfte, noch sein Leben hinreichen, Alles zu sondern und zu ordnen, wenn wir nicht den Weg , den uns die Naturhistoriker nur äusserlich vorgezeichnet , auch bei der Zer- gliederung verfolgen, und es möglich machen, das Einzelne in übersehbarer Ordnung zu erkennen, um das Ganze nach Gesetzen, die unserem Geiste gemäss sind, zusammen zu bilden. ,,Man wendete auch hier, wie in anderen Wissenschaften, nicht genug geläuterte Vorstellungsarten an. Nahm die eine Partei die Gegenstände ganz gemein und hielt sich ohne Nachdenken an den blossen Augenschein, so eilte die andere, sich durch Annahme von Endursachen aus der Verlegenheit zu helfen ; und wenn man auf jene Weise niemals zum Begriff eines lebendigen Wesens gelangen konnte , so entfernte man sich auf diesem Wege von eben dem Begriffe, dem man sich zu nähern glaubte. „Ebenso viel und auf gleiche Weise hinderte die fromme Vorstellungsart, da man die Erscheinungen der organischen Welt zur Ehre Gottes unmittelbar deuten und an- wenden wollte. ,, Sollte es denn aber unmöglich sein, da wir einmal anerkennen, dass die schaffende Gewalt nach einem allgemeinen Schema die vollkommneren organischen Naturen erzeugt und entwickelt, dieses Urbild , wo nicht den Sinnen , doch dem Geiste darzustellen ? Hat man aber die Idee von diesem Typus gefasst, so wird man erst recht einsehen, wie unmöglich es sei, eine einzelne Gattung als Kanon aufzustellen. Das Einzelne kann kein Muster vom Ganzen sein , und so dürfen wir das Muster für Alle nicht im Einzel- nen suchen. Die Classen , Gattungen , Arten und Individuen verhalten sich wie die Fälle »um Gesetz; sie sind darin enthalten, aber sie enthalten und geben es nicht." Goethe (1796). Einuildzwaiizigstes Capitel. Begriff und Aufgabe der Phylogenie. V „Eine. innere und ursprüngliche Gemeinschaft liegt aller Orga- nisation zu Grunde; die Verschiedenheit der Gestalten dagegen entspringt aus den nothwendigen Beziehungs- verhältnissen zur Ausseuwelt, und man darf daher eine ur- sprüngliche, gleichzeitige Verschiedenheit und eine unaufhaltsam fortschreitende Umbildung mit Recht annehmen , um die eben so constanten als abweichenden Erscheinungen begreifen zu können." Goethe (1824). I. Die Phylogenie als Entwickelungsgeschichte der Stämme. Die Phylogenie oder Entwickelungsgescliichte der or- ganischen Stämme ist die gesammte Wissenschaft von den Formveränderungen, welche die Phylen oder organischen Stämme während der ganzen Zeit ihrer individuellen Existenz durchlaufen, von dem Wechsel also der Arten oder Spe- eles, welche als successive und coexistente blutsverwandte Glieder je- den Stamm zusammensetzen. Die Aufgabe der Phylogenie ist ^ mithin die Erkenntniss und die Erklärung der specifi- schen Formveränderungen, d. h. die Feststellung der bestimm- ten Naturgesetze, nach welchen alle verschiedenen organischen Arten oder Speeles entstehen, welche als divergente Nachkommen einer ein- zigen, gemeinsamen, autogenen Urform ein einziges Phylon consti- tuiren. Begriff und Aufgabe der Phylogenie im Allgemeinen haben wir bereits im ersten Buche (Bd. I, S. 57) festgestellt, wo wir als organi- schen Stamm oder Phylon „die Summe aller Organismen bezeichneten, welche von einer und derselben einfachsten, spontan entstandenen Stamm- form ihren gemeinschaftlichen Ursprung ableiten". Die Gesammtheit aller biologischen Erscheinungen führt uns, wenn wir sie von dem all- gemeinen und .vergleichenden Standpunkte aus richtig würdigen, mit Begriff uncl Aufgabe der Phylogenie. zwingender Nothwendigkeit zu dem iriductiven Schlüsse, dass alle die unendlich manniclifaltigen Formen von Thieren, Protisten und Pflanzen, welche wir als ausgestorbene oder noch lebende Arten unterscheiden^ die^ allmählich veränderten und umgeformten Nachkommen einer sehr geringen Anzahl (vielleicht einer einzigen) autogoner Stammformen sind. Diese Stammformen können wir uns nur als Organismen der einfach- sten Art, als structurlose homogene Eiweissklumpen oder Moneren denken, gleich den Protogeniden oder Protamoeben. Durch sehr lang- same und allmähliche Form-Veränderungen, welche durch die physio- logischen Gesetze der Vererbung und Anpassung geregelt wurden, ent- wickelten sich aus ihnen innerhalb unermesslich langer Zeiträume die äusserst vollkommen organisirten Wesen, welche wir jetzt in den höch- sten Ausbildungsstufen des Thier - und Pflanzenreichs bewundern. Wie dieser Grundgedanke der Descendenz- Theorie durch physiologische Er- wägungen vollständig begründet, wie er aus ihnen als nothwendig nach- gewiesen werden kann, haben wir in der vorhergehenden Darstellung von Darwin's Selections- Theorie gezeigt. Die beiden physiologischen Functionen der Vererbung und der Anpassung, jene auf die Fortpflan- zung, diese auf die Ernährung als Fundamental -Function gestützt, reichen in ihrer beständigen und mächtigen Wechselwirkung vollstän- dig aus, um unter den gegebenen irdischen Existenz - Bedingungen die unendliche Mannichfaltigkeit der organischen Formen hervorzubringen. In langsamem, aber ununterbrochenem Wechsel folgen Arten auf Ar- ten, und so bietet die gesammte organische Bevölkerung der Erde zu allen Zeiten einen verschiedenen Anblick dar. Doch kann die richtige Einsicht in diese beständige Formen- Veränderung der organischen Welt nur durch allgemeine Vergleichung aller grossen Erscheinungsreihen derselben gewonnen werden. In jedem einzelnen Zeitmoment betrach- tet, erscheint uns die Gesammtheit der lebendigen Bevölkerung der Erde nicht als eine derartige Kette wechselnder und vergänglicher Formen, sondern als Complex einer bestimmten Anzahl von stabilen und von einander unabhängigen Organisations-Formen, welche wir als verschiedene Arten oder Speeles zu unterscheiden gewohnt sind. Wenn wir also auch allgemein und mit Recht als die Aufgabe der Phylogenie die Entwickelungsgeschichte der organi- schen Stämme oder Phylen bezeichnen können, so wird dennoch der reale Inhalt dieser Disciplin eigentlich die concrete Entwicke- lungsgeschichte der Arten oder Speeles sein. Denn die so- genannten Arten oder Speeles der Organismen setzen in ähnlicher Weise die höhere Individualität des Stammes zusammen, wie sie selbst aus der niederen Individualität des Zeugungskreises oder Generations-Cy- clus zusammengesetzt sind. Wie wir oben (S. 30) zeigten, stehen diese drei subordinirten Individualitäten, der Generations-Cyclus, die Speeles I. Die Phylogeuie als Eutwickelungsgeschichte der Stämme. 305 und das Pliylou, iu einem ähnlichen Verhältniss zu einander, wie die verschiedenen, im neunten Capitel festgestellten Kategorieen der mor- phologischen Individualität. Jedes Phylon ist eine Vielheit von bluts- verwandten Speeles und jede Speeles ist eine Vielheit von gleichen oder vielmehr höchst ähnlichen Zeuguugskreisen. Wir konnten daher die- selben als drei verschiedene Ordnungen oder Kategorieen der genealogischen Individualität, oder als drei subordiuirte Ent- wickelungs- Einheiten folgendermaassen über einander stellen: 1. Der Zeugungskreis (Cyclns generaüonis) ist die erste und niedrigste Stufe, II. die Art (Speeles) ist die zweite und mittlere Stufe, III. der Stamm (Phylum) ist die dritte und höchste Stufe der genealogischen Individualität. Die Phylogenie , als die Entwickelungsgeschichte der Stämme, ver- hält sich demnach zur genealogischen Systematik, oder der Entwicke- lungsgeschichte der Arten ganz analog, wie die Entwickelungsge- schichte der physiologischen Individuen zu derjenigen der morphologi- schen Individuen. Wie das physiologische Individuum während ver- schiedener Perioden seiner individuellen Existenz durch eine wechselnde Anzahl von morphologischen Individuen verschiedener Ordnung re- präsentirt wird, so wird gleicherweise das Phylon während verschie- dener Zeiten seiner individuellen Existenz durch eine wechselnde An- zahl von verschiedenen Speeles dargestellt, welche sich nach dem Grade ihres genealogischen Zusammenhanges in die verschiedenen Ordnungs- stufen oder Kategorieen des Systems neben und über einander ordnen lassen. Die concrete Aufgabe der Phylogenie wird also zunächst die Entwickelungsgeschichte der einzelnen blutsverwandten Arten oder Spe- eles sein , und erst aus deren richtiger Erkenntniss und vergleichenden Synthese ergiebt sich dann weiterhin als das höhere und höchste Ziel der genealogische Zusammenhang der verschiedenen Arten im natür- lichen System, oder die wirklich zusammenhängende Entwickelungs- geschichte der Stämme. n. Palaeontologie und Genealogie. Der innige und allgemeine Zusammenhang, welcher zwischen der Phylogenie und der Ontogenie besteht, ist von uns bereits im fünften Buche auf das entschiedenste hervorgehoben worden. Wir erblicken in diesem unlösbaren Zusammenhange, in der gegenseitigen Erläute- rung der Phylogenie und der Ontogenie, in ihrem durch die Descen- denz- Theorie erklärten Causalnexus, die wissenschaftliche Grundlage der gesammten Entwickelungsgeschichte, und dadurch zugleich der ge- sammten Morphologie. Diese äusserst wichtige Wechselbeziehung zwi- schen der Entwickelungsgeschichte der organischen Individuen und der Ha c ekel, Generelle Horphologie, U. c)(\ 306 Begriff und Aufgabe der Phylogenie. organischen Stämme bewog uns im achtzehnten Capitel, am Schlüsse jedes Abschnitts unser „Ceterum censeo" folgen zu lassen: „Alle Er- scheinungen, welche die individuelle Entwickelung der Organismen be- gleiten, erklären sich lediglich aus der paläontologischen Entwickelung ihrer Vorfahren. Die gesamrate Ontogenie der Organismen ist eine kurze Recapitulation ihrer Phylogenie." Dieses Gesetz halten wir für so äusserst wichtig, dass wir das- J selbe nicht genug glauben hervorheben zu können; denn ohne die Phy- |, logenie bleibt uns die Ontogenie ein unverstandenes Ptäthsel. Wenn wir dagegen das causale Verständniss der Phylogenie durch die Descen- denz- Theorie gewonnen haben, so erklärt sich uns daraus die Onto- genie eben so einfach, als harmonisch. Andererseits bedürfen wir der Ontogenie auf das dringendste , um die Phylogenie richtig zu würdigen. Dieses Verhältniss ist vorzüglich in dem Umstände begründet, dass unsere empirischen Kenntnisse in der Entwickelungsgeschichte der In- dividuen weit umfassender und vollständiger sind, als in derjenigen der Stämme. Fast das einzige unmittelbare empirische Material, wel- ches der letzteren zu Grunde liegt, liefert uns die Paläontologie. Die- ses Material ist aber nicht im entferntesten zu vergleichen mit dem- jenigen, welches uns für die Ontogenie zu Gebote steht; vielmehr ist dasselbe im höchsten Grade lückenhaft und unvollständig. In der individuellen oder biontischen Entwickelungsgeschichte kön- nen wir, wenigstens in sehr vielen Fällen, unmittelbar und Schritt für Schritt mit unseren Augen die Form-Veränderungen verfolgen, wel- che das physiologische Individuum während der ganzen Zeit seiner Exi- stenz, von seiner Entstehung bis zu seinem Tode durchläuft. Es ist daher nicht zu verwundern, dass selbst sehr gedankenlose Zoologen und Botaniker bisweilen ganz brauchbare biontische Entwickelungsge- schichten von Thieren und Pflanzen schreiben. Es gehört dazu wesent- lich nur ein gesundes Auge, ein wenig Geduld und Fleiss, und so viel Verstand, um das unmittelbar Beobachtete getreu wiedergeben zu können. Unendlich schwieriger gestaltet sich die Aufgabe für die paläon- tologische oder phyletische Entwickelungsgeschichte. Hier liegt nir- gends eine zusammenhängende Kette von Thatsachen vor, welche der glückliche Beobachter einfach aufzunehmen und so darzustellen hat, wie er sie sieht. Niemals ist der continuirliche Zusammenhang zwi- schen den einzelnen auf einander folgenden Entwickelungs - Stadien so ^^^e in der Embryologie gegeben. Vielmehr findet der Genealoge, wel- cher es unternimmt, die Entwickelungsgeschichte eines Stammes und der denselben zusammensetzenden Arten darzustellen, in allen Fällen nur höchst unvollständige und vereinzelte Bruchstücke vor, welche es gilt, mit kritischem Blicke — und fast möchten wir sagen: mit rieh- LT. Paläontologie und Genealogie. 307 tigern morphologischem Instiucte — zusammenzusetzen und daraus das ungefähre Schattenbild des längst entschwundenen Entwickelungs- Vor- ganges zu reconstruiren. Diese Reconstruction erfordert ebenso um- fassende biologische und specielle morphologische Kenntnisse, als allge- meines Verständniss des Zusammenhanges der biologischen Erscheinun- gen; sie ei-fordert ebenso die äusserste Vorsicht, als die grösste Kühn- heit in der hypothetischen Ergänzung der dürftigen Fragmente , welche die Paläontologie uns liefert. Die Hypothese ist hier, wie in der ge- sammten Genealogie, nicht bloss das erste Recht, sondern auch die dringendste Pflicht. Da wir iu den unten folgenden Entwürfen der Stammbäume für die einzelnen Phylen zeigen werden, in welcher Weise hier nach unserer Ansicht die Hypothese, die Ergänzung des dürftigen paläontologischen Materials diu-ch das vollständigere embryologische und systematische Material zu handhaben ist, so wollen wir hier nur im Allgemeinen aus- drücklich darauf hinweisen, welche gewaltige Kluft in dieser Beziehung zwischen der Phylogenie und der Ontogenie herrscht. Diese Kluft ist in der That so gross, dass darüber der innige Zusammenhang dieser beiden nächst verwandten Wissenschaftszweige von den meisten Biolo- gen bisher entweder ganz übersehen oder doch nicht entfernt in sei- nem vollen Werthe anerkannt worden ist. Die paläontologische Entwickelungsgsgeschichte, wie sie bisher behandelt, und iu neuerer Zeit auch von einigen hervorra- genden Paläontologen im Zusammenhange dargestellt worden ist, bleibt ein vollständig lückenhaftes und zerrissenes Fhckwerk, wenn sie sich auf die blossen Thatsachen beschränkt, welche die Paläontologie uns hefert, und wenn sie nicht zu deren Ergänzung den äusserst wichtigen dreifachen Parallelismus benutzt, welcher zwischen der biontischen, der phyletischen und der systematischen Entwickelungsreihe besteht ^ ). Diese Ergänzung durch eben so umfassende und kühne, als vorsichtige und kritische Anwendung der phyletischen Hypothese ist die erste Pflicht der Genealogie oder Stammbaums-Lehre im weiteren Sinne, wie wir auch die gesammte Phylogenie oder phyletische Entwickelungs- geschichte nennen könnten. Wenn wir aber unter Genealogie im en- geren Sinne nur den ergänzenden und unentbehrlichen hypothetischen Theil, unter Paläontologie im engereu Sinne dagegen den empirischen, unmittelbar durch die Versteinerungskunde gegebenen Theil der Phy- logenie verstehen, so verhält sich die letztere zur ersteren wohl nur selten ungefähr wie Eins zu Tausend, in den allermeisten Fällen wohl 1) Welche dürftigen Resultate auch die gründlichsten und sorgfältigsten, und selbst die genauesten statistischen Untersuchungen über die paläontologische Entwickeluug lie- fern, wenn sie sich bloss auf die nackte Synthese des paläontologischen Matei-ials be- schränken, zeigen am deutlichsten die trefflichen Arbeiten des verdienstvollen Broun. 20* 308 Begriff und Aufgabe der Phylogenie. 1 kaum wie Eins zu Hunderttausend oder zur Million. Dennoch ist hier bei Anwendung der notliwendigen Kritik ausserordentlich Viel zu lei- sten, und vorzüglich auf Grund der Ergänzung der Paläontologie durch die Embryologie und Systematik , eine Reihe der wichtigsten und sicher- sten Resultate zu erzielen. Die Phylogenie oder die Entwickelungsgeschichte der organischen Stämme in unserem Sinne ist also eine Wissenschaft, welche sich nur zum allerkleinsten Theile aus dem empirischen Materiale der Palä- ontologie oder Versteinerungskunde , zum bei weitem grössten Theile aus den ergänzenden Hypothesen der kritischen Genealogie oder Stammbaumskunde zusammensetzt. Die letztere muss sich in erster Linie auf das ergänzende Material der Ontogenie und Systematik, und weiterhin auf eine denkende Benutzung aller allgemeinen Organisations- Gesetze stützen. III. Kritik des paläontologischen Materials. Für das richtige Verständniss der Phylogenie ist eine der ersten und nothwendigsten Vorbedingungen die richtige und volle Erkenntniss von dem ausserordentlich hohen Grade der Unvollständigkeit und Lücken- haftigkeit, den das gesammte empirische Material der Paläontologie besitzt. Wir haben schon im Vorhergehenden hervorgehoben, dass der philosophischen Genealogie, welche auf Grund ontogenetischer und sy- stematischer Inductionen den hypothetischen Bau der zusammenhängen- den Phylogenie zu errichten hat, ein weit grösserer und umfassenderer Theil der phylogenetischen Aufgabe zufällt, als der empirischen Palä- ontologie, welche uns nur einzelne isolirte Bruchstücke für den Aufbau derselben zu liefern vermag. Diese Erkentniss ist so höchst wesentlich, dass wir hier kurz die wichtigsten Ursachen der ausserordentlichen Unvollständigkeit des paläontologischen Materials hervorheben müssen. Niemand hat dieselben bisher so richtig gewürdigt, als die beiden grossen Engländer Darwin und Lyell, von denen der erstere dieselbe Refor- mation auf dem Gebiete der Paläontologie, wie der letztere auf dem der Geologie durchgeführt hat. Darwin hat der „Unvollkommenheit der geologischen Ueberlieferungen" ein besonderes Capitel seines Wer- kes (das neunte) gewidmet, auf welches wir hier als besonders wichtig ausdrücklich verweisen i). 1) Am Schlüsse dieses Capitels macht Darwin folgende treffende Vergleiehung : „Ich für meinen Theil betrachte (um Lyell's bildlichen Ausdruck durchzuführen), den natürlichen Schöpfungsbericht als eine Geschichte der Erde, unvollständig erhalten und in wechselnden Dialecten geschriebei>, wovon aber nur der letzte, bloss auf einige Theile der Erd- Oberfläche sich beziehende Band bis auf uns gekommen ist. Doch auch von diesem Bande ist nur hier und da ein kurzes Capitel erhalten, und von jeder Seite sind rH. Kritik des paläoutologischen Materials. 309 Wenn wir die sämnitlichen Umstände, welche die empirische Pa- läontologie zu einem so höchst fragmentarischen Stückwerk machen, vergleichend erwägen, so können wir sie in zwei Reihen bringen, von denen die einen ihre Ursache in der Beschaffenheit der Organismen, die anderen in der Beschaffenheit der Umstände haben, unter denen ihre Reste in den neptunischen, aus dem Wasser abgelagerten Erd- schichten erhalten w^erden können. In ersterer Beziehung ist vor Allem zu erwägen, dass in der Regel nur harte und feste Theile, vorzüglich also Skelete, der Erhaltung im fossilen Zustande oder der Petrification fähig waren. Nur verhältnissmässig selten konnten auch von weichen und zarten Theilen der Organismen Abdrücke erhalten werden. Es fehlen daher fast alle erkennbaren Reste von solchen Organismen, die keine Skelete oder harten Theile besassen. Dahin gehören alle auto- gouen Moneren, welche wir als die ursprünglichen Stammformen sämmt- licher Phylen zu betrachten haben, sowie eine grosse Anzahl zunächst von jenen Autogenen abstammender Generationen; sodann sehr viele Protisten, die meisten Wasserpflanzen, sehr viele niedere Thiere (Me- dusen, Würmer, Nacktschneckcu , Wirbel thiere mit bloss knorpeligem Skelet etc.), endlich alle Embryonen aus der ersten und sehr viele auch aus späterer Entwickelungs-Zeit; sowie überhaupt sehr viele zarte jugendliche Formen, auch von solchen Organismen, die späterhin ein hartes Skelet erhalten. Bei allen diesen Organismen fehlten eigentliche innere oder äussere Skelete, und überhaupt geformte harte Theile, welche der Erhaltung fähig gewesen wären. Aber auch bei den übri- gen Organismen, w^elche solche harte conservationsfähige Theile be- sitzen, machen dieselben in der Regel nur eintn sehr unbedeutenden und oft einen morphologisch sehr werthlosen Theil des ganzen Körpers aus. Am wichtigsten sind in dieser Beziehung diejenigen Wirbelthiere, welche ein verknöchertes inneres Skelet besitzen, ferner die hartscha- ligeu Echinodermen und Crustaceen, sowie die mit Kalkgehäusen ver- sehenen Mollusken. Doch kann man inbesondere bei den letzteren aus der Fonn der äusseren Schale nur sehr unsichere Schlüsse auf die anatomische Beschaffenheit der Weichtheile ziehen. Von der Beschaf- fenheit des Nervensystems und des Gefässsystems, sowie der meisten übri- gen Organsysteme sagen uns aber jene conservirten Hartgebilde unmit- telbar gar nichts, und die Andeutungen, welche wir von ihnen in die- ser Beziehung erhalten , sind nur sehr unsicher. Die ganze Summe der wirklich erhaltenen thierischen Reste giebt uns also schon aus die- nur da und dort einige Zeilen übrig. Jedes Wort der langsam wechselnden Sprache die- ser Beselireibung, mehr und weniger verschieden in der unterbrochenen Keihenfolge der einzelnen Abschnitte, mag den anscheinend plötzlich wechselnden Lebensformen entspre- chen , welche in den unmittelbar auf einander liegenden Schichten unserer weit vou einan- der getrennten Formationen begi'aben liegen." 310 Begriff" und Aufgabe der Phylogenie. sem Grunde nur ein sehr unsicheres Bild von ihrer vormaligen Ge- sammt- Organisation. Nicht besser steht es mit den Pflanzen, von denen gerade die morphologisch wichtigsten Theile, die Bltithen, we- gen ihrer zarten Structur nur sehr selten und höchst unvollständig in Abdrücken erhalten Averden konnten. Die Schlüsse, welche wir hier aus den Abdrücken ganzer Pflanzen, sowie aus den besser conservirten härteren Theilen (Holzstämmen, Früchten) ziehen können, ersetzen je- nen Mangel nur in sehr beschränktem Maasse. Höchst ungieichmässig sind ferner die Bedingungen der Conserva- tion je nach dem verschiedenen Wohnorte der Organismen. Bei wei- tem die grösste Mehrzahl der Petrefacten gehört Meeresbewohnern an; viel seltener sind die Reste von Süsswasserbewohnern und von Land- bewohnern, und am seltensten diejenigen der Luftbewohner. Die Gründe, wesshalb das Meer die günstigsten, das Süsswasser viel ungünstigere, und das Festland die ungünstigsten Bedingungen zur Fossilisation ver- storbener Organismen darbot, liegen so nahe, dass wir dieselben hier nicht zu erörtern brauchen. Ebenso konnten selbstverständlich von Entozoen und von anderen Parasiten keine Reste conservirt werden. Wenn wir ferner bedenken, wie rasch überall jedes Cadaver seine Lieb- haber fiindet, wie schnell überall Tausende von Organismen beschäftigt sind, sich Fleisch und Blut der Verstorbenen zu Nutze zu machen, wie die allermeisten organischen Individuen nicht natürlichen Todes ster- ben, sondern von übermächtigen Feinden vernichtet werden, so wer- den wir uns mehr darüber wundern, dass noch so viele, als dass so äusserst wenige deutlich erkennbare Reste übrig bleiben konnten. Die andere Reihe* von Ursachen , welche auf die fossile Conser- vation der organischen Reste höchst nachtheilig einwirken, liegt in den Umständen, unter denen die neptunischen Erdschichten aus dem Wasser abgelagert werden. Vor allem ist hier der von Darwin mit Recht besonders hervorgehobene Umstand äusserst wichtig, dass ver- steinerungsführende Schichten nur während langer Perio- den andauernder Senkung des Bodens abgelagert werden konnten. Wenn dagegen Senkungen mit Hebungen wechselten, oder wenn lange Zeit hindurch Hebungen fortdauerten, so konnten die neu- abgelagerten Schichten nicht erhalten bleiben, da sie alsbald wieder in den Bereich der Brandung versetzt und so zerstört wurden. Die- sen Umstand gehörig zu würdigen, ist aber um so wichtiger, als ge- rade während der Hebungszeit (durch Gewinnung neuer Stellen im Naturhaushalte) die Divergenz der organischen Formen und die Ent- stehung neuer Arten sehr begünstigt wurde, während dagegen in den Senkuiigszeiten mehr Arten erlöschen und zu Grunde gehen mussten. Zwischen den langen Zeiträumen , in welchen je zwei auf einander fol- gende Formationen oder Etagen abgelagert wurden, und welche zwei III. Kritik des paläontologiechen Materials. 311 Seiikungsperioden entspreclien , liegt demnach ein ungeheuer langer Zeitraum, in welchem die alternirende Hebung des Bodens und die damit parallel gehende Entstehung neuer Arten stattfand, von denen uns aber gar keine Keste erhalten werden konnten. So erklärt sich ganz einfach der zunächst befremdende Umstand, dass Flora und Fauna zweier verschiedener, übereinander liegender Schichten so sehr ver- schieden sind. In sehr vielen Sedimeutschichten endlich, wie z. B. m vielen grobkörnigen Sandsteinen, ist die Erhaltung organischer Reste schon wegen der Structur des Gesteins selbst fast ganz unmöglich. Aber auch die wiiidich erhalteneu versteinerungsführenden Schich- ten sind mis nui- im höchsten Grade unvollständig bekannt. Wir ken- nen von diesen fossiliferen Straten nur einen äusserst geringen Theil; sorgiältiger ist bisher nur ein Theil Europas und Nordamerikas hierauf untersucht. Von den Sedimeutschichten Asiens, Südamerikas, Afrikas und Australiens, sowie überhaupt der ganzen südlichen Hemisphäre kennen wir nur ganz geringe Bruchstücke. Wie unvollständig wir aber selbst die am meisten untersuchten Schichten ( z. B. den hthographi- schen Schiefer des Jura) kennen, geht am besten daraus hervor, dass noch jährlich neue Formen in denselben entdeckt werden. Wir ken- nen ferner gar nichts von den ungeheueren Massen fossilienhaltiger Schichten, welche gegenwärtig unter dem Meeresspiegel ruhen, von denjenigen, welche jenseits der Polarkreise liegen und von denjenigen, welche sich in metamorphischem Zustande befinden. Und doch sind die letzteren allein aller Wahrscheinlichkeit nach bedeutend mächtiger, als alle nicht metamorphischen Schichtenlagen zusammen. Alle diese Umstände zusammengenommen beweisen uns, dass die Gesammtheit des paläontologischen Materials oder die sogenannte „geo- logische Schöpfuugs- Urkunde" im allerhöchsten Maasse unvollständig und lückenhaft ist, und dass sie uns für die zusammenhängende phy- letische Entwickeluugsgeschichte nur einzelne dürftige Andeutungen, nirgends aber eine vollständige und zusammenhängende Entwickelungs- reihe liefert. Von 'sehr vielen fossilen Organismen -Arten kennen wir uui- ein einziges Exemplar oder einige wenige höchst unvollkommene Bruchstücke , z. B. einen einzelnen Zahn oder ein paar Knochen. Von keiner einzigen fossilen Art können wir uns ein einigermaassen voll- ständiges Bild ihrer gesammten Verbreitung und Entwickelung in der Vorzeit entwerfen. Alle unsere paläontologischen Sammlungen zusam- mengenommen sind nur ein winziges Fragment, nur ein Tropfen im Meere, gegenüber der ungeheueren Masse erloschener Organismen, die in früheren Zeiten unsere Erdrinde belebten. Bevor diese Ueberzeu- gung nicht durch reifliche Erwägung aller hier einschlagenden Um- stände befestigt ist , wird jede Beurtheilung des paläontologischen Ma- terials verfehlt bleiben und zu iriigen Schlüssen verführen. 312 Begriff und Aufgabe der Phylogenie. IV. Die Kataklysmen- Theorie und die Continuitäts- Theorie (Cuvier und Lyell). Wenn wir die ausserordentliche Unvollständigkeit des gesammten phylogenetischen Materials mit der befriedigenden Vollständigkeit min- destens eines grossen Theiles des ontogenetischen Materials vergleichen, so begreifen wir, warum die Entwicklungsgeschichte der Arten und Stämme so weit hinter derjenigen der Individuen und Zeugungskreise zurückbleiben konnte. Doch ist diese Differenz in der Ausbildung bei- der Zweige der Entwickeluugsgeschichte nicht allein in jener ganz ver- schiedenen Beschaffenheit des empirischen Materials, sondern auch zum grossen Theil in der eigenthümlichen Stellung begründet, welche die Paläontologie von Anfang an zu ihren nächstverbündeten Wissenschaf- ten einnahm. Vorzüglich aber ist . in dieser Beziehung die Abhän- gigkeit derselben von der Geologie sehr einflussreich geworden, sowie der Umstand , dass die meisten sogenannten Zoologen uud Botaniker die- selbe wie ein Stiefkind behandelten, oder sich wohl auch gar nicht um die Thiere und Pflanzen der unbekannten „Vorwelt" bekümmerten. Die empirische Paläontologie, als die Versteinerungskunde oder „Petrefactologie", verdankt ihre Entwickelung und Cultur grösstentheils nicht den Untersuchungen der Zoologen und Botaniker, (welche in den Petrefacten meistens nicht die Ueberbleibsel der ausgestorbenen Vor- fahren der jetzt lebenden Organismen zu erkennen vermochten), sondern den Bemühungen der Geologen, welche die Petrefacten nur als „Leit- muscheln", als „Denkmünzen der Schöpfung" schätzen und verwerthen, um mit Hülfe derselben das relative Alter der über einander gelager- ten Gebirgsschichten zu bestimmen. Das Interesse der beiderlei Na- turforscher an diesen Objecten ist daher nicht weniger verschieden, als etwa das Interesse eines Archäologen und eines Künstlers oder Aesthe- tikers an einer antiken Statue. Der genealogische Zusammenhang der fossilen und der lebenden Organismen, sowie überhaupt die paläonto- logische Entwickelungsgeschichte der Organismen musste den eigentli- chen Geologen von jeher als ein untergeordneter Nebenzweck oder auch als eine gleichgültige Sache erscheinen, um so mehr, als die meisten Geologen nicht hinreichend gründliche biologische und namentlich mor- phologische Bildung besassen, um das hohe Interesse jenes Zusammen- hanges richtig würdigen zu können. Dazu kam, dass die falsche Ka- taklysmen-Theorie die gesammte Geologie und die davon in Abhängig- keit erhaltene Paläontologie im vorigen Jahrhundert und in den drei ersten Decennien des jetzigen vollständig beherrschte. Allgemein nahm man an, dass die aus dem Bau der festen Erdrinde ersichtliche Ueber- einanderlagerung einer bestimmten Anzahl verschiedener Gebirgsfor- mationen, deren jede ihre eigenthümlichen thierischen und pflanzlichen IV. Die Kataklysmen - Theorie und die Continuitäte - Theorie. 313 Reste einschliesst, einer gleichen Anzahl von aufeinanderfolgenden Erd- levolutionen imbekannten Ursprungs entspreche, deren jede die da- mals existirende Flora und Fauna vernichtet und in den zusammen- geschütteten Trümmern der umgewühlten Erdrinde begraben habe. Am Anfange jeder neuen Periode der Erdgeschichte sollte ebenso unmoti- virt plötzlich eine neue Flora und Fauna erschaffen worden sein, wie die vorhergehende durch unmotivirte, ungeheuere, allgemeine Ueber- schwemmmigen und Umwälzungen der Erdrinde vernichtet worden war. Diese falsche Theorie wurde vorzüglich dadurch verhängnissvoll, dass sie durch Cuvier zu allgemeiner Anerkennung gelangte, der sich im Anfange unseres Jahrhunderts die grössten Verdienste um eine schär- fere Bestimmung und Erkenntniss der organischen fossilen Keste erwarb. Seine grosse Autorität hielt das gesammte Gebiet der Paläontologie ein halbes Jahrhundert hindurch so vollständig beherrscht, und erhielt die Kataklysmen- Theorie als fundamentales Dogma in derselben so unbedingt aufrecht, dass selbst heute noch ein grosser Theil der Pa- läontologen sich nicht entschliessen kann, dasselbe aufzugeben. Hier tritt nun die Paläontologie, insofern sie noch heute in weiten Kreisen das Dogma von einer Reihenfolge plötzHcher Vernichtungen der schub- weise in die Welt gesetzten Schöpfungen aufrecht erhält, in einen selt- samen Gegensatz zu der früher sie beherrschenden Geologie, in wel- cher jenes Dogma seit nunmehr 36 Jahren als beseitigt betrachtet wer- den kann. Im Jahre 1830 erschien das bewunderungswürdige Werk von Charles Lyell: ,,ll!c Principles of Geology" ^ durch welches dieser grosse Engländer dieselbe Reformation auf dem Gebiete der Geologie und in der Entwickelungsgeschichte der anorganischen Erd- rinde durchführte, welche sein ebenbürtiger Landsmann, Charles Darwin, fast dreissig Jahre später auf dem Gebiete der Paläontologie und in der phyletischen Entwickelungsgeschichte der Organismen voll- endete. Lyell wies überzeugend nach, dass wir zur Erklärung der geologischen Thatsachen nicht jene mythischen „Revolutionen und Ka- taklysmen" unbekannten Ursprungs, nicht jene plötzlichen und unmo- tivirten Ueberschwemmungen und Umwälzungen der gesammten Erd- rinde bedürfen, auf denen die frühere Geologie beruht. Er zeigte, wie die gegenwärtig existirenden geoplastischen Ursachen, wie namentlich der Wechsel wiederholter langsamer Hebungen und Senkungen , wie die Thätigkeit des Wassers und der atmosphärischen Agentien, wie die „existing causes" der Meteorologie ' und die vulkanische Actiou des Erdinnern vollkommen ausreichen , um in dem Verlaufe sehr langer Zeiträume durch sehr langsame und allmähliche, aber beständige und ununterbrochene Thätigkeit jene gewaltigen Wirkungen hervorzubrin- gen , die wir in dem Gebirgsbau der entwickelten P>drinde bewundern. Das grosse Princip des Actualismus, der Grundsatz, dass 314 Begriff und Aufgabe der Phylogenie. die Kräfte der Materie ebenso wie sie selbst , zu allen Zeiten dieselben bleiben, und dass heute noch ebenso wie in der Primordialzeit gleiche Ursachen gleiche Wirkungen hervorbringen, war durch jenes Werk Lyell's gewahrt, und dadurch das grosse Gesetz der continuir- lichen Entwickelung, der successiven Metamorphose, der ununter- brochenen Umbildung für die anorganische Natur festgestellt. So gross war aber die Macht des durch Cuvier's Autorität gestützten Dogmas von den Kataklysmen und den schubweise in die Welt gesetzten Schö- pfungen, dass das letztere dadurch in der Paläontologie gar nicht erschüttert zu sein schien. Nun muss es aber für jeden Denkenden klar sein, dass jenes Dogma in der Paläontologie zum vollständigen Unsinn wurde, nachdem ihm in der Geologie aller Boden entzogen war. Und dennoch lehrten die Zoologen und Botaniker im Verein mit den Paläontologen unbekümmert und ungestört ihr absurdes Dogma weiter, und behaupteten, dass jede Art selbstständig und unabhängig von der anderen erschaffen, und nach ihrem Untergange durch andere, von ihr unabhängige, verwandte Arten ersetzt worden sei. Es ist in der That erstaunlich, dass noch dreissig Jahre verflies- sen konnten, ehe die von Lyell in der Geologie durchgeführte Reform auch in der Paläontologie zur Geltung gelangte. Sobald die ununter- brochene und allmähliche Entwickelung der anorganischen Erdrinde durch Lyell's Conti nuitäts-Theorie begründet war, musste die Descendenz- Theorie in der von Darwin gegebenen Vollständig- keit als die nothwendige Folge derselben erscheinen, und die gleiche ununterbrochene und allmähliche Entwickelung auch für die organische Bevölkerung der Erdrinde nachweisen. Wir sehen aber hier wiederum einen neuen Beweis von der ausserordentlichen Gewalt, welche einge- rostete falsche Dogmen auf die Ansichten der Menschen dauernd aus- üben, sobald sie durch mächtige Autoritäten gestützt werden. Und wieder müssen wir an Goethe's Wort denken: „Die Autorität verewigt im Einzelnen, was einzeln vorüber gehen sollte, lehnt ab und lässt vorüber gehen , was festgehalten werden sollte , und ist hauptsächlich Ursache, dass die Menschheit nicht vom Flecke kommt." Nach unserer unerschütterlichen Ueborzeugung ist die Kataklysmen- Lehre in der Geologie und das damit untrennbar verbundene Dogma von der selbstständigen Schöpfung der einzelnen Speeles in der Paläon- tologie vollkommen eben so falsch und unhaltbar, wie die Evolutions- Theorie in der Ontogenie (vergl. S. 12). Wie wir in der letzteren die Epigenesis als die einzig möglich und wirkHche Grundlage anerken- nen mussten, so müssen wir in der Phylogenie die Continuität der organischen ebenso wie der anorganischen Natur - Entwickelung als^ das erste und unentbehrliche Fundament festhalten, und dieses Fun- dament ist nicht zu trennen von der Descendenz - Theorie. V. Die Perioden der Erdgeschichte. 315 V. Die Perioden der Erdgeschichte. Jede der vielen über einander gelagerten neptunischeu Schichten der Erdrinde bezeichnet einen bestimmten Zeitraum der Erdgeschichte. Die versteinerten Reste und Abdrücke von Thieren und Pflanzen, wel- che in denselben enthalten sind, geben uns ein rudimentäres und höchst unvollständiges Bild von der Fauna und Flora, welche während jener Zeit die Erdrinde belebten. Dagegen besitzen wir gar keine solchen Eeste oder „Denkmünzen der Schöpfungsgeschichte" aus den sehr lau- gen Zeiträumen, welche zwischen der Ablagerung je zweier Schichten oder Formationen vei-flossen. Diese empfindlichen Lücken sind, wie wir vorher sahen, um so mehr zu bedauern, als grade in jenen Zwi- schenzeiten, in welchen Hebungen der Erdrinde stattfanden und dess- halb keine versteinerungsführenden Schichten abgelagert wurden, die Umbildung der Organismen und die Entstehung neuer Arten und Arten- gruppen wegen der Umgestaltung der Existenz - Bedingungen und we- gen der Entstehung neuer Stellen im Naturhaushalte sehr lebhaft sein mussten. Wir müssen daher jene empirisch nie ausfüllbaren Lücken durch Hypothesen überbrücken und den durch jene Intervalle zerrisse- nen Faden der paläontologischen Eutwickelung wieder zusammenknüpfen. Es erscheint uns desshalb von der grössten Wichtigkeit, nicht bloss, wie es bisher üblich war, die Zeiträume der Senkung, während "welcher die fossiliferen Schichtenr abgelagert wurden, bestimmt zu un- terscheiden, und mit Namen zu bezeichnen, sondern auch die für die Genealogie viel wichtigeren Zeiträume der Hebung, welche jene unter- brachen, und innerhalb deren keine petrefactenhaltigen Straten ab- gelagert wurden. Dem allgemeinen Brauche folgend bezeichnen wir die Senkungs- Zeiträume nach den fossiliferen Straten und Schieb teu- gruppen, welche während derselben abgelagert wurden, also z. B. die Kohlen -Zeit als die Periode, in welcher das Steinkohlen -System, die Eocen-Zeit als die Periode , in Avelcher das Eocen-System sich bildete. Dagegen bezeichnen wir die zwischenliegenden Hebungs - Zeiträume, welche bisher nicht berücksichtigt worden sind, dadurch, dass wir vor den Namen der darauf folgenden Senkungs - Zeit ein „Ante'' setzen, also z. B. die Antecarbon - Zeit als den Zeitraum zwischen der Abla- gerung der devonischen und carbonischen Schichten, die Anteocen-Zeit als den Zeitraum zwischen der Ablagerung der Kreide- und Eocen- Schichten u. s. w. Man pflegt gewöhnlich die sämmtlichen Perioden der organischen Erdgeschichte in drei grosse Hauptperioden zu bringen, welche man als primäre (paläozoische), secundäre (mesozoische) und tertiäre (cä- nozoische) unterscheidet. Wir glaul)cn jedoch, dass es richtiger ist, 316 Begriff und Aufgabe der Phylogenie. am Anfang und am Ende dieser drei Hauptperioden noch zwei beson- dere abzuscheiden, von denen wir die erste als die primordiale (archo- zoische) und die letzte als die quartäre (anthropozoische) bezeichnen. Die erstere entfernt sich von der primären gänzlich durch den aus- schliesslich marinen Charakter ihrer Fauna und Flora; ebenso unter- scheidet sich die letztere wesentlich von der tertiären Hauptperiode durch das Erscheinen des Menschen, welcher durch seine Cultur auf die Erdrinde einen weit grösseren umgestaltenden Einfluss ausübte als irgend ein anderer Organismus vor ihm. Die fünf grossen Hauptpe- rioden oder Zeitalter (Aetates) der organischen Erdgeschichte lassen sich mit kurzen Worten folgeudermaassen charakterisiren : 1. Das archolithische Zeitalter oder die Primordialzeit. Vom Beginn des organischen Lebens auf der Erde bis zum Ende der silurischen Zeit. Mit dem ersten Act der Autogonie beginnt dieser erste Zeitraum, welcher bis zum Anfang des Landlebens, nach Ablagerung der ober- sten silurischen Schichten, reicht. Die Schichten, welche während der vielen Millionen Jahre dieses ungeheuer langen Zeitraums abgelagert wurden, umfassen drei verschiedene Schichten - Systeme : L das lau- rentische, H. das cambrische, und HL das silurische System. Alle Versteinerungen, welche in diesen Schichten sich finden, gehören Protisten, Pflanzen und Thieren an, welche im Wasser lebten, und es ist demnach der Schluss gerechtfertigt, dass zu dieser Zeit noch gär kein Landleben existirte. Von Pflanzen kennen wir aus diesen Schich- ten nur ausschliesslich Algen, von Wirbelthieren nur einzelne Fische aus den obersten silurischen Schichten. Die charakteristischen Wirbel- thiere dieser Periode müssen die nicht erhaltungsfähigen Leptocardier gewesen sein, aus denen sich die Fische erst entwickelt haben. Wir können daher diese Zeit auch das Zeitalter der Leptocardier oder der Algen nennen. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist der archolithische Zeitraum, welcher bisher immer noch mit dem wesentlich verschiede- neu paläolithischen vereint erhalten worden ist, sehr viel länger gewe- sen als alle vier übrigen Zeitalter zusammengenommen, wie schon aus der ungeheueren Mächtigkeit der arcMolithischen Schichten hervorgeht. H. Das paläolithische Zeitalter oder die Primärzeit. Vom Beginn der antedevonischen Zeit bis zum Ende der permischen Zeit. Mit der antedevonischen Zeit beginnt zum ersten Male das Land- leben auf der Erde, und in ihren ältesten (unterdevonischen) Schich- ten treten bereits Beste von entwickelten landbewohnenden Thieren und Pflanzen auf. Die Schichten, welche während der vielen Millionen Jahre dieses ungeheuer langen Zeitraums abgelagert wurden, umfassen V. Die Perioden der Erdgeschichte. 317 drei verschiedene Schichten -Systeme: I. das devonische, IL das carbonische, und III. das per mische System. Unter den Wir- hc'lthieren 'dieses Zeitalters sind ganz vorherrschend die Fische, unter (Ion Pflanzen die Prothallophyten oder Filicinen (Gefäss - Cryptogamen) ■wesen. Wir können daher diese Zeit auch das Zeitalter der Fische iider der Prothallophyten nennen. im. Das mesolithische Zeitalter oder die Secundär-Zeit. Vom Beginn der antetriassischen bis zum Ende der cretacischen Zeit. In diesem Zeitraum treten zum ersten Male warmblütige und luft- Ibewohnende Wirbelthiere auf, die Vögel und auch schon die Säuge- tthiere, aber nur didelphe Beuteltliiere. Die Schichten, welche während (dieser sehr langen Periode abgelagert wurden, umfassen drei verschie- cdene Schichten -Systeme: I. Trias-, II. Jura- und III. Kr ei de - ^System. Nach den Reptilien, welche unter den Wirbelthieren , oder mach den Gymnospermen, welche unter den Pflanzen ganz vorzugsweise i'dieses Zeitalter charakterisirten, können wir dasselbe auch das Zeitalter (der Reptilien oder der Gymnospermen nennen. IV. Das cänolithische Zeitalter oder die Tertiär-Zeit. Vom Beginn der anteocenen bis zum Ende der pliocenen Zeit. In diesem Zeitraum fehlen die eigenthümlichen, die Secundär-Zeit i charakterisirenden Gruppen der Ammoniten, der Pterodactylen , Hali- > Saurier etc. Fauna und Flora nähern sich dem Charakter der Jetztzeit. IDie Schichten, welche während dieses langen Zeitalters abgelagert \wurden, umfassen drei verschiedene Schichten-Systeme : I. das eocene, III. das mioceue, III. das pliocene System. Da dieser Zeitraum vorzugsweise durch die Entwickelung der monodelphen Säugethiere cha- irakterisirt ist, sowie durch die reichliche Entwickelung der Angiosper- men, so können wir ihn demnach auch als das Zeitalter der Säuge- tthiere oder der Angiospermen bezeichnen. Das anthropolithische Zeitalter oder die Quartär-Zeit. Vom Beginn der pleistocenen Zeit bis zur Jetztzeit. Mit der Entwickelung des Menschen aus catarrhinen Primaten Ibeginnt dieser letzte Abschnitt der Erdgeschichte, welcher bis zur Ge- ^genwart reicht. Während der menschlichen Existenz wurden die post- ipliocenen oder pleistocenen (diluvialen) und die recenten (alluvialen) i-Schichten abgelagert. Man kann diese verhältnissmässig sehr kurze >Zeit nach dem ganz überwiegenden Einfluss, welchen der Mensch durch ifseine Cultur auf die Umgestaltung der Erdrinde ausgeübt hat, nur das -»Zeitalter des Menschen oder der Cultür nennen. « 318 Begriff und Aufgabe der Phylogeuie. VI. Uebersicht der versteinemngsführenden Schichten der Erdrinde. Terrai/is Formationen Synonyme der Formationen Primordiale T e r r a i n s oder archolithische (arehozoische) Sehichtengruppeii Prim är e Terrains oder paläolithische (paläozoische) Scliichtengruppeii S e c u n d ä r p Terrain s oder mesolithische (mesozoische^ Schichtengruppen Tertiäre Terrains oder caenolithische (caenozoische) Schichtengruppen Quartär e Terrains oder anthropolithische (anthropozoische) Schiohtengruppen I. L a u r e n t i s c h e s II. C a m b r i s c h e s i:; \ 3- I 4. 5. III. Silurisches ' 6. I 7. { . i 8. IV. Devonisches (Altrothsand) Vll. Trias VIII. Jura IX. Kreide X. Eocen (Alttertiär) 9. V. Carbonisches (11 (SteinkoUe) Ii2. VI. Permisches jl3. (Penäisches) ( 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. ;22. )23. || 24. 25. 126. I27. '28. 29. 30. XI. Miocen (Mitteltertiär) XII. Pliocen (31 (Neu tertiär) (32 Xm. Pleistocen (33 (Postpliocen) 1 34 XIV. Kecent 35 (Alluvium) Ottmva Labrador Longmynd Potsdam Landeilo Landovery Ludlow Linton llfracomhe Pilton Kohlenkalk Kohlcnsand Neuroilutand Zechstein Buntsand Muschelkalk Kcupcr Lias Baih Oxford Portland Wealden Neocom Griinsand Weisskreide Londonthon Grobkalk Gyps Limburg Fahrn Subapennin ^rvern Glacial Postglacial Recent Unterlaurentische Oberlaurentische Unt e rcambr i sehe Obercambri^che üntersilurische Mittelsilurische Obersilurische Unterdevonische Mitteldevonische Oberdevonische Unter carb oni s ch e Obercarbonische Unterpermische Oberpermische Untertriassische Mitteltriassische Obertriassische Liassische Unteroolithische Mitteloolithische Oberoolithische Wälder-Formation Untercretacisch e Mittelcretacisch e \Obercretacische Untereocene Mitteleocene Obereocene Untermiocene Obermiocene ünterpliocene Oberpliocene Unterpleistocene Oberpleistocene Alluvium. VIL Uobersicht der paläontologischeu Perioden. 319 VII. Uebersicht der paläontologischeu Perioden oder der grösseren Zeitabsclmitte der orgauisclien Erdgeschichte. I. Erster Zeiü-aum: Archozoisches Zeitalter. Primordial-Zeil. (Archolithischer Zeitriium. Zeitalter der Lcptocardier oder der Algen.) Aeltere \ 1. Erste Periode: Antelaurentisclie Zeit (Autogonie-Zeit) Primordialzeit ) 2. Zweite Periode: Laurentische Zeit (Eozoon-Zeit) Mittlere ) 3. Dritte Periode: Antecambrische Zeit Primordialzeit ' 4. Vierte Periode: Cambrische Zeit Neuere ) 5. Fünfte Periode: Antesilurische Zeit Primordialzeit ) 6. Sechste Periode: Silurische Zeit. U. Zweiter Zeitraum : Paläozoisches Zeitalter. Primär-Zeü. (Paläolithischer Zeitraum. Zeitalter der Fische oder der Prothallophyten.) Aeltere Primärzeit Mittlere Primärzeit Neuere Primärzeit 7. Siebente Periode : 8. Achte Periode : j 9. Neuute Periode: '10. Zehnte Periode: 11. Elfte Periode: 12. Zwölfte Periode: Antedevouische Zeit (Vordevon-Zeit) Devonische Zeit (Eothsand-Zeit) Antecarbonische Zeit (Vorkohlen-Zeit) Carbonische Zeit (Kohlen -Zeit, Stein- kohlen-Zeit) Autepermische Zeit (Vorperm-Zeit) Permische Zeit (Kui^ferschiefer-Zeit). III. Dritter Zeitraum: Mesozoisches Zeitalter. Secundar-Zeit. (Mesolithischer Zeitraum. Zeitalter der Reptilien oder der Gymnospermen.) Aeltere Secundärzeit Mittlere Secundärzeit Neuere Secundärzeit 13. Dreizehnte Periode : 14. Vierzehnte Periode: 15. Fünfzehnte Periode : Sechzehnte Periode : Siebzehnte Periode : Achtzehnte Periode: jl5. »16. 17. 18. Antetriassische Zeit (Vorsalz-Zeit) Triassische Zeit (Salz-Zeit) Antejurassische Zeit (Vorlias-Zeit) Jurassische Zeit (Lias-Zeit und Oolith- Zeit) Antecretacische Zeit (Vorki-eide-Zeit) Cretacische Zeit (Kreide-Zeit). IV. Vierter Zeitraum : Caenozoisches Zeitalter. Tertiär-Zeit. (Caenolitbischer Zeitraum. Zeitalter der Säugethiere oder der Angiospermen.) Aeltere Tertiärzeit Mittlere Tertiärzeit Neuere Tertiärzeit 19. Neunzehnte Periode: 20. Zwanzigste Periode: !21. Einundzwanzigste Periode: 22. Anteocene Zeit Eocene Zeit Antemiocene Zeit Miocene Zeit Antepliocene Zeit Pliocene Zeit. 22. Zweiundzwanzigste Periode : 23. Dreiundzwanzigste Periode: 24. Vierundzwanzigste Periode : V. Fünfter Zeitraum: Anthropozoisches Zeitalter. Qimrtür-Zeit. (Anthropolithischer Zeitraum. Zeitalter des Menschen und der Cultur.) Aeltere !25. Fünfundzwanzigste Periode : Glacial-Zeit 26. Quartärzeit (Affenmen- schenzeit) Neuere Quartärzeit (Culturzeit) Sechsundzwanzigste Periode : Postglacial-Zeit 27. Siebenundzwanzigste Periode: Dualistische Cultur-Zeit 28. Achtundzwanzigste Periode: Monistische Cultur-Zeit. 320 Begriff und Aufgabe der Phylogenie. VIII. Epacme, Acme, Paracme. Aufbildiing (JntiplasisJ , Umbildung (Mctaplasis) und Rückbil- dung (Catriplasis) haben wir im sechzehnten Capitel (S. 18) drei ver- schiedene Stadien der Entwickelung genannt, welche wir allgemein in der Genesis der organischen Individuen unterscheiden konnten. Den Charakter dieser drei individuellen Entwickelungs - Perioden haben wir im siebzehnten Capitel (S. 76) schärfer zu bestimmen versucht. Wir kommen hier auf jene Bestimmung zurück, weil die vollständige Paral- lele zwischen der Ontogenie und Phylogenie auch in dieser Beziehung nicht fehlt, und weil auch die organischen Arten und Stämme in glei- cher Weise wie die organischen Individuen, die drei Stadien der Auf- bildung, der Umbildung und der Rückbildung zu durchlaufen haben. Wie die gesammte Entwickelungs - Bewegung der Arten und der Stämme bisher nur selten als contiuuirhche Bewegungs-Erscheinung er- kannt, und noch seltener in ihrem hohen Interesse gewürdigt worden ist, so gilt dies auch von den verschiedenen Stadien oder Hauptperio- den ihrer Entwickelung. Allerdings mussten schon die ersten Anfänge der paläontologischen Statistik zu der Ueberzeugung führen, dass die verschiedenen Gruppen des Systems hinsichtlich der Dauer und Aus- dehnung ihrer Entwickelung sich zu verschiedenen Zeiten der Erdge- schichte sehr verschieden verhalten haben, und dass das Zahlenver- häitniss der Arten und der sie repräsentirendeu Individuen in den ver- schiedenen Gruppen des Thier- und Pflanzenreichs sich zu allen Zei- ten sehr verschieden gestaltet hat. Die Zunahme und Abnahme der Artenzahl und der Sippenzahl in den einzelnen Familien, Ordnungen und Classen ist daher schon seit längerer Zeit Gegenstand der Auf- merksamkeit und der statistischen Bestimmung der Paläontologen ge- wesen, und man hat namentlich sehr oft die Zeitdauer der einzelneu Gruppen, sowie ihre Zunahme und Abnahme an Zahl, der Gattungen und Arten in den verschiedenen Perioden der Erdgeschichte graphisch durch doppelkegelförmige Linien darzustellen versucht. Insbesondere ist Bronn in seiner „Geschichte der Natur" und in seinen trefflichen „Untersuchungen über die Entwickelungs-Gesetze der organischen Welt" bemüht gewesen, diese historische Zunahme, Dauer und Abnahme der Artenzahl und Sippenzalil in den verschiedenen Abtheilungen des Thier- und Pflanzen -Reichs festzustellen. Indessen musste diesen Bemühun- gen so lange ihr bestimmtes Ziel und ihr causaler Leitstern fehlen, als nicht der leitende Grundgedanke der Descendenz - Theorie den ge- nealogischen Zusammenhang der „verwandten" Organismen als die Ur- sache ihrer paläontologischen Erscheinungsweise nachgewiesen hatte. Nur von diesem Standpunkte aus können wir begreifen, warum die Arten , Gattungen , Classen u. s. w. , kurz alle die verschiedenen Kate- VI. Epacme, Acme, Paracme. 321 -orieen des Systems, von der Varietät bis zum Stamm hinauf, überall ebenso verschiedene Stadien ihrer Eutwickelung unterscheidenlassen, wie die einzelneu Individuen während der Zeit ihrer individuellen Existenz. Wie wir aber zeigten, dass wir unter Ontogenese die gesammte Reihe von Formveränderungen begreifen müssen, welche der indivi- duelle Organismus während der ganzen Zeit seiner individuel- len Existenz durchläuft, so müssen wir hier dasselbe für die Phy- logenese wiederholen. Auch die Eutwickelung der Arten und der Stäm- me, und gleicherweise jeder anderen Kategorie des Systems, umfasst ebenso wie diejenige der physiologischen Individuen die ganze Reihe von Fomveräuderungen, welche jede dieser genealogischen Kategorieen während der gesammten Zeit ihrer Existenz durchläuft. Jede dieser Kategorieen hat eine beschränkte Zeitdauer ihrer Existenz, und diese wird durch den Kampf um das Dasein bestimmt. Die drei Stadien der Aufbildung, Umbildung und Rückbildung sind nun zwar in der Phylogenese ebenso wie in der Ontogenese all- gemein zu unterscheiden; indessen ist es dort ebenso wenig als hier möghch, dieselben scharf zu charakterisiren , und durch scharfe Grenz- linien von einander zu scheiden. Vielmehr gehen die Stadien der phylogenetischen ebenso wie die der ontogenetischen Entwicklung all- mählich in einander über, und oft sind selbst ihre ungefähren Gren- zen nur sehr unsicher zu bestimmen. Dennoch ist die Unterscheidung derselben von grossem Vortheil, und sogar durchaus nothwendig, um eine klare Uebersicht über das phylogenetische Verhältuiss der einzel- nen Gruppen zu einander und zum ganzen Stamme zu erhalten. Um die Verwechselung der phylogenetischen Entwickelungs - Sta- dien mit den ontogenetischen zu vermeiden , erscheint es passend, die- selben durch besondere feststehende Ausdrücke zu bezeichnen, welche den letzteren entsprechen. Wir nennen das erste Stadium der Phy- logenese, welches der ontogenetischen Anaplase gleich steht, ihre Auf- blühzeit (Epacmc), das zweite, welches der Metaplase entspricht, die Blüthezeit (Aciuc), und das dritte, welches der Cataplase corre- spondirt, die Verblühzeit (Paracme). 1. Die Aufblühzeit (Ejyactnc), das erste Stadium der Phylo- genese, umfasst diejenige Zeit in der Entwickelung der Arten und der Stämme, welche von ihrer Entstehung bis zu ihrer Blüthezeit reicht. Sie entspricht also dem Jugendalter (J/irenlus, Adolescentia) oder der Aufbildungszeit (Anaphtsls, Enolutlo), welche wir oben als das erste Stadium der individuellen Entwickelung charakterisirt haben (S. 76). Als diejenige physiologische Entwickelungs- Function, welche vorzugsweise für dieses Stadium der Ontogenese characteri- stisch und bedeutend ist, haben wir daselbst das Wachsthum be- zeichnet, und ebenso werden wir das Wachsthum auch als den cha- Uaeckel, Generelle Moipholo^e, II. 91 322 Begriff und Aufgabe der Phylogenie. rakteristischcm Process der phylogcnetisclien Epacmc betrachten können. Die epac mastische Crescenz der Arten und Stämme besteht ebenso wie das anaplastische Wachsthum der Bionten, in einer Aus- dehnung und Grössenzunahme. Bei den Arten wächst die Anzahl der Individuen und bei den Stämmen die Anzahl der subordinirten Ka- tegorieen (Classen, Ordnungen etc.), welche dieselben zusammensetzen. II, Die Blüthezeit (Acwe). das zweite und mittlere Stadium der Phylogenese, begreift diejenige Zeit in der Entwickelung der Ar- ten und Stämme, welche zwischen der Epacme und der Paracme liegt. Sie correspondirt mithin dem Reifealter (MatariUis, Adul- ttjsj oder der Umbildungszeit (Mrlaplasis, Transcohdio) , wel- che wir oben als das zweite Stadium der individuellen Entwickelung abgesteckt haben (S. 78). Diejenige physiologische Entwickelungs- Function, welche vorzugsweise dieses Stadium der Ontogenese beherrscht, ist die Differeuzir ung oder Divergenz der Form, und ebenso können wir diesen Process auch als die wesentlichste Function der phylogenetischen Acme betrachten. Die acmastische Differenzi- rung der reifen Arten und Stämme besteht, ebenso wie die meta- plastische Divergenz der Bionten, weniger in einer quantitativen als in einer qualitativen Vervollkommnung, und vorzugsweise in der viel- seitigen Anpassung an die verschiedenartigsten Existenzbedingungen. Durch diese Differenzirung der Arten bilden dieselben ein reiches und vielstrahliges Varietätenbüschel, während durch die Divergenz der Stämme eine grosse Anzahl von neuen Gruppen entstehen. III. Die Verblühzeit (Paracme), das dritte und letzte Sta- dium der Phylogenese, umfasst diejenige Zeit in der Entwickelung der Arten und Stämme, welche vom Ende der Blüthezeit bis zum Ende ihrer Existenz reicht. Sie entspricht also dem Gr eisen alt er (De- ll oro.scent'ia , SeiiUiUin) oder der Rückbildungszeit (Cataplasis. fnroht(io), welche oben als das dritte und letzte Stadium der indi- viduellen Entwickelung geschildert worden ist (S. 79). Als diejenige physiologische Entwickelungs-Function, welche vorzugsweise in diesem Stadium der Ontogenese herrscht, haben wir daselbst die Dege- neration nachgewiesen, und dieser Process charakterisirt ebenso auch die phylogenetische Paracme. Die parac mastische Degenera- tion der Arten und Stämme besteht ebenso wie die ontogenetische Entbildung der Bionten , zunächst in einer Beschränkung und Vermin- derung ihres physiologischen und in Folge dessen auch ihres morpho- logischen Bestandes und Vermögens. Bei den Arten nimmt die Zahl der Individuen' ab, indem sie entweder aussterben oder in andere Arten übergehen. Bei den Stämmen nimmt die Zahl aller Kategorieen, und der sie vertretenden Bionten ab, bis zum vollständigen Aus- sterben. I. Allgemeine Kritik des Speciesbegi-iffes. 323 Zweiiiildzwaiizigstes Capitel. Entwickelung'Sgeschichte der Arten oder Speeles. (Jifaturgeschichte der organischen Arten oder der genealogischen Individuen zweiter Ordnung.) „Die Idee der Metamorphose ist gleich der vis centrifuga und würde sich ins Unendliche verlieren, wäre ihr nicht ein Gegengewicht zugegeben: ich meine den Spe cification s tri eb , das zähe BehaiT- lichkeitsvermögen dessen, was einmal zur Wirklichkeit gekommen, eine vis centripeta, welcher in ihrem tiefsten Grunde keine Aeus- serliehkeit etwas anhaben kann." Goethe. I. Allgemeine Kritik des Species- Begriffes. Seitdem Linn 6 vor 130 Jahren in seinem Sysfewa nntnrae zum ersten Male die ausserordentlichen Vortheile gezeigt hatte, welche die von ihm eingeführte binäre Nomenclatur für die übersichtliche Regi- stratur der Organismen bietet, und seitdem die Einordnung der ver- schiedenartigen Formen in das System, und ihre Benennung mit Ge- nus- und Species- Namen mehr und mehr Hauptbeschäftigung der so- genannten „Systematik" geworden war, hat es nicht an vielfältigen Versuchen gefehlt, das eigentliche Wesen der Art oder Species in sei- nem eigenthümUchen Werthe zu erkennen, und den Begriff derselben zu bestimmen. Die Geschichte dieser grösstentheils verfehlten Versu- che ist für die Geschichte der gesammten organischen Morphologie von grosser Bedeutung. Denn einerseits hat das zur allgemeinen Herr- schaft gelangte Dogma von der Constanz der Species die irrthümlich- sten allgemeinen Anschauungen in allen einzelnen Zweigen der mor- phologischen Botanik und Zoologie hervorgerufen. Andererseits aber zeigen sich gerade in der Art und Weise, in welcher man jenes Dog- ma aufgebaut und zum Fundament aller generellen morphologischen Reflexionen erhoben hat, auf das Klarste alle die principiellen Fehler und methodologischen Irrwege, welche bisher in allen Zweigen der organischen Morphologie die Geltung der allein richtigen monistischen 21* 324 EntwickelungsgeBchichte der Arten oder Speeles. Naturanschauung, und somit auch die Erkenntnis der allein maassge- benden causal- mechanischen Naturgesetze gehindert haben. Die blinde Dogmatik und der Mangel an Kritik, die einseitige Vertiefung in der isolirenden Analyse und der Mangel an vergleichender Synthese, das unklare Haschen nach teleologischen Schein - Gründen und die vorur- theilsvolle Vernachlässigung der wirklichen mechanischen Gründe - kurz alle die Mängel und Fehler, welche bisher die Morphologie der Organismen gehindert haben, sich auf den objectiven monistischen Standpunkt aller übrigen Naturwissenschaften zu erheben, und wel- che sie in der Knechtschaft subjectiver dualistischer Vorurtheile erhalten haben — alle diese Mängel und Fehler sind auf das engste mit dem fundamentalen Dogma von der absoluten Individualität und Constanz der Speeles verknüpft, und durch dasselbe grösstentheils unmittelbar bedingt. Der allgemeine Mangel an natürlicher Logik, und über- haupt an gesunder Philosophie, welcher das Grundübel der ganzen organischen Morphologie bildet, zeigt sich daher auch nirgends so auffallend wie in der Species - Frage. Obwohl desshalb eine kritische Entwickelungs - Geschichte der Species -Dogmatik für die gesammte Morphologie der Organismen von hohem Interesse ist , würde es uns doch hier viel zu weit führen, wollten wir alle verschiedenen Ansichten auch nur der hervorragend- sten Morphologen über die Species einer allgemeinen Besprechung un- terziehen und den verwickelten Knäuel unklarer und widersprechender Vorstellungen darüber entwirren. Dies muss einer zukünftigen Ge- schichte der Descendenz-Theorie vorbehalten bleiben. Wir beschränken uns vielmehr hier darauf, den ganz verschiedenartigen Inhalt und Umfang des Species-Begrififes hervorzuheben, welchen derselbe, von mor- phologischem, physiologischem und genealogischem (morphogenetischem) Gesichtspunkte aus bestimmt, besitzt. Das Wichtigste, was in dieser Beziehung zunächst zu beachten ist, finden wir in dem Umstände, dass der praktische Gebrauch desSpecies-Begriffes sich meistens ganz unabhängig von der theoretischen Bestimmung desselben erhielt. Die alte, authenti- sche Definition Linne's, welcher den Species-Begriff nicht allein zuerst theoretisch aufstellte, sondern auch mit dem glänzendsten Erfolge praktisch anwandte, lautete: „Species tot sunt diversae, quot diver- sae formae ab initio sunt creatae." Diese Definition ist offenbar rein speculativer Natur, auf das eingewurzelte theoretische Schöpfungs- Dogma gegi-ündet, und ganz unabhängig von der praktischen, auf die Vergleichung concreter Individuen und ihre Unterscheidung durch con- stante Merkmale gestützten Bestimmung der Arten. Mehr in Verbin- dung mit der letzteren wurde späterhin die theoretische Species -De- finition durch Cuvier gebracht, welcher nächst Linn 6 den grössteu I. Allgemeine Kritik des Species- Begriffes. 325 und nachhaltigsten Einfluss auf die Systematik ausübte. Nach Cuvier ist die Species „la r6union der individus descendant 1' un de 1' autre et des pareuts coramuns, et de ceux, qui leur ressembleut autant, qu' Iis se ressemblent entre eux." In dieser Bestimmung, an welche sich die meisten späteren mehr oder minder eng anschliessen , mvd offen- bar zweierlei für die zu einer Species gehörigen Individuen verlangt, erstens nämlich ein gewisser Grad von Aehnlichkeit oder aainähernder Gleichheit der Charaktere, und zweitens ein verwandtschaftlicher Zu- sammenhang durch das Band gemeinsamer Abstammuiig. Von den späteren Autoren ist bei den zahlreichen Versuchen , die Definition zu vervollkommnen, bald mehr auf die genealogische Blutsverwandtschaft aller Individuen einer Art, bald mehr auf ihre morphologische Ueber- einstimmung in allen wesentlichen Charakteren Rücksicht genommen worden. Im Allgemeinen kann man aber behaupten, dass bei der prak- tischen Anwendung des Artbegi'iffs , bei der Unterscheidung und Be- nennung der einzelnen Species, fast immer nur das letztere Moment zur Geltung gelangte, das erstere dagegen ganz vernachlässigt wurde. Späterhin wurde zwar die genealogische Vorstellung von der gemein- samen Abstammung aller Individuen einer Art noch durch die physio- logische Bestimmung ergänzt, dass alle Individuen einer Art mit ein- ander eine fruchtbare Nachkommenschaft erzeugen können, während die sexuelle Vermischung von Individuen verschiedener Arten gar keine oder nur eine unfruchtbare Nachkommenschaft liefert. Indessen war man in der systematischen Praxis allgemein vollkommen zufrieden, wenn man bei einer untersuchten Anzahl höchst ähnlicher Individuen die Uebereinstimmung in allen wesenthchen Charakteren festgestellt hatte, und frug nicht weiter danach, ob diese zu einer Art gerechne- ten Individuen in der That gemeinsamen Ursprungs und fähig seien, bei der Begattung mit einander eine fruchtbare Nachkommenschaft zu erzeugen. Vielmehr kam diese physiologische Bestimmung natür- licherweise bei der praktischen Unterscheidung der Thier- und Pflan- zen-Arten eben so wenig in Anwendung, als die vorausgesetzte ge- meinsame Abstammung von einem und demselben Eltern - Paare. An- dererseits unterschied man ohne Bedenken zwei nächstverwandte For- men als zwei verschiedene „gute Arten" , sobald man bei einer unter- suchten Anzahl von ähnlichen Individuen eine constante Differenz, wenn auch nur in einem verhältnissmässig untergeordneten Charakter, nachgewiesen hatte. Auch hier kümmerte man sich nicht darum, ob die beiden verschiedenen Reihen wirklich nicht von gemeinsamen Vor- eltern abstammten, und wirklich mit einander keine oder doch nur unfruchtbare Bastarde zeugen konnten. Aus diesen einfachen Gründen, und besonders aus der Unmög- lichkeit, die gemeinsame Abstammung und die Fähigkeit zur Erzeu- 326 Eiitwickelungsgeschichte der Arten oder Speeles. gung fruchtbarer Nachkommen bei allen Individuen derselben Speeles nachzuweisen, wurde dann die offenbare Trennung zwischen der theo- retischen und der ganz davon unabhängigen praktischen Un- terscheidung der Speeles mehr oder weniger unbewusst den Systematikern zur Gewohnheit. Theoretisch wurde die Art be- stimmt als der Inbegriff aller Individuen verschiedenen Geschlechts, die mit einander eine fruchtbare , die Gattung als Inbegriff derer, die keine oder eine unfruchtbare Nachkommenschaft erzeugen. Dabei setzte man gewöhnlich stillschweigend voraus , dass alle Individuen ei- ner Art ursprünglich von gleichen, alle Arten einer Gattung dagegen von verschiedenen Voreltern abstammten. Ebenso wurde die Unver- änderlichkeit oder Constauz der Art in der Zeit vorausgesetzt. Bei der praktischen Speeles - Unterscheidung dagegen wurde diese Vor- aussetzung gewöhnlich nicht im mindesten berücksichtigt und man hielt sich bloss an die Uebereinstimmung oder die Differenz der so- genannten „wesentlichen" Charaktere in den grade zur Bestimmung vorliegenden und zu vergleichenden Exemplaren. Leichtere und auch oft bedeutende, aber inconstante Differenzen zwischen denselben wur- den nicht als Merkmale von besonderen Arten, sondern nur von Ab- arten oder Spielarten (Varietäten, Subspecies) angesehen. Die Probe mit der Fortpflanzungsfähigkeit wurde nicht gemacht. Auch wäre es ja in der That in den allermeisten Fällen , wie z. B. bei der Feststel- lung der Speeles von nicht lebend zu beobachtenden, sowie von allen ausgestorbeneu Thieren , ganz unmöglich gewesen , die verlangte Probe mit der gleichartigen Fortpflanzung anzustellen , und die Abstammung von einem einzigen Elternpaare empirisch nachzuweisen. Dass aber auf diese Weise die erwähnten Voraussetzungen bald nur zu einem leeren Dogma ausarteten , welches bloss in den Handbüchern in Ermangelung einer besseren Definition der Speeles schulgerecht fortgeführt und all- gemein wiederholt wurde, liegt auf der Hand. Jede eingehende kriti- sche Untersuchung zeigt, dass in der zoologischen und botanischen Praxis allein die morphologische Rücksicht auf die unterscheidenden sogenannten specifischen Charaktere zur Geltung kam, nicht aber das genealogische Kriterium, gezogen aus der Voraussetzung gemeinsamer Abstammung, und eben so wenig die physiologische Erwägung, dass zwei verschiedene Speeles keine fruchtbare Nachkommenschaft mit ein- ander erzeugen können. Dass dieser Mangel an Zusammenhang zwischen der theoretisch- physiologischen und der praktisch- morphologischen Bestimmung der Speeles den Werth der ersteren ganz illusorisch machte, wurde selt- samer Weise von den meisten zoologischen und botanischen Systema- tikern gar nicht bemerkt. In dem Eingange zu den Handbüchern wurde immer wieder gewissenhaft die theoretische Definition wieder- I. Allgemeine Kritik des Speeles - Begriffes. 327 holt, dass zu einer Art alle Individuen (und nur diese!) gehören, welche von gemeinsamen Voreltern abstammen und welche bei der sexuellen Vermischung eine fruchtbare Nachkonnnenschaft erzeugen. In der That aber wurde die Ilichtigkeit dieser Bestinnnung niemals wirklich geprüft, vielmehr die Unterscheidung und Benennung der Speeles lediglich durch Ermittelung der Uebereinstimniung m allen „we- sentlichen" morphologischen Charakteren bewirkt. Die schlimmen Folgen für die gesammte Systematik, besonders die Verwirrung und Haltlosigkeit, welche hieraus entstanden, zumal Nie- mand genau festsetzte, welche unterscheidenden Charaktere „wesent- liche oder specifische" seien, welche nicht, hat der verdienstvolle Re- formator der thierischen Entwickelungsgeschichte, C.E. von Bar, schon vor 45 Jahren höchst treffend geschildert ^ ). Sein scharfer kritischer 1) „Liune's Gedanke, aUeu unter sich ähnlichen Naturproducteu einen gemein- schaftlichen Namen, und jedem für sich einen eigenen dazu zu geben, so dass der Dop- pelname eines Körpers mit der ersten Hälfte seine Verwandten, mit der zweiten seine eigene Individualität bezeichnet, dieser Gedanke aUein verdiente Uusterbhchkeit , und mus.te sie zu einer Zeit erwerben, wo lichtvolle Uebersicht und Entfernung der Namen- ver«-irrung der sehnlichste Wunsch war. Linne war weit entfernt, die ktinsthche An- einander - Reihung der einzelnen Formen (Systematik) für den höchsten Zweck zu halten, und unzweideutig spricht er sich dagegen aus; allein jenes Systema naturae, das er selbst entworfen, und als Basis für alle Zeiten hingestellt hatte, musste ihn uothwendiger Weise am meisten beschäftigen, und er verdient unseren grössten Dank dafür, da er stets sich bemühte, die noth wen dige Kritik anzuwenden, und nichts aufnahm, was er nicht selbst gesehen , oder worüber er nicht gründliche und ausführliche Nachrichten zu haben glaubte. Wenn aber Linne 's Streben nach den Verhältnissen der Wissen- schaft nothwendig auf Systematik , und besonders auf künstliche Systeme gerichtet sein musste (denn nur diese konnten dem Bedürfnisse schneUe Abhülfe thun), so blendete das grosse Ansehen dieses Mannes seine zahlreichen Schüler so sehr , und der Gewinn eines Systems war so gross, dass nunmehr das für Zweck galt, was doch nur Mittel sein soll te. „So sehen wir denn das Verzeichniss der Arten organischer Körper zu einer unge- heuren Ausdehnung anwachsen, die zu übersehen kein Sterblicher mehr vermag. Wie viel Arbeit , wie viel Menschenleben musste daran gesetzt werden , um bis dahin zu ge- langen. Bedenkt man , wie wenig die schwache Kraft des Einzelnen an einem solchen Bau fördert, so muss man Eechenschaft fordern über den Gewinn, den so gemeinschaftliche Opfer der menschlichen Cultur brachten. Ach ! Es war ein geringer Preis, für den man kämpfte ! V ergr öss er un g des angefaug.enen Registers der Naturkörper! Was helfen hundert Rietgräser, die man mehr aufzählen kann, wenn man über ihre Benutzung oder ihren Werth in der O eko n (»ni e d er N a tu r nichts an- geben kann? Wozu frommt es, eine Fliege mit perlfarbenem Steissfleck von einer ähn- lichen mit kreideweissem Fleck auf demselben edlen Körpertheil sorgsam unterscheiden, mit gelehrten Kunstwörtern beschreiben, und prächtig in Kupfer stechen? Das kann doch nur Werth haben, wenn es als Mittel zu einem anderen, wahren Gewinn gebenden Zweck dient! „So ist denn das Systema naturae, anfangs als segensreiche Quelle aus der Hand seines Schöpfers hervorgegangen, dann, angeschwollen durch unübersehbare Zuflüsse, ver- unreinigt durch unerforschliche Irrthümcr, ein Sti-om geworden, der alle Arbeit der Na- turforscher zu vernichten droht. Die Nachwelt wird es nicht glauben, dass unser Zeit- 328 Eatwickelungsgeschichte der Arten oder Species. Blick erkannte vollkommen richtig das Grundübel, welches diese chao- alter so hingerissen sein konnte lur dieses Verzeichniss der Arten, oline Rechenschaft ablegen zu können, was überhaupt eine „Art" der organischen Körper sei. So paradox es klingt, so kann ich doch nicht umhin, es als meine Ueberzeugung aus- zusprechen, dass in unseren Tagen Niemand dies vermöge. Ich habe mich bemüht, die Definition hierüber bei den berühmtesten Botanikern und Zoologen aufzusuchen. Statt sie einzeln anzuführen, bemerke ich, dass sie sich sämmtlich auf folgende drei Haupt- bestimmungen zurückführen lassen; I. Was sich unter einander befruchten kann, bildet eine Art. Diese Bestimmung beruht auf der Erfahrung, dass gewöhn- lich nur lebende Wesen von demselben äusseren und inneren Bau sich paaren, eine Er- fahrung, die nicht mehr als entscheidend angesehen werden kann, seitdem die Beob- achtungen vo.m Gegentheil sich zu häufen anfangen." (Hieraufzählt Bär zahlreiche sicher constatirte Beispiele von fruchtbarer Paarung verschiedener Arten und unzweifelhafter Bastardzengung auf [1. c. S. 26, 27].) „II. Die Bemerkung, dass äussere Verhältnisse, als Lebensart, Clima u. s.w. die Form der Pflanzen und Thier« ein wenig verändern, diese Modificationen aber bei veränderten äusseren Verhältnissen sich wieder verlieren, gab zu einer anderen Begränzung der Arten Veranlassung. „„Speeles tot numeramus, quot diversae formae a principio sunt creatae."" Abgesehen davon, dass fruchtbare Bastardzeugung dabei stillschweigend geleugnet wird, nimmt mau als ausgemacht an, was erst erwiesen werden sollte, dass alle Pflan- zen und Thiere, wie wir sie jetzt kennen, ursprünglich entstanden, nicht Umänderungen früher bestehender Formen sind. III. Organische Körper, die in wesentlichen Merkmalen mit einander übereinstimmen, muss man zu einer Art zäh- len, wenn sich auch Verschiedenheiten in unwesentlichen Dingen, als Farbe, Grösse u. s. w. finden So lange aber dieser Satz nicht bestimmter ausgedrückt werden kann , ist er nicht im Stande, eine Norm für die Praxis abzugeben; denn da „„Wesentlich"" und „„weni- ger Wesentlich"" relativ ist, so bleibt es immer der Willkür der Naturforscher überlas- sen , wie weit sie die Grenzen der Species ausdehnen wollen. „Gesetzt aber auch, diese oder eines der früher berührten Kennzeichen für Species wären wahr, so sind sie doch meistens nicht anwendbar bei Aufstellung neuer Arten, und lassen daher fast immer ungewiss. In der That scheint die Natur mit ihren For- schern ein Spiel zu treiben, da diese gerade in den gewöhnlichsten Dingen die grössten Schwierigkeiten finden. Für die tausendjährigen treuen Begleiter des Menschen-Geschlechts, die Hausthicre und Getreide- Arten , wollen sich die specifischen Charaktere immer noch nicht fest bestimmen lassen. Welches ist die Diagnose des Hundes? Warum sollen, die Dogge und das Windspiel zu einer Art gehören , wenn man den Unterschied der Katzen- Arten nach den Flecken der Haut bestimmt? Die Hunde pflanzen sich alle unter ein- ander fort, antwortet man. Ist aber der Versuch mit dem Jaguar und Panther auch gemacht worden ? „Aus dem bisher Gesagten lässt sich wohl die allgemeine Folgerung ziehen, dass wir auf dem Wege der blossen Beobachtung iiicht tief ins Innere der Natur dringen können, und dass, um richtig beobachten zu kön- nen, wir einer Einsicht in die Gesetze der organischen Bildung, als eines leitenden Princips bedürfen. Aus den endlosen Versuchen, auf em- pirischem Wege zu einer allgemein gültigen Bestimmung des Umfangs der Arten zu ge- langen, und den vielen Reden und Gegenreden darüber sollte man sich endlich überzeu- gen , dass auf diesem Wege das Ziel nicht zu erreichen ist, und dass nur die Speculation (die jedoch, wie überall in der Naturwissenschaft, der Beobachtung als Materials nicht entbehren darf) uns die richtige Erkenn t- n i s s geben kann." C. E. v. B ä r , Zwei Worte über den jetzigen Zustand der Natur- geschichte. Königsberg 1821. I. AUgemeiue Kritik des Species- Begriffes. , 329 tische Confusion herbeigeführt hatte, den Mangel einer gesunden Specula- tion, einer klaren und logischen Synthese der analytisch gesammelten empirischen Beobachtungen. Seit jener Zeit ist aber dieses Uebel in be- ständiger Zunahme gewachsen, und seine damahgen Vorwürfe gelten heute hl verstärktem Maasse. Der Grundirrthum der meisten Mor- phologen liegt noch heutigen Tages, ebenso bei anderen allgemeinen Fragen, wie bei der Species -Frage, darin, dass sie glauben, auf rein empirischem Wege und ohne philosophische Verstandes -Operationen, m allgemeinen Kesultaten und zu klaren Begriffsbestimmungen gelan- gen zu können. Die Vernachlässigung der Philosophie und die ge- dankenlose Anhäufung unverbundenen empirischen Roh -Materials rächt sich hier auf das empfindlichste und bringt die unsinnigsten Aeusse- rungen zu Tage. Viele Zoologen scheinen wirklich zu glauben, dass sie in ihren Museen Urtheile in Weingeist und ausgestopfte Begriffe besitzen, und ebenso scheinen viele Botaniker in dem glücklichen Wahne zu leben, dass ihre Herbarien nicht concrete Pflanzen -Indivi- duen, sondern unter der Pflanzen- Presse getrocknete Begriffe und Urtheile enthalten^). Alles, was wir in unserer methodologischen Einleitung (Bd. I, S. 63) über die nothwendige Wechselwirkung von Empirie und Philosophie, und über die ünentbehrlichkeit streng philosophischer Gehirn -Thätig- keit für jede zunächst bloss sinnlich vermittelte naturwissenschaftliche Untersuchung bemerkt haben, gilt in ganz besonderem Grade für die Species-Frage. Die verkehrten Vorstellungen und die gänzlich unwis- senschaftlichen Arbeiten der meisten sogenannten „reinen Systematiker" beweisen dies auf das deutlichste. Obgleich diese Species-Fabrikanten mit Unterscheidung und Benennung der Arten ihr ganzes Leben zubrin- gen, sind die meisten dennoch ganz ausser Stande, zu sagen, was sie selbst sich eigentlich unter „Species" denken. In ihren Versuchen, den Begriff derselben zu bestimmen , springt schlagend der unendliche Nach- theil in die Augen, welcher der einseitige Cultus der nackten Empirie und die völlige Vernachlässigung der Philosophie hervorrufen, Fehler, die neuerdings immer allgemeiner werden. Wir wiederholen ausdrück- lich, dass Empirie ohne Philosophie ebenso wenig „Wissenschaft" ist, als Philosophie ohne Empirie. Ein Berg von empirischen Thatsachen ohne verbindende Gedanken ist ein wüster Steinhaufen. Ein künst- liches System von philosophischen Gedanken ohne die reale Basis der thatsächUchen Erfahrung ist ein Luftschloss. Weder jener , noch dieses ist ein massives wissenschaftliches Lehrgebäude. Wie wir also den >) Als hervorragende Beispiele der beschränktesten Auffassung in dieser Beziehung verdienen vorzüglich die einschlagenden Arbeiten von Andj-eas W a g n e r hervorgehoben zu werden, z. B. sein Vortrag „zur Feststellung des Artbogriffes" in den Sitzungsbe- richten der Münchener Akademie, 1861, S. 308. 330 Entwickelunsgeschichte der Arteu oder Speeles. rein speciilativeu Philosoplien driugeudst die Erwerbung reicher empi- rischer Kenntnisse , so müssen wir den rein empirischen Naturforschern eben so dringend die Erwerbung philosophischen Verständnisses ans Herz legen. Wohin die Vernachlässigung des letzteren führt, zeigen uns die gedankenlosen und ohne jedes scharfe Urtheil , ohne jeden kla- ren Begriff geschriebenen Angriffe der sogenannten „exacten Empiriker" auf die Descendenz- Theorie und ihre Versuche, die Speeles als einen „rein empirischen Begriff" zu bestimmen Dass bei der Begriffsbestimmung der Speeles der unerlässhche Compass der strengen philosophischen Methode ebenso wenig als bei allen anderen allgemeinen natunvissenschaftlicheu Bestrebungen zu ent- behren ist, hat nächst Bär besonders Schleiden hervorgehoben, wel- cher auf, dem Gebiete der Botanik ebenso, wie der erstere auf dem der Zoologie, die grössten Verdienste um eine denkende und klare Behandlung der wichtigsten allgemeinen Probleme , und so auch dieser fundamentalen Frage hat. Schleiden hat insbesondere über die Be- ziehung der Speeles -Frage zu dem allgemeinen philosophischen Gesetze der Specification eine so treffliche Erörterung gegeben, dass wir die- 1) Wiv llihreu hier statt unzähliger Beispiele nur eines aus neuester Zeit an. Nach Giebel „spricht die Darwinsche Theorie aUen zoologischen Thatsachen Hohn. Sie wiU reine BegrifTc , Ideen materialisiren , denn die Arten , die Gattungen , die Familien , die Classcn e xis ti ren im Sy st em n ur b eg rifflich , b 1 o s s id eell als Ty p e n, und sie sollen nach Darwin als materieUe Individuen in der Urzeit existirt haben; wie nir- gends in der Vorwelt Misch - oder Uebergangs - Gestalten sich finden , so fehlen dieselben auch in der heutigen Pflanzen - und Thier - Reihe. — Man glaube doch nicht , dass man in den paar Merkmalen , welche unsere Balggelehrten in eine zwei ZeUen lange Diagnose zur Charakteristik ihrer Arten und Gattungen zusammenfassen , schon die ganze Wesen- heit, den vollen Begriff der Arten oder Gatüingen habe. — Die Darwinsche Theorie materialisirt in der plattesten Weise die abstractesten Begriffe der systematischen Zoologie und sieht in ihrer Blindheit nicht, dass diese Begriffe, diese spe c if i s ch e n , ge- nerischeu u. s. w. Wesenheiten wirklich realiter sichtbar und hand- greiflich existireu; die Entwickelungsgeschichte zeigt sie jedem , der sie sehen und verstehen kann. — Für uns gehört die Darwinsche Theorie mit der Tischrückerei und dem Od in ein und dasselbe Gebiet." (!!!) Giebel, Zeitschrift für die gesammten Na- turwissenschaften , Bd. XXVII, 1866, p. 53. Ein Commentar zu diesem erheiternden Verdammungs - Urtheil ist überflüssig. Man sieht, dass der Verfasser weder von „Typus", noch von „Wesenheit", weder von „Idea- lem" , noch von „Eealem" irgend eine klare Vorstellung besitzt. Er hat weder einen Begriff vom „Begriff" , noch eine Idee von der „Idee". Alles geht bunt durch einander. Und doch ist dieser confuse Wirrwarr noch lange nicht das Schlimmste ! Wir führen ihn nur deshalb an, weil Giebel ge^viss zu den „kenntnissreichsteu" Zoologen gehört, und sowohl „paläontologische" als „zoologische" Namen und Formen in bewundernswür- diger Masse im Kopfe hat. Nur Schade, dass diese Namen keine Begriffe und diese Formen keine Vorstellungen sind ! Dies Beispiel zeigt schlagend . dass auch die grösste Masse von thatsächliche.i „Kenntnissen" nichts hilft, wenn dieselbe als rohe und unbe- hauene Bausteine unverbunden neben einander liegen , und wenn jede philosophische Ver- bindung von Begriffen ebenso wie jede klare Begriffs - Bildung selbst fehlt. n. Der morphologische Begriff der Species. 331 selbe hier wörtlich folgen hassen^): „Fragen wir nach dem charakte- ristischen Merkmale des Begriffs „Art" bei organischen Wesen, so kann uns mir folgende Betrachtmig leiten. Das Gesetz der Spe- cification ist eigentlich subjectiven Ursprungs; in der Art und Weise, wie sich nothwendig unsere Begriffe und Abstractionen bilden, liegt der Grund, weshalb wir nach allgemeinen Merkmalen Arten und Geschlechter als Gegenstände unserer geistigen Thätigkeit festhalten müssen, und denkend niemals zum Einzelwesen kommen können, welches nur anschaulich durch die bestimmte Eingrenzung in Raum und Zeit, durch das „Hier" erkannt wird. Dieses subjectiven Ursprungs wegen würde aber das Gesetz der Specification für unsere wissenschaftliche Naturerkenntniss ohne alle Bedeutung bleiben, wenn uns nicht die Natur entgegenkäme, und der subjectiven Auffassungs- weise durch die Erfahrung objective Gültigkeit verschaff"te. Das Indi- viduum ist vergänglich, und mithin Alles, was von ihm allein gilt; es ist nur anschaulich für jeden Einzelnen zu erfassen , und nicht durch Begriffe mittheilbar; die Wissenschaft aber ist bedingt durch die An- dauer ihres Objects, weil davon ihre allmähliche Entwickelung , also ihre Wirklichkeit abhängt , und durch die Mittheilbarkeit ihres Inhalts, weil sie aufhört, Wissenschaft und fortbildungsfähig za sein, wenn sie im einzelnen Menschen beschlossen bleibt, also mit ihm untergeht. Wir müssen hier also auf irgend eine Weise, selbst mit dem Bewusst- sein, dass es nur eine vorläufige Aushülfe sei, dieser Anforderung an die Amvendung des Gesetzes der Specification Genüge leisten. Die schärfste Bestimmung des Artbegriffs wäre eigentlich folgende: „„Zu Einer Art gehören alle Individuen , die, abgesehen von Ort und Zeit, unter völlig gleichen Verhältnissen auch völlig gleiche Merkmale zei- gen."" Es ist uns aber für die wenigsten Fälle vergönnt, dies Princip in der Artbestimmung geltend zu machen, am allerwenigsten aber bei den Organismen, bei denen die Bedingungen ihrer Existenz so man- nichfaltig und verwickelt sind, dass wir sie niemals alle beherrschen, und daher niemals völlige Gleichheit der Verhältnisse herstellen kön- nen. Halten wir auch hier die Wichtigkeit der Entwickelungs- geschichte als Princip der Botanik fest, so können wir den Begriff" der Pflanzenart nur darin suchen, dass in der Zeitfolge eine gewisse Gruppe von Merkmalen sich constant und gleich erweise; diese Constanz muss aber bei den Pflanzen sich über das nicht an- dauernde Individuum, also durch mehrere Generationen, fortsetzen; was daher nicht nach seiner Abstammung von anderen Individuen er- kannt werden kann, ist auch gar nicht als Pflanzenart zu bestimmen, und desshalb fällt Alles, was durch Urzeugung und selbst durch ein- *) Seil leiden, Gruudzüge der wisseiischaftl. Botanik. III. Aufl. II. Bd. S. 515, 332 Entwickelungsgeschichte der Arten oder Speeles. malige, sich nicht in folgenden Generationen wiederholende Zeugung entsteht, nicht unter den Begriff einer Pflanzen- Art, obschon es an- derweitig als Naturkörper auch seine specifische Bestimmung finden muss." Zu diesen letzteren, in der That eigentlich keine Arten bil- denden Organismen gehören nach unserer Auffassung viele einfachste Formen des Protisten - Reiches. Wollte man bei diesen, und namentlich bei den autogonen Moneren von Arten reden, so könnte man sie oft nicht nach der Form , sondern nur nach der chemischen Constitution und nach etwaigen untergeordneten physiologischen Eigenschaften un- terscheiden. Ueberhaupt sind bei vielen Gruppen niederster Organis- men Art - Unterschiede sehr viel schwerer festzustellen, als bei den meisten höheren , weil die Constanz der Merkmale überhaupt hier noch nicht zur Geltung gelangt ist. Neuerdings hat z. B. für die Polytha- lamien Carpenter nachgewiesen, dass man bei ihnen eigenthch gar keine Speeles in dem Sinne, wie bei den höheren Organismen unter- scheiden könne. Sobald man überhaupt die Grundsätze der Species- Bestimmung bei den niederen und höheren Gruppen verschiedener Stämme kritisch vergleicht, wird man gewahr, dass dieselben aller- wärts verschiedene sind, und nach der Natur des Gegenstandes ver- schiedene sein müssen. Bei der ausnehmenden Wichtigkeit, welche die klare Erkenntniss dieses Verhältnisses für die richtige Beurtheilung der gesaramten Sy- stematik , und der von ihr geübten Specification und Classification hat, wollen wir nachstehend den Unterschied zwischen der morphologischen, physiologischen und genealogischen Begriffsbestimmung der Speeles noch näher beleuchten. II. Der morphologische Begriff der Species. Die praktische Unterscheidung und Benennung der Arten, wie sie von der botanischen und zoologischen Systematik allgemein geübt wird, gründet sich ganz vorwiegend auf die Erkenntniss morphologischer, und nicht physiologischer Differenzen, welche zwischen den vergliche- nen ähnlichen Formen sich auffinden lassen. Jeder Blick auf die kurz gefassten Diagnosen, oder die ausführlicheren Beschreibungen, durch welche in den systematischen Handbüchern und Monographieen die verschiedenen Arten einer Gattung getrennt werden, lehrt uns, dass dasjenige Moment, weiches man in der systematischen Praxis durch- gängig und fast allein zur Feststellung und Unterscheidung der Speeles benutzt, die Vergleichung und Wägung der morphologischen Charak- tere ist. Dass dieses morphologische Princip allein,, mit völliger Bei- seitlassung des gemeinsamen Abstammungs - Princips , und ohne Rück- sicht auf das physiologische Princip der fruchtbaren Fortpflanzungs- fähigkeit, die Systematiker bei ihrer analytischen Species - Bestimmung II. Der morphologische BegrifF der Species. 333 leitet, miiss allgemein zugegeben werden. Eben so sicher ist es aber auch , dass die meisten Systematiker nicht im Stande sind , anzugeben, welche Rücksichten sie hierbei als maassgebende Richtschnur im Auge haben, und worin das Wesen der „specifischen Form-Charak- tere" besteht. Sehr Wenige nur haben sich die Mühe genommen, hiertiber nachzudenken, und unter diesen ist vor Allen Louis Agas- si z hervorzuheben. Von den meisten anderen Naturforschern abweichend, erklärt Agassiz die Species für eine ebenso ideale Wesenheit (,Meal eiitity"), als die übergeordneten Begriffe der Gattung., Familie , Ordnung , Classe und Typus. Alle diese idealen Einheiten sind in der Natur realisirt, sind verkörperte Schöpfungs - Gedanken. Die Charaktere, durch wel- che sich diese verschiedenen, stufenweise sich erhebenden Kategorieen unterscheiden, sind von verschiedener Qualität. Die Unterschiede der Species i) betreffen das Verhältuiss der einzelnen Körpertheile zu einan- der, sowie die absolute Grösse des ganzen Thiers, ferner die Färbung und allgemeine Verzierung der Körperoberfläche , endlich die Beziehun- gen der Individuen zu einander und zur umgebenden Welt. Die Spe- cies wird durch eine gewisse Menge von Individuen repräscntirt , die als ' solche in engster Beziehung zu einander stehen , niemals aber durch ein einzelnes Individuum. Denn keines der zu einer Species gehörigen Individuen bietet alle charakteristischen Merkmale dieser Species dar. Durch diese Auffassung nimmt Agassiz dem Species -Begriffe die ab- solute Starrheit , die er in den Augen der meisten Systematiker besitzt, und steUt ihn als eine subjective Kategorie, einen Collectiv- Begriff hin, der ebenso viel objective Begründung in der Natur, und nicht mehr besitzt , als die höhern Begriffe der Gattung, Ordnung , Klasse u. s. w. Wenn wir nun aber die morphologischen, oder richtiger anato- mischen, Kriterien näher betrachten , welche Agassiz als „specifische" Merkmale xar' e^ox^jv betrachtet, die absolute Grösse und das Ver- hältuiss der einzelnen Körpertheile zu einander, die Farbe und die allgemeine Verzierung der Körperoberfläche , so ergiebt sich, dass diese zwar in vielen , aber bei weitem nicht in allen Fällen bestimmend sind. Oft sind dieselben Merkmale kaum genügend, zwei anerkannte Varie- täten zu unterscheiden , während sie anderemale selbst zur Unterschei- dung „guter" Genera für ausreichend erachtet werden. Andrerseits 1) „What is nbw tlie nature of these lUfFerences, by which wo distiiiguisli Species V They are totally distinct from auy of the categories on wliicli Genera , Famiries, /Drders, Classes or Branches are founded , and may readly be reduced to a few heads. They are differences in the proportion of the parts and in the absolute size of the whole animal, in the color and general ornamentation ofthe surface of the body, and in the relations of tlio individuals to ono another and to the World around." Agassiz, Methods of study of natural history. Boston 1863, p. 138. 334 Entwickelungsgeschichte der Arten oder Species. braucht man bloss eine Reihe beliebiger Species - Gruppen aus verschie- denen Hauptabtheilungen des Pflanzen- oder Thierreichs mit einander zu vergleichen , und auf diesen Punkt zu untersuchen , und man wird sehen, dass Charaktere von der allerverschiedensten Qualität zur Un- terscheidung benutzt werden. Die wenigen, von Agassiz und anderen gemachten Versuche, das Wesen und Gewicht der unterscheidenden morphologischen Species- Charaktere schärfer zu bestimmen, und dadurch bei der praktischen Unterscheidung der Species zu einer sicheren Grundlage zu gelangen, sind auch bei der systematischen Praxis zu keiner allgemeinen Geltung gelangt. Wenden wir uns von diesen mehr oder minder missglückten Versuchen zu der Betrachtung der zoologischen und botanischen Praxis, wie sie von den Systematikern täglich bei der Unterscheidung , Benen- nung und Bestimmung der Arten geübt wird , so zeigt sich bald , dass die meisten Systematiker sich dabei wesentlich von einem gewissen praktischen Tacte leiten lassen. Höchstens kömmt bei den kritischer Verfahrenden hie und da eine bestimmte Maxime von ziemhch vager Natur zur Anwendung. Eine der am weitesten verbreiteten derartigen Maximen oder Bestimmungsregeln ist der Satz : „Zu einer Art gehören alle Individuen, die in allen wesentlichen Merkmalen übereinstim- men." Indessen ist nur bei einer geringen Zahl der niedrigsten Or- ganismen diese Behauptung ohne Weiteres richtig. Bei den allermei- sten dagegen umfasst der Speciesbegrilf nicht eine einzige Form, son- dern eine ganze Entwickelungsreihe verschiedener Formen, nämlich den Zeugungskreis , die Formenkette, die das Individuum vom Mo- mente seiner Entstehung an bis zu seinem Tode durchläuft. Es müs- sen also die verschiedenen Jugendzustände berücksichtigt werden, die oft sehr abweichend von den Erwachsenen sich verhalten, und bei denjenigen, die einer Metamorphose unterworfen sind, die verschiede- nen Larven -Zustände, die das Individuum durchläuft. Gleicherweise sind bei den der Metagenesis unterworfenen Arten die verschiedenen Generationen zu berücksichtigen. Wie oft sind abei- nicht, ledighch aus Nichtberücksichtigung dieses so einfachen Verhältnisses, abweichend gebildete Jugendformen, Larven und Ammen als eigene Species, wie oft als Glieder weit entfernter Familien oder selbst Classen beschrieben worden! Wer hätte bei der paradoxen Form des Philciis gedacht, dass er die Amme einer Ophiure sei , bei PUidium , dass es zu einem Nemertes gehöre, bei Phjillosonta , dass es die Larve von Paliniirvs sei? Wie oft sind selbst bei den höheren Wirbel thieren eigenthümlich gefärbte Jugendformen als besondere Arten beschrieben worden! Wie zahlreich sind in der Abtheilung der Würmer, der Crustaceen , . der Mollusken die Beispiele von zusammengehörigen Larven und reifen Formen , die man früher als ganz verschiedene Species beschrieben und IT. Der morphologische Begriff der Species. erst vor Kurzem als himmelweit verschiedene Zustände eines Indivi- duums entdeckt hat! Nicht minder wesentlich, als die Formverschiedenheiten der zu- sammengehörigen Entwickelungsstadien eines und desselben Individuums, sind die Gestaltdiöerenzen , welche zwischen den verschiedenen poly- morphen Individuen einer und derselben Species sich vorfinden. Auch diese sind unendlich oft in der systematischen Praxis nicht berücksich- tigt worden und daraus zahllose Irrthümer entsprungen. Wie oft sind nicht allein die beiden zusammengehörigen Geschlechter einer einzigen Species als verschiedene Arten beschrieben worden! Freilich sind die Verschiedenheiten der beiden zusammengehörigen Geschlechts - Bionten in vielen Fällen von weitgehendem sexuellen Dimorphismus auch der Art, dass dieselben fast in gar keinem „wesentlichen" Merkmale mehr übereinstimmen. Man denke nur an die parasitenähnlichen Männchen vieler niederer Crustaceen und der Rotatorien! Schon aus diesen wenigen Erwägungen geht hervor., wie ungenü- gend die vielfach angewendete Definition ist, dass „die Species der Complex aller Individuen sei , die in allen wesentlichen Merkmalen über- einstimmen". Um ein naturgemässes Bild von der Species zu erhalten, ist es durchaus nothwendig, alle die erwähnten, oft so weit divergi- renden Gestalten ihres Formenkreises in Betracht zu ziehen. Auch ist in der That diese Nothwendigkeit von den besseren Systematikern in ihrer analytischen Praxis mehr oder weniger unbewusst anerkannt und gewürdigt worden und man hat also ausser den anatomischen auch die ontogenetischen Formen zugleich mit berücksichtigt. Sehr oft ist dies aber auch nicht geschehen und sehr oft konnte es nicht geschehen. Und wie viel Irrthum und Verwirrung ist daraus für die Systematik entsprungen ! Wie viel verschiedene Jugendzustände , Larven , Ammen, dimorphe Geschlechts - Individuen und polymorphe diff"erenzirte Ge- sellschafts - Individuen sind nicht als selbstständige Arten beschrieben worden ! Lassen wir indessen diesen, oft unvermeidlichen Fehler bei Seite, und verfolgen wir weiter den Systematiker in seiner praktischen Arbeit, wie er die Species unterscheidet, bestimmt, benennt, ordnet und für das System zurecht macht. Sehen wir dabei ab von den möglichen Irrungen, die durch die verschiedenen Jugendformen, die Geschlechts- Diflerenzen, den oft so weit abweichenden Generations-Wechsel inner- halb einer und derselben Art vorkommen können, und nehmen wir an, dass gcschlechtsreife Individuen beider Geschlechter oder doch wenigstens ausgewachsene und gcschlechtsreife Männchen (die gewöhn- lich bei Feststellung des Speciescharakters bevorzugt werden) von vie- len verschiedenen Arten zur Untersuchung vorliegen. ISIach welchen Regeln, aus welchen Gesichtspunkten sucht der Systematiker die un- 336 Entwickelungsgeschichte der Arten oder Speeles. terscheidenden Merkmale aufzufinden und festzustellen? Giebt es über- haupt für diesen Zweck feste leitende Gründsätze? Nicht im Minde- sten f das Geschäft wird vielmehr rein empirisch betrieben! Als die entscheidenden und die wichtigsten Speeles - Charaktere gelten allein die constantesten, d.h. diejenigen, die am wenigsten bei den am mei- sten sich ähnlichen Individuen variiren, und die bei diesen Allen vor- kommen, Wärend sie bei einer Anzahl anderer, ebenfalls ähnlicher In- dividuen, die aber eine besondere Art bilden sollen, constant fehlen. Offenbar bewegt man sich hier aber (und es geschieht unendHch oft) in einem vollkommenen Cirkelschluss. Einmal fordert man, dass der Art- begriff alle diejenigen Individuen umfasse, die in allen „wesentlichen" Merkmalen übcreinstinmien , und dann wieder hält man nur diejenigen Merkmale für „wesentlich", welche man in allen untersuchten Indi^^- duen, die eine sogenannte „gute Art" zusammensetzen sollen, constant vorfindet. Mit anderen Worten lautet dieser sehr beliebte Cirkelschluss : „Jede Art wird charakterisirt dui'ch die Constanz der Merkmale; con- stante Merkmale aber sind solche, die sich bei allen Individuen einer Art vorfinden." Jeder aufrichtige Naturforscher muss zugeben, dass das „Wesentliche" des Speciescharakters nichts Anderes ist, als seine Constanz, und dass man umgekehrt nur eben die constanten Merkmale als wesentliche ansieht. Dieselben deutlich ausgeprägten Art- merkmale, wie z. B. relative Länge der Extremitäten, Färbung des Haars, Zahl der Zähne, welche in der einen Gattung allgemein zur Un- terscheidung ihrer Arten beiuitzt- werden, weil sie hier sehr constant sind und wenig variiren, können in einem andern nahe verwandten Genus nicht zur Diagnose der Speeles dienen, weil sie hier vielfach abändern und nicht constant sind.' Hier sucht man sich dann andere Merkmale her- aus, die constanter sind, die aber in der ersten Gattung nicht gelten konnten, weil sie dort variirten. Die Qualität der unterscheidenden Merkmale ist also niemals das für eine Art Charakteristische, sondern ihre Constanz, und dieselben Unterschiede, auf welche man in der einen Formen - Gruppe Gattungen oder selbst Famihen gründet, rei- chen in anderen nicht aus, um nur die Arten zu unterscheiden. Die unbedeutendsten, geringfügigsten Merkmale, em paar bunte Flecke oder ein Haarbüschel oder eine nackte Hautstelle auf dem Fell eines Säu- gethiers gelten aber als vollkommen genügende „gute" Charaktere, wenn sie zufällig bei allen jetzt zur Untersuchung vorUegenden ludividuen übereinstimmend vorkommen, und wenn sie allen Individuen von sonst nächstverwandten Arten, die vielleicht aus einer andern Gegend stam- men, fehlen. Auf dieses letztere Moment, den geographischen Verbrei- tungs- Bezirk, wird dabei oft unbewusst grosses Gewicht gelegt. Zwei kaum verschiedene Formen gelten oft als zwei gute Arten, wenn sie aus zwei entfernten und nicht zusammenhängenden Gegenden stammen, n. Der morphologische BegriiF der Species. 337 während Jedermann dieselben nur als untergeordnete Varietäten einer und derselben Art betrachten würde, wenn sie in derselben Gegend gemischt vorkämen. Derartige secundäre Erwägungen sind auch bei Unterscheidung der fossilen Thierformen oft fast allein maassgebend. Sehr oft werden hier zwei kaum zu unterscheidende Formen als zwei gute Arten angenommen, weil sie in zwei weit auseinanderliegenden Formationen gefunden wurden, während sie in den dazwischen liegen- den fehlten. Würden beide Arten in einer und derselben Formation ver- einigt vorkommen, so würden sie nur für eine einzige Art gelten. In der Paläontologie ist man überhaupt mit Unterscheidung und Benen- nung der Arten noch weit gedankenloser und unvorsichtiger vorgegan- gen, als bei der Diagnostik der lebenden Formen, obwohl gerade bei der UnVollständigkeit der fossilen Reste scharfe Kritik doppelt nöthig wäre. Vergleicht man wägend ihrem Werthe nach die Differential- Charaktere, durch welche fossile Species, mit denjenigen, durch wel- che lebende Species unterschieden werden, so wird man sehr oft fin- den, dass höchst minutiöse Charaktere bei den ersteren schon als voll- kommen ausreichend zur specifischen Unterscheidung zweier Arten an- gesehen w^erden, welche bei den letzteren nicht für genügend gelten würden, um nur zwei verschiedene Varietäten einer Art darauf zu ba- siren. Untersucht man nun aber näher die sogenannten „guten", d. h. wesentlichen oder constanten Charaktere der Arten, indem man eine grössere Anzahl von Individuen sorgfältig vergleicht, so findet man in der Regel bald, dass auch diese angebliche Constanz niemals ab- solut ist, dass vielmehr auch sie einen gewissen, wenn auch nur ge- ringen Spielraum von Abänderung zulässt; unter einer grossen Zahl kaum zu unterscheidender Individuen wird man dann meistens einige Wenige treffen, die doch die wesentlichen Artmerkmale weniger deut- lich und scharf ausgeprägt zeigen, als die grosse Mehrzahl der Uebri- gen. Gerade diese aber, die weniger scharf bestimmten Grenzformen, die häufig Mittelstufen und Uebergangsbildungen zu nahe verwandten Arten herstellen, sind bisher überwiegend vernachlässigt worden. In dem vorherrschenden Bestreben, die Arten durch möglichst scharfe Charaktere von einander zu trennen und die einzelnen Species -Dia- gnosen klar von einander abzusetzen, hat man das ganze Gewicht auf die, oft sehr geringfügigen, Unterschiede gelegt und dagegen das Gemeinsame der Erscheinungen in den Hintergrund gedrängt und nicht berücksichtigt. So ist es denn gekommen, dass in unseren Sy- stemen sich überall die einzelnen Arten weit schärfer und klarer von einander abheben, als es in der Natur der Fall ist. Fast bei allen Grup- pen von Organismen haben sich deshalb die besseren und gewissenhafte- ren Systematiker genöthigt gesehen, von denjenigen Arten, die genauer Haeckcl, Generelle Morphologie, II. nn 338 Entwickelmigsgeschichte der Arten oder Speeles. bekannt und in sehr zahlreichen Exemphiren untersucht sind, und na- mentlich von denjenigen, welche einen sehr grossen Verbreitungsbezirk besitzen, die abweichenderen Individuen, welche die specifischen Charak- tere mehr oder weniger modificirt zeigen , oder sich als mehr oder minder entschiedene Uebergangsbildungen zu verwandten Arten hinnei- gen, als besondere Unterarten (Subspecies) oder Spielarten (Varietät es) zu beschreiben. Das genauere Studium derselben ist aber bisher überwiegend vernachlässigt worden, weil sie dem Schema- tismus des Systemes Abbruch thun. Und doch sind sie gerade von der höchsten Bedeutung für das Verständniss der natürlichen Ver- wandtschaft. In vollständiger Verkennung der letzteren hat man im- mer nur den Hauptnachdruck auf die sogenannten „typischen" Indivi- duen der Art gelegt, die weniger ausgesprochen charakterisirten Va- rietäten dagegen bei Seite geschoben. Befriedigende Definitionen von dem BegriHe der Subspecies und Varietät existiren eben so wenig, alS' von dem der Species, und sie können auch in der That eben so wenig gegeben werden. Wie bei den theoretischen Begritfsbestinmmngeu der Art, hat man sich auch bei denjenigen der Spielart theils auf die sichtliche Differenz gewisser morphologischer Charaktere, theils auf das genetische und physiologi- sche Verhalten derselben zu einander gestützt. Was die Merkmale betrifft, durch welche Subspecies oder Varietäten sich untereinander und von der übergeordneten Art unterscheiden, so sollen dieselben niemals so „wesentlich"' sein, als die diagnostischen Differenzen, welche Species zu scheiden vermögen. Auch hier wieder zeigt sich bei genauer Betrach- tung, dass der Begriff des „Wesentlichen" nichts mit der Qualität der Charaktere zu thun hat, sondern nur mit deren Constanz. Und in der That wird meistens in der Praxis die Varietät dadurch als solche erkannt und bestimmt, dass ihre ausgezeichneten Merkmale variabler sind, und bedeutenderen und häufigeren individuellen Abänderungen unterliegen, als es bei den Species der FaU ist. Daher kommt es, das die Mei- nungen fast aller Forscher über die Grenzbestimmung zwischen Art und Abart so miendlich weit in der Praxis auseinandergehen. In der genau bekannten Vogel -Fauna von Deutschland unterscheidet Bech- stein 367, L. Reichenbach 379, Meyer und Wolf 406, und Brehm mehr als 900 verschiedene Arten. Die Vögel Europa's dagegen ver- theilt Blasius auf 490, Schinz auf 520, und Bonaparte auf 530 Species! Die verschiedenen Formen von llieracium in Deutschland werden von einigen Botanikern auf mehr als dreihundert Arten ver- theilt. Fries zählt deren aber nur 106, Koch 52, und noch Andere kaum zwanzig! Diese paar Beispiele zeigen, wie es auf diesem Gebiete überall aussieht. Der Formenkreis einer sehr variablen Art kann aus- serordentlich gross sein, so dass die extremsten Formen durch Summe II. Der morpliologisclie Begriff der Species. 339 und Qualität der Charaktere viel weiter auseinander stehen, als sonst verschiedene Arten einer Gattung oder verschiedene Gattungen einer Ordnung. Sie werden aber von allen Forschern als zu einer einzigen Art gehörig angesehen, wenn sie durch eine zusammenhängende Reihe fein abgestufter Zwischenformen continuirlich verbunden sind, oder so- bald sich die Abstammung von der gemeinsamen Stammart empirisch erweisen lässt. Ist dies aber nicht der Fall oder fehlen alle Zwi- schenformen zwischen zwei, auch mu' durch einen geringfügigen (aber Constanten) Charakter getrennten, nächstverwandten Zwischenformen, so werden dieselben als „gute Arten" betrachtet. In der Regel werden dann auch noch die verbindenden Uebergangsformeu bei Seite gescho- ben und als „zufällige" Abweichungen ignorirt, wenn dieselben selten sind; kommen sie aber häufig vor, so steigt allein aus diesem Grunde ihr Werth so sehr, dass sie nun für die Zusammengehörigkeit der ver- schiedenen Formen zu einer Art entscheiden. Von der Varietät, Abart oder Spielart nicht scharf zu unterscheiden ist der Begriff der Subspecies oder Unterart, der auch nur sel- ten 'angewandt wird. Er soll einen geringeren Grad der Schwankung des Charakters andeuten, so dass also die unterscheidenden Merkmale zweier Subspecies weniger constant, als bei der übergeordneten Art, we- niger veränderlich, als bei den ihnen untergeordneten Abarten sind. Mit anderen Worten, die Unterschiede zwischen zwei Subspecies sind .„wesentlicher" als bei zwei Varietäten, weniger „wesentlich", als bei , zwei Arten. Es liegt auf der Hand, dass auch diese Bestimmung vollkom- imen willkührlich und ihre Anwendung ganz dem Gutdünken des Au- ■ tors anheimgegeben ist. Nicht anders verhält es sich mit dem Begriff der Rasse. Man liebt es zwar, diese Bezeichnung vorzugsweis für die im Culturzustande durch die künstliche Zuchtwahl des Menschen ent- standenen, und besonders für die durch längere Zeit bereits befestig- iten Varietäten und Subspecies zu gebrauchen. Indessen haben wir ^schon oben gezeigt, dass zwischen den Producten der natürlichen und ider künstlichen Züchtung ebenso wie zwischen ihrer Wirkungsweise, «durchaus kein qualitativer, sondern nur ein quantitativer Unterschied • existirt. Es ist eben so wenig von der Rasse als von der Varietät und ^Subspecies möglich, irgend eine scharfe und allgemein gültige Defini- 'tion zu geben. Will man diese Begriffe als mehrere verschiedene, dem .^Speciesbegritfe untergeordnete Kategorieen des Systems beibehalten, so 'Kkann man sie mit Nutzen nur verwenden, um dadurch verschie- 'dene Grade in derConstanz der wesentlichen Differential- (:charaktere zu bezeichnen, so dass also die Varietät den höchsten, idie Rasse den mittleren, die Subspecies den niedersten Grad der Ver- känderlichkeit anzeigt. Wir sehen also, dass es mit der Begriffsbestimmung der Unter- 22* 340 Eutwlckeiuugsgeschjchte äer Arten oder Speeles. art (Subspecies), Rasse und Abart (Varietas), wenn man bloss die unwesentlichen, d. h. die nicht constanten Charaktere zur Unterschei- dung derselben von der mit wesenthchen ( constanten ) Merkmalen aus- gestatteten Art (Species) benutzen will, ebenso schlimm steht, wie mit dieser letzteren selbst. Denn es giebt eben keine absolut con- stanten Unterschiede in der Grösse, Farbe, Form derjenigen Theile, die man zur Species-Diagnostik benutzt. Alle diese Merkmale sind in- nerhalb gewisser Grenzen veränderUch und schwankend, von den Exi- stenzbedingungen abhängig. Am constantesten sind die unterscheiden- den Charaktere der Art, weniger diejenigen der Subspecies; noch we- niger constant sind diejenigen der Rasse, und am wenigsten die der Varietät. Aus allen diesen Erwägungen geht hervor, dass die Aufstellung der Species und ihre Unterscheidung durch bestimmte Charaktere ein rein willkührlicher und künstlicher Akt ist, der nur durch unsere ganz unvollständige Kenntniss der verschie- denen Beziehungen jeder Species zu allen ihren Blutsverwandten ge- rechtfertigt und ermöglicht wird. Die Unterscheidung der unendlich vielen verschiedenen Formen, welche unsere Erde beleben, durch ver- schiedene Namen ist ein nothwendiges praktisches Bedürfniss, und diese Speciesbildung ist verständig und gerechtfertigt, so lange man sich nur vergegenwärtigt, dass sie eine künstliche ist, und nur auf unvoll- ständigen Kenntnissen beruht. Dies wird aber von der gewöhuhchen Systematik ebenso wenig beräcksichtigt, als sie sich erinnert, dass alle Charaktere nur einen relativen und vergänglichen Werth haben. Auch die schärfsten Charaktere, durch welche wir im gegenwärtigen Zeit- raum zwei verwandte „gute Arten" auf das Bestimmteste unterscheiden können, behalten doch immer nur für eine gewisse Periode diese spe- cifische Bedeutung, und büssen dieselbe ein, sobald beide Arten im Laufe ihrer Variation sich weiter von einander entfernen. Die Syste- matiker werden durch den Irrthum, dass die Species constant sei, ge- wöhnlich auch noch in den weiteren Irrthum hineingeführt, dass die verschiedenen Species gleich alt seien. Auch hierdurch wird eine na- turgemässe Auffassung der Arten - Verhältnisse wesenthch verhindert. Denn in der Wirklichkeit sind die allermeisten Species von sehr unglei- chem Alter, und dieses Alter lässt sich auch niemals absolut bestim- men, da sie eben so allmählich entstehen, als sie entweder durch Trans- mutation oder durch Aussterben vergehen. Unter zahlreichen Species, die der Systematiker vergleicht, werden sich immer epacmastische, ac- mastische und paracmastische Arten neben einander befinden; einige, die der Höhe ihrer Entwickelung , andere, die ihrem Untergange ent- gegen gehen, während noch andere sich grade im gegenwärtigen Zeit- raum in ihrer höchsten Blüthe befinden und daher als relativ „gute", III. Der physiologische Begriff der Species. 341 constante und wenig veränderliche Arten erscheinen. Jede Species hat, ^0 gut wie jedes Individuum, eine beschränkte Existenz - Dauer. Sie entsteht durch Trasmutation aus Varietäten einer vorhandenen Art, und sie erreicht, indem sie sich unter günstigen Verhältnissen zur Spe- cies entwickelt, einen bestimmten Grad der Reife, in welcher sie sich am constautesten zeigt. Diese Acme, das Reife-Alter der Species kann, wenn die für sie günstigen Existenzbedingungen sich sehr lange erhal- ten, oft sehr lange, oft viele Jahrtausende dauern. Endlich tritt aber doch immer zuletzt, wenn auch nur sehr langsam, ein Wechsel in die- ser oder jeuer wesenthchen Lebensbedingung ein; sie geht entweder, wenn sie sich diesem Wechsel vermöge ihrer Variabilität nicht anpas- sen kann, zu Grunde, sie stirbt aus; oder sie bildet, indem sie sich ihm anpasst, neue Varietäten, die sich allmählich wiederum durch langsame Transmutation, und durch natürliche Zuchtwahl im Kampfe um das Dasein, zu relativ constanten neuen Species umbilden. Allein schon diese Thatsache erklärt uns bei Vergleichuug einer grösseren ge- nauer bekannten Artenzahl den Umstand, dass die Werthe der speci- fischen morphologischen Charaktere so äusserst ungleiche sind, dass einige Arten sich so scharf umschreiben lassen und so wenig variiren, während andere einen so weiten divergirenden Varietätenbüschel bilden, dass sie selbst wieder von anderen Systematikern als Gruppen von Arten angesehen werden. m. Der physiologische Begriff der Species. Die vorstehend erörterten, constanten oder wesentlichen Charak- tere der Species, welche meistens rein morphologischer Natur sind und welche bei der praktischen Unterscheidung und Benennung der Species fast ausschliesshch in Betracht kommen, hat man bei der theoretischen Begriffsbestimmung der Art gewöhnlich ignorirt oder doch weniger hervorgehoben, und dagegen, wie schon oben bemerkt wurde, fast ausschliesslich die physiologischen Eigenschaften der Species zur Definition derselben benutzt. Wir haben hier zu unterscheiden . zwischen der von den älteren Naturforschern vorzugsweise gebrauchten Definition, die sich auf die gemeinsame Abstammung aller Individuen einer Species, und zwischen der von den neueren besonders hervorge- hobenen Begi-iffsbestimmung, welche sich auf die Bastardzeugungs- oder Hybridismus -Verhältnisse der Species bezieht. Indem wir die Bespre- ( chung der ersteren, rein genealogischen Auffassung dem folgenden Ab- schnitte vorbehalten, beschränken wir uns hier auf die Erörterung der letzteren, welche wir als die physiologische Begriffsbestimmung der Species im engeren Sinne bezeichnen. Wir schicken die Bemerkung voraus, dass man im Ganzen die 342 Eutwickelungsgescliichte der Arten oder Speeles. Verhältnisse der Bastardzeugung oder des Hybridismus, um welche es sich hier handelt, ausserordentlich überschätzt, und insbe- sondere ihre Bedeutung, sowohl für die exacte Begriffsbestimmung der Art, als auch für die Entstehung neuer Arten, viel zu hoch ange- schlagen hat. Die Frage ist im Ganzen sehr schwierig und verwickelt, aber von den meisten Autoren keineswegs mit der entsprechenden Vor- sicht und Sorgfalt behandelt worden. Grade hier hat man mit auffal- lendem Leichtsinn aus sehr unvollkommenen und zweifelhaften Beobach- tungen die weitgreifendsten Schlüsse ziehen wollen. Darwin hat dies im achten Capitel seines Werks, auf welches wir hiermit ausdrücklich verweisen, sehr klar nachgewiesen. Im Ganzen sind die Erscheinun- gen des Hybridismus nur selten mit der nothwendigen physiologischen Kritik untersucht worden, und daher hat man ihre Bedeutung für die Species - Frage so sehr übertrieben. Nach der gewöhnlichen Angabe sollen alle geschlechtsreifen Indi- viduen einer und derselben Art, mögen dieselben als Rassen oder Va- rietäten noch so weit aus einander gehen, das Vermögen besitzen, sich fruchtbar geschlechtlich zu vermischen, und alle von ihnen erzeugten Jungen sollen sich wiederum sowohl unter einander, als mit den Stamm- Eltern fruchtbar kreuzen , und so in infinitum fortpflanzen können. Andrerseits sollen Individuen von zwei verschiedenen Species nur aus- nahmsweise ^ mit einander eine fruchtbare Begattung vollziehen kön- nen und die daraus entsprungenen Bastarde sollen weder unter einan- der , noch mit einem der Stammeltern auf die Dauer fruchtbare Nach- kommenschaft erzeugen können. Alle diese Angaben sind, insofern sie die Geltung absoluter Gesetze beanspruchen, vollkommen falsch, und durch sichere Beobachtungen und Experimente nicht nur in neuester Zeit, sondern theilweis schon vor vielen Jahren als vollständig den Thatsachen widersprechend nachgewiesen worden. Sowohl verschiedene Arten, als verschiedene Varietäten einer Art vermögen sich geschlechtlich zu vermischen, und die Producte der Verbindung können in beiden Fällen selbst wieder der fruchtbaren Zeu- gung fähig sein. Die Producte der sexuellen Vermischung zweier ver- schiedenen Species pflegt man im engern Sinne als Bastarde (Hy- hridi) zu bezeichnen, dagegen die Producte zweier verschiedenen Va- rietäten als Blendlinge (SpnrU). Zunächst muss hier unterschieden werden zwischen zwei wesent- lich verschiedenen Verhältnissen, nämlich erstens der Unfruchtbarkeit zweier verschiedenen Formen bei ihrer Paarung, also der ersten Kreu- 1) Eine ab s o lu te Unfähigkeit zweier vevscliiedener Arten, übcrliaupt eine fruchtbare Begattung mit einander einzugehen , ist zwar auch vielfach behauptet worden , verdient indess angesiclit der zahh-eichcn Bastarde, die man selbst zwischen Arten verschieder.rr Gattungen längst kennt, keine weitere AViderlegung. ni. Der physiologische Begriff der Species. 343 zuiig , ilud zweitens der Uiifruclitbarkeit der aus solchen Kreuzungen entsprungeneu Bastarde oder Blendlinge. Die erstere beruht wesent- lich auf der verschiedenen Beschaffenheit der zweierlei, an sich nor- malen Fortpflanzungs- Organe, wogegen die zweite meist durch unent- wickelten Zustand oder pathologische Ausbildung der Geschlechts -Or- gane bedingt ist. Was nun zuerst die Unfruchtbarkeit zweier gekreuzten verschiedenen Formen bei ihrer ersten Paarung anbelangt, so. ist fast überall das Dogma verbreitet, dass eine Paarung zwischen Individuen zweier verschiedenen Arten nur ausnahmsweise fruchtbar sei, während alle verschiedenen Kassen und Varietäten einer einzigen Spe- cies sich fruchtbar sollen kreuzen können. Beides ist vollkommen un- begründet. Allerdings kommen Bastarde von zwei verschiedenen Ar- ten im wilden Naturzustande nur selten vor, schon aus dem einfachen Grunde, weil der gesunde Geschlechtstrieb stets nur nah verwandte Thiere, meistens also von einer und derselben Art, zusammenführt. „Gleich und Gleich gesellt sich gern". Allein sobald den Thieren die Befriedigung des Geschlechtstriebs auf diesem normalen Wege versagt ist, so suchen sie denselben bei anderen Arten, die ihnen die Gelegen- heit zuführt, zu befriedigen. Wenn nun in diesem Falle die beiderlei Geschlechtsthiere zu zwei verschiedeneu Species eines und desselben Genus gehören , und in Grösse und Charakter nicht gar zu verschieden sind, so ist die Fruchtbarkeit einer solchen Verbindung die Regel. Solche Bastarde sind schon seit den ältesten Zeiten in Menge beobach- tet und zum Theil absichtlich vom Menschen gezüchtet worden ^ ). Sel- tener entspringen Bastarde aus der Paarung zweier Arten, die ver- schiedenen Gattungen angehören, obwohl auch hiervon einzelne Bei- spiele mit Sicherheit constatirt sind-). Die Aussicht auf einen Erfolg der Paarung ist aber in der Regel um so geringer, je grösser die Dif- ferenz in dem ganzen Charakter und in der systematischen Verwandt- schaft beider Formen ist. Dabei ist sehr zu beachten, dass in vielen Fällen beständig die wechselseitige Kreuzung fehlschlägt, indem zwar die Paarung des Männchens von der Art A mit dem Weibchen von der Art B fruchtbar, dagegen die Kreuzung des Weibchens von A mit. dem 1) Die ältesten und bekanntesten Bastarde sind die zwischen Pferd und Esel (Maul- esel, Maulthiere),. zwischen Pferd und Zebra, Esel und Zebra, Steinbock und Ziege, Löwe und Tiger, ferner zwischen den verschiedensten Arten der Finken-Gattung, des Ge- nus J'hasianus etc. In neuerer Zeit sind auch echte Bastai'de von Fischen , Insecten etc. in grösserer Zahl bekannt geworden. Von den Pflanzen (Salix, Verbfiscuvi, Cirmm. etc.) kennt man sie längst in Menge. 2) Zu den sichersten Beispielen von fruchtbarer Begattung verschiedener Genera ge- hören die Bastarde von Schaf und Reh , von Ente und Huhn , Auerlmbu und Truthalm. Auch Bastarde ziemlich entfernt stehender Fisch - Gattungen sind neuerlich beobachtet. 344 Entwickelungsgeschichte der Artea oder Species. Männchen von B unfruchtbar ist i). Schon aus diesem letzten, sehr wichtigen Umstände geht hervor, dass (mindestens in vielen Fällen) eine solche Unfruchtbarkeit nicht durch den specifisch verschiedenen Gesammt-Charakter der beiden Arten, und auch nicht durch den Grad ihrer systematischen Verwandtschaft, sondern lediglich entweder durch den verschiedenen, nicht zusammen passenden Bau der betreffenden Ge- schlechts-Organe oder durch die natürliche Abneigung der divergenten Formen gegen einander bedingt ist. Wie nun die Fähigkeit der Bastard - Zeugung zwischen verschie- denen Arten factisch besteht, aber in sehr verschiedenen Graden ab- gestuft ist, so gilt dasselbe auch von den Kreuzungs - Verhältnissen der Varietäten und Rassen, die sich auch in dieser Beziehung nicht durchgreifend von den Species unterscheiden. Allerdings ist es die "Regel, dass die verschiedenen in den Formenkreis einer einzigen Art gehörigen Abarten und Rassen sich unter einander fruchtbar vermi- schen können: allein auch hier ist diese Fruchtbarkeit der ersten Kreu- zung keineswegs überall gleich, sondern zwischen verschiedenen Rassen sehr verschieden entwickelt, und man kennt mehrere Beispiele mit Si- cherheit, wo zwei verschiedene Rassen oder Abarten, die von dersel- ben Stammform abgeleitet sind, sich entweder gar nicht mehr, oder nur selten, mit Abneigung und ohne Erfolg paaren. Die Fruchtbarkeit der Kreuzung von Varietäten ist also durchaus kein absolutes Gesetz 2). Ebenso verhält es sich nun zweitens auch mit der überall behaup- teten Unfruchtbarkeit der Bastarde von zwei verschiedenen Ar- ten, der man die absolute Fruchtbarkeit der Blendlinge zwi- schen zwei Varietäten oder Rassen einer Art schroff gegenüberstellt. In ersterer Beziehung wird allenthalben das Beispiel der Maulthiere und Maulesel als beweiskräftig angeführt. Allerdings ist es richtig, dass diese beiden Bastardformen von Pferd und Esel, sowohl wenn sie sich unter einander, als wenn sie sich mit einem der Stammeltern paa- ren, sich entweder gar nicht, oder nur auf wenige Generationen fort- pflanzen, worauf die Bastardform erlischt. Allein grade dieses so sehr betonte Beispiel scheint nach den neuesten Erfahrungen eine seltene 1) So z. B. ist die Paarung zwischen Ziegenbock und Schaf, zwischen dem ameri- kanischen Bisonstier und der europäischen Kuh sehr leicht, dagegen die Kreuzung zwi- schen Schafbock und Ziege, zwischen dem europäischen Stier und der amerikanischen Bisonkuh sehr schwer oder gar nicht herbeizuführen. 2) So paart sich z. B. die in Paraguay eingeführte und einheimisch gewordene Haus- katze nicht mehr mit ihrem europäischen Stammvater. Das in Europa-domesticirte Meer- schweinchen (Cavia cohayaj paart sich nicht mehr mit seinem brasilianischen Stammvater (Cavia apereaj. Ferner findet keine Kreuzung mehr statt zwischen manchen Hunde-Ras- sen (die man doch meist alle als Varietäten einer Art betrachtet). Zum Theil ist hier, wie in andern Fällen (auch bei manchen Rinder- und Pferde-Rassen) die physische Unmög- lichkeit der Paarung schon durch die sehr verschiedene Grösse bedingt. in. Der physiologische Begriff der Species. 345 Ausnahme zu sein. Man kennt jetzt zahlreiche Beispiele von Ba- starden sehr verschiedener Arten (und selbst Gattungen), die sich so- wohl bei Paarung unter sich, als mit einem ihrer Stammeltern, durch eine lange Reihe von zahlreichen Generationen unverändert und mit un- verminderter Fruchtbarkeit fortgepflanzt haben, also nach der üblichen Vorstellung zu neuen Arten geworden sind Ja man hat selbst sol- che unbegrenzte und reiche Fruchtbarkeit in einzelnen Fällen bei Ba- starden von zwei Arten beobachtet, welche verschiedenen Gattungen angehören, wie namentlich bei den berühmten „Bockschafen", Bastar- den von Ziegenböcken und Schafen, welche in Chile massenhaft zu in- dustriellen Zwecken gezogen werden. Aber auch diese Fruchtbarkeit der Bastarde zeigt sich, wie jene der ersten Kreuzung, bei verschie- denen Gattungen und Familien sehr verschieden entwickelt und grad- weise abgestuft. Dasselbe gilt endlich auch xon der Fruchtbarkeit der Blend- linge, welche durch Kreuzung verschiedener Varietäten oder Rassen einer Art entstehen. Von dieser hat man ebenso allgemein die absolute Fruchtbarkeit, wie von den Bastarden verschiedener Arten die Un- fruchtbarkeit behauptet, und mit eben so viel Unrecht. Allerdings sind in der Regel die Blendlinge, welche Rassen und Abarten einer und derselben Art bei wechselseitiger Vermischung erzeugt haben, sehr fruchtbar, und häufig steigern solche Kreuzungen sogar die Fruchtbar- keit bedeutend; allein auch hier ist der Grad der Fruchtbarkeit der Blendlinge oft vollkommen unabhängig von dem Grade der systemati- schen Verwandtschaft. In vielen Fällen sind die Blendlinge, welche durch Kreuzung zweier weit verschiedenen Rassen entstanden sind, sehr fruchtbar; lind in anderen Fällen zeigen umgekehrt die Blendlinge, welche aus der Paarung von zwei nah verwandten Rassen hervorge- gangen sind, einen sehr geringen Grad von Fuchtbarkeit ; dieser letz- tere kann sogar gänzlich auf Null herabsinken. Denn es giebt Blend- linge, welche von zwei nahe verwandten Rassen einer und derselben Species abstammen, und dennoch sich niemals als solche fortzupflan- zen vermögen. So kennen wir z. B. eine Blendlingsform von zwei ver- schiedenen Hunde-Rassen, welche constant unfruchtbar ist, und ebenso werden mehrere Blendlinge von verschiedenen Rinder-Rassen angegeben, die sich durch beständige Unfruchtbarkeit auszeichnen. Gleiche Bei- spiele von Unfruchtbarkeit einer pflanzlichen Blendlingsform, die nach- 1) Eines der auifallendsten neueren Beispiele liefern die berühmten Hasen-Kaninchen, TJastarde von männlichen Hasen und weiblichen Kaninchen, welche seit 1850 in Frank- reich gezüchtet werden und nun in unveränderter Form und Fruchtbarkeit bereits mehr als hundert Generationen zurückgelegt haben. Hasen und Kaninchen sind z.wei , in jeder Beziehung so verschiedene Arten der Gattung Lepue, dass es noch Niemandem eingefallen ist, sie für Kassen oder Abarten einer Species zu halten. 346 Entwickelungsgeschichte der Arteu oder Speeles. gewiesener Maasseii aus zwei divergenten Rassen einer gemeinsamen Stammart entsprungen ist, haben auch schon mehrere Gärtner ange- führt. Es geht also schon aus den bisherigen Erfahrungen, obwohl die- selben keinesweges zahlreich sind, mit Sicherheit hervor, dass auch hinsichtlich der Fähigkeit zur Bastarderzeugung, sowie der Fruchtbar- keit der so erzeugten Bastarde selbst, Speciesund Varietäten nicht durchgreifend verschieden sind. Wie es einerseits si- cher constatirte Fälle giebt, in denen nicht allein zwei allgemein als verschiedene Speeles anerkannte Formen unter sich Bastarde erzeugen, sondern auch diese Bastarde unter sich eine fruchtbare Nachkommen- schaft Generationen hindurch erzeugt haben, so kennen wir anderer- seits eben so unzweifelhafte Fälle, in denen zwei verschiedene Varie- täten oder Rassen, die nachweisbar aus einer und derselben Species- Form hervorgegangen sind, im Laufe von Generationen durch immer weiter gehende Divergenz des Charakters die Fähigkeit, mit einander Nachkommen zu erzeugen, vollständig eingebüsst haben. Mit anderen Worten: es besteht kein absoluter Unters chied zwischen den Bastarden (Hybridi) zweier verschiedener Arten, und den Blendlingen (Spurii) zweier verschiedener Un- terarten, Rassen oder Varietäten. Die physiologischen Ver- hältnisse ihrer Fortpflanzungsfilhigkeit sind nur quantitativ, nicht qua- litativ verschieden. Hieraus ergiebt sich die vollkonmiene Werthlosigkeit aller der vielen Versuche, die von früheren Systeniatikern gemacht worden sind, und die auch jetzt noch so vielfach wiederholt werden, die Speeles als die Summe aller Formen (Varietäten, Rassen etc.) zu umschrei- ben, welche unter sich fruchtbare Nachkommen erzeugen können. Bei dem grossen Gewicht aber, welches mit vollem Unrecht noch immer auf diesen Punkt gelegt wird, ist es interessant, noch nachträglich hervorzuheben, dass gerade zwei von den bedeutendsten Naturforschern die sich am meisten mit dem Speeles -Begriff beschäftigt haben, näm- lich der Schöpfer desselben, Linne, und der exclusivste Vertheidiger seiner absoluten Immutabilität, Agassiz, auf die oben besprochene Fähigkeit, fruchtbare Bastarde zu erzeugen, bei der Umschreibung der Art nicht den mindesten Werth gelegt haben. Linne ge- stand späterhin, im Widerspruch mit seiner früheren Definition, nicht allein verschiedenen Speeles die Fähigkeit zu, mit einander fruchtbar« Bastarde zu erzeugen, sondern er spricht sogar die oft von ihm ge- hegte Vennuthung aus, dass im Anfang von jedem Genus nur eine einzige Speeles geschaffen worden sei, aus der die übrigen durch Bastardbildung hervorgegangen seien ^). Agassiz weist sehr richtig 1) „Omnes species ejusdem generis ab initio unam constitueriut speciom, sed poste« III. Der physiologische Begriff der Species. 347 uach, dass die Versuche, die Species auf jenes Verhältniss zu ba- siren, auf einem vollständigen Irrthuin, und zum mindesten auf einer petitio principii beruhen (Essay on Classification , p. 250). Nach sei- ner Ansicht ist die fruchtbare geschlechtliche Vermischung zweier Individuen nur ein Ausdruck der innigen . Beziehungen zwischen denselben, und nicht dll Ursache ihrer Identität in auf einander fol- genden Generationen. Agassiz weicht dann noch sehr viel Aveiter da- durch von den gewöhnlichen Vorstellungen der Species -Dogmatiker ab, dass er nicht alle Individuen einer Species als Descendenten ei- nes Stammes betrachtet, sondern vielmehr zahlreiche Individuen von jeder Species an verschiedenen Stellen der Erde gleichzeitig geschaffen sein lässt. Die gewöhnhche Vorstellung, dass der Species - Begriff von der Generationssphäre abhängig sei, dass alle Individuen einer Species durch genealogische Bande verknüpft seien, ist nach Agas- siz's Ansicht ein Irrthum,, der in der Kindheit der Wissenschaft ein- geführt sei, und von dem es eine absurde Prätension sei, ihn noch jetzt festzuhalten. Gewiss können Avir für unsere Ueberzeugung , dass die physio- logischen Kriterien des Hybridismus in keiner Weise den Begriff der Species sicher zu stellen vermögen , kein vollgültigeres Autoritäts- Zeugniss beibringen, als dasjenige von Agassiz, welcher seinerseits die absolute Individualität und Immutabilität der Species mit allen Kräften zu vertheidigen sucht, und dennoch jene Argumente dafür vollständig verwirft. Wir heben dies hier noch ausdrücklich hervor, weil seltsamer Weise einer der geistvollsten Vertheidiger der Descen- denz-Theorie, vor dessen wissenschaftlichen Leistungen wir die grösste Hochachtung hegen, Huxley nämlich, in neuester Zeit wiederholt die physiologischen Verhältnisse des Hybridismus der Species und Varie- täten als den einzigen schwachen und angriffsfähigen Punkt der Ab- stammungslehre bezeichnet hat. Da die Gegner der letzteren hierin ein gewichtiges Zugeständniss für die Schwäche derselben gefunden haben, so müssen wir diesen Punkt hier noch besonders erledigen. In seinen vortrefflichen „Zeugnissen für die Stellung des Men- schen in der Natur", in welchen Huxley die Descendenz-Theorie warm vertheidigt, bemerkt derselbe: „Trotz alledem muss unsere An- nahme der Darwin' sehen Theorie so lauge nur provisorisch sein, als ein Glied in der Beweiskette noch fehlt ; und so lange alle Thiere und Pflanzen, die sicher durch Zuchtwahl von einem gemeinsamen Stamme entstanden sind, fruchtbar sind, und ihre Nachkommen unter einan- der, so lange fehlt jenes Glied. Denn für so lange kann nicht be- per genei-atioiies Iiybridas propagatae sirit" (Linne, „t'undauientum tVuctilieationis" im 6ten Band der Amoenitatcs acadenticae). 348 Entwickelungsgeschichtß der Arten oder Speeles. wiesen werden, dass die Zuchtwahl Alles das leistet, was zur Erzeu- gung natürlicher Arten nöthig ist." Wir bemerken gegen diesen Einwurf Huxley's Zweierlei: Er- stens erinnern wir an die oben bereits angeführten sicheren Thatsa- chen, dass zwei verschiedene Formen (Rassen oder Varietäten), wel- che „sicher durch Zuchtwahl von einem gemeinsamen Stamme entstan- den sind", keine fruchtbare Verbindung mit einander eingehen. Die Hauskatze von Paraguay paart sich nicht mehr mit ihrem europäischen Stammvater. Das europäische Meerschweinchen geht keine .fruchtbare Verbindung mehr mit seiner brasilianischen Stammform ein. Wir er- innern ferner daran, dass bei vielen Hausthier -Rassen, welche nach- weisbar von einer und derselben Stammform abzuleiten sind, eine fruchtbare Begattung schon wegen der sehr verschiedenen Grösse der Genitalien ganz unmöglich ist. Der Pony von Shetland , welcher nur die Grösse eines starken Hundes hat, kann sich nicht mit dem Rie- senpferde der Londoner Brauer verbinden, welches fast dreimal so hoch und lang ist, und vielleicht das zehnfache Volum besitzt. Ebenso wenig ist eine Begattung zwischen dem grossen Neufundländer Hunde und dem zwerghaften Carls -Hündchen mögUch. Wir erinnern ferner an die zahlreichen, völlig unfruchtbaren Ehen des Menschen- geschlechts. Wird man desshalb Mann und Weib einer solchen Ehe als zwei verschiedene Speeles ansehen wollen? Man wird uns vielleicht entgegnen, dass in diesen Fällen me- chanische (d.h. physikalische oder chemische) Hindernisse der fruchtbaren Begattung vorhanden seien. Allein sind die Hindernisse, welche die Unfruchtbarkeit in den meisten Fällen von Begattung ver- schiedener Speeles bedingen, etwa nicht mechanischer Natur? Bei Betrachtung dieser, wie vieler ähnlichen Verhältnisse, haben sich die Morphologen noch nicht gewöhnt, die mystische Vitalismus-Brille abzulegen , durch welche sie früher alle physiologischen Erscheinungen, und besonders diejenigen der Fortpflanzung zu betrachten gewohnt wa- ren. Wir bemerken daher nochmals ausdrücklich, dass die Phänomene des Hybridisraus sämmtlich einfache Theilerscheinungen der Fort- pflanzungs - Functionen , und als solche durch mechanische, physika- lisch-chemische Ursachen mit Nothwendigkeit bedingt sind. Insbeson- dere die Abhängigkeit der Fortpflanzungs- Erscheinungen von den Ernährungs -Functionen ist hierbei gehörig zu berücksichtigen. Wir erinnern bloss daran, dass, wie Darwin mit Recht besonders her- vorgehoben hat, oft die einfachsten Veränderungen in- der Lebensweise, und speciell in der Ernährung, ausreichend sind, um die Fruchtbar- keit, und oft selbst den Geschlechtstrieb zu vermindern, und endlich selbst ganz zu vernichten. Dies beweisen z. B. schon die Papageyen, Affen, Bären, Elephanten und viele andere Thiere, welche sich in ni. Der physiologische Begriff der Species. 349 der Gefangenschaft entweder niemals oder nur höchst selten fort- pflanzen. Was nun aber zweitens den hohen Werth betrifft, den Huxley den Erscheinungen des Hybridismus gegenüber der Descendenz- Theo- rie beilegt, so können wir ihnen diesen nicht zugestehen. Selbst wenn die angeführten Thatsachen, die hiergegen sprechen, nicht bekannt wären, würden wir ihnen, gegenüber der ungeheuren Beweiskraft aller übrigen organischen Erscheinungs - Reihen zu Gunsten der Ab- stammungslehre, nicht den geringsten Werth beilegen. Uebri- gens giebt auch Huxley selbst weiterhin zu , „dass die Zustände der Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit sehr falsch ver- standen werden, und dass der tägliche Fortschritt der Erkennt- niss dieser Lücke in dem Beweis eine immer geringere Bedeutung beilegt, besonders verglichen mit der Menge von Thatsa- chen, welche mit Darwin's Lehre harmo niren, oder von ihr aus Erklärung erhalten." Diesem Ausspruche schliessen wir uns vollständig an, und bemerken nur noch, dass uns gegenwärtig be- reits durch die angeführten Thatsachen die von Huxley hervorgeho- bene „Lücke im Beweis" ganz befriedigend ausgefüllt zu sein scheint, und dass demnach die Erscheinungen des Hybridismus, ebenso wie alle übrigen organischen Naturerscheinungen, nichtimWiderspruch, sondern im Einklang mit der Descendenz-Theorie stehen i). Endlich ist zu bemerken, dass die ganze Frage vom Hybridismus, abgesehen von allem bisher Angeführten, ihren kritischen Werth für die Begriffsbestimmung der Species vollständig einbüsst, sobald man sich erinnert, dass die Differenzirung der Geschlechter erst ein sehr später Vervollkommnungs-Akt in der Phylogenie der Orga- nismen ist, und dass es auch jetzt noch sehr zahlreiche niedere Orga- nismen, vorzüglich Protisten (Rizopoden, Protoplasten, Diatomeen, My- xomyceten etc.) giebt, welche gleich allen ältesten Arten nur auf un- geschlechtUchem Wege sich fortpflanzen. Da hier die Differenzirung der Geschlechter fehlt, so kann auch kein Hybridismus stattfinden ! Es ist also eben so wenig möglich, auf die physiologischen Funcr tionen des Hybridismus eine allgemein befriedigende theoretische De- finition des Species-Begriflfes zu begründen, als es praktisch möglich ist, durch die „wesentUchen" morphologischen Charaktere die Art als solche zu erkennen. In keiner einzigen Beziehung ist die Species oder Art durchgreifend und absolut, einerseits von der subordinirten Unterart, Rasse und Varietät, andererseits von der übergeordneten Untergattung und Gattung zu unterscheiden. 1) Wenngleich demnach die Hybridismus -Phänomene für die theoretische Begrift'sbe- stimmung der Species ganz werthlos sind, so verdienen sie doch in anderer Hinsicht das sorgfältigste Studium, da dieselben vielleicht eine (von der natürlichen Züchtung gännlieh verschiedene) Quelle der Entstehung neuer Arten bilden. 350 Entwickelungsgeschichte der Arteu oder Species. IV. Der genealogische Begriff der Species. Wie alle anderen morphologischen Fragen, so kann auch die schwierige und verwickelte Species - Frage nur vom Standpunkte der E n t w i c k e 1 u n g s g e s c h i c h t e aus gelöst werden, wie es schon längst von den einsichtsvollsten Biologen, insbesondere Bär und Schlei- den, ausgesprochen worden ist. (Vergl. S. 331 und S. 6.) Dass dio Species als absolute Individualität, als unveränderliche und constante Formeinheit, weder in der systematischen Praxis durch ihre morpho- logischen „wesentlichen Charaktere" unterschieden, noch als theoreti- scher Begriff durch ihre physiologischen Fortpflanzungs - Functionen festgestellt werden kann, haben wir im Vorhergehenden gezeigt. Es erübrigt also nur noch, festzustellen, welchen Werth die Entwicke- lungsgeschichte dem Species -Begriffe zuweist. Das Wichtigste hier- bei ist, dass man gleichmässig die individuelle und die paläonto- logische Entwickelungsgeschichte, die Ontogenie und die Phylogenie berücksichtigt, und vorzüglich die gegenseitige Ergänzung dieser bei- den Hauptzweige der Morphogenie benutzt. Wenn wir auf die zahlreichen verschiedenen Versuch«, den Spe- cies - Begriff zu bestimmen , zurückblicken, so finden wir zwar meistens die Beziehungen zur Entwickelungsgeschichte nicht deutlich ausge- sprochen , dennoch aber ist in vielen dieser Versuche eine Ahnung oder ein dunkles Gefühl von dem hohen Werthe jener Beziehungen nicht zu verkennen. Wir können dies sogar bereits in jener ältesten Definition der Species von Linne erkennen, welche für die Anschau- ungen seiner meisten Nachfolger raaassgebend geblieben ist: „Species tot numeramus, quot diversae formae a principio sunt creatae." Die gemeinsame Abstammung von einer einzigen gemeinsamen Stammform, welche hiernach alle unveränderlichen Glieder einer con- stanten Species verbindet, involvirt zugleich die Identität der Ent- wickelung aller Individuen, welche einer und derselben Art ange- hören. Dasjenige Band, welches alle Individuen einer Species hier- nach zusammenhält, ist das genealogische Princip der Blutsverwandt- schaft. Die grosse Geltung, welche sich diese theoretische, nicht unmit- telbar durch die Beobachtung empirisch zu begründende Definition der Species nach Linnö erwarb, ist besonders darin zu suchen, dass die- selbe eine sehr wichtige wahre Vorstellung mit einer sehr einflussreich gewordenen falschen verbindet. Richtig ist die in jenem Satze liegende Behauptung, dass die Formen -iVehnlichkeit oder „Verwandtschaft", welche alle Individuen einer Species verbindet, auf ihrer gemeinsamen Abstammung von einer gemeinschaftlichen Stammform beruht. Un- lY. Der genealogische Begriff der Species. 351 nichtig dagegen ist die damit verknüpfte Behauptung, dass die Stamm- I formen der verschiedenen Species ursprünglich verschiedene und un- ; abhängig von einander erschaffen sind. Sowohl bei Linne, als bei iCuvier, der dieser Ansicht die ausgedehnteste Geltung verschaffte, und ebenso bei den meisten ihrer Nachfolger , war hierbei offenbar die Autorität der herrschenden, durch religiöse Dogmen schon in frühe- ■ster Kindheit befestigten, und auf angebliche Offenbarungen begrün- ■ deten Schöpfungs- Mythen vom grössteu Einfluss. Indem man von (diesen sich mehr oder minder unbewusst leiten Hess, nahm man an, > dass von jeder Species ursprünglich entweder ein einziges hermaphro- ditisches Individuum, oder ein einziges gonochoristisches Paar „er- schaffen" worden sei, und dass alle anderen Individuen der Species von diesen abstammen Dass dieses Dogma von der ursprünglichen Erschaffung einer be- i sonderen Stammform für jede Species völlig unbegründet ist, dass viel- mehr diese angeblichen Ur- Individuen oder Ur- Eltern der Species selbst wieder durch das Band der Blutsverwandtschaft zusammenhän- gen, ist bereits im neunzehnten Capitel bewiesen worden. Die Be- trachtung jener genealogischen Species -Definition von Linn6, Cuvier und ihrer Schule ist aber desshalb von besonderem Interesse, weil sie zeigt, welchen hohen Werth dieselben der gemeinsamen Abstam- ' mung als der wirkenden Ursache der Formen-Aehnlichk eit „verwandter" Organismen zuschrieben. Obgleich die verschiede- nen Unterarten, Kassen und Varietäten, welche sie zu einer einzigen Species rechneten, oft noch mehr als zwei ganz verschiedene Arten in ihren Charakteren divergirteu, haben sie dennoch ohne Weiteres ge- meinsame Abstammung für dieselben angenommen. Und doch haben diese Systematiker, welche behaupten, dass sämmtliche in den For- menkreis der Art fallende Individuen entweder von gemeinsamen oder von identischen Stamm -Eltern abstammen, während die verschiedenen (obschon nahe verwandten) Arten ebenso verschiedene Stamm -Eltern haben sollen — doch haben alle Urheber und Anhänger dieser fast ' allgemein herrschenden Vorstellung niemals einen directen empirischen Beweis für diese Behauptung vorzubringen vermocht , niemals eine stär- kere und überzeugendere Analogie dafür anzuführen gewusst, als es die Anhänger der von ihnen bekämpften Trantasmutionslehre für ihre 1) Unter deu verscliiedenen Modificatioiieu , woldie dieser Schöpfungs -Mythus neuer- dings erfahren hat, sind besonders diejenigen von Agassi/ bemerkenswerth , welcher nicht ein einzelnes Individuum oder ein einzelnes Eltornpaar von jeder Species ursprüng- lich erschaffen sein lässt, sondern annimmt, dass von jader Art gleich eine grössere An- zahl von Individuen und selbst au verschiedenen Stelleu der Erdoberfläche unabhängig von einander Gruppen von Individuen derselben Art ,, erschaffen" wurden. Auch glaubt derselbe, dass diese ursprünglich erschaffenen Individuen nicht als reife Species - Formen, sondern als „Eier" erschaffen worden seien. 352 Entwickelungsgeschichte der Arten oder Species. analoge und nur weiter gehende Behauptung vermocht haben, dass die verschiedenen Arten von gemeinsamen Stammformen abzuleiten sind. Der Beweis für die von den Anhängern des Species-Dogma's aufgestellte Behauptung, dass die ursprünglichen Stammformen der verschiedenen Speeles verschiedene, und nicht dieselben seien, ist niemals geführt worden und kann niemals geführt w^erden. Für die wilden Thiere und Pflanzen im Naturzustand ist die Beweisführung hierfür rein unmög- lich; für die domesticirten Formen fehlt den Vertheidigern der Species- Constanz selbst jeder Anhaltspunkt zur Feststellung der Speeles; sollte aber experimentell die Frage entschieden werden, so würde nur der Cirkelschluss , die Petitio principii offenbar werden, in welcher man sich bei jener Bestimmung beständig bewegt. Denn angenommen, man hält die Nachkommen eines einzigen Eltern - Paares oder mehre- rer, nicht zu unterscheidender, fast absolut gleicher Eltern -Paare eine lange Reihe von Generationen hindurch in reiner Inzucht; man erzieht aus denselben, indem man sie gruppenweise unter sehr ver- schiedenen Lebensbedingungen erhält, mehrere verschiedene Spielar- ten; diese Spielarten entfernen sich allmählich, durch Divergenz des Charakters, weiter von einander, als es sonst verschiedene Speeles derselben Gattung thun; endlich befestigen sich diese tiefgreifenden Unterschiede durch eine lange Reihe von Generationen so sehr, dass ein Rückschlag in die gemeinsame Stammform nicht mehr stattfindet — dies Alles vorausgesetzt, wie es als möglich vorausgesetzt werden muss — werden die Anhänger des Dogma's von der Constanz der Art dadurch überzeugt sein, dass aus einer Art mehrere entstanden sind? Nicht im Mindesten! Sie werden vielmehr sagen, dass diese verschie- denen Formenreihen, welche mit ihren tief durchgreifenden Differenzen sich unverändert fortpflanzen, und thatsächlich in allen Charakteren stärker, als sogenannte „gute Arten" divergiren, doch nur Varietäten oder Rassen einer und derselben Art seien, weil sie eben von einem gemeinsamen Eltern- Paare abstammen. Einerseits also definirt man die Speeles als den Inbegriff aller derjenigen, wenn auch noch so ver- schiedenen Individuen, die von einer und derselben Stammform ent- sprungen sind, und rechnet also zu einer einzigen Art eine Anzahl von ganz verschiedenen Formen bloss desshalb, weil ihre Abstam- mung von einer gemeinsamen Stammform erwiesen ist. Andrerseits setzt man für eine Anzahl höchst ähnlicher Individuen gemeinsame Abstammung voraus, weil man sie wegen ihrer Aehnlichkeit zu einer Art rechnet. Schon aus diesem Widerspruch geht hervor, dass sich die Spe- cies auf diesem genealogischen Wege, durch das Merkmal der ge- meinsamen Abstammung, weder in der systematischen Praxis unter- scheiden , noch als theoretischer Begriff fixiren lässt. Vielmehr würden « IV. Der genealogische Begriff der Species. 353 wir in letzterer Beziehung zu der Ueberzeugung gelangen, dass die Species nicht von dem Stamme oder Phylon verschieden ist, jfür des- sen sämmtliche Gheder wir nach der Descendenz - Theorie gemeinsame Abstammung postuliren müssen. Wir würden also dadurch zur An- nahme der Identität der genealogischen Individualität zweiter und drit- ter Ordnung, der Species und des Phylon geführt werden. In der That findet aber diese Identität nicht statt. Vielmehr lässt sich der Begriff der Species als einer genealogischen Individuahtät , welche der höheren Individualität des Phylon untergeordnet ist, eben so wohl theoretisch feststellen, als es praktisch nothwendig und möglich ist, Species zu unterscheiden und zu benennen. Wir glauben, jene genea- logische Begriffsbestimmung der Species in folgendem Satze formuliren zu können: „Die Species oder organische Art ist die Ge- sammtheit aller Zeugungskreise, welche unter gleichen Existenzbedingungen gleiche Formen besitzen." Die Species ist hiernach ebenso eine Vielheit von Zeugungskrei- sen, wie das Phylon eine Vielheit von Species ist. Diese Beziehung der Species zum Generationscyclus oder Zeugungs- Kreise ist bisher noch nicht bestimmt erkannt worden. Zwar haben einige Autoren einen Theil der Zeugungskreise , nämhch die amphigenen Eikreise oder Eiproducte (p. 83, 87) als „Art -Individualität", oder als „systemati- sches" oder Species -Individuum bezeichnet, und die Summe aller glei- ' eben Zeugungskreise als Species. Indessen ist hierbei bloss der am- j phigene und nicht der monogene Theil der Zeugungskreise in Betracht 'gezogen. Ferner ist nicht der Umstand berücksichtigt, dass bei der : grossen Mehrzahl aller Thiere schon der sexuelle Dimorphismus , und ' bei Manchen ausserdem noch ein weiter gehender Polymorphismus die vollständige Repräsentation der Arten -Formen durch ein einziges Ei- product unmöglich macht. Dann aber, und dieser Umstand ist noch viel wichtiger, ist bei der obigen Aufstellung der Formen -Kreis der ' Species als ein begrenzter angenommen , während er doch in Wirk- lichkeit wegen der allen Species eigenen unbegränzten Variabilität sich unmöglich vollkommen scharf umschreiben lässt. Wenn daher auch iin ersterer Beziehung wenigstens bei denjenigen hermaphroditischen 1 Species, welche der Selbstbefruchtung fähig sind (wie die meisten Pha- : nerogamen , aber nur eine verhältnissmässig geringe Anzahl von Thie- 1 reti) , jedes einzelne Eiproduct vollkommen den gesammten Formenkreis • der Species repräsentiren könnte , so wird diese Möglichkeit durch den : zweiten Umstand, durch die grenzenlose Variabilität aller Species, ■vollkommen wieder aufgehoben. Um daher unsere genealogische Definition der Species als der ! Summe aller gleichen Zeugungskreise als allgemein gültig hinstellen 1 zu können , müssen wir zunächst hervorheben , dass sowohl die mono- Hacckcl, GoncroUc Morphologrie , II. 90 354 Entwickelungsgeschichte der Arten oder Speeles. genen als die amphigenen Zeugiingskreise hierbei in Betracht kommen. Die geschlechtslose Species ist die Summe aller gleichen Spaltungskreise. Die sexuell differenzirte Species dage- gen ist die Summe aller gleichen Eikreise (S. 82 f. f.). Zwei- tens müssen wir die monomorphen und die polymorphen Zeu- gungskreise unterscheiden. Drittens müssen wir von der Varia- bilität der Zeugungskreise dabei absehen, und die äusseren Existenzbedingungen, die Anpassungsverhältnisse, deren Wechsel in Verbindung mit der Variabilität neue Species erzeugt, als constant und sich gleich bleibend voraussetzen. Denn wenn wir die Verände- rungen der Existenz -Bedingungen und die davon abhängigen Verän- derungen der Species selbst verfolgen, wenn wir die Species als hi- storisch entwickeltes Wesen vom paläontologischen Gesichtspunkte aus betrachten, so finden wir, dass die Species ein untrennbares Glied des Genus ist, gleichwie das Genus nur ein subordinirtes Glied der Familie, diese ein Glied der Ordnung, die Ordnung ein Glied der Klasse, und die Klasse endlich ein abhängiges Glied des Stammes ist. Die Bedeutung der Species von diesem Gesichtspunkte aus , als Glied des Stammes, und als Kategorie des systematischen Stammbaums, haben wir noch im nächsten Abschnitte zu erörtern. Als die nächste Aufgabe bleibt uns daher hier die Betrachtung des Polymorphismus der Zeugungskreise übrig, welcher bei den bis- herigen Species-Definitionen entweder gar nicht oder doch nicht gehörig berücksichtigt worden ist. Es scheint aber, wenn unsere genealogische Definition der Species erschöpfend sein soll, unerlässlich, auch die durch den Polymorphismus adelphischer oder geschwisterlicher Zeugungskreise bedingten Form - Difi"erenzen mit in die Bestimmung aufzunehmen. Wir können in dieser Beziehung zunächst monomorphe und polymorphe, und un- ter den letzteren wiederum dimorphe, trimorphe Species etc. unterscheiden. Monomorphe Species oder einförmige Arten nennen wir die- jenigen, bei welchen sämmtliche adelphische Zeugungskreise gleich oder doch nahezu gleich sind. Dies ist der Fall bei allen Spaltungs- kreisen oder esexuellen (monogenetischen) Zeugungskreisen ; bei denen alle Bionten der Species durch ungeschlechtliche Zeugung entstehen (Cycli amphigenes). Ferner gehören hierher alle Eikreise oder sexuel- len (amphigenetischen) Zeugungskreise , welche nur hermaphroditische Bionten produciren, also die allermeisten Pflanzen (nur die dioecischen ausgenommen), ferner eine geringe Anzahl von Thieren (die herma- phroditischen Infusorien, Würmer, Mollusken etc.). Bei allen diesen Organismen sind sämmtliche Zeugungskreise, welche einer Species angehören, unter gleichen äusseren Existenz - Bedingungen einander gleich. Jeder Cyclus generationis ist hier der vollstän- dige Repräsentant seiner Species. IV. Der genealogische Begriff der Species. 355 Polymorphe Species dagegen, oder vielförmige Arten, nennen wir diejenigen, welche aus mehreren verschiedenen, mindestens zwei verschieden geformten Zeugungskreisen zusammengesetzt sind. Hier- her gehören alle Species mit Eikreisen oder sexuellen (amphigeneti- schen) Zeugungskreisen, welche gonochoristische Bionten produciren, also die allermeisten Thiere und die dioecischen Pflanzen. Hier ist niemals ein einzelner Cyclus generationis der vollstän- dige Repräsentant seiner Species. In den allermeisten Fällen ist bei diesen Arten der Polymorphis- mus der Eikreise oder Eiproducte zunächst durch die Vertheilung der beiderlei Geschlechtsorgane auf zwei verschiedene physiologische Indi- viduen bedingt. Dieser sexuelle Dimorphismus findet sich weit häufiger bei den Thieren als bei den Pflanzen, und dieser Umstand steht offenbar in inniger Beziehung zu der weiteren physiologischen Arbeitstheilung , welche im Allgemeinen die Thiere vor den Pflanzen auszeichnet. Auch der Umstand, dass die meisten Pflanzenstöcke zeit- lebens festsitzen, während die meisten Thiere sich frei bewegen, wird zu der weit häufigeren Ausbildung des Gonochorismus der Bionten bei den Thieren Veranlassung gegeben haben. Denn durch die freie Beweglichkeit ist den beiden Geschlechtern der Thiere, auch bei voll- ständiger Vertheilung der beiderlei Zeugimgsorgane auf verschiedene Bionten, reiche Gelegenheit zur Vereinigung gegeben, während die Vereinigung der männlichen und weiblichen Geschlechtsproducte , wel- che für die eigentliche sexuelle Fortpflanzung stets unerlässlich ist, bei den räumlich getrennten und festsitzenden dioecischen Pflanzen in weit höherem Grade dem Zufall überlassen bleibt. Die Diff'erenz in der Bildung der beiderlei Personen oder der Grad des sexuellen Dimorphismus ist bei den verschiedenen dimorphen Spe- cies ausserordentlich verschieden entwickelt. In sehr vielen Fällen ist es lediglich die verschiedene Beschaffenheit der Geschlechtspro- ducte, welche die beiden Zeugungskreise unterscheidet. Abgesehen davon, dass die Geschlechtszellen sich bei den Weibchen zu Eiern umbilden , während sie bei den Männchen Zoospermien entwickeln, sind beide Generations - Cyclen hier in Grösse, Körperform und Structur völlig gleich, so bei den meisten im Wasser lebenden Thieren, den Anthozoen, Echinodermen , sehr vielen Mollusken, Crustaceen, Fischen etc. Auch bei den meisten dioecischen Pflanzen ist dies der Fall. Insbesondere beschränkt sich meistens auch hierauf der Geschlechts- unterschicd der gonochoristischen Corraen, wo die beiderlei Geschlechts- producte nicht allein auf verschiedene Personen, sondern auch auf verschiedene Stöcke vertheilt sind, wie bei den dioecischen Bäumen, Anthozoen -Colonicen etc. Das Zusammentreffen der beiderlei Zeu- gungsstoffe bleibt in diesen Fällen , da eine eigentliche Begattung nicht 23* 356 Entwickeluiigsgeschiclite der Arten oder Speciee. stattfindet, dem zufälligen Transporte durch die Bewegung des Me- diums überlassen , in dem das Thier oder die Pflanze lebt. Eine wei- tere Ausbildung des sexuellen Dimorphismus tritt bei den gonochori- sten Zeugungskreisen dann ein, wenn die Vereinigung der beiderlei Genitalproducte mit einer unmittelbaren Vereinigung der beiderlei se- xuellen Bionteu, mit Begattung verbunden ist. Es bilden sich dann mehr oder minder complicirte Begattungsapparate aus, welche sich über einen engeren oder weiteren Umkreis der Genitalstätteu erstre- cken und oft schon äusserlich die beiden Geschlechter unterscheiden lassen. Sehr viel auffallender und folgenreicher gestaltet sich aber der sexuelle Dimorphismus durch Ausbildung der secundären Geschlechts- differenzen, durch die verschiedenartige sexuelle Differenzirung von Körpertheilen , welche zunächst an und für sich bei dem Fortpflan- zungs - Geschäfte nicht unmittelbar betheiligt sind. Es entstehen dann die oft so sehr auffallenden Unterschiede der beiden Geschlechter in Grösse, Form, Färbung, Entwickelung einzelner Theile und Organe, welche vorzugsweise bei den höher stehenden Thieren sich allgemein vorfinden, und Mann und Weib so auffallend unterscheiden. Mit der Form - Differenzirung der beiden Geschlechts -Personen ist dann auch eine weiter gehende Arbeitstheilung in ihren Functionen verbunden, eine Erscheinung, die bei den Säugethieren , Vögeln, Reptilien, Am- phibien, Insecten nach ungemein verschiedenartigen Richtungen hin sich entwickelt. Meist ist es hier das Weibchen, seltener das Männ- chen, welchem vorzugsweise die Sorge für die Nachkommenschaft an- heimfällt, während das andere Geschlecht für Ernährung, Beschützung der Familie u. s. w. sorgt. Bei den Pflanzen sind diese secundären Geschlechtsdift'erenzen ungleich seltener und in viel geringerem Grade als bei den Thieren entwickelt. Die von Darwin in so geistreicher Weise hervorgehobene sexuelle Zuchtwahl, welche sicher bei der Bil- dung der secundären GeschlechtseigenthümUchkeiten der Thiere eine hervorragende Rolle spielt, fällt hier bei den Pflanzen natürUch fort, ebenso die stark einwirkende Sorge für die Nachkommenschaft, die Neomelie, welche sicher bei vielen Thieren die nächste Ursache zur Entwickelung besonderer secundärer Geschlechtseigenthümlichkeiten ist. Unter den Pflanzen ist es schon eine seltene Ausnahme, wenn die sexuelle Arbeitstheilung so weit geht, wie z. B. bei Vallkneria. Der höchste Grad der sexuellen Differenzirung findet sich jedoch nicht bei den Wirbel thieren vor, obwohl hier die Leistungen der bei- den Geschlechter in der Oeconomie etc. der Speeles am weitesten aus einander gehen , sondern bei einer geringen Anzahl von niederen Thie- ren, bei denen offenbar eigenthümliche spccielle Verhältnisse in der Lebensweise etc. in ausserordentlichem Maasse umbildend auf die Form IV, Der genealogische Begriff der Speeles. 357 der beiden Geschlechter gewirkt haben. Hier sinkt die eine der bei- den Personen, und zwcar meistens das Männchen, fast zum blossen Werth eines Geschlechtsorgans herab. Dies ist der Fall bei den einen Hectocotylus producirenden Männchen der Philonexiden unter den Ce- phalopoden , bei den gänzlich verkümmerten Männchen vieler Rotato- rien, vieler Crustaceen, insbesondere aus den Ordnungen der Cirripe- dien, der parasitischen Copepoden etc. Bei allen diesen gonochoristen Species wird der vollständige For- menkreis der Art nicht durch ein einziges monomorphes Eiproduct, sondern durch die Summe von zwei verschiedenen, dimorphen Eipro- ducten gebildet, da ja jedes der beiden Geschlechter einem besonderen Eie seine Entstehung verdankt. So wesentlich nun auch dieser Umstand die gonochoristischen Zeugungskreise von den hermaphroditischen zu trennen scheint, so verliert doch diese Differenz viel von ihrem Gewicht, sobald man sich erinnert, dass die Verschiedenheit der beiderlei Ei- producte, der männlichen und weiblichen, nicht in einer ursprüng- lichen Verschiedenheit der Eier begründet ist, sondern in der "Wirkung bestimmter Einflüsse, welche die reifen Eier vor ihrer Entwicklung betreffen. Bei den Bienen liefert ein und dasselbe Ei, wenn es von den Zoospermien befruchtet wird, ein weibliches, wenn es nicht be- fruchtet wird, ein männliches Eiproduct. Bei den höheren Thieren scheint vielfach der verschiedene Entwickelungsgrad, den das Ei im Moment der Befruchtung erreicht hat, dafür entscheidend zu sein, ob aus dem- selben ein Männchen oder ein Weibchen wird. Wenigstens sollen bei den Wiederkäuern nach Thury's Behauptung diejenigen Eier, welche im Anfange der (mit der Loslösung der reifen Eier verbundenen) Brunst befruchtet werden, Weibchen, diejenigen dagegen, welche später, am Ende der Brunst befruchtet werden, Männchen liefern. Wie wenig zahlreich ünsere Erfahrungen auf diesem Gebiete auch sind, so scheint doch soviel daraus hervorzugehen, dass die Differenz der beiden Ge- schlechter nicht durch eine ursprüngliche Verschiedenheit der Eier be- dingt ist, sondern vielmehr von den Umständen abhängt, unter denen das Ei befruchtet wird. Je nach den verschiedenen Uniständen der Befruchtung kann ein und dasselbe Ei sich entweder zu einem weib- lichen oder zu einem männlichen Embryo gestalten. Für die Beurthei- lung des sexuellen Dimorphismus der gonochoristen Zeugungskreise ist dieser Umstand sehr wichtig, denn es geht daraus hervor, dass die beiden verschiedenen Eiproducte, welche bei diesen Organismen die Species repräsentiren , lediglich als Differenzirungs-Resultate eines und desselben Eikörpers anzusehen sind, bedingt durch die verschiedenen Umstände seiner Befruchtung. Während der Dimorphismus der Species, welcher durch die se- xuelle Differenzirung der Zeugungskreise bedingt ist, im Thierreich so 358 Entwickelungsgesehiclite der Arten oder Speeles. ausserordeutlich weit verbreitet und wichtig, im Pflanzenreiche selte- ner ist, so gehören dagegen diejenigen Fälle, in denen die Speeles durch mehr als zwei verschiedene polymorphe Eiproducte repräsen- tirt wird, zu den grossen Seltenheiten. Am ausgiebigsten entwickelt ist dieser mehrfache Polymorphismus der Eiproducte unter denjenigen Insecten, welche in Beziehung auf psychische Ent Wickelung die höchste Stufe unter den Gliederthieren einnehmen, insbesondere bei den Hy- menopteren in den merkwürdigen Staaten der Ameisen, Bienen etc. Gewöhnlich sind es hier drei, selten vier oder sogar fünf verschie- dene Eiproducte, welche die Speeles zusammensetzen. Der Trimor- phismus der Bienen und vieler Ameisen beruht darauf, dass die Weibchen nur theilweise geschlechtsreif werden, während der andere Theil derselben, deren Genitalien sich nicht entwickeln, sich zu Arbei- tern umgestaltet, so dass also die Species sich hier aus einem männ- lichen und zwei verechiedenen weiblichen Eiproducten zusammensetzt. Von dem Tetramorphismus, der bei den Termiten, Ameisen und einigen anderen Hymenopteren sich findet, ist es noch zweifelhaft, ob die beiden sogenannten „geschlechtslosen" Formen, die Arbeiter und die Soldaten, welche neben den entwickelten Männchen und Weibchen den Staat zusammensetzen, wirklich immer, gleich den letzteren, selbststän- dige Eiproducte sind, oder ob nicht mindestens die Soldaten in vielen Fällen bloss Larven von Sexualformen sind. Bei vielen Ameisen ist sicher das erstere der Fall, und namentlich bei den Gattungen EvUon und Criiptoceriis ist jede Species wirklich aus vier verschiedenen Ei- producten zusammengesetzt, aus geflügelten Männchen und Weibchen, und zwei verschiedenen Classen von Arbeitern, grossköpfigen und klein- köpfigen. Bei den blättertragenden Ameisen oder Sauben, (Occodoma ceplialoles) finden sich sogar fünf verschiedene Formen von Zeugungs- kreisen in einer und derselben Species vor, indem neben den geflügel- ten Männchen und Weibchen hier nicht weniger als drei verschiedene Arten von geschlechtslosen Arbeitern sich finden : kleine Arbeiter, grosse Arbeiter und unterirdische Arbeiter. Hier liegt also wirklicher Penta- morphismus der Species vor^). Man stellt diese polymorphen Thierstaaten der Insecten gewöhn- lich mit den polymorphen Thiercolonieen der Siphonophoren etc. zusam- men. Der wesentliche Unterschied Beider liegt aber darin, dass die polymorphen constituirenden Individuen der Gesammtheit im letzteren Falle ungeschlechtlich erzeugte morphologische Individuen fünfter Ord- 1) Ycrgl. über den Polymorphismus der Insecten und der Ameisen insbesondere die interessanten Angaben von Henry Walter Bates in seinem Eeisewerke : Der Naturfor- scher am Amazonen - Strom (1866); einem Werke, welches reich an sehr werthvollen oecologischen Beobachtungen und besonders an wichtigen speciellen Beiträgen für die De- sccndenz- Theorie ist. V. Gute und schlechte Speeles. oÖW iiung (Personen) sind, welche die concrete Form des Stockes, also ein physiologisches Individuum sechster Ordnung zusammensetzen; während sie im ersteren Falle geschlechtlich erzeugte Personen sind, welche als selbstständige physiologische Individuen (Bionten) ein genealogisches In- dividuum erster Ordnung, den polymorphen Eikreis iu der abstracteu Form des Thierstaates zusammensetzen. Der differenzirte Thierstaat ist also nichts Anderes als die specifische Einheit von mehreren poly- morphen Bionten in einem amphigeuen Generations-Cyclus. Aus diesen Erläuterungen wird zur Genüge hervorgehen, dass der PolymorphiJsmus der Zeugungskreise bei der Bestimmung der polymor- phen Speeles wohl zu berücksichtigen ist, und dass demnach unsere Definition der Speeles als der genealogischen Individualität zweiter Ordnung die oben gegebene Fassung erhalten muss: „Die Speeles ist die Gesammtheit aller Zeugungskreise, welche unter gleichen Existenzbedingungen gleiche Form be- sitzen, und sich höchstens durch den Polymorphismus adelphischer Bionten unterscheiden." V. Gute und schlechte Speeles. „Gute und schlechte Arten" bilden eine der gebräuchlichsten Un- terscheidungen in der systematischen Praxis. Gleichwohl haben die meisten Systematiker gar keine klaren oder nur falsche Vorstellungen über den eigentlichen Werth dieser Unterscheidung, wesshalb wir hier ein paar Worte darüber beifügen wollen. „Gute Arten" werden gewöhnlich entweder solche Speeles ge- nannt, deren meiste Charaktere innerhalb des kurzen Zeitraums, seit dem sie beobachtet sind, sich sehr wenig verändert haben, auch jetzt noch sehr wenig variiren und sich desshalb scharf umschreiben lassen; oder solche Arten, deren verbindende und den Uebergang zu anderen Artep vermittelnde Zwischenformen uns unbekannt sind, und deren un- terscheidende Charaktere daher scharf hervortreten. Je besser wir eine Speeles kennen, je grösser die Anzahl der dazu gehörigen Individuen ist, die wir haben untersuchen können und je weiter ihr geographischer Verbreitungsbezirk ist, insbesondere aber je verschiedenartiger ihre Existenzbedingungen an den verschiedenen Wohnorten sind , desto um- fangreicher und desto mehr divergirend ist gewöhnUch der Varietäteu- büschel dieser Art, desto zahlreicher sind die unmittelbaren Uebergänge zu verwandten Arten und in desto mehr verschiedene Formengruppeu lässt sich diese eine Speeles spalten, Formengruppen, die von den. einen Systematikern für Arten, von den andern bloss für Varietäten gehal- ten werden. Daher sind denn in der Regel die am wenigsten bekann- ten Speeles die „besten", und sie werden um so schlechter, je besser f 360 Entwickelungsgeschiehte der Arten oder Speeles. wir sie keuiien lernen, je weiter wir die Divergenz ihres Varietäten- büschels verfolgen und je deutlicher wir ihren genealogischen Zusam- menhang mit verwandten Formen nachweisen können. Wenn Jemand behaupten woUte, dass die grosse Mehrzahl aller bekannten Arten „gute" seien, so würde sich diese Behauptung, ihre Wahrheit voraus- gesetzt, ganz einfach aus unserer ausserordentlichen Unkenntniss von der übergrossen Mehrzahl aller Organismen - Arten erklären. Von un- endlich vielen Arten sind nur einzelne wenige oder gar nur ein einzi- ges Exemplar bekannt. Dazu kennt man die meisten nur von, wenigen ihrer Wohnorte her, und bei weitem nicht aus allen Theilen des Ge- biets, über welches sie verbreitet sind. Von sehr vielen Speeles ken- nen wir nur einzelne Alters- und Eutwickelungs - Zustände , oder nur das eine der beiden Geschlechter. Und wie oberflächlich und ungenau sind die allermeisten Untersuchungen, auf welche neue Speeles begrün- det werden! Man begnügt sich mit der Erfassung dieses oder jenes mehr oder weniger in die Augen fallenden oberflächlichen Unterschieds, gewöhnlicji in der Form, Färbung oder dem Grössenverhältniss eines einzelnen Theils hervortretend, ohne die geringe Bedeutung dieses spe- cifischen Charakters, seine Variabilität etc. gehörig zu würdigen. Hier- bei kommen wir wieder auf den Grundfehler zurück, der unsere ganze Systematik beherrscht, dass man stets nur bemüht ist, das Unter- scheidende jeder organischen Form möghchst scharf hervorzuheben, während man das Gemeinsame, das sie mit den nächstverwandten For- men verbindet, gänzlich vernachlässigt. Zu welchen Irrthümern diese streng analytische Richtung und der Ausschluss der synthetischen Ver- gleich ung führt, haben wir schon oben gezeigt, als wir die nothwen- dige Wechselwirkung von Analyse und Synthese erörterten (Bd. I, S. 74). „Schlechte Arten" im Sinne der Speciesfabricanten würden alle Speeles ohne Ausnahme sein, wenn wir sie vollständig kennen würden, d. h. wenn wir nicht allein ihren gesammten gegenwärtigen Foj-men- kreis, wie er über die ganze Erde verbreitet ist, kennen würden, son- dern auch alle ihre ausgestorbenen Blutsverwandten, die zu irgend einer Zeit gelebt haben. Es würden dann überall die verbindenden Zwischenformen und die gemeinsamen Stammformen der einzelnen Ar- ten hervortreten, deren Kenntniss uns jetzt fehlt. Es würde ganz un- möghch sein, die einzelnen Formengruppeu als Speeles scharf von einander abzugrenzen, so unmöglich als es an jedem Baume ist, zu sagen wo der eine Zweig aufhört und der andere anfängt. Die mei- sten derjenigen Arten, die wir genauer kennen, werden allerdings im Systeme als „gute Arten" fortgeführt. Dies ist aber nur dadurch möglich, dass man einestheils nicht ihre historische Entwickelung und ihren ge- nealogischen Zusammenhang mit den verwandten Foi'men berticksich- VI. Stadien der specifischen Entwickelung. 361 Itigt, auderntlieils aber die zahlreichen am stärksten divergirenden und lam meisten abweichenden Formen ihres Varietätenbüschels, die schon ■von Andern als „gute Arten" angesehen werden, als „schlechte'' betrach- itet, und als Varietäten um die „typische" Hauptform sammelt. Aber lauch desshalb erscheinen uns viele unter den genauer bekannten Spe- icies als „gute", d. h. scharf zu umschreibende Arten, weil sie bereits iim Erlöschen sind und ihrem Untergange entgegengehen, weil ihr Varietäten -Büschel sich nicht mehr ausdehnt, und weil sie schon auf j einen engen Raum und einförmige Existenzbedingungen zurückgedrängt ! sind, so dass sie sich nicht mehr an neue Bedingungen anpassen können i). VI. Stadien der specifischen Entwickelung. Der Parallelismus in der Entwickelung der Individuen, der Arten und der Stämme zeigt sich, wie wir bereits oben hervorgehoben haben, auch darin, das sich drei verschiedene Stadien der Genesis : in allen drei Entwickelungsreihen unterscheiden lassen (S. 320). Der Aufbildung, Umbildung und Rückbildung der Bionten oder physiologi- schen Individuen entspricht die Aufblühzeit, Blüthezeit und Verblüh- zeit der Arten und Stämme, sowie aller übrigen Kategorieen des Sy- stems, welche zwischen die Arten und Stämme eingeschaltet werden. Wir beschränken uns an dieser Stelle darauf, jene drei Stadien in ihrer Bedeutung für die Entwickelung der Arten oder Speeles noch et- was näher zu betrachten. I. Die Aufblühzeit der Arten (Epncme spcciervm), welche das erste Stadium der specifischen Enwickelung bildet, und welche der Aufbildungszeit oder Anaplasis der physiologischen Individuen ent- spricht, ist gleich der letzteren vorzugsweise durch das "Wachs th um charakterisirt. Sie beginnt mit der Entstehung der Arten, und reicht bis zu ihrer vollständigen Ausbildung, welche als Reife oder Blüthezeit das zweite Stadium der Art-Entwickelung bildet. Die Entstehung der Arten, welche der Entstehung des Individuums durch Zeugung entspricht, erfolgt durch die Wechselwirkung zwischen Vererbung und Anpassung, durch den Process der natürlichen Züchtung im Kampfe um das Dasein, welchen wir im neunzehnten Capitel ausführlich erör- tert und als einen mechanisch -physiologischen Vorgang nachgewiesen haben 2). Das Wachsthum der Arten besteht vorzüglich in einer 1) Vergl. auch über diesen Gegenstand das treftliche Scbriftclien von A. Kerner: ^,Gute und schlechte Arten" (Innsbruck, VS''agner 1866), welches, gleich anderen Schrif- ten desselben Botanikers („Das Pflanzenleben der Donauländer" etc.) eine Fülle von vor- züglichen Beobachtungen üu Gunsten der Descendenz- Theorie und vortreffliche Bemer- kungen über die Systematik enthält. 2) Wir sehen hier natürlich ab von der Autogonio der Moneren, von der Entste- 362 Entwickelungsgeechiclite der Arteu oder Speeles. Zunahme der constituirenden Individuen . und in ihrer Ausbreitung über einen gewissen Verbreitungs-Bezii-k, dessen Existenz -Bedingun- gen so gleichartig sind, dass eine relative Constauz' der Species inner- halb desselben möglich wird. Die Species erringt sich im Kampfe um das Dasein ihre specifische Position, ihre bestimmte Stelle im Natur- haushalt. Die vermittelnden Uebergangsformen , welche während der Entstehung der neuen Art aus der alten oder elterlichen Art Beide ver- binden, und welche meistens rasch erlöschen, fallen gewöhnlich ganz in den Anfang der Auf blühzeit. Das epacmas tische Wachsthum der Art ist vollendet, die Species ist gewissermaassen „ausgewachsen und reif", wenn im Ganzen eine weitere Ausdehnung über die Grenzen jenes Bezirks nicht mehr statt findet, und wenn die Individuen-Masse der Art innerhalb desselben im Grossen und Ganzen beständig bleibt. Es beginnt damit das zweite Stadium, die Blüthezeit. II. Die Blüthezeit der Arten (Acme specieinm), welche das zweite Stadium der specifischen Entwickelung umfasst, und welche der Umbildungszeit oder Metaplasis der Bionten parallel ist, zeichnet sich gleich der letzteren vorzugsweise durch relative Constanz der Foim, verbunden mit feineren Differenzirungs-Processen aus. Der Umfang der Art, die Anzahl ihrer constituirenden Individuen und die Ausdehnung ihres Verbreitungs- Bezirks bleibt während dieses Zeitraums im Gros- sen und Ganzen unverändert. Die Art ist nun „reif und ausgewach- sen", befestigt sich innerhalb des erlangten Verbreitungs -Bezirks, der eine relative Constanz erhält, und passt sich innerhalb desselben mög- lichst den passendsten Existenz - Bedingungen an. Die Species behauj)- tet und befestigt den specifischen Platz, die bestimmte Position, wel- che sie im Kampfe um das Dasein errungen hat, und vertheidigt die- selbe mit Glück gegen die Angriff'e der mitbewerbenden Arten. Die meisten Arten entwickeln während der Blüthezeit einen höfieren oder geringeren Grad von acmastischer Differenzirung. Sie bilden einen vielstrahligen und reichverzweigten Varietäten-Büschel, und durch die besondere Accommodation der Varietäten an verschiedenartige Exi- stenz-Bedingungen erreicht die reife Art eine grössere Herrschaft, als es ohnedem möglich wäre. Die Varietäten können zum Theil innerhalb der Species-Schranke verharren und mit der Stammform durch viele ver- bindende Zwischenstufen continuirlich verbunden bleiben. Zum Theil können sie dieselbe auch überschreiten und sich zu selbstständigen neuen Arten entwickeln, indem die vermittelnden Uebergangsformen er- löschen. Die Art kann also schon während ihrer Blüthezeit zahlreiche neue Arten erzeugen und man kann selbst die Production neuer Spe- hung der ersten Organismen jede.s Phylum durch Generatio spontanea, da diese Stamm- formen, wie sclion Schleiden bemerkte, kaum als eigentliche „Species" unterschieden wer- den können (Vergl, S. 332). VI. Stadien der specifischen Entwickelung. ö6ö cies als ein Zeichen der kräftigen Acme bezeichnen, ebenso wie beim Individuum die Erzeugung neuer Bionten, die Fortpflanzung als Zei- chen erlangter Reife (Metaplase) gilt. Doch darf diese Production nicht so weit gehen, dass die Stammform der Species selbst dabei abnimmt und zu Grunde geht. Sobald diese Abnahme eintritt, und die Stamm- form von ihren erzeugten „Abarten" ganz zurückgedrängt wird, so geht die Acme in die Paracme über. III. Die Verblühzeit der Arten (Paracme specienmi), wel- che das dritte und letzte Stadium der specifischen Entwickelung dar- stellt, und welche der Rückbildungszeit oder Cataplase der Bionten correspondirt, ist ebenso wie die beiden vorhergehenden Stadien, bei den verschiedenen Arten von sehr verschiedener Dauer. Sie umfasst die gesammte Zeit der Abnahme der Arten, also vom Nachlasse der Acme an bis zu ihrem Ende. Bisweilen kann der Verlauf dieser Ab- nahme ein sehr rascher sein, und es kann die Art in verhältnismässig sehr kurzer Zeit aussterben, indem z. B. ein plötzlicher und höchst nachtheiliger Klimawechsel eintritt, oder indem ein übermächtiger Feind in den Kampf um das Dasein mit ihr tritt und sie rasch be- siegt. So ist es historisch erwiesen von D'uhis incptns, welcher inner- halb 81, und von der Rl/ytine SteUcri, welche innerhalb 27 Jahren von dem übermächtigen Menschen ausgerottet wurde. Gewöhnlich ist aber die Abnahme oder Decrescenz der Art eine viel langsamere, in- dem sie den errungenen Platz im Naturhaushalte, ihre feste Position im Kampfe um das Dasein hartnäckig vertheidigt und nur Schritt für Schritt von demselben zurückweicht. Je weiter aber ihr Verbreitungs- Bezirk dadurch eingeengt, je mehr die Species dadurch zurückgedrängt wii;d, desto rascher geht sie ihrem vollständigen Erlöschen, ihrem Ende entgegen. Oft wird dasselbe beschleunigt durch besondere Pro- cesse der paracmastischen Degeneration, wie es z. B. bei den aussterbenden Rothhäuten Amerika's der Fall ist, welche nicht bloss in dem Kampfe um das Dasein mit der übermächtigen weissen Men- schen-Art erliegen, sondern auch gleichzeitig der inneren Degeneration ihres eigenen Volkslebens. Ebenso wie bei dieser Menschen - Art, wir- ken auch bei anderen Thierarteii und bei Pflanzen -Arten nicht bloss äussere Einflüsse, sondern auch innere Veränderungen, die wir allge- mein als paracmastische Degenerations - Processe bezeichnen können, und die den cataplastischeu Degenerations - Processen der physiologi- schen Individuen analog sind, nachtheilig auf den Bestand der Art ein, und fördern ihren Untergang. In den meisten Fällen dürfte jedoch die Species ihren Untergang erleiden durch ihre eigenen Nachkommen, durch den Kampf um das Dasein mit den vervollkommneten neuen Ar- ten, welche zuerst als Varietäten von ihr erzeugt worden sind, und welche sich nunmehr auf Unkosten ihrer schwächeren Stammform aus- 364 Entwickelungsgeschichte der Arten oder Speeles. breiten. Sobald die ludividuen-Zahl und der Verbreitungs-Bezirk dci- befestigten Art durch die tibermächtige Entwickelung der von ihr er- zeugten Varietäten , die sich durch Divergenz des Charakters und An- passung an differenzirte Existenz-Bedingungen zu neuen „guten Arten" entwickelt haben, wesentlich und in zunehmendem Maasse eingeschränkt wird, so hat damit die Paracme der Stammform begonnen, und sie geht früher oder später ihrem vollständigen Erlöschen entgegen. Das Aussterben der Speeles, ihr Ende, ist wahrscheinlich in den meisten Fällen eine solche allmähliche Vertilgung durch ihre übermächtig ge- wordenen Nachkommen , und nicht ein plötzlicher Tod durch eine ein- malige Catastrophe. Die Lebensdauer der verschiedenen Speeles ist natür- lich aus allen diesen Gründen eine äusserst verschiedenartige, und das Alter, welches jede einzelne Art thatsächlich erreicht, wird einzig und allein durch die Wechselwirkung der Vererbung und An- passung, und durch den Einfluss der Existenzbedingungen, unter wel- chen dieselbe im Kampfe um das Dasein erfolgt, bestimmt. Je zäher die Art auf ihrer Acme beharrt und die erworbenen Eigenschaften auf ihre Nachkommen vererbt, je weniger ihre Existenzbedingungen sich ändern, desto länger wird ceteris paribus ihre Lebensdauer sein. Je leichter umgekehrt die Species sich neuen und sehr verschiedenen Exi- stenzbedingungen anpasst, je weniger sie an den ererbten Species- Charakteren constant festhält, desto schneller wird sie sich in ein reiches Varietäten - Büschel auflösen, und desto kürzer wird ihre Lebensdauer sein. Einerseits also wird der Variabilitäts - Grad der Species, andererseits der Wechsel der Existenz-Bedingungen, denen sie sich anpassen muss, ihr Alter bedingen; und ledighch die unendliche Verschiedenheit dieser mechanischen Ursachen bewirkt die unendliche Verschiedenheit in der factischen Dauer der einzelnen Arten. Keines- wegs aber ist für jede Species ein bestimmtes Alter prädestinirt. Na- türlich ist es unter diesen Umständen völlig unmöglich, eine Durch- schnitts - Dauer der verschiedenen Species festzusetzen, und die Ver- suche, welche verschiedene Naturforscher gemacht haben, die durch- schnittliche oder mittlere Dauer der Arten auf paläontologisch - empi- rischem Wege zu bestimmen, mussten selbstverständlich zu den gröss- t'en Widersprüchen führen. Während die sehr ziähen Arten einen Zeit- raum von mehreren geologischen Perioden überdauern können, gehen die weniger constanten vielleicht schon im zehnten, und die sehr va- riablen Arten schon in weniger als dem tausendsten Theile eines sol- chen Zeitraums zu Grunde. 1 I. Functionen der phyletischen Eutwickelung. 365 Dreiuudzwanzigstes Capitel. Entwickelungsgeschichte der Stämme oder Phylen. ((Naturgeschichte der organischen Stämme oder der genealogischen Individuen dritter Ordnung.) „Die Schwierigkeit, Idee und Ei-fahrurig mit einander zu verbin- den , erscheint sehr hinderlich bei aller Natur forschung : die Idee ist unabhängig von Kaum und Zeit, die Naturforschung ist in Kaum und Zeit beschränkt; daher ist in der Idee Simultanes und Succes- sives innigst verbunden, auf dem Standpunkt der Erfahrung hinge- gen immer getrennt." Goethe. I. Functionen der phyletischen Entwickelung. Die Phylogenese oder paläontologische Entwickeluiig , die Diver- jgenz der blutsverwandten Formen, welche zur Entstehung der Arten, «Gattungen, Familien und aller anderen Kategorieen des organischen ! Systems führt, ist ein physiologischer Process, welcher, gleich allen I übrigen physiologischen Functionen der Organismen, mit absoluter Noth- ■ wendigkeit durch mechanische Ursachen bewirkt wird. Diese Ursachen !sind Bewegungen der Atome und Moleküle, welche die organische Ma- iterie zusammensetzen, und die unendliche Mannichfaltigkeit, welche sich iin den phyletischen Entwickelungsprocessen offenbart, entspricht einer I gleich unendlichen Mannichfaltigkeit in der Zusammensetzung der orga- inischen Materie, und zunächst der Eiweissverbindungen welche das lactive Plasma der constituirenden Piastiden aller Organismen bilden. IDie phyletische oder paläontologische Entwickelung der Stämme und iihrer sämmthchen subordinirten Kategorieen ist also weder das vorbe- ( dachte zweckmässige Resultat eines denkenden Schöpfers, noch das Pro- * duct irgend einer unbekannten mystischen Naturkraft, sondern die einfache 'und nothwendige Wirkung derjenigen bekannten physikahsch - chemi- ! sehen Processe, welche uns die Physiologie als mechanische Entwicke- llungs- Functionen der organischen Materie nachweist. 366 Eutwickelungsgeschichte der Stämme oder Phylen. Die physiologischen Functionen, auf welche sich säramtliche phy- letische oder paläontologische Entwickelungs-Erscheinungen als auf ihre bewirkenden Ursachen zurückführen lassen, sind die beiden fundamen- talen Eutwickelungs-Functionen der Y ererbnug (flererltf.ds) und der Anpassung (^^rfap/r/^/oX- von denen die erstere eine Theilerscheinung der Fortpflanzung, die letztere der Ernährung ist. Die beiden ur- sprünglichen Conservations-Functionen der Propagation (Erhaltung der Art) und der Nutrition (Erhaltung des Individuums) genügen also voll- ständig, um durch ihre beständige Wechselwirkung unter dem Ein- flüsse der in der Aussenwelt gegebenen Existenz -Bedingungen die Di- vergenz der Arten, und somit die Entwickelung der Stämme zu be- wirken. Diese Grundanschauung halten wir zum richtigen Verständ- niss der Phylogenese für unentbehrlich. Wie wir vermittelst der De- scendenz-Theorie zu derselben gelangt sind, ist im neunzehnten Capitel von uns erörtert worden. Die daselbst von uns erläuterte Entstehung der Arten durch natürliche Züchtung, durch die Wechselwirkung der Vererbung und Anpassung im Kampf um das Dasein, ist in der That weiter nichts, als die Grundlage der phyletischen Entwickelung selbst. Das ganze neunzehnte Capitel würde eigentlich hier seine Stelle fin- den. Wir haben es aber absichtlich dem fünften Buche überwiesen, weil die Ontogenese oder die individuelle Entwickelungsgeschichte ohne die Phylogenese oder die paläontologische Entwickelungsgeschichte gar nicht zu verstehen ist, und weil die Erläuterung der phyletischen Ent- wickelungs-Functionen, welche die Selections-Theorie und die durch sie begründete Descendenz- Theorie giebt, für das Verständniss der bionti- schen En twickelungs - Functionen unerlässlich ist. II. Stadien der phyletischen Entwickelung. Die Stämme sowohl, als alle untergeordneten Kategorieen derselben, von der Classe und Ordnung bis zur Gattung und Art herab , zeigen ihren Parallelismus mit der individuellen Entwicklung, wie schon oben gezeigt wurde, auch darin, dass im Laufe ihrer historischen Entwicke- lung mehrere verschiedene Stadien sich unterscheiden lassen, welche den Stadien der individuellen Entwickelung entsprechen (S. 320). Den drei Perioden der ontogenetischen Anaplase, Metaplase und Cataplase entsprechend haben wir die drei Abschnitte der phylogenetischen Epacme, Acme und Paracme unterschieden , welche ebensowohl bei den ganzen Stämmen, wie bei den ihnen untergeordneten Gruppen sich finden. Wie sich die Arten oder Speeles hierin verhalten, ist bereits oben er- örtert. Wir wenden uns daher hier nur zu den Entwicklungs - Stadien der höheren Stamm-Gruppen, von dem Genus und der Familie an auf- wärts, wobei wir ausdrücklich bemerken, dass auch in dieser Bezie- IT. Stadien der phyletischen Entwickelung. 367 Imng ein scharfer und absoluter Unterschied zwischen den verschiede- nen Kategorieen des natürlichen Systems ebenso wenig existirt, als ein solcher sich in anderer Hinsicht constatireu lässt. Alle Genera und Familien, Ordnungen und Classen, sowie auch alle diesen subordinirte Gruppen des Systems, die Subgenera, Subfamilien, Sectionen, Tribus etc. verhalten sich auch hinsichtlich der Entwickelungs-Stadien ebenso wie die ganzen Stämme, welche sie zusammensetzen, und wie die Ar- ten, aus denen sie selbst zusammengesetzt sind. I. Die Aufblüh zeit oder Epanne der Phylen und ihrer sub- ordinirten Kategorieen umfasst das erste Stadium ihrer phyletischen Entwickelung, welches dem Jugendalter oder der Anaplase der Bionten entspricht, und von ihrer Entstehung bis zum Beginne der Blüthezeit reicht. Die erste Entstehung der Stämme ist in allen Fällen als Archigonie, und wohl meistens, vielleicht immer als Autogonie (nicht als Plasmogonie) zu denken, wie wir bereits im sechsten und siebenten Capitel des zweiten Buches (Bd. I, S. 179, 205) und im sieb- zehnten Capitel (Bd. II, S. 33) erörtert haben. Sie beginnt mit der Archigonie von structurlosen Moneren, aus denen sich zunächst nur imonoplastide," später erst polyplastide Speeles diiferenziren. Die Ent- sstehung der subor dinirten Kategorieen der Stämme dagegen (erfolgt durch die Divergenz des Charakters der Speeles, welche aus (der DifFerenzirung der autogenen Moneren hervorgehen, durch das Er- llöschen der verbindenden Zwischenformen zwischen den divergirenden 'Speeles. Derjenige Process, welcher nun bei der weiteren Entwicke- llung der entstandenen Stämme und ihrer subordinirten Gruppen das J Stadium der Epacme vorzugsweise charakterisirt, ist das Wach st hu m. IDie phyletische Crescenz äussert sich ebenso wie die specifische 3 zunächst in der progressiven Zunahme der Individuen-Zahl und in der .Ausdehnung des von ihnen eroberten Verbreitungsbezirks. Ebenso wie idie Arten, so emngen sich auch die aus ihrer Divergenz entstehen- iden Gattungen, Familien, Classen etc. und ebenso der ganze Stamm, ^welchem alle diese Gruppen angehören, während ihres epacmasti- jschen Wachsthums eine Anzahl von Stellen im Naturhaushalte, lund vertheidigen die so gewonnenen Positionen im Kampf um das Da- jsein gegenüber den ih Mitbewerbung befindlichen Gruppen. So lange jjcde Gruppe sich immer weiter ausbreitet, so lange die Zahl der ihr I untergeordneten Gruppen, und damit zugleich der Individuen, in de- inen sie verkörpert sind, zunimmt, so lange ist die Gruppe im Wachs- tthum begrilFen, und erst wenn eine weitere quantitative Zunahme und Ausdehnung ihres Verbreitungsbezirks im Grossen und Ganzen nicht imehr stattfindet, beginnt die zweite Periode der Entwickelung, die . Acme. IL Die Blüthezeit oder ^cw/e der Phylen und der verschiede- 368 Entwickelungsgeschiclite der Stämme oder Phylen. nen untergeordneten Systems-Gruppen, welche das zweite Stadium der phyletischen Entwickelung bildet und als solches dem Reifealter öder der Metaplase der Bionten correspondirt, ist gleich dem letzteren vor- züglich durch qualitative Vervollkommnung ausgezeichnet, gegen wel- che das quantitative Wachsthum nunmehr zurücktritt. Das Genus, die Familie, Ordnung, Classe etc., ebenso der ganze Stamm, welcher sich in der Blüthezeit, auf der Höhe seiner Entwickelung befindet, nimmt nicht mehr oder doch nicht wesentlich am Umfang, wohl aber an Vollkommenheit zu. Die phyletische Position, der geographische und topographische Verbreitungs- Bezirk, welchen die Gruppe im Kampf um das Dasein errungen hat, wird behauptet und befestigt, und ge- gen die Angriffe der mitbewerbenden Gruppen mit Erfolg vertheidigt. Dieser Kampf an sich schon vervollkommnet die Gruppe, und zwingt sie, sich möglichst gut den verschiedenen Existenz - Bedingungen innerhalb des errungenen Gebiets anzupassen. Daher finden in grosser Ausdeh- nung Processe der acmastischen Diff erenzirung statt, indem jede Gruppe in einen reichen und vielverzweigten Büschel von subordinir- ten Gruppen zerfällt. Jedes Genus bildet eine Menge Subgenera, jede Familie eine Anzahl Subfamilien, jede Ordnung eine Gruppe von Un- terordnungen u. s. w. Die reichliche Production solcher subordinirter Gruppen, welche wesentlich durch Divergenz des Characters und Ausfall der verbindenden Zwischenformen erfolgt, charakterisirt die Acme je- der Gruppe ebenso, wie die Erzeugung neuer Individuen die Metaplase der Bionten. Erst wenn die erzeugten Gruppen so weit divergiren, dass sie die Ranghöhe der parentalen Gruppe erreichen und selbst überschreiten, so dass die letztere hinter ihnen zurücktritt, erst dann ist die Acme der letzteren vorbei und die Paracme hat begonnen. III. Die Verblühzeit oder Pai-ncwe der Phylen und ihrer sub- ordinirten Kategorieen begreift das dritte und letzte Stadium ihrer Entwickelung und entspricht als solches dem Greisenalter oder der Ca- taplase der physiologischen Individuen. Sie mnfasst die ganze Zeit vom Ende der Acme bis zum Erlöschen der Gruppe, und verläuft meist, wie die entsprechende Decrescenz der Art, langsam und allmäh- lich. Wie bei den Speeles, sind es auch bei den übergeordneten Grup- pen des Systems, bei den Gattungen, Familien, Classen u. s. w. vorzugs- weise die nächstverwandten und die coordinirten Gruppen einer jeden Kategorie, welche sich auf Kosten der letzteren entwickeln und ihren Untergang herbeiführen. Namentlich sind auch hier wieder am gefähr- lichsten für ihr Bestehen die eigenen Nachkommen, d. h. die aus der Dififerenzirung der reifen Gruppe hervorgegangenen neuen Gruppen, welche anfänglich subordinirt sind, späterhin aber durch fortschreitende Vervollkommnung und Ausfall der verbindenden Zwischenform sich zur gleichen Stufenordnung erheben und nunmehr über die parentale Stamm- TTT. Eesultate der phyletischen Entwickeluug. 369 gruppe das Uebergewiclit gewiniieD. In weiterem Sinne kann auch dieses Zurückbleiben der letzteren hinter den ersteren als parac- mastische Degeneration bezeichnet werden, insofern die paren- tale Gruppe nicht mehr den Anforderungen entspricht, welche die gc- ; steigerten Existenz -Bedingungen an sie stellen, während sie früher denselben gewachsen war. Doch ist diese Degeneration wohl mehr ein Mangel an der nothwendigen Fortbildung, als eine positive Rückbil- iduug, und es erfolgt der Untergang der Gruppen in der Mehrzahl ider Fälle weniger durch vollständiges Aussterben, durch Erlöschen ; aller Zweige derselben, als vielmehr durch einseitige Fortbildung und bevorzugte Ausbildung einzelner Zweige, welche sich auf Kosten ihrer 1 coordinirten und übergeordneten älteren Zweige entwickeln. Je höher • der Rang einer systematischen Gruppe ist, desto weniger leicht tritt i ihr vollständiges Erlöschen ein, weil desto grösser die Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit ist, dass auch beim Erlöschen des grössten Theils der Gruppe doch noch einer oder der andere Zweig derselben erhalten bleibt und den ursprünglichen Stamm in dieser Richtung fortsetzt. 1 Daher ist die Zahl der ausgestorbenen Gattungen nicht bloss absolut, •sondern auch relativ viel grösser als die Zahl der ausgestorbenen Fa- imilien, diese letztere ebenso viel grösser als die Zahl der ausgestorbe- inen Ordnungen, und diese wiederum viel grösser als die Zahl der aus- I gestorbenen Classen. Von letzteren kennen wir nur sehr wenige, und von ausgestorbenen ganzen Stämmen mit Sicherheit sogar kein Beispiel, obwohl es olfenbar ist, dass einzelne Stämme bereits auf dem Wege ( der Rückbildung, in der Verblühzeit sind, wie z. B. derjenige der Mol- lusken. Vielleicht stellt die Gruppe der Petrospongien einen völlig er- Uoschenen Stamm dar (vergl. die systematische Einleitung). III. Resultate der phyletischen Entwickelung. Die physiologischen Functionen der phyletischen Entwickelung, de- iren Wechselwirkung wir im neunzehnten Capitel ausführlich dargelegt ! haben, Vererbung und Anpassung, führen unmittelbar und, mit abso- iluter Noth wendigkeit die höchst bedeutenden und grossartigen Verän- ( derungeu der Organismen- Welt herbei, welche wir ebendaselbst als das ] Divergenz-Gesetz und als das Fortschritts-Gesetz erläutert haben. Das .allgemeinste Endresultat dieses ungeheueren und unaufliörlich thäti- I gen Entwickelungs-Processes ist in jedem einzelnen Abschnitt der Erd- ( geschieh te einerseits die endlose Mannichfaltigkeit, welche sich in der IForm und Structur der verschiedenen Protisten, Pflanzen und Thiere • offenbart, andererseits die allgemeine Familien -Aehnhchkeit oder die , „Formen -Verwandtschaft", welche trotzdem die blutsverwandten Or- »ganismen eines jeden Stammes zu einem Systeme von subordinirtcn H a e c k e 1 , fjencrello Morphologie ,11. n i 370 Entwickelungsgeschichte der Stämme oder Phylen, Formengruppen verbindet. Diese natürliche Gruppirimg der „verwand- ten" Organismen in zahlreiche über- und neben einander geordnete Gruppen oder Kategorieen, die Thatsache, dass nur eine sehr geringe Anzahl von obersten, grundverschiedenen Hauptgruppen existirt, unter welche alle übrigen als „verwandte" Formen sich einordnen lassen, diese Thatsache ist lediglich das einfache und nothwendige Resultat des phyletischen Entwickelungsprocesses , und die Selections -Theorie zeigt uns im Allgemeinen, warum dieses Resultat gerade so erfolgen musste, wie es wirklich erfolgt ist. Wir stehen hier vor einem der grössten und bewunderungswürdig- sten Phänomene der organischen Natur, vor der Thatsache des natür- lichen Systems oder der baumförraig verzweigten Anordnung der ver- wandten Organismen-Gruppen, einer Thatsache, von der Darwin sehr richtig bemerkt, dass wir das Wunderbare derselben nur in Folge un- serer vollständigen Gewöhnung daran zu übersehen pflegen. Von frü- hester Jugend an von einer Fülle ähnlicher und doch verschiedener Ge- stalten umgeben, gewöhnen wir uns schon, indem wir sprechen lernen, daran, die verwandtesten Formen unter einer engen Collectivbezeich- nung zusammenzufassen und die divergenteren Formen wieder unter ei- nem weiteren Collectivnamen zu vereinigen. So unterscheiden wir zu- erst Thiere und Pflanzen, daim unter den Thieren Vögel und Fische, unter den Vögeln Raubvögel und Schwimmvögel u. s. w. Kurz die Gruppenbildung, die Specification des natürlichen Systems verwächst so frühzeitig mit allen unseren Vorstellungen, dass wir dieselbe nur zu leicht als etwas Selbstverständliches betrachten und das grosse Räthsel übersehen, welches uns die Verwandtschaft der Formen be- ständig vorlegt. Am auffallendsten zeigt sich dies bei den gedanken- losen Systematikern, welche ihr ganzes Leben mit der Umschreibung und Bezeichnimg der Systems - Gruppen , mit der Registratur und No- menclatur der Organismen verbringen, und dennoch niemals oder nur selten sich die naheliegende Frage nach der Ursache dieser merkwür- digen Gruppenbildung vorlegen. Die Lösung dieses „heihgen Räthsels", dieses „geheimen Gesetzes" von der „Verwandtschaft" der organischen Gestalten ist einzig und allein in der Descendenz- Theorie zu finden. Nachdem Goethe schon 1790 auf diese Lösung hingewiesen, nachdem Lamarck dieselbe 1809 wesentlich weiter geführt hatte, wurde sie endhch 1859 durch Darwin vollendet, welcher in dem dreizehnten Capitel seiner Selec- tions-Theorie das natürhche System für den Stammbaum der Orga- nismen und „gemeinsame Abstammung für das Band erklärte, wonach alle Naturforscher unbewusster Weise in ihren Classifica- tionen gesucht haben, nicht aber ein unbekannter Schöpfungs - Plan, oder eine bequeme Form für allgemeine Beschreibung, oder eine an- IV. Die dreifache genealogische Parallele. 371 gemessene Methode, die Naturgegenstände nach den Graden ihrer Aehnlichkeit oder Unähnlichkeit zu sortiren." Sobald wir den Grund- gedanken der Descendenz - Theorie richtig erfasst und uns mit den nothwendigen Consequenzen desselben vertraut gemacht haben, so muss uns die wunderbare Thatsache der Gruppenbildung im natürlichen System als das nothwendige Resultat des natüdichen Züchtungs-Pro- cesses , d. h. der mechanischen Entwickelung der Stämme erscheinen. Bei der ausserordentlichen Wichtigkeit dieses Verhältnisses wollen wir dasselbe im folgenden Capitel noch ausführlicher betrachten. IV. Die dreifache genealogische Parallele. Schon zu wiederholten Malen haben wir in diesem und im ersten Bande auf den dreifachen Parallelismus der phyletischen (paläontolo- gischen), der biontischen (individuellen) und der systematischen (spe- eifischen) Entwickelung hingewiesen als auf eine der grössten, merk- würdigsten und wichtigsten allgemeinen Erscheinungsreihen der orga- nischen Natur. Bisher ist dieselbe nicht entfernt in dem Maasse, in welchem sie es verdient, hervorgehoben und an die Spitze der orga- nischen Morphologie gestellt worden. Sehr vielen sogenannten Zoolo- igen und Botanikern ist dieselbe gänzlich unbekannt; die meisten An- > deren, denen sie bekannt ist, bewundern sie als ein schnurriges Curiosum toder als einen Ausfluss der unverständhchen "Weisheit eines unver- • stäudlichen Schöpfers. Sehr wenige Naturforscher nur haben bisher 1 das ganze colossale Gewicht dieses grossartigen Phänomens begriffen und nach einem wirklichen Verständniss desselben gesucht. Dieses Verständ- iniss ist aber nur durch die Descendenz-Theorie zu gewinnen, welche uns idie dreifache genealogische Parallele ebenso einfach als vollständig • erklärt, wie andererseits die Parallele selbst eine der stärksten Stü- itzen der Descendenz-Theorie ist. Seltsamer Weise hat derjenige Naturforscher, welcher bisher den IParalleHsmus der phyletischen, biontischen und systematischen Ent- 1 Wickelung am meisten hervorgehoben und am längsten besprochen hat. JLouis Agassiz, gerade den entgegengesetzten Weg zu seiner Erklä- irung betreten, und es vorgezogen, dadurch den indirecten Beweis für (die Wahrheit der Descendenz-Theorie zu führen. Denn nur als sol- (chen können wir die seltsamen teleologisch-theosophischen Speculationen ibezeichnen, welche der geistvolle Agassiz in seinem berühmten dua- llistischcn „Essay on Classification" zur Erklärung der dreifachen ge- inealogischen Parallele herbeizieht, und durch deren Ausführung er izeigt, dass dieselben in der That Nichts erklären! Was nun die mechanisch -monistische Erldärung der dreifachen ^genealogischen Parallele selbst betrifft, so haben wir bereits im fünf- 24* 372 Eiitwickeluugsgeschichte der Stämme oder Phylen. ten Buche und namentlich im achtzehnten und neunzehnten Capitel darüber so Viel gesagt, dass wir hier nur die wichtigsten Punkte nochmals hervorheben wollen. Auszugehen ist dabei immer zunächst von der paläoutologischen Entwickeluug , an welche die individuelle Entwickelung sich als kurze und schnelle Recapitulation , die systema- tische Entwicklung dagegen als das anatomische Resultat, wie wir es im vorhergehenden Abschnitte bezeichnet haben, unmittelbar an- schliesst. L Der Parallelisraus zwischen der phyletischen (pa- läontologischeu) und der biontischen (individuellen) Entwickelung erklärt sich einfach mechanisch aus den Vererbungs- Gesetzen und insbesondere aus den Gesetzen der gleichzeitlichen, der gleich()rtlichen und der abgekürzten Vererbung. Alle Erscheinungen, welche die individuelle Entwickelung begleiten , erklären sich lediglich, soweit sie nicht unmittelbares Resultat der Anpassung an neue Exi- stenz-Bedingungen sind, aus der paläontologischen Entwickelung der Vorfahren des Individuums. Die gesaramte Ontogenie ist eine kurze und schnelle Recapitulation der langen und langsamen Phylogenie, wie wir im achtzehnten Capitel für die morphologischen Individuen aller sechs Ordnungen einzeln nachgewiesen haben. II. Der Parallelismus zwischen der phyletischen (pa- läontologischen) und der systematischen (specifischen) Entwickelung erklärt sich einfach aus der Descendenz-Theorie und " speciell aus den Gesetzen der Divergenz und des Fortschritts , insbe- sondere aber aus dem Umstände, dass die divergente Entwickelung der verschiedenen Zweige und Aeste eines und desselben Stammes so äusserst ungleichmässig in Bezug auf Grad und Schnelligkeit der Ver- änderung verläuft. Einige Aeste haben sich seit der silurischen Zeit fast unverändert erhalten, wie z.B. die Colastren unter den Echino- dermen, die Phyllopoden unter den Crustaceen; andere haben sich zwar bedeutend, aber doch nur langsam verändert, wie z.B. die Crinoiden unter den Echinodermen , die Macruren unter den Cru- staceen; noch andere haben sich endlich sehr bedeutend und sehr rasch verändert, wie z. B. die Echiuideu unter den Echinodermen, die BrachjTiren unter den Crustaceen. Ebenso haben sich unter den Cormophyten die Farrne seit der Steinkohlen - Zeit nur sehr wemg, die Conifereu mässig stark, die erst in der Tertiärzeit entstandenen Gamopetalen sehr bedeutend verändert; die ersten haben sich seir langsam, die zweiten mässig rasch, die dritten sehr schnell entwickelt; die ersten sind ihren ursprünglichen Stammeltern sehr ähnhch, und daher auf einer verhältnissmässig tiefen Stufe stehen geblieben (lang- sam reife [bradypepone] oder sehr zähe Typen); die zweiten haben sich mässig entwickelt, indem sie zwischen conservativer und progressiver Richtung hin und her schwankten (mittelreife [mesopepone] oder halb- IV. Die dreifache genealogische Parallele. 373 zähe Typen); die dritten endlich, schnell und kräftig neuen, günsti- gen Existenz-Bedingungen sich anpassend , haben in kurzer Zeit einen hohen Grad der Vollkommenheit erreicht ( schncllreife [tachypepone] oder nichtzähe Typen). Unter den Wirbelthieren gehören z. B. die Rochen und die Monitoren zu den langsanireifen , die Ganoiden und die Crocodile zu den mittelreifen, die Acanthopteren und Dinosaurier zu den schnellreifen Typen. In vielen Fällen sind die langsarareifen zugleich polytrope oder ideale, die schnellreifeu zugleich monotrope oder praktische Typen (S. 222); in vielen Fällen findet aber auch ge- rade das Gegen theil statt, so dass jene Kategorieen sich keineswegs decken. Jeder Blick auf die paläontologische Uebersichts - Tabelle irgend einer Organismen -Gruppe lehrt uns die äusserst ungleichmäs- sige, an Schnelligkeit, Qualität und Quantität der Veränderung äus- serst divergente Entwickelung ihrer verschiedenen Formenbüschel, und so erklärt sich vollständig die aufsteigende und baumförmig verästelte Gestalt, welche das natürliche System aller gleichzeitig lebenden Glie- der der Gruppe als das anatomische Resultat ihrer phyletischen Ent- wickelung darbietet und welche der aufsteigenden und baumähnlich verästelten Form entspricht, die ihre gemeinsamen Vorfahren durch ihre paläontologische Entwickelungs- Reihe bilden. III. Der Parallelismus zwischen der biontischen (indi- viduellen) und der systematischen (specifischen) Ent- wickelung erklärt sich einfach schon aus der Verbindung der bei- den vorigen Parallelen. Wenn zwei Linien (systematische und bion- tische Entwickelungsreihe) einer dritten (der phyletischen Entwicke- lungsreihe) parallel sind , so sind sie auch unter einander parallel (so ist auch die systematische der biontischen Entwickelungsreihe paral- lel). Die Parallele der phyletischen und systematischen Entwicke- lungsreihe zeigt uns (z.B. in der aufsteigenden Stufenleiter der Wir- belthier - Classen oder in derjenigen der Cormopliyten- Gruppen (Pteri- dophyten, Gymnospermen, Monocotyledonen , Monochlamydeen , Poly- petalen , Gamopetalen) , dass die verschiedenen Stufen der paläontolo- gischen Entwickelung nicht allein in der Zeit aufeinanderfolgen; son- dern auch im Systeme der gegenwärtig lebenden Organismen eine jener successiven Scala parallele coexistente, aufsteigende Stufenleiter bil- den, indem von jeder Stufe sich zähe, bradypepone Repräsentanten erhalten und bis zur Gegenwart nur wenig verändert haben, während ihre Geschwister sich der Veränderung zuneigten und zu tachypepo- nen Seitenzweigen schnell entwickelten. Andererseits zeigt uns die Parallele der phyletischen und biontischen Entwickelung, dass die letztere nur eine kurze und schnelle Recapitulation der ersteren ist. Es muss daher mit Nothwendigkeit auch die biontische Entwickelung im Ganzen der systematischen parallel verlaufen. 374 Das natürliche System als Stammbaum. Vierundzwanzigstes Capitel. Das natürliche System als Stammbaum. (Principien der Classification.) „Der Triumph der physiologischen Metamorphose zeigt sich da, wo das Ganze sich in Familien, Familien sich iu Geschlechter. Ge- schlechter in Sippen, und diese wieder in andere Mannichfaltigkeiten bis zur Individualität scheiden , sondern und umbilden. Ganz ins Unendliche geht dieses Geschäft der Natur; sie kann nicht ruhen, noch beharren, aber auch nicht Alles, was sie hervorbrachte, be- wahren und erhalten. Haben wir doch von organischen Geschöpfen, die sich in lebendiger Fortpflanzung nicht verewigen konnten, die entschiedensten Reste. Dagegen entwickeln sich aus dem Samen im- mer abweichende, die Verhältnisse ihrer Theile zu einander verän- dert bestimmende Pflanzen." Goethe (1819). I. Begriffsbestimmung der Kategorieen des Systems. Die Aehnlichkeits- Beziehungen, welche zwischen den verschiede- nen Formen der Organismen existiren, und welche man gewöhnlich mit dem Ausdruck der Verwandtschaft bezeichnet, sind sowohl hinsichtlich ihrer Qualität als Quantität ausserordenthch verschieden. Auf die Erkenntniss dieser Verschiedenheit gründet sich grösstentheils die kunstvolle Gliederung der meisten organischen Systeme , ihr Auf- bau aus zahlreichen, theils über, theils neben einander geordneten Gruppen oder Kategorieen, die Unterscheidung der Classen, Ordnun- gen, Familien, Gattungen, Arten, Varietäten u. s. w. Alle diese ver- schiedenen Kategorieen des Systems unterscheiden sich vorzugsweise durch den Grad der Aehnlichkeit oder Verschiedenheit in der äusse- ren Form und in der inneren Structur, welcher die verwandten For- men theils näher zusammenstellt, theils weiter trennt. Je mehr sich die Systematik entwickelte, desto sorgfältiger fing man an, diese ver- schiedenen Aehnlichkeitsgrade gegen einander vergleichend abzuwägen, und desto mehr differenzirte und erweiterte sich die Stufenleiter der darauf gegründeten Kategorieen. I. Begriffsbestimmung der Kategorieen des Systems. 375 Eine klare und bestimmte Unterscheidung der verschiedenen Ka- tegorieen des Systems begann jedoch erst im Anfange des vorigen Jahrhunderts, als der um die formelle Ausbildung der systematischen Naturgeschichte hochverdiente Linn6 mittelst der binären Nomencla- tur eine logisch geordnete Benennung und strengere systematische Anordnung der bis dahifi regellos benannten und zusammengeworfenen Organismen einführte. L i n n 6 unterschied fünf über einander geord- nete Stufeureihen oder Kategorieen des Systems, deren gegenseitige Beziehungen er in dem folgenden Schema ausdrückte: Classis Ordo Genus Spec.ies Varietas (Genus summum) (Genus interme- (Genus proxi- (Speeles) (Individuum) Die Nachfolger Linne' s waren meistens vor Allem bestrebt, die zu beschreibenden Arten in diese Kategorieen einzuordnen. Die Thier- classen aber, als die allgemeinsten und umfassendsten dieser Katego- rieen , wurden von ihnen in eine einzige Reihe von der niedersten bis zur höchsten geordnet, gleich wie auch innerhalb der Classe die Ord- nungen, innerhalb jeder Ordnung die dieselbe constituirenden Familien, innerhalb der Familie die verschiedenen Genera derselben, und endlich innerhalb jedes Genus seine Speeles in einer einzigen Reihe hinter einan- der geordnet wurden. Man hielt dafür, dass eine einzige, in eine conti- nuirliche Reihe geordnete Stufenleiter vom unvollkommensten bis zum vollkommensten Organismus hierauf führe („la chaine des etres"). Diese Anschauung wurde erst überwunden und ein wesentlicher Schritt weiter in der Systematik gethan , als im Anfange unseres Jahr- hunderts gleichzeitig zwei grosse Naturforscher die Theorie von den vier grundverschiedenen Typen oder grossen Hauptabtheilungen des Thierreichs aufstellten, die ganz von einander unabhängig seien. Carl Ernst von Bär gelangte zu dieser höchst wichtigen Anschau- ung auf vergleichend embryologischem, George Cuvier dagegen auf vergleichend anatomischem Wege. Cuvier fand den Grund der funda- mentalen Verschiedenheit der vier thierischen Typen oder Hauptfor- men (Embranchements) in vier grundverschiedenen Bauplänen, welche deren anatomischer Structur zu Grunde liegen i). Bär fand den we- l) „Si Von considere le regne animal eu n'ayant egard qu' k 1' Organisation et k la nature des animaux , on trouvera , qu'il existe quatre fornies principales , quatre plans gcneraux , si Ton peut s'exprinier ainsi , d'nprcs Icsquels tous les animaux semblent avoir <5t(5 model6s, et dont les divisions ultörieures, de quelque titre que les naturalistes les aient decordes, ne »ont que des modifications assez legeres, fondöes sur lo ddveloppe- ment DU Taddition de quelques parties, qui ne changent rien ii l'essence du plan." Wir führen diese 1812 von Cuvier gegebene Definition der vier Typen des Thierreicbs , als auf vier verschiedenen Baupläne begründet, hier wörtlich an, da sie für die nachfolgende Provinciae Legiones dium) Territoria Cohortes mum) Paroecia Manipuli Pagi Contubernia Domicilium Miles. 376 ■ Das natürliche System als Stammbaum. sentlichsten Unterschied derselben in ihrer von Anfang an gänzlich verschieden embryonalen Entwickelungsweise. Nach der übereinstim- menden und unabhängig von einander erworbenen Ansicht beider For- scher stellten die vier grossen Hauptgruppen, die Wirbelthiere , Glie- derthiere, Weichthiere und Strahlthiere , ebenso viele ganz selbststän- dige Entwickelungsreihen dar, deren jede, unabhängig von den an- deren, eine Stufenleiter von niederen zu höheren Formen zeigt i). Durch diese Aufstellung der Typen , als allgemeinster und umfas- sendster Hauptabtheilungen und oberster Kategorieen des Systems, denen sich alle verschiedenen Classen u. s. w. unterordnen Messen , war eine höchst wesentliche Erweiterung nicht allein der formellen Syste- matik, sondern auch der gesammten Morphologie geschehen. Eine weitere wesentliche Bereicherung des systematischen künstlichen Fach- werks führte Cuvier dadurch ein, dass er zuerst natürliche Fami- lien unterschied, eine Kategorie des Systems, die er zwischen Ordo und Genus stellte, und die Linn 6 unbekannt war. Ausserdem schuf Cuvier in seinem Systeme auch noch eine Anzahl anderer unterge- ordneter, jedoch über dem Genus stehender Kategorieen, die er mit dem Namen der Sectionen, Divisionen und Tribus belegte, sowie er auch die grossen Genera in Subgenera spaltete. Auf dieser von Cuvier gegebenen formellen Grundlage des Sy- stems hat sich nun die neuere Systematik in seinem Sinne weiter ent- wickelt , ohne dass sie sich in der Regel die geringste Mühe gab, den relativen Werth der verschiedeneu über einander geordneten Katego- rieen näher zu prüfen und zu bestimmen. Vielmehr verfuhren die allermeisten Systematiker bei der Einreihung neuer Arten und Gattun- gen in das System lediglich nach einem gewissen praktischen, durch Uebung erworbenen Takt, wobei jedoch häufig das subjective Gutdün- ken sehr willkührlich obwaltete. Man fasste im Allgemeinen immer zuerst die nächstähnlichen concreten Individuen, welche zur Untereu- chung vorlagen, in der abstracten Einheit der Art oder Species zu- sammen, vereinigte dann die sich am nächsten stehenden, nur durch „specifische" Merkmale getrennten Species zu einem Genus, die nächst ähnlichen Genera zu einer Familie u. s. w. , wobei man dann je nach Zoologie in dieser speciellen Form und Ausdrucksweise vom entscheidendsten Einfluss ge- blieben ist. 1) Wir bemerken hierbei ausdrücklich, dass Bär nicht allein gleichzeitig und ganz unabhängig von Cuvier den grossen und fruchtbaren Gedanken von der Selbstständig- keit der vier thierischen Typen erfasste, sondern dass er denselben auch mit weit tiefe- rem und innigerem Verständniss des thierischen Organismus durchführte, indem er ihn auf die Ent Wickelungsgeschichte begründete. Cuvier, dessen Verdienste bisher höchst einseitig überschätzt worden sind, erfasste dieselbe Idee viel äusserlicher und blieb ihrem Verständniss viel fremder, indem er sich bloss an das fertige Resultat der Anatomie hielt. I. BegrifFsbestinimung der Kategorieen des Systems. 377 Bedürfiiiss untergeordnete Kategorieen (z. B. Subclassis , Subordo , Sub- familia) zwischen die am meisten gebräuchlichen Systemstufen der Classe, Ordnung, Familie, Gattung u. s. w. einschaltete. Allgemein sind alle diese verschiedenen über einander geordneten Rangstufen in der systematischen Praxis im Gebrauch, ohne dass sich aber irgend ein bestimmter Begriiff mit denselben verbindet. Vielmehr muss zuge- geben werden , dass meistens lediglich das relative und nur nach sub- jectivem Gutdünken zu bemessende Verhältniss der graduellen Form- Aehnlichkeit oder morphologischen Differenz es ist, das die Erhebung einer neuen specifischen Form zu einer besondern Gattung, Familie, Ordnung u. s. w. rechtfertigt. Je mehr zwei verschiedene Species in äusserer Fom und innerer Structur übereinstimmen , je grösser die An- zahl der übereinstimmenden Charaktere ist, desto tiefer ist die Stufe der Kategorieenscala , auf welcher sie vereinigt sind; je weiter sie sich in allen inneren und äusseren Formbeziehungen von einander entfernen, je geringer die Summe ihrer gemeinsamen Charaktere ist, auf desto höherer Stufe des Systems erst werden sie zusammengestellt. Sehr häufig ist es aber auch nicht der wirkliche Grad der mor- phologischen Differenz , sondern es sind ganz untergeordnete , secundäre und unbedeutende Nebenumstände , welche die Trennung zweier nächst- verwandten Formen und ihre Stellung in zwei verschiedene Gattungen, i Familien, Ordnungen u. s. w. bestimmen. Insbesondere übt hier der absolute Umfang der einzelnen Abtheilungen auf die Vorstellung vieler Systematiker einen entscheidenden Einfluss aus. Viele früher einfachen Gattungen sind allmählich in mehrere Genera zerspalten und zum Range ' von Famihen erhoben worden , lediglich weil die Zahl der in denselben (enthaltenen Arten beträchtlich gewachsen ist, obschon deren Dififerenz- Igrad nicht gleichzeitig sich erhöhte. Andererseits sind vielfach ein- ;zelne sehr ausgezeichnete Formen (sogenannte aberrante Formen) nicht .zu dem eigentlich ihnen zukommenden Range einer besonderen Ord- mung, Classe etc. erhoben worden, bloss aus dem Grunde, weil die 1 betreifende Form nur durch eine einzige Species oder eine einzige • Gattung repräsentirt ist, so z. B. Amphioxus . Dcntaliinn, Hydra. :Auch andere dergleichen secundäre Erwägungen sind häufig für die ] Bestimmung der Kategorieenstufe , die einer einzelnen Species zukömmt, I ganz maassgebend gewesen , und an die Stelle^ einer objectiven verglei- (chenden Wägung der Charaktere getreten, die allein jene Stufe be- istimmen sollte. Da nun aber ein bestimmtes Gewicht für jene Wägung , ein allge- imein gültiger Maassstab für die Messung der Entfernung der einzelnen : Species- Charaktere, gleichwie eine anerkannte Werthbestimraung der [Systems -Kategorieen selbst vollständig fehlt, so ist der subjectiven Will- Ikühr der Systematiker überall Thor und Thür geöffnet. Die Folge 378 Das natürliche System als Stammbaum. davon zeigt sich denn auch deutlich genug in der chaotischen Verwir- rung , die auf allen Gebieten der Systematik herrscht. Nicht zwei Na- turforscher sind in allen Fällen über die Rangstufe, auf welche eine bestimmte Form zu erheben ist, einig. Unterschiede, die den Einen bestimmen, sie zu einer Gattung zu erheben, lässt ein Anderer nur als Species- Differenzen gelten, während ein Dritter darauf eine neue Familie gründet. Eine Formengruppe, die der Erste als Ordnung be- trachtet, sieht der Zweite nur als eine untergeordnete Familie an, wäh- rend der Dritte sie zum Werth einer Classe erhebt. Aber auch ein und derselbe Naturforscher misst die Arten, Gattungen, Familien u. s. w. in verschiedenen Abtheilungen des Pflanzenreichs und des Thier- reichs mit verschiedenem Maasse. Jeder vergleichende Bück auf eine grössere Anzahl von Familien , Gattungen und Arten aus verschiedenen Classen zeigt, dass dieselben Unterschiede, welche in der einen Classe kaum für genügend gelten , um zwei verschiedene Formgruppen als Ge- nera zu trennen , in einer anderen Classe von demselben Naturforscher für vollkommen ausreichend gehalten werden, um zwei Formgruppen als Familien aufzustellen , während sie ihm in einer dritten Classe viel- leicht gar für so wesentlich gelten, dass er darauf hin zwei Formen- gruppen als besondere Ordnungen unterscheidet. Alle denkenden und unbefangenen Systematiker müssen uns einge- stehen, dass der specielle Ausbau des systematischen Fachwerks ohne alle allgemein gültigen Regeln, in sehr willkührlicher Weise geschieht, dass die verschiedenen Kategorieenstufen künstliche Abtheilungen, und dass die Differenzen derselben keine absoluten, sondern nur relative sind. Der grössere Theil der Naturforscher nahm jedoch bis jetzt gewöhn- lich, wenn er auch jene Willkühr zugab, den Species -Begriff davon aus. Die Species -Kategorie allein sollte eine absolut bestimmte , reale, in der Natur selbst begmndete und fest umschriebene Formensumme umfassen 1) Diese Auffassung des Systems und seiner verschiedenen Kategorieen, welche iu der VorsteUung der meisten Zoologen und Botaniker mehr oder minder bewusst herrscht und in. der Systematik angewendet wird, ist am deutlichsten von Bur meiste r, einem Systematiker, der sich vor vielen Andern durch Klarheit und Ueberhlick auszeichnet, in seinen Zoonomischen Briefen ausgesprochen worden. Er vergleicht, wie ?chon Linne in dem so eben angeführten Schema that , die übliche Kategorieenbildung des Systems mit der Gruppirung einer Armee. Die Reihen, Classen, Ordnungen. Familien und Gattungen des Thier- und PEanzenreichs sind gleich den Divisionen, Regimentern, Bataillonen, Compaguien, Zügen, Rotten, blosse Begriffe, ideale Abstractionen , die nur dadurch eine Bedeutung haben, dass ihnen schliesslich eine Vielheit von realen Körpern, den Indivi- duen , zu Grunde liegt. In der Armee sind diese Individuen die einzelnen Soldaten ; m dem organischen System sind es nach Burmeister die Arten. „Wirklich vorhanden-, .sagt er, „ als r ea 1 e s W es en ist nur die unterste und letzte Abtheilung, welche man Art, Species, genannt hat; sie allein kann gesehen, gegriffen, gesammelt, in Samm- lungen aufgestellt werden; aUe übrigen höheren Gruppen sind blosse Begrifle, die mau I. Begriftsbestimmuug der Kategorieen des Systems. 379 Gegenüber dieser am weitesten verbreiteten Ansicht, dass nur die Species ein reales Wesen, die übergeordneten Kategorieen des Genus, Familia etc. dagegen ideale und grösstentheils willkührliche Abstractio- nen seien, hat neuerdings Louis Agassiz eine ganz. eigenthümliche, im höchsten Grade dualistische und scholastische Ansicht von der Be- leutimg der Systems -Kategorieen aufgestellt und in einem besondern Werk mit vielem Geist und in blendender Form begründet ^). Bei dem grossen Aufsehen, das ihre Originalität, durch die Autorität des nach diesen oder jenen übereinstimmenden Merkmalen feststeUt , deren reale Existenz aber ^'sleugnet werden muss." Alle verschiedenen Gruppen des Systems „haben strenggenom- men so wenig Kealität, wie die Typen, welche sie einschliessen; es sind menschliche Producte, ideale Gestalten, welche die Naturforscher aus den realen Formen der Arten (Species) ableiten, und dabei mehr nach Gutdünken, als nach einer bestimm- ten Regel verfahren. Hierauf gründet sich das Schwankende und Veränderliche des Sy- stems." Diese Ansicht wird von Burmeister (1. c. p. 7 — 14) ausführlich begründet, und es ist diese Ausführung desshalb sehr lesenswerth und merkwürdig , weil sie die Be- fangenheit in Betrefl" des Species - Begriffs deutlich zeigt , in welcher selbst ein so vorzüg- licher Systematiker sich befindet, der das systematische Handwerk mit mehr Sinn und Verstand treibt , als die meisten Andern. Nachdem er die ganz subjective Willkührlich- keit , die in der Unterscheidung der verschiedenen Kategorieen herrscht , hervorgehoben, lügt er noch folgende merkwürdige Stelle hinzu : ,,Im Grunde existiren in Wirklichkeit nur die Arten , und das sind stets mehr oder weniger verschiedene Gestalten. Es ist also nichts leichler , als sie zu trennen ; viel schwieriger ist es , sie durch gute und sichere Charaktere zu haltbaren Gruppen zu verbinden. Darum werden immer mehr Gattungen entstehen , je mehr man die Arten sicher unterscheiden lernt ; ja man wird zuletzt dahin kommen, aus jeder Art eine Gattung zu machen, und das wäre am Ende das Richtigste, weil doch nur die Arten wirklich existiren, alle höheren Gruppen aber blosse Begriffe , blosse Abstractionen gewisser übereinstimmender Artmerkmale sind."(!) Wir haben diese Stellen , in denen Wahrheit und Irrthum in der seltsamsten Weise gemischt ist , wörtlich angeiühi-t , weil sie äusserst bezeichnend sind für die unklare und tunvollständige Bestimmung der Begriffe , mit denen die Systematiker ganz unbesorgt täg- llich operiren, und weil der Grundirrthuni, das Dogma von der realen Existenz der Species, iin dem sich hier ein hervorragender Systematiker befangen findet , von der grossen Mehr- >zahl aller Zoologen und Botaniker noch heute getheilt wird. Nach unserem Dafürhalten tmuss jede einigermaassen in die Tiefe des Species • Begriffes eindringende Untersuchung (alsbald zu der klaren Ueberzeugung führen , dass die Species nicht minder ein blosser IBegriff , eine ideale Abstraction ist, als die höheren übergeordneten Begriffe des Genus, IFamilia, Ordo etc. Den Beweis hierfür haben wir bereits im zweiundzwauzigsten Capitel f geführt, wo wir die Art als genealogisches Individuum zweiter Ordnung näher bestimmt (haben. Wenn Burmeister bei dem sehr treffenden Vergleiche der systematischen Ka- ttcgorieen mit einer Armeegruppirung schliesslich das reale Einzelwesen, welches dem Sol- fdaten entspricht, in der Species findet, so thut er damit selbst einen grossen Rückschritt Ihinter Linne, welcher in dem oben angeführten Schema vollkommen richtig Miles und llndividuum vergleicht. 1) Louis Agassiz, An Essay on Classification. Contributions to the natural his- Itory of the united States. Boston. Vol. I. 1857. 4". Als besonderer Abdruck in Octav iist derselbe Essay 18.59 in London erschienen. Diese letztere Ausgabe haben wir hier >: citirt. 380 Das natürliche S^'-stem als Stammbaum. Urhebers noch mächtig gestützt, erregt hat, müssen wir diese Ansicht I hier nothwendig besi^rechen und widerlegen ^ ), Nach Agassiz ist nicht allein die Speeles eine reale Existenz, j sondern es sind auch die übergeordneten Kategorieen des Genus, Fa- milia, Ordo, Classis, Typus („Branch", Emb ran ehernen t) eben solche j reale, in der Natur begründete und nicht künstlich von den Systema- tikern geschiedene Existenzen, „verkörperte Schöpfungsgedan- ken Gottes". Diese sechs verschiedenen Abtheilungs - Arten decken alle Kategorieen der Verwandtschaft , welche zwischen den Organismen existiren, soweit sich dieselben auf ihre Naturverhältnisse beziehen. Es sind diese weiteren und engeren Gruppen nicht, wie man gewöhn- lich annimmt, quantitativ, durch den Grad der Uebereinstimmung oder Differenz der Charaktere, sondern qualitativ, durch die Art und Weise der Charakter- Aehnlichkeit und Differenz, verschieden. Jeder dieser sechs Haupt -Kategorieen des Systems kommt also ein bestimm- ter, realer Inhalt zu. Dieser Werth, diese Qualität derselben wird von Agassiz in der folgenden Weise zu bestimmen versucht. I. Die Art (Speeles) ist nach Agassiz dadurch charakterisirt, „dass sie einer bestimmten Periode der Erdgeschichte angehört, und dass sie bestimmte Beziehungen hat zu den in dieser Periode walten- den physikalischen Bedingungen und zu den in dieser Periode lebenden Pflanzen und Thieren." — „Die Speeles sind auf ganz bestimmte Be- ziehungen der Individuen zu einander und zu der umgebenden Welt gegründet." — „Die Individuen als Repräsentanten der Speeles zeigen die engsten Beziehungen zu einander und zu den umgebenden Elemen- ten, und ihre Existenz ist auf eine gewisse Periode beschränkt-)." Diese mannichfaltigen , die Speeles als solche charakterisireuden „Be- ziehungen" (relations) werden dann von Agassiz in folgender Weise näher bestimmt: 1) Die Arten haben einen bestimmten natürlichen, geographischen Verbreitungsbezirk, sowie die Fähigkeit, sich in ande- ren Gegenden, wo sie nicht primitiv sich finden, zu acclimatisiren. 1) Bei dem grossen Gewicht, welches Agassiz selbst und seine Anhänger auf die teleologisch - theosophischen Ausführungen seines „Essay" legen , woUen wir die wichtigsten Stellen desselben hier wörtlich in Anmerkungen citiren. 3) „If we would not exclude from the characteristics of sppfies ;iny feature which is essential to it, nor force into it one which is not so, we must first acknowlcdge that it is one of the characters of the species, to belong to a giveu period in the history of our globe, and to holt definite relations to the physical conditions tlien prevailing, and to animals and plants then existing. — Species are based upon well dctemined relations of individuals to the world around them , and to their kindred , and upon the proportions and relations of their parts to one another , as well as upon their ornamentation" (Essny etc. p. 258. 260). „The individuals as rcpresentati ves of species bear the dosest relations to one another; the exhibit definite relations also to the surrounding Cle- ments, and their existence is limited within a definite period." (Ibid. p. 257.) I. Begriffsbestimmung der Kätegörieen des Systems. 381 2) Die Arten haben eine bestimmte Beziehung zu örtlichen Verhält- nissen, einen topographischen Verbreitungsbezirk; sie wohnen entweder auf dem Lande, oder im Wasser, in Meeren oder Flüssen, Ebenen oder Gebirgen etc. 3) Die Arten sind abhängig von gewissen Nah- rungsmitteln. 4) Die Arten haben eine bestimmte Lebensdauer. 5) Die Arten leben in gewissen gesellschaftlichen Beziehungen , in Heerden oder isolirt etc. 6) Die Arten besitzen eine bestimmte Periode ihrer Reproduction. 7) Die Arten haben bestimmte Wachsthumsverhältnisse und Metamorphosen. 8) Die Arten stehen in gewissen Beziehungen zu anderen Organismen, z.B. Parasiten. 9) Die Arten sind charakte- risirt durch eine bestimmte Grösse , Proportion ihrer Theile, Ornamen- tation und Variabilität. Es ist nicht schwer, nachzuweisen, dass alle diese Beziehungen, welche hier Agassiz als charakteristische Eigenthümlichkeiten der Speeles anführt und als ihren realen Inhalt betrachtet, ganz ebenso gut und mit demselben Rechte ohne Weiteres vielen Varietäten , vielen Gattungen, vielen Familien u. s. w. vindicirt werden könnten. Auch die Varietät, auch das Genus gehört, ganz ebenso gut, wie die Spe- eles, einer bestimmten Periode der Erdgeschichte an und hat seine bestimmten Beziehungen zu den physikalischen Bedingungen derselben und zu den gleichzeitigen Pflanzen und Thieren. Auch die Varietäten, auch die Genera, auch die Familien u. s. w. haben, so gut als die Arten, ihren bestimmten geographischen Verbreitungsbezirk , ihren be- stimmten Wohnort, bestimmte Nahrung, Lebensdauer, gesellige Be- ziehungen, bestimmte Reproductions - , Wachsthums- und Entwicke- lungs- Verhältnisse, bestimmte Beziehungen zu anderen Organismen etc. Auch innerhalb der Varietäten , Gattungen , Familien etc. ist ganz eben so wie innerhalb der Arten eine bestimmte Gränze und ein gewisses mittleres Maass der Grösse, der Proportion der einzelnen Körpertheile, der Ornamentation u. s. w. gegeben, oder wird vielmehr, ebenso wie bei der Speeles, künstlich von uns abgegränzt. Wenn wir die Speeles hinsichtlich dieser „Beziehungen" mit der engeren Kategorie der Va- rietät und mit dem weiteren Begriff des Genus vergleichen , so können wir weiter nichts sagen, als dass jene „ganz bestimmten Beziehungen zu einander und zu der umgebenden Welt" ganz ebenso für die Va- rietäten und Gattungen, wie für die Arten existiren, und dass also diese ganz bestimmten „engsten Beziehungen" für die Varietäten en- gere, für die Gattungen dagegen weitere sind, als für die Art. Die vollkommene Haltlosigkeit der von Agassiz versuchten Definition der Speeles geht aus dieser einfachen Betrachtung ohne Weiteres hervor. IL Die Sippe oder Gattung (Genus) ist bekanntlich diejenige nächsthöhere und allgemeinere Kategorie , unter welcher wir die nächst- verwandten Arten zusammenbissen. Seit Linn 6 hat diese Kategorie 382 Das natürliche System als Stammbaum. eine höhere Bedeutung, insbesondere in der systematischen Praxis, da- durch gewonnen, dass in der binären Nomenclatur der erste Name (Nomen genericum) die nahe verwandtschaftliche Beziehung der Spe- cies zu den uächstähulicheu Formen, die wir als Arten unterscheiden, ausdrückt, während der zweite Name (Nomen specificum) den specifi- A sehen Unterschied selbst bezeichnet. Wenn wir den Hirsch Cerrus ] elnpJms, das Keh Cei-vns capreoliis, den Dammhirsch Cervrnt dama, | das Rennthier Cemis tarandifs und den Elch, Cerrvs alc.es, als ver- 1 schiedene Speeles des einen Genus Cerviis zusammenfassen, so wollen wir durch den ersten oder Genus -Namen der einzelmen Formen (Cer- vus) die sie zunächst verbindende Aehnlichkeit , durch den zweiten oder Speeles -Namen (eldphns, caprcolns, dama etc.) den sie zunächst trennenden Unterschied ausdrücken. Es stehen also, wie dies allge- mein bekannt ist, die verwandten Genera als Gruppen von nächst- verwandten Speeles neben einander; als Gruppen, welche in allge- meineren Charakteren übereinstimmen, als diejenigen sind, die die einzelnen Individuen zur Speeles vei'binden; und welche durch weitere Unterschiede getrennt sind, als diejenigen, welche Arten einer und derselben Gattung trennen. Die Verschiedenheiten zweier nächstverwandten Gattungen sind also grösser und zahlreicher, die Aehnlichkeiteu geringer und spärlicher , als diejenigen , welche wir zwi- schen zwei Arten einer Gattung finden. Diese einzig richtige Auffassung des Genus als einer nächst höhe- * ren Speeles - Gruppe wird von Agassiz gänzlich verworfen, und statt dessen behauptet, dass die Sippen oder Gattungen „die am engsten verbundenen Thiergruppen sind, welche weder in der Form noch in der Zusammensetzung ihres Baues, sondern einfach in den letzten Structur - Eigenthümlichkeiten einzelner ihrer Theile sich unterschei- den." — „Die Individuen als Repräsentanten der Gattungen haben eine bestimmte und specifische feinste Structur, identisch mit derjenigen der Repräsentanten von anderen Arten." ^) Es bedarf keines ausführ- lichen Beweises, dass auch diese von Agassiz versuchte Bestimmung des Genus eine vollkommen leere Phrase ist. Welcher Art sind denn diese „letzten Structur - Eigenthümlichkeiten einiger ihrer Theile", wel- che allein das Genus als solches bestimmen sollen und welche jedem Genus ausschliesslich eigenthümlich sein sollen? Wir fragen jeden Systematiker, ob er nicht ganz ebenso gut diese Bestimmung auf Spe- eles, Varietäten etc. wird anwenden wollen, ob es schliesslich nicht „Genera are most closely aUied groups of animals, diflfering neither in form nor in complication of structure , biit simply in the ultimate structural peculiarities of same of their parts-' (Essay etc. p. 249). „The Individuais as repr esentatives of genera have a definite and specific ultimate structure, identical with that of tlic representatives of other species" (Ib. p. 257). I. Begriffsbestimmung der Kategorieen des Systems. 383 auch „letzte Structur-Eigenthümlichkeiten einzelner Theile" sind, wel- che die für die Species, für die Varietät etc. charakteristische Form hervorbringen. Es ist dies ohne weiteres so klar , dass eine eingehende Widerlegung nicht nöthig ist. III. Die Familie (FamUin), die nächsthöhere Kategorie des Sy- stemes, welche die nächstverwandten Gattungen umfasst, ist diejenige Systems -Stufe, welche Agassiz die meisten Schwerigkeiten verur- sacht hat und über die er am wenigsten Herr geworden ist. Aus dem langen Capitel , in welchem er die Kategorie der Familie einerseits ge- gen die nächsthöhere Stufe der Ordnung , andererseits gegen die nächst- niedere Stufe der Gattung abzugränzen versucht, kommt als endliches Schlussresultat weiter nichts heraus, als dass „Familien natürliche Gruppen sind, welche durch ihre Form charakterisirt sind, soweit dieselbe durch Structur-Eigenthümlichkeiten bedingt ist." Die allge- meine Form allein, bedingt durch die Structur, nicht der blosse Umriss, ist das Kennzeichen der Familie. „Die Individuen, als Repräsentanten der Familie, haben eine bestimmte Figur, welche ent- weder zusammen mit ähnlichen Formen von andern Gattungen, oder für sich allein (wenn die Familie nur ein Genus enthält) einen gewis- sen specifischen Zug zeigt." Eine richtige Definition und Abgrenzung der Familien ist nicht möglich ohne vollständige Erkenntniss aller Züge der inneren Structur, welche zusammen die Form bestimmen^). Dieser Definitions - Versuch der Familien - Kategorie ist wohl der unglückUchste von allen, welche Agassiz gemacht hat; denn lässt sich nicht ganz dasselbe, mit ganz demselben Rechte, von der Kate- gorie der Ordnung, der Gattung u. s. w. behaupten? Ist es nicht überall die Form, bedingt durch die Structur, welche den Charakter jeder Gruppe bedingt? Offenbar schwebte Agassiz hierbei die all- tgemeine Physiognomie, der allgemeine Habitus vor, welcher gewöhn- llich (aber durchaus nicht immer!) alle Glieder einer von uns als Fa- imilie zusammengefassten Gruppe verbindet. Aber findet sich nicht lauch eine gleiche allgemeine Uebereinstimmung in der „Form, bedingt «durch die Structur", nur in engerem Maasse, in höherem Grade, Wagner von Agassiz's „Essay on Classification" gibt, und in wel- cher er sonst fast in keinem Punkte dem letzteren seine aufrichtige ! Zustimmung und seine vollkommene Bewunderung versagt, kann er ' doch nicht umhin, bei der „Famihe" zu bemerken: „Wir müssen be- kennen, dass es uns unmöglich gewesen ist, hier den Verfasser genau zu verstehen, wodurch sich eben die Formverhältnisse als Familien- Charaktere charaktcrisiren." IV. Die Ordnung (Ordo), diejenige Kategorie des Systems, welche zunächst als umfassenderer, allgemeinerer Begriff über der Famihe steht, und von dieser oft so schwer geschieden werden kann, wird von Agas- j siz definirt als diejenige Abtheilung, welche „durch die natürlichen | Grade der Complication ihrer Structur innerhalb der Grenzen der Classe bestimmt wird". Ledighch die Complication oder Gra- dation der Structur als solche charakterisirt der Orduungsbegriff. | „Die Individuen aber, als Repräsentanten der Ordnung, stehen auf einer bestimmten Rangstufe, wenn man sie mit den Repräsentanten von andern Familien vergleicht." Die Ordnungen sind natürliche Grup- pen, welche den Rang, die relative Stufenhöhe, die höhere oder nie- dere Stellung der Thiere in ihrer Classe ausdrücken i). Wenn auch nicht so unglückhch und so ganz unhaltbar, als die Definition der Familie, entspricht diese Definition der Ordnung den- noch ebenso wenig den natürlichen Verhältnissen. Liesse sich nicht ganz dasselbe eben so gut in den meisten Fällen von der Classe als der nächst höheren, und von der Familie als der nächstniederen Ka- tegorie behaupten? Wenn die Definition von Agassiz richtig wäre, so müssten sich alle Ordnungen einer jeden Classe nach dem höheren \ oder geringeren Complicationsgrade ihrer Structur in eine einzige fort- 1) „Orders alone are strictly defined by the natural degreos of structural compli- cations exhibited withiu the limits of the classes." (Essay etc. p. 234.) „The complica- tion or gradation of strueture is the feature which should regulate their limitatiou , if under order we are to understand natural groups expressing the rank, the relative stau- ding, the superiority or inferiority of animals , in their respective classes." (Ib. p. 236.), „The individuals as repre sen tatives of orders stand in a de.finite rank whcn compared to the representatives of othcr fnmilies" (Ib. p. 2.57). 1. Begriffsbestimmung der Kategorieen des Systems. 385 laufende Stufenreihe bringen lassen. Dasselbe raüsste aber in allen Fällen bei den verschiedenen Classeu eines Typus, und ebenso bei den verschiedenen Familien einer Ordnung unmöglich sein. Jeder Syste- niatiker wird sich sofort sagen, dass diese Behauptung fast nirgends zutrifft. Jeder muss zugeben, dass die Ordnungen ganz ebenso wie die Classen und wie die Familien, theils coordinirte und theils subordinirte Gruppen darstellen, und dass es ganz unmöghch sein würde, in irgend einer Classe die verschiedenen Ord- nungen lediglich gemäss dem höheren oder niederen Grade ihrer Struc- tur-Complicatiou, und ohne alle Kücksicht auf die Form (die lediglich die Familie charakterisiren soll) in eine einzige Stufenreihe zu ordnen. H V. Die Classe (Classis), diejenige umfassendere Kategorie, der ■ssich die Ordnungen zunächst unterordnen, ist nach Agassiz weder ■cdurch die Form noch durch den Complications-Grad der Structur be- ■sstimmt, sondern „durch die Combination der verschiedenen Organ- ■ssysteme, welche den Körper ihrer Repräsentanten zusammensetzen. Die ■(Classen unterscheiden sich durch die Art und Weise, in welcher der »Plan ihres Typus (der entsprechenden grossen Hauptabtheilung des IlThierreiches) durchgeführt ist, durch die Mittel und Wege, auf welchen iodies geschieht, oder, mit anderen Worten, durch die Combination ihrer »Structur -Elemente." Dagegen sind nach der Ansicht von Agassiz Icdie Classen nicht, wie sie häufig angesehen werden, blosse Modifica- ittionen des grossen umfassenden Planes des Typus, welchem sie ange- [Ibhören, vielmehr Ausdrücke einer bestimmten, charakteristischen Idee Jddes Schöpfers. „Die Individuen als Repräsentanten der Classen zei- , logen den Structurplan ihrer bezüghchen Typen in einer speciellen Art Itund Weise ausgeführt, mit speciellen Mitteln und auf speciellen We- lmen 1)." ,1 Auch dieser Versuch einer Begriffsbestimmung der Classe leidet an .Iddenselben Mängeln, wie die vorhergehenden der Ordnung, Familie u. s. w. (^Abgesehen von der ganz unbestimmten und unfassbaren Allgemeinheit .icder darin ausgedrückten Idee, welche die verschiedenartigsten Deutun- l^en zulässt, und abgesehen von dem gänzlich unwissenschaftlichen An- ■tthropomorphismus, der auch hier in der Vorstellung eines bestimmten Jspeciellen Schöpfungsgedankens liegt, dessen Ausdruck nur die Clas- ■ssen- Kategorie sein soll, Hesse sich dieselbe Definition, wenn wir sie ^) „Classe s are to bc distinguished by the manner in which the plan of their type 'is executed, by the ways and means by which this is dono , or , in other vvords, by the combinations of their structural elements; that is to say, by the combinations of the dif- iferent Systems of organs building up the body of their represeutatives." (Essay etc. p. 224.) „The individuals as represeutatives of classes exhibit the plan of the struc- iture of their respective types in a special manner, carried out with special means and in special ways" (Ib. p. 257). Haockel, Generolle Morphologie, II. 386 Das natürliche System als Stammbaum. präcisiren, ebenso gut als a.uf die meisten Classen, auch auf die mei- sten untergeordneten Kategorieen, Ordnungen, Familien etc. anwenden. Wenn wir den Gedanken, welchen Agassiz unklar und mystisch ver- hüllt in diese dunkle Definition hineinträgt, klar und scharf zu fassen versuchen, so läuft er darauf hinaus, dass die Classen nicht quantita- tiv, gleich den Ordnungen, sondern qualitativ, gleich den Familien, von einander verschieden sind. Die Classen im Sinne von Agassiz sind einfache Stufenleitern von subordinirten Ordnungen, die sich stufenweis über einander erheben, wogegen das Verhältniss der stets nur coordinirten Classen zu einander (ebenso wie das der coordinirten FamiUen einer jeden Ordnung) nicht durch das Bild einer Stufenleiter, sondern einer Radiation sich ausdrücken lässt. „It may be represented by one Single diagram, and may be expressed in one Single word, R a - diation." (1. c. p. 224) Es könnten also niemals Classen eines Typus sich über einander ordnen lassen, da sie niemals durch den Grad ihrer Structur - Complication verschieden sind. Lässt sich diese Behauptung auf alle Classen anwenden, welche gewöhnlich als solche aufgefasst, und auch von Agassiz als solche anerkannt werden? Ist stets das Verhältniss der Classen zu einander ein coordinirtes, und stets das- jenige der Ordnungen zu einander (innerhalb einer Classe) ein subor- dinirtcs? Wir glauben, dass jeder einigermaassen unbefangene Sy- stematiker diese Frage verneinen wird. Es genügt in der That eine nur massig tief gehende Vergleichung vieler Classen mit vielen Ord- nungen und mit vielen Familien, die Agassiz selbst als solche aner- kennt, um zu beweisen, dass dasjenige, was Agassiz den Classen allein vindicirt, sich ebenso gut von vielen Ordnungen und vielen Fa- milien, die er selbst als solche Kategorieen betrachtet, aussagen liesse. VI. Der Typus oder Stamm (Branch, Zweig, Embranchement, ünterreich, Subkingdom), die letzte und höchste der sechs „realen" Kategorieen, welche Agassiz im Systeme unterscheidet, ist zu- gleich die einzige, die wir als solche anerkennen können. Wie schon oben erwähnt, war es. das grosse Verdienst Bär 's und Cu vier 's, er- kannt zu haben, dass die noch im Anfang unsers Jahrhunderts herr- schende Ansicht von einer einzigen Stufenleiter in den Organisations- Abstufungen des Thierreichs falsch sei, dass vielmehr mehrere solche wesentlich verschiedene Stufenleitern unabhängig neben einander exi- stirten, in deren jeder eine Abstufungsreihe von den vollkommensten zu unvollkommneren Organisationen nachweisbar sei. Sowohl Cuvier als Bär unterschieden im Thierreiche vier sol- cher Hauptabtheilungen, die sie Typen nannten. Jedem dieser Typen sollte ein besonderer eigenthümlicher Bauplan (Cuvier) und ein eige- ner Entwickelungsplan (Bär) zu Grunde liegen. Die Auffassung , wel- che Cuvier von dem Wesen dieser Typen oder Kreise und von ihrer I. Begriffsbestimmung der Kategorieen des Systems. 387 fundamental verschiedenen Struetur hatte, wird nun auch von Agas- si/ im Wesentlichen adoptirt und einem von Grund aus verschiedenen Bauplan der grossen Hauptabtheilungen zugeschrieben. „Es kann ge- wiss kein Grund vorhanden sein, warum wir nicht alle übereinstimmen sollten, als Typen oder „Bi'anches" alle die grossen Abtheilungen des Thierreichs zu bezeichnen, die auf einen speciellen Plan gegründet sind, wenn wir praktisch finden, dass wirklich solche Gruppen in der Natur existiren." Jene vier grossen Typen mit aller ihrer unendlichen For- raenmannichfaltigkeit sind nichts Anderes, als die ursprünglichen vier Baupläne, die der Schöpfer zuerst entwarf, und fiach denen er dann die Organismen ausführte. „Die Individuen als Repräsentanten des Typus sind alle nach einem bestimmten Plan gebaut, der sich von dem Plan aller anderen Typen unterscheidet i)," Unsere eigene Auffassung von dem Werthe der grossen Hauptab- theilungeu des Thierreichs, welche Bär und Cuvier Typen, Agas- si zBranches nennt, haben wir ibereits oben dahin ausgesprochen, dass wir diese Hauptabtheilungen als selbstständige Stämme (Phyla) be- trachten, deren jeder sich unabhängig vom anderen aus einer eigenen, einfachsten Wurzel entwickelt hat, so dass wir also alle zu einem Stamm gehörigen Formen, alle Classen, Ordnungen, Familien, Gattungen und Arten eines und desselben Typus als Blutsverwandte, als Abkömmlinge eines und desselben autogenen Ur- Organismus an- sehen. Wir haben diese Stämme oben als genealogische Individuen dritter Ordnung bezeichnet, und werden uns über die Abgrenzung der- selben und ihre etwaige Verwandtschaft in dem nächsten Capitel noch inäher aussprechen. Für unseren gegenwärtigen Zweck, das Verhältniss der verschie- denen Kategorieen des Systems auseinanderzusetzen und deren Werth jzu bestimmen, genügt die wiederholte bestimmte Erklärung, dass wir in diesen Stämmen allerdings reale Einheiten sehen, und dass wir sie aalso als die einzigen, wirklich natürlichen, vollkommen selbstständigen IFormengruppen betrachten, während wir alle anderen Kategorieen des Systems als durchaus künstliche Abtheilungen, als subjective Gruppen- tbildungen betrachten, die uns lediglich den Ueberblick über den Stamm- tbaum eines jeden Typus erleichtern und uns den näheren oder ent- ffernteren Grad der Blutsverwandtschaft zwischen den einzelnen Glie- cdern des Stammes anzeigen sollen. ') „Now tliere can certainly be no reason, why wo should not all agree to designate ypes or branches aU such great divisions of the animal kiugdom as are constituded rapon a special plan, if vre should find praetically that such groups may be traced idn nature." (Essay etc. p. 21.0.) „The individuals as repr e s e n t a ti v es of bran- ches are all organized upoii a distirict plan, differing from the plan of other types" (Ib. p. 257). 25* 388 Das natürliche System als Stammbaum. Der wesentliche Unterschied, der unsere Auffassung des Typus oder Stammes von derjenigen, die nach Cuvier und Bär die meisten neueren Naturforscher gleich Agassiz angenommen haben, trennt, liegt darin, dass wir die Ursache des Typus, welche jeden dieser Stämme charakterisirt, der Uebereinstimmung in den wesentlichsten Grundzü- gen des inneren Baues, welche alle zu einem Stamme gehörigen Glie- der zeigen, nicht finden können in einer planmässigen Idee, einem an- geblichen „Bau plane", den die Natur oder der persönliche Schöpfer bei der mannichfaltigen Ausführung der verschiedenen Gestalten als Thema zu Grunde gelegt hat, sondern vielmehr einfach in dem ganz natürlichen Verhältnisse der gemeinsamen Abstammung aus einer Wurzel, in dem materiellen Bande der continuirlichen Bluts- verwandtschaft. Jeder Typus mit seinem „Specialbauplan" ist für uns ein einzelner selbstständiger Stamm (Phylum), der seinen eigenen Stammbaum hat. Was nun im Ganzen, wenn wir alles Vorhergehende zusammen erwägen, den von Agassiz mit so viel Aufwand von Mühe und Scharf- sinn , von Worten und Wendungen gemachten Versuch betrifft, die Ka- tegorieen des Systems in der oben dargelegten Weise als „realisirte Schöpfungsgedanken verschiedener Ordnung" von absolutem Inhalt und Umfang zu bestimmen, so können wir nicht anders, als denselben in jeder Beziehung für vollkommen verfehlt und von Grund aus falsch zu erklären. Es wird dies für jeden unbefangenen und mit den realen Verhä'ltnissen der systematischen Morphologie vertrau- ten Naturforscher entweder schon aus der vorhergehenden Kritik der einzelnen Theile des Versuchs sich ergeben haben, oder doch bei eini- germaassen eingehender vergleichender Prüfung sich sofort erge- ben 0- 1) Wir würden nicht so viel Zeit und Raum auf die Beleuchtung und Widerlegung dieses gänzUch verunglückten Versuchs von Agassiz verwendet haben, wenn nicht der- selbe den Anspruch machte, als der eigentliche Kern und der werthvollste Theil eines Buches aufzutreten, welches die gesammte Biologie und vor Allem die systematische Mor- phologie in dogmatischem und theosophischem Sinne reformiren soll. Das ganze künstliche Gebäude fällt wie ein Kartenhaus vor dem scharfen Angriffe einer ernstlich prüfenden und vergleichenden Kritik zusammen. Es tritt aber mit seinem Ansprüche, die wahren Fundamente der Morphologie zu begründen, in so glänzender Form, mit einem solchen Apparat von Gelehrsamkeit ausgerüstet, durch einen so berühmten Namen getra- gen, und in solcher ausführlichen, oft blendenden und scheinbar gründhchen Argumenta- tion hervor, dass wir nothwendig an diesem Orte darauf einzugehen und die wesentlich- sten Blossen desselben aufzudecken gezwungen waren. Vielleicht wird dieser oder jener Naturforscher beim Nachdenken über die künstlichen Kategorieen von Agassiz zunächst an einige von den wenigen grösseren Gruppen des Thiei- reiehs (wie z.B. an die Säugethiere) denken, deren Ordnungen, Classen , Gattungen und Arten sich grösstentheils (aber auch immer nur theilweis!) scharf und voU von einander absetzen, und sogenannte „gute" d. h. scharf umschriebene Gruppen bilden, deren Uebei- I. Begriffsbestimmung der Kategorieen des Systems. 389 Wie wenig aber Agassiz selbst von der vollen Richtigkeit seiner künstlichen und scholastischen Systems - Auffassung, und von der abso- luten Differenz seiner sechs realen Kategorieen überzeugt ist (trotzdem er sie für das reife Resultat jahrelangen Nachdenkens ausgiebt!) geht am deutlichsten aus den merkwürdigen nachträglichen Concessionen hervor, welche derseH)e auf die ausführliche Besprechung der sechs „realen" Classifications - Gruppen folgen lässt, und die wir desshalb unten in der Anmerkung wörtlich wiedergeben Nachdem er in sechs langen Abschnitten, welche den eigentlichen Kern des „Essay" bilden sollen und fast das ganze zweite Capitel desselben einnehmen, die Be- gründung seiner sechs Kategorieen, und ihre wirkliche Existenz in der Natur ganz ausführlich nachzuweisen versucht hat, kömmt ein sieben- tes Capitel, in welchem zwar zu Anfang ganz bündig wiederholt« wird, gänge lind Zwisehenformen entweder ausgestorben oder aus andern Gründen uns niclit be- kannt sind. Wenn Jemand in diesen (übrigens im Ganzen nur sehr seltenen) Beispielen von sogenannten „guten" oder „natürlichen" Gruppen einen Beleg sollte finden wollen für irgend eine thatsächliche Grundlage, auf der Ag assiz sein künstliches Luftschloss von der realen Existenz der sechs Systems - Kategorieen aufgerichtet habe, den ersuchen wir, sei- nen Blick auf die ganz überwiegende Zahl derjenigen Abtheilungen des Thier - und Pflan- zen-Reichs zu richten, in denen eine solche scharfe und schematische Abgrenzung der Classen, Ordnungen, Familien, Gattungen und Arten nicht möglich ist, wo vielmehr die „schlechten" und „unnatürlichen" Gruppen, d. h. diejenigen, deren verbindende Ueber- gangsformen uns bekannt sind, dem künstelnden Systematiker endlose Schwierigkeiten be- reiten; oder wir ersuchen ihn, seinen Blick auf die verschiedenen Gebiete der niederen Thierwelt, in die Stämme der Articulaten , Echinodermen , Coelenteraten , Rhizopoden etc. zu werfen. Wo finden wir in diesen Abtheilungen, z. B. in den verschiedenen Classen und Ordnungen der Würmer, in den verschiedenen Classen und Ordnungen, Familien und Gattungen der Hydromedusen, Anthozoen etc. irgend thatsächliche Belege dafür, dass sich die Classen nur durch die Ausführungsweise ihres gemeinsarnen Bauplans unterscheiden, die Ordnungen nur durch den Complicationsgrad des Baues, die Familien nur durch die Foi-m, soweit sie durch die Structur bestimmt wird, und die Gattungen nui- durch das Detail der Ausführung in einzelnen Theilen? Oder wo finden wir die Speeles, wel- che bloss desshalb als Species gelten, weil alle Individuen derselben einer bestimmten Periode angehören und in ganz bestimmten Verhältnissen zu einander und zur umgeben- den Welt stehen? In der That, wir möchten glauben, dass Agassiz, als er diese eben so willkührlichen als unbegründeten Behauptungen niederschrieb, nicht an seine eigenen berühmten systematischen Arbeiten gedacht habe , nicht an das System der fossilen Fische, und vor Allen nicht an sein prachtvolles Werk über die Discophoren und die Hydroi- dcn, welche grade in dieser Beziehung so lehrreich sind. 1) „Upon the dosest scrutiny of the subject I find that these six divisions Co- ver all the categories o f r e 1 a ti o n s h i p (!) which exist among animals, as far as their structure is concerned. 1. Branchesortypesare characterized by the plan of their structure, 2. Classes, by the manner, in whieh that plan is executcd, as far as ways and means are concerned, 3. Orders, by the degrees of complication of that struc- ture, 4. Families by thoir form, us far as detcrinined by structure, 5. Genera, by the details of the exccution in special parts ; and ß. Species, by the relations of indi- viduals to one another and to the world , in whicli thcy live , as well as by the propor- tions of their parts, their oriiamentaition etc. And yet there are other natural 390 Das natürliche System als Stammbaum. dass diese sechs Gruppen alle Kategorieeii der Verwandtschaft decken, dann aber kurz und trocken erklärt wird, dass es nun auch A noch andere natürliche Abtheilungen im Thierreiche gebe, die nur nicht so gleichmässig in allen Classen sich wiederholten, vielmehr ^ nur Beschränkungen jener ersten sechs seien. Dann wird plötz- hch zugegeben, dass alle die sechs realen Kategorieen ihre Abstuf uu- gen haben, welche als Unterklassen, Unterordnungen, Unterfamilien, Untergattungen etc. unterschieden werden können. Jedoch sollen diese ^ Unterabtheilungen nur durch willkührliche Abschätzung abgegrenzt wer- den können! Man sieht, nur noch ein Schritt, und Agassiz kommt am Ende aller seiner vergebhchen Mühe zu der Ansicht von Lamarck und Darwin, dass alle diese Abtheilungeu vollkommen willkührlich und künstlich sind! Aber auch noch eine andere und zwar eine höchst bedeutende und dankenswerthe Concession müssen wir hervorheben, welche Agas- siz der Descendcnz-Theorie macht. Das ist nämlich seine eigeuthüm- liche Behandlung des Speeles -Begriffs, in welcher er weit von allen anderen Species-Dogmatikeru abweicht, und durch welche er zu seinem Gesinnungsgenossen Rudolph Wagner und den anderen Species- Conservativen in den entschiedensten Gegensatz tritt. Agassiz lässt nämlich erstens, wie wir bereits oben bemerkt haben, die gebräuchli- chen physiologischen Kriterien der Speeles, ihre Abstammung von ei- nem Paare, sowie ihre Unfähigkeit, mit anderen Arten fruchtbare Bastarde zu erzeugen, gänzlich fallen. Er giebt zu, dass ganz ver- schiedene Speeles unter Umständen fruchtbare Bastarde zu erzeugen vermögen, und behauptet femer, dass jede Art nicht in einem einzi- gen Individuum oder Paare, sondern in zahlreichen Individuen und wohl auch an verschiedenen Orten der Erde geschaffen worden sei. Zweitens aber, und dies ist uns besonders wichtig, hält Agassiz, im schroffen Gegensatz zu den herrschenden Vorstellungen, die Speeles für einen ebenso abstracten Begriff, als es die übrigen Kategorieen, Gattung, Familie etc. sind. Alle diese sechs Gruppen - Begriffe sind nach ihm gleichermaassen „ideal und real". Mit dieser Behauptung stellt sich Agassiz entschieden der gewöhnlichen Form des Species- Dogmas entgegen, welche die Speeles für eine reale Wesenheit, die divisions (!) which must be acknowledged in a natural zoological system; but tbese are not to be traced so uniformly in all classes as the former (!) — they are in rea- iity only limitations of the other kinds of divisions (!). — I must confess at the same time, tbat I have not yet been able to discover the principle which obtains in the limi- tation of their respective subdivisions (!). All I can say is, that all the different categories considered above, upon which branches, classes, ordei-s, families, geuera, and species are founded, have their degrees (!) and upon these degrees subclasses, suborder.s, subfamilics and subgenera have been established. For the present, these sub- h', divisions must be left to arbitrary estimations" (!) (Essay etc. p. 263). vi II. Bedeutung der Kategorieen für die Classification. 891 andern Kategorieen für willkührliclie Begriffe erklärt. Wenn demnach der Begriff der Species niclit mehr reale Grundlage hat, als derjenige der Gattung, Famihe etc., so dürfen wir ihn gleich den letzteren für eine willkührliche Abstraction von bloss "relativer Geltung erklären. II. Bedeutung der Kategorieen für die Classification. Dass alle Gruppenbildungen unserer zoologischen und botanischen Systeme von der Species au bis zur Classe hinauf, vollkommen künst- liche und Avillkührliche sind, hat bereits Lamarck, der geistvolle Begmnder der Descendenz - Theorie , auf das Bestimmteste ausgespro- chen. An der Spitze seiner klassischen „Philosophie zoologique", im ersten Capitel des ersten Bandes, handelt er von den künstlichen Be- trachtungsweisen der Naturkörper („des parties de l'art dans les pro- ductions de \»> nature") und weist nach, dass alle unsere systemati- schen Abtheilungeu, die Classen, die Ordnungen, die Familien und die Gattungen, ebenso wie die Nomenclatur, willktthrlich geschaffene Kunst- producte sind; dass die Abtheilungen, welche wir in unsern stets künst- lichen Systemen scharf trennen und umgrenzen, in der Natur überall durch continuirliche Verbindungsstufen unmittelbar zusammenhängen, und dass der relative Werth der einzelnen Gruppen sich durchaus nicht in absoluter Weise bestimmen lässt. Wenn man alle Arten ei- nes organischen Reiches vollständig kennte, so würden alle durch die- selben gebildeten Gmppen verschiedenen Grades (die Gattungen, Ord- nungen, Classen etc.) lediglich kleinere und grössere über einander geordnete Familien von verschiedenem Umfang darstellen, deren Gren- zen nur willkührlich zu ziehen wären ^). Nach Lamarck haben auch noch manche andere Naturforscher, damnter die kenntnissreichsten und erfahrensten Systematiker, ihre Ueberzeugung von der künstlichen Abgrenzung der Systems- Gruppen und dem subjectiven Werthe dieser Kategorieen (die Species ausge- nommen!) ausgesprochen. Niemand hat jedoch dieselben richtiger er- 1) „Si toutes les races (ce qu'on nonime les especes), qui appartieunent h im rfegne des Corps vivants, etaient parfaitement connues, et si les vrais rapports, qui se trouvent entre chacune de ces races, ainsi qu'entre les differentes masses qu'elles formeut, l'ötaient pareillement. de manifere que partout Ic rapproehement de ces races et le placenient do Icurs divers groupes fussent conformcs aux rapports naturels de cos objects, alors les classes, les ordres, los sectious et les genres seraient des familles de difl'örents grandeurs; car toutes ces coupes söraieut des portions grnndes ou pdtites de l'ordre naturol. Dans ce cas, rieii Sans deute, ne sdrait plus difficile que d'assiguer des limites entre ces diffe- rentes coupes; Tarbitraire les lerait varier sans cesse, et l'on ne serait d'accord que sur ceUes que des vides dans la sörio nous montrdraient clairement." Lamarck, philosophic zoologique, tome I , p. 'dO. 1809. Das natürliche System als Stammbaum. kannt und erläutert, als Darwin, welcher zuerst klar die Bedeutung des natürlichen Systems als Stammbaums und der Gruppen desselben als Aeste und Zweige dieses genealogischen Baumes darge- than hat. Er wies auch besonders auf die sehr wichtige radiale Divergenz der Verwandtschaftslinien hin, welche jene Ka- tegorieen verschiedener Ordnung verbinden. Die trefflichsten Bemer- kungen hierüber enthält in Darwin 's Werke das vierte Capitel , wel- ches von der Divergenz des Charakters handelt, und das dreizehnte, welches die Gruppenbildungen bei der Classification erläutert, und das Verhältniss der Coordiuation und Subordination der verschiedenen Ka- tegorieen aus der gemeinsamen Abstammung aller Gruppen und aus ihrem verschiedenen Abgange und Abstände vom Hauptstamme erklärt. Da unsere eigene Ansicht von der systematischen Classification der Organismen und von dem Werthe der verschiedenen Kategorieeu des natürlichen Systems sich auf das Engste an die genealogische, von Lamarck und Darwin bereits begründete Auffassung anschhesst, so beschränken wir uns hier darauf, einige von denjenigen Punkten der Classifications- Frage hervorzuheben, von denen wir glauben, dass wir zu ihrer schärferen Fassung und tiefei-en Klärung Einiges beitragen können. Wir gehen dabei wiederum aus von dem vorher erörterten Begriffe der Speeles, welche ja immer der Angelpunkt bleiben wird, um den siclyille verschiedenen morphologischen Ansichten der Systema- tiker in letzter Instanz drehen. Wir glauben im vorhergehenden Abschnitt zur Genüge dargethan zu haben, dass wir die Speeles als eine geschlossene Summe von Individuen, als ein genealogisches Individuum zweiter Ordnung nur dann betrachten können, wenn wir von ihrer Variabilität ganz absehen und sie als in der Zeit unveränderlich hinstellen. Es ist in diesem Falle die Speeles „die Gesammtheit aller Zeugungskreise, welche un- ter gleichen Existenzbedingungen gleiche Formen zeigpn und sich höch- stens durch den Polymorphismus adelphischer Bionten unterscheiden". Diese Bestimmung der Speeles verliert aber ihren Werth, sobald wir die Variabilität, welche allen Speeles eigen ist, mit in den Kreis unserer Betrachtung ziehen. Aus dieser ergiebt sich vielmehr, wenn wir zugleich den thatsächlichen Kampf ums Dasein in Erwägung zie- hen, den alle Arten zu bestehen haben, dass der Varietätenbüschel jeder Speeles sich beständig erweitern und die einzelnen abweichenden Formen durch Divergenz des Charakters immer weiter auseinander ge- hen müssen. Viele von diesen Varietäten gehen früher oder später als solche unter. Andere gelangen in Verhältnisse, unter denen sie ihre Charaktere lange Zeit hindurch (oft viele hundert Jahrtausende!) verhältnissmässig constant erhalten können. Diese werden dann als Ar- ten bezeichnet. Die Varietäten sind also beginnende Arten. II. Bedeutung der Kategorieen für die Classification. 393 Ebenso willkührlich , ebenso künstlich und ebenso ungleichartig als die Umgrenzung der Species aus diesem Grunde sein muss, ist die Bildung der Genera, Familien, Ordnungen, Classen, und wie man alle die verschiedenen Gruppen nennen will, die innerhalb eines einzi- gen Typus unterschieden werden. Alle diese verschiedenen Kategorieen des Systems haben durchaus nur einen relativen und subjectiven Werth; sie können ebenso wenig als die Species absolut umschrieben werden und lassen eben so wenig eine entsprechende Definition zu. Alle Ver- suche, diesen Kategorieen einen bestimmten Werth und Inhalt beizu- legen, sind als vollkommen verfehlte zu betrachten, weil sie scharfe Grenzen da ziehen, wo in der Natur keine vorhanden sind. Wir glau- ben dies zur Genüge durch die vorhergehende Kritik des „Essoy ou classiflcaüon" von Agassiz gezeigt zu haben, des bei weitem ausführ- lichsten und gründlichsten Versuches, der jemals von Systematikern zur Lösung dieser Frage angestellt worden ist. Die grosse Mehrzahl der heutigen Systematiker wird wohl keinen Anstand nehmen, diese subjective Bedeutung der verschiedenen Systems- gruppen zuzugestehen, da ja selbst viele von denjenigen, welche die Species als einen realen Begriff, als unveränderlich, constant und abso- lut festhalten, nicht dasselbe von der Gattung, Familie u. s. w. be- haupten, vielmehr die bloss relative Geltung dieser Begriffe zugeste- hen. Der weit verbreiteten Auffassung dieser letzteren gegenüber, dass demnach der Species-Begriff ein concreter und absoluter, und dadurch wesentlich von den abstracten und relativen Begriffen des Genus, der Fa- milie u. s. w. verschieden sei, müssen wir jedoch hier nochmals auf die richtige Ansicht von Agassiz hinweisen, dass die Species, sobald mau ihre Variabilität in Betracht zieht, sich in dieser Beziehung (hin- sichtlich ihrer Kealität) nicht von den übrigen höheren Kategorieen unterscheidet. Während aber Agassiz allen diesen Kategorieen des Systems einen gleichen Grad von Kealität zuerkennt, müssen wir ihnen allen denselben gleichermaassen absprechen. Als die einzige reale Kategorie des zoologischen und bota- nischen Systems können wir nur die grossen Hauptabtheilungen des Thier- und Pflanzen-Reichs anerkennen, welche wir Stämme oder Phylen genannt und als genealogische Individuen dritter Ordnung erörtert haben. Jeder dieser Stämme ist nach unserer Ansicht in der That eine reale Einheit von vielen zusammengehörigen Formen, da es das materielle Band der Blutsverwandtschaft ist, welches sämmtliche Glieder eines jeden Stammes vereint umschlingt. Alle verschiedeneu Arten, Gattungen, Familien, Ordnungen und Classen, welche zu einem .solchen Stamme gehören, sind continuirlich zusammenhängende Glie- der dieser grossen umfassenden Einheit und haben sich aus einer ein- zigen gemeinsamen Urform allmählich entwickelt. Die verschiedenen 394 Das natürliche System als Stammbaum, Urformen selbst aber, welche die Wurzel der einzelnen Stämme bilden, sind gänzlich unabhängig von einander durch Generatio spoutanea ent- standen, wie wir bereits im sechsten und siebenten Capitel erläutert haben (Bd. I, S. 167, 198 ff.) 1) Da wir den Stamm oder das Phylon füi' die einzige reale und für die einzige ge- nau durch ihren Inhalt und Umfang zu definirende Kategorie des Systems halten, so kön- nen wir in den übrigen, so eben ausführlich besprocheneu Kategorieen nichts Anderes als künstliche und nach subjectivem Gutdünken abgegränzte Abtheilungen erkennen, welche in Wirklichkeit niemals scharf geschieden sind. Alle diese Kategorieen von der Varietät und Speeles bis zu der, Ordnung und Classe hinauf, können lediglich deu engeren und weite- ren Grad der Blutsverwandtschaft bezeichnen, den näheren oder weitereu Abstand, wel- cher eine jede Form von ihren Verwandten und von" der gemeinsamen Stammform trennt Der Werth der einzelnen Kategorieen ist also stets nur ein relativer, und hiermit stimmt die Thatsachc überein, dass es unmöglich ist, die Kategorie der Classe, Ordnung, Fa- milie etc. als solche zu bestimmen und durch einen bestimmten Inhalt und Umfang zu charakterisiren. Alle möglich en Kategorieen des Systems, mit einziger Ausnahme des Stam- mes oder Typus, also alle Classen , Ordnungen, Familien, Gattungen, Arten und Varie- täten, sowie alle untergeordneten Gruppen, welche man unter und zwischen diesen Haupt- gruppen verschiedener Ordnung noch gebildet hat (die Unterclassen , Reihen, Unterord- nungen, Sectioneu , Unterfamilien, Tribus, Untergattungen, Rotten, Subspecies etc.) alle diese Kategorieen verschiedenen Ranges sind ebenso wi llkülirliche und subjee- tive Abstractionen, als die Speeles selbst, deren Bedeutung wir bereitsauf ihren wahren Werth zurückgeführt haben. Daher stellt .sich denn auch der Werth jeder dieser Kategorieen in den verschiedenen Abtheilungen des Systems und bei den verschie- denen Stämmen als ein höchst verschiedenartiger heraus. Unterschiede, die in dem einen Stamme für ausreichend gelten, darauf zwei verschiedene Klassen zu begründen, werden in einem andern kaum für wichtig genug angesehen, imi die betreflfenden Formengi-uppeu als Ordungen . oder selbst als Familien zu unterscheiden; und dieselbe Formengiuppo. die der eine Systematiker als eine Gattung mit mehreren Subgenera, vielen Arten und sehr vielen Varietäten betrachtet, sieht der zweite als eine Familie mit mehreren Gat- tungen, vielen Untergattungen und sehr vielen Arten, der dritte als eine Ordnung mii mehreren Familien, vielen Subfamilien und vielen Gattungen, aber verhältnissmässig nur wenigen Arten an. Dieselben Formengruppen, welche L i n n e als Genera aufstellte, sind jetzt meistens zum Range von Familien, viele selbst von Ordnungen erhoben worden, und sehr viele von Linne's Speeles sind jetzt Untergattungen, Gattungen oder selbst Fami- lien. Dass in der systematischen Praxis bei der Bestimmung des Ranges der einzelnen Formengruppen, bei der Umschreibung und Begränzung der verschiedenen Kategorieen des Systems, bei der Ausdehnung und Beschränkung derselben, allenthalben die grösste. Willkühr herrscht, und dass nicht zwei Naturforscher in aUeu Fällen über den Rang, den sie einer Formengruppe zu ertheilen haben, einig sind, ist eine so aUbekannte und jedem Systematiker täglich aufstossende Thatsache, dass dieselbe hier keines Beweises be- darf. Diese Thatsache ist aber nicht, wie Agassi z meint, in der Ungenauigkeit und Willkührlichkeit der bestimmenden Sy.stematiker begründet, sondern in der Unbestimmtheit und wir!;lichen Unbestimmbarkeit der Kategorieen, welche dem subjectiven Gutdünken des Einzelnen vollen Spielraum lassen. Unter diesen Umständen kann Nichts verkehrter und sinnloser erscheinen, als di. endlosen Streitigkeiten der Systematiker über die Rangstufe, welche jeder Formengrupp.' anzuweisen sei. Weit mehr Arbeitskraft und Mühe, Scharfsinn und Geduld, Papier und Zeit, als jemals für wissenschaftliche zoologische und botanische Untersuchungen aufgc- III. Gute und schlechte Gruppen des Systems. 395 m. Gute und schlechte Gruppen des Systems. „Gute und schlechte Gruppen, gute und schlechte Gattungen, 'amilien , Ordnungen , Classen u. s. w." werden in der systematischen 'raxis ebenso allgemein, wie „gute und schlechte Arten" unterschie- len : und wie bei den letzteren, so haben auch hier die meisten Syste- natiker keine richtige Vorstellung von dem eigentlichen Werth dieser Unterscheidung. Der Grund derselben ist dort wie hier derselbe, und ,vas wir oben von den „guten und schlechten Arten" bemerkten, ^ gilt !benso von den übrigen Kategorieen des Systems. ,.Gute Gruppen", gute oder natürliche Genera, FamiMen, Ord- lungen, Classen sind solche, die sich scharf und bestimmt umschrei- ben lassen, und durch keine Uebergänge mit den verwandten Formen . erbunden sind. Solche Classen sind z. B. die der Säugethiere , Vögel md Reptilien. Es fehlen hier lebende Uebergangsformeu und es fehlt ms die Kenntniss der ausgestorbenen Zwischenformen, welche die ge- neinsamen Stammeltern dieser Gruppen waren und dieselben aufs in- iigste verbanden. Ebenso sind gute Ordnungen diejenigen der Insec- en-Classe, deren verbindende Zwischenglieder uns grösstentheils un- )ekannt sind. Wenn sich eine Classe so scharf und bestimmt um- .chreiben lässt, wie die der Vögel, der Insecten, so beruht dies zu- lächst immer auf unserer höchst unvollständigen Kenntniss derselben, lie hauptsächlich durch grosse und wesentliche Lücken in ihrer palä- )ntologischen Entwickelungsgeschichte bedingt ist. „Schlechte Gruppen", schlechte oder unnatürliche Genera, "amilien, Ordnungen, Classen nennen die Systematiker solche, deren Abgrenzung sehr schwierig ist, weil die entferntesten Formen der iruppe durch eine continuirliche Kette von verbindenden Zwischen- gliedern zusammenhängen. Solche Classen sind z. B. die der Amphi- nen und Fische, zwischen denen Lepidosiren in der Mitte steht, der seltsame, wenig veränderte Nachkomme von den alten gemeinsamen itammeltern der Amphibien und Teleostier. Ebenso sind schlechte iruppen die einzelnen Ordnungen z. B. der Crustaceen, der Gasteropo- len etc. Je vollständiger wir die lebenden und ausgestorbenen Glie- vendet worden sind, haben die gänzlich unfruchtbaren und grundverkehrteu , ja wahr- laft kindischen Streitigkeiten Uber die Frage gekostet, ob diese oder jene Formengruppe is Varietät oder Species, als Subgenus oder Genus, als Tribus oder Familie zu botrach- c.n sei; und dabei ist es in der Regel nur sehr Wenigen von den zahllosen Speciesfabri- inten eingefallen, sich zu fragen, was denn diese Begiüffe eigentlich sagen wollen; dio- i^nigen aber, die diese Frage wohl hier und da nufwarfen, waren von dem Dogma der ;pe<:ies-Constaiiz so geblendet, duss sie dieselbe für ganz unlösbar erklärten. Betrachtet iian das Treiben der Systematik von diesem Standpunkt aus, so lässt sie sich nur mit lern Fuss der Danaideu vergleichen. 396 Das natürliche System als Stammbaum. der irgend einer Gruppe kennen lernen, desto unmöglicher wird es, die einzelnen ünterabtheilungen scharf von einander zu trennen, und desto schwieriger, den gesammten Charakter der ganzen Gruppe zu- sammen zu fassen. Während wir einerseits die Charaktere der Insec- tenclasse scharf defiuiren, und ihre einzelnen Ordnungen glatt ab- trennen können, ist es bei der nahe verwandten Classe der Crusta- ceen ganz unmöglich, den Gesammt-Charakter der Gruppe zusammen- zufassen und ihre einzelnen Ordnungen scharf zu unterscheiden. Die drei Ordnungen der Hufthiere, Pachydermen, Wiederkäuer und Ein- hufer, waren drei der besten und natürlichsten Ordnungen, so lange man ihre fossilen Zwischenformen nicht kannte. Als diese gemeinsa- men Stammformen entdeckt waren, wurde es unmöglich, sie noch län- ger scharf zu trennen. Es waren nun schlechte und unnatürliche Ab- theilungen geworden. Sehr viele kleinere und grössere Abtheilungeu des Thierreichs erscheinen uns nur desshalb als „natürhche" Gruppen, weil wir bloss die hoch ausgebildeten und differenzirten Epigonen aus einer verhältnissmässig späten Zeit ihrer historischen Entwickelung kennen, so die Wirbelthiere, die Echinodermen. Während die Cha- rakteristik solcher späteren Gruppen sich leicht und präcis zusammen- fassen lässt, weil wir nicht genöthigt sind, ihre relativ unvollkomme- nen und einfachen Vorfahren mit darunter zu begreifen, so können wir umgekehrt eine allgemeine und zugleich bestimmte Charakteristik z. B. der Würmer gar nicht aufstellen, weil wir hier neben den hoch aus- gebildeten späteren Epigonen noch die unvollkommensten niedersten Anfänge der Reihe kennen und von den ersteren nicht trennen kön- nen. Hieraus geht hervor, dass wir eine für alle Glieder eines Stam- mes gültige allgemeine Charakteristik desselben, wenn wir alle Glie- der vom ersten bis zum letzten kennten, gar nicht würden geben können, weil die niedersten Anfangs stufen, die Wurzeln noch zu in- different, für unsere Definitionen noch viel zu charakterlos sind. Ganz ebenso wie' die Speeles, werden also auch die umfassende- ren und weiteren Kategorieen des Systems, die Genera, Familien, Clas- sen etc. gut und natürlich genannt, wenn wir ihre gesammten Formensummen und namentlich die ausgestorbenen Stammformen der- selben schlecht und unvollständig kennen; dagegen werden dieselben Abtheilungen schlecht und unnatürlich genannt, wenn wir ihren gesammten Formenkreis und namentlich die gemeinsa- men Stammeltern derselben gut und vollständig in ihrem genealogi- schen Zusammenhange kennen. Daher wird jede gute und natür- liche Gruppe des Systems um so schlechter und unnatürlicher, je vollständiger wir sie durch Auffindung der verbindenden Uebergangs- formen und namentlich der ausgestorbenen gemeinsamen Stammfor- men kennen lernen. rV. Die Baumgeatalt des natürlichen Systems. 397 rV. Die Baumgestalt des natürlichen Systems. Wenn wir das gesammte System der Organismen vollständig von Vnfang an kennen würden, wenn wir im vollständigen Besitze aller hier- und Pflanzen - Arten sein würden, welche jetzt leben und je- iials auf der Erde gelebt haben, so würde es, wie Lamarck, Goethe md Darwin bemerkt haben, ganz unmöglich sein, ein System mit ;charf abgegrenzten Kategorieen aufzustellen. Da die einzige reale vategorie des Systems der Stamm oder Typus ist, so würden wir nur Alle (wahrscheinlich geringe) Zahl von solchen Stämmen neben eman- ier vor uns sehen; Stämme, deren jeder sich im Laufe der Zeit aus iner ganz einfachen Wurzel durch fortgesetzte Ramification (Diver- Aenz des Charakters) zu einem viel verzweigten Baume mit gewaltiger ivrone und äusserst formenreichen Aesten entwickelt hat. Kein an- ieres Bild vermag uns die wahre Bedeutung, welche die ^verschiedenen Kategorieen innerhalb eines jeden Stam- mes besitzen, so treffend, klar und anschaulich zu ver- sinnlichen, als das Bild eines weit verzweigten Baumes, lessen Aeste und Zweige, nach verschiedenen Richtungen livergirend, sich zu verschiedenen Formen entwickelt haben. Es ist dies in der That der genealogische Stammbaum je- les Stammes oder Typus, wie wir ihn auf den diesem Bande ange- hängten genealogischen Tafeln bildhch darzustellen versucht ha- ben. Die einfache Wurzel des Hauptstammes ist die gemeinsame Urform, aus welcher der gesammte Formenreichthum' der Aeste, Zweige etc. sich entwickelt hat. Die grossen Hauptäste, in welche zunächst der Stamm sich spaltet, sind die Classen des Stammes, die Aeste, lie aus deren Theilung hervorgehen, die Ordnungen; jede Ordnung verästelt sich wieder in mehrere Zweige, welche wir Familien nennen, und die Verästelungen dieser Zweige sind die Gattungen; die feineren Aestchen dieser Ramificationen sind die Speeles, und die feinsten Zweiglein dieser die Varietäten; die Blätter endlich, welche büschel- weis an den letzten Zweigspitzen sitzen, sind die Zeugungskreise oder die physiologischen Individuen, welche diese repräsentiren. Die Zweige und Aeste mit frisch grünenden Blättern sind die lebenden, die älteren mit den abgestorbenen welken Blättern die ausgestorbenen Formen und Formgruppen des Stammes. Gleichwie es nun ganz unmöglich ist, an einem solchen Stamme zu sagen, wo die Grenze der einzelnen Astgruppen ist, wo die grö- beren Aeste als Einheiten aufhören und die feineren aus ihnen her- vorgehenden anfangen, oder wie es unmöglich ist, den Antheil des j gemeinsamen Stammes scharf zu bestimmen, der jedem Aste zukommt, ganz so unmöglich ist es, an jedem Stamme des Thier- und Pflanzen- 398 Das natürliche System als Stammbaum. ■Reichs die Grenze der einzelnen Classen, Ordnungen, Familien, Gat- tungen, Arten scharf anzugeben. Wo dies mögHch ist, da befindet sich eine Lücke in unserer Kenntniss , welche uns eine Kluft zwischen zwei verwandten Formengruppen vorspiegelt, die in der Natur nicht vorhanden, sondern entweder durch noch lebende oder durch ausge- storbene Zwischenformen überbrückt ist. Alle Aeste und Zweige die- ses Baunies gehen auf ungleicher Höhe vom Stamme ab, erreichen einen ungleichen Grad der Entwickelung in Länge, Dicke und Ver- zweigung, und alle Zweige enden auf verschiedener Höhe und tragen eine ungleiche Anzahl von Blättern. Ganz so verhält es sich mit jedem Stamme des Thier- und Pflanzen -Reichs und es ergiebt sich hieraus, dass die Coordination und Subordination der verschiedenen Kategorieen (Verästelungs - Grade) durchaus nicht in der Weise sche- matisch zu bestimmen ist, väe es gewöhnlich geschieht. Der Grad der Coordination und Subordination kann vielmehr bei allen Grup- pen eines Stammes ein äusserst verschiedenartiger sein. Aus dieser und der vorhergehenden Betrachtung erledigt sich nun die vielventilirte Frage , ob es ein natürliches System der Organismen gebe, und welches dieses einzige System sei, von selbst. Es giebt allerdings ein natürliches System, und zwar nur ein einziges, innerhalb jeder der selbstständigen grossen natürlichen Hauptabtheilun- gen, der Stämme oder Phylen des Thier- und Pflanzen-Reichs. Dieses einzig natürliche System ist der reale Stammbaum eines jeden Stammes oder Phylum, und zeigt uns unter der Form eines einzigen, vielfach verästelten Baumes durch radial divergi- rende Verwandtschafts-Linien (Aeste und Zweige des Baums) den verschiedenen Grad der Blutsverwandtschaft an , der die verschie- deneu unter und neben einander geordneten Gruppen des Stammes verbindet. Wenn wir dieses Bild festhalten und uns dabei stets erinnern, dass alle Kategorieen des Systems, die wir innerhalb des Stammes bilden, künstlich und nicht absolut zu umgrenzen sind, sondern nur wegen der Lückenhaftigkeit unserer Kenntnisse absolut zu sein schei- nen; wenn Avir uns ferner erinnern, dass alle diese Kategorieen ab- stracte Begriff"e von relativem Werthe sind, und dass jede Kategorie in verschiedenen Stämmen und Stammtheilen einen sehr ungleichen Werth, sehr verschiedenen Umfang und Inhalt haben kann — wenn wir dieser künstlichen Natur des systematischen Fachwerks stets einge- denk bleiben , so werden wir dasselbe mit dem grössten Vortheile zui* übersichtlichen und vergleichenden Darstellung der complicirten Ver- wandtschafts-Verhältnisse der einzelnen Stammgruppen anwenden kön- nen; ja es wird sich sogar eine wirklich naturentsprechende An- schauung von dem natürlichen Systeme jedes Stammes nur dann ge- V. Anzahl der subordinirten Kategorieen. 399 Vinnen lassen, wenn wir die einzelnen über und neben einander ge- )idneten Gruppen durch zahlreiche dichtverzweigte und radial divergi- ■ende Verwandtschaftslinien verbinden und uns so die ursprüngliche iestalt des reich verästelten Stammes möglichst reconstruiren. Den ersuch einer solchen ungefähren Reconstruction , welche allerdings •ben so schwierig als wiclitig ist, haben wir auf den angehängten :enealogischen Tafeln, welche jedoch nur einen ganz provisori- schen Werth besitzen, zum ersten Male gewagt. V. Anzahl der subordinirten Kategorieen. Da die einzelnen Kategorieen oder Gruppen des natürhchen Sy- stems keinen absoluten Inhalt und Umfang besitzen, sondern nur die , erschiedenen Divergenz - Grade der Aeste des Stammbaums bezeich- len, da ihr ganzer Werth für die Classification mithin in dem rela- iven Verhältniss der Subordination liegt, so ist es klar, lass die Zahl derselben ganz unbeschränkt ist, und dass der Stamm- )aum um so übersichtlicher wird, je grösser die Zahl der übereinan- 1er geordneten Gruppen ist. Wenn Agassiz und viele andere Sy- ;tematiker diese Zahl auf sechs beschränken und nur die Begriffe der Speeles, Genus, Famüia, Ordo . Clussh , Typus als wirklich natür- iche und reale Kategorieen gelten lassen wollen , so ist dies vollkom- uen willkührlich , und wird am besten durch die Thatsache wider- legt, dass Agassiz selbst genöthigt war, dennoch die untergeordne- en Kategorieen der Snhclnssis, Siibordo. Svhfiimilia etc. nachträglich luzuerkennen und selbst in Gebrauch zu ziehen. Wir werden also lie Zahl der Kategorieen ganz beliebig je nach Bedürfniss vervielfäl- ;igen können und die einzige praktische Regel, die bei deren Anwen- iung zu verfolgen sein wird, dürfte diejenige sein, dass wir den re- lativen Rang der einzelnen Kategorieen constant fixi- kr e n und stets in einem und demselben Sinne festhalten, dass wir also BZ. B. die Ordnung stets als eine weitere, umfassendere Kategorie über jtiie Familie, die Familie über die Tribus stellen, und nicht umgekehrt l(wie es auch geschehen ist). Wenn wir in diesem Sinne die Stufen- Ideiter der verschiedenen subordinirten Gruppen in der Reihenfolge, hwie sie von den meisten Systematikern angenommen und befolgt wird, ifestsetzen, so ergiebt sich die nachstehende Rangordnung, in welcher Kede vorausgehende Kategorie einen umfassenderen und weiteren Be- lgriff hat, als jede nachfolgende. Als Beispiel fügen wir die systema- Iftische Bezeichnung der verschiedenen Kategorieen für ein Säugethier \(Hijpnd(ietis amphihhis) und für eine Dicotyledone (Hieracinm pilo- ysella) bei^. I 1) Wir glauben, dass die 24 vorstehenden Kategorieen in der Regel vollkomnion 400 Das natürliche System als Stammbaum. VI. Stufenleiter der subordinirten Kategorieen. Kategorie des Systems. Deutsche Bezeich- nung der Gruppe. Beispiel aus dem Thierreiche Beispiel aus dem Pflanzenreiche. 1 . P h y 1 u m Stamm (Typus) VeHebrata Cormophyta 2. Subphylum Unterstamm Pachycardia Anthophyta fCotyle- doneaej 3. Cladus Stammast AUantoidia Anffiospermae 4. Subcladus •ünterast 5. Classis Classe Mammalia Dicotyledones 6. Subclassis ünterclasse Monodelphia Dictdamydeae 7. Legio Legion Decidtiata 8. Sublegio Unterlegion Discoplacmtalia 9. 0 r d 0 Ordnung Bodentia Aggregatae 10. Subordo Unterordnung 11. Sectio Haufe Myomorpka 12. Subsectio Unterhaufe 13. Familia Familie Murina Compositae (Syn- genesiaj 14. Subfamilia Unterfamilie Liguliflorae 15. Tribus Sippschaft Arvicolida Cichoraceae 16. Subtribus Untersippschaft Uypudaei Orepideae 17. Genus Sippe (Gattung) Andcola Hieracium 18. Sub ge nus Untersippe (Untergat- 19. Cohors Rotte Paludicola Püoselloidea 20. Subcohors Unterrotte Monocephala 21 . Spe ei es Art AwicotcL wnipti'iO'ius Hieracium piloseüa 22. Subspecies Unterart Hieracium, pilosissi- mum. 23. Varietas Rasse Arvicola (amphibiusj terrestris 24. Subvarietas Spielart i Arvicola (amphibius Hieracium (püosella herrestris) argento- pilosissimumj pelete 1 ratensis rianum ausreichen werden, um die verschiedenen Glieder eines jeden Stammes übersichtlich neben und übereinander zu gruppiren. Jedoch ist hiermit die Einführung von weiteren und unter- geordneten Kategorieen keineswegs ausgeschlossen. Vielmehr wird ein natürliches Sy- stem, welches wirklich die natürliche Gruppirung aller Kategorieen eines Stammes un- ter dem Bilde eines ramificirten Stammbaues anschaulich überblicken lassen soll, um so klarer und übersichtlicher das relative Verwandtschaftsverhältniss der einzelnen Gruppen enthüllen, je grösser die Zahl der über einander stehenden Kategorieen ist. Wenn da- gegen, wie es in den systematischen Werken meistens der Fall ist, die verwandten Gruppen nach einander aufgeführt werden (statt durch radial divergirende Verwandt- schaftslinien verbunden zu sein), so wird man mit den gewöhnlich am meisten gebrauch- ten Kategorieen des Stammes, der Classe, Ordnung, FamiUe, Genus und Species und der Subdivi.sionen dieser Stufen meistens ausreichen. I VII. Charakter - Differenzen der subordinirten Gruppen. 401 Vn. Charakter -DiflFerenzen der subordinirten Gruppen. Nachdem wir unsere Ansicht von der genealogischen Bedeutung der Classification, und von dem natürlichen Systenie als dem wirkli- chen Stammbaum der Organismen dargelegt haben , wird es vielleicht nicht unpassend erscheinen , noch einen Blick auf den Werth der Cha- raktere der verschiedenen Kategorieen bezüglich ihres relativen Ge- wichtes zu werfen, Dass eine absolute Bestimmung des Inhalts und Umfangs dieser absracten Begriffe nicht möglich sei,' wurde schon durch die oben gegebene Analyse des bezüglichen von Agassiz gemach- ten Versuches klar. Dagegen sahen wir, dass ein relativer Unter- schied zwischen denselben insofern existirt, als jede weitere und hö- liere Kategorie durch allgemeinere und tiefer greifende Charaktere ausgezeichnet ist, als die nächst vorhergehende, engere und niedere Stufe. Je niedriger und enger die Kategorie ist, desto mehr haften ihre Charaktere bloss an der Oberfläche des Organismus und desto beschränkter und weniger tief sind sie. Zunächst erscheint diese Dif- ferenz lediglich als eine graduelle; jedoch ist in vielen Fällen auch ein qualitativer Unterschied ihres Werthes insofern nachzuweisen, als die Charaktere der niederen Kategorieen Vorzugs w^ eise analoge, durch Anpassung erworbene, diejenigen der höheren dagegen vor- zugsweise homologe, durch Erbschaft erworbene sind. Je um- fassender und allgemeiner eine Kategorie ist, wie z. B. diejenigen der Ordnung , der Classe , desto ausschliesslicher sind ihre auszeichnenden Charaktere in der Gesammtanlage und in der Innern Structur des Körpers ausgesprochen, und durch Vererbung von vielen Genera- tionen her erworben; je enger und beschränkter umgekehrt die Ka- tegorie ist, wie z. B. Genus, Speeles, desto exclusiver spricht sich ihr Charakter bloss im Einzelnen und im Aeusseren der Körperform aus, und ist durch Anpassung erst seit kurzer Zeit erworben. Die Charaktere der höheren und allgemeineren Katego- rieen sind ältere, längere Zeit hindurch vererbte, während dieje- nigen der niederen und specielleren Gruppen jüngere und erst durch eine kleinere Keihe von Generationen vererbt sind. Tiefer greifend und mehr den Gesammtcharakter der Form bestim- mend sind aber die wesentlichen Charaktere der allgemeineren und älteren Kategorieen eben desshalb. weil sie älter sind, und weil nur die tieferen Veränderungen der Structur sich durch eine lange Reihe von Generationen vererben können, während die oberflächlichen und mehr äussere Einzelheiten der Form betreffenden Charaktere der spe- cielleren und jüngeren Kategorieen leichter wieder sich verwischen Haeckel, OcnBrelle Morphologie , II. e^f» 402 Das natürliche System als Stammbaum. und durch andere Abänderungen verdrängt werden, eben weil sie jünger und nicht durch so lang dauernde Vererbungen befestigt sind. Diese Betrachtung bestätigt vollkommen unsere Auffassung von dem genealogischen Charakter des natürlichen Systems. Es ist hier- nach wesentlich das höhere Alter, die längere Reihe der vererbenden Generationen, welche den höheren Grad der iDifferenz und damit die allgemeinere Bedeutung der Kategorieen bestimmt. Im Allgemeinen wird daher jede Kategorie des Systems älter sein, als die nächst- engere, darunter stehende, jünger als die nächstweitere, darüber ste- hende Stufe des Systems. So ist die Speeles jünger als das zugehö- rige Genus, älter als die zugehörenden Varietäten; ebenso ist die Ordnung jünger als die zugehörige Classe, älter als die zugehören- den Familien. Diese Erwägung ist insofern sehr wichtig, als sie uns den Causalnexus offenbart zwischen dem Alter und dem systemati- schen Werthe der Charaktere. Je älter ein Differential-Charakter ist, je grösser die Anzahl der Generationen, durch welche hindurch er sich vererbt und so befestigt hat, desto tiefer greift er in die Ge- sammt- Organisation des Thieres ein, desto schwerer ist er durch wei- ter gehende Veränderung zu verwischen und desto allgemeiner und höher ist die Rangstufe, auf welche er die betreffende Form erhebt. Auf diesen höchst wichtigen Unterschied in dem systematischen Werthe der ererbten und der angepassten Charaktere muss der Morpho- loge bei der genealogischen Subordination der verschiedenen Systems- Gruppen das meiste Gewicht legen. Viel unwichtiger ist der Umstand, ob sich der gemeinsame typisclie Charakter einer bestimmten Gruppe in Form einer exclusiven Diagnose zusammenfassen lässt, oder nicht. Je besser wir die betreffende Gruppe mit allen ihrer Uebergangsfor- men zu den nächstverwandten Gruppen kennen, desto weniger wird eine solche scharfe und exclusive Diagnose möglich seien. Bei der genealogischen Reconstruction des natürlichen Systems, als des Stamm- baums der Organismen, wird es daher nicht darauf ankommen, die einzelnen coordinirten und subordinirten Gruppen durch scharfe und exclusive Charakteristiken zu trennen, sondern vielmehr die vorwie- gend erbliche oder angepasste Natur der Differential - Charaktere , ihr relatives Alter zu erkennen, und danach die gegenseitige Stellung der verwandten Gruppen zu bestimmen. I. Die Stämme des Protistenreichs. 403 Füufuudzwauzigstes Capitel. Die Verwandtschaft der Stämme. Der Mensch, wo er bedeutend auftritt, verhält sich gesetzgebend. In der Wissenschaft deuten die unzähligen Versuche, zu systenaatisiren, zu schematisireii dahin. Unsere ganze Aufmerksamkeit muss aber dahin gerichtet sein, der Natur ihr Verfahren abzulauschen, damit wir sie durch zwängende Vorschriften nicht widerspäustig macheu, aber uns dagegen auch durch ihre Willkühr nicht vom Zweck entfer- nen lassen." Goethe. I. Die Stämme des Protistenreichs. Unter denjenigen biologischen Fragen, welche durch die Descen- denz- Theorie an die Spitze der allgemeinen Entwickelungsgeschichte gestellt worden sind, tritt uns in erster Linie die Frage nach der Zahl und dem Umfang der natürlichen Stämme oder Phylen entgegen. Diese Frage besitzt aber nicht allein das grösste Interesse und die höchste Wichtigkeit ; sondern es stehen zugleich ihrer Lösung die be- deutendsten Schwierigkeiten und die erheblichsten Hmdernisse entge- gen. Eine absolut sichere Beantwortung derselben wird niemals ge- geben werden können, weil uns die Primordien des organischen . Le- bens , die Autogonie der ersten Phylen im Anfange der archolithischen Zeit, ewig verborgen bleiben müssen, und weil die Schlüsse, welche wir auf diesen Entwickelungs - Process aus unseren embryologischen, paläontologischen und anatomischen Kenntnissen ziehen können, im- mer im höchsten Grade unsicher und unvollständig bleiben werden. Dennoch sind wir verpflichtet, wenigstens den Versuch zu machen, zu einer annähernd wahrscheinHchen Vorstellung über Zahl, Umfang und Inhalt der selbstständigen organischen Phylen zu gelangen. Die verschiedenen Möglichkeiten, welche in dieser Beziehung vor- liegen, haben wir bereits im siebenten Capitel des zweiten Buches im Aligemeinen erörtert, als wir In|ialt und Umfang des Thier- und Pflan- zenreichs bestimmten , und uns genöthigt sahen , neben diesen beiden allgemein unterschiedenen Reichen noch ein drittes „Reich", das der Protisten zu constituiren (Bd.I, S. 191—238). Wir sind dort zu dem 26* 404 Die Verwandtschaft der Stämme. Resultate gelangt, dass wahrscheinlich jedes der drei Reiche eine Col- lectivgruppe von mehreren selbstständigen Stämmen ist. Mit voller Sicherheit glauben wir dies insbesondere für das Protisten -Reich an- nehmen zu können, während für das Thierreich, und noch mehr für das Pflanzenreich daneben die Möglichkeit übrig bleibt, dass jedes derselben einem einzigen blutsverwandten Stamme entspricht (Bd. I, S. 198 — 206). Wir müssen hier auf diese wichtige Frage zurückkom- men, und wenigstens die Hauptpunkte, die hierbei zu erwägen sind, hervorheben. Auf eine einigermaassen eingehende Discussion dieses interessanten Gegenstandes müssen wir jedoch hier verzichten, da selbst eine gedrungene Erörterung aller hierbei in Frage kommenden Verhältnisse den diesem Werk gesteckten Raum bei weitem überschrei- ten würde. Wir behalten uns jedoch ausdrückhch vor, unsere hier dargelegten Ansichten, welche zugleich in der systematischen Einlei- tung zu diesem Bande und in den demselben angehängten genealogi- schen Tafeln einen präciseren Ausdruck gefunden haben, in einer be- sonderen Arbeit ausführlich zu begründen. Was zunächst *das Protistenreich betrifft, so müssen w auf un- serer bereits im siebenten Capitel kurz erläuterten Ansicht beharren, dass dasselbe eine Gruppe von mehreren selbstständigen , nicht bluts- verwandten Stämmen ist , welche vorzüglich nur durch das gemeinsame Band negativer Charaktere zusammengehalten werden. Einerseits näm- lich fehlen den sämmtlichen Protisten die wesentlichsten von denjeni- gen Eigenschaften, durch welche wir das Thierreich und das Pflan- zenreich in ihrem Gegensatze positiv charakterisirt haben. Anderer- seits stimmen dieselben überein in einer Anzahl von, allerdings meistens ziemlich indifferenten, Eigenschaften, welche wir im siebenten Abschnitt des siebenten Capitels zusammenzustellen versucht haben. Wir sind dort zur Aufstellung von acht getrennten und vollkommen selbststän- digen Protisten -Stämmen gekommen. Von diesen schhessen sich zwei, nämlich die Diatomeen und Myxomyceteu, im Ganzen mehr dem Pflanzenreiche, drei dagegen, nämlich die Rhizopoden, Noctilu- ken und Spongien, mehr dem Thierreiche au. Die drei übrigen, die Moneren, Protoplasten und Flagellaten bleiben vollstän- dig indifferent. Wollte man daher unser Protistenreich auflösen und die Bestandtheile desselben den beiden anerkannten Reichen einreihen, so würde man nur die Rhizopoden, Noctiluken und Spongien dem Thierreiche, nur die Diatomeen und Myxomyceteu dem Pflanzenreiche annectiren dürfen, während die Moneren, Protoplasten und Flagella- ten als völlig indifferente Gruppen ewig die alten Grenzstreitigkeiten zwischen den Zoologen und Botanikern von Neuem anfachen würden. Unserer Ansicht nach haben nur die Protistiker Besitzrecht auf die Protisten, und von ihren Bemühungen hoffen wir, dass der dichte L Die Stämme des Protistenreiclis. 405 Schleier, welcher gegenwärtig noch die Naturgeschichte des Protisten- reichs umhüllt, mehr und mehr gelüftet werden wird. Ein wichtiges Verhältniss, welches die Erkenntniss des Protisten- reichs besonders erschwert, liegt in dem Umstände, dass aller Wahr- scheinlichkeit nach auch die ersten Anfänge und die niedersten Entwicke- lungöstufen der thierischen und pflanzlichen Phylen von echten Protisten morphologisch nicht werden verschieden gewesen sein. Nach unserer Ueberzeugung muss der Ursprung jedes organischen Phylum mit der Autogonie von Moneren begonnen haben. Aus diesen structurlosen Eiweissklümpchen , welche den Formwerth einer Gymnocytode besas- sen, müssen sich dann zunächst einfache kernhaltige Zellen (durch Differenzirung von Kern und Plasma) entwickelt haben. Diese Zellen werden bald den Amoeben und Gregariuen des Protoplasten - Stammes (die thierischen Eier!), bald den Euglenen des Flagellaten -Stammes (die pflanzlichen Schwärmsporen!) ähnlicher gewesen sein. Wie sind nun diese ersten Jugendformen, welche alle thierischen und pflanzli- chen Phylen im Beginn ihrer Epacme nothwendig durchlaufen haben müssen , von echten Moneren , echten Protoplasten , echten Flagellaten verschieden? Sind nicht vielleicht diese äusserst einfachen Organis- men säramtlich nur permanente Jugendzustände echter thierischer und pflanzlicher Phylen? Oder deuten sie nicht vielmehr sämmthch auf eine gemeinsame Abstammung aller Organismen, auf eine einzige einfachste Moneren -Form, als gemeinsame Wurzel alles organischen Lebens auf der Erde hin? Wir gestehen , dass wir uns mit diesen primordialen Fragen lange und intensiv beschäftigt haben, ohne zu irgend einem befriedigenden Resultate gekommen zu sein. Die Uebersicht, welche wir über den möglichen genealogischen Zusammenhang aller Stämme auf Tafel I geben, wird die Vorstellungen, die man sich etwa hierüber bilden kann, besser als eine lange Discussion erläutern. Einerseits spricht allerdings die Uebereinstimmung in den Anfängen der embryologischen Entwickelung für eine völlige Einheit der Abstammung; andererseits aber sprechen viele und gewichtige Gründe für eine ursprüngliche Ver- schiedenheit der autogenen Moneren und somit auch der aus ihnen hervorgegangenen Phylen. Selbst wenn das ganze Pflanzenreich einen einzigen selbstständigen Stamm, und ebenso wenn das ganze Thier- reich einen einzigen selbstständigen Stamm bilden sollte, würden wir immer noch mehr geneigt sein, das Protistenreich als eine Collectiv- gruppe ^on mehreren selbstständigen Stämmen anzusehen. Damit wol- len wir jedoch keineswegs die Möglichkeit, dass auch diese an ihrer Wurzel unter einander und mit den beiden anderen Reichen zu- sammenhängen, ausgeschlossen haben. (Vergl. Taf. I nebst Erklä- rung. ) 406 Die Verwandtschaft der Stämme. Nach unserer subjectiven Ansicht ist die Zahl der verschiedenen Protisten - Stämme , die während der ganzen langen Zeit des organi- schen Lebens auf der Erde, während dieser Milliarden - Reihe' von Jahr- tausenden, sich entwickelt haben, ausserordentlich gross gewesen, und die wenigen Protisten - Stämme , die wir noch jetzt unterscheiden kön- nen, sind nur ein verschwindend geringer Rest von jener reichen Fülle. Wie schon Darwin sehr hübsch entwickelt hat, konnte auch in dem Falle, dass ursprünglich sehr zahlreiche selbstständige Urformen ent- standen, doch verhältnissmässig nur ein sehr kleiner TJjieil derselben im Kampfe um das Dasein erhalten bleiben. Wir möchten in dieser Beziehung die ganze Organismen - Welt einer ungeheuren verdorrten Wiese vergleichen, auf welcher nur an ein paar feuchten Stellen ein wenig Rasen nebst einigen grossen und vielverzweigten Bäumen am Leben erhalten worden ist. Diese wenigen Bäume, von denen nur noch ein paar Aeste grünen, sind die wenigen thierischen und pflanz- lichen Phylen. Die wenigen Grashalme, welche in ihrem Schatten noch leben, sind die wenigen, noch jetzt existirendeSn Protisten - Stämme ; die ungeheuere Masse der abgestorbenen Grashalme entspricht der Menge der untergegangenen protistischen Phylen. Höchstwahrschein- lich sind zahllose indifferente protistischc Phj'len in ihrer ersten Epacme zu Grunde gegangen, ebenso wie von zahllosen individuellen Keimen immer nur einzelne wenige zur Entwickelung gelangen. Vielleicht dauert die Archigonie von Moneren, sei es nun Autogonie oder Plas- mogonie, noch beständig fort; vielleicht ist sie nie unterbrochen ge- wesen. Von den Moneren, den Protoplasten, den Flagellaten und vielen anderen Protisten ist es nicht wahrscheinlich, dass sie sich seit der antelaurentischen Zeit unverändert auf ihrem niedrigsten Organisations- Zustande erhalten haben. Vielleicht sind sie erst viel später durch Autogonie entstanden; vielleicht entstehen sie so noch fortwährend. Wir besitzen nicht die Mittel, diese Fragen zu entscheiden. n. Die Stämme des Pflanzenreichs. Von allen drei Reichen zeigt uns das Pflanzenreich die grösste Einheit in seiner gesammten Organisation, so dass hier noch am er- sten die genealogische Einheit des ganzen Reiches angenommen wer- den kann. Wir haben bei der Begrenzung der drei Reiche, welche wir im siebenten Capitel des zweiten Buchs versuchten, auch das Pflanzenreich, gleich dem Thierreiche und dem Protistenreiche, als einen Complex von mehreren getrennten und selbstständigen Phylen hingestellt. Wir unterschieden daselbst vier verschiedene vegetabili- sche Stämme, nämlich 1) die Phycophyten (den grössten Theil der Algen, nach Ausschluss der zu den Protisten gehörigen und derjeni- II. Die Stämme des Pflanzenreichs. 407 geu Ardiephyten , welche Jugendformen der anderen Phylen sind); 2) die Characeen (Chara, Nitella); 3) die Nematophyten oder Inophyten (Pilze und Flechten); 4) die Cormophyteu (säramtli- che Phanerogamen oder Anthophyten , und die Cryptogamen nach Aus- schluss der vorher genannten Gruppen). In der systematischen Ein- leitung zu diesem Bande fügten wir diesen vier Stämmen noch zwei andere hinzu, indem' wir den Phycophyten-Stamm in die drei Stämme Archephyten, Florideen und Fucoideeu auflösten. Wenn man überhaupt das Pflanzenreich als einen Complex von mehreren getrennten Phylen betrachten will, so werden sich diese sechs Gruppen wohl noch am ersten von einander trennen lassen. Der bei weitem mächtigste Stamm ist derjenige der Corraophyten, welcher nicht allein sämmtliche Phanerogamen, sondern auch von den Cryptogamen die Pteridophyten und Bryophyteu umfasst, sowie dieje- nigen, nicht mit Sicherheit erkennbaren niederen Pflanzenformen, wel- che letzteren den Ursprung gegeben haben, und welche vielleicht theils unter den Inophyten, theils unter den Archephyten versteckt sind. Dass alle Cormophyten blutsverwandte Glieder eines einzigen Stammes sind, kann wohl nicht bestritten werden, und die Paläonto- logie liefert uns über die historische Entwickelungs -Folge der einzel- nen Glieder dieses Stammes eine so vollständige und so trefflich zum Fortschritts -Gesetze passende Reihe von Thatsachen, dass sich, ge- stützt zugleich auf die vergleichende Anatomie und Outogenie der Cormophyten , ihr Stammbaum sehr befriedigend in der auf Taf. II dargestellten Form entwerfen lässt. Als drei eigenthümliche Stämme, die sich durch ihre Anatomie und Ontogenie wesentlich auszeichnen, möchten wir die drei Gruppen der Fucoideen, Florideen und Chara- ceen unterscheiden. Alle Pflanzen, welche innerhalb des Stammes der Fucoideen, innerhalb des Phylum der Florideen und innerhalb des Stammes der Characeen vereinigt sind, erscheinen innerhalb jedes die- ser drei Phylen als nächste Blutsverwandte. Dagegen wird es bei den Nematophyten und noch mehr bei den Archephyten fraglich er- scheinen, ob dieselben nicht vielmehr, gleich den Protisten, Ag- gregate von mehreren, vollkommen selbstständigen Phylen darstellen. Von sehr vielen Gliedern der Pilz- Classe, der Flechten -Classe und des Archephyten -Stammes (Codiolaceen, Nostochaceen etc.) erscheint es keineswegs unwahrscheinlich, dass dieselben zahlreichen selbststän- digen autogonen Moneren ihren Ursprung verdanken, und vielleicht entstehen dieselben noch heutzutage durch Autogonie. Auf der anderen Seite scheinen uns zu viele Gründe für eine ge- nealogische Einheit des gesammten Pflanzenreichs zu sprechen, als dass wir nicht den Versuch hätten machen sollen, einen einheitlichen Stammbaum des ganzen Pflanzenreichs herzustellen, wie es auf Taf. II 408 Die Verwandtschaft der Stämme. geschehen ist. In diesem Falle müssen die vorhergenannten Phylen sämmtlich au ihrer Wurzel zusammenhängen. Den Ausgangspunkt würden dann ohne Zweifel die Archephyten geben, von denen aus sich einerseits im Meere die Fucoideen und Florideen, andererseits im Süsswasser die Characeen, und auf dem Festlande die Inophyten und Cormophyten als frühzeitig divergirende Subphylen entwickelt haben würden. Da die sämmtliche archolithische Flora, so viel wir aus der Paläontologie wissen, lediglich aus Algen, (Archephyten, Florideen und Fucoideen) bestand, und da erst in der antedevonischen Zeit, bei Be- ginn des paläohthischen Zeitalters, Cormophyten und Inophyten, als Landbewohner, aufgetreten sind, so ist es das Wahrscheinlichste, dass diese Stämme sich zu jener Zeit von der Archephyten - Wurzel aus entwickelt haben. III. Die Stämme des Thierreichs. Das Thierreich, wie wir dasselbe nach Ausschluss des grössten Theils der sogenannten Protozoen (der Spongien, Rhizopoden, Nocti- luken, Flagellaten, Protoplasten etc.) begrenzt haben, umfasst die fünf Stämme der Coelenteraten, Echin odermen, Articulaten, Mollusken und Vertebraten. Es entsprechen diese Stämme im Ganzen den grossen Hauptabtheilungen des Thierreichs, welche seit Bär und Cuvier allgemein als „Kreise, Typen, Unterreiche" etc. des Thier- reichs von den Zoologen unterschieden werden, und deren Selbststän- digkeit als besondere „Organisations-Typen" von Bär auf Grund vergleichend embryologischer, von Cuvier auf Grund vergleichend ana- tomischer Untersuchungen festgestellt wurde. Bär sowohl als Cu- vier, welche gleichzeitig und unabhängig von einander zu dieser l) Den sogenannten Kreis der Protozoen halten wir, wie schon wiederholt be- merkt wurde, für eine durchaus künstliche Gruppe, die keineswegs eine derartige genea- logische Einheit repräsentirt , wie die fünf übrigen „Kreise" oder „Typen" des Thierreichs. Wie früher die Würmer -Klasse , so wurde neuerdings der Protozoen -Kreis die Rumpel- kammer, in der man alle Tliiere und thierähnlichen Protisten zusammenwarf, die man sonst nirgends unterbringen konnte , oder die man nicht hinreichend kannte , um eine po- sitive Charakteristik derselben geben zu können. Daher sucht man vergeblich in den zoologischen Handbüchern nach einer befriedigenden Begründung der Protozoen als einer natürlichen Gesammtgruppe. Wir glauben indess, dass dieser Umstand nicht sowohl in der Indifferenz und dem geringen Differenzirungs - Grad ihrer Charaktere , als in der thatsächlichen ursprünglichen Verschiedenheit der Abstammung der verschiedenen Proto- zoen-Classen begründet ist. Von den fünf Classen, welche man neuerdings gewöhnlich in dem Protozoen -Kreise vereinigt, können wir nur eine einzige, die der Ciliaten oder ecliteu Infusorien, als eine unzweifelhaft thierische anerkennen. Wir halten dieselbe für den Ausgangspunkt des Würmerstammes , und damit vielleicht zugleich des ganzen Thierreichs. Die drei Protozoen - Classen der Rhizopoden, Noctiluken und Spon- gien halten wir für selbstständige Protisten - Stämme ; die Gregarinen endlich, die fünfte Classe , betrachten wir als parasitische Protoplasteu. III. Die Stämme des Thierreiohs. 409 wichtigen Erkenntuiss gelangten, unterschieden nur vier solche Typen: die Wirbel-, Glieder-, Weich- und Strahl- Thiere. Der letztere Kreis, der der Radiaten, ^vurde späterhin als eine unnatürliche Vereinigung verschiedener Typen erkannt, indem 1848 zuerst Leuckart die Coe- lenteraten, und gleichzeitig v, Siebold die Protozoen (Infusorien und Rhizopoden) aus demselben entfernte. Es blieben somit nur die Echi- 'lodermen übrig, welche eine eben so „natürliche" und selbstständige Ilauptabtheiluug als die Coelenteraten darstellen. Zwar hat in neuester Zeit Agassiz wiederum den Versuch gemacht, die vier Typen Bärs und Cuviers in aller Strenge festzuhalten, und die Einheit des Ra- diaten - Kreises als durch die nächste Verwandtschaft der Coelentera- ten und Echinodermen berechtigt nachzuweisen. Indessen müssen wir diesen Versuch vollständig für verfehlt halten. Ebenso gut, oder selbst mit noch mehr Recht, wie man Coelenteraten und Echinoder- men als Radiaten, könnte man Articulaten, Mollusken und Ver- cebraten als Bilateral-Symmetrische oder Dipleuren zusammenfassen. Die Verwandtschaft dieser drei Typen ist noch enger, als die der bei- den ersteren unter sich. Die neueren Zoologen nehmen fast allgemein sieben Typen oder Kreise des Thierreichs an, nämlich 1) Vertebraten, 2) Mollusken, ;0) Arthropoden, 4) "Würmer, 5) Echinodermen, 6) Coelenteraten und 7) Protozoen M. Von diesen schliessen wir die Protozoen aus den chon genannten Gründen aus, indem wir die Infusorien als Anfänge 1er Articulaten, die übrigen Protozoen als selbstständige Protisten- Phylen betrachten. Von den sechs übrigen Typen lassen wir die bei- :len Kreise der Würmer und Arthropoden als Articulaten (in Bärs Sinne) vereinigt, da wir nicht im Stande sind dieselben als getrennte Typen auseinander zu halten, vielmehr die Würmer nur niedere Ent- vvickelungs - Stufen des Arthropoden - Typus darstellen 2). 1) Nach dem Vorgange von Gegenbaur (in seinen ausgezeichneten „Grundzügen der vergleichenden Anatomie" , 1859) werden diese sieben ,, Grundtypen" gewöhnlich euerdings folgendermaassen eingetheilt: I) Protozoa (1) Rhizopoda. 2) Gregarinae. ) Infusoria. 4) Porifera.) II) Coelenterata (1) Polypi. 2) Hydromedusae. 3) Cte- ophora). III) E ch i n o d e rm at a (1) Crinoidea. 2) Asteroidea. 3) Echinoidea. 4) Ho- Hothurioidea). IV) Vermes (1) Platyelminthes. 2) Nematelminther. 3) Chaetognathi. ) Annulata.) V) Arthropoda (1) Rotatoria. 2) Crustacea. 3) Arachnida. 4) Myrio- oda. 5) Insecta). VI) Mollusca (1) Bryozoa. 2) Tunicata. 3) Brachiopoda. 4) La- ellibranchiata. 5) Cepholophora. 6) Cepholopoda.) VII) V er t ebr at a (1) Pisces. 2) Am- bibia. 4) Reptilia. 4) Aves. 5) Mammalia). 2) In neuester Zeit hat Huxley in seinen trefflichen „Lectures on the elements of omparative Anatomy (London, 1864, p. 85) acht verschiedene Hauptgruppen oder Typen ^'„Primary divisions, subkingdoms") des Thierreichs unterschieden, nämlich I) Verte- brata (1) Mammalia. 2) Sauroida (Aves, Reptilia) 3) Ichthyoida (Amphibia, Pisces), ) Mollusca (1) Cepholopoda, 2) Ptcropoda. 3) Pulmognsteropoda. 4) Branchiogaste- opoda. 5) Lamellibranchiata). III) Molluscoida (1) Ascidioidea. 2) Brachiopoda. 410 Die Verwandtschaft der Stämme. Wenn wir nun diese wenigen obersten Hauptgruppen des Thier- reichs, deren Anzahl je nach der Auffassung der verschiedenen Zoo- logen zwischen vier und acht schwankt, vom Standpunkte der Descen- denz -Theorie aus vergleichend und synthetisch betrachten, so können wir zunächst nach unserer Ueberzeugung in keinem Zweifel darüber bleiben, dass jeder dieser thierischen Kreise, Typen oder Unterreiche eine Gruppe bildet, deren sämmtliche Bestandtheile unter sich bluts- verwandt sind, und von einer und derselben gemeinsamen Stammform abstammen. Wenn jede dieser einheitlichen Gruppen aus einem besonderen autogonen Moner entsprungen ist, so müssen wir jede derselben für einen Stamm, ein selbststäudiges Phylon erklären. Wir glauben auch, dass diese Ansicht, obwohl sie bisher noch nirgends ausgesprochen worden ist, unter denjenigen denkenden Zoologen, wel- che Anhänger der Descendeuz- Theorie sind, allgemeine Zustimmung finden wird, abgesehen von den Modificationen , welche die einzelnen Zoologen in der Begrenzung der Zahl und des Umfangs dieser Stäm- me für passend erachten^). Sobald nun aber diese genealogische Auffassung der thierischen „Typen" zugegeben ist, so tritt an uns die weitere Frage heran, ob dieselben wirklich alle von Grund aus vollkommen selbstständige und verschiedene organische Phylen sind, oder ob sie nicht doch vielleicht im Grunde an ihrer Wurzel zusammenhängen, und nur sehr früh di- vergirende Aeste eines einzigen thierischen Hauptstammes oder Ar- chephylum darstellen. Im ersteren Falle müsste jedes der vier bis acht thierischen Phylen aus einer eigenen Moneren -Form entstanden sein und alle Formveränderungen vom einfachsten structurlosen Moner bis zum hochdifferenzirten zusammengesetzten Organismus selbstständig durchlaufen haben. Im zweiten Falle könnten wir für alle thierischen Stämme eine gemeinsame ursprüngliche Moneren -Form annehmen und die typischen Grundformen der einzelnen Phylen müssten sich dann erst später von der gemeinsamen Grundform abgezweigt haben. Wir 3) Polyzoa). IV) Coel enter ata (1) Acliuozoa (Anthozoa, Ctenophora). 2) Hydrozoa (Hydromedusae). V) A nnulosa (1) Arthropoda. 2)Annelida). V)Annuloidea (1) Scolecida (Vermes) 2) Echinodermata). VII) Infusoria (Ciliata). VIII) Protozoa ( 1) Spongida. 2) Rhizopoda. 3) Gregariiiida). Wir glauben ohne Gefalir einerseits die Mollusken und Molluskoiden , andererseits die Annulosen , Annuloideen und Infusorien ver- einigen zu können. Vergl. die Einleitung. 1) Keferstein und andere Gegner Darwins haben wiederholt und mit besonde- rem Nachdruck hervorgehoben , dass aUein schon die fundamentale Verschiedenheit der thierischen Typen (welche nach Hopkins „die Kepplerschen Gesetze in der Thierkundc- sein sollen!), die schlagendste Widerlegung von Darwins Irrlehre liefere. Diese Be- hauptung ist uns völlig unverständlich geblieben. Wenn die thierischen Typen wirklu h völlig und von Grund aus verschiedene Organisations - Gruppen sind, so beweist die, doch weiter Nichts , als dass jeder derselben einen eigenen Stamm darsteUt und seinen eigenen Stammbaum besitzt. III. Die Stämme des Thierreichs. 411 aben bisher vorwiegend die Ansicht von der völlig selbstständi- cn Natur der einzelnen thierischen Phylen vertreten, und haben auch n den vorhergehenden Stellen unseres Werlies, wo wir diese Frage erühren mussten, jene Annahme als die wahrscheinlichste hingestellt. \\r müssen aber nun bekennen, dass, je länger und intensiver wir her diese äusserst dunkle und schwierige Frage nachgedacht haben, ir desto mehr zu der entgegengesetzten, anfänglich sehr unwahr- heinhchen Ansicht hinübergeleitet worden sind, und wir wollen im kurz die wichtigsten Gründe, welche für diesen genealogi- chen Zusammenhang aller thierischen Stämme sprechen, sowie die lögliche Art und Weise dieses Zusammenhangs erörtern. Bei Ver- erthung der anatomischen Aehulichkeiten für diese Frage kömmt aletzt immer Alles auf die Entscheidung an, ob die letzten üeber- instimmungen in der Structur als Homologieen (durch gemeinsa- le Abstammung erhalten) oder als Analogieen (durch gleichartige npassung erworben) aufzufassen seien. Grade diese wichtige Ent- .'±eidung ist aber oft äusserst schwierig. Am meisten scheint uns zunächst für eine Blutsverwandtschaft liier Thiere die histologische Uebereinstimmung im Bau ihrer diffe- .'^nzirten Elementartheile, der Piastiden und der aus diesen abgelei- ten „Gewebe" zu sprechen. Bei Thieren aller Stämme finden wir itervenfaseru und quergestreifte Muskelfasern, complicirt gebaute Ge- rebe, deren Uebereinstimmung sich leichter als Homologie wie als nalogie auffassen lässt. Weniger Gewicht wollen wir auf die gleiche orphologische Beschaffenheit der Eizelle und der aus dieser hervor- henden Furchungskugeln legen, da diese theils nicht allgemein nach- lewiesen ist (Infusorien) , theils auch bei echten Pflanzen (Pteridophy- n) und Protisten (Spongien) vorkömmt. Sehr wichtig scheint uns ürner der Umstand zu sein, dass alle thierischen Stämme nur in ih- m hoch dififerenzirten und vollkommenen Formen so stark diver- ren, dass gar keine Verwandtscliaft mit den übrigen zu bestehen heint, während dagegen die niederen und unvollkommneren, indiffe- :nteren Formen der verschiedenen Stämme (ebenso wie viele ihrer ngsten Jugendzustände) sich viel näher stehen und selbst mehrfach kveifelhafte Mittelstufen und Uebergangsformen einschliessen. End- |cch, und dies scheint besonders der Erwägung werth, müssen wir lekennen, dass, wenn wir uns die möglichen ältesten Stammfor- len und ältesten Generationsreihen der verschiedenen isolirt entstan- enen Stämme vor Augen stellen könnten, wir aller Wahrscheinlich- leit nach nicht im Stande sein würden dieselben zu unterscheiden, as autogone Moner, aus dem jeder Stamm entsprungen sein müsste, irde vermuthlich immer eine völlig indifferente, structurlose Proti- en-Form darstellen, deren etwaige geringe chemische Unterschiede 412 Die Verwandtschaft der Stämme. wir nicht im Stande sein würden wahrzunehmen; ebenso würden die daraus entwickelten einfachsten Zellen , amoebenartige Gymnoplastiden, wahrscheinlich eben so wenig erkennbare Differentialcharaktere darbie- ten. Wenn also auch wirklich ursprüngliche Unterschiede der animalen Phylen bestanden und alle sich selbstständig entwickelt hätten, wür- den wir doch höchst wahrscheinlich dieselben nicht unterscheiden kön- nen. Da die Urgenerationen mikroskopisch kleine und höchst zerstör- bare weiche Organismen , gleich den niedersten jetzt lebenden Protisten (Moneren, Protoplasten, Flagellaten etc.), gewesen sein müssen, so wird uns auch die empirische Paläontologie niemals über dieselben aufklären können. Angenommen nun, dass wirklich ein genealogischer Zusammen- hang aller thierischen Phylen bestanden hat, wofür viele und gewich- tige Gründe sprechen, so tritt die äusserst schwierige und ver- wickelte Frage an uns heran, wie derselbe zu denken sei. Da eine ausführliche Erörterung dieser Frage uns hier viel zu weit führen würde, so versparen wir uns dieselbe für eine andere Gelegenheit und wollen nur ganz kurz die wichtigsten Punkte der hypothetischen Er- wägungen, die sich uns darüber aufgedrängt haben, berühren. Wir verweisen dabei auf Taf. I nebst Erklärung, wo wir die mögliche Art und Weise des Zusammenhanges bildlich dargestellt haben, so wie auf die allgemeine Besprechung der einzelnen Stämme in der syste- matischen Einleitung zu diesem Bande. Wenn alle echten Thiere von einer gemeinsamen einfachsten Stammform, und von einer aus dieser zunächst entwickelten gemein- samen Stammgruppe ausgegangen sind, so würden als die nächsten lebenden Verwandten dieser ganz oder grösstentheils ausgestorbenen Stammgruppe die niederen Würmer (Scoleciden) und zwar weiterhin die unterste Stufe derselben, die echten Infusorien oder Ciliaten zu betrachten sein. Diese hängen so nahe mit Protisten (Flagellaten und Protoplasten) zusammen, dass die mögliche Entwickelungsfolge des ältesten gemeinsamen Thierstammes folgende sein könnte: 1) Moner (structurlose homogene Stammform, durch Autogonie entstanden); 2) Protoplast (Gymnamoebe, nackte Kernzelle); 3) Flagellat (bewim- perte Schwärmzelle); 4) Infusor (Ciliat); 5) Turbellar (bewimper- ter Strudelwurm). Würmer, welche den heute noch lebenden Tur- bellarien von allen bekannten Thieren am nächsten stehen, scheinen uns, wie bereits in der systematischen Einleitung erörtert wurde, die niedrigsten, aus den Infusorien zunächst hervorgegangenen Würmer zu sein, aus denen sowohl die übrigen divergenten Aeste des Wür- merstammes , als auch möglicherweise die übrigen Thierstämme direct oder indirect hervorgegangen sein können. Was nun die einzelnen Hauptabtheilungen des Thierreichs betrifft, III. Die Stämme des Thierreichs. 413 welche , gewöhnlich als getrennte „Phylen" angesehen werden, so scheint uns zunächst die Blutsverwandtschaft sämmtlicher Arthro- poden und Anneliden mit den echten Würmern (Scoleciden) keinem Zweifel zu unterliegen, wesshalb wir dieselben in dem schon von Bär und Cuvier in diesem Umfang umschriebenen Typus der Articulaten vereinigt gelassen haben. Der genealogische Zusammenhang der Würmer und der Coelenteraten scheint uns vorzüglich durch die ersten Jugend- formen vieler Petracalephen und Nectalephen angedeutet zu werden, wel- che von den einfachsten Formen der bewimperten Infusorien oder Ci- liaten (z.B. Opnimo) nicht zu unterscheiden sind. Aber auch tecto- logische und promorphologische Aehnlichkeiten zwischen den nieder- sten Formen der Platyelminthen und der Coelenteraten scheinen uns für eine solche Stammesverwandtschaft zu sprechen. Am wenigsten einleuchtend dürfte zunächst die Blutsverwandt- schaft der Würmer und der Echinodermen erscheinen, und doch ist grade diese sehr nah und innig, wenn die Hypothese richtig ist, welche wir in der systematischen Einleitung vom Ursprünge der Echinodermen aus den Würmern gegeben haben. Hiernach würden die Ästenden, als die ältesten gemeinsamen Stammformen der Echi- nodermen, Colonieen oder echte Stöcke von gegliederten Würmern darstellen, welche durch innere Keimbildung oder Knospung in einer niederen Wurmform (noch jetzt durch die Amme der erstop Echino- dermen-Generation repräsentirt) entstanden sind und innerhalb der- selben zu einem strahligen Cormus mit gemeinsamer Ingestions-Oelf- nung verwachsen sind. Jedes der fünf Antimeren des fünfstrahhgen Echinoderms ist dann einem einzigen gegliederten Wurme homolog. Viel augenfälliger ist der genealogische Zusammen- hang der Würmer und der Mollusken, welche letzteren die älteren Zoologen allgemein mit den Würmern vereinigt Hessen. Die Bryozoen, welche jetzt gewöhnlich als die niederste Stufe des Weich- thierstammes betrachtet werden , sehen andere bewährte Zoologen noch heute als Würmer an. Besonders auffallend aber ist die nahe Verwandt- schaft zwischen den niedersten lipobranchien Schnecken (R/iodope etc.) und den Turbellarien. Von einigen derselben ist noch heute zweifel- haft, ob sie als Schnecken oder als Strudelwürmer zu betrachten sind. Vielleicht sind übrigens die beiden Subphylen, welche wir in dem Mollusken -Phylum vereinigt haben, Himategen und Otocardier, zwei oder selbst mehrere getrennte Gruppen , welche sich selbstständig von verschiedenen Stellen des Würmerstammes abgezweigt haben. Was endlich die Blutsverwandtschaft der Würmer und der Wirbelthiere anbelangt, so dürfte diese zunächst vielleicht noch mehr Anstoss erregen, als diejenige der Würmer und Echino- 414 Die Verwandtschaft der Stämme. dermen. Und dennoch bleibt uns dieselbe immerhin noch wahrschein- licher, als die Entwickelung der Wirbelthiere aus einer besonderen autogonen Moneren -Form, so lange wenigstens, als der AmpMoxvs, ein verhältnissmässig schon so hoch differenzirter Organismus, die niederste bekannte Vertebraten-Form bleibt. Als diejenigen lebenden Würmer, welche vermuthlich den alten unbekannten Vorfahren der Wirbelthiere am nächsten stehen, haben wir oben in der systemati- schen Einleitung die Nematelminthen (Sagitten und Nematoden) ange- führt, und verweisen zur Stütze dieser Annahme auf die dort gege- benen Andeutungen. Die Gründe, auf welche wir die vorstehend ausgesprochene Ver- muthung von einem gemeinsamen Ursprung aller Thierstämme aus dem ürstamme der Würmer stützen, sind zahlreicher und gewichti- ger, als es auf den ersten Anblick scheinen könnte. Da jedoch das viele Detail aus der vergleichenden Anatomie, Ontogenie und Phylo- genie, welches hierfür anzuführen wäre, hier nicht am Orte sein und uns viel zu weit fähren würde, so behalten wir uns dessen kritische Verwerthung für eine andere Arbeit vor. Immerhin wollen wir auf Grund desselben keineswegs mit der gleichen Sicherheit eine Bluts- verwandtschaft aller thierischen Stämme behaupten, wie wir eine sol- che bestimmt für alle Glieder eines jeden Stammes annehmen. Zur Beurtheilung dieser äusserst dunklen und schwierigen Frage ist es imiper von Werth, sich die folgende phylogenetische Alterna- tive vorzuhalten: Entweder ist jeder thierische Stamm (mögen wir nun deren fünf oder vier oder acht oder mehr annehmen) selbststän- digen Ursprungs, aus einer eigenen autogonen Moneren -Form her- vorgegangen, und dann fehlt uns, denjenigen der Würmer ausge- nommen, völlig die Itenntniss der Kette von niederen Entwickelungs- formen , welche von dem autogonen Moner bis zum niedersten uns be- bekannten Repräsentanten des Phylum heranreichen (also bis zur Hydra, zum Uraster, zur Bfiodope, zum Aiwpliioxns etc.) — oder aber es giebt nur einen einzigen thierischen Urstamm (Archephylum), welcher entweder selbstständig aus einer autogonen Urform hervorge- gangen ist oder aber wiederum mit einem Theile der Protisten und vielleicht selbst mit allen übrigen Organismen aus einer einzigen Mo- neren-Wurzel entsprossen ist. In diesem Falle ist zweifelsohne der Würraerstamm derjenige, welcher am ersten als Ausgangspunkt der übrigen Phylen in der angedeuteten Weise angesehen werden kann. Tafel I nebst Erklärung ist dazu bestimmt, diese Vorstellung näher zu präcisiren. Eine sichere Entscheidung dieser primordialen Fragen über An- zahl und Begrenzung, Umfang und Inhalt, Verwandschaft und Alter der einzelnen thierischen Stämme, und ebenso aller organischen Phy- in. Die Stämme des Thierreichs. 415 len überhaupt, wird niemals gegeben werden können, so weit sich auch noch die Biologie weiter entwickeln mag. Eine definitive oder selbst nur eine einigermaassen wahrscheinliche Beantwortung derselben würde uns nur die Paläontologie zu liefern vermögen, wenn dieselbe nicht grade in diesem Punkte äusserst unvollständig wäre und aus sehr nahe liegenden Gründen sein müsste. Alle jene primitiven Ur- formen und ältesten Generationsreihen, selbst wenn dieselben in leben- dem Zustande für uns erkennbar und unterscheidbar wären, müssen grösstentheils aus mikroskopisch kleinen und aus völlig weichen, ske- letlosen Formen bestanden haben, welche also keinenfalls erkennbare Reste in den geschichten Gesteinen der Erdrinde hinterlassen konn- ten. Selbst wenn sie aber an und für sich versteinerungsfähig gewe- sen wären, würden sie uns doch gegenwärtig grösstentheils ganz un- bekannt sein, weil der allergrösste Theil der archolithischen Ablage- rungen, in denen dieselben begraben sein müssten, sich in metamor- phischem Zustande befindet und daher keine oder nur höchst dürftige erkennbare Reste mehr einschliesst. Aus dem Umstände, dass in jenen neptunischen Schichten , welche zuerst von allen ältesten Formationen zahlreiche Versteinerungen ein- schliessen, in dem silurischen Systeme, bereits hoch entwickelte und weit dififerenzirte Repräsentanten aller einzelnen thierischen Stämme sich finden, könnte man vielleicht auf eine gesonderte Entwickelung derselben schliessen wollen. Indessen beweist jener Umstand desshalb gar nichts, weil jenen silurischen Schichten, die so lange als die ältesten fossiliferen Straten galten, verhältnissmässig jun- gen Ursprungs sind, und weil diejenige Zeit der organi- schen Erdgeschichte, welche vor Ablagerung des siluri- schen Systems verfloss, jedenfalls sehr viel länger ist, als diejenige, welche nach derselben bis zur Jetztzeit dahin rollte. Wir müssen auf diesen wichtigen Punkt noch be- sonders aufmerksam machen, weil die Gegner der Descendenz-Theo- rie ihn stets als ein besonders starkes Argument gegen dieselbe betont haben. Im silurischen Systeme, dem ältesten von allen Schich- tensystemen, welche Versteinerungen in grösserer Menge und aus al- len thierischen Stämmen führen , finden sich von den Wirbelthieren be- reits Fische vor, von den Arthropoden Trilobiten, von den Würmern Anneliden, von den Mollusken Cephalopoden , von den Echinodermen Ästenden, von den Coelenteraten Anthozoen. Aus der Existenz die- ser verhältnissmässig schon so hoch entwickelten Repräsentanten hat man eine Menge der verkehrtesten Schlüsse von der grössten Trag- weite gezogen, mit einem Mangel von Kritik und Vorsicht, welcher für die gewöhnhche Urtheilsunfähigkeit der „exacten Empiriker" äusserst bezeichnend ist In der That würde die Descendenz - Theorie durch 416 Die Verwandtschaft der Stämme. jene Fossilien völlig gestürzt werden, wenn dieselben wirklich die Reste der ältesten Organismen wären, die jemals auf dieser Erde gelebt ha- ben. Dies ist aber ganz bestimmt nicht der Fall. Schon Darwin sprach hiergegen mit wahrhaft prophetischem Geiste das Wort aus: „Wenn meine Theorie richtig ist, so müssten unbestreitbar schon vor Ablagerung der silurischen Schichten eben so lange oder noch längere Zeiträume , wie nachher verflossen , und müsste die Erdoberfläche wäh- rend dieser ganz unbekannten Zeiträume von lebenden Geschöpfen be- wohnt gewesen sein." Diese wichtige Behauptung ist in den acht seitdem verflossenen Jahren in der glänzendsten Weise empirisch be- stätigt worden. Die Entdeckung des ungeheuer mächtigen laurenti- schen Schichtensystems, in dessen unteren Schichten das Eozoon ca- nadeiise gefunden worden ist, sowie die bessere Erkenntniss des fos- silienarmen cambrischen Schichtensystems, welches über dem laurenti- schen und unter dem silurischen hegt, hat plötzhch die ganze archo- lithische Zeit, welche vor der Silur -Zeit verfloss, und während wel- cher bereits die Erde von Organismen bevölkert war, in ganz ungeheuren Dimensionen verlängert. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist das archolitische Zeitalter, aus dem wir fast bloss die fossilen Reste der jüngsten, der silurischen Periode kennen, sehr viel länger, als alle folgenden Zeiträume zusammengenommen bis zur Jetztzeit, und in diesen ungeheuren Milliarden von Jalirtaus enden, deren Länge das menschliche Anschauungsvermögen gänzhch übersteigt, hatten die einzelnen Phylen hinlänglich Zeit, sich aus autogonen Moneren bis zu der Höhe, die sie in der Silurzeit schon zeigen, zu entwickeln M- Allein schon dieser äusserst bedeutungsvolle Umstand erinnert uns wieder daran, mit welcher äussersten Vorsicht und Kritik wir stets das paläontologische Material beurtheilen, und Schlüsse daraus, auf die Phylogenie ziehen müssen. Wenn wir nicht die empirische Paläontologie in der ausgedehntesten Weise durch die hypothetische Genealogie ergänzen, und uns dabei auf die breite Grundlage der ver- gleichenden Anatomie und Ontogenie stützen, so müssen wir über- haupt auf jeden Entwurf einer zusammenhängenden Phylogenie ver- zichten. Ganz besonders gilt dies aber von der hier vorliegenden 1) Unter den zahlreichen alberneu und kindischen Einwürfen gegen die Descendenz- Theorie, welche nicht allein von unwissenden Laien, sondern auch von kenntnissreichen Naturforschern stets wiederholt werden, spielt eine der bedeutendsten Rollen derjenige, dass dieselbe in den Milliarden von Jahrtausenden, deren sie zweifelsohne für ihre Erklä- rung der organischen Entwickelungs- Erscheinungen bedarf, doch viel zu lange Zeiträume erfordere! Als ob durch irgend ein Polizei - Gesetz die unbegreiflich lange Zeit der orga- nischen EntWickelung auf der Erde in bestimmte Schranken geschlossen wäre; und als ob diese unendlichen Zeiträume nicht existiren könnten, weil wir sie nicht anschaulich zu erfassen vermögen! Es ist dies grade so unverständig, als wenn eine Eintagsfliege be- haupten woUte , ein Eichbaum könne unmöglich tausend Jahre alt werden ! III- Die Stämme des Thierreichs. 417 Frage über Anzahl, Umfang, Inhalt und Verwandtschaft der ursprüng- lichen Phylen. Die empirische Paläontologie, welche erst von der Silurzeit an aufwärts uns berichtet, und also erst mitten in einem be- reits weit vorgerückten Stadium der phyletischen Entwickelungsge- schichte beginnt, lässt uns hier völlig im Stich. Aufschluss über diese eben so dunkeln als schwierigen Fragen können wir nur von einem gründlichen inductiven Verständniss der gesammten organischen Mor- phologie, und der Ontogenie insbesondere erwarten. Der rothe Faden in dem dunklen Labyrinthe dieser primordialen phyletischen Entwicke^ lungs- Verhältnisse bleibt auch hier stets der lichtvolle dreifache Paral- lelismus der phyletischen, biontischen und systematischen Entwicke- lungs - Geschichte. 1 ) Von den zahlreichen möglichen Vorstellungen , welche man sich über Zahl und Zu- sammenhang der organischen Stämme machen kann , haben wir auf Taf. I drei der am mei- sten wahrscheinlichen Fälle schematisch dargestellt. Von den drei longitudinalen neben einander stehenden) Feldern enthält das linke (pxfa) das Pflanzenreich, das mitt- lere (afhc) das Pr Otis ten r eich, und das rechte (chyq) das Thierreich. Von den di-ei transversalen (über einander stehenden) Feldern zeigt das oberste (p m n q) die . Hypothese einer grösseren Anzahl von selbstständigen organischen Phylen , nämlich sechs (9 — 14) für das Pflanzenreich (p m e a) , acht (1 — 8) für das Protistenreich (aegc), und fünf (15 — 19) für das Thierreich (cgnq). Eine zweite Hypothese ist durch die Linie xy angedeutet; diese nimmt nur drei ursprüngliche Phylen an, einen Pflanzenstamm (pxfa), einen Protistenstamm (afhc) und einen Thierstamm (chyq). Das unterste Feld endlich zeigt in dem mittleren Quadrat (fbdh) eine dritte mögliche Hypothese, die monophyleti- sche Hypothese von der einheitlichen Abstammung sämmtlicher Organismen. Ausser den hier angedeuteten Fällen lassen sich noch eine grosse Anzahl anderer Möglichkeiten den- ken , die indessen im Ganzen sehr wenig Interesse und Sicherheit bieten. Viel wichtiger für die organische Morphologie , als diese schwierige und dunkle Frage , bleibt die Er- kenntniss des genealogischen Zusammenhanges innerhalb jeder der grösseren typischen Gruppen, die wir oben als 19 Phylen unterschieden haben. Haeckel, Generelle Morphologie, II. 27 418 Phylogenetische Thesen. Sechsundzwanzigstes Capitel. Phylogenetische Thesen. „Der Philosoph wird gar bald entdecken , dass sich die Beob- achter selten zu einem Standpunkte erheben , aus welchem sie so viele bedeutend bezügliche Gegenstände übersehen können." Goethe. I. Thesen von der Continiiität der Phylogenese. 1. Die Phylogenesis oder die pliyletische Entwickelung, d. h. die Epigenesis der Arten und der aus ihnen zusammengesetzten Stämme, ist ein ebenso continuirlicher Proccss , als die Ontogenesis oder die biontische Entwickelung, d. h. die Epigenesis der Bionten oder der physiologischen Individuen^). 2. Die continuirliche Phylogenesis ist ebenso eine wirkliche Epi- genesis (und nicht eine Evolution), wie die continuirliche Ontogenesis. 3. Die einzelnen Arten oder Species, aus denen jeder Stamm oderPhylum zusammengesetzt ist, sind daher ebenso unmittelbar aus einander hervorgegangen, wie die einzelnen Entwickelungszustände, aus denen die Ontogenesis jedes physiologischen Individuums zusam- mengesetzt ist. TTi^W die „Thesen" vergl. S. 295 Anm. und Bd. I, S. 364 Anm, Wir führen auch hier unter den „phylogenetischen Thesen" nur einige der hauptsächlichsten Theoneen, Gesetze und Regeln an, zu welchen uns die „Entwickelungsgeschichte der Arten und Stämme" im sechsten Buche geführt hat, und verweisen wegen deren Begründung auf den vorhergehenden Text dieses Buches selbst, sowie auch besonders auf das neunzehnte Capitel des fünften Buches, in welchem wir bereits die Entwickelungsgeschichte der Ar- ten und Stämme erläutern mussten , um zu wirklichem Verständniss der Ontogenie zu ge- langen. Ausdrücklich hervorzuheben sind in diesem Capitel die Gesetze der Vererbung (S 170-190) und die Gesetze der Anpassung (S. 192-219), welche als die beiden fun- damentalen Functionen der Phylogenesis in ihrer beständigen Wechselwirkung vollkommen ausreichen, um alle Erscheinungen in der Entwickelung der Arten, der Stämme und al- ler anderen Kategorieen des Systems zu begreifen. Ebenso verweisen wir noch besonders auf die Gesetze der natürlichen Züchtung (S. 248), der Divergenz (S. 249) und des Fort- schritts (S. 257.) Phylogenetische Thesen. 419 4. Die Entstehung der Arten aus einander ist ein mechanischer Process, welcher durch die Wechselwirkung der Anpassung und Ver- erbung im Kampfe um das Dasein bedingt wird. 5. Es existirt also eben so wenig eine Schöpfung oder Erschaf- fung der einzelnen organischen Arten, als der einzelnen organischen Individuen. 6. Es existirt mithin auch ebenso wenig ein „zweckmässiger Plan" oder ein „vorbedachtes Ziel" in der phyletischeu Entwickelung der Arten, wie in der biontischen Entwickelung der Individuen. II. Thesen von der gen ealogischen Bedeutung des natür- lichen Systems der Organismen. 7. Es existirt ein einziges zusammenhängendes natürliches Sy- stem der Organismen und dieses einzige natürliche System ist der Aus- druck realer Beziehungen, welche thatsächlich zwischen allen Orga- nismen bestehen, die gegenwärtig auf der Erde leben und zu irgend einer Zeit auf derselben gelebt haben. 8. Die realen Beziehungen, welche alle lebenden und ausgestor- benen Organismen unter einander zu den Hauptgruppen des natürli- chen Systems verbinden, sind genealogischer Natur; ihre Formen- Verwandtschaft ist Blutsverwandtschaft; das natürliche System ist da- her der Stammbaum der Organismen, oder ihr Genealogema. 9. Entweder sind alle Organismen Glieder eines einzigen ür- stammes (Phylum) d. h. Descendenten einer und derselben gemeinsa- men autogonen Stammform ; oder es existiren verschiedene selbststän- dige Phyleu neben einander, welche sich unabhängig von einander aus selbstständigen autogonen Stammformen entwickelt haben; im er- steren Falle bildet das natürliche System einen einzigen Stammbaum, im letzteren Falle eine Collectivgruppe von mehreren Stammbäumen, und zwar von so vielen Stammbäumen, als autogene Stammformen unabhängig von einander entstanden sind. (Vergl. Taf. I — VIII.) 10. Die autogonen Stammformen aller Stämme, welche unabhän- gig von einander durch unmittelbaren Uebergang anorganischer Ma- terie in organische entstanden sind, können nur Organismen der denkbar einfachsten Natur, völlig structurlose und homogene Plasma- stückchen (Moneren) gewesen sein. 11. Alle Organismen sind in letzter Linie Nachkommen solcher autogonen Moneren, in Folge der Divergenz des Charakters durch natüriiche Züclitung entwickelt. 12. Die verschiedenen subordinirten Gruppen des natürlichen Sy- stems, die Kategorieen derClasse, Ordnung, Familie, Sippe etc. sind schwächere und stärkere Aeste des Stammbaumes, deren Divergenz- 27* 420 Phylogenetische Thesen. Grad den genealogischen Entfernungs - Grad der blutsverwandten Or- ganismen von einander und von der gemeinsamen Stammform be- zeichnet. 13. Alle verschiedenen Gruppen oder subordinirten Kategorieeu des natürlichen Systems besitzen demnach nur eine relative, keine absolute Bedeutung, und sind untereinander durch alle möglichen Zwischenstufen continuirlich verbunden. 14. Die Lebensdauer jeder Gruppe des Systems ist nicht durch Praedestination beschränkt, sondern lediglich die nothwendige Folge der Wechselwirkung von Anpassung und Vererbung im Kampfe um das Dasein. 15. Diejenige Gruppenstufe oder Kategorie des natürlichen Sy- stems, welche alle Organismen umfasst, die unter gleichen Existenz- bedingungen gleiche Charaktere besitzen, zeichnen wir als Art oder Speeles vor den übergeordneten Gruppen der Sippe, Familie etc., und vor den untergeordneten Gruppen der Subspecies, Varietät etc. aus. III. Thesen von der organischen Art oder Speeles. 16. Die organische Art oder Speeles, als das genealogische In- dividuum zweiter Ordnung, ist einerseits ebenso eine Vielheit von Zeuguiigskreisen oder genealogischen Individuen erster Ordnung, wie andererseits jeder Stamm (Pliylum) als genealogisches Individuum dritter Ordnung die Vielheit aller blutsverwandten Arten ist. 17. Die Speeles ist die Gesammtheit aller Zeugungskreise, wel- che unter gleichen Existenzbedingungen gleiche Form besitzen und sich höchstens durch den Polymorphismus adelphischer Bionten unter- scheiden. 18. Die Subspecies und Varietäten, als die nächst untergeordne- ten Gruppenstufen des Systems, sind beginnende Speeles. 19. Die Genera und Familien, als die nächst übergeordneten Gruppenstufen des Systems, sind untergegangene Speeles, welche sich in ein divergirendes Formenbüschel aufgelöst haben. 20. Die Speeles sind in unbegränztem Maasse veränderlich und können sich durch Anpassung an neue Existenzbedingungen jederzeit in neue Arten umwandeln. 21 Die Umwandelung oder Transmutation der Speeles m neue Arten und die Divergenz ihres Varietätenbüschels , durch welche neue Arten 'entstehen, wird vorzüglich durch die Wechselwirkung der Ver- erbung und Anpassung im Kampfe um das Dasein bedmgt. 22. Es existiren keine morphologischen Eigenthümlichkeiten, wel- che die Speeles von den anderen Gruppenstufen des Systems (Varie- täten, Genera etc.) durchgreifend unterscheiden. Phylogenetische Thesen. 421 23. Es existiren keine physiologischen Eigenthümlichkeiten , wel- che die Speeles von den anderen Gruppenstufen des Systems (Varie- täten, Genera etc.) durchgreifend unterscheiden. 24. Die Lebensdauer jeder Art ist nicht durch Praedestination beschränkt, sondern lediglich die uothwendige Folge der Wechselwir- kung von Anpassung und Vererbung im Kampfe um das Dasein. IV. Thesen von den phylogenetischen Stadien. 25. Die Phylogenesis oder phyletische Entwickelung, d. h. die EntWickelung jeder genealogischen Gruppe oder Kategorie des natür- lichen Systems, von der Varietät, Speeles und Genus bis hinauf zur Ordnung, Classe und Stamm, ist ein physiologischer Process von be- stimmter Zeitdauer. 26. Die Zeitdauer der phyletischen Entwickelung jeder Systems- Gruppe wird durch die Gesetze der Vererbung und Anpassung be- stimmt, und ist lediglich das Resultat der Wechselwirkung dieser beiden physiologischen Factoren. 27. In dem zeitlichen Verlaufe der phyletischen Entwickelung jeder Systemsgruppe lassen sich allgemein drei verschiedene Abschnitte oder Stadien unterscheiden, Velche mehr oder minder deuthch von einander sich absetzen. 28. Jedes Stadium der phyletischen Entwickelung jeder Systems- gruppe ist durch einen bestimmten physiologischen Entwickelungs- Prozess charakterisirt, welcher in demselben zwar nicht ausschliess- lich, aber doch vorwiegend wirksam ist. 29. Das erste Stadium der phyletischen Entwickelung, das Ju- gendalter der Systems - Gruppe oder die Aufblühzeit, Epacme, ist durch das Wachsthum der Gruppe charakterisirt. 30. Das zweite Stadium der phyletischen Entwickelung, das Rei- fealter oder die Blüthezeit, Acme, ist durch die Differenzirung der Gruppe charakterisirt. 31. Das dritte Stadium der phyletischen Entwickelung, das Grei- senalter oder die Verblühzeit, Paracme, ist durch die Degeneration der Gruppe charakterisirt. V. Thesen von dem dreifachen Parallelismus der drei genealogischen Individualitäten. 32. Die Kette von successiven Formveränderungen, welche die Zeugungs- Kreise oder die dieselben repräsentirenden Bionten wäh- rend ihrer individuellen Existenz durchlaufen, ist im Ganzen parallel der Kette von successiven Formveräuderungen , welche die Vorfahren Phylogenetische Thesen. der betreffenden Zeugungskreise während ihrer paläontologischen Ent- wickelung aus der ursprünglichen Stammform ihres Phylon durchlau- fen haben. 33. Diese Parallele zwischen ber biontischen und der phyleti- schen Entwickelung erklärt sich aus den Gesetzen der Vererbung, und insbesondere aus den Gesetzen der abbreviirten , homotopen und homochronen Vererbung. 34. Die Kette von coexistenten Formverschiedenheiten, welche die verwandten Arten und Artengruppen jedes Stammes zu jeder Zeit der Erdgeschichte darbieten, ist im Ganzen parallel der Kette von successiven Formveränderungen, welche die divergenten Formenbüschel dieses Stammes während ihrer paläontologischen Entwickelung aus der gemeinsamen ursprünglichen Stammform durchlaufen haben. • 35. Diese Parallele zwischen der systematischen und der phyle- tischen Entwickelung erklärt sich aus den Gesetzen der Divergenz, und insbesondere aus der Erscheinung, dass die verschiedenen Aeste und Zweige eines und desselben Stammes einen sehr ungleich raschen Verlauf ihrer phyletischen Veränderung erleiden und zu sehr unglei- cher Höhe sich entwickeln. 36. Die Kette von coexistenten Formverschiedenheiten, welche die verwandten Arten und Artengruppen jedes Stammes zu jeder Zeit der Erdgeschichte darbieten, ist im Ganzen parallel der Kette von successiven P'ormveränderungen , welche die Bionten der betreffenden Artengruppe während ihrer individuellen Existenz durchlaufen. 37. Diese Parallele erklärt sich aus der gemeinsamen Abstam- mung der verwandten Arten, und zunächst schon aus der Verbindung der beiden vorhergehenden Parallelen; denn wenn die phyletische Entwickelungsreihe sowohl der biontischen als der systematischen Ent- wickelungsreihe' parallel ist, so müssen auch diese beiden letzteren un- ter einander parallel sein 38. Der dreifache Parallelismus der phyletischen, biontischen und systematischen Entwickelung erklärt sich demnach, gleich allen anderen allgemeinen Entwickeliings- Erscheinungen, einfach und voll- ständig durch die Descendenz -Theorie, während er ohne dieselbe, gleich diesen allen, völlig unerklärt bleibt. 1) Da die biontische Entwickelung die gesammte Ontogenesis der genealogischen In- dividuen erster Ordnung oder der Zeugungskreise — die phyletische Entwickelung die gesammte Phylogenesis der Phylen oder der genealogischen Individuen dritter Ordnung — die systematische Entwickelung aber (als Object der vergleichenden Anatomie) das fertige Resultat der Phylogenese in der Entwickelung der Arten oder der genealogischen Indivi- duen zweiter Ordnung umfasst, so können wir den dreifachen genealogischen Parallelis- mus auch als die Pai-allele der drei genealogischen Individualitäten bezeichnen. Siebentes Buch. Die Entwickelungsgeschichte der Organismen in ihrer Bedeutung für die Anthropologie. „Grosser Brama, Herr der Mächte! Alles ist von Deinem Saraen, Und so List Du der Gerechte! Hast Du denn allein die Bramen, Nur die Rajas und die Reichen, Hast Du sie allein geschaffen? Oder bist auch Du's, der Affen Werden Hess und unser's Gleichen? „Edel sind wir nicht zu nennen, Denn das Schlechte das gehört uns. Und was Andre tödtlich kennen, Das alleine, das vermehrt uns. Mag dies für die Menschen gelten, Mögen sie uns doch verachten ; Aber Du, Du sollst uns achten. Denn Du könntest Alle schelten! „Also Herr, nach diesem Flehen, Segne mich zu Deinem Kinde; Oder Eines lass entstehen. Das auch mich mit Dir verbinde! Denn Du hast den Bajaderen Eine Göttin selbst erhoben; Auch wir Andern, Dich zu loben. Wollen solch ein Wunder hören ! " Goethe (des Paria Gebet), Siebennudzwanzigstes Capitel. Die Stellung des Menschen in der Natur. „Ein wenig besser würd' er leben, Hätt'st Du ihm nicht den Schein des Himmelslichts gegeben; Er nennt's Vernunft, und braucht's allein, Nur thierischer als jedes Thier zu sein. Er scheint mir, mit Verlaub von Eue;: Gnaden, Wie eine der langbeinigen Cicaden, Die immer fliegt und fliegend springt. Und gleich im Gras ihr altes Liedchen singt." Goethe. Von allen speciellen Folgerungen, welche die caiisale Begründung 1er organischen Entwickelungsgeschichte durch die Descendenz-Theorie lach sich zieht, ist keine einzige von so hervorragender Bedeutung, ils ihre Anwendung auf den Menschen selbst. Nur durch sie wird die ^rage von der „Stellung des Menschen in der Natur" gelöst, diese ,Frage aller Fragen für die Menschheit" — wie sie Huxley mit Recht lennt — „das Problem, welches allen übrigen zu Grunde liegt, und velches tiefer interessirt als irgend ein anderes." In der That ist die- ses Problem von so fundamentaler theoretischer Wichtigkeit für die ge- dämmte menschliche Wissenschaft, von so unermesslicher praktischer Bedeutung für das gesammte menschliche Leben, dass wir nicht um- lin können, am Schlüsse unserer allgemeinen Entwickelungsgeschichte ■inen Blick auf dasselbe zu werfen. Denn nur allein vom Stand- )unkte der Descendenz-Theorie und der durch diese be- gründeten Entwickelungsgeschichte kann diese Frage wis- enschaftlich gelöst werden, und ist dieselbe bereits in den letz- en Jahren auf den Weg ihrer definitiven Lösung geführt worden. >war gehört sie eigentlich in das Gebiet der speciellen Entwicke- urigsgeschichte; indessen wird ihr ungeheueres Gewicht und der Um- 426 Die Stellung des Menschen in der Natur. stand, dass die allgemeine Entwickelungsgeschichte zunächst den festen Boden für deren Entscheidung liefert, es gewiss genügend recht- fertigen, dass wir derselben hier- einen besonderen, wenn auch ganz apho- ristisch gehaltenen Abschnitt widmen. Darwin selbst hat in seinem epochemachenden "Werke die Au- wendung seiner Theorie auf den Menschen nicht gemacht, in weiser Voraussicht der Aufnahme, welche dieselbe finden würde. Sicheriich würde die durch sein Werk reformirte Descendenz- Theorie gleich von Anfang an noch weit mehr Widerstand und Anfeindung gefunden ha- ben, wenn sogleich jene wichtigste Folgerung in dasselbe mit wäre auf- genommen worden. Dagegen wurde diese Lücke schon wenige Jahre nach dem Erscheinen von Darwin 's Werke durch Arbeiten von meh- reren der hervorragendsten Zoologen ausgefüllt, unter denen wir hier insbesondere Huxley und Carl Vogt hervorzuheben haben i). 1) Die erste Schrift, welche die Anwendung der Descendenz -Theorie auf den Men- schen in ihrer ganzen Bedeutung nachwies und in einer trefflichen DarsteUung durchführte, sind die höchst lesenswerthen „Zeugnisse für die Stellung des Menschen in der Natur (Maus place in nature)" von Thomas Henry Huxley (in das Deutsche übersetzt von Victor Carus, Braunschweig 1863). Die drei in denselben enthaltenen Abhandlungen „über die Naturgeschichte der menschenähnliclien Affen, über die Beziehungen des Men- schen zu den nächstniederen Thieren , über einige fossile menschliche Ueberreste» behan- deln die wesentlichsten Punkte, auf welche es hierbei ankömmt, in der bekannten klaren, lichtvollen und aUgemein verständlichen Darstellung, welche den Verfasser , emen der bedeutendsten Zoologen der Gegenwart, in so hohem Maasse auszeichnet. Wn- wollen bei dieser Gelegenheit nicht versäumen, neben der genannten Abhandlung von Huxley auch noch eine andere von demselben ausgezeichneten Verfasser auf das Wärmste zu en>- pfeblen: „über unsere Konntniss von den Ursachen der Erscheinungen in der organischen Natur". Sechs Vorlesungen für Laien, übersetzt von Carl Vogt. Braunschweig l86n. Die darin enthaltene musterhafte DarsteUung der Bedeutung, welche Darwin's Selections- Theorie und die dadurch mechanisch begründete Descendenz -Theorie für die gesammte Biologie besitzt, verdient nicht nur von allen gebildeten Laien gelesen und beherzigt zu werden, sondern namentlich auch von jenen zahlreichen Botanikern und Zoologen wel- che ihre gedankenlose Detail-Krämerei als „exacte Empirie" zu verherrlichen beheben^ Weit ausführlicher, und mit zahlreichen und wichtigen specieUen Beweisen aus den verschiedensten biologischen Gebieten belegt, behandelte demnächst dieselbe Frage Carl Vogt in seinen vortrefflichen „Vorlesungen über den Menschen, seine Stellung m der Schöpfung und in der Geschichte der Erde" (Glessen 1863, 2 Bände). Auch diese ^ov- lesungen verdienen, gleich denjenigen von Huxley, die weiteste Verbreitung. Geschne^ ben fn der lebendigen, anregenden und angemein verständUchen Weise, durch welche sich Carl Vogt so sehr vor den meisten übrigen deutschen Naturforschern auszeichne t. und gestützt durch die ausgebreiteten Kenntnisse, welche derselbe al. einer der «^sten den - sehen Zoologen besitzt, erörtern diese Vodesungen unsern Gegenstanu in .o vorti-effliche und vielseitig anregender Weise, dass wir für alle specieUen, hier einschlagenden Fragen lediglich darauf verweisenMiönnen. a^^<. \- Eine kürzere und gedrängtere, ebenfalls allgemein verständliche DarsteUung de . ben Gegenstandes, welche sich insbesondere durch übersichtliche Kurze und durch .1- seitige Blicke in die verwandten Gebiete empfiehlt, verdanken wir Friedrich Kol „der Mensch, seine Abstammung und Gesittung im Lichte der Darwm sehen Lehre Die Stellung des Menschen in der Natur. 427 Es ist unbestritten und es ist auch noch von allen frei denkenden und consequent schliessenden Naturforschern, sowohl von den Gegnern als von den Anhängern der Descendenz-Theorie, jetzt allgemein aner- kannt, dass unter allen Umständen die Abstammung des Menschenge- schlechts von niederen Wirbelthieren , und zwar zunächst von affen- artigen Säugethieren deren nothwendige und unvermeidliche Consequenz ist. Gerade wegen dieser Consequenz, welche mit den Vorurtheilen der meisten Menschen unvereinbar ist, sind Viele zu Gegnern der Descen- denz-Theorie geworden, welche an und für sich derselben geneigt sein würden. Die Descendenz-Theorie ist ein allgemeines Inductions- Gesetz, welches sich aus der vergleichenden Synthese al- ler organischen Naturerscheinungen und insbesondere aus der dreifachen Parallele der phyletischen, biontischen und systematischen Entwickelung mit absoluter Nothwendig- keit ergiebt. Der Satz, dass der Mensch sich aus niederen Wirbelthieren, und zwar zunächst aus echten Affen entwickelt hat, ist ein speciellcr Deductions-Schluss, welcher sich aus dem generellen Inductions - Gesetz der Descendeuz - Theorie mit absoluter Nothwendigkeit ergiebt. Diesen Stand der Frage „von der Stellung des Menschen in der Xatur" glauben wir nicht genug hervorheben zu können. Wenn über- haupt die Descendenz-Theorie richtig ist, so ist die Theorie von der Entwickelung des Menschen aus niederen Wirbelthieren weiter nichts, als ein unvermeidlicher einzelner Deductions-Schluss aus jenem allge- meinen Inductions-Gesetz. Es können daher auch alle weiteren Entdeckungen, welche in Zukunft unsere Kenntnisse über die phyletische Entwickelung des Menschen noch berei- der Artentstehung und auf Grundlage der neuen zoologischen Entdeckungen dargestellt" (Frankfurt 1866). Schon vorher hatte sich derselbe Verfasser verdient gemacht durch «eine gleichfalls sehr empfehlenswerthe populäre Darstellung von „Darwin's Lehre von 4der Entstehung der Arten im Pflanzen- und Thierreich in ihrer Anwendung auf die Schöp- ^fiingsgeschichte". Frankfurt 1863. In Italien hat der ausgezeichnete Zoologe Pilippo de Filippi in einem geist- »voUen Vortrage: „L'uomo e le Scimic" die Abstammung des Menschen trefflich behan- «delt und durch Hervorhebung einiger neuer Seiten bereicliert. Endlich müssen wir hier als ein für unsere Frage sehr wichtiges Werk das umfang- eiche Buch von Charles Lyell hervorheben: „Das Alter des Menschengeschlechts auf er Erde und der Ursprung der Arten durch Abänderung, nebst einer Beschreibung der iszeit in Europa und Amerika, übersetzt von Louis Büchner. Leipzig 1864". Der osse englische Geologe, welcher auf dem Gebiete der Geologie sich ähnliche Verdienste nvorben hat, wie Darwin auf dem der Biologie, hat in diesem Woorke vorzüglich die eologisclien- und paläontologischen TJiatsachen, welche sich auf diese Frage beziehen, ehr gründlich und kritisch erörtert. . 428 Die Stellung des Menschen in der Natur. ehern werden, nichts weiter sein, als specielle Verificatio- nen jener Deduction, die auf der breitesten inductiven Ba- sis ruht. Denn in der That ist es die Summe aller bekannten Er- scheinungen in der organischen Morphologie, auf welche wir jenes grosse Inductions-Gesetz der Descendenz-Theorie gründen, und jene specielle Folgerung aus demselben ist eben so sicher, als irgend eine andere Deduction. Eben so sicher, als wir schliessen, dass alle von uns ge- züchteten Pferde -Rassen Nachkommen einer gemeinsamen Stammform, dass alle Hufthiere Epigonen eines und desselben Stammvaters, dass alle Säugethiere Descendenten eines und desselben Mammalien -Stammes sind, vollkommen eben so sicher schliessen wir auch, dass das Men- | schengeschlecht nichts weiter, als eines der kleinsten und jüngsten Aest- ^ chen dieses formenreichen Stammes ist. Was die speciellen Abstamraungs- Verhältnisse des Menschenge- schlechts von der Affen-Ordnung betrifft, so haben wir bereits oben in dem Anhange zur Einleitung in die allgemeine Entwickelungsgeschichte das Wichtigste derselben angeführt, und darauf die systematische Stel- lung des Menschen in der Ordnung der Affen begründet. Die Phylo- genie der Wirbel thiere , so weit sie sich durch die Paläontologie empi- risch begründen, und durch ^ den Parallelismus der embryologischen und systematischen Eutwickelung ergänzen lässt, ergiebt folgende Ahnenreilie des Menschen. (Vergl. hierüber Taf. VU und VIII.) 1. Leptocardier oder Eöhrenherzen; dem Amphinxus nächstver- waudte Wirbelthiere ohne Gehirn und ohne ceutralisirtes Herz (in der archolithi sehen Zeit, vor der Silur-Zeit) ^). 2. Selachier oder Urfische, und zwar speciell den Squalaceen oder Haifischen nächstverwandte Fische (zu Ende des archolitlii- schen und im Beginne des paläolithischen Zeitalters, in der Silur- und Devon-Zeit). 3. Amphibien, und zwar früher den Sozobranchien oder Perenni- branchien {Proteus, Sire») , später den Sozuren oder Salamandern {Triton, Salamundro) nächstverwandte Ampliibien (während des gröss- ten Theiles der paläolithischen Zeit). 4. Amnioten von unbekannter Form, welche den Uebergang von den Amphibien (Sozuren) zu den niedersten Säugethieren (Ornithodel- phien) vei-mittelten (zu Ende des paläolitliischen oder im Beginne des mesolithischen Zeitalters). 1) Was die wahrscheinliche Abstammung der Leptocardier von niederen Wirbellosen : (und zwar von Nematelminthen) anbetrifft, so haben wir diese schon oben erläutert (vergl. | S. ^XXXU, CXIX und 4U). g Die Stellung des Menschen in der Natur. 429 5. Ornithodelphien oder Ämasten von unbekannter Form, den niedersten jetztlebenden Säugethieren, Ornilhorhynchus und Echidna nächstverwandt (im Beginne der Secundär-Zeit). 6. Didelphien oder Marsupialien, echte Beutelthiere, und zwar wahrscheinlich den Beutelratten oder Pedimanen {Didelphys) nächst- verwandte Formen (während des grössten Theiles, vielleicht während der ganzen Secundär-Zeit). 7. Indeciduen von unbekannter Form, Monodelphien ohne Decidua, welche den XJebergang von den Didelphien zu den Deciduaten und zwar speciell zu den Discopiacentalien, und zu deren Stammform, den Prosimien, vermittelten (gegen Ende der Secundär-Zeit oder in der Anteocen-Zeit). ^ 8. Prosimien oder Halbaflen (Hemipitheken), den jetzt lebenden Lemuren {Lernur, Stejiops etc.) nächstverwandte Deciduaten, und zwar Discopiacentalien (während der Anteocen-Zeit). 9. Catarrhinen oder schmalnasige Affen, und zwar zunächst Meno- cerken, den heutigen Anasken {Semnopühecus , Colobus) nächstver- wandt, mit Schwanz und mit Gesässschwielen (während der Eocen- Zeit). 10. Lipocerken, d. h. Catarrhinen ohne Schwanz, den heutigen An- thropoiden-nächstverwandte Affen, und zwar früher Tylogluten, dem Hijlobates ähnlich, noch mit Gesässschwielen, später Lipoty- len, dem Gorilla ähnlich, ohne Gesässschwielen (während der mittle- ren und neueren Tertiär-Zeit). Wir müssen uns hier mit einer flüchtigen Andeutung dieser wich- tigsten Grundlinien für die paläontologische Entwickelungsgeschichte des Menschengeschlechts begnügen, wie sie aus einer denkenden und vergleichenden Betrachtung der embryologischen, paläontologischen und systematischen Thatsachen mit unvermeidlicher Nothwendigkeit sich er- geben. Im Einzelnen ist natürlich die Phylogenie des Menschen zur Zeit noch sehr schwierig, und ihre specielle Motivirang würde uns hier viel zu weit führen. Ebenso wenig können wir hier auf eine Widerlegung der heftigen Angriffe eingehen, welche die unvermeidliche Anwendung der Descen- denz-Theorie auf die Entstehung des Menschen hervorgerufen hat, und bei dem gegenwärtigen niederen Bildungsgrade der sogenannten „Cul- turvölker" nothwendig hervorrufen musste. Glücklicher Weise sind die meisten dieser Angriffe entweder so ohne alle biologische Thatsachen- Kenntniss, oder so ohne allen logischen Verstand geschrieben, dass sie einer ernstlichen Widerlegung kaum bedürfen. Interessant und lehr- reich ist dabei nur der Umstand, dass besonders diejenigen Menschen über die Entdeckung der natürlichen Entwickelung des Menschenge- 430 Die Stellung des Menschen in der Natur. schlechts aus echten Affen am meisten empört sind und in den heftig- sten Zorn gerathen, welche offenbar hinsichtlich ihrer intellectuellen Ausbildung und cerebralen Differenzirung sich bisher noch am wenig- sten von unsern gemeinsamen tertiären Stammeltern entfernt haben. Viele Menschen haben in der Aufstellung des natürlichen Stamm- baums unseres Geschlechts eine „Entwürdigung" des Menschen finden wollen, und weisen mit Abscheu die Affen, Amphibien und Haifische als ihre uralten Vorfahren zurück^). Wir unsererseits können in der Erkenntniss dieser Abstammung umgekehrt nur die höchste Ehre und Verherrlichung des Menschengeschlechts erblicken. Denn was kann es für den Menschen Erhebenderes geben und worauf kann er stolzer sein, als auf die Thatsache, dass er in der-unendhch complicirteu Entwicke- lungs-Concurrenz, in welcher sich die Organismen seit vielen Milliarden von Jahrtausenden befinden, sich von der niedrigsten Organisationsstufe zur höchsten von allen erhoben, alle seine Verwandten überflügelt und sich zum Herrn und Meister über die ganze Natur erhoben hat; dass er Haifische und Salamander, Beutel thiere und Halbaffen so weit hin- ter sich gelassen hat, dass in der That Nichts weiter in der gesamm- ten organischen Natur mit diesem Entwickelungstriumphe zu verglei- chen ist! Obgleich alle somatischen und psychischen Differenzen zwischen dem Menschen und den übrigen Thieren nur quantitativer, nicht qua- litativer Natur sind, so erscheint dennoch die Kluft, welche ihn von jenen trennt, als höchst bedeutend. Dieser Umstand ist nach unserer Ansicht vorzugsweise darin begründet, dass der Mensch in sich mehrere hervorragende Eigenschaften vereinigt, welche bei den übrigen Thieren nur getrennt vorkommen. Als sol- che Eigenschaften von der höchsten Wichtigkeit möchten wir nament- lich vier hervorheben, nämlich die höhere Diffei*enzirungs - Stufe des Kehlkopfs (der Sprache), des Gehirns (der Seele) und der Extremitä- ten, und endlich den aufrechten Gang. Alle diese Vorzüge kommen einzeln auch anderen Thieren zu: die Sprache, als Mittheilung articu- lirter Laute, vermögen Vögel (Papageien etc.) mit hoch differenzirtem Kehlkopf und Zunge eben so vollständig als der Mensch zu erlernen. Die Seelenthätigkeit steht bei vielen höheren Thieren (insbesondere bei Hunden, Elephanten, Pferden) auf einer höheren Stufe der Ausbildung, 1) Nach der herrschenden VorsteHung über die Entstehung des Menschen, welche mit unserer mythologischen Jugendbildung uns schon in frühester Kindheit eingeimpft wird, ist , der Mensch aus einem „Erdenklos" entstanden. Inwiefern in dieser A^'orstelluiig etwas Erhebenderes liegt, als in der wahren Erkenntniss seiner Abstammung vom Affen, vermögen wir nicht zu begreifen. Jeder Organismus, auch das einfachste Moner, ist edler und vollkommener, als ein Erdenklos, geschweige denn ein so feiner und hoch dif- ferenzirter Organismus , als es der des Affen ist. Die Stellung des Menschen in dei* Natur. 431 iIs bei den niedersten Menschen. Die Hände sind als ausgezeichnete mechanische Werkzeuge bei den höchsten Affen schon eben so ent- wickelt, wie bei den niedersten Menschen. Den aufrechten Gang end- lich theilt der Mensch mit dem Pinguin und einigen anderen Thieren; lie Locomotionslahigkeit ist ausserdem bei sehr vielen Thieren voll- commener und höher als beim Menschen entwickelt. Aber der Mensch ..it das einzige Thier, welches alle diese äusserst wichtigen Eigenschaf- ren in seiner Person vereinigt und gerade dadurch sich so hoch über -;eine nächsten Verwandten emporgeschwungen hat. Es ist also le- diglich die glückliche Combination eines höheren Entwi- ckelungsgrades von mehreren sehr wichtigen thierischen Organen und Functionen, welche die meisten Menschen (nicht alle!) so hoch über alle Thiere erhebt. Dadurch wird aber die Thatsache ihrer Abstammung von echten Affen in keiner Weise alterirt. Der Mensch hat sich ebenso aus den Affen, wie diese aus niederen Säugethieren entwickelt i). 1) Der Zeitraum, während dessen die langsame Umbildiiug der dem GoriUa nächst- . teilenden Lipocerken oder anthropoiden AflFen zu „wirklichen Menschen" stattfand, lässt 4ch gegenwärtig noch nicht näher bestimmen, lallt aber wahrscheinlich schon in die mitt- lere (miocene), vielleicht erst in , die neuere (pliocene) Tertiär-Zeit. Der miocene Dryopithenis Fontani, welcher dem Menschen schon näher steht, als alle jetzt noch le- benden Anthropoiden, lässt dies vermuthen. Jedenfalls erfolgte auch dieser Umbildungs- Process, wie die allermeisten ähulicheu. unter dem unmittelbaren Einfluss der natürlichen .Züchtung, und so langsam und allmählich, dass man von einem „ersten Menschen" cgar nicht sprechen kann. Ein „erster Mensch" oder ein „erstes Menschenpaar" hat so wenig existirt, als ein erstes Kennpferd, ein erster Jagdhund, ein erster Affe u. s. w. IDie vor einigen Jahren so viel ventilirte Frage von der Einheit der Abstammung ides Menschengeschlechts löst sich nun natürlich in der einfachsten Weise. Nicht nnur alle Menschen, sondern auch alle Säugethiere, alle Amphirrhinen , alle Wirbelthiere hatten einen gemeinsamen Stammvater. Die verschiedenen sogenannten Menschen- IRassen, welche durch Divergenz einer einzigen catarrhiuen Ui-meuschen-Form entstanden •sind, halten wir für eben so gute ,,Species", als etwa die verschiedenen anerkannten Arten der Katzen, Marder etc. Es lassen sich mindestens 5 — 7, vielleicht aber auch ge- gen ein Dutzend oder mehr „gute Menschen-Arten" noch gegenwärtig unterscheiden. Für den wichtigsten Schritt, welcher die Entwickelung echter Menschen aus echten Affen ver- wnittelte, halten wir dieDifferenzirung des Kehlkopfs, welche die Entwickelung ider Sprache und somit der deutlicheren Mittheilung und der historischen Tradition zur .'Folge hatte. 432 Die Anthropologie als Theil der Zoologie. >■ 'i Achtundzwanzigstes Capitel. Die Anthropolog-ie als Theil der Zoologie. „Der Erdenkreis ist mir genug bekannt; Nach drüben ist die Aussicht uns verrannt. Thor, wer dorthin die Augen blinzend richtet, Sich über Wolken seines Gleichen dichtet! Er stehe fest und sehe hier sich um; Dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm. Was braucht er in die Ewigkeit zu schweifen? Was er erkennt , lässt sich ergreifen ! Er wandle so den Erdentag entlang; Wenn Geister spuken, geh' er seineu Gang; Im Weiterschreiten find' er Qual und Glück, Er, unbefriedigt jeden Augenblick. Ja ! diesem Sinne bin ich ganz ergeben, Das ist der Weisheit letzter Schluss: Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, . Der täglich sie erobern muss." Goethe (Faust). Die vollständige Umwälzung, welche die Descendenz- Theorie und ihre specielle Anwendung auf den Menschen in allen menschlichen Wis- senschaften hervorrufen wird, verspricht nirgends fruchtbarer und se- gensreicher zu wirken, als auf dem Gebiete der Anthropologie. Erst seitdem die Abstammung des Menschen vom Affen, seine allmähliche EntWickelung aus niederen Wirbelthieren, durch die Descendenz-Theorie festgestellt, erst seitdem dadurch die „Stellung des Menschen in der Natur" ein für allemal bestimmt ist, erscheint der Bauplatz abgesteckt, auf welchem das Lehrgebäude der wissenschaftlichen Anthropologie er- richtet werden kann. Da der Mensch nur durch quantitative, nicht durch qualitative Differenzen von den übrigen Thieren getrennt ist, da er seinem Baue, seinen Functionen, seiner Entwicklung nach sich weniger von den hö- heren Thieren entfernt, als diese von den niederen, so wird auch die- selbe Methode, durch welche wir die Erkenntniss der übrigen Thiere Die Anthropologie als Theil der Zoologie. 433 erwerben , uns bei unserem Streben nach Erkenutniss des Menschen lei- ten müssen. Diese Methode ist nicht verschieden von derjenigen aller anderen Naturwissenschaften, wie wir sie im vierten Capitel erläutert haben. Die Modificationen der Erkenntniss-Methode, welche durch die eigenthümliche Natur des thierischen Organismus bedingt sind, werden eben so in der Anthropologie ihre Anwendung finden ; es wird also auch hier in erster Linie die Entwiffkelungsgeschichte der rothe Fa- den sein, wekher uns als unentbehrlicher Führer durch das weite Ge- biet der raannichfaltigen und verwickelten Erscheinungen hindurch lei- ten muss. Wie uns die vergleichende Ontogenie und Phylogenie, die individuelle und die paläontologische Entwickelungsgeschichte des Men- schen zur Erkenntniss seiner Abstammung von den Affen geführt hat, so müssen wir ihrer Leitung auch auf allen einzelnen Gebieten der Anthropologie folgen. Und da für alle biologischen, sowohl physiolo- gischen als morphologischen Untersuchungen die Vergleichung der verwandten Erscheinungen unerlässlich ist, so werden wir auch zur wissenschaftlichen Anthropologie nur durch das intensivste und extensivste Studium der vergleichenden Zoologie gelangen. Da die Anthropologie nichts Anderes ist, als ein einzelner Special- Zweig der Zoologie, die Naturgeschichte eihes einzelnen thierischen Or- ganismus, so wird diese Wissenschaft natürlich auch in alle die unter- geordneten Wissenschaften zerfallen, aus welchen sich die gesammte Zoologie zusammensetzt (vergl. Bd. I, S'. 238). Es wird also zunächst die Anthropologie als die Gesammtwissenschaft vom Menschen in die beiden Hauptzweige der menschlichen Morphologie und Physiolo- gie zerfallen, von denen jene die gesammten Form-Verhältnisse, diese die gesammten Lebeus-Erscheinungen des menschlichen Organismus zu erforschen hat. Die Morphologie des Menschen spaltet sich wiederum in die beiden Zweige der menschlichen Anatomie und. der mensch- lichen Entwickelungsgeschichte, zu welcher letzteren nicht bloss die Embryologie des Menschen, sondern auch seine Paläontologie, so- wie die Völkergeschichte oder die sogenannte „Weltgeschichte" gehört. Die Physiologie des Menschen andererseits zerfallt in die beiden Zweige der Conservatious-Physiologie und der Relations-Physiolo- gie des Menschen; erstere hat alle auf die menschliche Ernährung und Fortpflanzung bezüglichen Verhältnisse, letztere die Beziehungen seiner einzelneu Körpertheile zu einander (Physiologie der Nerven und Mus- keln etc.), sowie seine Beziehungen zur Aussenwelt (Oecologie und Geo- graphie des Menschen) zu untersuchen. In diese vier Hauptzweige der Anthropologie lassen sich sämmtlicho Wissenschaften, welche überhaupt von menschlichen Verhältnissen handeln (insbesondere auch alle soge- nannten moralischen, politischen, socialen und historischen Wissen- schaften, die Ethnographie etc.) einordnen und die Methoden ihrer Haockel, Generelle Mürpholojjie , II. 90 434 Die Aiithropologie als Theil der Zoologie. Behandlung müssen dieselben sein, wie in der übrigen Zoologie und wie in der Biologie überhaupt. Von allen Zweigen der Anthropologie wird keiner so sehr von der Descendenz- Theorie betroffen und umgestaltet, als die Psychologie oder Seelenlehre, jener schwierige Theil der Physiologie, welcher von den Bewegungs-Erscheinungen des Centrai-Nervensystems handelt. Auf keinem Gebietstheile der Anthropologie sind Vorurtheile aller Art so mächtig und so allgemein herrschend, als auf diesem, und auf kei- nem wird die Descendenz -Theorie grössere Fortschritte bewirken, als hier. Nichts beweist dies so sehr, als der Umstand, dass man noch heutzutage fast allgemein die Seelen -Erscheinungen von allen übrigen physiologischen Functionen unterscheidet, und dass man die menschli- che Seele als etwas ganz Besonderes hinstellt, was aller Analogie in der übrigen organischen Natur entbehren soll. Und doch gehorcht auch das Seelenleben des Menschen ganz denselben Gesetzen, wie das Seelen- leben der übrigen Thiere, und ist von diesem nur quantitativ, nicht qualitativ verschieden. Wie alle übrigen complicirten Erscheinungen an den höheren Organismen, so kann auch die Seele, als die compli- cirteste und höchste Function von allen, nur dadurch wahrhaft ver- standen und in ihrem innersten Wesen erkannt werden, dass wir sie mit den einfacheren und unvollkommneren Erscheinungen derselben Art bei den niederen Organismen vergleichen, und dass wir ihre all- mähliche und stufenweise Entwickelung Schritt für Schritt verfolgen. Wie wir schon oben bemerkten, müssen wir hier überall nicht bloss auf die biontische, sondern auch auf die phyletische Entwickelung zurückgehen. Wir müssen also, um das hoch differenzirte , feine See- lenleben des Cultur- Menschen richtig zu verstehen, nicht allein sein allmähliches Erwachen im Kinde zu Rathe ziehen, sondern auch seine stufenweise Entwickelung bei den niederen Naturmenschen, und bei den Wirbelthieren, aus denen sich diese zunächst entwickelt haben. Die eigentliche Natur der thierischen Seele haben wir be- reits im siebenten Capitel gelegentlich erörtert (Bd. I, S. 232). Wenn wir hier auf das dort Gesagte zurückkommen, und nun mit Rücksicht auf die daselbst gegebene Erläuterung der wichtigsten psychischen Functions-Gruppen, des Empfindens, Wollens und Denkens, menschliche und thierische Psyche objectiv und unbefangen vergleichen, so kommen wir überall unausbleiblich zu dem Resultat, dass nur quantitative, nicht qualitative Differenzen auch in dieser Beziehung den Menschen vom Thiere trennen. Natürlich dürfen wir, um hier zu reinen Resultaten zu gelangen, nicht den gänzhch verkehrten Weg der speculativeu Phi- losophen von Fach gehen, welche ihr hoch differenzirtes eigenes Ge- hirn als einziges empirisches Untersuchungs-Material benutzen und dar- aus die Psychologie des Menschen construiren wollen. Vielmehr müs- Die Anthropologie als Theil der Zoologie. 435 seil wir vor Allem auf die vergleichen de Psychologie der Kinder, der Geistesarmen, der Geisteskranken und der niederen Menschen - Rassen zurückgehen, und Avir müssen deren ganzes Seelenleben mit demjenigen der höchst entwickelten Thiere vergleichen, um uns hier ein richtiges und objectives tJrtheil zu erwerben. Wenn wir dies mit unbefangenem Blicke thun, so gelangen wir auf dem psychologischen Gebiet zu dem- selben hochwichtigen Resultat, welches die Physiologie bereits für alle anderen Lebens -Erscheinungen, die vergleichende Morphologie für die Form -Verhältnisse festgestellt hat: dass die Unterschiede zwi- schen den niedersten Menschen und den höchsten Thieren nur quantitativer Natur, und viel geringer sind, als die Unterschiede zwischen den höheren und den niederen Thie- ren. Mit Bezug auf alle einzelnen Seelen -Erscheinungen können wir selbst den Satz dahin formuliren, dass die Unterschiede zwi- schen den höchsten und den niedersten Menschen grösser sind, als diejenigen zwischen den niedersten Menschen und den höchsten Thieren i). Von den einzelnen Bewegungs- Erscheinungen des Central -Nerven- systems, welche man gewöhnlich als Seele zusammeiifasst, Avollen wir hier nur auf die wichtigsten einen flüchtigen Blick werfen. Der Wille ist bei den höheren Thieren ganz ebenso wie beim Menschen entwickelt, häufig an Intensität und Beweglichkeit letzterem überlegen. ' Der Wille ist bei dem Menschen ebenso, wie bei den Thieren, niemals wirk- lich frei, vielmehr in allen Fällen durch causale Motive mit Nothwendigkeit bedingt (vergl. oben S. 212). Die Empfindung ist bei den edelsten Thieren ebenso wie beim Menschen, oft aber zar- ter und feiner entwickelt. Selbst die edelsten und schönsten aller menschlichen Gemüths-Regungen , die Gattenliebe, die Mutterliebe , die Freundschaft, die Nächstenliebe, sind bei vielen Thieren zu einem hö- heren Grade , als bei vielen Menschen entwickelt. Die Zärtlichkeit der „Inseparables", bei denen der Tod des einen Gatten stets den des an- deren nach sich zieht, die Mutterliebe der Löwin und der Elephantin, die Treue und Aufopferungsfähigkeit der Hunde und Pferde ist sprüch- wörtlich geworden, und kann leider der grossen- Mehrzahl der Men- schen als Muster dienen; Die Regungen des Mitleids, des Gewissens Wenn unsere spociilativen Philosophen sieh eine gehörige empirisch - zoologische Basis~ erworben , und statt nur den verwickeltsten Bewegungs - Erscheinungen der höchst differenzirten Gehirne zu folgen, das Seelenleben der Kinder, der Wilden, der Geistes- schwachen und der höheren Thiere, der Affen, Hunde, Pferde, Elephanten etc. verglei- chend studirt liättcn, so würden sie schon längst zu ganz anderen Eesultatcn gekommen sein, als sie in den zahlreichen, höchst einseitigen Worlccn über Psychologie niedergelegt sind, welclieii die unentbehrliclie Basis der E n t w i c Ic o 1 u ngsges clii chte und der Vergleicli ung fclilt. .28* 436 Die Anthropologie als Theil der Zoologie. II. s. w. sind bei Hunden und Pferden bekanntlich ebenfalls oft sehr entwickelt, und mehr als bei vielen Menschen, ebenso die Leidenschaf- ten des Ehrgeizes, der Eitelkeit etc. Selbst die Laster der Lüge und Heuchelei, welche einen Grundzug der neueren Cultur bilden, finden wir bei den am meisten cultivirten Hausthieren, insbesondere den Hun- den, ebenso wie beim Menschen entwickelt. Hier wie dort giebt es böse und gute, falsche und treue Individuen. In der That sind die Vorstellungen der Empfindung und des Wil- lens bei vielen ' der höheren Thiere so hoch diiferenzirt, dass sie diesen nur selten abgesprochen worden sind. Anders verhält es, sich aber mit der Function des Denkens, der Gedankenbildung, jenen höchsten und verwickeltsten Vorstellungen der thierischen Seele, welche wahrschein- lich immer durch eine höchst complicirte Wechselwirkung zahlreicher centrifugaler und centripetaler ^^rregungen erzeugt werden (vergl. Bd. I, S. 234). Die Gedankenbildung wird merkwürdiger Weise den Thie- ren sehr allgemein abgesprochen, während doch in der That Nichts leichter ist, als sich durch objective Beobachtung zu überzeugen, dass die Gesetze des Denkens bei den höheren Thieren und beim Menschen durchaus dieselben sind, und dass die Inductionen und Deductionen hier wie dort durchaus in der gleichen Weise gebil- det werden. Auch in dieser Frage stossen wir wiederum auf die hef- tigste Opposition gerade bei denjenigen Menschen, welche durch ihre unvollkommnere Verstandes-Entwickelung oft selbst hinter den höheren Thieren zurückbleiben. Dies gilt nicht allein von den niederen Men- schen-Rassen, sondern auch von vielen Individuen der höchsten Rassen, und selbst von solchen, bei denen man vermuthen sollte, dass die Masse erworbener Kenntnisse ihr Denkvermögen geschärft habe^). Das geistige Leben wird also ebenso wie das körperliche bei den Thieren von denselben Naturgesetzen regiert, wie beim Menschen. Da- gegen ist die Stufenleiter der psychischen Eutwickelung innerhalb des Thierreiches ausserordentlich viel maimichfaltiger dilferenzirt , und er- streckt sich vom Nullpunkt der Reflexion bis zu ihrer höchsten Poteu- zirung. Gerade für das richtige Verständniss der Eutwickelung neuer Functionen durch Differenzirung ist die vergleichende Seelenlehre der Thiere vom höchsten Interesse, und für die wissen- schaftliche Psychologie des Menschen ganz unentbehrlich. 1) Besonders interessant sind gerade in dieser Beziehung zahb-eiclie Aeusserungen von Gegnern der Descendenz-Theorie , welche oft in wahrhaft erstaunlicher Weise einen Mangel an natürlicher, klarer und scharfer Gedanken-Bildung und Gedanken-Verbindung bezeugen, der sie entschieden unter die verständigeren Hunde, Pferde und Elephanten Stellt. Da diese Thiere meistens nicht durch die alpenhohen Gebirgsketten von Dogmen und Vorurtheilen beschränkt werden, welche das Denken der meisten Menschen von Ju- gend an in schiefe Bahnen lenken, so finden wir bei ihnen nicht selten richtigere und na- türlichere Urtheile, als sie namentlich bei den „Gelehrten" auzutreflfen sind. Die Antliropologie als Theil der Zoologie. 437 Wie mit dem Seelenleben im Ganzen, so verhält es sich auch mit allen einzelnen Theileu desselben. Alle werden bei Menschen und Thie- ren durch dieselben Naturgesetze regiert, und alle psychischen Func- tionen und die daraus hervorgehenden Institutionen des menschlichen Lebens haben sich erst aus dm entsprechenden Functionen der Vorfah- ren des Menschen, zunächst insbesondere der Affen, allmählich herauf- gebildet. Ganz besonders gilt dies auch von allen staatlichen und socialen Einrichtungen der menschlichen Gesellschaf t. Wir finden die Anfänge, und zum Theil vollkommnere Stufen derselben, bei den Thieren, und oft selbst bei weit vom Menschen entfernten Thieren wieder, wie z. B. bei den Insecten (Ameisen). Auch für das Verständ- niss dieser höchst verwickelten Erscheinungen ist das vergleichende Stu- dium derselben bei den Thieren unerlässlich , und die Staatsmänner, die Volkswirthschaftslehrer, die Geschichtsschreiber der Zukunft wer- den vor Allem vergleichende Zoologie, d.h. vergleichende Mor- phologie und Physiologie der Thiere als unerlässhche Grundlage studi- ren müssen , wenn sie zu einem wahrhaft naturgemässen Verständnisse der entsprechenden menschlichen Erscheinungen gelangen wollen. Die interessantesten, wichtigsten und lehrreichsten Erscheinungen des organischen Lebens versprechen auf diesem noch fast ganz uncul- tivirten Wissenschaftsgebiete eine bisher ungeahnte Fülle der reichsten . Ausbeute^;. Die zoologisch gebildeten und vergleichend untersuchen- den Psychologen der Zukunft werden hier eine Ernte halten, von der sich die erfahrungslosen Psychologen der scholastischen Speculation bis- her nichts haben träumen lassen. In noch weit höherem Maasse, als die „vergleichende Anatomie" der Thiere die früher ausschhesshch cul- tivirte „rein menschüche" Anatomie überflügelt und dennoch ihr zu- gleich ein unendlich höheres Interesse gegeben hat, wird die „verglei- chende Psychologie" der Thiere mit allen ihren Zweigen die bisherige „rein menschliche" Psychologie überflügeln und sie zugleich zu einer ganz neuen Wissenschaft umgestalten. Wie weit man aber noch allgemein von der richtigen Erkenntniss dieses Verhältnisses entfernt ist, zeigt sich nicht allein in der gänz- lichen Vernachlässigung der Thierseelenkunde, sondern auch in der all- gemeinen Unterschätzung der psychischen Differenzirung des Menschen selbst. Die wenigsten Menschen wissen den unermesslich weiten Abstand zu schätzen, welcher die höchsten von den tiefsten ') Unter den wenigen psychologischen Werken, welche in. neuester Zeit die ersten ernstlichen Versuche gemacht haben, sich von dem scholastischen Zwange der traditio- nellen Speculation zu befreien und eine monistische Psychologie auf dem einzig festen Boden der vergleichenden Zoologie zu begründen , ^nd hier insbesondere die treflflichon „Voilesungen über die Menschen - und Thier-Seele" von Wilhelm Wuudt hervorzuhe- ben (Leipzig 1863). / 4ä8 Die Anthropologie als Theil der Zoologie. Menschen - Rassen , und unter den . ersteren wiederum die höchst diffe- renzirten Seelen von den wenigst differenzirten trennt. Die richtige Werthschätzung dieser cäusserst wichtigen Verhältnisse wird uns lediglich durch die vergleichende Entwickelungsge- Bchichte gelehrt. Nur durch sie erkennen wir die wahre Stellung des Menschen in der Natur. Nur duvch sie gewnnen wir die werth- volle Ueberzeugung, dass die Anthropologie nur ein Special-Zweig der Zoologie ist. Achtes Buch. Die Entwickelungsgeschichte der Organismen Bedeutung für die Kosmologie. Bedecke deinen Himmel, Zeus, mit Wolkendunst, Und übe, dem Knaben gleich, der Disteln köpft, An Eichen dich und Bergeshöhn; Musst mir meine Erde doch lassen stehn. Und meine Hütte , die du nicht gebaut, Und meinen Heerd , um dessen Gluth Du mich beneidest. Ich kenne nichts Aermeres Unter der Sonn', als euch Götter! Ihr nähret kümmerlich Von Opfersteuern und Gebetshauch eure Majestät Und darbtet, wären nicht Kinder und Bettler Hoflfiiungsvolle Thoren. Da ich ein Kind war, nicht wusste wo aus noch ein, Kehrt' ich mein verirrtes Auge zur Sonne, als wenn drüber war' Ein Ohr, zu hören meine Klage, Ein Herz, wie mein's, sich des Bedrängten zu erbarmen. Wer lyilf mir wider der Titanen Uebermuth? Wer rettete vom Tode mich, von Sclaverei? Hast du nicht Alles selbst vollendet, heilig glühend Herz? Und glühtest, jung und gut, betrogen, ßettuugsdank Dem Schlafenden da droben? Ich dich ehren? Wofür? Hast du die Schmerzen gelindert je des Beladenen ? Hast du die Tiiränen gestillet je des Geängsteten? Hat nicht mich zum Manne geschmiedet Die allmächtige Zeit und das ewige Schicksal, Meine Herren und deine? Wähntest du etwa, ich sollte das Leben hassen,. In Wüsten fliehen, weil nicht alle Blüthentiäume reiften? Hier sitz' ich, forme Menschen nach meinem Bilde, Ein Geschlecht, das mir gleich sei,' Zu leiden, zu weinen. Zu geniessen und zu freuen sich, Und dein nicht zu achten. Wie ich! Goethe (Prometheus). Nennundz wanzigstes Capitel. Die Einheit der Natur und die Einheit der Wissenschaft. (System des Monismus.) „Nach ewigen, ahmen Grossen Gesetzen MüsSen wir Alle Unseres Daseins Kreise vollenden." Goethe. Nachdem wir versucht haben, iü dem Objecte unserer Untersu- lung, in der gesammten organischen Formen weit, die absolute Herr- haft eines einzigen, allumfassenden Naturgesetzes, des allgemeinen a,usalgesetzes, nachzuweisen, nachdem wir gezeigt haben, dass le -Organismen ohne Ausnahme, den Menschen mit inbegriffen, die- ra obersten und höchsten Naturgesetze der absoluten Nothwendigkeit iterwoi-fen sind, erscheint es am Schlüsse unserer Darstellung wohl cht unpassend, von dem so errungenen Standpunkte aus einen Blick if imser Verhältniss zur Gesammt-Natur, sowie insbesondere auf das orhältniss der organischen Morphologie zur gesammten Natur- Wissen- haft zu werfen. Kosmos oder Weltall nennen wir das allumfassende Natur- anze, wie es. der Erkenntniss des Menschen zugänglich ist. Dieser osmos ist die Gesammtsumme aller Materie und aller Kraft, da wir IS als Menschen weder eine Vorstellung von einer Materie ohne Kraft, )ch von einer Kraft ohne Materie machen können Man kann die- 1) Diesen äusserst wichtigen Fundamentalsatz haben wir bereits an mehreren Stellen >eres Werkes erläutert und wir kommen im nächsten Capitel noch auf ihn zurück. Bei r allgemeinen Selbsttäuschung, welche in dieser Beziehung unter den Menschen herrscht, im nicht oft genug darauf hingewiesen werden, dass alle Kräfte ohne Ausnahme, also eh die geistigen, an die Materie gebunden sind, und^nur an ihr zur Erscheinung kom- n. Wir sind als Menschen vollkommen unvermögend, uns irgend eine materielle Kraft vorzustellen. Alle angeblichen Vorstellungen einer solchen 442 Die Einheit der Natur und die Einheit der Wiesenschaft. seil Kosmos oder Miiiidus, das Universum {rn jrüv), wie ihn Alexan- der von Humboldt in der grossartigsten Weise als Ganzes erfasst und dargestellt hat, in einen siderischen und in einen telluri- schen Theil zerlegen, von denen der letztere sich bloss mit dem vom Menschen bewohnten Planeten, der Erde, der letztere mit dem ge- sammten übrigen, ausserirdischen Weltall beschäftigt. Der tellurische Kosmos wird wiederum in eine anorganische und in eine organi- sche Natur zerfällt, deren gegenseitige Beziehungen wir im fünften Capitel ausführlich erläutert haben (Bd. I, S. III). Kosmologie oder Weltlehre können wir im weitesten Sinne die menschliche Wissenschaft vom Weltall nennen. Diese allumfas- sende Wissenschaft ist zugleich die Wissenschaft /.er i^o'/j^v, da es eine andere Erkeuntnissquelle als das Weltall oder die Gesammtnatur nicht giebt. Alle wirklichen Wissenschaften sind also entweder Theile der Kosmologie oder das umfassende Ganze der Kosmologie selbst. .Der Eintheilung des Kosmos in siderischen und tellurischen Theil entsprechend kann man die Uranologie (Himmelskunde) und die Pangeologie (Erdkunde im weitesten Sinne, oder Gesammt Wis- senschaft von der Erde) unterscheiden. Die Pangeologie ist ebenso ein Theil der Kosmologie, wie die Anthropologie ein Theil der Biologie. Die Pangeologie zerfällt wiederum in die beiden Zweige der anorga- nischen Erdwisseuschaft (Abiologie) imd der organischen Erdwissenschaft (Biologie), deren Verhältuiss zu einander, sowie das ihrer einzelnen Zweige wir im zweiten Capitel ei-örtert haben (Bd. I, S. 21). Die Materie und die davon untrennbare Kraftsumme der Welt sind in Zeit und Raum unbeschränkt, ewig und unendlich. Da aber ein ununterbrochenes Wechselspiel von Kräften, eine unbeschränkte Wechselfolge und Gegenwirkung von Anziehungen und Abstossungen die Materie in beständiger Bewegung erhält, so befindet sich ihre Form in beständiger Veränderung. W^ährend also Stoff und Kraft ewig und unendlich sind, ist dagegen ihre Form in ewiger und unendlicher Veränderung (Bewegung) begriffen. Die Wissenschaft von dieser ewgen Bewegung des Welt- alls kann als Weltgeschichte im weitesten Sinne oder auch als Ent- wickelungsgeschichte des Universums, als Kosmogenie bezeichnet werden. Die Kosmogenie zerfällt in die beiden Zweige der Urano- genie (welche Kant sehr richtig die „Naturgeschichte des Himmels" nannte) und in die Pangeogenie, die „Naturge- schichte der Erde" oder die Entwickelungsgeschichte der Erde, sind in Wirldiclikcit nur Vorstellungen von gasförmigen Materien, oder von feine- ren, schwerelosen Materien, gleich dem expansiven Wärmestoff zwischen den cohäsiven Atomen itnd Molelcülen der Materie (vergl. Bd. I, S. 117 und 172). Die Einheit der ISTatur und die Einheit der "Wissenschaft. 443 welche auch häufig mit dem mehrdeutigen Namen der „Geologie" be- zeichnet wird 1). Wenn wir von der Entwickelungs- Bewegung des Weltalls als sol- cher absehen und das fertige Resultat derselben in irgend einem Zeit- momente betrachten, so bezeichnen wir die wissenschaftliche Kenntniss ») Die Erde als Planet, als Theil unseres Sonnensystems, hat sich ebenso ent- wickelt, wie jeder andere Theil der Welt. Die einzige Theorie, welche wir von der Eutwickelung der Erde besitzen, ist die bekannte, mathematisch begründete Theorie von Kant und La place, nach welcher die Erde anmählich durch Abnahme der Tem- peratur aus dem gasförmigen in den feurigflüssigen, aus diesem in den festen (oder we- nigstens auf der oberflächlichen Einde festen) Aggregatzustand übergegangen ist. Diese Theorie involvirt selbstverständlich einen zeitlichen Anfang des organischen Le- bens auf der Erd"e, da dieses erst dann entstehen konnte, nachdem die Temperatur bis zur tropfbar -flüssigen Verdichtung des Wassers gesunken war. Eine uothwendige Consequenz dieser Theorie ist die Autogonie, d. h. die (wenigstens einmal stattgehabte) unmittelbare Entstehung von einfachsten Organismen (Moneren) aus anorganischen Mate- rien, wolche wir im sechsten Capitel erläutert haben. Diese K ant - Lapla ce' sehe Theorie ist die einzige wissenschaftliche Entwicielungs-Theorie der Erde, welche wir besitzen, und sie befindet sich in vollkommenem Einklang mit allen unseren sonstigen Natur -Erkenntnissen, insbesondere mit der Astronomie und mit der Morphogenie. Neuerdings ist von Bischof in Bonn und von einigen seiner Schüler der Versuch gemacht worden, auf ehemische Argumente gestützt, diese Theorie umzustürzen, und es ist namentlich die Behauptung aufgestellt worden, dass die Erde a^s solche ewig und ebenso das organische Leben auf der Erde ewig, d.h. ohne Anfang sei. Diese Behauptung ist sowohl aus allgemeinen philosophischen als aus besonderen empirischen Gründen völlig zu verwerfen. Es wird dadurch die Ewigkeit der Form behauptet, während doch nur Stoff und Kraft ewig, die Form dagegen beständig verän- deilich ist. Jene Theorie verwirft die Ka n t-Läp lac e' sehe Theorie, ohne etwas An- deres an ihre Stelle zu setzen; sie ist einfach negativ. Sie ist aber auch völlig un- vereinbar mit allen Thatsachen der Morphogenie oder der organischen Ent- wickelungsgeschichte. Alle Thatsachen der Ontogenie und Phylogenie, vor Allem aber die äusserst wichtige dreifache genealogische Parallele der phy- letischen, biontischen und systematischen Entwickelung beweisen mit der grössten Sicherheit und Uebereinstimmung, dass das organische Leben auf der Erde zu irgend einer Zeit einen Anfang hatte (mag derselbe auch noch so viele Milliarden von Jahrtausenden hinter uns liegen). Sie beweisen ferner mit der gi-össten Evidenz das grosse Gesetz des Fortschritts oder der Vervollkommnung, welche eine nothwendige Wirkung der Selection ist (S 257). Unsere genealogischen Ta- feln am Ende dieses Bandes weisen im Einzelnen nach, wie dieses grosse Gesetz, wel- ches eine logische Nothwendigkeit ist, durch die allgemeinen Resultate der Paläon- tologie empirisch begründet wird. Das sicherste Argument dafür aber finden wir in der individuellen E n twi ck e I ungsgeschich t e der Organismen, welche bloss eine kurze und schnelle Recapitulation ihrer paläontologischen Entwickelung ist. Nur aus gänzli- chem Mangel an Kenntniss oder an Verständniss der organischen Entwickelungs- geschichte und der Biologie überhaupt konnte die Behauptung aufgestellt werden, dass das organische Leben auf der Erde von Ewigkeit her bestanden habe. Wir un- sererseits halten an der Kant-Laplace'schen Theorie in der Geogenie, ebenso wie an der atomistisch en Theorie in der Chemie, so lange fest, als dieselbe mit allen beobachteten Thatsachen in Einklang, und als sie nicht durch eine bessere Theorie ersetzt ist. 444 Die Einheit der Natur und die Einheit der "Wissenschaft. dieses Resultates als Weltbeschreibung oder Kosmographie, welche wiederum in einen siderischen und tellurischen Theil, in die Urano- graphie und in die Pahgeographie zerfällt. Diese Wissenschaf- ten nehmen zu den vorhergehenden (zur Kosmogenie, üranogenie und Pangeogenie) dieselbe Stellung ein, wie die Anatomie der Organis- men zu ihrer Entwickelungsgeschichte. Erst durch die Erkenntniss der letzteren gelangen Avir zum Verständniss der ersteren. Erst durch die Geschichte der Welt oder eines Theiles derselben wird ihre Beschreibung zur wirklichen Wissenschaft, zur Erkenntniss. Wir erhalten demnach folgendes Schema von dem gegenseitigen Verhältniss der obersten Hauptzweige menschlicher Wissenschaft zu einander: Kosmologie oder Naturphilosophie. (Weltkunde oder Gesaram twissenschaft von der erkennbaren Welt; die einzige, allumfassende, wirkliche Wissenschaft, identisch mit der natürlichen Theologie.) I. Uranologie oder Himmelskiin de. (Gesammtwissenschaft von der ausserirdischen Natur.) Siderischer Theil der Kosmologie. A. Üranogenie oder Naturgescliiclite des Himmels. (Entwickehuigsgescliiclite der ausserirdischen Natur.) Siderischer Theil det Kosmogenie. B. Uranograpliie oder Naturbeschreibung des Himmels. (Gesammtwissenschaft von dei> ausserirdiscljen Natur in irgend einem Zeitmoment.) Siderischer Theil der Kosmographie. II. Pangeologie oder Erdkunde (Geologie im weitesten Sinne). (Gesammtwissenschaft von der irdischen Natur.) Tellurischer Theil der Kosmologie (Abiologie und Biologie). A. Pangeogenie oder Naturgeschichte der Erde. (Entwickehingsgeschichte der ii'dischen Natur.) Tellurischer Theil der Kosmogenie. B. Pangeographie oder Naturbeschreibung der Erde. (Gesammtwissenschaft von der irdischen Natur in irgend einem Zeitmoment.) Tellurischer Theil der Kosmographie. Diese wenigen obersten Wissenschafts -Zweige umfassen das ge- sammte Gebiet der menschlichen Erkenntniss -Sphäre. Alle menschli- che Wissenschaft ist Kosmologie, und zwar entweder Uranologie oder Pangeologie; und diese letztere wiederum ist entweder Abiologie oder Biologie (vergl. Bd. I, S. 21). Es existiren nun zwar dem Namen nach Die Einheit der Natur und die Einheit der Wissenschaft. eine Menge aiidei-er Wissenschaften, welche in keine dieser Kategorieen zu gehören scheinen; indessen sind diese angeblichen Wissenschaften entweder untergeordnete Zweige der Kosmologie, oder es sind gar keine Wissenschaften ,,mhil est in inteUeciv, qiiod non ante fiierit in sensn." Dieser Satz bildet den Ausgangspunkt für die richtige Werthschätzung unse- res Erkenntniss- Vermögens 2). „Homo nalurae minister et inferpres tantum jacit et intelligit, fjuantinu de naturae ordine, re et meiite ohscrvarerit; ncc ampliiis seit (tut polest." Mit diesen Worten hat bereits Baco vonVerulam den wichtigen Grundsatz festgestellt, dass 1) Wie die gelehrte Scholastili des Mittelalters noch vielfach unsere Anschauungen beherrscht, zeigt sich vielleicht nirgends so auffallend als in der üblichen und altherg-e- brachten Eintheilung der Wissenschaften , wie sie sich namentlich auch in der Einthei- lung der Facultäten auf unseren Universitäten ofiFenbart. Voran steht die Th eo 1 o gi e. Die wirklich natürliche, d. h. w ah rheitsgemcässe Theologie fällt zusammen mit der Kosmologie, oder was dasselbe ist, mit der Naturphilosophie. Denn da Gott allmächtig, da er die Summe aller Kräfte in der Welt ist, da er das ganze Universum mnfasst, so muss er auch in allen Theileu des Kosmos erkennbar sein, so ist jede Na- turerscheinung eine Wirkung Gottes, oder was dasselbe ist, des Causalgesetzes und die allumfassende Naturwissenschaft ist zugleich Gotteserkeuntniss. Die scholastische Thöo- logie dagegen, wie sie gewöhnlich gelehrt wird, ist in ihrem historischen Theile (als Ent- wickelungsgeschichte der Glaubens-Dichtungen) ein kleiner Theil der Anthropologie und speeiell der genetischen Psychologie; in ihrem dogmatischen Theile ist sie keine Wissen- schaft, da Dogma und Erkenntniss als solche sich ausschliessen. Zum grossen Theile gehört die Theologie in das psychiatrische Gebiet; zum grossen Theile ist sie, ebenso wie die Jurisprudenz und Medicin, eine Kunst, eine praktische Sammlung von Kenntnissen und Anweisung zu deren Gebrauch, aber keine reine Wissenschaft. Dass alle Wissen- schaften, welche speeiell menschliche Verhältnisse betreffen, insbesondere auch die histo- rischen, philologischen, statistischen Wissenschaften etc. Theile der Anthropologie und mithin der Zoologie sind, wurde bereits im vorigen Capitel gezeigt. Es bleibt mithin als einzige reine, allumfassende Wissenschaft in der That nur die Naturphilosophie (identisch mit der Kosmologie) übrig, von welcher die Anthropologie nur ein ganz kleiner be- schränkter Theil ist. Die Mathematik ist ein Theil der allgemeinen Kosmologie, wie die Psychologie ein Theil der speciellen Anthropologie und die Logik ein Theil der Psychologie. -) Hier kann ich es mir nicht versagen, einige Worte meines hochverehrten Freun- des Rudolph Virchow anzuführen, mit denen derselbe in seinem trefflichen Aufsatze „über die Einheits- Bestrebungen in der wissenschaftlichen Medicin" schon 18^9 die Stel- lung des Menschen zur Natur und zur Erkenntniss derselben sehr richtig bezeichnet hat: „Alle menschliche Erkenntniss begründet sich auf das Bewusstsein der Einwirkungen, welche der Einzelne von dem erfährt, was ausser ihm ist, Diese Einwirkungen werden bewusst durch die Veränderungen, welche an den Centraiapparaten des Gehirns erregt werden. Der menschliche Stolz hat sich darin gefallen, gegenüber dieser mitgetheilten Erregung eine freiwillige als charakteristische Eigenschaft der menschlichen Species auf- zustellen, die Spontaneität des Denkens, den Willen. Allein die Beobachtung sowohl der Naturvölker als des einzelnen Mensclien von den ersten Tagen seiner Geburt an zeigt uns, dass eine ursprüngliche Spontaneität nicht besteht, sondern dass von Anfang an überall nur Empfindung und Keflexthätigkeit, oder wie man sagt, instinctive Thätigkcit vorhanden ist." 446 Die Einheit der Natur und die Einheit der ■Wissenschaft. alle menschliche Erkeiintniss in letzter Instanz sinnlich, d. h. a poste- riori ist. Es giebt keine Erkenntnisse a priori. Der weit ver- breitete Irrthum , dass solche existiren , konnte nur auf einer falschen anthropologischen Basis sich erheben. Seitdem wir in der wahren' Er- kenntniss der menschlichen Descendenz, in der Gewissheit, dass sich der Mensch aus niederen Wirbel thieren entwickelt hat, den allein richti-' gen Standpunkt für die Werthschätzung seiner Geistesthätigkeit ein für allemal gewonnen haben, ist es klar, dass man nicht mehr von Er- kenntnissen a priori sprechen kann. Die Vererb ungs- Gesetze und namentlich das Gesetz der abgekürzten oder vereinfachten Vererbung, erklären uns vollkommen jenen Irrthum (s. oben S. 184). Alle Erkenntnisse ohne Ausnahme sind a posteriori, durch die sinnliche Erfahrung, erworben; sie scheinen aber häufig a priori zu sein, weil sie schon durch viele Generationen vererbt sind. Ebenso werden auch die durch Dressur anerzogenen Fähigkeiten bestimmter Hunderassen (z. B. der Spürhunde) durch Vererbung zu angeborenen (a priori). Von der Mathematik, welche am meisten von allen wirklichen Wissenschaften als a priori ^ construirt gelten könnte, hat bereits John Stuart Mill in seiner vortrefflichen induc- tiven Logik gezeigt, dass dieselbe in der That eine Wissenschaft a posteriori ist. Jede Zahlgrösse, jede Rauragrösse, jedes Gesetz über deren Verhältnisse ist eine Abstraction aus vorhergegangener Erfahrung, . oder ein durch Combination mehrerer solcher Abstractionen gewonne- ner Schluss. Hier tritt nun die unermessliche Bedeutung, welche die allge- meine Entwickelungsgeschichte der Organismen und die des Menschen im Besonderen für die universale Kosmologie besitzt, in ihr volles Licht. Lediglich vermittelst der durch die Descendenz-Theo- rie erworbenen Erkenntniss, dass der Mensch Nichts weiter ist, als einer der letzten und jüngst entwickelten Zweige des Wirbelthierstam- mes, gelangen wir, wie im vorigen Capitel gezeigt wurde, zu einem richtigen, naturgemässen Verständniss der Anthropologie, und somit auch der Erkenntnissgrenzen des Menschen, und des Verhältnisses sei- ner Wissenschaft zum Weltgauzen. Nur wenn man auf Grund der De- scendenz - Theorie und der durch sie causal begründeten Morphogenie die „Stellung des Menschen in der Natur" richtig begriffen und con- sequent durchdacht hat, kann man auch zu dem allein wahren, d. h. naturgemässen Verständniss der menschlichen Wissenschaft gelangen. Der Grundgedanke, welcher unser System der „generellen Morpho- logie der Organismen" als rother Faden durchzieht, und welcher nach . unserer unerschütterlichen Ueberzeugung die unerlässliche Basis aller wahrhaft wissenschaftlichen Bestrebungen zum Verständniss der orga- nischen Formenwelt sein muss, ist der Gedanke von der absoluten Die Einheit der Natur und dio Einheit der "Wissenschaft, 447 Einheit der Natur, der Grundgedanke, dass es ein und dasselbe allmächtige und unabänderliche Causal- Gesetz ist, welches die ge- sanimte Natur ohne Ausnahme, die organische wie die anorganische Welt regiert. Dieses Causal-Gesetz ist: die allumfassende Nothwen- digkeit, die avcr/vj], welche ebenso wenig einen „Zufall", als ei- nen „freien Willen" zulässt. Durch eingehende Vergleichung der Or- ganismen und der Anorgane hinsichtlich ihrer Stoffe, Formen und Kräfte haben wir im fünften Capitel zu zeigen versucht, dass diese äusserst wichtige philosophische Erkenntniss von der Einheit "der organi- schen und anorganischen Natur empirisch fest begründet ist. Dieser Einheit der Natur entspricht vollständig die Einheit der menschlichen Natur -Erkenntniss, die Einheit der Naturwissen- schaft, oder was dasselbe ist, die Einheit der Wissenschaft über- haupt. Alle menschliche Wissenschaft ist Erkenntniss, welche auf Er- fahrung beruht, ist empirische Philosophie, oder wenn man lie- ber will, philosophische Empirie. Die denkende Erfahrung oder das erfahrungsmässige Denken sind die einzigen Wege und Methoden zur Erkenntniss der Wahrheit. So kommen wir auf den wichti- gen Satz zurück, welchen wir bereits im vierten Capitel begründet haben : Alle wahre Naturwissenschaft ist Philosophie iiiul alle wahre Philosophie ist iVaturwissenschaft. Alle wahre ^Wissenschaft aber ist Naturphilosophie. 448 Gott ia der Natur. Dreissigstes Capitel. Gott in der Natur. (Amphitheismus und Monotheismus.) Wer darf ihn nennen? und wer bekennen: Ich glaub' ihn? Wer enjpfinden, und sich unterwinden, zu sagen: Ich glaub' ihn nicht? Der Allumfasser, der Allerhalter, Fasst und erhält er nicht dich, mich, sich selbst? Wölbt sich der Himmel nicht da droben? Liegt die Erde nicht hier unten fest? Und steigen, freundlich blinkend, ewige Sterne nicht herauf? Goethe. Der Monismus, wie wir denselben in der generellen Morphologie der Organismen als das unentbehrliche Fundament der Wissenschaft und als die nothwendige Voraussetzung der reinen Erkenntuiss nach- gewiesen und allgemein durchgeführt haben, ist von vielen Seiten als Atheismus und als Materiahsmus verschrieen und als solcher auf das Heftigste bekämpft worden. Wir sind darauf gefasst, diesen Vorwurf auch gegen unsere monistische Naturanschauung erhoben zu sehen, um so mehr, als wir die herrschende, dualistische Vorstellung eines per- sönlichen Schöpfers, wie jeder „Schöpfung" überhaupt, auf das Ent- schiedenste verwerfen und bekämpfen. Bei der allgemeinen Unklarheit und Urtheilslosigkeit, welche gerade in der empirischen Morphologie in Betreff dieser wichtigsten Grund-Principien herrscht, erscheint es pas- send, am Schlüsse dieses Werkes unsern betreffenden Staudpunkt klar zu bestimmen, und kurz zu zeigen, dass der von uns ausschliesslich cultivirte Monismus zugleich der reinste Monotheismus ist. Was zunächst den Vorwurf des Materialismus betrifft, den man gegen den Monismus erhoben hat, so ist derselbe, wie schon Schlei- cher bemerkt hat, ganz „eben so verkehrt, als wollte man ihn des Spiritualismus zeihen" (Bd. I, S. 105). Der Monismus kennt we- der die Materie ohne Geist, von welcher der Materialismus spricht, noch den Geist ohne Materie, welchen der Spiritualismus annimmt. Gott in der Natur. 449 Vielmehr giebt es für ihn „weder Geist noch Materie im ge- wöhnlichen Sinne, sondern nur Eins, das Beides zugleich ist." Wir kennen eine geistlose Materie, d. h. einen Stoff ohne Kraft, ebenso wenig, als einen immateriellen Geist," d. h. eine Kraft ohne Stoff. Jeder Stoff' als solcher besitzt eine Summe von Spannkräften, welche als lebendige Kraft in die Erscheinung treten, und jede Kraft kann nur durch die Materie, an welcher sie haftet, als solche wirksam sein. Diese rein monistische Ansicht, welclie wir auf das Entschiedenste ver- treten, ist schon vor langer Zeit von einem unserer hervorragendsten Denker und Naturforscher, von Wolfgang Goethe, so klar und be- stimmt ausgesprochen worden, dass wir nichts Besseres thun können, als seinen merkwürdigen Ausspruch hier nochmals hervorzuheben: „Weil die Materie nie ohne Geist, der Geist nie ohne Ma- terie eiistirt und ivirksam sein kann, so vermag auch die Materie sich zu steigern, sowie sich's der Geist nicht neh- men lässt, anzuzieheu und abzustossen; wie derjenige nur allein zu denken vermag, der genugsam getrennt hat, um zu verbinden, genugsam verbunden hat, um wieder trennen zu mögen!" Was nun aber zweitens den Vorwurf des Atheismus betrifft, den zweifelsohne sowohl gedankenlose Naturkeuner, als auch kennt- nisslose Naturdenker gegen unseren Monismus erheben werden, so schleudern wir diesen schweren Vorwurf dadurch auf sie zurück, dass wir ihren angebhchen Theismus als Amphitheismus, unseren' Monismus dagegen als reinen Monotheismus nachweisen. Es ist in der That nicht schwer, bei objectiver und vorurtheils- freier Betrachtung zu der klaren Ueberzeugung zu gelangen, dass der mythologisch begründete Theismus , welcher angeblich als „reiner Mo- notheismus" die Culturvölker der neueren Zeit beherrscht, und welcher in der organischen Morphologie als Schöpfungs-Mythus noch gegenwär- tig eine so hervorragende Rolle spielt, in der That kein Monotheismus, sondern Amphitheismus ist. Monotheismus war diese herrschende Gotteslehre nur so lange, als alle Naturerscheinungen ohne Ausnahme für das unmittelbare Resultat der persönlichen göttlichen Weltherrschaft galten, nur so lange, als alle anorganischen und organischen Phäno- mene — vom Wehen des Windes und dem Rollen des Donners bis zu dem Lichte der Sonne und dem Laufe der Gestirne, von dem Blüthen- duft der Pflanze und dem Fluge des Vogels bis zu der Gedankenbil- dung des Menschen und der Entwickelungsgeschichte der Völker — directe Wirkungen eines monarchischen, persönlichgn Schöpfers waren. Als aber die neuere Naturwissenschaft nachwies, dass das gesammte Gebiet der anorganischen Natur durch feste und ausnahmslose Natur- Haeckel, Generelle Morphologie, U. >>U 450 Gott in der Natur. gesetze regiert werde , als Physik und Chemie die Abiologie in mathe- matische Formeln brachten, da wurde dem persönlichen Schöpfer die Hälfte seines Gebiets entrissen, und es blieb ihm nur noch die orga- nische Natur übrig, und selbst von dieser wurde durch die neuere Phy- siologie abermals die Hälfte abgelöst, so dass bloss noch die organische Morphologie dem persönlichen Willkühr -Regiraente des mediatisirten Weltherrschers unterworfen blieb. So wurde aus dem früheren Mono- theismus der vollständige Amphitheismus, welcher gegenwärtig die mo- derne Weltanschauung der Culturvölker beherrscht, und welcher in der Wissenschaft als der grundverkehrte Dualismus erscheint, den wir in der generellen Morphologie auf das Entschiedenste bekämpft haben. Denn was ist dieser Dualismus Anderes, als der Kampf zwischen zwei Göttern von grundverschiedener Natur? Dort sehen wir auf dem voii dem Mechanismus eroberten Gebiete der Abiologie die ausschliessliche Herrschaft von ausnahmslosen und nothwendigen Naturgesetzen, von der avdy'/irj, welche zu allen Zeiten und an allen Orten dieselbe, und sich beständig gleich bleibt. Hier dagegen erblicken wir auf dem von der Teleologie noch beherrschten Gebiete der Biologie, und vorzüglich auf dem der organischen Morphologie, die launenhafte Willkührherr- schaft eines persönlichen und durchaus menschenähnlichen Schöpfers, welcher sich vergeblich abmüht, endlich einmal einen „vollkommenen" Organismus zu schaffen, und beständig die früheren Schöpfungen der „Yorwelt" verwirft, indem er neue verbesserte Autlagen an deren Stelle setzt. Wir haben schon im sechsten Capitel gezeigt, warum wir diese 'klägliche Vorstellung des „persönlichen Schöpfers" durchaus verwerfen müssen (Bd.!, S. 173). In der That ist dieselbe eine Entwürdigung der reinen Gottes-Idee. Die meisten Menschen stellen sich diesen „lie- ben Gott" durchaus menschenähuüch vor; er ist in ihren Augen ein Baumeister, welcher nach einem vorher entworfenen Plane den Welt- bau ausführt, aber nie damit fertig wird, weil er während der Aus- fülirung immer auf neue , "bessere Ideen kommt; er ist ein Theater- Director, welcher die Erde wie ein grosses Marionetten-Theater dirigirt, und die zahllosen Drähte, au denen er der Menschen Herzen lenkt, gewöhnlich mit leidlicher Geschicklichkeit zu handhaben weiss; er ist ein halbbeschränkter König, der nur auf dem anorganischen Gebiete constitutione!!, nach fest beschworenen Gesetzen, auf dem organischen Gebiete dagegen absolut, als patriarchalischer Landesvater herrscht, und sich hier durch die Wünsche und Bitten seiner Landeskinder, un- ter denen die vollkommensten Wirbelthiere die am meisten begünstig- ten sind, bestimmen lässt, seinen Weltenplan täglich abzuändern. Wenden wir uns weg von diesem unwürdigen Anthropomorphismus der modernen Dogmatik, welcher Gott selbst zu einem gasförmigen Wirbelthier erniedrigt, und betrachten wir dagegen die unendlich er- Gott in der Natur. 451 habenere- Gottes -Vorstellung, zu welcher uns der Monismus hinführt, indem er die Einheit Gottes in der gesam-mten Natur nach- weist, und den Gegensatz eines organischen und eines anorganischen Gottes aufhebt, welcher den Todeskeim in der Brust jenes herrschen- den Amphithcismus bildet M- Unsere Weltanschauung kennt nur ei- nen einzigen Gott, und dieser allmächtige Gott beherrscht die gesammte Natur ohne Ausnahme. Wir erblicken seine Wirksamkeit in allen Erscheinungen ohne Ausnahme. Die gesammte anorganische Kör- perwelt ist ihr ebenso, wie die gesammte organische unterworfen. Wenn jeder Körper im luftleeren Räume in der ersten Secunde 15 Fuss fällt, wenn jedesmal drei Atome Sauerstoff mit einem Atom Schwefel sich zu Schwefelsäure verbinden, wenn der Winkel, den eine Säulenfläche des Bergkrystalls mit der benachbarten macht; stets 120*' beträgt, -so sind diese' Erscheinungen ebenso die unmittelbaren Wirkungen Gottes, wie es die Blüthen der Pflanzen, die Bewegungen der Thiere, die Ge- danken der Menschen sind. Wir sind alle „von Gottes Gnaden", der Stein so gut wie das Wasser, das Radiolar so gut wie die Fichte, der Gorilla so gut wie der Kaiser von China. Nur diese Weltanschauung, welche Gottes Geist und Kraft in allen Naturerscheinungen erblickt, ist seiner allumfassenden Grösse würdig; nur wenn wir alle Kräfte und alle Bewegungs-Erschei- nungen, alle Formen und Eigenschaften der Materie auf Gott, als den Urheber aller Dinge, zurückführen, gelangen wir zu derjenigen mensch- lichen Gottes- Anschauung und Gottes- Verehrung, welche seiner unend- lichen Grösse in Wahrheit entspricht. Denn „in ihm leben, weben und sind wir". So wird die Naturphilosophie in der That zur Theologie. Der Cultus der Natur wird zu jenem wahren Gottesdienste , von wel- chem Goethe sagt: „Gewiss es giebt keine schönere Gottes- verehruug, als diejenige, welche aus dem Wechselgespräch mit der Natur in unserem Busen entspringt!" Gott ist allmächtig; er ist der einzige Urheber, die Ursache aller Dinge, d. h. mit andern Worten: Gott ist das allgemeine Causalgesetz. Gott ist absolut vollkommen, er kann niemals anders, als vollkommen gut handeln; er kann also auch niemals willkührlich oder frei handeln, d. h. Gott ist die Nothwendigkeit. Gott ist die Summe aller Kräfte , also auch aller Materie. Jede Vorstellung von Gott, welche ihn von der Materie trennt, setzt ihm ^ine Summe von • 1) Wir sehen hier ganz davon ab, dass ausser dem anorganischen (nothwendigen) und dem organischen (wiUkührlichon) Gott, welche gegenwärtig in der Weltanschauung der meisten Mensehen sich gegenüber stehen, gewöhnlich noch eine A,nzahl anderer Göt- ter (z. B. der Teufel, die Kngel , die Heiligen) verehrt oder gefürchtet werden, welche diesen Amphithcismus zum vollen Polytheismus stempeln. 29* 452 Gott in der NatuT. Kräften gegenüber, welche nicht göttlicher Natur sind, jede solche Vor- stellung führt zum Amphitheismus , mithin zum Polytheismus. Indem der Monismus die Einheit in der gesammten Natur nachweist, zeigt er zugleich, dass nur ein Gott existirt, und dass dieser Gott in den gesammten Natur-Erscheinungen sich offenbart. In- dem der Monismus die gesammten Phänomene der organischen und anorganischen Natur auf das allgemeine Causal-Gesetz begründet, und dieselben als die Folgen „wirkender Ursachen" nachweist, zeigt er zugleich, dass Gott die nothwendige Ursache aller Dinge und das Gesetz selbst ist. Indfem der Monismus keine anderen, als die göttlichen Kräfte in der Natur erkennt, indem er alle Naturgesetze als göttliche anerkennt, erhebt er sich zu der grössten und erhabensten Vorstellung, welcher der Mensch als das vollkommenste aller Thiere fähig ist, zu der Vorstellung der Einheit Gottes und der Natur. „Was war' ein Gott, der nur von aussen stiesse, Im Kreis das AU am Finger laufen Hesse ! Ihm ziemt's , die Welt im Innern zu bewegen, Natur in Sich , Sich in Natur zu hegen. So dass, was in Ihm lebt und webt und ist, Nie Seine Kraft, nie Seinen Geist vermisst." Register. Abiodynamik I, 21. Abiologie I, 21. Abiostatik I, 21. Abortive Individuen II, 268. Abstammung des Menschen II, 425. Abstammungslehre II, 148. Acclimatisation II, 208. Acentre Grundformen I, 400. Acme II, 320. - Actuelle Anpassung II, 201. Actuelle Bionten I, 334. Adaptatio II, 191. — correlativa II, 216. — cumulativa II, 208. — divergeus II, 217. — individualis II, 202. — infinita II, 219. — monstrosa II, 204. — sexualis II, 206. — universalis II, 207. ■ Adolescentia II, 76. Adultas II, 78. Aether -Atome I, 117. Aggregatzustände I, 122. Aimenreihe des Menschen II, 428. Albuminate I, 276. Alloeogenesis II, 93. AUopole Grundformen I, 495. Allopolygone Grundformen I, 408. Allo.itaure Grundformen I, 446. Ilmphigcncsis II, 87. Ampbigonia II, 58. Amphipleure Grundformen I, 500. Ampbitjiecte Pyramide I, 434. Amphithectes Polygon I, 434. Amphitheismus II, 448. Analogie I, 314. Analyse I, 74. Anaplase II, 76. Anatomie I, 22. Anatomische Individualität I, 265. Anaxonie Grundformen I, 400. Anisopole - Grundformen I, 471. Anorgane I, III. Anorganische Aggregatzustände I, 122. — Anpassung I, 152. — Bildungstriebe I, 154. — Cbrrelation der Theile I, 158 — Formen 1, 130. — Grundformen I, 137. — Individualität I, 130. -r Kräfte I, 140. — Materien I, III. — Selbsterhaltung I, 149. — Stoffe I, III. — Verbindungen I, 118. — Wachsthum I, 141. Anorganologie I, 21. Anpassung I, 141. II, 191. Aupassungs- Gesetze II, 202. — Grad II, 195. — Ursachen II, 191. Anpassung und Ernährung II, 193. Antecambrische , Zeit II, 319. 454 Register. Antecaiboni.sche Zeit II, 319. Antecietaci.sclie Zeit II, 319. Antedevonische Zeit II, 319. Aiitejurassisclie Zeit II, 319. Antelaurentische Zeit II, 319. Antemioceiie Zeit II, 319. Anteocene Zeit II, 3l9. Antcpermisclie Zeit II, 319. Aiitepliocene Zeit JI, 319. Autesilurisclie Zeit II, 319. Antetriassische Zeit II, 3 19. Antliropolithische Zeit II, 317. Anthropologie II , 423 , 432. Anthropomorphismus I, 173. Antimeren I, 303. Antimeren al.s Bionten I, ^347. Aiitimerogenie I, 55. II, 130. Aiitiinerologie I, 45, 49. Anzahl der System - Kategorieen II, 399. Apposition I, 148. Arbeitstheilung II , 74 , 249. Archigonie II, 33. Aicholitliische Zeit II, 316. Arrhythmische Polyaxonien I, 407. Art II," 323, 341 , 350, 380. Artbegriff II, 332. Artbeständigkeit II, 337. Artentvvickelung.il, 323. - Asymmetrische Grundformen l, 524. Atavismus II, 170. — und Variabilität II, 223. Atome, Atomistik I, 115, 117. Atomii-tische Constitution II, 115. Atrophische Individuen II, 268. Aul'bildung II, 76. Aufblühzeit II, 321. Auflösung I, 126. Au^Jese II, 226. , Autogonie I, 179. II, 33. Autopole Grundformen I, 479. Axen der Grundformen I, 417, 435, 477. Axenfeste Grundformen 1 , 402. Axenlose Grundformen I, 400. Axonie Grundformen I, 402. Bastardzeugung II, 342. Baumgestalt des Systems II, 397. Bevifusstsein I,' 233. Bilateral- symmetrische Formen I, 547. Bikhingatriebe I, 154. II, 297. Biodynamik I, 21. Biologie I, 8, 21. Bion, Bionten I, 266, 333. Biontische Entwickelung II, 299. Biostatik I, 21. Blasti I, 318. Blüthezeit II, 322. Botanik I, 234. Brauch II, 386, 400. Buschpersonen I, 325. Caenolithische Zeit II, 317. Cambrische Zeit II, 319. Carbonische Zeit II, 319. Cataplase II, 79. Cataplastische Individuen II, 268. Causae efficientes I, 97. — finales I, 97. Causalität I, 94. Cellinae I, 275. Cellulae 1, 269, 275. ^ Cellulae membranosae I, 273. — primordiales I, 272. Centraiebene I, 495. Centralisation I, 370. Centralisations- Gesetz II, 259. Centraxonien I, 403, 417. Centrepipeden I, 495. Centromorpheu I, 402. Charakter des Pflanzenreichs I, 209. — des Protistenreichs I, 215. — des Thierreichs I, 209. Chemie I, 12. Chemie der Pflanzen I, 220. — der Protisten I, 215. — des Thiere I, 209. Chorologie II, 286. Classis II, 385, 400. Cladus II , 400. Classification II, 374. Cohors II, 400. Concentrations- Gesetz II, 259. Conservations - Physiologie I,. 238. Conservative "Vererbung II, 176. Continuität der Phylogenese II, 418. Continuitäts- Theorie II, 312. Cormen I, 326. Cormi compositi 1 , 330. — simplices I, 330. Cormogenie I, 56. II, 144. I Cormologic I, 46. Correlation der Theile I, 158. Crescentia II , 73. Cretacische Zeit II, 319. Cumuliitiou 11, 208. Cuticiila I, 283. Cuvierisnms II, 166. Cycliis generatiouis II, 81. Cytoblaslus I, 272, 278. Cytocormi I, 296. Cytodae membranosae I, 274. — primordiales I, 274. Cytoden I, 269, 270, 275. Cytoplasma I, 276. Darwinismus II, 166. Decactinote Grundformen II, 467. Decrescentia II, 79. Deduetion I, 79. ■ Deflorescentia II, 79. Degeneratio II, 75. Descendeuz- Theorie II, 148. Devonische Zeit II, 319. Dichotomia II, 39. Diclinia II, 68. Diflferenzirung II, 74, 249. Dimidiatio II, 39. Dioecia II, 69. Diphragme Grundformen I, 492. Dipleure Grundformen I, 519. Diplopole Grundformen I, 426. Diradiatio II, 42. Dirette Anpassung II, 196, 201. Divergenz- Gesetz II, 249. Divergentia II, 74 , 249. Divisio II, 38. — bifida II, 39. — diagonalis II, 41. — indefinita II, 39. — longitudinalis II, 39. — obliqua II, 41. — radialis II, 42. — tran.sversa II , 40- Dodecaeder I, 412. Dogmatik I, 88. Doppelpyramiden I, 436. Dualismus I, 105. Dualistische Culturzeit II, 319. Durchfeuchtung I, 126. Dynamik I, 10. Register. Dysdipleure Grundformen I, 524. Dyütelcologic I, 100. II, 266. ^ — der Antimeren I(, 281. — der Metameren II, 282. — der Organe II, 273. — der Personen II, 284. — der Piastiden II, 272. — der Stöcke II, 285. Dystetrapleure Grundformen I, 518. Einaxige Gruniiformen I, 420. Einhefl der Natur I, 164. II, 441. — der Wissenschaft II. 441. Eiweisskörper I, 276. Elemente 1 , 118. Elteruzeuguvig II, 34. Embryo II, 20. Embryologie I, 53. II, 20. Embryologische Vervollkommnung II, 265. Embryonales Leben II, 21. Empfindung I, 234. Empirie 1,63. Emplasmogonie II, 34. Endosphaerische Polyeder I, 406. Enneactinote Grundformen I, 472. Entbildung II, 75. Entstehung der ersten Organismen I, 167. Entwickelungsgeschichte. 1 , 50. II , 3. — der Antimeren II, 110. — der Arten II, 323. — der Bionten II, 3. — der Cormen II, 144. — der Individuen I, 53. II , 3. — der Metameren II, 136. — der morphologischen Individuen II, 110. — der Organe II, 124. — der Personen II, 140. — der Phylen I, 57. II, 301, 365. der physiologischen Individuen II, 32. — der Piastiden II, 110. — der Species II, 323. _ der Stämme I, 57. II, 301, 365. — der Stöcke II, 144. — der Zeugungskreise II, 32. Eocen-Zeit II, 319. Epacme-il, 320. Epigenesis II, 12. Epimeren I, 316. Erblichkeit II, HO. Erdbildung I, 179. II, 443. Erdgeschichte II, 443. Erfahrung I, 63. Erkenntiiiss I, 63. Eudipleure Grundformen I, 521. Eutetrapleure Giundfonneu I, 513. Eutetrfipleura interradialia I, 515. — radialia I, 513. Euthyni, Euthyphora I, 435. Evojutio II, 12, 7,6. Familie II, 383, 400. Fauna der Gla^thiere II, 242. * Fehlgeschlagene Individuen U, 268. Fissio II, 37. Folgestücke 1 , 312. Formed matter 1, 287. Fortpflanzung II , 34. Fortpflanzungs- Arten II, 34^ '70, 71. — geschlechtliehe II, 71. — ungeschleditliche II, 70. Fortpflanaungs- Functionen II, 72. Fortschritt H, 257. Fortschritts - Gesetz II, 257. Functionen der Entwickelung II, 72. Fundanicjital-Form der Organismen I, 540. — Structur der Organismen I, 364. Gattung II, 881 , 400. Gedankenbildung I, 234. Gegcnmundpol 1, '418. Gegenmuudseite I, 418. Gegenstücke I, 303. Gegenwirkung II, 208. Geist 1 , 172. Gemmatio II , 44. — coeloblasta' II , 51. — externa II , 46. — interna II, 50. — lateralis II, 49. — orgauoblasta II, 51. — terniiualis II , 47. Geneal.gie II, 301, 305. Genealogische Individualität II, 26, 299. Genealogischer Parallelismus II, 371. — Spt-cies-Begiitf II, 350. Geneiatio II, 32. — aequivoca I, 174. n, 133.. — divisiva 11, 38. — digcnca II, 58. — fissipara II, 37. gistcr. Generatio gemmipara II, 44. — heterogenea I, 174. — monogenea II, 36. , — originaria I, 174. — parentalis II , 3. — scissipara II, 38. — primaria, primigenia I, 174. — spontanea I, 174. II, 33. — sporipara II, 51. Generationscyclus II, 81. Generatiousfolge II, 104, 108. Generationswechsel II, 88. Genesis II, 5. Genus II, 381 , 400. Geographie der Organismen II, 287. Geiminal matter I, 287. Geschlechtsproducte, Geschlechtstheile II, 58. Gesdilechtstrennung II, 60. Geschlechtsveihältuisse II, 58, 71. — der Antimeren II , 65. . — der Metameren II, 67. — der Oigane 11, 64. — der Personen II, 68. — der Piastiden U, 61. — der Stöcke II, 69. Gestaltungskräfte I, 154. Gewebe I, 298. Gewohnheit II, 208. Glacial-Zeit II, 319. Gleicha.\ige Grundformen I, 404. Gleichfarbige Zuchtwahl II, 241. Gonochorismus II, 60, 71. — der Antimeren II, 66. — der Metameren II, 67. — der Organe II, 64. — der Personen II, 68. — der Piastiden II, 63. — der Stöcke, II, 69. Grad der Entwickelung II, 10. Greisenalter II, 79. Giössenzunahme -Gesetz II, 259. Grundformen der Antimeren 1 , 533. — der Individualitäts - Ordnungen I, 528. — der Metameren I, 535. — der Oigane I, 531. — der Personen I, 537. — der Pflajjzen I, 223. — der Piastiden I, 528. — der Protisten I. 217. — der Stöcke I, 538. Eegistcr. 457 Grundformen der Thiere I, 211. Gruiulfornienlehre I, 375 , 377. Gute Arten II, 359. Gute System - Gruppen II, 395. Gymuocyteu I, 272. Gymnocytoden I, 274. Gymnoplastiden I, 282. Halbstrahl I, 431. Haplopole Grundformen I, 422. HauptAxe I, 417. Hauptaxige Grundformen I, 416. Hemiedrie d. organischen Grundformen I, 551. Heptactinote Grundformen I, 472. Heptamphipleure Grundformen I, 501. Heieditas II, 170. — abbreviata II, 184. — accommodata II, 186. — adaptata II, 186. — alternans II, 181. — amphigona II, 183. — constituta JI, 187. — continua II, 180. ' — Lomochrona II, 189. — homotopa II, 188. — interrupta II, 181. — latens II, 181. — mixta II, 183. — sexualis Ii, 183. — simplicata II, 184., Hermaphroditismus II, 60, 71. — der Autimeren U, 65. — der Metameren II, 67. — der Organe^II, 64. — der Personen II, 68. — der Piastiden II, 61. — der Stöeke II, 69. Heteraxonia 1, 405. Heteroplastische Organe I, 299. Ileteropole Grundformen I, 452. Heterostaure Grundformen I, 475. Hexactinotc Grundformen I, 469. Hexaeder I, 413 Hexarnphipleure Grundformen I, 501. Hexaphragme Grundformen I, 485. Histologie I, 42, 45, 49. Homaxonia I, 404. Homoilytiame Tlieile I, 312. Homologie I, 313. Homouome Theile I, 311- Homonyme Theile I, 316. Homoplastische Organe 1 , 298. Homopole Grundformen I, 436. ' Homostaure Grundformen I, 459. Homotypische Theile I, 303. Humidation I, 126. Hybridismus II, 342- Hypogenesis II, 99. — epimorpha II , 102. — metamorpha U, 101. Icosaeder I, 411. Ideale Typen II, 222. Imbibition I, 124. Indirecte Anpassung U, 196, 201. Individualität 1, 243. — der Pflanzen I, 222. — der Protisten I, 216. — der Thiere I, 210. Individualitätslehre I, 239, 241. Individuen im Allgemeinen I, 243. Induction I, 79. luductioiis- Gesetz der Descendenz H, 427. Intercellularsubstanzen Ij 281. lutevnirungs - Gesetz II, 259. Interplastidarsubstanzen 1 , 283. Interradius 1 , 431. Intussusception I, 148. Jochpaarige Grundformen 1 , 507. Isopole Grundformen 1 , 465. Isopolygone Grundformen I, 409. Isostaure Grundformen I, 437. Jugendalter, Juventus II, 76. Jurassische Zeit II, 319. Kampf ums Dasein II, 231. Kataklysmen- Theorie II, 312. Kategoriecn des Systems II, 374. Keimbildung II, 51. Keimknospenbildung II, 52. Keimplastidenbildung II , 54. Keimsubstiinz I, 276. Ketten - Personen I, 325. Knospenbildung II, 44. Kohlenstoff I, 118, 121. Ko-imologie II, 439. 444. Ereu/.axe I, 430, 419. Kreuzaxige Giundformen I, 43. Kreuzebenen I , 419. Kritik 1, 88. 458 ster. Krystallbilduiig und Zellenbildung I, 159. KrystHlle I, 131. Krystallform organischer Individuen I, 552. Krystalloide I, 129 , 132. Künstliche Züchtung II, 228. Lamarclcismus II, 166. Larven II, 25. Laurentische Zeit II, 319. Leben I, 141. Lebenserscheinungeu I, 140. — der Pflanzen I, 223. — der Protisten I, 218. — der Thiere I, 212. Lebenslivaft I, 96, 141. Legio II, 400. Lepocyten I, 273. Lepocytoden I, 274. Lepoplastiden I, 282. Lipostaure Grundformen 1 , 545. Männliche Geschleclitstheile II , 58. Männliche Zuchtwahl II, 245. Massen -Atome I, 117. Maturitas II, 78. Mechanismus 1 , 94. Medianebene I, 403, 495. Membrana cellulae I, 272 , 281. Meridianebenen 1 , 419. Mesolithische Zeit II, 317. Metagenesis II , 88. — successiva II , 95. — productiva II, 92. Metameren 1 , 312. — als Bionten I, 351. Metamerogenie I, 56, II, 136. Metamerologie 1 , 45 , 49. Metamorphogenesis II, 97. Metamorphologie II , 20. Metamorphose II, 23. Metaplase II, 78. Methodik, Methodologie I, 63. Mitbewerbung U, 231, 237. Mitten-Differenzen der Grundformen 1, 544. Miocen-Zeit II, 319. Monaxonia I, 420. Monercs I, 135. Monismus 1 , 1 05. Monistische Culturzeit II, 319. Mouoclinia II , 68. Monoecia II , 69. Monogenesis II, 84. Monogonia II, 36. Monomorphe Speeles II , 354. Monotheismus II, 448. Monotrope Typen II , 222. Monosporogonia II , 54. Morphogenie I, 22, 50. Morphologische Individualität I, 265. Morphologische Individuen 1 , 265 , 269 — erster Ordnung I, 269. — zweiter Cfrdnung I, 289. — dritter Ordnung I, 303. — vierter Ordnung I, 312. — fünfter Ordnung I, 318. — sechster Ordnung I, 326. Morphologischer Speeles -Begriff II, 332 Mundpol I, 418. Mundseite I, 418. Myriactinote Grundformen I, 466. Naturphilosophie I, 67. II, 444, 447. Natürliches System II, 374. Natürliche Züchtung II, 231. Nebenstüeke 1 , 311. Nothwendigkeit I, 95. II, 451. Nucleus I, 272, 278, 287. Octactinote Grundformen I, 468. Octaeder I, 412. Octophragme Grundformen I, 482. Oecologie I, 238; II, 286. Ontogenetische Functioiven II, 296. Ontogenetisch'er Fortschritt -il , 265. Ontogenetische Stadien II, 299. — Thesen n, 295. Outogenie der Antimeren II, 130. — der Metameren II, 136. — der Organe II, 124. — der Personen II, 140. — der Piastiden II, HO. — der Stöcke II , 144. Ordnung, Ordo II, 384, 400. Organ -Apparate I, 302. Organe I, 289, 299. Organe als Bionten I, 340. Organe erster Ordnung I, 296. — zweiter Ordnung I, 298. — dritter Ordnung I, 299. — vierter Ordnung I, 301. Orgnne fünfter Ordnung I, 302. Organische Aggiegatzustiiude I, 122. — Anpassung I, 152. — Bildungstriebe I, 154. — Conelation der Theile I, 158. — Formen 1 , 130. — Grundformen I, 137. — Individualität I, 130, 300. — Kräfte 1, 140. — Materien I, III. — Selbsterbaltung 1; 149. — Stofle I, III. — Verbindungen 1 , 118. — Wachsthum I, 141. Organismus I, III. Oiganogenie I, 55; II, 124. Organologie 1 , 42, 45, 49. Organ - Systeme I, 301. Orismologie I, 396. Orthostaure Grundformen I, 488. Oxystaure Grundformen I, 481. Paracme II, 320. Paläolithische Zeit II, 316. Paläontologie I, 57; II, 301, 305. Paläontologisches Material II, 308. Paläoutologische Vervollkommnung II, 264. Pangeologie II, 444. Parameren I, 311. Partielle Bionten 1 , 335. Partitio II, 39. Peutactinote Grundformen I, 473. Pentamphipleure Grundformen I, 502. Perioden der Erdgeschichte II, 315. Pei-mi'sche Zeit II, 319. Personen 1 , 318. — als Bionten I, 357. ^ Pflanzen I, 191. Pflanzenkunde I, 234, 238. Pflanzenreich I, 220, 227. Pflanzenstämme II, 406. Philosophie I, 63. Phyletische Entwickelung II, 299. Phyletische Entwickelungs-Functioneu 11,365. Phylogenetischer Fortschritt II, 264. Phylogenetische Thesen II, 418. Phylogenie I, 57; II, 301. Physik I, 10. Physiologie I, 17. Physiologische Individualität I, 265, 332. :ister. Physiologische Individuen I, 266, 332 — erster Ordnung I, 332. — zweiter Ordnung I, 340. — dritter Ordnung I, 347, — vierter Ordnung I, 351. —"fünfter Ordnung T, 357. — sechster Ordnung I, 360. Physiologischer Speeles - Begriff II, 341 Planum aequatoviale I, 477. — cruciatum I, 477. — euthyphorum I, 435. — interradiaie 1, 432. — laterale I, 477. — medianum 1 , 477. — meridianum I, 419. — radiale I, 432. — semiradiale 1 , 432. — staurotum I, 419. — transversale I, 419. - Plasma I, 272 , "275, 287. Plasmaproducte I, 279. Plasmastücke I, 269, 275. Plasmogonie I, 33. Piastiden I, 269, 275. Piastiden als Bionten I, 332. Plastidogenie I, 55; II, 110. Plastidologie I, 45, 49. Pliocen-Zeit II, 319. Polus aboralis I, 418. — antistomius I, 418. — dexter I, 477. — dorsalis I, 477. — oralis I, 418. — peristomius I, 418. — sinister I, 477. — ventralis I, 477. Polyactinote -Grundformen I, 471. Polyaxonia I, 406. Polymorphe Species II, 355. Polymorphismus II, 74, 249. Polysporogonia II , 52. Polytrope- Typen II, 222. Postglacial- Zeit II, 319. Potentielle Anpassung II, 201. — Bionten I, 334. Practische Typen U, 222. Primärzeit II, 316. , Primordialzeit II, 316. Principien der Classification II, 374, Progressions - Gesetz II, 257. 460 Regi Progressive Vererbung II, 176. Promorpliologische Kategorieen I, 558. Promorphologische Thesen II, S40. Promorphologie I, 46, 375, 377. Propagatio II, 34. Prosopa catenata I, 325. — fruticosa I, 325. Prosopen I, 318. Prosopogeiiie I, 56; II, 140. Prosopologie I, 45, 49. Protamoeba I, 133, 182. Protaxouia I, 416. ' Proteiustoffe I, 276. Protisten I, 203. Protistenkunde 1 , 234. Protistenreich I, 215, 228. Protistenstämme II , 403. Protistik I, 234. Protogenes I, 133, 182. Protoplasma I, 272, 275 T 287. Pseudocormen I, 326. Psychologie Radiale Grundformen I, 547. Radius I, 431. Rasse II, 340, 400. Reaction II, 208, 211. Reale Typen der Grundformen I, 557. Reguläre Grundformen I, 54 7. Reiche der Organismen I, 203. Reifenalter II, 78. Relations - Physiologie I, 238. Rhythmische Polyaxonien I, 410. Richtaxen 1 , 435. Richtebenen I, 435. Ringen um die Existenz U, 231. Rückbildung II, 79. Rudimentäre Individuen II, 268. Sarcode I, 276. Sagittalaxe 1 , 550. Schadonen II, 25- Scheinstöcke I, 326. Scliienige Grundformen 500. Schizogenesis II , 84. — monoplastidis II, 84. — polyplastidis II, 85. Schizogonia II, 37. Schlechte Arten II, 359. — Systemgruppen II, 395. ster. Schöpfer I, 173. II, 448. Schöpfung I, 167 , 170. Schöpfungs-Theorieen I, 170. Scibsio II, 38. Sectio II, 400. Secundärzeit II, 317. Seele I, 172, 232. II, 434. Selbstbewusstsein I, 233. Selbstzeugung I, 167, 179. Selectio artificialis II, 228. — concolor II , 241. — feminina II, 245. — masculina II, 245. — naturalis II, 231. — sexualis II , 244. Selection II, 226. Selections - Theorie II, 148, 166. Semiradius I, 431. Senilitas II , 79. Sexueller Dimorphismus II, 355. Sippe II, 381 , 400, Solution I, 126. Species II, 323, 341, 350, 380. Speeles -Begriff II, 323. Species- Constanz II, 336. Species -Definition II, 359. Specifications - Gesetz II, 331. Specifischer Fortschritt II, 265. Spielart II, 338, 400. Sporogenesis II, 86. — monoplastidis II, 86. — polyplastidis II, 87. Sporogonia II, 51. Sprosse 1 , 318. Stadien der Entwickehmg II, 76. Stammbaum II, 374. Stammbaum des Menschen II, 428. Statik I, 10. Stauraxouia I, 430. Staurus I, 419, 430. Stereometrie der Organismen I, 375, 387. Stöcke I, 326. — als Bionten I, 360. Strahl I,, 431. Strahlige Grundformen I, 547. Strophogenesis II, 104, 108. Structurlehre I, 239, 241. Stufenleiter des Systems II, 400. Subcladus II, 400. Subclassis II, 400. Eegister. 461 Subcohors II , 400. Subtamilia II, 400. Subgomis II, 400. Sublegio II, 400. Subordination der Systemsgruppen II, 400. Subordo II, 400. Subphylum II, 400. Subsectio II, 400. Subspecies II, 400. Siibtribus II, 400. Subvarietas II, 400. Symmetrie - Gesetze der Krystalle I, 158. Symmetrische Gruüdformen 1 , 547. Sympathische Farbeuwahl II , 241. Synthese I, 74. Sy.stematik I, 31. Systematische Vervollliommnurig II, 265. System der Fortpflanzungsarten II, 70, 71. — der Grundformen 1 , 400. — der Kategorieen II, 400. — der Zeugungskreise II, 83. — des Monismus II, 441. Tabelle über die Grundformen I, 556. Tectologie 1 , 239 , 241. Tectologische Centralisation 1 , 370. — DifFerenzirung I, 370. — Thesen I, 364. — Vollkommenheit I, 372. Teleologie I, 94. Teleosis II, 257. Terminologie I, 397. Tetractinote Grundformen I, 469. Tetraeder 1 , 415. Tetraphragme Grundformen I, 489. Tetrapleure Grundformen I, 511. Theologie II, 440. Thiere I, 191. Thierkunde I, 234. Thierreich I, 209, 227. Thier - Stämme II, 408. Tocogonia II , 34. Transvolutio II, 78. Triactinote Grundformen I, 474. Triamphipleure Grundformen I, 505. Triassische Zeit II, 319. Tribus II, 400. Typus als Kategorie II , 386 , 400. — der Entwickelung II, 10. Uebung II, 208. Umbildung II, 78. Unglcielia.\ige Grundformen I, 405. Unterart II , 338 , 400. Unzweckmässigkeitslohre II, 266. Uranologie II, 440. Ursprung des Pflanzenreichs I, 198. — des Protistenreichs I, 202. — des Thierreichs I, 198. Urzellen I, 272. Urzeugung I , 174. Variatio individualis II , 202. — monstrosa II, 204. — sexualis II, 206. Variabilitas II, 191. Varietas , Varietät II , 338 , 400. Veränderlichkeit II, 191. Verblühzeit II, 322. Vererbung II, 170. Verevbungs - Gesetze II, 180. — Grad II , 175. — Ursachen II, 170. Vererbung und Anpassung II, 223. — und Fortpflanzung II, 171. Verkümmerte Individuen II , 268. Vervollkommnung II, 257. Verwandtschaft der Stämme II , 403. Vielaxige Grundformen I, 406. Vis plastica externa II, 224, 297. — interna II, 224, 297. Virtuelle Bionten I, 334. Vitalismus 1 , 94. Vorstellungen I, 234. Wachsthum I, 141. II, 73. Wasserähnliche Thiere II, 242. Wechselwirkung der drei Eeiche I, 230. — der Vererbung und Anpassung II, 223. Weibliche Geschlechtstheile II, 58. — Zuchtwahl II, 245. Werkstücke I, 289. Werktheile I, 290. Wettkampf ums Dasein II, 237. WiUe, Willensfreiheit I, 99. II, 234. " Zahlenreductions - Gesetz II, 259. Zellen I, 269, 275. Zellcnbildung und KrystaUbildung I, 159. 462 Register. Zellenstöcke I, 296, iZellfusionen I, 296. Zeilhaut I, 272, 281. Zellinhalt I, 285. Zellkern I, 272 , 278. Zellmembranen I, 272, 281. ZelLsaft I, '285. Zellstoff I, 272 , 275, 276. Zellsubstanz I, 276. Zeugiten I, 495. Zeugung II, 32. Zeugungs - Arten II, 32 • Zeugungs - Kreise II , 81 Zoologie I, 234, 238. Züchtung II, 226. Zuchtwahl II, 226 Druck von Fr. F r o m m a n n in Jena. Ta£I. II •I I Taf.E. Pteridopliyta (Filicinae) Phanerogamae ^^^(Anlhoiiliyta) StammlDaiini des Pflanzenreichs entworfen, und gezeidtnet von Ejiii'it Haeckal . Jena, JS6() Taf.m. mbaumder Coelenteraten er Acalep"h£n ( Zoophyten) tentworfm u. gezeichnet von, tFfaeckei. Jena, 1866 viae I Taf.W. i T Spliawogastres' Tetra - ■ pneiimoKi Dipiieu- mones . ScorpiodfV Masficantia I Colvo ,-plf.ra ' Hynu'no- pterrv Vaga- \bundae\) SedeitK lüda- I scoipi ' otltt Sugentia Ltpido' , ptcra Diplera Neuro- ' ptera. Phrynidoy YTaratitidam Pa/Uo- podti ( FycnO' gonidti j L4rctisca\ [(Tardi- griida) ]\!yriapo(la flxcudo' neuro- ptcra. Äugefiüa Toco- piera .asticaJütia {piplopoddx \0iilopod/v ISolifu^ae 1 \ \^ähgnaÜi!i^yiiil7iathiA Jn^^ta SoJptigida. Crustacea (Carides) GigailtOStraca \ (( Bradiy \ [jffacrura. ° ^ " uro, ^ ^ lAnom- urcv Edriopli thalma £iica= rida ^^^Mrnida Myriapoäa Protracheata Aimelida CKaetopoda] / Drilo; '""^^ Traleata / ii«^ J^^. nodaA Deca= I 1 Stoma = j poda \( topoda Scliizopoda ^ysida Podopl^ Y/ Tri 3IßlacostTaca lopepoda ^ ^ " jiosloina\\ jiepodiv^ ( Zoc^yma)i ] Uiae/O'l cöpO' Xpodo/ Halo' f scolcdict lida Oligo- Eliynckel= miatlies toria ^elmintlies ]\f'r"if^J ■^gnatfw {/ I fAcanÜio-j Nc,nat~J // Scolecida Platyelmintlies 'NaneT' , itncu 'Rliabdo coela \jj/l07XV Ccsboa Ttea Wiswp/wmJ, \tSL Yg)-mes Tarl>cllaria /Ciliataj fAcitieta Jnfusoria Jitfusoria Bendro coela loda- Stammbaum der jArticidaten ( Jnfus orien ,W-iirraer und Arthropoden) rniwrir/iii und (jcrxicjuict von Ernst H((cbrnncliia\ {fjOJmdlihnui- iIiül) Spirohrcmchiä \Q)mdiwpodci)j usca Vprincs Tiirbcllaria'' Stammbaum dei Mollusken ( Molhiscoidoii wul ütocardu'ii) erUwor/en und qezddinet von Ernst Haeckel . Jena , IS6b. i i ilAcranialCydoslom Cambr =^ S Untecambr Laurent Antelaur Acranial Ave s ) Dicondylia Mammalia Taf. VJJI. \ZonQ^^^^ ^Deciduata ^ Discoplacentalia Cariiiii'ia 'Piiiuippdia )/ Cariiivor J riaitritfii } ) p.,/,;,,, \- ^ i^r^ ~ ^Simiae .s: Pitlieci \ \ Jnxo('liv()ra|lluroi)t(M'a)p]^l Calanliiuae Iii ,\,\/. ■ 1 \\ . / — — ^ ^ ' — ' Stammkuia derSäugethierei IIÜI JlllM^üVillMcS i\l(MlS('lUMl ! riilnvifrii und qm'idmel vow Ernst Hac(J