JOHANN CHRISTIAN REIL GEDENKREDE gehalten auf der 85. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in Wien am 26. September 1913 VON Dr. MAX NEUBUROER Tit. o. ö. Professor für Geschichte der Medizin an der k. k. Universität in Wien. Mit einem Bildnis und 11 Textabbildungen. 92 R£J STUTTGART VERLAG VON FERDINAND ENKE 1913 Verlag von FERDINAND ENKE in Stuttgart. Von demselben Herrn Verfasser sind ferner erschienen: hinhi IV/lorl *Tin. II. dei aki Vor Die historische tnfwickelung der experimentellen Gehirn- und Rückenmarksphysiologie vor Flourens. gr. 8®. 1897. Geheftet M. 10.— JOHANN CHRISTIAN REIL LV- V I r t r y j Reil-Büste von Max Lange. JOHANN CHRISTIAN REIL GEDENKREDE gehalten auf der 85. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in Wien am 26. September 1913 VON Dr. MAX ^EUBURGER Tit. o. ö. Professor für Geschichte der Medizin an der k. k. Universität in Wien. Mit einem Bildnis und 11 Textabbildungen. STUTTGART VERLAG VON FERDINAND ENKE 1913 ROYAL COLLEGE OF PHYStOIANa LIBRARY CLASS ACCN. 1 2-7^7« . SOURCE imce- DATE p- ) ■ "oS Druck der Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart. Herrn Geheimrat Professor Dr. KARL SUDHOFF Direktor des Instituts für Geschichte der Medizin an der Universität Leipzig zum 60. Geburtstage gewidmet. Die Versammlungen deutscher Naturforscher und Ärzte, mit ihrer weit zurückreichenden Geschichte, mit ihrer tiefwurzelnden Überlieferung bilden einen fruchtbaren Boden für historische Reflexionen, die aber inmitten der Flut aktuell-wissenschaftlicher Arbeit nur selten, nur bei ganz besonderen Anlässen zum lauten, öffentlichen Ausdruck gelangen können. Ein solcher Anlaß bietet sich der diesjährigen Versammlung in dem Um- stand, daß sie im Zeichen historischer Gedenktage stattfindet, im Zeichen der Zentenarfeier des Befreiungskrieges , welche allerorten im deutschen Sprachgebiet pietätvolles Interesse für die längst verrauschte Vergangenheit erweckt und der retrospektiven Betrachtung einen leuchtenden Zielpunkt vor Augen rückt. Mit dem patriotischen Fühlen verknüpft die Versammlung deutscher Naturforscher und Äjzte noch überdies die Erinnerung an die eigene Entstehung, die nicht durch bloßen Zufall im ersten Jahrzehnt nach der Völkerschlacht erfolgte, sondern in ursächlichem Zusammenhang mit der 1813 entfachten und noch lange nachzitternden Erregung steht. Waren es doch die großen Ereignisse der Zeit, unter deren Eindruck Oken den Ge- danken faßte, die Wissenschaft mit dem Leben der Nation in das allerengste Verhältnis zu bringen. Richten wir, eingedenk des Ursprungs unserer Vereinigung den Blick auf die denkwürdige Epoche, so fesselt uns im reichgestaltigen Bilde ganz besonders der edle Enthusiasmus der Vertreter und Jünger der Wissenschaft, welche nicht nur durch flammende Reden und Schriften, nicht nur in geheimen politischen Unternehmungen, sondern auch als freiwillige Kämpfer, auf blutiger Walstatt ihre Vaterlandsliebe betätigten. Den Ruhm der mutigen Wortführer und tapferen Mitstreiter, welche die vom Korsen so grimmig gehaßte und gefürchtete deutsche „Ideologie“ zum Siege führten, überliefert die dankbare Nachwelt von Geschlecht zu Geschlecht, hingegen ist ein anderes, stilleres, aber nicht minder bewunderswertes Helden- tum nahezu der Vergessenheit anheimgefallen — dasHeldentum der Ärzte im Befreiungskriege. Denn so muß das Wirken jener unerschrockenen Männer bezeichnet werden, die aus freien Stücken ihre Kunst in den Dienst des Mars stellten, sich opferfreudig den größten Strapazen unterwarfen und in den ent- setzlichen, der primitivsten hygienischen Anforderung hohnsprechenden Lazaretten einer Gefahr entgegengingen, welche, wie ein Zeitgenosse sagt, der von fünf Schlachten gleichkam. Dort, in den Brutstätten der Flecktyphus- 10 und Rulirepidemie, welcher viele Tausende der dem Schlachtfeld Entronnenen erlagen, fand auch ein erschreckend hoher Perzentsatz des ärztlichen Perso- nals, erschöpft durch Überanstrengung, der Ansteckung beständig ausgesetzt, den Tod. Unter den an der „Kriegspest“ verstorbenen Medizinern war mancher, der zu Hoffnungen berechtigte oder schon auf Leistungen hinweisen konnte. Ihnen allen, die mehr als ihre Berufspflicht erfüllt und ihre Vaterlandsliebe mit dem Opfer ihres Lebens besiegelt haben, gebührt ein treues Andenken. Aber kaum ließe sich ihr Gedächtnis von uns würdiger feiern, als dadurch, daß wir dem größten dieser auf dem Felde der Ehre gefallenen Ärzte Worte der Erinnerung widmen, dem Manne, dessen Haltung im Leben und dessen V irken für die Wissenschaft nicht allein den Besten seiner Zeit genügte, sondern getrost dem gerechten Urteil aller Kommenden entgegenzusehen vermag. Wir sprechen von Johann Christian Reil. Wenn vor hundert Jahren der Name Reil ertönte, da erschien vor dem Auge der Koetanen sofort das Idealbild des philosophischen, von Kant scher Sittenstrenge durchdrungenen Arztes, des rastlosen Forschers, des trefflichen akademischen Lehrers, da tauchte im Geiste der Fachgenossen eine Welt von scharfsinnigen Beobachtungen und genialen Gedanken auf, welche die Medizin in ihrer Totalität umfaßten. Jahrzehnte später war wohl der Zauber, den die Persönlichkeit auf Kranke, auf Jünger und Gleichstrebende ausgeübt hatte, erloschen, aber noch immer bedeutete der Name Reil den Epigonen eine Summe von glänzenden Forschungsergebnissen auf einigen Spezialgebieten der Medizin, einen sichern Ausgangspunkt für die Weiterarbeit, wobei sich freilich mit der Bewunderung der positiven Leistungen des großen Denkers das Bedauern mischte, daß er in der letzten Periode seines Lebens in die Netze der Naturphilosophie geraten war. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wird der früher so viel zitierte Autor nur noch selten in der Fachliteratur erwähnt, und abgesehen von jenen, welche sich mit der Geschichte der Biologie und Medizin beschäftigen, ist heute den meisten kaum mehr als sein Name be- kannt — der kümmerliche Rest des einst so hohen Ansehens, welcher nur noch durch die Nomenklatur der Gehirnanatomie festgehalten wird. Daß Reils Ruhm im Laufe eines Jahrhunderts dahinwelkte, ist leicht zu verstehen. Überdauert doch die Erinnerung an das Wirken eines noch so gefeierten Arztes und klinischen Lehrers nicht allzulange seine Patienten, seine Schüler und Enkelschüler, und auch der Forscher kann bloß dann mit Sicherheit auf eine wirklich lebendige Fortdauer im allgemeinen Bewußtsein zählen, wenn er ein Vollender, nicht aber, wenn er selbst bei relativ größerer Geistestat nur ein Bahnbrecher gewesen ist. Das eben war Reil der Haupt- sache nach, ein Künder der neuen Ära des medizinischen Fortschritts, einer, der wohl den Weg wies, auch ein Stück desselben zurücklegte, abei schließ- 11 Hell die Erreicliiiiig des Ziels andern überlassen mußte, mangels günstiger Zeit- umstände, mangels des nötigen Erfahrungsmaterials. Sem W esen läßt manchen Zug erkennen, der die „Romantiker unter den Eorschern kennzeichnet, die Vielseitigkeit, den reforniatorischen Eifer, das unablässige, faustische Streben nach höherer Selbstentwicklung, die Abneigung gegen jeglichen Dogmatismus. Solche Männer streuen in verschwenderischer Fülle Keim- ideen, welche nur allzubald Gemeingut werden, sie scheuen nicht davor zurück, auch Halbfertiges an die Öffentlichkeit zu bringen, sie vermögen, selbst wenn sie viele Jünger haben, keine eigentliche Schule zu stiften, ihre geistige Per- sönlichkeit löst sich im allgemeinen Werdeprozeß der Wissenschaft auf. All dies trifft bei Reil zu. Gründe genug, daß sein Andenken mehr und mehr erlosch — Gründe aber auch, sein Andenken wieder zu erneuern. Nicht nur aus Pietät für den Heldenarzt des Befreiungskrieges, nicht nur aus Anlaß des bevorstehenden 100. Todestages soll dies geschehen, sondern auch deshalb, um ein historisches Recht geltend zu machen, um zu zeigen, wie sehr Reils wissenschaftliche Bedeutung bis in die Gegenwart hineinreicht, wie sehr er sich in gewissen Anschauungen mit uns berührt, wie beachtenswert seine Stellung selbst zu aktuellen Fragen des Tages ist. Sein Leben und Schaffen würdig zu schildern und entsprechend zu werten, übersteigt weitaus meine Kräfte. Wenn ich mich dennoch an die Aufgabe heranwage, so kann ich dies nur damit rechtfertigen, daß hier auch das Un- zulängliche ausreicht, weil die Größe der Sache für sich selbst spricht. Johann Christian Reil wurde am 20. Februar 1759 geboren; seine Wiege stand im Pfarrhause zu Rhaude, einem Dorfe Ostfrieslands. Abstammung und Heimat, Herkunft und Erziehung wirkten als günstige Faktoren harmonisch zusammen. Alle äußern und Innern Vorzüge, welche den kerndeutschen Friesenstamm zieren, gingen auf den Sprößling über^). Schon als Knabe zeigte er Talent und in manchen Episoden verriet sich ein starker Natursinn. Die Gymnasialstudien legte er in der Stadt Norden zurück. Nach dem Wunsche des Vaters sollte er Theologe werden, doch die früh er- wachte, tiefe Neigung zum Studium der Heilkunde gab schließlich den Aus- schlag, ihn einer andern Laufbahn zuzuführen. Die vom Abiturienten öffent- lich gehaltene, in Alexandrinern abgefaßte Abschiedsrede gipfelte in einem „Lob der Medizin“. Zunächst bezog Reil die Universität Göttingen, aber der zu jener Zeit dort herrschende starre Dogmatismus sagte seiner Geistesart auf die Dauer nicht zu, weshalb er sich zur Fortsetzung der medizinischen Studien nach Halle begab, wo er reiche Anregung fand. Namentlich waren es Ph. Fried r. Theod. Meckel und Goldhagen“), denen er eine ausge- zeichnete anatomische bzw. klinische Ausbildung verdankte. Zu dem letzt- genannten trat er geradezu in ein inniges Freundschaftsverhältnis. 1782 wurde er zum Doktor der Medizin und Chirurgie promoviert; die ohne Präses ver- teidigte Dissertation handelte über ein damals vielerörtertes Thema, über die 12 „Gallsiicht . A\ ie die erweiterte Ausgabe®) und die Fortsetzung dieser Inauguralschrift beweisen arbeitete Reil an seiner wissenschaftlichen Ver- vollkommnung stetig weiter. In der Folge ließ er sich für einige Jahre in Ostfriesland alö Arzt nieder, ohne aber in der Praxis gänzlich aufzugehen. 178 ^ kehrte er nach Halle wieder zurück, wohin er als Extraordinarius auf Veranlassung Goldhagens berufen worden war. Als dieser schon ein Jahr darauf starb®), wurde Reil die ordentliche Professur der Medizin und die Leitung des klinischen Instituts übertragen, zu welchen Agenden sich 1789 noch das Stadtphysikat gesellte. Reils Tätigkeit in Halle, das ihm zur zweiten Heimat ward, erstreckte sich über 23 Jahre und bildet die Haupt- epoche seines Lebens, denn wenn er auch 1810 an die neugegründete Uni- versität Berlin ging, somit in einen größeren Wirkungskreis eintrat, so war doch das dort Vollbrachte teils bloß eine Nachlese, teils bloß ein Anfang, dem ein allzu früher Tod die Fortführung versagt hat. Wir besitzen aus der Feder eines Zeitgenossen, des Naturphilosophen Steffens', der in Halle jahre- lang neben Reil doziert hatte, eine liebevoll eingehende Würdigung seiner Persönlichkeit und seines vielseitigen Schaffens und müssen diesem Biographen, welcher bei der Ai'beit vom Schatten des Freundes noch umschwebt war, in manchen Einzelheiten folgen ®). Aber als Nichtfachmann verzichtete er darauf, den ärztlichen Denker, den Kliniker zu schildern, in der Annahme, daß einer der bedeutenden Schüler Reils dessen Verdienste um die Medizin entwickeln werde, was auffallenderweise nicht geschehen ist. Und doch haben wir gerade Von der klinischen Tätigkeit zunächst auszugehen , denn diese führte ihn allmählich auf die verschiedensten Forschungswege, die er vor- zugsweise als Arzt, in der Absicht, die Heilkunde zu erweitern und zu ver- tiefen, beschritt. In Halle reichten die Anfänge eines geregelten praktisch-medizinischen Unterrichts bis in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts (J uncker) zurück, doch erst Goldhagens Bemühungen war es zu danken, daß die Friedrichs- Universität eine eigene klinische oder richtiger poliklinische Lehranstalt erhielt, welche unter Reils Direktion einen raschen Aufschwung nahm*). Es herrschte damals die Sitte, daß die Vorstände solcher Institute alljährlich oder in größeren Intervallen durch Veröffentlichung von Krankengeschichten und daran geknüpften Erörterungen eine Art von Rechenschaftsbericht er- statteten, der über die Auffassungsgabe und die praktische Tüchtigkeit des betreffenden Klinikers an der Hand konkreter Fälle die beste Oi ientierung gewinnen läßt. So zeigen uns denn auch die vier Faszikel der „M e m o r a- b i 1 i a c 1 i n i c a“ 8), welche in den Jahren 1790—1795 von der Hallischen Klinik ausgingen, Reil mitten in seiner vielverzweigten Wirksamkeit. Es finden sich in diesen Memorabilien nicht wenige überraschend gute Beobach- tungen, welche auch heute noch von Wert sind, Sektionsbefunde mit Epikrise, Abhandlungen über einzelne Streitfragen der damaligen Pathologie, phar- 13 makodynamische Tierexperimente, therapeutische Vorschriften, die überall auf sorgsamer Prüfung und Sichtung der Arzneimittel beruhen. Wir sehen Reil vor uns als feinsinnigen Beobachter am Krankenbett, als Diagnostiker, als medizinischen und chirurgischen Therapeuten, als pathologischen Anatomen und Experimentator — last not least als Denker, der auch scheinbar geringfügigen Fakten die ihnen innewohnende allgemeine Bedeutung zu entnehmen versteht. Reil nach einem Ölgemälde von Tischbein. Was in den „Klinischen Denkwürdigkeiten“ auf den Kenner der damaligen medizinischen Literatur so anziehend wirkt, ist die präzise, streng sachliche Darstellung, die Methode der Beobachtung, die Unbefangenheit des Urteils die Kühnheit der Kritik, welche überall das Wehen eines neuen Zeitgeists spuren laßt. Reil setzt nicht wie die andern Autoren seinen Ehrgeiz darin, möglichst viele Krankheitsgeschichten in den traditionellen Kategorien unter- ;^ubringen, sondern er teilt nur solche Fälle mit, die an den klinischen Scharf- sinn Anforderungen stellen, er führt nicht bloß die Symptome möglichst voll- ständig an, sondern er sucht die wesentlichen herauszulinden, es befriedigt ihn 14 nicht, in herkömmlicher Weise die Krankheiten von supponierten Säfte- misclmngen abzuleiten, sondern er bestrebt sich, den anatomischen Sitz, die physiologische Grundlage der Funktionsstörungen, den Zusammenhang der krankhaften Vorgänge zu ergründen; der Sektionsbefund dient ihm wirklich dazu, neue Aufschlüsse zu erhalten, nicht zum bloßen Anhängsel der klinischen Beschreibung, die von Einzelfakten ausgehende Eeflexion wird ihm zum Quell medizinischer Erkenntnisse. Bei dem noch wenig entwickelten Zustand der Hilfswissenschaften konnte das Angestrebte freilich nur selten zur Gänze verwirklicht werden, aber schon der Versuch dazu wirkte fördernder auf den Fortschritt als die mechanische Ansammlung eines noch so reichen, aber un- kritischen Beobachtungsmaterials auf dem Boden erstarrter Denkgewohn- heiten. In diesem Sinne hatte Beil nicht unrecht, wenn er später einmal ausruft; „Sollte der große Haufe der Ärzte nicht schon zu viel beobachten und zu wenig denken?“ Auch Reil war aus dem medizinischen Historismus herausgewachsen, wie seine Dissertation beweist, und man kann in den Memo- rabilien deutlich verfolgen, wie er sich anfangs zögernd, mit wachsender Er- fahrung immer kühner von den Fesseln der Schuldogmen loslöst, wie er zuerst den Gastrizismus überwindet sodann von der Humoralpathologie über- haupt abfällt und schließlich den funktionellen Anomalien der festen Körperteile die Hauptrolle bei der Entstehung der Krankheiten zu- schreibt. Nicht als ungestümer Revolutionär stürmt er blindlings vorwärts, sondern als besonnen aufbauender Reformator bereitet er die Umwandlung der Medizin aus einer konjekturalen Kunst in eine Wissenschaft vor und betrachtet es als erste Aufgabe, das Feld von dem seit Jahrhunderten über- wuchernden Unkraut haltloser, unklarer Begriffe zu säubern. So bekämpft er die uralte Lehre von der Kochung der Säfte und betrachtet die Krise als stürmische Reaktion der organischen Kräfte, bei der die vor- kommenden Ausscheidungen nicht die Ursache, sondern nur eine, nicht un- umgänglich nötige Folgeerscheinung bilden , so leugnet er die Meta- stasen „im Sinne der Alten, namentlich die Milch Versetzungen“!^) usw. Ganz modern mutet es an, wenn er zwar die Naturheilung zu- gibt, aber ebenso entschieden die Existenz einer eigenen, zweckmäßig im Interesse des Individuums handelnde Naturheilkraft in Abrede stellt. Als erfahrener Arzt weist er auf viele Beispiele hin, aus denen hervorgeht, daß die natürlichen Reaktionsvorgänge nicht unter allenU in ständen nützlich, bisweilen sogar verderblich wirken, weshalb er nur einen mechanisch bedingten Ablauf dieser Prozesse anerkennt , aus dem aller- dings häufig, aber bloß akzidentell die Heilung resultiert !=*). Es sind dies ziini Teil Gedanken, welche gewöhnlich als Errungenschaft einer vorge- rückteren Epoche angesehen werden. Wir verweilten länger bei Reils Memorabilien, weil man dort auf die ersten Ansätze einiger seiner Grund- 15 anscliauuiigGii stößt, doch übergehen wir die darin entwickelte Fieberlehre, da sie den Inhalt seines später zu erwähnenden Hauptwerkes ausmacht. Um einen vollen Einblick in die mannigfach verzweigte klinische Tätigkeit E e i 1 s zu erhalten, müßten auch die zahlreichen unter seiner Ägide ausgearbeiteten Dissertationen berücksichtigt werden, welche den kritischen Geist und die ordnende Hand des Meisters auf fast allen Gebieten der Heilkunde erkennen lassen. Verhältnismäßig viele beziehen sich auf chirurgische Leiden, Instru- mentenlehre 1^) und Operationsmethoden, auf die Augenheilkunde, einige sogar auf Geburtshilfe und Gynäkologie — Reil war nicht allein Internist, sondern übte auch chirurgische, mit besonderer Vorliebe augen- ärztliche Praxis aus, er vereinte in seltener Weise Genialität des Denkens mit manueller Geschicklichkeit. Eine der medizinischen Disser- tationen ist von besonderer historischer Bedeutung, denn sie erbringt den Beweis, daß Reil, allen Fortschritten zugewandt , schon sehr frühzeitig die Erfindung Auenbruggers, die Perkussion, wenigstens einigermaßen ihrem Werte nach erkannt und verständnisvoll angewendet hat So sehr aber die Beobachtung am Krankenbette sein Interesse beständig fesselte, ja den eigentlichen Mittelpunkt seiner Wirkungssphäre bildete, war es Reil, im Gegensatz zu den Hippokratikern alten Stils, doch schon früh klar geworden, daß die Klinik unvermeidlich einer trostlosen Stagnation an- heimfallen muß, wenn ihr nicht stetig neue Triebkräfte aus der Naturforschung Zuströmen, wenn sie sich nicht, bei aller Wahrung ihrer Souveränität, die Ergebnisse der Hilfswissenschaften assimiliert. Noch lastete über weiten Kreisen das hemmende Vorurteil, daß sich der medizinische Forscher aus- schließlich mit dem beschäftigen solle, was unmittelbar der ärztlichen Kunst dient, und nur eine verschwindende Minderzahl ahnte, daß oft gerade rein theoretische, scheinbar ganz fernliegende Untersuchungen mit der Zeit die lohnendsten Früchte für die Praxis tragen. Zu dieser Minder- zahl gehörte Reil. Von den Hilf swissenschaften zeigte die Anatomie zwar einen relativ hohen Grad der Entwicklung, aber auch sie wies noch Lücken genug auf, namentlich soweit die Struktur der Gewebe in Betracht kam. Zwei Gebiete lockten vor- züglich die Forscherlust Reils, die feinere Anatomie des Auges und des Nervensystems — eine Wahl, zu der ihn seine okulistische Tätigkeit und seine eifrige Beschäftigung mit den rätselvollen Erscheinungen der Nervenaff ek- tionen bestimmten, welch letztere seine Aufmerksamkeit Stets aufs neue in Anspruch nahmen. Was das Auge anlangt, so studierte er zunächst den Bau der Linse, wies in zahlreichen Untersuchungen mittels chemischer Prä- paration den strahlenförmigen Verlauf der (für muskulös gehaltenen) Fasern nach und suchte die Akkommodations Vorgänge teils aus der Formveränderung der Linse durch Zug des Lig. ciliare (im Anschluß an Young), teils aus der stärkeren oder schwächeren Hornhautwölbung zu 16 — erklären iß). Eine zweite wichtige Leistung war es, daß er durch seine Nach- prüfungen die Existenz der Macula lutea sowie der (sich nach dem Tode bildenden) Falte im Umkreis des gelben Fleckens außer Frage stellte und davon die erste Abbildung lieferte i"). Weniger erfolgreich konnte der Versuch ausfallen, mit den damaligen primitiven Hilfsmitteln den Bau der Nervenfasern zu ergründen. Immerhin kam Reil auf dem zu seiner Zeit noch so wenig begangenen AVege weiter und konnte einige grobe Irr- tümer der früheren widerlegen. Die von ihm geübte methodische An- wendung chemischer Reagenzien zumNachweis der Struktur- verhältnisse — ein Verfahren, das er sehr bald auch auf die Gehirnunter- suchung auszudehnen begann, bedeutete einen bahnbrechenden Fortschritt. Es ist begreiflich, daß das 1796 erschienene Prachtwerk „De structura n e r V o r u m“ mit seinen drei Kupfertafeln bei den Zeitgenossen großes Aufsehen machte, und auch wir finden darin noch manches Bemerkens- werte, so namentlich Reils Theorie der Nervenfunktion. Nach energischer Ablehnung anderer Vorstellungen entwickelt er nämlich die Ansicht, daß die Blutzufuhr im Nervenmark einen aus Komposition und Dekomposition bestehenden chemischen Prozeß unterhalte, welcher der Nerventätigkeit zugrunde liege und dessen abnormer Verlauf in Nervenkrankheiten voraus- zusetzen sei. Bezüglich der Funktion der Nerven lehrt er, daß sie nicht bloß Empfindung und Bewegung vermitteln, sondern auch auf die chemischen Vorgänge im Organismus, auf die Absonderung, Ernährung und AA^ärme- produktion Einfluß nehmen. Vorzugsweise aus anatomischen Erwägungen glaubte er den Schluß ziehen zu dürfen, daß die Nerven an ihren äußersten Endigungen von einem „reizbaren AVirkungskreis“ umgeben seien, vermöge dessen sie an die angrenzenden Partien auch ohne direkte Inner- vation Motilität oder Sensibilität übertragen können i®). Wie man sieht, ist schon in diesen Arbeiten das Anatomische stets mit Betrachtungen über die Funktion verwebt, außerdem beschäftigte sich aber Reil zu gleicher Zeit auch intensiv mit rein physiologischen Studien, für welche neben gewissen Problemen der Krankheitslehre die naturwissen- schaftlichen Entdeckungen der Epoche und ganz besonders seine eigenen, tiefbohrenden philosophischen Meditationen das Leitmotiv gaben. Auf die physiologische Richtung Reils übten damals, wie er selbst hervorhebt, zwei Amtsgenossen in Halle bedeutenden Einfluß, der Physiker und Chemiker G r e n und der Kantianer Jakob, ein Hauptvertreter der Erfahrungsseelen- lehre; dem regen Verkehr mit beiden verdankte Reil so manche wichtige Erkenntnis, doch eignete er sich nichts an, ohne das Gebotene nachzuprüfen und selbsttätig umzuschaffen. Ein schönes Zeugnis für seine kritische Be- fähigung liefert schon die erste der hier in Betracht kommenden Publikationen, ein 1792 an G r e n gerichteter offener Briefe®), worin er über galvanische V ersuche mannigfachster Modifikation berichtet, abei zusammenfassend 17 erklärt, daß die beobachteten Erscheinungen wohl die große Empfindlichkeit der Muskeln für den elektrischen Reiz beweisen, doch über den vitalen Vorgang keinen Aufschluß bringen. Drei weitere, 1794 in Form von Dissertationen veröffentlichte Arbeiten bilden eine Gruppe und behandeln das Gemein- gefühl, die Sinnesempfindung und das Organ der Seele. Reil war der erste, der den Begriff „G e m e i n g e f ü h 1“ in die Wissen- schaft eingeführt und eine weitgehende Analyse desselben vorgenommen hat, wobei er zu Ergebnissen kam, die zum großen Teil noch heute gelten und bis jetzt in der Hauptsache wenig überholt sind. Es steckt eine Fülle feiner Beobachtungen in der Arbeit über die Organempfindung, und besondere Erwähnung verdient es, daß darin das W esen der Hypochondrie, Hysterie und mancher Psychosen von der Erkrankung des Gemeingefühls ab- geleitet wird, ein Gedanke, der später von der Psychiatrie aufgenommen worden ist. Auch darin eilte Reil seinerzeit weit voraus, daß er auf die diagnostische Bedeutung des Schmerzes hinwies. Die Abhandlungen über die Sinnesempfin- dung und das Seelenorgan sind freilich von der Warte moderner Wissen- schaft betrachtet, mehr psychologisch-beschreibenden als physiologisch-er- klärenden Inhalts, wie es bei dem damaligen Zustand der Anatomie der Sinnesorgane und des Gehirns, bei der mangelnden Kenntnis neurologischer Grundgesetze, bei der Spärlichkeit experimenteller Tatsachen nicht anders erwartet werden kann, aber wenn man den historischen Standpunkt einnimmt, so ergibt sich, daß Reil weit klarer als die übrigen Autoren den Gegenstand ins Auge faßt und, trotzdem er nur aus rationeller Empirie und Innenschau schöpft, dem wahren Sachverhalt nicht selten nahekommt. So führt er die Eigenart der sensoriellen Funktionen auf den Bau der Sinnesorgane zurück, und weist auf die exzentrische Erscheinung hin, so schwebt ihm die Tatsache der spezifischen Sinnesenergie bereits vor, so unternimmt er es in zutrefiender Weise, gewisse Sinnestäuschungen zu erklären und die Faktoren zu bestimmen, von denen die Intensität der Empfindung abhängt. Das Prinzip der Assoziation überträgt er mit Erfolg von den Ideen auf die Be- wegungen, auch gelingt es ihm, den Einfluß der Übung klarer zu machen. Das Gehirn, dessen Funktionen er unpräjudizi erlich als Hirntaten, „cephal- erga“ bezeichnet, gilt ihm nicht bloß als Sitz des Geisteslebens, der Motilität und Sensibilität, sondern auch als oberster Regulator aller animalisch- vegetativen Prozesse. Überall holt er Argumente vom Krankenbett, überall zieht er Folgerungen für die Theorie und die Behandlung der Krankheiten, namentlich der psychischen, denen er eine ganze Reihe von Kapiteln widmet. Dabei durchzieht die Arbeiten wie ein roter Faden das Bestreben, die sen- soriellen und zerebralen Funktionen aus allgemeinen biologischen Prinzipien, aus den Gesetzen der „Reizbarkeit“ abzuleiten Die Reizbarkeit faßte Reil nicht im engbegrenzten Sinne Hallers auf, sondern ähnlich wie Glisson, als Hauptmanifestation des Lebens, Neuburger, Johann Christiaji Reil. 2 18 als Grundeigenscliaft der organischen Substanz, in der alle physiologischen und pathologischen Phänomene wurzeln. Jedem einzelnen Organe komme eine „spezifische Reizbarkeit“ zu, vermöge welcher es eigentüm- licher Reize bedarf, zu besonderen Leistungen befähigt ist und eine be- sondere Krankheitsanlage besitzt. Auf Veränderungen der Reizbarkeit mit ihren weitreichenden Konsequenzen beruhe eine Menge krankhafter Er- scheinungen. Diese Ideen führte Reil 1793 in der Inauguralschrift Gautiers. De irritabilitatis notione, natura et morbis bis in die feinsten Details durch Aber der bloß dynamische Begriff ge- nügte ihm nicht auf die Dauer, er schürfte tiefer und tiefer, er wollte er- gründen, worin die Reizbarkeit, worin das Leben selbst bestehe. Er war von speziellen Krankheitsproblemen ausgegangen und endlich zum Zentral- problem der Wissenschaft gekommen, aus dem Arzt hatte sich m steigender Entwicklung der Lebensforscher herausgebildet. Was ist Leben? Diese Frage aller Fragen, so alt wie die denkende Mensch- heit und heute so unbeantwortet wie einstens, zeitweise zum Schweigen gebracht durch Scheinlösungen, Halbwahrheiten oder dumpfe Resignation und doch immer wieder aufs neue aufgeworfen, sie wird besonders akut, wenn große Entdeckungen die Naturkenntnis erweitert haben, wenn die gesamte Naturauffassung zu gären beginnt. Eine solche Epoche brach in den letzten Dezennien des 18. Jahrhunderts heran, und wohl niemals zuvor entbrannte der Kampf zwischen Vitalismus und Mechanismus mit ähnlicher Leidenschaft, waren die Gegensätze beider Anschauungsweisen derart zugespitzt. In der an der Frage am meisten interessierten Wissenschaft, in der Medizin, hatte sich um die Mitte des Jahr- hunderts der Vitalismus als Reaktion gegen die rohe latrophysik und latro- chemie zur Herrschaft emporgerungen, vorbereitet durch Stahls Animismus und Hoffman ns teilweise dynamisches System, gestützt durch Hallers Nachweis biologischer Grundphänomene, der Irritabilität und Sensibilität. In mannigfacher Schattierung war in der Folge bald die „Irritabilität“, bald die „Sensibilität“, bald eine beiden übergeordnete „Nervenkraft“ zum Träger der Lebensvorgänge gemacht worden, während andere sich damit begnügten, einfach ein „Lebensprinzip“, ohne nähere qualitative Bestimmung, als unbekannte Ursache der mechanisch nicht erklärbaren Erscheinungen anzunehmen. Deutsche Ärzte gingen endlich so weit, eine zweckmäßig han- delnde, über die gewöhnlichen Naturgesetze erhabene „Lebenskraft“ aufzu- stellen, und im Sinne dieser transzendenten Potenz die gesamte Physiologie und Pathologie einer Neiibearbeitung zu unterziehen. Als aber die Chemie seit der Entdeckung des Sauerstoffs ungeahnte Fortschritte machte, die Oxydation im Organismus aufdeckte und auch organische Stoffe mit Erfolg der Analyse unterwarf, als die Entdeckung des Galvanismus eine ganz eigene Art von Naturvorgängen kennen lehrte, da lohte am Ausgang des Jahrhunderts l'J der Streit um, das Lebeiisprobleiu von neuem auf und schied die ärzt- liche Welt in zwei Lager. Die einen wähnten in maßlcser Überschätzung das Geheimnis schon völlig enthüllt, sie nahmen bestimmte chemische Stoffe als Quelle des Lebensprozesses in Anspruch oder identifizierten kurzweg die Lebenserscheinungen mit den elektrischen. Die anderen hingegen, welche das zu ihrer Zeit Erreichte schon für das Erreichbare aller Zeiten nahmen, warfen sich gerade im Hinblick auf die Unzulänglichkeit der mechanistischen JErklärungsversuche nunmehr ganz in die Arme eines mystischen Vitalismus und schvmren zu einer Lebenskraft, die allein den Körper vor der Zer- störung durch die physikalisch-chemischen Kräfte zu bewahren vermöge. In dieser Phase des Kampfes betrat Reil die Arena, nicht im Furor des blinden Enthusiasmus für das Neue, nicht zum Schutze altehrwürdiger Vorurteile, sondern als unbefangener Wahrheitssucher, ausgerüstet mit philosophischer Kritik, mit gereifter medizinischer Erfahrung und mit reichen naturvdssenschaftlichen Kenntnissen. Seine 1795 vollendete Abhandlung „Von der Lebenskraft“ hat mit ähnlichen Schriften nichts gemein als den Titel, denn sie erfüllte den alten Begriff mit einem ganz andersartigen Inhalt. Sie bedeutete eine geistesbefreiende, wissenschaftliche Großtat, sie war ein Meisterstück; ja man darf kühn behaupten, das Beste, was seither über das Lebensproblem geschrieben worden ist, liegt in der Verlängerungs- linie dieser mustergültigen Arbeit. Der Verfasser der Abhandlung von der Lebenskraft war nichts weniger als Materialist, sondern Anhänger einer Welt- anschauung, die sich auf Kant stützte. Gerade aber der philo- sophische Kritizismus wurde ihm zum soliden Fundament für die Realforschung. Materie ist für Reil der Inbegriff von Erscheinungen, welche von den Sinnen als Ob]ekt im Raume wahrgenommen werden. Vorstellungen bilden eine von den materiellen spezifisch ganz verschiedene Klasse von Phänomenen. Kraft ist ihm bloß ein subjektiver Begriff zum Ausdruck des Verhältnisses, welches zwischen Ursache und Wirkung, zwischen den Eigenschaften der Materie und den von ihnen erzeugten Erscheinungen besteht ; um Mißdeutungen vorzubeugen, meint er, wäre es am besten, nicht von Kräften, sondern nur von Eigenschaften der Materie zu sprechen. Bei der Analyse der Erschei- nungen der Körperwelt treffen wir schließlich immer auf verschiedenartige chemische Elemente und verschiedenartige Verbindungen derselben, ferner auf eine bestimmte Struktur, die eben durch die chemische Konstitution be- dingt sei ; kurz gesagt , wir stoßen zuletzt stets auf Mischung und Form als einfachste Erscheinung des Körperlichen. Da wir eine Änderung der chemischen Konstitution und der Struktur in allen Fällen auch von einer Änderung der Erscheinungen gefolgt sehen, so müssen wir notwendiger- weise als letzten uns erkennbaren Grund derselben die Mischung und Form der Materie annehmen. 20 Die Phänomene belebter Körper haben entweder in der Materie oder in Vorstellungen ihren Ursprung; die meisten gehören dem Gebiete des Räum- lichen an, und die empirische Physiologie darf die Erscheinungen des tierischen Körpers nur dann von Vorstellungen ableiten, wenn die Erfahrung dazu berechtigt. „I ch w e r d e,“ sagt Reil,„denGrundallerErschei- nungen tierischer Körper, die nicht Vorstellungen sind oder nicht mit Vorstellungen als Ursache oder Wirkung in Verbindung stehen, in der tierischen Ma- terie, in der ursprünglichen Verschiedenheit ihrer Grundstoffe und in der Mischung und Form derselben suchen. Es ist also nicht eine übersinnliche Kraft, sondern die organische Materie selbst, der nach Reil das Vermögen zukommt, mittels ihres Che- mismus und ihrer besonderen Struktur Verhältnisse die eigentümlichen vitalen Erscheinungen hervorzubringen. An die organische Materie als „Lebens- stoff“ ist unzertrennlich auch die „Lebenskraft“ geknüpft. Mit Geschick verwendet Reil die Ergebnisse der zeitgenössischen Forschung zur Verteidigung dieser These und zur Widerlegung der Gegen- argumente des psychischen und dynamischen Vitalismus, um sodann im Sinne der neugewonnenen Lebenstheorie die Reizbarkeit und ihre Gesetze, die Tätigkeit der Organe und ihre Verkettung, endlich das Wesen krank- hafter Störungen aufzuhellen. Von seinen allgemeinen Erörterungen sei einiges wenige mitgeteilt. Reil betont, daß man sich von dem Wirkungs- vermögen der Materie in der Regel ein Bild mache, welches lediglich die Erscheinungen der toten Natur in Betracht ziehe, wobei man nicht einmal diese zur Gänze kenne. Schon aus den Phänomenen der anorganischen Welt lasse sich schließen, daß die Materie in nicht zu berechnendem Grade der Veredlung und damit einer immer höheren Energieentfaltung fähig sei. So wenig man für die Erscheinungen der Schwere, Kohärenz usw. außer und über der Materie stehende Potenzen in Anspruch nehme, sei dies für die vitalen Vorgänge vom Standpunkt einer Erfahrungswissenschaft berechtigt; der Urgrund der Erscheinungen bleibe immer unfaßbar, mag es sich um die organische oder anorganische Natur handeln. Daß man in der toten Natur nicht die Erscheinungen der belebten wahrnehme, erkläre sich eben daraus, daß die organische Materie infolge der außerordentlichen Mannig- faltigkeit der Verbindungen und der Veränderlichkeit ihrer Gemenge andere Eigenschaften besitze, wozu die Wirkungen des Lichts, der Wärme, Elektrizität und gewisser noch unbekannter „feiner Stoffe“ hinzu- kommen. Nicht in einem einzelnen dieser Stoffe, sondern in der ganzen, so reich zusammengesetzten Materie liege der Grund des Lebens. Außer der chemischen Konstitution sei es die wunderbare plastische Fähigkeit, welche den Vorrang der lebenden Natur gegenüber der toten begründe und sich nicht allein in der Vielfältigkeit des Baues, 21 sondern überdies auch in der maschinellen Struktur der kleinsten Körper- teile dartue. Individuelle Formbildung fehle allerdings, wie die Kristalle zeigen, keineswegs gcänzlich der anorganischen Welt. Warum die Salze in symmetrischen Gestalten anschießen, sei uns im Urgrund ebenso unbe- greiflich als warum die organische Materie irreguhäre aber zweckmäßige Formen hervorbringe; in beiden Fällen handle es sich um Erscheinungen, die aus der Eigenart der Materie selbst entspringen. In dem eigentümlichen Bildungs- vermögen der organischen Materie wurzle die Ernährung, das W^achstum, die Reproduktion und Zeugung. Wie das Anorganische bedürfe auch das Organische der Stoffzufuhr von außen, und das ganze Werk des Ansatzes sei ein chemischer Prozeß, der auf den Gesetzen der Verwandtschaft und der Wahlanziehung beruhe. Da der Ansatz eben dort stattfinde, wo er gerade nötig ist, entständen zweckmäßige Formen und man könne vergleichsweise von einer tierischen „Kristallisation“ sprechen. Außer einem ge- eigneten Stoff erfordere der Ansatz auch einen „S t o c k“, einen „Kern“ zum Anschießen, und zwar müsse es ein Bestandteil des organischen AVesens sein, der die assimilatorische Energie entwickle. Bei der Kristalli- sation der Salze finden sich übrigens überraschende Analogien hiezu. Da- durch, daß sich vom Individuum ein „nucleus“ loslöst, der die Anziehung fremder Materie bewirkt — der Vorgang der Lostrennung ist im Reich des Organischen mehr oder minder verwickelt — werde die Zeugung vermittelt, die Fortdauer der Gattung gesichert. Der Organisinus sei gleichsam eine Republik, die aus Teilen besteht, von denen jeder zur Erhaltung des Ganzen beitrage, von denen jeder aber, bis zur Faser herab, vermöge der spezifischen Mischung und Form eigenes Leben besitze (Vita propria). „Lebenskraft“ sei nicht eine einheitliche Grundkraft, sondern nichts als der Inbegriff der physi- kalisch-chemischen Kräfte der organischen Materie, durch deren Eigenheit und Verbindung die Lebenserscheinungen zustande kommen. Von einer Unterordnung der physikalisch-chemischen Kräfte im Organismus unter die Lebenskraft, von einer Aufhebung der Gesetze der Wahlanziehung durch sie könne keine Rede sein. In der Natur gebe es keine Herrschaft und Subordination, keine Aufhebung von Gesetzen, sondern bloß Körper, die ihre Erscheinungen, nach Maßgabe ihrer Materie hervorbringen; ändern sich die Bedingungen, so werden die Gesetze nicht in der Natur, sondern in unserem Verstände aufgehoben Es bedarf keiner Darlegung, daß Reils Hauptgedanken in der Litera- tur immer wiedergekehrt sind, und daß man in der prinzipiellen Auffassung kaum über ihn hinausgekommen ist. Nur eines möge gesagt sein, Reil überragt durch seine rein phänomenologische Betrachtungsweise, durch seine Denkmethodik, welche sich der Grenzen unserer Erkenntnis stets bewußt ist, so manchen der Späteren! Die Beweisführung in den Einzelheiten mußte 22 freilich im Laufe eines Jahrhunderts an kritischer Vertiefung gewinnen und konnte gewisse weniger haltbare Argumente um so leichter aufgeben, als ihr ja eine ungeahnte Fülle von Tatsachen unaufhörlich aus der Physik, aus der Analyse und Synthese organischer Stoffe und neuerdings namentlich aus der physikalischen Chemie zuströmten. Mag man übrigens in einer Zeitperiode, welche einerseits geradezu überraschende Analogien zwischen Vorgängen in der lebenden Natur und am leblosen Material experimentell aufdeckt, anderseits vom Strukturproblem ausgehend die neovitalistische Richtung erstarken sieht, über den absoluten Wahrheitsgehalt der Reil sehen Schrift von der Lebenskraft noch uneinig sein, die fundamentale historische Bedeu- tung derselben vermag niemand anzufechten, denn sie fällt mit der heuristi- schen Bedeutung der physikalisch-chemischen, der mechanistischen Forschung überhaupt zusammen. Nicht der Leitgedanke an sich, sondern daß er zu der Zeit ausgesprochen wurde, wo der Begriff einer metaphysischen ^^Lebenskraft“ die Sinneserfahrung unter dem Wust leerer Abstraktion und öder Wort- philosophie zu ersticken drohte, macht den Wert der Leistung aus. Im Nebel der geistbetörenden Spekulation fand Reil den Weg zur nüchternen wissen- schaftlichen Arbeit, die ein unermeßliches Feld von Untersuchungen und Entdeckungen eröffnete, inmitten der Verwirrung pflanzte er die Fahne auf, um die sich all diejenigen scharen konnten, die nicht nach gleißenden Augen- blickserfolgen trachteten, sondern im redlichen Bemühen die Bausteine für eine große Zukunft Zusammentragen wollten. Reil schwebte die Idee vor, durch eine v/irkliche, nicht bloß spekulative Physiologie der Medizin die fehlende sichere Basis zu schaffen, und war sich darüber klar, daß ein Einzelner nicht einmal für den Beginn der lawinenartig anschwellenden Aufgabe genügt, daß die Kollektivarbeit vieler schon für die ersten Spatenstiche nötig ist. Um solcher Kollektivarbeit einen Sammelpunkt zu geben, gründete er ein eigenes „Archiv für d i e P h y s i o 1 o g i e“, welches er mit der Abhandlung über die Lebenskraft eröffnete und bis zum Tode redigierte ^3). Durch seine Fortsetzungen reicht dieses Archiv bis zum heutigen Tage, und der Grundton, den Reil kräftig darin anschlug, erklingt noch in der Gegenwart, verstärkt durch die ungeheure Resonanz eines Jahrhunderts. Das Programm, welches Reil für seine Mitarbeiter aufstellte, besitzt den Wert eines Dokuments, und die Vorrede zeigt, wie scharf er die Wege, Ziele und Grenzen wahrer Wissenschaft ins Auge gefaßt hat. Die Zeitschrift sollte chemische, physi- kalische , histologische , vergleichend - anatomische, vergleichend - physio , logische, biologische und empirisch-psychologische Arbeiten aufnehmen, über- dies in Form von Referaten und Besprechungen über die Fortschritte des In- und Auslands auf dem Gebiete der Physiologie orientieren. Unfruchtbarer Polemik und bloßer Hypothesensucht sollte kein Eingang gewährt werden, hingegen durften gegnerische Ansichten, die sich auf Beoliaclitungen und \er- 23 suche stützten, stets auf Aufnahme rechnen 2‘^). Schon die. ersten Bände des Archivs enthalten manche vortreffliche Abhandlung , die von Beil selbst herrührenden oder von ihm beeinflußten Beiträge sind besonders insoweit bemerkenswert, als sie seinen Standpunkt zum Vitalismus noch schärfer präzisieren und seine biochemischen Anschauungen weiter ausführen ). Ein großes Verdienst hat sich Reil namentlich dadurch erworben, daß er als einer der ersten die Bedeutung des Stoffwechsels voll erfaßt und gerade in der Labilität des Gleichgewichts das Wesentliche der biochemi- schen Prozesse erkannt hat. Man übersieht gewöhnlich, und in der Geschichte der Medizin ist es nirgends gebührend hervorgehoben worden, daß sich die uns heute so selbstverständliche Lehre vom Stoffwechsel als Lebensgrundlage so äußerst langsam entwickelt hat, daß noch die Ärzte des 18. Jahrhunderts unter der Führung eines Boerhaave und Haller bloß ein mechanisches Abreiben, eine durch die Bewegung erzeugte Abnutzung der Körperteile annahmen, aber von dem unaufhörlichen Wechsel des Stoff Verbrauchs und Stoffersatzes keine Ahnung hatten, geschweige denn darin die Triebfeder der Lebensvorgänge erblickten. Beil hingegen zog aus seiner früher er- wähnten Theorie den Schluß, daß dem unaufhörlichen Wechsel der Lebensäußerungen ein unaufhörlicher Wechsel der „Mischung“ der organischen Materie zugrunde liegen müsse, ja daß eben darauf das Spiel des Lebens beruhe. Er trug beweiskräftige Tatsachen aus der Physiologie und Patho^ logie zusammen und regte andere zu Arbeiten in dieser Richtung an-^®). Erinnert man sich des eigentlichen Ausgangspunktes seiner Forschungen, so erscheint es nur als eine logische Konsequenz, daß Reil seine Lebens- theorie alsbald auf die Medizin übertrug. Entsprechend seiner biologischen Grundanschauung konnte der oberste Satz der Krankheitslehre nur lauten; „Krankheit ist eine Abweichung von der normalen ,Mischung‘ und ,Form‘ des Körpers und seiner Teile, die durch Anomalien in den Erscheinungen desselben uns sichtbar wird.“ Ebenso war die WirkungderHeilmittel in der Wiederherstellung der normalen „M i s c h u n g “ b z w. „F o r m“ zu suchen. Es ist klar, daß Reil mit diesen Definitionen zwar theoretisch an die äußersten Grenzen medizinischer Erkenntnis gelangt war, aber in concreto eigentlich nur ein leeres Fachwerk aufgestellt hatte, welches erst die Kolossalarbeit von Generationen zu füllen imstande sein wird. Nicht mehr als ein Bruchteil der immensen Aufgabe ist trotz aller gewaltigen Fortschritte bis heute erledigt, insbesondere, was die chemische Seite des Problems anlangt, muß der Zukunft überaus vieles überlassen bleiben. Wie sah es damit aber gar zu R e i 1 s Zeit aus, wo kaum schwache Ansätze zur methodischen Erforschung der Struktur und des Chemismus der organi- schen Welt vorhanden waren? Freilich meinten damals nicht wenige, daß 24 die makroskopische Anatomie’ bereits genügenden Aufschluß über den Bau des Körpers gegeben habe, und manche glaubten nach Lavoisiers Entdeckungen, nach der Schöpfung der organischen Chemie durch F o u r- croy, Vauquelin u. a., es sei schon hinreichendes Tatsachenmaterial vorhanden zum Verständnis der biochemischen Vorgänge, ja sogar ihrer pathologischen Veränderungen. Und das ist eben das Große an Reil, daß er damals mit der Kühnheit des Denkens Besonnenheit verband, Weitblick mit Tiefblick vereinte, daß er, der von seiner Höhe, wie kaum ein anderer Mediziner in die Zukunft schaute, sich doch niemals der trügerischen Hoffnung hingab, das gelobte Land mit seinen Zeitgenossen betreten zu können. War also, so wird man fragen, der Ideengang Reils für seine Epoche ein ganz frucht- loser? Keineswegs. Denn Reil hat nicht nur ein grandioses Programm für die kommende Forschung aufgestellt und mit dem Zukunftsblick des Weisen der pathologischen Chemie die Hauptrolle bei der Lösung des Krankheitsproblems zugesprochen, sondern er hat denen, die sehen wollten, die aus Traditionen und Spekulationen gewebte Binde von den Augen gezogen und ihnen, wie er selbst sagt, gezeigt, „was s i e w i s s e n. Was sie nicht wissen und was sie vorletzt nicht wissen können“. Er hat im Verein mit seinen Schülern einen Anfang gesetzt, in- dem er systematisch die feinere Anatomie bearbeitete, der pathologischen Anatomie mehr als andere Kliniker gebührende Aufmerksamkeit schenkte, physiologisches Denken in die Medizin einführte, die deutschen Chemiker zum Studium der organischen Stoffe aufforderte und selbst die Unter- suchung der Sekrete undExkrete im Dienste der Diagnostik soweit als möglich anregte, später sogar für die Anstellung eines eigenen Chemikers auf seiner Klinik Sorge trug. All dies in Konsequenz seines Fundamental- satzes, wonach die Erforschung der normalen und abnormalen Form und Mischung die Grundlage der Medizin zu bilden habe. In den Fol- gerungen, welche Reil aus seinem biologischen Axiom ableitete, näherte er sich in überraschender Weise moderner Anschauung, so wenn er die Krank- heit nur als Leben unter anderer Bedingung und die Krankheitssymptome als modifizierte physiologische Funktionen auffaßt, das Wesen der Krankheit mit der veränderten Form oder Mischung des leidenden Organs identifiziert, den ätiologischen Faktoren nur die Bedeutung entfernter Ursachen zuge- steht, das Lokalisationsprinzip zum Leitmotiv der ganzen Pathologie erhebt. Und wahrhaft physiologischen Geist verrät es, wenn er in der chemischen Wirkung der Arzneien einen durch die Organverbindung komplizierten, durch gewisse Körpersysteme indirekt vermittelten Prozeß erkennt, der methodische pharmako dynamische Versuche auf physiologischer Basis zur Prüfung der Heilkörper nötig mache Ein in sich so gefestigter Denker wie Reil, der überall neue Bahnen eröffnete^®) und die ganze bisherige Forschungsmethodik als durchaus er- 25 ii6uerungsbedürftig erkannt©, mußte freilich über die Medizin seiner Zeit den Stab brechen. Am Ausgang des 18. Jahrhunderts befand sich die Heilkunde in einer derartigen Krisis, daß die Möglichkeit ihrer wissenschaftlichen Be- gründung von hervorragenden Männern ernsthaft in Frage gestellt wurde. Ohne jeden Halt pendelte ihre Theorie zwischen Extremen, und auch in rein praktischen Maximen war die Ärzteschaft in Parteien zerklüftet, je nachdem die rohe Empirie oder eines der kaleidoskopartig durcheinander wirbelnden Systeme die Kichtschnur des Handelns bildete. Humoral- Solidar-Neuro- pathologie, Brownianismus und Erregungstheorie, chemische, physikalische, vitalistische Systeme und noch überdies ihre mannigfachen Spielarten rangen miteinander um die Herrschaft. In dieser geistigen Brandung ragte Reil damals wie ein Fels, an dem die Wogen zerschellen — einer der wenigen, die sich keinem der medizinischen Systeme anschlossen, sondern einen unverrück- bar kritischen Standpunkt einnahmen. Rücksichtslos, gleichsam ein Kant der Medizin, zerschmetterte er traditionelle Irrlehren, mochten sie ein noch so hohes Alter besitzen, unbestechlich, wie die Natur, deckte er Blößen und Einseitigkeiten auf, wo immer er sie vorfand, mochten die Ideen noch so sehr die Prägung neuer philosophischer Erkenntnis tragen oder naturwissenschaft- lich schillern. Insbesondere widerstand er den Lockungen der Lehre Browns, welche von den Reizen allein die Lebens- und Krankheits- entstehung ableitete, den Organismus als etwas völlig Passives ansah ^®). Welchen Weg schlug unter diesen Umständen Reil als Patholog und Therapeut ein? Der rohen Empirie widerstrebte sein ganzes, nach logischer Einheitlichkeit strebendes Wesen, und doch mußte er sich sagen, und tat es auch, daß für die Durchführung seiner eigenen Leitsätze in der Medizin die Zeit noch lange nicht gekommen war, daß es einstweilen nahezu gänzlich an Mitteln fehlte, die normale oder krankhafte „Mischung“ der Organe zu ent- rätseln und somit eine wirklich wissenschaftliche Krankheitslehre und Be- handlungsweise zu begründen. Wie er dem Dilemma durch eine ratio- nelle, von physiologischem Geiste erfüllte Empirie zu entgehen suchte, zeigt sein Hauptwerk „Über die Erkenntnis und Kur derFieber“, welches in fünf Bänden — der erste erschien 1797', der letzte posthum 1815 — den größten Teil der Pathologie und Therapie abhandelt. Das Werk erlebte drei Auflagen und bildet eine wahre Fundgrube feinster Krankheitsbeobachtungen und ausgezeichneter, bis ins geringste Detail herabsteigender Heilvorschriften, zu denen die reiche Eigenerfahrung, so- wie die stupende Literaturkenntnis des Verfassers den Stoff lieferten. Der erste Band, w^elcher allgemein pathologischen und therapeutischen In- halts ist, kann ohne Übertreibung als das Tiefstgedachte, Umfassendste bezeichnet werden, was bis zu den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts auf diesem Gebiete ans Licht trat, und auch dje folgenden Bände verdienen, so- weit die Ätiologie, Symptomatologie und Therapie in Betracht kommt, volle 26 Anerkennung, wobei nicht zu vergessen ist, daß das Werk eingehend Gebiete berücksichtigt, die damals noch Neuland waren, die Neurologie, Psychiatrie und Dermatologie. Von vornherein erscheint es allerdings paradox, daß in Reils Fieber lehre so viele und ganz heterogene Affektionen aufgenommen .sind, die nach dem Titel des Werkes dort gewiß nicht zu erwarten wären, wie z. B. Entzündungen, Hämorrhagien, Anomalien der Sekretion und Ex- kretion usw. Aber Reil unterstellte eben, in merkwürdiger Eigenheit, dem Wort „Fieber“ einen vom Herkömmlichen toto coelo verschiedenen Begriff. Weitgehende Abstraktionen führten ihn dahin, als das Wesen des „Fiebers“ eine Veränderung der „Reizbarkeit“ und des „Wirkungsver- mögens“ der Organe anzunehmen, wobei die Struktur keine davon ab- hängige erkennbare Verletzung aufweise und die zugehörigen Nerven und Ge- fäße mit leiden Dieser Rahmen umfaßte freilich allzuvieles, doch verhinderte -es die geniale V erirrung glücklicherweise nicht, daß Reil über das Fieber in unserem Sinne ganz treffende Betrachtungen anstellte. So deutete er be- reits das Zusammenwirken des hämatogenen und neuro- gen e n F a k t o r s an, so wies er auf die gesteigerte Intensität der biochemischen Prozesse in den Organen, wodurch die Temperaturerhöhung erzeugt werde; so erörterte er-' bereits das Verhältnis der Wärmeproduktion zur Wärmeabgabe, die Wärmeregu- lation, und was die Therapie anlangt. War Reil der erste deutsche Autor, welcher die Anw'endung der kalten Bäder in Fieberkrankheiten ausführlich besprach und ihre mehrfache Wirkung physiologisch analysierte®^). Von nicht zu unterschätzender Wichtigkeit war es ferner, daß Reil deiiLo- kalisationsgedanken in die Fieberlehre hineintrug und die „essen- tiellen“ Fieber, dieses Hauptcharakteristikum der alten Medizin, bestritt. Wir müssen uns hier mit oberflächlichen Stichproben begnügen, so wenig dieselben vom überreichen Inhalt des Werkes auch nur eine annähernde Vor- stellung geben. Mancher Abschnitt ist noch heute lesenswert und mutet stellenweise, trotz veralteter Ausdrucksweise, fast modern an, namentlich wenn es sich um Fragen handelt, wo das Mikroskop das geistige Auge selbst in unseren Tagen noch nicht zu ersetzen vermag. Das gilt insbesondere von Reils Darstellung der Neurosen und Psychosen. Dort lernen wir ihn nicht bloß als scharfsinnigen Pathologen, sondern auch als Meister der Kranken- behandlung kennen, der mit Umsicht über den ganzen Heilschatz der Zeit gebot, außerdem aber über ein Mittel verfügte, das damals nur wenige Ärzte zu schätzen und wohl kein anderer so zielbewußt wie er zu gebrauchen ver- stand — die seelische Beeinflussung®®). PsychischeBehandlung wurde freilich seit den ältesten Zeiten, beabsichtigt oder häufiger noch ohne Absicht geübt, Reil aber war der erste, der ihre Bedeutung ihrem vollen Umfang nach erfaßte, sie der arzneilichen und chirurgischen Therapie als gleichwertig an die Beite stellte und auf Giiund dei 27 Erfaliningsseelenlehre systematisch aiisbildete. Mag man mit manchen seiner Prinzipien oder Einzelmaßnahmen nicht immer einverstanden sein, die' Tatsache bleibt doch unbestreitbar , E e i 1 ist der P f a d f i n d e r d e r Psychotherapie gewesen, welche heute in so hohem Ansehen steht; auch hat er den tierischen Magnetismus sehr früh im Sinne einer psychischen Einwirkung aufgefaßt. Erweiterte er den Wirkungskreis des Arztes erheblich durch die Aufnahme einer neuen, für die verschiedensten Affektionen passenden Heilpotenz, so schwebte ihm doch als Hauptziel vor, die Wohltat der psychischen Behand- lung den Unglücklichsten der Kranken zugänglich zu machen, jenen, die man damals noch mit Verbrechern zusammenzuwerfen pflegte — den Geistes- kranken. Seine Ideen darüber Anden sich eingehend entwickelt in den „Ehapsodien über die Anwendung der psychischen Kur- m e th o d e a u f G e i s t e sz er r ü t tung en“, welche 1803 erschienene^). Dieses Buch , welches nicht bloß für die psychische Therapie der Geisteskrankheiten, sondern, was viel wichtiger war, in Flammenworten für die menschliche Behandlung der Geisteskranken eintrat,, wirkte auf die Herzen, weil es mit dem Herzen erdacht und geschrieben war; es. ist das Denkmal einer Kulturschande, welche noch das Zeitalter der Aufklärung befleckte, und zugleich der Dithyrambus eines glühenden Menschenfreundes,, es ist eines der merkwürdigsten Bücher der gesamten Weltliteratur, das selbst, heute, wo längst die entsetzlichen Verhältnisse zur historischen Kuriosität geworden, nicht ohne innere Bewegung, ohne Schaudern und Mitgefühl, ohne Anteilnahme an dem edlen Zorn des deutschen Pinel gelesen werden kann. In einer Sprache von hinreißendem Schwung und pathetischer Fülle,, wie sie der Sturm- und Drangzeit eigen, mit einer Ehetorik, deren Wucht und Bilderkraft nur das starke Empfinden einer Dichterseele hervorzubringen vermag, in dantesken Farben, werden uns die grauenhaften Zustände der mit den Zuchthäusern vereinigten Tollhäuser geschildert^^) und Bemerkungen daran geschlossen, die sprudelnd von Geist und Witz, ätzend wie Lauge an die größten Meister der Satire erinnern. Wie gewaltig der Einfluß des Buches- gewesen, läßt sich nicht abschätzen. Wenn er auch nicht so rasch zur Geltung kam, wie es zu wünschen gewesen wäre, wenn sich auch die praktische Durch- führung der Irrenpflege an andere Namen knüpft, E e i 1, den man einen Phantasten gescholten, war doch der erste, der in Deutschland die allgemeine Lethargie durchbrach und dessen detaillierte Vorschläge über die Anlage von Irrenheil- bzw. Irrenpflegeanstalten, über Irrenbehandlung usw. für alle späteren die Grundlage bildeten. Mögen seine sonstigen Leistungen vergessen werden, diese allein sichert ihm mit Pinel, C h i a r u g i und T u k e das- Anrecht auf unvergänglichen Nachruhm, wie er es selbst am Schlüsse seines Appells an die Fürsten ausgesprochen hat: „D i e H o f f n u n g, daß der Faden, den ich a n g e s p o n n e n habe, i n s U n e n d 1 i c h e a u s g e- 28 spönnen werde und mit jedem Schritte vorwärts den Klauen des Tollhauses einen seiner Bewohner entreiße, sei mein Nachruhm, in dem ich f o r 1 1 e b e, wenn der Sturm über meine Gebeine saus t.“ Die „Rhapsodien sind zum Markstein der deutschen Psychiatrie ge- worden! AVährend sich vordem fast ausschließlich Theologen und Philo- sophen mit diesem Gebiet beschäftigten, ja letztere die Theorie der Geistes- krankheiten allein für sich in Anspruch nahmen, war es jetzt ein Arzt, der die unv er j ährbaren Rechte der Medizin auf die Psychiatrie betonte, sie dem weiten Reich der Heilkunde anzugliedern strebte. Um das damals äußerst geringe Interesse der ärztlichen Kreise anzufachen, schuf Reil etwas ganz Neues, wurde er zum Stifter der psychiatrischen Journa- listik. Aber wie schwer es gewesen ist, die Psychiatrie der Philosophie zu entreißen, lehrt gerade ein Blick in R e i 1 s „M agazin für psychische H e i 1 k u n d e“, das 1805 — 1806 erschien, und in die Zeitschrift „B e i- träge zur Beförderung einer Kurmethode auf psychi- schem Weg e“, welche 1808 — 1812 existierte. Als Herausgeber des „Magazins“ fungierte neben Reil der Naturphilosoph K a y ß 1 e r, der mit Ausnahme eines einzigen alle übrigen Aufsätze lieferte; der Philosoph also, nicht der Arzt dominierte in diesem ersten psychiatrischen Journal. Nach K a y ß 1 e r s Tode verband sich Reil mit dem Kantianer Hoffbauer, welcher in der Psychologie und Psychopathologie bereits Hervorragendes geleistet hatte, zur Publikation der „Beiträge“; hier wechseln bereits mit den Aufsätzen des Realphilosophen mehrere Arbeiten aus der Feder des Arztes ab. Schon dies war ein Fortschritt. Zur Gründung einer rein ärztlichen Zeit- schrift für Psychiatrie ist eS aber erst 1818 durch einen Schüler Reils — Nasse ■ — gekommen Das größte Hindernis für den Aufschwung der Psychiatrie lag in der mangelnden Gelegenheit zur spezialärztlichen Aus- bildung. Reil erkannte die Lücke und strebte die Errichtung psychiatrischer Universitätsinstitute in Halle, später in Berlin an, leider ohne Erfolg. Mit Reformplänen des medizinischen Studiums Avar Reil beständig beschäftigt, und er scheute sich nicht, dieselben an maßgebender Stelle energisch, mit größter Zähigkeit zu vertreten; freilich konnte unter den obwaltenden Umständen nur ein Teil seiner vielseitigen, durch die spätere Entwicklung vollinhaltlich gerechtfertigten Vorschläge damals zur Ver- wirklichung gelangen. Immerhin hatte ihm die Universität Halle manche Verbesserung des medizinischen Unterrichts, manche -Bereicherung der Forschungsmittel zu danken, und da es ihm stets nur um die gute Sache zu tun war, so fand der Lehrkörper durch seinen Einfluß zumeist glückliche Ergänzung. Auch als es zur Organisation der Berliner Hochschule kam, sind es Reils Gutachten über Unterrichts- und Personalangelegenheiten gewesen, welche bei einem Manne, wie v. H u m b o 1 d t, am meisten ins Gewicht fielen ^). 29 Der große Forscher war Akademiker mit Leib und Seele, ein begeisterter Lehrer und selbstloser Förderer aufstrebender Talente. Er übte die Unter- richtstätigkeit nicht unter dem Zwange einer auferlegten Pflicht, sondern mit wahrer Herzensfreude aus, darum bestand ein ununterbrochener geistiger Rapport zwischen dem Meister und den Jüngern. Nicht wissen- schaftliche Dogmen wollte er übermitteln, sondern Methoden; er wollte zur scharfen Beobachtung, zur genauesten Unter- suchung, zur sorgsamsten Krankenbehandlung, zur Selbständigkeit im Denken und. Handeln die Aifleitung geben. Da seine Lehrweise in gleichem Maße das Anschauliche wie das Theoretische berücksichtigte, die allseitige Ausbildung ins Auge faßte, so wurden beide Kategorien von Schülern be- friedigt, sowohl diej enigen, welche späterhin nur als schlichte Praktiker wirken wollten, als auch diejenigen, welche sich der Forschung zu widmen gedachten; letztere betraute er schon früh mit der Bearbeitung schwieriger Probleme und suchte sie mit philosophischem Geiste zu erfüllen. Imponierend in seinem Äußern, gemessen in Wort und Gebärde, von fast antiker Ethik geleitet in seinem Tun und Lassen , unermüdlich den wissen- schaftlichen Zielen zugewandt, dabei stets aufs Wohl seiner Kranken bedacht, wurde Reil den aus allen Gauen Deutschlands herbeiziehenden Schülern zum Münzwardein echter Denk- und Handlungsweise, zum leuchtenden Vorbild für das ganze Leben. Und er, der gleichzeitig mit einem Schleiermacher, mit dem genialen Homerkritiker Wolf der Universität Halle immer neue Ruhmes- kränze errang, er, der nur einem Peter Frank oder Hufeland ver- gleichbar war, aber beide an Konsequenz des medizinischen Denkens über- strahlte, hatte Jünger, die seine Ideen in der Folge auf den verschiedensten Gebieten zur Entfaltung brachten, einen bestimmenden Einfluß auf die weitere medizinische Entwicklung ausübten. So namentlich sein Lieblingsschüler Nasse und K r u k e n b e r g. Wie als Lehrer, stand Reil auch als Arzt in höchstem Ansehen, eine ausgedehnte Praxis nahm einen beträchtlichen Teil seiner kostbaren Zeit in Anspruch und rief ihn manchmal weithin; die Armen und Niedrigen wie die Reichen und Hochgeborenen suchten seine Hilfe als letzte Zuflucht. Kein geringerer als Goethe hat ihn konsultiert und noch nach Jahren seiner Diagnose rühmend gedacht. Reils äußere Erscheinung, sein Auftreten am Krankenbett, die Art, wie er aufmerksam untersuchte und scharfsinnig Fragen aufwarf, die Ruhe und Sicherheit seines Wesens, die Strenge, mit der er die Vollstreckung der aus tiefer Überlegung geschöpften Anordnungen überwachte, die Sorgfalt, die er anteilsvoll dem Patienten widmete, ja mit der er selbst bisweilen Handgriffe der Wartung ausführte, all dies erwarb ihm unbegrenztes Zutrauen. „Die Ungeh eilten verloren das Leben, aber die Hoffnung nie“, sagt Börne von Reils Patienten^''). Welche Anforderungen er an das Wissen und Können des Arztes stellte, 30 zeigte am besten sein eigenes Wirken; im einzelnen hat er seine Anschauungen darüber wiederholt, besonders aber in der vielangefeindeten Schrift dar- gelegt, welche den 1 itel trägt : „P e p i n i e r e n zum Unterricht ärztlicher Routiniers als Bedürfnisse des Staats n a c h s e i n e r L a g e, w i e s i e i s t“ (Halle 1804). Hier entwirft Reil das Ideal des wissenschaftlichen ArztsS, der, auf umfassender Naturkunde fußend, haimonisch die psychische, arzneilich-diätetische und chirurgische Heilkunde vereinigt, und dessen praktische Tätigkeit stets aus voller Er- kenntnis fließt. Diesem Ideal kann auf einem langen Bildungswege bloß nachgestrebt werden. Reil teilt einen Studiengang mit, wie er ihm als- bester vorschwebte, und skizziert die geeignetste Lehrmethode in den ver- schiedenen Fächern. Ganz im Gegensatz zur damals vorherrschenden Meinung bekämpfte er die Trennung der Medizin von der Chirurgie, da beide in der Praxis beständig ineinander übergreifen und daher derselben wissenschaftlichen Basis bedürfen. „Chirurgie ist nicht die Kunst, durch die Hand zu heilen, der Kopf muß die Hand leiten.“. . . „Wer als gelöhrter Heilkünstler selbständig chirurgische Mittel zum Zweck der Genesung handhaben will,, muß Erkenntnis des Organismus im kranken und gesunden Zustand zur Basis seiner Kunst haben und mit dem gelehrten Arzt, mit dem er eins ist,, auf einer Alcademie gebildet werden.“ Eben aber, weil es R e i 1 in seiner Zeit für unmöglich hielt, eine genügende Zahl von wissenschaftlichen Ärzten für die minder bemittelte und für die Landbevölkerung zur Verfügung zu haben,, ferner um dem Kurpfuschertum, Badestubenunwesen usw. entgegenzuwirken,, machte er den Vorschlag, in eigenen Anstalten (Pepinieren) eine besondere Klasse von tüchtigen Empirikern (Routiniers) heranzuziehen, die gleichsam als psychologische Automaten, nicht nach theoretisch voll erfaßten Prinzipien,, sondern nur nach festgesetzten Regeln handeln. Dieselben Einwände, die man heute gegen diesen Vorschlag erheben würde, sind damals nicht ohne persönliche Verunglimpfung Reils gemacht worden, trotzdem hat man bald darauf seine Pläne modifiziert zur Ausführung gebracht^). Die Schrift über die „Pepinieren“ wird für die Methodologie und Standes- geschichte stets beachtenswert bleiben, eine höhere Bedeutung wohnt ihr für den Biograj)hen Reils dadurch inne, daß sie die Wandlung enthüllt, welche sich inzwischen im Geistesleben des rastlos fortschreitenden, immer zum Lernen bereiten Mannes vollzogen hat, seinen Anschluß an die Naturphilosophie, seinen Übergang von Kant zu S c h e 1- ling^®). Der beginnende Umschwung verrät sich allerdings schon zwei Jahre früher in den „Rhapsodien“, auf den Schlußseiten des Buches, wo auch von dem „Lichte“ gesprochen wird, „das vc ii oben herab dem Empiriker ent- gegenrückt und seine dunkle Stiege erleuchten soll“ — unverhüllt tritt die vollendete Tatsache aber erst 1804 über die Schwelle der Öffentlichkeit, und 31 von da an finden sich nahezu in allen Arbeiten Reils die Gleichnisse, Ana- logien und Antithesen, die Terminologie der Schellmgianer in die Darstellung vemebt, ja schließlich durchdringt die Naturphilosophie den ganzen Stoff systematisch mit ihren Prinzipien. Beim ersten Anblick besteht zwischen der spcäteren und der früheren Richtung ein unlösbarer Widerspruch, ja es er- scheint ganz rätselhaft, wie es kam, daß ein Denker, der das Losungswort der exakten Forschung ausgegeben, die rationelle Empirie auf seine Fahne ge- .schrieben, allen medizinischen Systemen gegenüber seine volle Unabhängigkeit gewahrt hatte, zum Schlüsse der naturphilosophischen, also der ausschweifend- sten aller Spekulationen anheimfiel. Tatsächlich ist aber das Verhältnis ein anderes. Geht man nämlich den Ideengängen Reils als Philosophen ge- wissenhaft nach, so entdeckt man schon in der Schrift ,,von der Lebenskraft , noch mehr in den folgenden Arbeiten biologischen Inhalts manche Ansätze naturphilosophischer Art, welche bloß der kantische Kritizismus, der die For- ^schung an die Welt der Erscheinungen fesselte, in Schranken hielt. Reil faßte die Materie dynamisch,- hielt die organische Natur mit der toten für eine untrenn- bare Einheit, die organische Materie für eine höhere Entwicklungsstufe der anorganischen, die physikalisch-chemischen Kräfte im Organismus gewissen Modifikationen unterworfen, sah in den Oszillationen des Stoffwechsels um die Gleichgewichtslage die Triebfeder des Lebens, betrachtete die „Vege- tation“ als Basis der Irritabilität und Sensibilität, stellte diesen dreifachen Manifestationen eines einheitlichen Ganzen ■die Trias der mechanisch - physischen, der chemischen und der psychischen Heilmethoden entgegen usw. Wer wollte in solchen Gedanken die Annäherung an S c h e 1 1 i n g verkennen? Ist es somit nicht begreiflich, daß Reil schließlich die Identitätslehre, welcher er schon auf halbem Wege durch seine eigene Geistesentwicklung entgegen- gekommen war, freudig aufnahm, um so mehr als sie ihn von dem quälen- den Dualismus des Physischen und Psychischen erlöste, die chemische Physiologie idealisierte, durch das Polaritätsgesetz eine Fülle organischer Vorgänge zu erklären schien^®), die Medizin mit der Naturwissenschaft verband, ja zur ,, Krone der Naturforschung“ machte, die Empirie zu Recht bestehen ließ und ihr die philosophische Weihe versprach. Reil, der in sich selbst die Entwicklung des deutschen Genius, der nach- k antischen Philosophie, erlebte, unterwarf sich nicht einem fremden System, sondern er wuchs mit seinem Denken in die Naturphilosophie hinein, sie war der umfassendere, einstweilige Abschluß seiner eigenen philosophischen Erkenntnis. Darum blieb er auch als Anhänger Schellings selbständig wie zuvor und entging allen Extravaganzen titanenhafter Spekulation, inhalts- leerer Begriffsdichtung, darum hielt er sich auch als Naturphilosoph die Bahn der Erfahrung, der exakten Forschung frei. Der „E n t w u r f der all- •gemeinen Pathologie“ und der ,,E ]i t w u r f der allgemeine n 32 Therapie*, zwei Werke, die erst nach Reils Tode von Nasse und K r n k e n h e r g heraiisgegeben wurden, bilden hauptsächlich die Hinter- lassenschaft seiner naturphilosophischen Periode'^i), und doch, wenn man sie genau prüft, überwiegt darin das empirische Material, ja man erkennt zum großen Teil den erweiterten vergeistigten Inhalt der „Fieberlehre“, gleichsam wie ein Musikstück transponiert in eine andere Tonart Damit soll aber sein Unternehmen durchaus nicht gebilligt werden, denn mag man über die Naturphilosophie an sich wie immer urteilen, das Hineintragen der apriori- stischen Konstruktionen der „K a n t o - P 1 a t o n ik“ in die Medizin — Schelling selbst hat davor wiederholt gewarnt'^®) — wurde zum Hemm- schuh des Fortschritts. Wenn Spätere, uneingedenk der wahren Aufgaben der Heilkunde, in naturphilosophischen Spekulationen schwelgten und sich auf Reils Autorität beriefen, fehlte dazu freilich die innere Berechtigung, aber der äußere Schein sprach für sie. Dies kann offen ausgesprochen werden, denn „es ist nur ein Lob für einen Mann, wenn man seine Fehler sagen darf, ohne daß er groß zu sein aufgehört hat“. Wie eine die Zukunft andeutende Allegorie nimmt sich in dieser Hinsicht eine Episode aus der Knabenzeit Reils aus, die uns Steffens erzählt. „Als er einst, noch nicht zehn Jahre alt, vernommen hatte, wie die Berg- arbeiter in der Erde nach edlem Metall grüben, wollte er Bergmann werden und fing an, insgeheim zwischen dem Hause seiner Eltern und eines Nachbars nach dem im dortigen Sande vielleicht verborgenen Metall zu graben, bis das Wasser in den Keller des Nachbars eindrang.“ So hat er auch später zu tief gegraben! Naturphilosophische Ideen, namentlich die Auffassung des Lebens als potenzierten galvanischen Prozeß ^'^), spuken selbst in den letzten anatomischen Arbeiten Reils, freilich ohne die Gediegenheit derselben irgendwie zu be- einträchtigen. Hierher zählt vor allem die großangelegte Abhandlung „Über dieEigenschaftendesGangliensystemsundseinVer- hältnis zum Zerebralsyste m**, worin eine für die damalige Zeit vortreffliche Beschreibung des sympathischen Nervensystems gegeben und, was am wichtigsten war, die Selbständigkeit desselben zu beweisen gesucht wird. Interessant sind die Bemerkungen über die Bedeutung des Sympathikus für die vegetativen Prozesse und die Organ- verknüpfung, über die A u t o m a t i e der Organe mittels der Ganglien, über die Fortleitung abnorm erhöhter oder krankhafter Reize auf das Zerebrospinalsystem, woran Erörterungen über eine Reihe von pathologischen Zuständen und über die merkwürdigen Erscheinungen des Somnambulismus geknüpft werden, die man bekanntlich vorzugsweise mit dem Sonnengeflecht in V erbindung zu bringen pflegte. Zur Erklärung dient Reil die unter dem Einfluß der damals verbreiteten elektri- schen Theorien ausgebildete Hypothese, daß das Ganghensystem ein Halb- 33 leiter sei, in der Norm als Isolator, unter abnormen liedingungen aber als Konduktor fungiere *®). i r m- i v Die Krönuii" seines medizinischen Lebenswerkes bilden schließlich die epochemachenden Arbeiten über das G e li i r n, welche Keils Namen in die Reil nacli einem Stich von Dähling (1812). fernsten Zeiten tragen werden. Denn neben Gail ist er der Begründer der neueren Gehirnanatomie. Was er auf diesem Gebiete im einzelnen geleistet, ist so vielfältig, daß es in Kürze nicht dargelegt werden kann, bloß einige Seiner Hauptverdienste wollen wir hervorheben. Neuburger, Johann Christian Reil. 3 34 Große Fortschritte der wissenschaftlichen Erkenntnis leiten sich immer durch Fortschritte der Methode ein, und es ist klar, daß ein so zartes, nach den Gesetzen feinster, verwickeltster Architektonik aufgebautes Organ, wie das Gehirn, an die Untersuchungsweise die höchsten Ansprüche stellt. Noch an der Scheide des 18. Jahrhunderts war man über die rohe Hantierung mit dem Messer nicht hinausgekommen ; G a 1 1 leistete zwar in der Entwirrung der Faserung Bewundernswertes trotz primitivster Technik, aber über seine Ge- schicklichkeit verfügte kaum ein anderer. Es galt daher einen neuen, zu- verlässigeren, mehr gangbaren Weg der Gehirnpräparation ausfindig zu machen, und dies war eben die umwälzende Fundamentalleistung Reils, aus welcher sich in der Folge alle späteren Errungenschaften kontinuierlich entwickeln konnten. Reil, der sich bei seinen Arbeiten über die Struktur der Nerven schon die nötige Vorschulung angeeignet hatte, zog sozusagen die Chemie in den Dienst der Zergliederung, indem er seine Untersuchungen nicht am frischen, leicht zersetzlichen Material, sondern an Gehirnen vornahm, wmlche vorher der Härtung unterworfen worden waren. Durch jahrelange unermüdliche Versuche gelang es ihm, ein geeignetes Härtungsver- fahren mittels Alkohol und Alkalien (in verschiedenen Modifikationen) ausfindig zu machen, von dem er noch weitere Vervollkommnung, unter anderem durch Zusatz von Färbestofien, erhoffte. Jeder Kundige weiß, wieviel dieser glückliche Anfang für die Zukunft bedeutete. Freilich war Reils Zergliederungsmethode keine solche, welche vor Irrtümern genügend schützte, er brach nämlich einzelne Teile vom Gehirn ab und schloß aus der Art der Bruchfiäche auf die Organisation. Und trotzdem haben seine Unter- suchungen, die er nur durch die Lupe unterstützt ausführte, Tatsachen zu- tage gefördert, welche die Kenntnis vom Gehirnbau, von den einzelnen Ge- hirnteilen ungeahnt erweiterten, den Vorstellungen über die Faserungs- systeme und ihren Zusammenhang eine ganz neue Grundlage gaben. Die Studien über das Gehirn erschienen im Archiv für Physiologie, eröffnet durch eine noch von Stilling als das „Muster einer klassischen Arbeit für alle Zeiten“ betrachteten Abhandlung über das K 1 e i nh i r n, woran sich in einer langen Reihe von Aufsätzen die Forschungsergebnisse über den Bau des Großhirns schließen, mit beständigen Verbesserungen und Ergänzungen. Hervorzuheben wäre insbesondere die Beschreibung der I n s e 1 , die noch heute nach Reil genannt wird, der Schleife, des Linsenlcerns, des Kerns der Haube u. a. Für nicht wenige Gebilde mußte Reil erst die Namen schaffen , welche auch in der deutschen gehirnanatomischen Nomenklatur beibehalten worden sind; wichtig war ferner die Beigabe von Abbildungen zu den Abhandlungen. Man kann sagen, Reils Arbeiten sind der erste Anfang zur Urbarmachung eines, vordem so gut wie unbekannt gewesenen Territoriums, er hat überall zum Nutzen der Nachfolger Wegweiser eingerammt. Leider war es ihm nicht bestimmt, die reichhaltigen 35 Pläne, die er im Kopfe trug, ganz zur Ausführung zu bringen, so die genauere Untersuchung des verlängerten Marks und des Rückeninaiks, welche erst den Schlüssel zur Entwirrung des zerebralen Fasersystems gegeben hätte, die projektierten vergleichend-anatomischen und embryologischen Forschungen. Manche von ihm angeregte und überwachte Arbeit seiner Schüler zeigt,- wohin er wollte ^ Die Lebensgeschichte eines Forschers, zumal eines deutschen Gelehrten älterer Periode ist gewöhnlich nichts anderes als die Aufeinanderfolge seiner fachlichen Arbeiten und entbehrt des Farbenreizes äußerer Schicksale.- Reils Leben hingegen spiegelt nicht bloß ein Stück der wissenschaftlichen Entwicklung, des geistigen Aufschwungs der klassisch-romantischen Epoche wider, es hängt auch innig mit den großen Begebenheiten der Zeit zusammen. Reil, der schon der Medizin weitere Grenzen zog und sie im Sinne des Cartesius mit den verschiedensten Fragen des Volkswohls in Beziehung brachte^"^), pflegte mit den bedeutendsten Männern regen Verkehr, nahm teil an allem, was Staat und Stadt berührte, stand mitten im öffentlichen Leben der Nation; nichts Menschliches war ihm fremd. Wie er seine Aufgabe als Mitbürger, als Untertan, als Volksgenosse auffaßte, beweist sein edles und unerschrockenes Verhalten in den Unglückstagen, welche nach der Schlacht bei Jena über Preußen hereinbrachen, zur vorübergehenden Aufhebung der blühenden Friedrichs-Universität (20. Oktoter 1806) durch ein napoleonisches Machtgebot, zur Einverleibung Halles in das neugeschaffene Königreich West- falen, zur Vernichtung des Wohlstands der Stadt führten. Reil machte, den Gefahren trotzend, kein Hehl aus seiner unentwegt vaterländischen Gesinnung und suchte dieselbe auch in den anderen zu stärken, er trug offen seine tiefe Abneigung gegen die französische Fremdherrschaft zur Schau und sandte, keine Folgen scheuend, seinen kaum 15jährigen Sohn mit Krosigk nach Memel, damit er dem König diene. Um der schwerbedrückten Stadt, die durch die Vertreibung der Garnison, durch die Ausweisung der Studenten, durch die Vernichtung der Fabriken die größte finanzielle Einbuße erlitten hatte, auf- zuhelfen, stellte sich Reil an die Spitze eines Konsortiums wohlhabender Bürger und verwandelte Halle mit einem Aktienkapital, zu dem er selbst einen bedeutenden Teil beigesteuert hatte, in einen Badeort. Unter seiner Leitung wurden Badehäuser, ein Kursaal, ja sogar ein Theater erbaut, an welchem nach amtlich eingeholter Erlaubnis Goethes die Weimarer Gesell- schaft während der Sommermonate spielen durfte. Reil sorgte für die Verwendung der Salzsolen zu Solbädern, ließ eine nahe Mineralquelle herbei- leiten, stattete die Badeanstalt mit Spritz-, Tropf- und den in Deutschland damals noch unbekannten russischen Schwitzbädern aus und konstruierte einen Apparat für lokale Dampfbäder'^®). Derselbe Mann, der sonst in den höchsten Regionen der Forschung schwebte, erwies sich als trefflicher Organi- sator. Er erweckte mit seltener Tatkraft in der verödeten Stadt das regste 36 Leben und Treiben, durch seinen eisernen Willen schuf er aus Nichts reale Werte, gleich dem alternden Faust. Wie dieser durfte er sagen: „Daß sich das größte Werk vollende. Genügt ein Geist für tausend Hände.“ ’ "i Am 16. Mai 1808 fand die Wiedereröffnung der Friedrichs-Universität statt, Keil fungierte als Dekan der medizinischen Fakultät und wurde Doctor philosophiae h. c. Unter Jerömes Regierung vermochte sich aber die Hochschule nicht mehr zur früheren Höhe emporzuschwingen Trotzdem er mit Stadt und Universität aufs engste verwachsen war, entschloß sich Reil daher im Jahre 1810 nach langem Zögern der mit besonderen Auszeichnungen verbundenen Berufung nach Berlin Folge zu leisten®”). Wie schwer ihm das Scheiden aus den liebgewordenen Verhältnissen wurde, zeigt seine herrliche, stimmungsvolle Abschiedsrede, welche nicht ohne berechtigtes Selbstgefühl der bisherigen Leistungen gedenkt und durchweht von echt nationalem Emp- finden in die Hoffnung auf die Wiedergeburt Deutschlands ausklingt ln Berlin übernahm er die Universitätsklinik für innere Krankheiten und ent- wickelte als Professor der Therapie und Direktor der wissenschaftlichen medizinischen Deputation eine überaus vielseitige Tätigkeit, doch hatte er mit mancherlei Antagonismen zu tun®^), auch fand er für seine weit- gehenden Pläne nicht immer das erwünschte Gehör. Da brach der große Krieg aus. Reils ältester Sohn griff mit vielen Tausenden begeisterter Jünglinge zu den Waffen, um in Lützows Freikorps einzutreten, und er selbst blieb zwar in Berlin, widmete sich aber dem Dienst in den Lazaretten und ließ sich in den Heerbann einreihen, dem Gelehrte wie S a V i g n y, S c h 1 e i e r m a c h e r, F i c h t e, W o 1 f u. a. angehörten. Welch glühende Vaterlandsliebe ihn erfüllte, schildert uns kein geringerer wie Arndt in einer charakteristischen Episode®®). Aber Reil war ein Patriot, der auch nach obenhin eine mannhafte Sprache führte, wenn es die Sache der Menschlichkeit erforderte. Davon legt eine vom 15. April 1813 datierte Ein- gabe®^) Zeugnis ab, welche in flammenden Worten die in den Lazaretten herrschenden Zustände brandmarkt. Nach der Völkerschlacht, Ende Oktober, wurde ihm die Hauptleitung der Lazarette in Leipzig und Halle übertragen, wo insgesamt nahezu 30 000 Verwundete und Kranke aller Nationen, Freunde und Feinde unter- zubringen waren. Der ungeschminkte Bericht, den Reil nach der Über- nahme an Freiherrn v. Stein erstattete, damit wie er selbst sagt, „auch die Untaten für die Geschichte nicht verloren gehen“, entrollt ein Gemälde der Kriegsgreuel, des unverantwortlichen Mangels behördlicher Obsorge, des grenzenlosen Elends, wie es sich die zügelloseste Phantasie nicht auszumalen vermag®®). Trotzdem er sich schon bei seiner Abreise von Berlin nicht wohl fühlte, ja von einem typhuskranken Freund (Grapen gieß er) angesteckt glaubte, traf er furchtlos, selbstvergessen, die AVarnungen mißachtend, unter 37 iinsägliclien Mülien und Aufregungen, mit wahrhaft heldenhafter Seelenstärke alle Anstalten, um die Mängel zu verbessern, die übermenschliche Aufgabe zu bewältigen. Fast jeden Tag, ohne einen Augenblick zu rasten, war er in beiden Lazaretten, in Leipzig und in Halle. Aber endlich überwältigte ihn die Seuche, brach er erschöpft zusammen. Am 22. November 1813 verschied Reil in Halle im Hause seiner Schwester Er starb, wie Steffens seinen Nachruf schließt, „mit so vielen in dem großen Kriege auf dem Wal- platze, Weil er den Tod nicht scheute“. Ganz Deutschland widerhallte von der Klage um den Helden, den Menschenfreund und Arzt, den Forscher und Lehrer °'^)! Auf dem Gipfel des von ihm bepflanzten, nach ihm benannten Berges bei Giebichenstein, „in einem uralten deutschen Grab der Vorzeit“ wurde er bestattet. „Dort ruht er hoch und frei wie er lebte“^). Am 1/. Juni des folgenden Jahres fand in Halle eine Totenfeier statt, im Rahmen eines zur Wiedereröffnung des Theaters gedichteten Vorspiels „Was wir bringen . Goethe hatte den Plan dazu entworfen. Noch einmal läßt die Muse das ganze Streben und Wirken Reils, des „Lebens- würdigsten“, vorüberziehen, um mit seiner Apotheose zu enden. So trägt denn auch der Genius des Dichterfürsten den großen Arzt ins Reich der Unsterblichkeit “®). Die Nachwelt hat das übereinstimmend anerkennende Urteil der Mit- welt bestätigt 60), ja manche der Ideen und Leistungen Reils gewannen an Wert, in dem Maße, als die Zeit vorschritt. R e i 1 h a t a ii c h a uf diej enigen gewirkt, die seine We-rke nicht gelesen haben. Aber vieles, was er zuerst angeregt, ist in dem Lichtmeer der Wissenschaft 38 versunken, ohne daß des Urhebers noch gedacht wird, und im Laufe eines Jahrhunderts ist die Erinnerung an die ganz eigenartige Individualität dieses Meisters allmählich verblaßt. Versenken wir darum sein Bild aufs neue in unsere Brust, erbauen wir uns an seiner Naturauffassung, die den Adel einer großen Seele widerstrahlt, schmücken wir sein Grabmal mit frischen Lorbeerla-änzen, eingedenk der Mahnung Steffens: „Teutschl and soll sein Andenken bewahren neben dem der großen Helden.“ Reil-Denkmünze. In wenigen Wochen soll die Dankesschuld eines Jahrhunderts abgetragen werden, soll sich in Halle, an der Hauptstätte seines Wirkens, Keils Denkmal erheben! Möge jeder sein Scherflein dazu beitragen, denn es ist ein Denkmal, das nicht bloß Halle, sondern das ganze deutsche Volk, ja die Menschheit einem kühnen Pfadfinder der Wissenschaft, einem tapferen Geisteskämpfer, einem wahren Edelmann errichtet! 39 B a a B B a '4-» CD (h Ö a cä M rS .3 ^ -=H ^ ö o -S • S O ® 'S W Cä pCl o & O) ri»1 c:> :0 a, cö o M o> o> "cö ' > P3 cd o u a a cd M o d o 2 "o 60 g ö Sh O rt c- ® t-H 03 C/2 Cd fl cd a fl cs o» bß 03 bß Johann Christian Reil geb. 20. Februar 1759 in Rhaude geat. 22. November 1813 in Halle a./S. Anmerkungen. Reil blieb sich dessen bewußt, daß er das Beste seines Wesens seiner Ab- stammung verdanlvte, er fühlte sich stets als „edler freier Friese“ und rühmt wiederholt die Vorzüge semer Landsleute. So sagt er in dem Aufsatz „Von den Ursachen der Ab- nahme unser physischen Stärke in Vergleichung mit unsern Vorfahren“ (in den Wöchentl. Hallischen Anzeigen 1788): „Die Friesen, und unter diesen meine Landsleute besonders, sind unter allen deutschen Völkern den Sitten und Gewohnheiten ihrer Vorfahren un- streitig am längsten treu geblieben. In ihren Gesetzen und Statuten, in ihrer Sprache, ihrem Namen mid Nationalcharakter finden sich noch allenthalben Spuren, die ihr graues Altertum beurkunden. Sie haben bis auf den heutigen Tag ihren alten Volksnamen erhalten, der bei den meisten VöUrern Deutschlands erloschen ist und bewohnen noch jßtzt das Land, das ihre Väter immer bei allen Revolutionen des wechselnden Glücks durch die Macht ihrer Waffen behaupteten. Unis id Frisiis, sagt Emmius, Deus et ipsorum virtus tribuit. Selbst in Rücksicht der physischen Stärke, glaube ich, daß meine Landsleute gegenwärtig noch eine von den Nationen Deutschlands sind, die auch darin der origmeUen Energie ihrer Vorfahren am nächsten kommen.“ In der Abschiedsrede bei Niederlegung seiner Professur in Halle (1810) heißt es: „In einem Lande geboren, das in seinen Schlupfwüikeln die Trümmer des Biedersinns und der eigentlichen Sitte, sowie die letzten Wurzeln der deutschen Freiheit am längsten grün erhalten hat, werde ich diese mir mit der Muttermilch eingefiößte Gesirmung, die jeder rechtschaffene Mann achten muß, sie mag klug oder unklug, zeitig oder unzeitig sein, als ein heiliges Unterpfand bis an das Ende meiner Tage bewahren.“ 2) Meckel lehrte auch Chirurgie und Geburtshilfe.' ‘ J o h. F r i e d r. G o 1 1 1. Goldhagen wurde 1769 außerordentlicher, 1778 ordentlicher Professor der Medizin und erhielt 1787 die Leitung des neugegründeten klinischen Universitätsinstituts m Halle. Auch der berühmte Markus Herz (Briefe an Ärzte, Berlin 1777) ge- denkt Goldhage ns als seines „unvergeßlichen Lehrers“ und empfiehlt seine Er- fahrungen dem Schutze „des Mamies, dem allein das Gemüt die Befreiung von dem jugendhchen Wahn zu verdanken habe, daß die Arzneiwissenschaft dem empor- strebenden Genie nicht Stoff genug darböte, des Mamies, der mit dem Hippokratischen und Boerhaavischen Genius die göttliche Kunst übt und üben lehrt; des Mannes, von dessen Muße und Laune es bloß abhängt, die Grenzpfähle seiner Kunst weiter hinaus zu stecken und innerhalb ihres Gebiets neues Licht, neue Ordnung zu verbreiten. 3) Tractatus de Polycholia (Hai. 1782). In der Widmung an Goldhagen heißt es: Si beneficia in nos collata, non ex negotio, quod bene merito de nobis facessive- runt, sed ex datoris animo et ex commodis nobis inde progerminantibus aestumanda sunt; remunerantU facultate penitus relinquor ea, quae in me accumulavisti gratiosissimi Tui animi documenta. Tua enim erga me singularis benevolentia, quaedam cogitata nova creandi, alia firmandi iam diu dcsideratissimam praebuit ansam, quae perpetui vitae felicis duces sunto. Mola salsa litabo, qui thura non habeo. In conspectu ommum ingenue fateor, me multis, quae Tui muncris sunt, devinctum esse et liberalitatis Tuae memoriam, amplissimis monumentis consecrandam, imis animi penetralibus infixam mansuram esse, dum anima spirabit Nominis Tui Excellentissimi cultor observantissimus. 41 •') Der zweite Teil des Tractatus de Polyeholia erschien unter dem Titel Frag- menta metaschematisnii Polycholiae, Hai. 1783, und ist Markus Herz gewidmet. Man sicht daraus das innige Verhältnis, in dem Reil zu diesem st a n d. Die schwungvolle Widmung lautet: Cui potius alteram hujus libelli partem commendabo , quam Tibi, Clarissimc Vir! intima familiaritate cum viro primam tutante iuncto , qui meae vitae secundum cursum, cuius ille primus rector fuit, dirigendi [labores suscepisti. Mutua Vestra amicitiae meae sortis columina sunt. Materiam Alteri debeo, Alteri structuram, Illi speculativam cognitionem. Tibi eandem et ad concreta applicatam. Utrique Vestrum, mei commodi sine Vestri spe studioso, maximis devincor beneficiis. Vir quisque bonus quidem amabilis , cui vero liberalis animus eruditione ducitur, splendidiori coruscat luce et Diis proxime accedit. Eruditionem Tuam, tarn in onmi, quam praecipue in philosophica et medica scieatia singulärem praetereo; tanta est et tarn ubique pervulgata, ut meae laudesiTuam famam diminuerent et meae ignorantiae opprobrio essent. Tua vero generosi aninii documenta, quorum et mihi obstrictissimum testem esse contigit, utinam 1 mea praeconia pro dignitate efferrent. Tanta sunt Tua erga me beneficia, ut haererent faucibus verba, si abditos gratissimi animi sensus, meque totum Tibi aperire conarer. Abito tu, suavis libelle! tuus non erubescit sermo, nee timida titubat lüigua, Amicum, Fautorem blanda precator voce, ut te, exiguum domini munusculum, summae suae observantiae signuin benigne accipere velit; vilis quidem merces, ni generosi facti conscia mens sapienti bene- facta referret. Tua, Carissime Amice! dilecta imago, ubivis terrarum, quoquo versum ferar, ante oculos versatura, perpetuo dulcem benemeritorum resuscitabit memoriam. Deus ter Optimus maximus Te, civitatis litterariae ornamentum, familiae decus, amicorum delicias et in tantae aegrotorum multitudinis spem et praesidium diu incolumem servet. Ferge me amare, qui pro Tua et Tuae Carissimae Familiae salute ad supremum vitae halitum ardentissima vovebo vota.Vale. Scribebam Berolini Calend. April. MDCCLXXXIII. Reil hat die Krankheitsgeschichte mit Sektionsbefund ausführlich beschrieben in der Arbeit „Des seligen Obe r berg r at h s J. F. G. GoldhagenKrank- heitsgeschichte“ (Halle 178 8). In der Einleitung mid an mehreren Stellen der Schrift wird die Persönlichkeit Goldhagens anziehend geschildert. ®) Henrich Steffens, Johann Christian Reil. Eine Denkschrift, Halle 1815. ’’) Den Unterrichtsbetrieb schildert Reil folgendermaßen: „Um eK Uhr vormittags, als der eigentlich den klinischen Übungen gewidmeten Stunde, versammeln sich der Direktor, die Zuhörer und die Kranken, denen ihre Krankheit selbst zu kommen ge- stattet; diejenigen, die mit hitzigen Fiebern oder einer anderen heftigen Krankheit behaftet sind, lassen durch abgesandte Personen Hilfe suchen. Jeder Zuhörer hat ein eigenes Tagebuch, worin die Kamen der Kranken, der Ki’ankheit, die Erscheinungen von Tag zu Tag, die gebrauchten Arzneien, innere sowohl als äußere, und ihre Wirkungen in gespaltenen Kolonnen aufgezeichnet werden, damit man den täglichen Zustand der Kranken mit einem Blick übersehen kann. Überdies bekommt jeder Zuhörer ein all- gemeines Verzeichnis, worin bloß die Kamen der Kranken, ihr Alter, die vorhergegangenen oder gegenwärtigen Krankheiten, Gesundheit oder Tod auf besondere Blätter eingetragen werden, um sogleich zu wissen, wie viele geheilt oder nicht geheilt worden sind. Endlich wird von jeder merkwürdigen Krankheit eine genaue Geschichte entworfen, die in den klinischen Jahrbüchern aufbewahrt werden soll. Die Leichname der Verstorbenen werden mit Genehrhigung ihrer Anverwandten geöffnet, wenn in der Kranltheit etwas dunkel war oder etwas Merkwürdiges bei der Leichenöffnung zu erwarten ist. Die neu angekommenen Kranken werden in den klinischen Stunden von den Zuhörern ausgefragt, und nachdem der Zustand der Krankheit bestimmt und die Kuranzeigen festgesetzt worden, verschreibt der Zuhörer, dessen Aufsicht der Kranke übergeben wird, die Arzneien. Von den übrigen 42 wird Bericlit erstattet, und die gefährlichen Kranken werden von dem Lehrer selbst besucht. Die übrige Zeit wird mit Unterredungen über diesen oder jenen praktischen Ocgenstand zugebracht. Wir besitzen zu dieser Absicht eine klinische Bibliothek von therapeutischen, pharmazeutischen und in die Arzneimittellehre einschlagenden, auch andere praktische Bücher, die durch die Freigebigkeit unseres besten Königs errichtet V Orden und durch freiwillige Beiträge der klinischen Zuhörer erweitert wird. Hierzu kommen noch antrometrische Werkzeuge, um den Einfluß der Witterung auf die Ent- stehiuig und die Veränderungen der Krankheiten beobachten zu können; ferner eine mit den einfachen Arzneimitteln versehene Apotheke, die während der klinischen Ver- sammlung geöffnet wird, um den Zuhörern den Weg zur anschaulichen Erkenntnis der medizinischen Werkzeuge zu bahnen. “ (Klin. Denkwürdigkeiten, aus dem Lateinischen übersetzt von Joseph Eyerel, 1. Teil, Wien 1799, Einleitung.) ®) M e m o r a b i 1. c 1 i n i c o r. m e d i c o - p r a c t i c o r u m V o 1. I, E a s c. I. Hai. 1790. Febris nervosa epidemica, Hernia adnata, Lethalis alvi retentio a stenochoria intestinorum, Adversaria quaedam, ad morbos oculorum pertinentia. (Gute Beschreibung der Augenblennorrhöe der Neugeborenen.) Singularis sanguinis resolutio. V o 1. 1, F a s c. II. Hai. 1791. Tenesmus alvi chronicus, Palpitatio cordis (Sektionsbefund, Arteriosklerose, Vitium), Rheumatismus (Tic douloureux), Morbilli (Sekundäraffektionen der Masern; Röteln werden als zwischen Masern und Scharlach stehend betrachtet. Aphthe n). De coctione jDromovenda sordium gastricarum, Pemphigus, Nycta- lops ex spasmo palpebrarum, Febris puerperarum, Contraflssurae basis cranii (mit Ab- bildung). V o 1. II, Fase. I. Hai. 1792. Tractatus de remediorum glutinosorum m haemorrhagias externas virtute et usu, Scrophulae encephali (Gehirntuberkel; Sektionsbefund), Commentatio de affectibus laesae respirationis et deglutionis morbo vari oloso propriis (Sektionsbefund), Ilex aquifolium. De crisibus morborum nervosorum, Varia. (Besonders erwähnenswert sind: Fall eines hysterischen Fiebers, Beobachtung der LTngleichheit des Karotis- und Radialispulses, Nagelveränderungen im Rekonvaleszenzstadium d.es Typhus, „ungues penitus albescentes more capillorum decidebant. Hoc vitio, minori gradu existente, ungues omnes manuum et pedum circa radices linea alba, semilunari notantur, quae superata febre cum lunula parallela prodit, usque dum post plures menses ad apices unguium promota abscinditur“ . ) Fase. IV. Hai. 1795. Ectropium palpebrae superioris, Prolapsus humoris vitrei, Hydrops pectoris saccatus (Sektionsbefimd), Virgo apoplexia peremta (Sektionsbefund), Pericula quaedam circa calcisBis- muthi et Zinci usum instituta (pharmakodynamische Tierversuche), Cholo- poesis uberior; Polycholia, Febris, Febris cholopoesis. ®) Wie er über das Studium der Alten sj)äter dachte, besagen die Worte: Dubitavi nonnunquam, an lectio veterum plus prosit medicis practicis, quam noceat, cum futiles recentiorum opiniones mox cadere, majorum errores thesauri aurei instar in sinu foveri et per secula propagari video, (Memorab. clinic. Fase. IV, p. 54.) ^°) Memorabil. clin. Vol. I, Fase. II, Cap. V. De coctione promovenda sordiumgastricarump. 18 — 144. Durch des Wiener Khnikers Maximilian S t o 1 1 s Autorität war die Lehre, daß viele Krankheiten, namentlich epidemische, g a- strischer und biliöser Natur seien, zu einer dominierenden Stellung gelangt, welche praktisch zu einer übermäßigen Anwendung von Brechmittehr und anderen ausleerenden Mitteln führte. Der Status biliosus wurde auf Grund vager Symptome höchst leichtfertig diagnostiziert. In seinem Tractatus de polycholia hatte Reil noch an dem Schulbegriff der „P o 1 y c h o 1 i e“ als Grundursache vieler Affek- tionen festgehalten und die Ansicht verteidigt, daß dabei im Blute jene spezifischen Elemente, aus welchen die Galle gebildet werde, in übermäßiger Menge vorhanden seien. 43 ydiou dies war in spekulativer Hinsicht ein Fortschritt, da die meisten Anhänger der Lehre liauptsächlich die „sordes primarum viarum“ berücksichtigten. In der zehn Jahre späteren Arbeit über denselben Gegenstand (Memorabil. clinic. Fase. IV., Cap. 6, C h o 1 o p o e s i s u b e r i o r; P o 1 y c h o 1 i a p. 48—107) hat er seine erste Anschauung aufgegeben und lehrt jetzt, daß die „Polycholie“ stets eine Leberkrankheit sei und dadurch bedingt werde, daß sehr differente Ursachen die „Reizbarkeit“ der Leber entweder erhöhen oder deren Tätigkeit durch indirekte Reizung stören. In der Einleitung heißt es: Decennium jam est, et quod excedit, cum juvenile opus de polycholia ederem. Derivabam tune temporis morbum a bilis elementis, justo majori copia in sanguine accumulatis. Sed praebent communes sanguinis partes bili sua stamina, e quibus nunquam, nisi hepatis ope, neque bilis, neque ipsius analogen conficitur. Run- quam hac e causa morbi biliosi progerminant, quamvis hoc opinarcr et mecum id con- tenderint viri, ordini medicorum adscripti ... Polycholia seu cholopoesis jiiiiiia mihi est justo major bilis copia, excessu secretionis hepa- tis n a t a. — Die Abhandlung enthält scharfe Ausfälle gegen die Humoral pathologie und zeigt, wie Reil den Weg der Lokalisation, des anatomisch-physiologischen Denkens zu beschreiten anfängt. Gerade das intensive Nachdenken über die „spezifische“ W irkung der Brechmittel in der „Gallsucht führte ihn darauf, überhaupt eine „spezifische Reizbarkeit der Organe“ anzunehmen und leitete ihn dahin im C h e m i s m u s den Schlüssel zur Lösung der verschiedensten pathologischen imd therapeutischen Fragen zu vermuten. In der Abhandlung „Febris Cholopoesis“ (Memorabil. chn. Fase. IV, Caj). 8, p. 167—219) bekämpft er die herrschenden Theorien des „Gallenfiebers“ und läßt dasselbe nicht mehr als eigene Fiebergattung gelten; es handle sich um ein gleichzeitiges Vor- kommen von Fieber und Gallsucht, wobei die ursächliche Verknüpfung eine verschiedene sein kann. Die GaUe könne er nur als entfernte, keineswegs aber als nächste Ursache eines Fiebers betrachten. Daraus zieht er weitgehende Konsequenzen für die Therapie. Wie sehr sich Reil der umwälzenden Bedeutung seiner Ansichten bewußt ist, geht aus dem Schluß der Arbeit hervor: Veri amore, nec Studio novitatis commotus, quaedam fragmenta, ad emendandam febrium cm’ationem exhibui. Doleo, medicinam practicam, quo altius in ipsius secreta penetrare studeo, eo labihori mereque hypothetico fundamento innixam sese mihi offerre. Hujus effati argumenta üi quovis, quod evolvo, opere practico occurrunt. Quot sunt praxeos regulae verae et certis ex prmcipiis evincendae? Fere omnis medicinae practicae theoria fimditus eradicanda et praecisis scholae subtihtatibus, quas a natura alienas, medicorum cerebra enixa sunt, sohdiori et magis philosophico fundamento, quod experientia sola castaque oeconomiae animalis observatio caste praebuerit, denuo erit superstruenda; ad quod opus, ut manus praebeant omnes viri boni et docti, salus reipublicae hortatur. Fragmenta dedi imper- fecta, forsan hinc inde falsa, uiteriori naturae indagatione amj)lius excolenda et emendanda, quibus dijudicandis si severus, sed rerum medicarum gnarus censor accesserit, ex votis erit. Meri verborum cavillatores in re tanti momenti sibi ipsi opprobrio sunt; at rerum inscitia haud raro verborum censura tegitur. ^^) Zu dieser Anschauung kam Reil aber besonders durch die Beobachtung der Paroxysmen — Krisen — gewisser Nervenkrankheiten, nach welchen ebenfalls eine Besserung des Zustands bzw. Gesundheit eintritt, ohne daß Ausscheidungen damit cinhergehen. Vgl. seine Abhandlung De crisibus morborum nervo- 8 o r u m (in Memorabil. clin. Vol. 11, Fase. 1, Cajj. 5). Dort sagt er: Cr i sin seu morbi j u d i c i u m a p p e 1 1 o o m n c m t u r b u 1 e n t a m i 1 1 i u s s o 1 u t i o n e m . . . Sed mihi videtur, e v a c u a t i o n e m m a t e r i a e non esse n e c e s s a r i u m quid et essentiale in erisi. Vgl. auch die Dissertationen : A. Neu m a n n. 44 De crisibus genuinis morbis nervosis pccuUaribus (Hai. 1792); J. F. C. T h i e m e, Dis.s. notionem criseos sistcns, Hai. 1793, und Journal der Erfindungen, Theorien und Wider- J5prüche in der Katur und Heilkunde, 6. St, Gotha 1794, p. 66- 1 18 : Ü b e r d i e K r i s e n, d i e d e n w a h r e n N c r V e n k r a n k h e i t e n e i g e n s i n d. “ '-) Älemorabil. clin. Fase. IV, Cap. 7, Febris § 6, p. 154-155. Vgl. außerdem die Dissertationen: J. J o s e p h. De metastasi impriinis lactea, Hai. 1792, und Voigtei, ^ De metastasibus, Hai. 1793; ferner Journal der Erfindungen usw. 7. St. Gotha 1794, p. 55—80: „Von den Versetzungen der Krankheitsmaterien, besonders von den Milch- A ersetzungen. Bei den „Metastasen“ liege eine Aktion des Nervensystems zugrunde, ohne alles Versetzen von Kranlrheitsmaterie. Wird die Absonderung in einem Organ gehindert, so geschieht sie als Ersatz in einem anderen, das mit dem ersten durch Nerven in Verbindung steht. . l 13) Memorabil. clin. Fasc.lW Febris § 6, p. 151. Tantum abest, ut vis medicatrix propria sit vis, ut potius naturalium corporis, tarn vivarum quam mortuarum virium eomplexu absolvatur, quae quarumque efficacia, relate ad morbum spectata, vires medica- trices salutantnr. Nolim cogites, vim medicatricem esse systema legum, optima ad morbum praesentem tollendum institutione instructum, quod quasi secundum rationalem finem ea, quae praesentiarum optima sint, peragat. De Helmontii Archaeo et Stahlii Anima corporis salutem prospiciente, multum est, quod dubito . . . Corporis humani vires, prout illud in singulo homine suo modo mixtum et structum, a prima conceptione formatum et imposterum conservatum est, certas sequatur oportet leges. Ad has necessarias leges, vires illi insitae, quae minime semper medicatrices sunt, in morbis vel individui restitutionem vel ipsius interitum perficiunt. Nihil est arbitrarium his in naturae operibus, sed omne omnino necessarium; in singulo casu stulta sunt naturae opera, ut artis correctione indigeant. 11) Die Dissertation von J. E. Küster (I n t r o d u c t i o in A k o 1 o g i a m s y s t e m a t i c a m et rationalem, Hai. 1795. Deutsch, Einleitung in die Akologie oder Wundarzneimittellehre, Leipzig 1801) enthält die Ansichten Reils von der Chirurgie als Kunst, die Krankheiten mit physischen und mechanischen Mitteln zu heilen. Es wird sodarm eine systematische Übersicht der in der Akologie, d. h. der Lehre von den chirurgischen Heilmittehi abzuhandelnden Gegenstände gegeben, und ein Abriß der Geschichte der Instrumentenlehre geliefert. Hierher gehört auch Häger, C e r e o- lorum historia, Hai. 1795. 13) J a e n e k e , Diss. de hydrothorace, Hai. 1797, p. 26. Reil, praeceptor summe venerandus, pectoris percussionem in aegrotis hydroj)e laborantibus et auxilium a schola clinica petentibus ad morbum certius ac impriinis ipsius sedem definiendam, non frustrato multis in subjectis faustissimo cum successu adhibuit. Vgl. auch Reils „Erkenntnis und Kur der Fieber“ II, § 183, und „Entwurf einer allgemeinen Therapie“ XI, p. 296. (Reil schlägt hier auch die Schädelperkussion zur Diagnose von Kojif leiden vor mittels einer kleinen Kugel an einem fischbeinernen Stiel.) 13) Vgl. die Dissertationen von S. G. Sättig, Lentis crystallinae structura, Hai. 1794; und G. C. Krüger, De oculi mutationibus internis, Hai. 1797. Die erst- genannte Arbeit erschien auch deutsch unter Reils Namen: „V o n der f a s e r i g t e n Structurder Crystallinse“in Grens Journal d. Physik (1794), 8. Bd., 3. Heft, S. 325—356. Reil untersuchte Linsen vom Ochsen, Pferd, Hasen, Kaninchen, von Fischen, Vögeln; seine Präparationsmittel waren Alkohol, Salzsäure, weißes Vitriolöl, ver- dünnte Salpetersäure, auch untersuchte er Linsen im gefrorenen Zustand. Auch an menschlichen Linsen nahm er Untersuchungen vor; Mazeration in Wasser und Härtung in verdünnter Salpetersäure oder Einlegen in verdünnte Salzsäure und sodann Härtung in Salpetersäure. Der erste, der die Faserung der Linse nachwies, war L e c u w e n- h o c k. — Reil fand bei der Behandlung mit Säuren, daß die Fasern strahlenförmig — 45 — verlaufen, daß dabei das Organ in einzelne Lamellen zerfällt, welche wie Zwiebelschalen konzentrisch übereinander gelagert, aber niclit durcli die ganze Linse fortlaufend, sondern durch zahlreiche Einschnitte voneinander getrennt sind, und daß sich diese Trennung namentlich an den Polen dcutlicli nachweisen läßt. L r k 1 ä r u n g : Eig. I. in ihre^r ''' '''' getrocknet, deren beide Hälften Fasere fr 1 "" gezeichnet sind. Man .sieht daran Risse, die nach der Lage der dem Pok h f «md, durch welche dreieckige Schuppen gebildet werden, die sich von Pole abgetrennt haben. Besonders bemerkt man an der einen Hälfte der Linse c d e 4G diese Schuppen sehr deutlich. Die Linien, durch welche diese Schuppen begrenzt werden, laufen nicht konzentrisch gegen die Pole zusammen, sondern gehen von einem Polo zum anderen in einem Zickzack am Rande der Linse so fort, daß die Linie a zwischen die Linien c und e, und die Linie h zwischen die Linien d und e fällt. Fig. II. Ein Querschnitt von einer Ochsenlinse, die gleich nach dem Kochen zerschnitten und an der Luft getrocknet ist. Sie zeigt die Ordnung der Seiten und zirkelförmigen Scheidungen an, durch welche i3yramidalische Flächen gebildet werden, die ihre ab- gestumijfte Spitze gegen den Mittelpunkt, die Grundfläche gegen den Umfang gerichtet haben. Fig. III. Ein Durchschnitt einer Ochsenlinse, die nach der Achse in zwei Hälften geteilt ist. Sie wurde vorher gekocht, dann in verdünnter Salzsäure mazeriert und hierauf in zwei HäKten gebrochen. Man erkennt an derselben sehr deutlich die kreisförmigen Schei- dungen tmd die Konstruktion der Blätter. Fig. IV. Eine Scheibe, die quer aus einer Ochsenhnse, die ich vorher kochen und dann ge- frieren ließ, gerade in der Mitte zwischen dem vorderen Pol und dem Mittelpunkt der Linse, parallel mit der Querachse derselben ausgeschnitten ist. Besonders sieht man an dieser Scheibe die drei Seitenscheidungen ab c sehr deutheh, gegen Avelche die Fasern schräge und unter einem spitzen Winkel zusammenstoßen. Die drei Seitenscheidungen, die dazAAÜschenhegen (d) und vom entgegengesetzten Pole kommen, lassen sich nicht deutlich erkennen, weil die Fasern an ihnen liier parallel laufen. Fig. V. Ein Blatt einer Ochsenhnse, die in Salpetersäure gehärtet war, ivm'de an der einen Extremität mit einem Faden umbunden und liierauf mazeriert, bis die Fasern sich trennten. Fig. VI. Ein dünnes Blatt einer in Salpetersäure gehärteten Ochsenhnse, das, nachdem es gegen das Licht gehalten und gelinde von der Seite auseinandergezogen wurde, die zar- testen Fasern, so wie sie von einer Extremität zur anderen laufen, darstellt. Fig. VII. Eine kleinere Scheibe, deren Extremitäten schräg nach den Linien a b und c d abgeschnitten sind. Diese Figur belehrt uns über die Endigung und Insertion der Fasern an die entgegengesetzten Seitenscheidungen. Kämhch die Fasern, die mit dem einen Ende sich an die Seitenscheidung der Linie a b inseriert haben, inserieren sich mit dem anderen Ende an der Linie cd der entgegengesetzten Scheidung. Fig. VIII. Eine in Salpetersäure gehärtete Ochsenhnse, die von der Morgagnischen Feuchtig- keit und den äußersten Blättern befreit ist. Man sieht daran die SteUung imd Ordnung der Fasern. Durch die Linien abede usw. ist sie in sechs Teile geteilt. An die Seiten- scheidungen ah c laufen die Fasern parallel fort; an die Scheidungen d e usw. aber stoßen sie schräg unter spitzem Winkel zusammen. Die Scheidung /, die parallele Fasern hat, ist eine Fortsetzung der Scheidung d, an Avelcher die Fasern konvergieren. Fig. IX. Ein Ideal, um die Stellung und Ordnung der Fasern einer Ochsenhnse daran zu zeigen. Die Scheidungen alternieren; gegen drei derselben (siehe a) konvergieren die Fasern, mit den übrigen drei (siehe c) laufen sie parallel fort. Die Scheidungen, die an der einen Hälfte der Kugel konvergierende Fasern haben, sind Fortsätze der Scheidungen, die auf der entgegengesetzten Hälfte iiarallelc Fasern besitzen; siehe ab und cd. 47 Fig. X. Gleichfalls ein Ideal; die Blätter einer Ochsenlinsc sind an dem einen Pol ver- einigt, am anderen entfaltet dargestellt. An den Blättern a laufen die Fasern von a bis zum Pol c konvergierend zusammen, an der übrigen Hälfte dieser Blätter von a bis h d gehen die Fasern, wenn die Blätter zusammengefügt würden, parallel fort. An den ZOTSchenräumcn der anliegenden Blätter bemerkt man die entgegengesetzte Richtung der Fasern. Fig. XI. Eine Hasenlinse in Salpetersäure gehärtet und von den äußersten Blättern befreit. An den entgegengesetzten Polen bemerkt man zwei kurze Spalten, die sich unter rechten Winkeln sclmeiden. Sie Avird durch vier Scheidungen, nämlich a a und & & in vier gleiche Teile geteilt. Mit den Scheidungen a a a laufen die Fasern parallel fort und stoßen unter rechten Winkeln auf die Spalten. An die Scheidungen bbb stoßen die Fasern unter spitzem Winkel zusammen. Die parallel fortgehenden Fasern aaa konvergieren am entgegengesetzten Pol (siehe b b b). Die Extremitäten der Fasern sammeln sich mehr gegen die Pole an, als bei Ochsenlinsen. Die Scheidungen aaa sind Fortsätze der Schei- dungen bbb am entgegengesetzten Pol. Fig. xn. Ein Ideal, um die Ordnung in der Lage der Fasern an einer Hasenlinse zu zeigen. An der Scheidung a laufen die Fasern parallel fort, und an eben dieser Scheidrmg b kon- vergieren sie am entgegengesetzten Pol. Fig. XIII. Blätter einer Hasenhnse, die an einem Pole vereinigt, am anderen entfaltet sind. Von a d bis zu c konvergieren die Fasern und von der Linie b bis zu d d gehen sie parallel fort, Avenn man diese Blätter aneinander bringen Avürde. Im Nachtrag kommt Reil auf Youngs Arbeit (1793) zu sprechen, bedauert, nicht selbst auf die Erklärung der Akkommodation gekommen zu sein, und schließt sich dessen Meinung an. Zum Schluß sagt er, daß er in Bälde die Ergebnisse seiner Unter- suchungen über den Bau der Nerven und des Gehirns, womit er sich be- schäftigt habe, veröffentlichen werde. „Zwar haben meine Arbeiten bis jetzt nicht den Er- folg gehabt, den ich mir anfangs versprach ; allein sie sind nicht ganz uufruchtbar gewesen. Ich schmeichle mir, manches Interessante für die Medizin und Philosophie des Menschen gefunden zu haben. Es macht Vergnügen, die Geheimnisse der Natur zu entdecken, wenn man gleich nicht augenblicklich einen Nutzen für die Theorie oder Ausübimg der Medizin einsieht. Vielleicht kann meine Arbeit einmal dazu dienen, daß man nähere Aufschlüsse dadurch über die Natur des Stars, über die Entstehung der Kurz- und Weit- sichtigkeit von einer mehreren oder minderen Absonderung der Morgagnischen Feuchtig- keit bekommt. Freilich würde der mehr Verdienst haben, der die faserigte Struktur des Gehirns und seine bestimmte Ordnung und Lage der Fasern desselben entdeckte. Alles dies ist bis jetzt bloß Wunsch. Die Nerven sind Geflechte vieler Stränge von verschiedener Dicke, die aufs mannigfaltigste sich verbinden und miteinander verwebt sind. Sie haben drei Häute, unter welchen die eine und innerste ihnen eigentümlich und ein Analogon der weichen Hirnhaut ist. Diese Haut, die nur eine schwache Verbindung mit den äußeren Häuten, aber eine große Menge von Gefäßen hat, löst sich inwendig in ein röhriges Gewebe auf, dessen Kanäle der Länge nach mit den Nerven fortgehen. Diese röhrigen Kanäle sind die Behälter, aber zu gleicher Zeit auch die A b s o n d e r u n g s Werk- zeuge des Nervenmarks. Das Nervenmark liegt in dieser inneren Haut fadenförmig nach der Form und Struktur, welche die Röhren besitzen. . . . Bei der Untersuchung des Gehirns sind mir die meisten Schwierigkeiten aufgestoßen, und ich habe die geringsten Fortschritte gemacht. Doch habe ich gefunden, daß es ein großer Markknoten von einer 48 — ausgebreitet gegen die Oberfläche des Gehirns bis in die Wi . 1 ^ ^ i schianktes hensonum commune möchte wohl bloß in der Einbildung bestehen so ^e A<.ome-Co„,ptoir;für die me, den itz das Gedächtnis usw. seine eigenen und abgesonderten Departements < ben soll, dureh die einfache Struktur desselben widerlegt werden “ obengenannten Dissertation von Krüger ist der M e e h a n i s m u s d e r A k k o 111 m o d a 1 1 o n besprochen. ■ r f ^ ® ^ ® ^ ^ ^ ^ ^ ^ i e o r 0 h s i c h t i g e' S t e 1 1 e 1 ” ^ 0 s A u g e s“ in seinem Arch. f. d. Physiologie II (1797), p 468 IS 4/3. Die Entdeckung der Macula lutea machten zuerst der Mailänder Arzt Francesco uz ZI und unabhängig von diesem Sömmering (1791). Fig- 1. Fig. 2. Eine Ansicht der hinteren Hiilfte der Häute des Auges, die unter der Linse ringsherum ahgeschnitten sind. Inwendig die Ausbreitung der Netzhaut und der Eintritt des Sehnerven ins Auge . . Eig i das rechte , Fig. 2 das linke Auge. Fig. 1 die Falte, die sich hier in zwei Wulste teilt, wovon die eine über, die andere unter der dünnen Stelle fortgeht; Fig. 2 die Netzhaut ohne Falte und in derselben die eiförmige dünne Stelle derselben. ^®) E X e r c i t a t i o n u m a n a t o m i c a r u m, Fase, primus: De structura n e r V o r u m, Hai. 1796. Das Urteil K. . S p r e n g e 1 s (m seiner Kiätischen L'bersicht des Zustandes der Arzneikunde in den letzten Jahrzehnten, Halle 1801, p. 284) lautet: „ J o h. Christ. Reil lieferte ein anatomisches Werk, welches nicht allein das Gepräge der Trefflichkeit hat, sondern wodurch ganz . neue Aussichten zur Untersuchung des Baues tierischer Teile auf einem bisher wenig bekannten, nur von französischen Natur- forschern vorgeschlagenen Wege eröffnet wurden. Durch Hilfe chemischer Reagentien, besonders der Seifensiederlauge aus der verdünnten Kochsalzsäure, untersuchte er den Bau der Nerven, ihrer Häute und ihrer Gehirnenden so musterhaft, daß er sich schon durch diese Untersuchung allein ein unsterbliches Verdienst um die feinere Anatomie und Physiologie erwarb.“ Reil verwendete verdünnte Salpetersäure , Salzsäure , Kahlauge usw. zur Prä- paration. Nach seinen Untersuchungen bestehen die Nerven aus Bündehi (f a s c i c u 1 i), diese wieder aus vielen Strängen (f u n c s) und diese endlich aus einer JMenge Röhren, welche mit Mark angefüllt sind, Nervenfasern (lila, seü fibrilla). Von der mehr netzförmigen äußeren Zellhaut (Tunica nerv, eellulosa) ist die eigentümhehe Tunica nerv, propria s. Ncurilema durch ihren faserigen Bau charakterisierte Nervenhaut zu unter- scheiden, die keineswegs eine Fortsetzung der Pia mater ist; die von anderen beschriebenen Kügelchen in den Nervenfasern glaubte er für eine optische Täuschung erklären zu können. 49 Mit besonderer Sorgfalt studierte er die Blut- nnd Lymphgefäße der „Nervenhaut“, welche das wahre Absondcrungsorgan für das Nervenmark bilde. Unter allen Körperteilen haben die Nerven am meisten Blutgefäße. In einem Falle von Typhus fand Reil eine besonders große Menge von Blut in den Gefäßen der Nerven angesammelt. „Materia molliori, ex cera, terebinthina, oleo terebinthinae, cinnabere et pigmento, quod c arm in vocatur, confecta, in arterias variarum corporis partium injecta, nervös deinde e cadavere excisos, acido nitri vel saUs corrodi curavi. Hac methodo quidem solas majores arteriolas, juxta funes progredientes, servavi, perditis ipsarum retibus subtilissimis, in neurilemate distributis: nihilominus ingenti vasorum copia obstupef actus, pulcherrima haec naturae opera admirabar. Quando enim bene successerit injectio nervique deinde acido nitri corrosi sint; pro calore flavo, ipsis ab acido nitri familiari, colore floris persici a distri- butione radiculorum tenuissimorum in substantia nervea, infecti cernuntur. Reil weist die Theorie der Oszillation und des Nervensafts zurück und sagt: Secunduin meam sententiain actio nervorum fit mixtione medullae seu processu chemico-ani- m a 1 i, in ipsa substantia peragenda. . . Quomodo vero mutata nervi mixtio alia et jiro ratione niutatae mixtionis, certa quaedam phaenomena proferat, id quidem nescimus . . . Über die trophische Wirkung der Nerven meint er: „Mihi quidem, ad stabilien- dos jirocßssus chemico-animales in corpore humanq, nervi aeque neues» sario ac vasa cooperari videntur“ ... Si itaque nervi deficiunt, vel quodam in organo destruuntur, necesse est, ut ipso hoc in organo actione s, caloris generatio et ipsius n u t r i t i o cessent. Reil ist der Ansicht, daß die Nerven über „ihre Materie hinaus “ einen „r e i z- baren Wirkungskreis“ besitzen, er weist darauf hin, daß nicht jede einzelne Muskelfibrille, jeder mathematische Punkt der Haut innerviert sein könne und trotzdem bestehe überall Motiütät und Sensibilität. „Omni loco, quo sensationem et stimulum ad motum voluntarium observemus, etiam nervum ipsum ejusque medullam quoad materiem adesse, probari posse, vix credo. Älihi potius verisimile videtur, efficaciam nervorum ultra ipsorum materiem extensam, extremitatesque eorum irritabili quasi orbe efficientiae esse circumdatos. “ Eine „sensible Atmosjihäre“ der Nerven nahm auch Hum- boldt (Vers, über die gereizte Muskel- und Nervenfaser, Berlin 1797, I) aus anderen Gründen an. Die ersten Ergebnisse seiner Gehirn forsch ungen veröffentlichte Reil 1795 in der Abhandlung „Über den Bau des Hirns und der Nerven“ (in Grens neuem Journ. d. Physik, Bd. I, Heft 1, pag. 96 ff.). Grens Journ. d. Physik, Bd. VI, H. 3, p. 408—411. (Schreiben an Gren über die sogenarmte tierische Elektrizität.) „Aufschlüsse über die Lebenskraft, die dem Muskel das Vermögen zur Zusammenziehung erteilt, erwarte ich von diesen Er- scheinungen nicht. Mir scheinen dieselben nichts weiter anzuzeigen, als daß die Muskeln sehr empfindheh gegen die Elektrizität sind, Avelche als Muskelreiz wirkt und in der kleinsten Quantität, wie sie sich bei der Berührung verschiedener Metalle entwickelt, Zusammenziehungen hervorbringen kann. Ob diese Versuche in der Folge dazu dienen werden, die Elektrizität der verschiedenen Metalle dadurch zu bestimmen, oder uns auf neue Hilfsmittel gegen paralytische Krankheiten zu leiten, muß die Zeit lehren.“ ^“) Hübner, Ohr. F r i e d r., C o e n a e s t h e s i s, Hai. 1794; Z o 1 1 i k o f e r ab Altenklingen, ,1. Casp., Sensus e x t e r n u s, Hai. 1794; Büttner, Friedr., Functiones organo animae peculiares, Hai. 1794 ; die Abhandlung „über das Gemeingefühl“ erschien auch unter Reils Namen als Anhang zur deutschen Übersetzung des Werkes von de 1 a R o c h e, Analyse des fonctions du Systeme nerveux (Zergliederung der Verrichtungen des Nervensystems, übersetzt von Merzdorf Halle 1794); deutsche Übersetzung aller drei Abhandlungen in J o h. C h r. Neuburger, Johann Christian Reil. 4 50 Reils „gesammelte kleine p h y s i o 1 o g i s c li e Schriften“, heraus- gegeben von einer Gesellschaft angehender Ärzte, Wien 1811, Bd. I, p. 297—415- Bd. II, p. 1—159. In bezug auf die Lehre vom G e m e i n g e f ü h 1 können Leidenfrost (Über den menschlichen Geist, 1794), I r w i n g, Ke r n u. a. als Vorgänger Reils angesehen werden, keiner hat aber diesen Gegenstand so eingehend, kritisch und vielseitig behandelt wie er. Besonders interessant sind die Erörterungen über die Verworrenheit der Vor- stellungen des Gemeingefühls, den Zusammenhang des Gemeingefühls mit dem „Tem- perament , die diagnostische Bedeutung der Sclimerzen, die Krankheiten des Gemein- gefühls iisw. Bemerkenswert ist es auch, daß R e i 1 die Erscheinungen des „tierischen Magnetismus“ aus den „Wirkungen der Einbildungskraft, der Empfindungen und des Gemeingefühls auf das Seelenorgan“ erklären zu können glaubt. Aus Büttners Dissertation seien hier einige Hauptsätze hervorgehoben. Cerebrum, vel ejus pars, qua mutationes organorum sensuum in sensationes conver- tuntur, qua spontanea animae consilia cum corpore communicata, primas corporis mu- tationes ad organa motoria propagandas proferunt, qua anima cogitat, vel alias sibi peculiares actiones neque ad sensationes neque ad motus referendas perficit, organum änimae mihi erit . . . Totum itaque systema nervosum suum contribuit ad stabilienda animae negotia, sed cerebrum ea proxime perficit . . . Cerebro peculiare esse videtur ut intellectuales sensualesque hominum vires constituat, motusque ab arbitrio pendentes incipiat. Als Funktionen des Gehirns werden folgende angeführt. Haec scilicet sunt: 1. Ut motus voluntarios incipiat. Musculus quidem sua propria vi contrahitur, sed irritamento ad contractionem indiget, quod nervi actionem praebet, eaque a cerebro descendit. Qua ex ratione omnes sanos motus voluntarios ab organo animae incipi et illo tm’bato turbari observamus. 2. Sensationes animae perficit ... 3. Ad nobiliores animae func- tiones, cogitationes, judicia, imaginationes etc. cooperatur . . . Haec sui suarumque actionum conscia anima non nisi in organo animae integro consistere potest ... 4. Denique organum animae praeter has ipsius primarias functiones, quasi centrum omnis vis vitalis spectari potest . . . Cerebrum tanquam focum vel ganglium supremum spectamus, quo coUigantur et refiectantur omnes nervorum actiones. 2^) Deutsche Übersetzung dieser äußerst wichtigen und inhaltsreichen Arbeit in Reils ges. phys. Schriften Bd. I, p. 135 — 297. Gautiers, Hübners, Zolli- k o f e r s und Büttners Dissertationen bildeten die Vorarbeiten zu Reils Ab- handlung von der Lebenskraft. 22) Die Abhandlung „Von der Lebenskraft“ (in Arch. f. d. Physiologie Bd. I, p. 8 — 162, abgedruckt in Reils ges. klein, phys. Schriften Bd. I, p. 1 — 135) wurde von S u d h o f f neu herausgegeben (Klassiker der Medizin, Bd. 2, Leipzig 1910). Außer den im Texte angeführten Hauptmomenten der Abhandlung verdienen auch Reils Erörterungen über die Gesetze der Reizbarkeit, über das „Wirkungsvermögen tierischer Organe“, über Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Organe voneinander, über Sympathie (vgl. auch die Dissertation D. Veit, De organorum corporis humani tarn energia sive activitate interna quam cum sociis organis connexione, Hai. 1797) noch heute Beachtung. Interessant ist es, daß wir Reil auch als einen der Vorläufer der Lehre von der inneren Sekretion ansehen können; sagt er doch bei der Besprechung der verschiedenartigen lormen dei Organ- korrelation : ,,E ndlich ist es möglich, daß sich feine Stoffe von einem Organe zum anderen fort pflanzen können bloß nach den Ge- setzen der Affinität, ohne daß ein organisches Verbindungs- mittel zwischen ihnen s t a 1 1 f i n d e t.“ Nach diesen Gesetzen müssen die sympathischen Erscheinungen erklärt werden, die nach dem Lauf der Nerven sich nicht 51 erklären lassen (§17, G). lin vorletzten Kai)itel sind fünf allgcineino Gesetze auf- gestellt, „nach welchen tierische Körper wirken“. Hier linden sicli nicht wenige Ideen entwickelt, welche die Physiologie auf eine ganz neue Basis stellten und heute allgemein anerkannt sind; besonders interessant sind die Anwendungen, welche Reil vom Gesetz der Assoziation der Bewegungen macht. Es würde viel zu weit führen, hier auf die Einzelheiten cinzugehen, das Original selbst muß stu- diert werden! Reils Auffassung der „Lebenskraft“ ist übrigens schon in früheren Schriften angedeutet, z. B. Memorab. clin. Fase. IV, cap. VI, § 15, p. 48 heißt es; Cuique corporis organo sua p c c u 1 i a r i s est m i x t i o, ergo proprias vires et peculiarem capacitatem ad irritainenta excipienda, nt habeat, necesse est. In G a u t i e r s Dissertation über die Reizbarkeit heißt es ( § 5) ... „hieraus erhellt, daß die Materie, wenn eine gehörige Stellung derselben gesetzt ist, hin reicht, die Erscheinungen der Reizbarkeit zu bewirken“; in Zollikofers Dissertation vom äußeren Sinn (§ 3) heißt es: „e s h ä n g e n v i e 1 1 e i c h t v o n d e r M i s c h u n g d e r M a- terie alle Kräfte des Körpers, selbst die Lebenskräfte ab . In der Vorrede zur Übersetzung von delaRoches Analyse des fonctions du Systeme nerveux etc. sagt Reil: „Wir werden weniger die Lebenskraft von einer unbekannten Ursache, die wir Seele neimen, ableiten, welche Meinung auf einmal allen unseren Forschungen Tor und Tür verriegelt , und mehr ihren Grund in Form und Mischung der Materie suchen , auf welchem Wege allein es uns noch Fort- schritte zu machen erlaubt ist.“ Zur Beurteilung der eminenten Bedeutung der Reil sehen Abhandlung von der Lebenskraft ist es nötig, daß man von den gleichzeitigen Bearbeitungen desselben Themas Kenntnis nimmt. In Betracht kommen besonders: H u f e 1 a n d, „Ideen über Patho- genie und Einfluß der Lebenski’aft auf Entstehung und Form der Krankheit“ (1795), B r a n d i s, „Versuch über die Lebenski’aft“ (1795), R o o s e, „Grundzüge der Lehre von der Lebenskraft“ (1798). Von den damaligen Physiologen schlossen sich Hilde- brandt und Prochaska ohne Einschränkung an Reil an. In den zahlreichen Besprechungen der Schrift herrscht aber die Gegnerschaft vor. Rudolphi glaubte zwar gewisse Mängel zu finden, betrachtete aber trotzdem die Arbeit als „Meister- stück“ (vgl. J o h. Müllers Gedächtnisrede auf Rudolphi). Wie sehr sich Reil von allen Ausschreitungen des Chemismus fernhielt, lehrt der Vergleich seiner Ab- handlung z. B. mit der Schrift Ackermanns, „Versuch einer physischen Dar- stellimg der Lebenski’äfte organisierter Körper“. — Unter den späteren Beurteilungen der Reil sehen Schrift ist insbesondere diejenige L o t z e s in seiner berühmten Arbeit über die Lebenskraft in Wagners Handwörterbuch der Physiologie, Bd. 1 (1842) hervorzuheben; dort polemisiert auch V o 1 k m a n n (Artikel „Gehirn“, p. 595—596) gegen Reil. 23) Das „Archiv für die Physiologie“ kam 1796—1815 in 12 Oktavbänden heraus, daran schloß sich J o h. F r i e d r. Meckels „D eutsches Archiv für Phy- siologie“ (1815—1823) bzw. „ArchivfürAnatomieund Physiologie“ (1826—1832), endlich Joh. Müllers „ArchivfürAn atomie, Physiologie und wissenschaftliche Medizin“ (seit 1834). Reil teilte sich seit 1807 in der Redaktion des Archivs f. d. Physiologie mit Autenrieth. Wir setzen einen eigenhändigen Brief R e i 1 s an A u t e n r i e t h hierher (vgl. S. 52). Sehr bemerkeuswert wegen seines Inhalts ist folgender Brief, den Reil am 22. Februar 1807 an Autenrieth gerichtet hat (in Auten- rieths „Ansichten über Natur- und Seejenleben, Stuttgart 1836, p. 454—455). „Doch wünschte ich, daß Sie uns eine Abhandlung über den Zusammenhang des 52 vegetabilischen und animalischen Lebens lieferten. Die Aufgabe mag nicht die leichteste sein, und ich finde in derselben das Problem, was noch keine Naturphilosophie gelöst hat, wie man von der Idee zur Materie komme? Warum ist das bewegende Leben not- wendig an das bildende gebunden, dieses die Basis von jenem? Wie pflanzen sich Meta- morphosen der vegetativen Sphäre auf die animalische fort, und umgekehrt, wie können 4l a / -f ^ ' ^ . / /f . / /) Z,!^ yA ^ ///} -■^UTyi*x_ ^ ^ ^ ^ /V y/n< ^ a/ ^ /f^'-r ^ 4a A y ^ A‘-ryyK. -v- y A 4-< >^V 9 "^V y A. ß. / 0^^ ßjß/ioux 4'^ 4u /l. ß^-ßw Y'A /h*‘!y,ß ^ ßu 4fuu AfA /f • 4ß- Emotionen der Seele auf den Zustand des Körpers wirken? Ich finde Satz von Kraft und Stoff, von Leib und Seele, von Tätigkeit und Sem, von Subjektmtat und Objektivität. Und endlich ge.setzt, wir sehen das Materielle der Organisation a s le fLLte Tätigkeit an, die immerhin iiv dem Leben und durch -e^ Leben also zwischen Bindung und Lösung der Materie schwebend, Avarum kann 53 Wechselspiel nicht innerhalb des Organismus selbst f ortdauern und permanent sein? Warum muß immerhin durch die Alimentation frische Materie eintreten, die alte durch die Exkretion ausgestoßen werden? Sollte nicht der letzte Gegensatz, durch welchen zunächst und unmittelbar die Aktion hervorgeht, immer im Organismus liegen und das absolut Äußere bloß nur jenen Gegensatz sollizitieren? Der Organismus also nur relative Totalität sein, sich selbst reizen und dem Reiz reagieren, also alles m sich haben und aus sich reproduzieren? Sollte nicht das Vegetative und Animalische, Tätig- keit und Stoff, sich gegenseitig als Reiz und Gereiztes zueinander verhalten, so daß bald das Subjektive das Objektive, bald das Objektive das Subjektive erregte, z. B. in dem Gegensatz der Muskel bewegung durch den eigenmächtigen Einfluß? -*) Im Programm des Archivs sind Arbeiten folgenden Inhalts in Aussicht ge- nommen. 1. Chemische Untersuchungen der Bestandteile und Mischungen organischer Körper. Wenn die Erscheinungen tierischer Körper, wie es höchst wahrscheinlich ist, Wirkungen ihrer Materie, und ihre besonderen Erscheinungen Resultate einer eigen- tümlichen und besonders gemischten Materie sind, so muß die Chemie, die uns mit der Materie und ihrer Mischung bekannt macht, vorzüglich den Weg zur rationellen Natur- lehre der tierischen Körper bahnen. 2. Die allgemeine Naturlehre auf tierische Körper angewandt, worin die all- gemeinen Eigenschaften der Materie, Kohärenz, Schwere und Expansivkraft und ihre verschiedenen Modifikationen, so wie sie sich in der tierischen Materie finden, mit be- ständiger Rücksicht auf die spezifische Natur der Körper, in welchen sie sich finden und die Modifikationen, die sie dadurch erleiden, erläutert werden sollen. 3. Struktur und Eorm im tierischen Körper, nach mechanischen und mathema- tischen Grundsätzen erläutert, wodurch die Kräfte der tierischen Materie geleitet und ihre Wirkungen zu höchst eigentümlichen Zwecken bestimmt werden. 4. Anatomie der Pflanzen und Tiere, insofern sie zur Berichtigung der Physiologie des tierischen Körpers dient. 5. Physiologie der Pflanzen und unvernünftigen Tiere, wenn sie uns durch Ana- logien in der Physiologie des menschlichen Körpers leiten kann. 6. Erforschung der Lebenskraft, ihrer Ursachen, Bestimmungen, Modifikationen und der Gesetze, nach welchen sie wirkt. 7. Psychologische Betrachtungen, die zu richtigeren Bestimmungen der Gesetze dienen sollen, nach welchen die Materie bei den Seelenwirkungen verändert wird. 8. Auszüge, Anzeigen und Rezensionen inländischer und ausländischer physio- logischer Schriften. In der an Gren und Jakob gerichteten Vorrede zum Archiv heißt es: „Es ist in der Tat sonderbar, daß unter allen Wissenschaften die Physiologie, wenn ich die Anatomie von ihr ausnehme, verhältnismäßig fast die geringsten Fortschritte ge- macht hat und größtenteils nichts anderes als einen Wust teils ungegründeter, teils sinnloser Hypothesen enthält. Und daran scheint mir nicht allein die undurchdringlich dunkle Natur des Objekts, von dessen schwieriger Untersuchung ich übrigens mehr als zu sehr überzeugt bin, sondern außerdem allerhand subjektive Hindernisse schuld zu sein. Es fehlt an einem vorgezeichneten zweckmäßigen Plan und an richtigen Regeln, nach welchen wir in der Physiologie untersuchen müssen. Wir haben nicht Bestimmtheit und Ordnung genug in unseren Begriffen, streiten uns um Worte, untersuchen nach fehler- haften Methoden, machen falsche Konsequenzen, leiten Erscheinungen von Prinzipien ab, mit denen sie keine Gemeinschaft haben, und beschäftigen uns mit Auflösungen solcher Aufgaben, die nie der menschliche Verstand ergründen wird. Wir suchen den Grund tierischer Erscheinungen in einem übersinnlichen Substrat, in einer Seele, in einem all- 54 gcuiciiiGn Wcltgcist, in eiiiGr Lcbeiiskriift, die wir uns als etwas Unkörperliches denken und werden dadurch in unserer Untersuchung gehemmt oder auf Irrwege geführt. Wir beobachten eine allmähliche Entstehung der Organe und träumen eine Evolution der- selben: wr sehen, daß die meisten tierischen Erscheinungen sich ändern, wie sich das Bewegliche im Raum ändert und wollen es doch nicht als Ursache derselben anerkennen: wir finden im Fieber lauter Erscheinungen kranker Organe, leiteir sie aber von gesunden Organen her, die bloß durch äußere Ursachen gereizt werden. In der Tat würde die Philosophie der Medizin einen großen Dienst erweisen, wenn sie die Begriffe der Ärzte richtiger ordnete, ihr zweckmäßige Methoden zu untersuchen vorzeichncte, ihr bestimmte Regeln, aus Tatsachen Folgerungen und aus einzelnen Beobachtungen allgemeine Gesetze zu entlehnen, mitteilte, ihr die Grenze anwies, über welche die menschliche Untersuchung nie hinausgehen darf, und sie aus dem Reiche der Metaphysik, worin sie sich so gern verirrt, in das Gebiet der Physik zurückwiese. Die Erfahrung überzeugt uns von dem Dasein der Vorstellungen, allein den absoluten Grund derselben werden wir nie finden. Wir beobachten, daß viele tierische Erscheinungen mit Vorstellungen in Verbindung stehen; haben aber keinen Grund, auch andere Erscheinungen, die ohne Vorstellungen wahrgenommen werden, von ihnen oder ihrem übersinnlichen und unerwiesenen Substrat abzuleiten. Den Grund tierischer Erscheinungen, die mit Vorstellungen keine Gemein- schaft haben, und von der Art sind die meisten, müssen wir in dem Beweglichen im Raume weiter nachforschen, und daher muß Physik und Chemie mit der Fackel auf dem Wege der Untersuchung vorangehen. Wir müssen den Tierkörper nicht mehr als ein so ganz mysteriöses und übersimiliches Wesen betrachten, sondern wenn wir die Vor- stellungen ausnehmen, als einen bloß physikalischen Gegenstand mit in die Reihe natür- licher Körper bringen, der den allgemeinen Naturgesetzen, wie Holz und Eisen unter- worfen ist, aber auch wie Holz und Eisen seine Eigenheiten hat. , . , Nachdem uns ein zweckmäßiger Plan vorgezeichnet ist, müssen wir anfangen, nach logischen Regeln Versuche zu machen und aus den gefundenen Resultaten allgemeine Gesetze entlehnen. Nicht durch Vernünfteleien und Hypothesen können wir die Geheimnisse der Natur ergründen, sondern sie will, daß wir sie in ihren stillen Werkstätten beobachten sollen. Viele Ärzte, denen es zwar nicht an Kopf fehlt, haben sich einmal so iimig mit ihren alten Dogmen assoziiert, daß sie es für Sünde achten, ihnen ungetreu zu werden; sie fliehen jede Untersuchrmg, weil sie ihrer Gemächlichkeit widerspricht und scheuen alles, Avas neu klingt, weil sie oft betrogen sind. Ändere leiden an einer anderen ebenso gefährlichen Seuche, nämlich an zu großer Anhänglichkeit an Autoritäten, die ihre eigene Denkkraft lähmt und sie von jeder neuen Untersuchung zurückschreckt. End- lich gibt es noch eine gefährliche Klasse von Menschen im medizinischen Publikum, die alles vor ihren Richterstuhl zu ziehen sich erdreisten, weil sie von allem nichts ver- stehen, den Erfahrungen ein leeres Geplärr entgegenstellen, absprechen, zanken, schimpfen, den ruhigen Denker überschreien und ihre verfälschte Ware unter dem Pöbel der Ärzte durch vermessene Empfehlungen oder durch ihre Geistesähnlichkeit mit ihrem I ublikum, im Umlauf zu erhalten wissen. Wider diese literarischen Rohrdommeln gibt es keine zu- verlässigere Arznei als Stillschweigen und tiefe Verachtung; jeder Widerspruch Avirkt als ein spezifischer Reiz auf ihre Sprachorgane, die aber, Aveil sie A^erstimmt sind, jeden Reiz mit Dissonanzen beantAvorten. “ 2^) Be.sonders ist die Arbeit des jung verstorbenen D a v. a\ ÄI a d a i „Über die Wirkungsart der Reize und der tierischen Organe“ lesensAvert (Archiv 1, H. 3, p. 68 ff.), sic enthält den Inhalt der Schrift von der Lebenskraft noch schärfer formuliert. Es heißt darin (p. 1.3.3): „Kein Physiologe hat je die Existenz einer Lebenskraft als Grundkraft erwiesen, solange er nicht die absolute Uninüglichkeit beweist, die Phänomene des Lebens aus bloßen physischen Kräften der Materie zu erklären. Diese absolute Unmöglichkeit hat aber keiner je bewiesen und kann sie nicht beweisen, solange unsere Erkenntnis von den phj'sischen und chemischen Kräften der organischen Materie so imvollkommen ist, als sie es bis jetzt noch wirklich ist. Nur dem, der mir dartun kami, daß er den Tierkörper von seinen zusammengesetzten Bestandteilen bis zu seinen Ele- menten chemisch kennt, daß er die Natur dieser Elemente in allen ihren tausendfältigen Verbindungen weiß, daß er das freie Spiel aller chemischen und jihysischen Kräfte und die Wirkung der Form und Struktur ergründet habe und dann doch gesteht, daß er aus allen diesen erkannten Modifikationen der allgemeinen Naturkräfte die Erscheinungen, die -nur lieben nennen, schlechterdings nicht erklären könne, will ich es glauben, daß eine neue Grundkraft, Lebenskraft, für die organische Schöpfung nötig sei. Wollen wir jedem besonderen Körper eine eigene Grundkraft beilegen, so können wir auch dem Golde, den Edelsteinen, den Salzen eine solche Kraft zuschreiben und wir werden, wie zu den Zeiten der Aristoteliker, die Zahl der Kräfte bis ins Unendliche vermehren; in dem Magen eine Verdauungskraft, in der Leber eine gallemachende Kraft annehmen. Ich würde diese Digression nicht gemacht haben, wenn ich nicht überzeugt wäre, daß mit dem Begriff der Lebenskraft der Fortgang der Untersuchungen in der Physiologie in Verbmdung stände. Halten wir Lebe ns kraft für ein Resultat der Mischung, so werden wir diese s t u d i e r e n, u m jene kennen zu lernen; halten wir sie für G r u n d k r a f t, so können wir über sie nicht hinausgehen.“ ... Reichen Aufschluß über die weitere Entwicklung Reils biologischer Auffassung geben auch seine im Archiv veröffentlichten meisterhaften Rezensionen, von denen manche den Wert einer eigenen Abhandlung besitzt. 2®) Vgl. die Schrift von der Lebenskraft, § 9 „Veränderte Mischung und Form der tierischen Materie etc.“, Arch. III, p. 429—431; ferner die Arbeit von Jos. S e r v a t. Doutrepont„Über denWechsel der tierischen Materie“, Arch. IV, p. 460 508 (vorher als Diss. de jierpetua materiei organico-animalis vicissitudine, Hai. 1798), ferner Gregorin i, „Über die Vegetation“ (Arch. V, p. 275—312), Meier- o 1 1 o, „Über das Wachstum tierischer Körper“, Arch. V, p. 434—438 (vorher als Diss. de incremento coi’ijoris animalis, Hai. 1801), „Über die verschiedenen Arten des Vegetationsprozesses etc.“ (Arch. VI, p. 120—167). Von pathologischen Beobachtungen fesselte in dieser Hinsicht namentlich die fettige Degene- ration der IVIuskeln Reils. Aufmerksamkeit. 27) Vgl. die Abhandlung „Über die nächste ü r s a c h e der Krank- heiten , Arch. II, p. 209 231. Reil wendet sich in dieser Abhandlung gegen die Humoralpathologen und die Vertreter der dynamistischen Pathologie, ihm ist die Krankheit stets eine Veränderung des inneren Zustands der leidenden Organe. Ganz im Gegensatz zu den herrschenden Anschauungen be- hauptete er dies auch von den Fiebern. „Man muß nur einmal an sich selbst ein Fieber gefühlt haben , um sich durch das Gemeingefühl lebhaft zu überzeugen , daß die febrizitieren den Organe nicht etwa bloß von außen g e n e c kt werden, sondern an einer inneren Krankheit leiden. — „Die nächste Ursache der Krankheiten nenne ich denjenigen inneren Zustand des Körpers , aus welchem die Krankheit erkaimt werden kann , oder in welchem unmittelbar die Symptome der Krankheit gegründet sind. Allein was ist dies eigentlich für ein Zustand? Solange wir diese Frage nicht befriedigend auflösen können, haben wir weder von der Krankheit noch von ihrer nächsten LTrsachc einen 56 deutlichen Begriff. “ . . . „Krankheit ist nicht etwa ein Zustand des Körpers, der dem gesunden gerade e n t g e g e n s t e li t, sondern Gesundheit und Krankheit sind nur verschiedene Modifi- kationen d e s s e 1 b e n. ■* ... Da wir uns in einem Organe keine andere Modi- fikation seines Zustands denken können als die, welche durch Veränderung der Form und Mischung seiner Materie veranlaßt wird, so setzt eine jede Krankheit eine v e f ä n d e r t e Form oder ]\I i s c h u n g der tierischen Materie, und zwar unmittelbar in dem Organ, das leidet, voraus. ... Die Einteilung in Krankheitsursachen, Krankheit und »Symptome derselben ist ein sub- jektiver Behelf unseres Verstandes, der sich die Dinge vereinzelt, um sie sich deutlich zu denken. ... „Die Abweichungen in der Organisation und die sichtbaren Verletzungen, die wir bei denLeichenöffnungen entdecken, sind entweder entfernte Ursachen dieser Krankheiten oder Wirkungen derselben. Das Wasser bei der Wassersucht des Gehirns ist nicht nächste Ursache des Wasserkopfs, diese muß in einer Krankheit der aus- hauchenden Gefäße oder der Saugadern liegen, sondern es ist Wirkung derselben.“ „Die letzte Wirkung der Heilmittel in Krankheiten ist allemal die, daß sie nach chemischen Gesetzen die vorhandene kranke Mischung der tierischen Materie in eine gesunde verwandeln. “ . . . Vielleicht gibt es einige Arzneimittel, z. B. die absorbierenden und adstringierenden Mittel, die örtlichen Arzneien und die chirurgischen Heilmittel, die direkt auf den leidenden Teil wirken. Allein in den meisten Fällen werden wir uns wohl einen falschen Begriff von der Wirkung der Heilmittel machen, wenn wir glauben, daß sie auf dieselbe Ai’t, wie unsere gegenwirkenden Mittel in den chemischen Werk- stätten, unmittelbar wirken. ... Der lebendige Körper hat ganz andere chemische Gesetze als der tote; in ihm ist eine gewisse Har- monie seiner Organe vorhanden, vermöge welcher das eine seine Veränderungen dem anderen mitteilt; er hat gewisse Systeme, die Digestionsorgane, Lungen, Blutgefäße und Nerven, durch welche zunächst die chemischen Veränderungen im Körper bewirkt werden, und durch welche also die Wirkungen -der Arz- neien sich mittelbar auf die übrigen Organe fort pflanzen können. „U nsere Erkenntnis von der Wirkung der Arzneimittel ist empirisch. Was wir von verändernden, blutreinigenden, die Säfte verbessernden, auflösenden, einschneidenden Mitteln sprechen, ist größtenteils nichts anderes als eine sinnlose Traduktion aus der toten Natur in die lebendige. Bis jetzt kennen wir noch von den wenigsten Mitteln ihre Bestandteile, wenigstens fehlt es uns ganz an einer Er- kenntnis des quantitativen Verhältnisses derselben, das doch die Wirkungen des Mittels so mannigfaltig abändert. Wir wissen nicht, auf welche Art sie im Körper verändert, in ihre Bestandteile zerlegt und zu neuen Substanzen verbunden werden. Wir wissen endlich nicht, was sie für Veränderungen in der Mischung und Form der tierischen Materie verursachen; wie und auf welche Art, auf welche Organe sie zunächst und unmittelbar, und auf welche sie mittelbar durch andere wirken. “ Seine Ideen über eine rationelle Bearbeitung der Heilmittel- lehre hat Reil in dem Aufsatz „Beitrag zu den Prinzipien für jede künftige Pharmakologie“ (in Röschlaubs Magazin zur Vervoll- kommnung der Heilkunde, 1799, Bd. 3, St. 1, p. 26 ff.) entwickelt. Die dort aus- gesprochenen Grund.sätze sind heute allgemein anerkannt. „Der einzige M cg, der Pharmakologie mehr Vollkommenheit zu verschaffen,“ sagt R e 1 1, „ist also der. Versuche anzustellen, die Resultate genau zu fassen und die isolierten Er- 57 fahrimgen unter höhere C4esetze zu subsumieren ... für jetzt ist eine wissenschaftliche Pharmakologie noch unmöglich. Der Weg, dahin zu gelangen, ist bestimmt, nämlich a) ein beharrliches Studium der Natur, besonders der Mischung der Arzneikörper; b) Studium der Physiologie und besonders der tierischen Chemie; c) treue Beobachtung dessen, was beim Konflikt der Arzneien mit dem Menschenkörper entsteht und eine richtige Verknüpfung dieser Phänomene unter höhere Gesetze.“ Von großer Bedeutung ist auch die Abhandlung „Veränderte Mischung und Form der tierischen Materie als Krankheit oder nächste Ul’ Sache der Krankheitszufälle betrachtet , Arch. III, p. 424 461. In der Einleitung verteidigt Reil nochmals seine biologische Theorie und sucht einige Haupteinwürfe gegen dieselbe zu widerlegen. „Ist Mischung und Form der Grund der tierischen Erscheinungen, so wissen wir, was wir wissen, nicht wissen und vorjetzt nicht wissen können. W^ir haben auf einmal ein festes Prinzip für die Arzneikunde und eine Norm ihrer Kritik aufgefunden, deren sie so sehr bedarf. Es eröffnet sich uns ein unermeß- hches Feld neuer Untersuchungen, großer Entdeckungen. Freilich hat die Chemie organischer Körper gegenwärtig noch wenig geleistet. Aber deswegen verzage man nicht. Was war die Anatomie in ihrer Kindheit und was ist sie jetzt? . . . Was soll der Einwnrf bedeuten, daß der Chemiker aus bloß roher Materie in seinen Tiegeln noch kein Tier habe zusammensetzen können. Stehn demi dem Chemiker die Kräfte zu Ge- bote, die der Natur zu Gebote stehen?“ — der Materie, sagt man, sei die Zweck- mäßigkeit der Form, die Zweckmäßigkeit in der Ökonomie der Tiere überhaupt nicht zu begreifen. Ist denn die Regelmäßigkeit der Kristalle aus der Materie begreiflich? Ist das alles nicht wahr, was wir nicht begreifen können? Sehen wir nicht überhaupt nur Phänomene, ohne den letzten Grund derselben zu erfahren, ohne es zu erfahren, was die Materie an sich sei?“ Reil spricht sich in dieser Abhandlung darüber aus, was er unter „M ischungsverletzungen“ versteht: „Ich nehme dieses Wort nicht im strengsten chemischen Sinne, sondern zeige durch dasselbe jede Abweichung der organischen Materie von ihrem gesunden Zustande an, sie mag durch Verminderung oder Vermehrung der Masse, dm’ch Mengung und Lßschung, Zusatz neuer oder Ent- ziehung der gewöhnhchen Stoffe, durch Veränderung des quantitativen Verhältnisses, durch andere Verbindung der Bestandteile geschehen sein. . . . Ebenso nehme ich auch das Wort Form in einem weiteren Sinne und verstehe nicht allein die Bildung und den Umriß der einzelnen Teile darunter, sondern auch ihre Größe, ihre Zahl, ihr Ebenmaß, das Verhältnis derselben untereinander und die Regeln, nach welchen jedes Organ an seinem Orte in dem Individuum gestellt sein muß.“ — Bei denjenigen Krankheiten, bei welchen wir eine Verletzung der Mischung und Form der tierischen Materie sinnhch wahrnehmen, sind die Krankheitszufälle eben in dieser verletzten Mischung gegründet. Der verletzte Zustand der Materie ist also gerade das, was wir Krankheit nennen. ... Es bleiben freilich Krankheiten übrig, bei welchen war keinen hinlänglich sichtbaren veränderten Habitus wahrnehmen. . . . Wie viele Mischungs- veränderungen mögen in der organischen Materie möglich sein, ohne daß wir sie gleich durch einen veränderten Habitus erkennen. “ Beispielsweise bespricht R e i 1 die Krank- heiten der Mamma, soweit sie auf Veränderung der Form oder Mischung beruhen. Dem gegebenen Muster folgen die Arbeiten von S c h a 1 1 h a m m e r, „Krankheiten der Muskelfasern, die in ihrer verletzten Mischung und Form gegründet sind“ (Arch. III, p. 222—290), K a d e, „Über die Krankheiten des Magens, die von einer verletzten Normalform und Mischung entstehen“ (1. c. p. 365-.387), G o e t z, „Krankheiten der Bänder, die von einer Verletzung ihrer Normalform und Mischung hcrrühren“ (1. c. P- 387—413), Sy bei, „Krankheiten des Auges, die aus einer verletzten Mischung und Form de.sselben erkennbar sind“ (Arch. V, p. 1—67, 357—382). 58 R c 1 1 legte auf die pathologisclie Anatomie großen Wert und betrieb sie eifriger als andere, aber die wichtigsten Erkenntnisse verspracli er sich von der ])athologischen Chemie. Er unterstützte alle Bestrebungen, welche darauf abzielten, die Diagnostik durch die chemische Untersuchung der Sekrete und Exkrete zu verbessern; kurz vor Aufhebung der Universität Halle war es ihm gelungen, die Anstellung eines eigenen Chemikers für die Klinik — Gehlen — durchzusetzen. 28) Wir verweisen nur beispielsweise auf seine Abhandlung „Ein Beitrag zur medizinischen Z e i c h e n 1 e h r e“ (Arch. III, p. 105-148), in welcher gegenüber der Semiotik der alten Medizin das Programm einer auf die Erkenntnis physiologischer Zusammenhänge gegründeten Diagnostik entworfen ist. 28) Den Gegensatz der Brown sehen und Reil sehen Krankheitstheorie weist die Dissertation von tSp annagel, System ata Reilii et Brunonis sibi o p p o s i t a, Hai. 1798, nach; vgl. auch die Abhandlung von W i 1 m a n s, Grund- satz der Beurteilung des Brownschen Svstems (Arch. f. Physiol. IV, p. 1-63). 38) Ueber die Erkenntnis und Kur der Fieber. 1. Aufl. Halle u. Berlin 1799—1815, 3. Aufl. 1820—1828. 1. Band: Einleitung in die Heilkunde, Exposition des Fiebers, die nächste Ur- sache des Fiebers, entfernte Ursachen des Fiebers, Eigenschaften des Fiebers, Vorboten und Symptome des Fiebers, vom Typus und den Zeitläuften des Fiebers, von der Roh- heit, Kochung und Krise der Fieber, zufälhge Differenzen des Fiebers, wesentliche Diffe- renzen des Fiebers, System der Fieberlelu-e, allgemeine Vorhersagung in Fiebern, all- gemeine Kurmethode der Fieber, vom Blutlassen, von der Erregung des Erbrechens, von der Erregung des Laxierens, Mittel, die die Transpiration vermehren, von der Be- förderung der Absonderung und Ausleerung des Urins, rotmachende Mittel, Fliegen- pflaster, Senfteig, Ventosen und andere Hautreize, Wirkung und Anwendung der Bäder in Fiebern, Richtung der tierischen Wärme, allgemeine Lebensordnung in Fiebern, die antiphlogistische Lebensordnung, Methode, die Fieberkranken zu untersuchen, Synocha ( Entzündungsfieber) , Ty^rhus, von der Lähmung, Formeln zu Arzneien und Nahrungsmitteln. 2. Band: Gefäßfieber, Wechselfieber, Saugaderfieber, Entzündung, Entzündung der Häute der Blutgefäße, Entzündung der Saugadern und Saugaderdrüsen, Knochen- entzündung, Rose, Zungenentzündung, Entzündung des Rachens und des Schlundes, Entzündung der Luftröhre, Bauernwetzel, Pneumonie, falsche Lungenentzündung, Leberentzündung. 3. Band: Kongestion des Blutes, von den Blutungen überhaupt, Nasenbluten, Bluthusten, Blutharnen, Hämorrhagie des Speisekanals, Goldaderfluß, Gebärmutter- blutfluß, Krankheiten der Lebenskräfte in den Ab- und Aussonderungsorganen, ab- norme Vitalität der Speicheldrüsen des Mundes, Polygaha und Agalaktia, kranke Aus- dünstung der Haut, Gallsucht, Harnruhr, von den Blennorrhöen überhaupt, Blennorrhöe des Magens und Darmkanals, Blennorrhöe des Mastdarms, Blennorrhöe der Harnwege. 4. Band (erste Auflage , „demOberconsul der französischen Republik Buon aparte, dem Kenner und Freunde der Wissenschaften“, gewidmet): Physiologie des Nervensystems, von den Nervenkrankheiten überhaupt, von den Geisteszerrüttungen, der Alp, Nervenitrank« heiten, die durch abnorme Bewegungen sichtbar werden. Reil stellt versuchsweise folgende Einteilung der Nervenkrankheiten auf: Krankheiten des Gemeingefühls, Krankheiten der äußeren Sinnesorgane, Krankheiten des inneren Sinns, Nervenkrank- heiten , die sich durch abnorme Bewegungen äußern, Krankheiten, die sicli durch abnorme Sympathien äußern, Krankheiten der Nerven, sofern sie Vegetationsinstrumente sind und eine abnorme Ernährung des Körpers nacli sich ziehen. 59 5. Band: Exantheme (naeh dem Tode des Verf. hrsg. von Nasse 1815, neue Aufl. Berlin 1828. In der Vorrede heißt es: „Ich habe die Lehrgebäude älterer und neuerer Ärzte geprüft, bin bald ein Anhänger dieses, bald eines anderen Systems ge- wesen. Allein bei keinem, ich gestehe es aufrichtig, habe ich die Beruhigung ge- funden, die ich suchte, sondern mich jetzt vollkommen überzeugt, nachdem ich lange genug von dem Strudel grundloser Hypothesen hin und her geworfen bin, daß es Regionen in der Medizin gibt, wo es noch stockfinstere Nacht ist, die nicht durch Hypothesen, sondern nur durch Versuche und Erfahrungen aufgeklärt werden kann. Gestützt auf Erfahrungen in der Naturlehre, glaube ich, daß Körper, die einerlei Phä- nomene hervorbringen, auch aus einerlei Materie bestehen, und daß Veiänderung ihrer Phänomene ein zuverlässiger Beweis ihrer veränderten Natur sei. Ich glaube, daß gleiche und verschiedene Phänomene die einzigen Zeichen in der Naturlehre sind, auf welche unser Urteil über Gleichheit und Verschiedenheit der Körper in der Natur sich gründet. Ich halte dafür, daß von diesem überall bestätigten Gesetze die organischen Körper keine Ausnahme machen dürfen, wenn wir nicht unserer Naturphilosophie und dem Ge - setze der Kausahtät einen empfindlichen Stoß versetzen wollen. Ich schheße hieraus, daß der ununterbrochene Wechsel derjenigen Phänomene in der tierischen Ökonomie, die nach mechanischen Grundsätzen nicht erklärt werden können, eine Veränderung der Mischung im weitläuftigeren Sinn voraussetze, als dem einzig gedenkbaren Mittel, wodurch bei dem Wechsel der Erscheinungen, die in dem Organ notwendige gleichzeitige Veränderung seines inneren Zustandes wirkheh werden könne. Ich sehe es, daß organische Körper beständig Stoff aufnehmen, verarbeiten und ihn wieder von sich geben. Ich sehe es, daß sie immerhin ihre Mischung und ihren Aggregatzustand überhaupt und in ihren einzelnen Teilen aufs mannigfaltigste abändern. Ich glaube, daß wir vorjetzt davon, wie die Mischung organischer Körper bei ihren Aktionen verändert werde, nichts wässen und vielleicht nie, wenigstens in unserem Zeit- alter, davon etwas mit Zuverlässigkeit erfahren werden. Ich folge hieraus, daß wir von allen gesunden und kranken Phänomenen tierischer Körper, die sich auf ihre Mischung beziehen, dermalen keine wissenschaftliche Erkenntnis haben können und des- wegen alle Krankheiten dieser Art empirisch, ihrer Ätiologie, Phänomenologie und Therapie nach, studieren, alle Hypothesen verbannen und eine geläuterte Empirie einführen müssen. “ „Vielleicht wirft man mir vor, daß ich auch eine Hypothese in meine Pieber- lehre verwebt habe, nämhch die, daß der letzte Grund der Krankheiten, die man auf eine fehlerhafte Lebenskraft zu beziehen gewohnt ist, in einer fehlerhaften Mischung hege. Allein wenn ich dies zugeben sollte, so wird man auch so billig sein, mir einzuräumen, daß ich sie nur einer anderen von der identischen Lebenskraft an die Seite gesetzt habe, und daß ich dieser eine Hy^jothese entgegengesetzt habe, die tausend andere und un- fruchtbare Hyjjothesen stürzt und ihr nie schaden kann, wenn man ihr keinen Einfluß auf die praktische Arzneikunde einräumt. Davor habe ich mich aber überall verwahrt und es oft und deutlich genug gesagt, daß wir von der gesunden und kranken Mischung nichts wissen, also auch nichts daraus folgern dürfen, sondern uns lediglich an die Er- scheinungen und Gesetze halten müssen. Indessen glaube ich doch, daß der Einfluß der Mischung auf die Ökonomie der Tiere so unleugbar sei, und daß uns so viele Beweise für die Existenz kranker Mischungen in der Erfahrung Vorkommen, daß meine Behauptung nicht ganz als eine nackte Hypothese aufgestellt werden dürfe.“ „Die Gattungen der Fieber habe ich auf zwei verschiedene Kraftäußerungen der tierischen Organe, auf ihre Reizbarkeit und ibr W i r k u n g s v e r m ö g e n gegründet. Dies bezieht sich auf die Art der Veränderung, die zur Zeit der Aktion in dem Organ stattfindet und in den Bewegungsorganen schwache oder starke An- 60 Ziehung, in den Einpfindungswerkzeugcn schwache oder starke Em])findungen zur Folge hat; jene auf die verschiedene Leichtigkeit , mit welcher diese Veränderung durch eine äußere Ursache in den Organen erregt werden kann.“ „Seit einiger Zeit ist die Klage über den Verfall der echt hij)pokratischen Medizin, über hypo- thesensüchtige Zeiten, Schein und Gleisnerei, Xeuerungen, chemischen und philo- sophischen Bombast laut geworden. Man hat die Ärzte als Vormund derselben, freilich eigenmächtig, aber wahrscheinlich aus reinem Patriotismus für die Kunst, von diesem Unwesen zu warnen und sie wieder auf den Weg der Beobachtung zurückzuweisen gesucht. Allein sollte der große Haufe der Ärzte nicht schon zu viel beobachten und zu wenig denken? Sollte die geführte Klage überhaupt wohl Grund haben? Sollte die Medizin in allen ihren Zweigen, Chemie, Anatomie, Chirurgie usw. wohl je auf der Stufe der Vollkommenheit gestanden haben, auf welcher sie gegenwärtig steht? Klagt man nicht etwa über solche Arzte, die den Hypothesen widersprechen, welche die unserigen sind? Sollten wohl die Bücher der Arzte, die über hypothesensüchtige Zeiten schreien, frei von Hypothesen sein? Sollten es wohl reine Erfahrungen sein, was wir von den Wirkungen der Krankheitsursachen, von Schärfen, Miasmen, Krisen, Verstopfungen, von den Wirkungen der Arzneien usw. lehren? Das naekte Anschauen, wobei der Ver- stand untätig bleibt, ist ohne Kraft, und einzelne Erfahrungen, die nicht unter allgemeine Regeln subsumiert sind, ermüden das größte Genie. Wir müssen den vielartigen Stoff unserer Anschauungen unter höhere Prinzipien zusammenknüpfen . . . nur müssen wir unsere Vernunft bei diesem Bedürfnisse, ihre Anschauungen zu generalisieren, zügeln, damit sie ihrer Führerin, der Erfahrung, nicht vordringt.“ Auf den Inhalt der fünf Bände der Fieberlehre kann hier im einzelnen nicht ein- gegangen werden, es sei nur gesagt, daß die Geschichte der meisten Spe- zialfächer der Medizin — weit mehr als dies bisher geschelien ist — von Reils Anschauungen und Leistungen Kenntnis zu nehmen h a t, umfaßt doch das Werk das gesamte zeitgenössische medizinische Wissen, durch- setzt von den originellen Auffassungen und den überaus reichen, kritisch gesichteten Eigenerfahrungen des Verfassers. Den Zentralgedanken bildet Reils merkwürdiger Fieberbegriff. „E i n F i e b e r ist eine widernatürliche Veränderung der tierischen Kräfte eines Organs, ohne eine sichtbare mit derselben in Verbin- dung stehende Verletzung der Struktur desselben, nämlich eine Erhöhung der Reizbarkeit, wobei d a s W i r k u n g s v e r m ö g e n unverletzt oder geschwächt ist, verbunden mit einer erhöhten Reizbarkeit derjenigen Kerven und Gefäße, die dem fiebern- den Organ zunächst angehören. Durch die vermittels dieses Zustandes, bestimmten tierisch - che mischen Prozesse kann endlich alle tierische Kraft desselben zugrunde gehen“ (Bd. 1, 1. Auf!., § 19). „Das Fieber ist keine absolut allgemeine, sondern oft eine örtliche Krankheit und als solche nicht an eine bestimmte Art von Organen gebunden, sondern affiziert bald diese, bald jene“ (1. c. § 57). „Die Fieber- zufällc lehren uns, daß durch das Fieber die eigentümlichen Wirkungen der kranken Organe so verändert sind, daß sie entweder hastig, aber hinlänglich stark, oder zwar hastig, aber schwach erfolgen, oder daß endlich die eigentündichen Wirkungen der Organe ganz und gar aufgehört haben.“ „Aus der Natur dieser Phänomene schließen wir auf eine ähnliche Krankheit der Kräfte, durch welche sie wirklich werden und nehmen da- nach eine dreifache Verletzung denselben an, nämlich, erhöhte Reizbar- keit mit einem verhältnismäßig starken W i r k u n g s v e r m ö g e n ; erhöhte Reizbarkeit mit einem geschwächten W i r k u n g s- 61 V c r ni ü g c 11, ciidlicli ]\I ci ii g c 1 der Reizbarkeit und des W i i k ii n g s- vermögen s. Auf dieser verschiedenen Verletzung der tierisclien Kräfte gründen wir nun die Cattungen der Fieber“ (1. c. § 135). „Ich nehme also drei Gattungen des Fiebers an, nämlich S y n o c h a, bei welcher die Lebenskräfte, wenigstens die Reiz- barkeit erhöht und das Wirkungsvermögen der kranken Organe nicht geschwächt ist. Wir erkennen sie an zu hastigen und verhältnismäßig starken Aktionen der hebernden Organe. T y p h u s, bei welchem nur die eine Äußerung der Lebenskraft, ihre Reizbar- keit, erhöht, das Wirkungsvermögen aber geschwächt ist. Wir erkennen ihn an hastigen Aktionen der hebernden Organe, die aber schwach sind. L ä h m u n g, bei der beide Äußerungen der Lebenskraft, Reizbarkeit und Wirkungsvermögen, in den kranken Or- ganen geschwächt oder zerstört sind. Wir erkennen sie an einem Mangel der eigentüm- lichen Wirkungen der hebernden Organe. Diese dreifach verschiedene Verletzung der Lebenskraft und ihrer Äußerungen in den fiebernden Organen, die in der verschiedenen Art der Verletzung der Mischung der tierischen Materie gegründet ist, ist also das Moment, auf welches sich die durch sinnhehe Merkmale erkennbaren drei wesentlichen Differenzen des Fiebers, als Gattung betrachtet, gründen“ (1. c. § 136). Was die Therapie anlangt, habe man bei der Synocha antiphlogistisch, beim „Typhus“ im allgemeinen beruhigend zu verfahren, doch seien bei diesem letzteren zuweilen, wenn das Wirkungsvermögen zu schwach ist, auch stärkende und selbst reizende Mittel indiziert; bei wirklicher „Lähmung“ nutze nur die erregende Kurmethode. Für die einzelnen hebernden Organe gebe es spezihsch wirkende Mittel, ebenso bedinge der Sitz des Fiebers in verschiedenen Organen eine wechselnde Anwendungs- art der Ableitung und Revulsion. Als eigentliche Febrifuga, d. h. Mittel, welche die erhöhte Reizbarkeit abstumpfen, nimmt Reil neben China und warmen Bädern auch Kampfer und OjDium an (vgl. Th. Hirsch, Die Entwicklung der Fieberlehre, Berlin 1870). Die eigenartige Fiebertheorie Reils hndet sich schon in seinen „MemorabiUa clinica“, Fase. IV, 7, entwickelt. Den Ausgangspunkt seiner Lehre bildet die Beob- achtung, daß im Fieberzustande eine veränderte (erhöhte) Tätigkeit verschiedener Organe zu bemerken ist, welche nach seiner Meinung nicht allein vom Fieberreiz, sondern von einer Veränderung der Vitahtät, also im letzten Grunde von einer veränderten JMischung der Organe abzuleiten sei. Unter Hinweis auf „lokale“ Fieber, auf das larvierte Wechselheber, welches einzelne Teile befällt, Entzündung usw., glaubt er in der Funktions- steigerung an sich, also in der erhöhten Reizbarkeit ,das Wesen des Fiebers zu erkennen. Durch die Berücksichtigung eines zweiten Faktors, des „W i r k u n g s- Vermögens“, gelangt er zur Aufstellung der zwei Fiebergattungen „Synocha“ und „Typhus“. Diesen fügt er im Hinblick auf die im Verlauf bösartiger Fieber auf- tretenden Schwäche- und Lähmungserscheinungen noch die dritte — später aber wieder fallen gelassene — Gattung „Lähmung“ hinzu, welche aber nur konsekutiv vorkomme. Reil stand unter dem Einhusse C u 1 1 e n s, der drei Typen des Fiebers: S3mochus, Synocha und Typhus unterschieden hatte, und E 1 s n e r s (Beiträge zur Fieberlehre, Königsberg 1794), welcher das Fieber von einer Veränderung der Reizbarkeit abhängig machte. In der Vorrede zum dritten Band seiner Fieberlehre identihziert er „Fieber“ mit „dynamischen Krankheiten“, „Krankheiten der Vitalkraft“, doch fühlt er selbst die Schwierigkeit der Abgrenzung. In dieser Hinsicht orientiert die Abhandlung von W i 1 m a n s, „Über die medizinische Kunst und ihre Methodologie“ (Arch. f. Phys. III, 202—348), wonach „Fieber“ alle jene Krankheiten sind, bei denen verstärkte oder geschwächte „Wirkungen“ beobachtet werden, während „Nichtfieber“ (z. B. Syphilis, Blattern usw.) jene Affektionen umfassen, bei denen ganz f r e m d a r t i g o Wirkungen zum Vorschein kommen. 62 =»■) Bd. I (1. Aufl.), §§ 19, 27, ;n, 76, 221. ^-) In Reils Therapie der Nervenkrankheiten spielen folgende Mittel eine Rolle; Blutentziehung, Laxantien, vegetabilische Säuren, Molken, verschiedene Nervina, z. B. Valeriana , Aq. Laurocer. , Castoreinn , Mohnsaft , Roborantia , Bäder , Musik, Magnet, e s in e r i s in u s, Elektrizität und CI a 1 v a n i s in u s, IMassage usw. , „körperliche und moralische (Seelen-) Diät“. Gerade die „D i ä t e t i k d e r Seele“ ist sehr ausführlich behandelt (1. Aufl., § 46). 33) 2. Aull. 1818. Die erste Auflage ist dem Prediger Wagnitz gewidmet, welcher, von humansten Absichten erfüllt, in Halle Verbesserung der Trrenpflege ein- geführt und das bedeutsame Werk veröffentlicht hatte, „Historische Nachrichten und Bemerkungen über die merkwürdigsten Zuchthäuser in Deutschland“, Halle 1791. 3') „Wir sperren diese unglücklichen Geschöpfe gleich Verbrechern in Tollkoben, ausgestorbene Gefängnisse, neben den Schlupflöchern der Eulen in öde Klüfte über den Stadttoren, oder in die feuchten Kellergeschosse der Zuchthäuser ein, wohin nie ein mitleidiger Blick des IMenschenfreundes dringt und lassen sie daselbst, angeschmiedet an Ketten, in ihrem eigenen Unrat verfaulen. Ihre Fesseln haben ihr Fleisch bis auf die Knochen abgerieben, und ihre hohlen und bleichen Gesichter harren des nahen Grabes, das ihren Jammer und unsere Schande zudeckt. Man gibt sie der Neugierde des Pöbels preis, und der gewinnsüchtige Wärter zerrt sie, wie seltene Bestien, um den müßigen Zuschauer zu belustigen. Sie sind wie die Pandekten ohne System, oder konfus wie die Ideen ihrer Köpfe, in den Irrhäusern geordnet. Fallsüchtige, Blödsinnige, Schw^ätzer und düstere Misanthropen schwimmen in der schönsten Verwirrung durcheinander. Die Erhaltung der Ruhe und Ordnung beruht auf terroristischen Prinzipien. Peitschen, Ketten und Gefängnisse sind an der Tagesordnung. Die Offizianten sind meistens ge- fühllose, pflichtvergessene oder barbarische Menschen, die selten in der Kunst, Irrende zu lenken, über den Zirkel hinausgetreten sind, den sie mit ihrem Prügel beschreiben. vSie können die Pläne des Arztes nicht ausführen, weil sie zu dumm, oder sie wollen es nicht, weil sie niederträchtig genug sind, ihren Wucher der Genesung ihrer fetten Pen- sionäre vorzuziehen. Der gescheiteste Arzt ist gelähmt, wie der Handwerker ohne Werk- zeug. In den meisten Irrhäusern sind die Stuben eng, dumpf, finster, überfüllt; im Winter kalt wie die Höhlen der Eisbären am Nordpol und im Sommer dem Brande des krankmachenden Sirius ausgesetzt. Es fehlt an geräumigen Plätzen zur Bewegung, an Anstalten zum Feldbau. Die ganze Verfassung dieser tollen Tollhäuser entspricht nicht dem Zw'eck der erträglichsten Aufbewahrung und noch weniger der Heilung der Irrenden. “ Vgl. auch „Über die Erkenntnis und Kur der Fieber“ IV, § 92. Reil wuinscht . . . daß für die Behandlung der Irren eigentliche Irrenheilanstalten angelegt w^erden, und daß diese von den Detentionsanstalten ganz getrennt sein müssen. Den größten Wert legte er auf die psychische Behandlung, wdewohl er die Schwierigkeiten nicht ver- kennt, mit welcher diese Methode zu kämpfen hat; bezüglich der Anlage der Heilanstalten verlangt er die Form einer Meierei, die aus einem Hauptgebäude und mehreren, um das- selbe zerstreut liegenden kleineren Häusern bestehen soll, indem auf diese Weise die nötige Absonderung der Kranken ermöglicht ward und das Widerliche eines Gefängnisses fortfällt; die Fenster sollen ohne eiserne Gitter sein und ebenso wie die Türen mit Feder schließen, so daß der Kranke sie nicht selbst öffnen kann. .Im Erdgeschoß sollen Zellen für Kranke eingerichtet werden, deren Freiheit Gefahr bringen kann usw. Über die Organisation von Anstalten für Unheilbare veröffentlichte Reil eine eigene Schrift: „B eiträge zur Organisation der Vcrsorgungsanstalten für u n h e i 1 b a r e I r r e n d e“, als Anhang zur deutschen Übersetzung von Jos. Ma s o n C o X e, Practical oRservations on insanity etc. (Praktische Bemerkungen über Geistes» Zerrüttung usw. Halle 1811). — Der eigentliche Reformator des Irrenwesens in Deutsch- 03 land war froilicii Langer in a n n (1768-1832), dessen Liss. de methodo cognoscendi curandique aniini morbos stabilienda (Jena 1/97) anf Heil großen Linfluß ausgeübt hatte. — Es darf nicht unerwähnt gelassen werden, daß ein so humaner Arzt wie Reil doch noch rohe Maßregeln, wie Zwangsweste, Einsperren, Hunger, Ochsenziemer usw., unter Umständen anwenden lassen will (Rhapsodien p. 387). Reil schrieb übrigens sein psychiatrisches Werk, ohne klinische Erfahrungen gemacht zu haben. Alle Krankheiten, so auch die seelischen, können auf doppelte Weise geheilt werden, sagt Reil, direkt durch Entfernung der Produkte, indirekt durch Entfernung ihrer Ur- sachen. Das direkte Verfahren kann bei Geisteskrankheiten nur psychisch sein und selbst die physischen Mittel, wie z. B. Bäder, wirken dabei wohl mehr seelisch. Die Methoden der psychischen Behandlung, welche Reil empfiehlt, sind freilich nach heutiger Anschauung zum Teil zu verwerfen. — Reil wollte die psychische Behandlung nicht nur auf die Geistes- krankheiten beschränken, sondern vielmehr auf die ganze Medizin ausdehnen. „Der ganze Arzt,‘‘ sagt er, „seine Haltung, sein Benehmen ist psychisch, sofern er Zutrauen einfiößt oder das Gegenteil tut. Farbe und Geschmack der Arzneien sind in dieser Hinsicht von großem Einfluß. Hätten die Menschen nur Glauben vde ein Senfkorn und die Ärzte Verschwiegenheit wie die Eingeweihten, man könnte Wunder durch psychische Ein- drücke tun.“ Über die psychiatrischen Anschauungen Reils vgl. K o r n f e 1 d, Gesch. d. Psychiatrie in Handb. d. Gesch. d. Medizin III, p. 670 und Kirchhoff, Gesch. d. Psychiatrie, Separatabdr. aus dem Handb. d. Psychiatrie von Aschaffen bürg, p. 40, 46. Ganz unter Reils Einfluß stand das erste eigentliche Lehrbuch der Psychiatrie, „Die psychische Heilkunde“ von Ve r i n g (1817), auch Feuchtersieben, Lehrb. d. ärztl. Seelenkunde, Wien 1845, stützt sich vielfach, aber nicht ohne selbständige Kritik, auf seine Rhapsodien. In bezug auf die Erkrankung des Gemeingefühls folgt selbst Griesinger Reils Grundanschauung. Zu Reils Theorie der Wechselwirkung des Somatischen und Psychischen mit Prävalenz des Organischen in Seelenkrankheiten bildete Heinroths spiritualistische , ethische Theorie den Gegensatz. Reils Schüler, Nasse, vertrat die somatische bzw. physio-psychologische Auffassung der Seeleükrankheiten und gründete das erste rein ärzthehe Journal für die Psychiatrie (Zeitschr. f. psychische Ärzte). Über Reils Äuffassung der Geisteskrankheiten als „seelisch-leibliche Äffektionen der Substanz der Organisation“ vgl. Entwurf der allgem. Pathol. I, p. 328. ®") In dem P. M., welches D a m e r o w von Berhn aus an Deutschlands Irrenärzte über die Herausgabe einer Ällgenieinen Zeitschrift für Psychiatrie 1841 versendete, heißt es unter anderem: „Reil, welcher durch die leicht entzündhehe Hypersthenie seines Geistes stets auf der Höhe des ümschwungs der rasch aufeinander folgenden wissen- schaftlichen Richtungen schwebend erhalten wurde, war nach dem Erscheinen seines Ärchivs für Physiologie, seiner Ärbeiten über die Struktur der Nerven und besonders seiner Rhapsodien über die Änwendung der psychischen Kurmethode auf Geistes- zerrüttungen, vor allen der Mann zur Begründung der ersten Zeitschrift für Psychiatrie. Die Vorrede zu den Rhapsodien ist geschrieben: Halle, den 1. Januar 1803; das erste Heft des Magazins für die psychische Heilkunde von Reil und K a y ß 1 e r erschien 1805. Von hier beginnt die Geschichte der selbständigen psychiatrischen Journalistik . . . „Reil ... verband sich mit dem hoffnungsvollen Naturphilosophen Kayßler zur Herau.sgabe eines Magazins für psychische Heilkunde. Wenn- gleich Kayßlers Name nur hinter dem von Reil stand, so ist der Inhalt aller drei Hefte des Magazins fast allein von jenem, und dieser lieferte nur den einen Äufsatz: ,M e d i z i n und P ä d a g o g i k‘ im letzten Hefte. Wie groß auch sein Einfluß auf des dazumal in Halle lebenden Kayßlers Ärbeiten gewesen sein mag, so setzte Reil 64 faktisch doch nur eigentlich seinen Namen an die Spitze der Zeitschrift, um durch Kay 13 Icr naturphilosophische Ideen in die psychische Medizin einzuf Uhren. Der Philo- soph also und nicht der Arzt beherrschte diese erste jxsychiatrische Zeitschrift, und zwar deshalb, weil ja alle bisherigen psychologischen Journale nur von Philosophen ohne Verbindung mit Ärzten herausgegeben waren, und weil Reil noch 6 Jahre später, wie er selbst sagt, wenig oder keine Erfahrung in der psychischen Heilkunde hatte. Die Tendenz des Magazins war, nach dem Vorworte des Herausgebers, auch keine andere, als die: ein höheres Interesse für den Gegenstand zu erregen und im allgemeinen die Leser zu dem Ernste erst zu stimmen, welchen derselbe erfordert. Die Zeitschrift ver- hält sich nach ihnen ,zu dem Stücke, was später gespielt werden sollte, wie eine Ouver- türe, wie ein einleitender Chor*. Diese Aufgabe hat sie gelöst. Denn wenngleich in den verschiedenen Abhandlungen der Formalismus der Naturjjhilosophie und die ins blaue Nebelland der Phantastik sich verlierende Spekulation sich abspiegelt, so bleibt dennoch das kühne Streben: zuvörderst die allgemeinen wissenschaftlichen Grundprinzipien über Wesen, Begritf und Umfang der psychischen Heilkunde, über ihr Verhältnis zur Medizin und Philosophie, zu Natur und Geist, mit hohem wissenschaftlichen Ernste aufzusuchen und festzustcllen, ein achtbares, ein durch und durch deutsches. Es ist hier nicht der Ort, auf die Fülle von herrlichen Gedanken über diese Gegenstände einzugehen. Es genüge zu unserem Zwecke die Andeutung, daß nach den Herausgebern der Umfang der psychischen Heilkunst nicht nur auf die psychischen, sondern auch auf die soma- tischen Krankheiten ausgedehnt wird, daß in beiden der ganze Mensch Objekt der Arzte imd Heilkunde ist, die psychische Heilkunst sich daher über die ganze praktische jMoral, Medizin, Polizei und Erziehung ausbreitet; daß die F o r m der psychischen Krankheit keine bloß reale (physische, organische), keine bloß ideale (psychische), sondern zugleich eine organisch-psychische und eine psychisch-organische, das Wesen derselben aber immer eine psychische Krankheit ist, weil ihr innerer Grund die Individualität des Bewußtseins sei. „Hieraus erhellt schon, daß diese erste psychiatrische Zeitschrift die Keime, den allgemeinen Inhalt aller späteren enthält. Dies ist ihre geschichtliche Be- deutung. In die spezielle Pathologie oder Therapie der Seelenkrankheiten einzugehen, fühlten die Herausgeber den Beruf nicht in sich; Mitarbeiter fehlten; Kayßler verließ Halle und starb frühzeitig; Reil überlebte in und außer sich den naturphilo- sophischen Aufschwung; das Magazin schloß daher 1806 mit dem dritten Hefte des ersten Bandes.“ „Schon im Jahre 1808 verband sich Reil mit dem Professor Hoffbauer in Halle zur Herausgabe einer ,Zeitschrift zur Beförderung einer Kur- methode auf psychischem Wege*. Wir sehen hier noch einmal die Ver- einigung des Arztes mit einem Philosophen, aber nicht mehr mit einem transzendentalen Idealisten, sondern mit einem realen Kantianer, welcher schon 1802 und 1803, also vor dem Erscheinen der Rhapsodien, Untersuchungen über die Krankheiten der Seele und die verwandten Zustände, in den Jahren 1807 und 1808 psychologische Untersuchungen über den Wahnsinn, die übrigen Arten der Verrückung und die Behandlung derselben, sowie außerdem eine Psychologie in ihren Hauptanwendungen auf die Rechtspflege ge- schrieben hatte. Eine bessere Wahl konnte Reil nicht treffen; sie war ein Fortschritt in der Geschichte der psychiatrischen Journalistik. Hoffbauer Avar freilich Philo- soph, allein er hatte schon viel mehr und Bes.scres, selbst praktisch Brauchbareres in der Psychiatrie geliefert als die Ärzte, welche hinsichtlich der eigenen Erfahrungen nicht viel voraus hatten. Deshalb wünschen beide Herausgeber auch Mitarbeiter und wenden sich an Ärzte und P.sychologen mit der Bitte: zuvörderst Beispiele von psychischen, wenn auch nicht Kuren, doch Heilungen, mit Versuchen, dieselben zu analysieren, zu geben und zwar, gemäß den in dem Magazin niedergelcgten Ideen, nicht nur von Krank- 65 heiten der Seele durch psychische Mittel, sondern auch von Krankheiten des Körpers durch Erregung psychischer Zustände, obgleich sie in bezug auf letztere bezweifeln, daß sie, selbst von den scharfsichtigsten Freunden unterstützt, eine befriedigende Analyse soleher Fälle würden versprechen können. Ferner wünschen sie eine Bearbeitung der , äußeren* Körper und Seele im Verhältnisse zueinander, d. h. in medizinischer Hin- sicht, betrachtenden Psychologie, Materialien zu einer psychischen Therapeutik und endlich Anzeigen der neueren medizinisch-psychologischen Schriften des In- und Aus- landes, nebst Berichterstattung von sonstigen Ereignissen. Pv, e i 1, der Arzt, wirkte besonders in theoretischer Hinsicht zur Verwirklichung dieser Zwecke durch die zur vollen Würdigung seiner wissenschaftlichen Leistungen auf diesem Gebiete in- haltsreichen Aufsätze über die Parallele zwischen Seele und Leib, somatischem und n e u m a t i s c h e m Kopf, Gehirn und Denk- vermögen, über das Zerfallen der Einheit unseres Körpers im Selbstbewußtsein und endlich über den Begriff der Medizin und ihre Verzweigungen, insbesondere in Beziehung auf Be- richtigung der Topik der Psychiatrie — eine für die Geschichte dieses, hier zuerst in dieser selbständigen Bezeichnung auftretenden Teils der Medizin unver- gängliche Abhandlung, in welcher er die Psychiatrie ,der Chirurgie und Arzneikunde als den dritten, noch fehlenden Teil, als inte- grantende rTriplizität* hinzufügt und in diesen drei, der Natur des Menschen als eines Ganzen entfsprechenden Seiten die Vollendung der Medizin findet. Des Philo- sophen Hoffbauer Arbeiten haben eine mehr praktische Tendenz, bestehen in Mitteilimgen und Beurteilmigen von erborgten Krankengeschichten, sowie in medi- z i n i s c h-psychologischen Untersuchungen über den Wahnsinn im allgemeinen und über besondere Formen desselben. “ — „Wenngleich mithin die Zeitschrift die ganze theoretische, praktische imd angewandte Psychiatrie umfassen w o 1 1 1 e, so repräsentierte sie in t h e o- retischer Beziehung doch fast ausschließlich den Standpunkt der Wechselwirkung, des Duahsmus von Materiellem und Psychischem, d. h. den der sogenannten medizinischen Psychologie, welche die Wirkung des Organischen auf das Psychische und umgekehrt betrachtet. Die praktische Aufgabe ward noch dürftiger und fragmentarischer er- reicht; die Krankengeschichten waren erborgte, die gerichtliche Psychiatrie ging fast leer aus, die Kritiken beschränkten sich auf einige wenige; Berichterstattungen über Irren- anstalten und öffenthehes Irrenwesen wurden ganz vermißt, Mitarbeiter fehlten, das Inter- esse für Psychiatrie war schwach, und so konnte die Zeitschrift, abgesehen selbst von den äußeren Verhältnissen, aus inneren Gründen sich nicht lange halten und hörte schon mit dem dritten Hefte des zweiten Bandes auf. Die letzten Aufsätze waren von zwei Schülern und Freunden Reils. Nasse gibt Beobachtungen über den Somnambuhs- mus von seiner psychischen Seite, Steffens einen Torso über die Geburt der Psyche, ihre Verßnsterung und möghehe Heilung. , Geburt* und ,Verünsterung* sind geschildert im Geiste der Naturphilosophie, die ,Heilung* fehlt.“ Vgl. Lenz, Geschichte der Königl. Friedrich-Wilhelms-Universität zu Ber- lin I, Halle 1910 (Reils Bericht vom 20. Februar 1802), p. 46 ff., 102. Die Schilderung, welche Lenz von der Persönlichkeit und wissenschafthehen Stellung Reils entwii-ft (p. 5-3—60), ist wohl die zutreffendste von allen bisherigen. ^^) Karl Asmund Rudolphi sagt in seinen „Bemerkungen aus dem Ge- biet der Naturgeschichte, Medizin und Naturgeschichte usw. “ (Berhn 1804, I, 49): „Reils Gesicht hat außerordentlich viel Leben, und es ist auch alles an ihm Geistund Feuer; er hat für alles in seinem Fach Interesse und weiß alles, was man ihm gibt, ver- edelt zurückzugeben. Gibt es eine fruchtbare Ansicht der Physiologie, so ist es die seinige; ich kenne kein medizinisches System, das mir genügte, doch hoffe ich, daß wir Neuburger, Johaim Christian Reil. 5 66 auf dom Wege, den Reil gezeigt hat, dazu kommen werden, wenngleich niclit bei meiner Ijcbzeit, da uns noch so viele j3ositivc Kenntnisse fehlen.“ .S t e f f e n s ( J o li. C h r. Reil, eine Denkschrift, p. 10) schildert Reil mit den orten: „Reil war groß, von schönem Ebenmaß, von starkem und dennoch zartem Knochenbau. Er luitte eine edle, feste, imponierende Haltung. Seine Gesicht war sehr bedeutend, seine Stirne groß und schön gewölbt, seine Augen lebhaft und voller Tiefe, die Nase äußerst fein, die Lippen höchst lieblich. Aus allen Zügen sprach sich ein stiller Ernst und zurückgedrängte Heftigkeit aus. Aber durch diesen Ernst hindurch überraschte uns, wie in verborgenen Zügen, die dem genaueren Beobachter .sichtbar wurden, eine liebenswürdige Gemütlichkeit, die durch den Kontrast erhöht, in den Mo- menten des wohlwollenden Hingebens wunderbar anzieliend war. Alles verkündigte eine starke, gesunde, in sich geschlossene Natur. Eine gewisse Spannung seiner Züge ließ ein stetes stilles Nachsinnen über wichtige Gegenstände, und eine rüstige, besonnene Beweglichkeit den stets beschäftigten, nie ruhenden Geist ahnen. Ich habe wenig Ge- stalten gekannt, die beim ersten Anblick so zurückstoßend und anziehend, so erregend und beruhigend zugleich wirkten. Daher seine große persönliche Gewalt, das stille, aber unvermeidUche Beherrschen seiner Umgebung. Wenn er gewinnen wollte, ge- wann er gewiß, ebenso bestimmt trennte er sich von ihm fremden Naturen. Älan mußte ihn hassen oder lieben, mit ihm verbündet sein oder gegen ihn kämpfen. Alle Neutrahtät verschwand, wenn man mit ihm in ein bedeutendes Verhältnis trat. Bestimmt, fest, entschieden wie er war, zwang er einen jeden, sich zu entscheiden. Gleichgültig blieb keiner. “ Eine höchst wichtige Quelle für Reils Biographie bildet Steffens Werk: „W a s ich erlebte“ (10 Bände, Breslau 1840—1844). Steffens war durch Reils Einfluß 1804 nach Halle als Professor berufen worden und w'irkte daselbst bis 1811. Band V (p. 139 — 141) heißt es: „Inder medizinischen Fakultät stand Reil fast ebenso bedeutend da als Wolf in der philo- sophischen. Auch er hatte, wie dieser, in der ganzen literarischen Welt einen entschiedenen Ruf erlangt. Meckel, der Altere, der berühmte Anatom, war kurz vor meiner Ankunft gestorben; sein Sohn, der später einen so großen Namen er- langte, war noch in seiner Entwicklung begriffen und reiste mit K o r e f f nach Paris. Sprengel, der unermüdet arbeitsame und kenntnisreiche Mann, der für die Geschichte der Medizin, wie für die Botanik, bis in sein höchstes Alter rastlos Material anhäufte, konnte auf die Studierenden keinen großen Einfluß ausüben; doch begünstigte aueh er naturphilosophische Ansichten. Reil, fortdauernd mit fast riesenhaften Plänen be- schäftigt, in der Wissenschaft wie im Leben, hatte zwar in Halle, wie bei den höchsten Behörden, mächtige Gegner zu bekämi^fen, aber er beherrschte sie ganz. Als praktiseher Arzt hatte er die größte Autorität in Halle, wie in der ganzen Umgebung, und obgleich seine entschiedene Weise die verzärtelten Patienten oft zurückschreckte, so kannte man doch, wenn die Krankheit eine gefährliche Richtung nahm, keine Hilfe als seine. Sein Einfluß hatte mich nach Halle berufen; er blieb mir, solange er lebte, unveränderlich freu, und obgleich seine Bildung, seine scharf ausgeprägte Eigentümlichkeit und seine ganze wissenschaftliehe we praktische Beschäftigung ihm nicht erlaubten, sich in die Grübeleien der Naturphilosophie einzulassen, so hatte er doch Sinn genug, um ein- zu.sehen, daß das Leben lebendig aufgefaßt werden müßte. Er wes die jungen Arzte an mich, und durch ihn herrschte unter diesen, we kaum jemals, ein wissenschaftlicher Geist, der desto heilsamer war, weil das philosophische Studium zwar einen freieren Blick auf das Eigentümliche warf, aber auch durch ihn, ich darf es sagen, Avie dmeh mich, von einem jeden voreiligen und störenden Einfluß abhielt. Icli glaube nicht, daß man behau|)tcn kann, es hätten sich, während Reil und ich auf die Bildung der Stu- dierenden in Halle Avirkten, einseitig theoretisierende Ärzte gebildet. Jene HyjJothesen, G7 die in unsoreii Tagen die Arzneikunde an relative nnd einseitige Prinzipien knüpfen, erhielten erst ihre Gewalt, nachdem eine umsichtige, sijckulative Philosophie, welche die Eigentümlichkeit mit geistiger Freiheit auffaßt und ihr Recht widerfahren läßt, aus dem medizinischen ötudium verschwunden war. IMir war aber die Verbindung mit Reil im höchsten Grade wichtig. Ich nahm, solange ich mit ihm zusammenlebte, den innigsten Teil an allen seinen Untersuchungen.“ Börne (Die Apostaten des Wissens und die Neophyten des Glaubens, 1823) entwirft folgendes Bild von Reils Persönlichkeit: „Reil war als Mensch, Lehrer der Arzneikunde und ausübender Ai-zt gleich bedeutend. Er war von ansehnlicher, achtunggebietender Gestalt, und hatte die Augen Friedrichs des Großen. »Sah man ihn lehrend unter seinen Schülern, die ihn ebensosehr liebten als bewunderten, so konirte man sich leicht in die Alcademie von Athen versetzen, er wußte seinen Krairken und deren Angehörigen ein unerschütterliches Zutrauen einzuflößen, und die Ungeheilten verloren das Leben, aber die Hoffnung nie. Er begann und untermischte seine Vor- lesungen über Therapie und Augenkrankheiten mit Gedichten von Schiller und Goethe, und die köstlichen Früchte seiner Forschung waren unter Blumen versteckt. Wer nur den ersten Stunden seiner halbjährigen Vorlesungen beigewohnt, hätte glauben können, er höre einen Professor der Moral oder Ästhetik. Schon in den reiferen Jahren, wo das Wissen nur noch in der Breite gewinnt, aber in der Tiefe nieht mehr, und wo die welken Ähren des Geistes ihr schwaches Hauest zur Erde niedersenken, und dieses notwendigen Naturgesetzes sich bewußt — äußerte Reil im engen Kveise von Freunden und Zög- lingen eine Idndliche und höchst liebenswürdige Fnrcht, er möchte die Jugend des Geistes verlieren. Um sich gegen diesen Verlust zu schützen, war er immer darauf bedacht, sich mit strebenden Jünglingen und neuen Büchern zu umgeben.“ — Börne, ursprüng- lich zum Mediziner bestimmt, war von seinen Eltern dem berühmten Berliner Ärzt Marcus Herz an vertraut worden und hatte nach dessen Tode im Hause der Witwe noch ein volles Jahr zugebracht; zur Fortsetzung seiner Studien begab er sich im Sommer 1803 nach Halle, wo er im Hause Reils, der HenrietteHerz persönlich be- kannt war, Äufnahme fand und einige Jahre zubrachte. Die von Halle an die Herz ge- richteten Briefe Börnes (vgl. Briefe des jungen Börne an Henriette Herz, Leipzig 1861) enthalten eine ganze Reihe von interessanten, zum Teil sehr boshaften Bemerkungen über Reil und seine Familie (vgl. Mich. H o 1 z m a n n, L. Börne, Berlin 1888). Änfangs machte Reil auf Börne nicht den besten Eindruck, wie aus folgendem hervorgeht: „Ich versichere Sie, als ich Re i len zum ersten Male sah, habe ieh mich recht erschreckt, denn seine rauhe Stimme, sein ernsthaftes Wesen und sein ganzes Äußere überhaupt, hat für mich etwas sehr Äbschreckendes“ (Briefe, p. 78). Einige Wochen später sagt er hingegen: „Reil gefällt mir jetzt besser als im Anfänge, ich zweifle hingegen, daß ich ihn je werde lieb bekommen können. . . . Er ist ein herzens- guter Mann, ein schöner Mann, ein großer Geist“ ... (1. c. p. 83). Im nächsten Jahr schreibt er: „Den Reil ehre ich nicht bloß, sondern ich liebe ihn auch wie meinen Vater, und er ist in meinen Äugen ein Muster aller Vollkommenheiten“ (1. e. p. 105). Freilich folgen dann hier und da, je nach der Stimmung, wieder abträghehe Bemerkungen (1. c. p. 106, 148, 171). Äußer den im Texte reproduzierten Bildnissen Reils verweisen wir noch auf den Schattenriß im Akademischen Taschenbuch 1791 und auf das Bildnis im 47. Band der Neuen allgemeinen teut sehen Bibliothek 1799. *®) Die »Schrift ist H u f e 1 a n d gewidmet, der das medizinisch-chirurgische Kol- legium in Berlin leitete und an der Spitze des preußischen Medizinalwcsens stand. (Vgl. seine Erwiderung, Journ. d. prakt. Ärzneikunde, 21. Bd., 1. St.; vgl. ferner W i 1 d b e r g in Krit. Jahrb. der Staatsarzneikundc, 1. Bd., p. 56, 75_ff.) Wir heben einige besonders bemerkonswerte Sätze und Abschnitte heraus. 68 „Ihr wollt nur w i s s c n s c h a f 1 1 i c h e Ä r z t e ini Staate auch für die große Masse dulden? Wer seid ihr, die ihr dieses wollt? Ärzte? Wohlan, bringt mir erst einen einzigen. Begnügt euch doch damit, wie ehemals die römischen Auguren, daß das Volk euch für das hält, was ihr sein solltet, aber nicht seid, und stört nicht diesen Glauben zu eurer eigenen Schande. Ich kenne wohl gelehrte, aber keine wissenschaft- lichen Äizte, in denen Wissen und Handeln eins wäre. In der Ausübung ermangeln wir alle des Ruhms, den wir vor Gott haben sollen. Wer dies nicht begriffen hat, der hat noch nicht die Elemente seiner Kunst begriffen“ (p. 2.3). „Des eigentümlichen Wissens ist so wenig, da es jetzt noch weder vom Mittel- punkt zur Rinde, noch von der Rinde zum Mittelpunlct durchgedrungen ist, daß man es in der Schreibtafel bei sich führen, hingegen mit den Träumen über die Natur der Dinge die geräumigsten Bibliotheken bis in die Dachstuben anfüllen kann“ (p. 32). „Solange die Wissenschaft noch nicht in ihrem ganzen Umfange offenbar geworden ist, kann bloß die Methode, sie zu suchen, keineswegs die Methode, sie zu überliefern, gegeben werde n“ (p. 33). „Alle Organisation steht mit sich selbst in Wechselwirkung, ist Produzierendes und Produkt zugleich, eine wundervolle Verbindung entgegengesetzter Kräfte zu einer Tätig- keit. Dies ist ihr Grundcharakter und das Prinzip ihrer Naturlehre, aus welchem alle weiteren Bestimmungen derselben abgeleitet werden müssen. Der Quell dieses Cha- rakters ist die V^ e g e t a t i o n, der Herd jedes besonderen Lebens, in welchem alle Geheimnisse der Organisation entfaltet werden. Sie ist eine in sich selbst zurückkehrende Tätigkeit, Ursache und Wirkung von sich, also ewige Reproduktion ihrer selbst. Daher ihr notwendiger Parallehsmus mit der Organisation, sie einerlei mit ihr. Sie entzweit unaufhörheh, nach dem Schema der Voltaschen Säule, alle Kräfte und beschwichtigt sie wieder; einigt und trennt Tätiges und Leidendes in verschiedenen Potenzen, bildet das Wesen zur Form, die Form zum Wesen zurück und nötigt die Materie als Akzidenz in den Dienst der Idee zu treten. Im Idealen erscheint sie als Rezeptivität und Aktuosität ; im Realen symbolisiert sich die ununterbrochene Tätigkeit des Innern als Wechsel des Stoffs, und die Koinzidenz beider im Charakter des Lebens offenbart dasselbe für die Erscheinung; dies alles nach einer Regel, durch welche sie, in der Wechsel- wirkung zwischen Einheit und Mannigfaltigkeit sich und die Individuahtät trägt. Die Vegetation einigt als eine dynamische Synthesis, durch welche die Organi- sation möglich ist, die j^hysischen, chemischen und mechanischen Ki’äfte, kurz alle Formen des dynamischen Prozesses in sich. Ihre Konstruktion ist daher einerlei mit der Kon- struktion des dynamisehen Prozesses. Allein seine Formen sind nieht gesondert, sondern als Elemente, zu einer Totalität verbunden, in ihr. Daher gibt es auch nur Funktionen und Krankheiten der Totalität, keine Funktionen und Krankheiten besonderer Kräfte oder einzelner Dimensionen des dynamischen Prozesses. Ebensowenig darf man ein besonderes Revier als Reproduktionssystem für sie abpflöcken. Sie ist in allen Organen und alle Organe sind durch sie. Einige haben zwar eine besondere Beziehung auf die- selbe und dienen ihr, die Bedingungen vorzubereiten, durch welche sie möglich ist. Der Mund kaut und der Älagen verdaut, beide durch einerlei Wirksamkeit der Vegetation; die Differenz ihrer Erscheinungen ist der bloße Nachhall ihres verschiedenen Mechanismus. Daher ist auch die Reproduktion der Irritabilität und Sensibilität nicht koordiniert, sondern in VV^echselwirkung mit ihnen und gleichsam der Mittelpunkt, von dem aus das Leben nach zwei Seiten, als Irritabilität und Sensibilität, in verschiedener Abstufung sich entfaltet. . . . Mit dem Begriffe der Vegetation besteht der Begriff eines eigen- tümlichen Zentrums in ihr, das die allgemeinen Naturkräfte ziun Organismus sammelt, ihn zum abhängigen, aber zugleich aucli zum selbständigen Wesen macht. 69 diis iils positive Ivrixft gegen die Orenze wirkt und dxiselbst dem jiiechä-nisclien. ^uge der allgemeinen Naturkräfte unseres Planetensystems in entgegengesetzter Richtung be- gegnet. Aus diesem Gegensatz in der Richtung fließt sein Verhältnis zur A u ß e n w e 1 1, die den Mechanismus ihrer Kausalität in ihm bricht und mit ihm in Wechselwirkung tritt. Daher der scheinbare Widerstreit organischer und allgemeiner Kräfte, der scheinbar chemische Prozeß außerhalb und innerhalb der Organisation und die bedingte Gemeinschaft beider Welten miteinander. Der Lehrer zeige die Auf- n a h m e m e h r e r c r H erde unter das Z e n t r u m aller irr verschiedener Abstufung der Abhängigkeit, durch geschürzte Knoten im Nervensystem, dadurch eine vielseitigere Organisation, gleichsam Tiere im Tiere, deren keines dem anderen zu nahe in seine Zirkel tritt. . . . Ohne ein Hervortreten eines festen Punkts durch Gestal- tung, der als eigentümlicher Herd die allgemeinen Naturlo?äfte auffaßt, konnte kein besonderes Leben flxiert werden, und eine Vegetation mußte eintreten, damit dasselbe nicht im Festwerden erstarre. Schon in der Bildung des Kristalls, der gleichsam erster Versuch der individualisierenden Naturkraft ist, regt sich eine lebendige Kraft, die ihn von dem absoluten Einfluß der Gravitation entbindet, aber zu schnell in der vollendeten Gestaltung erlöscht. Jeder chemische Alit in der toten Natur ist ein Alct für sich. Im Organismus soll durch Wechsel der Erscheinungen und Fortdauer der Bewegungen ein perennierendes Leben bestehen. Der Prozeß der Bildung darf also nie enden, sondern muß sich durch beständige Reproduktion seiner selbst in ewiger Jugend erhalten. Daher die formelle Differenz zwischen Kristallisation und Vegetation. Jener Leben ist mo- mentan, in dieser kettet sich Lebensakt an Lebensakt und rankt als ein Kontinuum durch alle Epochen des Alters fort. Sie bildet und vollendet nie, und zwischen diesem” Hervorgehen aus dem gestaltlosen Chaos und dem Zurücksinken in dasselbe schwankt mit leisen Flügelschlägen das Leben, ohne je in der Vollendung des Produkts zu er- löschen. Als fester Punkt stellt sich der Organismus in den Strom der allgemeinen Natur- kräfte und bricht denselben an sich. Doch ist die Beharrlichkeit in ihm scheinbar. Er ist mittels der Vegetation in keinem Moment der Zeit der nämliche, also bloß ideeller Durchgangspunkt für die anorganische Natur. So steht die Flamme am Docht, immer einerlei Wesen, doch in jedem Moment die Schöpfung einer anderen oxydablen und oxydierenden Potenz“ (jd. .34—40). „Der wissenschafthehe Arzt verbinde eine nüchterne Spekulation mit reiner E m p i r i e. Jene diene ihm gleichsam zum Kompaß auf dem Ozean des Mannigfaltigen, führe ihn von dem Allgemeinen zum Besonderen, von den Gründen zu den Erscheinungen, die aus ihnen hervorgehen müssen. Diese fasse das Mannigfaltige an der Grenze rein auf, wohin die Spekulation nicht dringen kann, sondere es vom Zufälligen und frage die Natur durch das Experiment im Geiste des Allgemeinen, damit sie verständlich ant- worten könne. So werden Spekulation und Empirie in Harmonie wirken und sich an einem Ziele begegnen. Die Empirie wird die Gesetze, die die Vernunft aus sich entwickelt, in der Erfahrung nachweisen, und jedes in der Erfahrung promulgierte Faktum in der Spekulation eine philosophische Sanktion finden. An die Stelle der mangelnden Ge- wißheit trete vorerst Konjektur des Wahrscheinlichen ein, die durch fortschreitende Annäherung an die Wahrheit schärfer werden und in dem nämlichen Verhältnis den blinden Mechanismus des Handelns mehr beschränken muß“ (p. 57, 58). „Dem Innern der Organisation, ihrer psychischen, physikalisch-chemischen und mechanischen Seite, welche verschiedene Äußerungen der Vegetation und in ihr, als dem gemeinschaftlichen Mittelpunkte aller Entzweiung und Ausgleichung, eins sind, entspricht das nämliche Äußere, psychischer, physikalisch-chemischer und medizinischer Einfluß. So viele Differenzen äußerer Einflüsse und so viele Rezeptivitäten der Organi- sation für dic.selbcn, vermittels der Sinnorgane, der Assiunptionswege und der körper- 70 Hohen Begrenzung es gibt, durch welche jene erst als Einflüsse möglich sind, so viele Zugänge der Außenwelt zum Menschen gibt es, den psychischen, physikalisch-chemischen und mechanischen, so viele Möglichkeiten der Heilung, so viele Klassen der Heilmittel, so viele Zweige der Heilkunde, so viele Arten von Krankheitsursachen. ... Hie Älittel, welche durch ihre Qualitäten wirken, vermarken das Gebiet der A r z n e i k u n d e. Wo die Qualitäten erlösehen und die Körper bloß noch als Körper durch mitgeteilte Bewegung wirken, da beginnt mit scharfer Grenze die Chirurgie. An dem ihr ent- gegengesetzten Extreme, wo das Beharrliche im Raume schwindet und das Ereitätige beginnt, geht die Arzneikundc durch Licht und Wärme, Magnetismus und Elektrizität in die psychische Heilkunde ... Die p s y c h i s c h e K u r m e t h o d e wirkt p r i m ä r auf das Ideelle des Organis- mus, also auf das freieste und ungebundenste Prinzip in ihm, wahrscheinlich durch den Galvanismus, der sich im Nervensystem überhaupt und in dem Sinnorgane besonders, so deutheh aussprieht und sich als Mittler zwischen dem Idealen und Realen ankündigt. Das erregte Ideale teilt sich dem Vegetationssysteme und durch dasselbe dem ganzen Organismus mit. Dies ist zwar der sekundäre, aber doch der eigentlich beabsichtigte Effekt der psychischen, sowie jeder anderen Kurmethode. Sie setzt dem Organismus keine Substanz zu, sondern bewirkt bloß Formveränderung der vorhandenen und da- durch ein anderes dynamisches Verhältnis. Den Zugang ihrer Mittel zum Organismus hat sie durch die Sinnorgane. In ihr muß, wie in der Chirurgie, der Arzt oft beides sein, Mittel und Kraft, die das Mittel auf bestimmte Zwecke leitet. Durch sie muß er die- jenige Bildung empfangen, vermöge welcher er erst fähig wird, als Vernunftwesen auf ein anderes der nämlichen Ai’t mit Vorteil zu wirken und seinen Kranken diejenige mo- rahsche Haltung zu geben, die sie zum zweckmäßigen Emijfang der Heilmittel überhaupt nötig haben. Sie muß endlich in seiner Gewalt sein, damit er durch dieselbe diejenigen Krankheiten heilen könne, die entweder zum Teil oder allein nur durch sie heilbar sind . . . Die A r z n e i k u n d e geht auf die physikalisch- chemische Seite des Organismus und stellt sich seiner Organisation gegenüber, die durch Assumption und Exkretion bedingt ist. Sie wirkt primär nur auf das Gebiet der sympathischen und durch diese erst sekundär auf die tierischen Nerven, da die psychische Heilmethode in entgegen- gesetzter Richtung, primär nur auf die tierischen Nerven und durch diese sekundär erst äuf das eigentümliche System der Vegetation tätig ist. . . . Die Mittel, durch welche die Arzneikunde tätig ist, sind physikalisch-chemische Potenzen, die durch ihre Quah- täten wirken. Einige derselben, die ideal-realen, Wärme und Licht, Magnetismus und Elektrizität, in welchem das Tätige vorwaltet, machen gleichsam den Übergang von den psychisehen jMitteln zu denjenigen, die wir behufs ihrer Konstruktion als Stoffe be- trachten, und in welchen die Polaritäten jener Gegensätze sich als Sauerstoff und W asser- stoff wiederholen und durch diese Extreme die Grenzen aller Materialität bezeichnen. Ihre Qualitätsverschiedenheit verhält sich, wie sich ihre Entfernungen von dem relativen Indifferenzpunkt ihrer Homogenität mit dem Organismus verhalten. In der Mitte liegen die Nahrungsmittel, gegen den positiven Pol die oxygenierten, gegen den negativen Pol die hydrogenierten Naturprodukte, als Arzneien und Gifte, nach dem Grad ihrer Wirksamkeit und nach ihrer Beziehung auf die Erhaltung oder Vernichtung der Organi- sation. Die Arzneien, besonders diejenigen, welche dem Indifferenzpunkte naheliegen, setzen dem Organismus Substanz zu und wirken zugleicli auf Formänderung der schon vorhandenen. Sie wirken also auf die Vegetation, den Quell aller Vitalität und durch dieselbe auf den Inbegriff aller organischen Kraft. Ihren Zugang zum Organismus haben sie durch den Spei.sekanal und die Lungen, und das, was durch die Exkretionen wieder in die Außenwelt übergeht, ist Produkt der durch sie bewirkten Veränderungen, das also ihre Effekte symbolisiert. Sie sind besonders geeignet für diejenigen Vegetations- 71 krankheiton, die sich im Gebiete der sympathischen Nerven ursprünglich entspinnen und für diejenigen Nichtaeber, die noch durch den Vegetationsprozeß zur Norm zurück- geführt werden können. Die Chirurgie ist im Mechanismus und mit demselben in der Wirkung des Toten. Sie wirkt durch Mittel, deren Qualität wenigstens in Beziehung auf den respek- tiven Organismus indifterent ist, und die ihn daher bloß noch als Köri^er, mechanisch und durch mitgeteilte Bewegung afazieren. ... Die Potenzen, durch welche die Chirurgie wirkt, sind zwar mechanisch und aus denselben kann nichts anderes als eine Veränderung des Mechanismus der Organisation verstanden werden. Allein diese greift bald ein in das Organische und erregt dasselbe zur Gegenwirkung. Die Chirurgie setzt also Krank- heitsursachen im Organismus, um Krankheiten desselben zu besiegen oder unheilbare Teile wegzunehmen. Es müssen daher die organischen Folgen mechanischer Handlungen aus den Gesetzen des Organismus prognostiziert werden. ... Die Chirurgie stützt sich als solche bloß auf mechanische Grundsätze. Die organischen Veränderungen, welche sie produziert, liegen in der Sphäre des Lebens und müssen aus den Gesetzen desselben erkaimt werden. Der Zugang chirurgischer Mittel zum Organismus ist überall, wo Fläche eines begrenzten Körpers ist“ (p. 70 — 78). „Es gibt nur eine Heilkunst und nur ein Objekt derselben, den Menschen im kranken Zustande. Hier ist kein Gegensatz zwischen Arzt und Wundarzt. Der ist und bloß dieser eine ist Arzt, welcher das Mannigfaltige des Organismus nach der Einheit der Idee, die ihm zugrunde liegt, zur Allgemeinheit auffassen und von diesem Standpunkte aus sein Verhältnis zur Außenwelt und die Differenz desselben nach seinen verschiedenen Zuständen beurteilen kann. Alle Eindrücke, die auf denselben, welcher Art sie ursprüng- hch auch sein mögen, werden endheh in dem gemeinschaftlichen Herd der Vegetation gesammelt und von da wieder, als aus ihrem Brennpunkt, reflektiert und auf alle Systeme desselben fortgepflanzt. . . . Wenn wir die Heilmittel in psychische, physikalisch- chemische und mechanische und danach die Kurmethoden in psychische, medizinische und chirurgische einteilen, so bezieht sich dies bloß auf ihre primären Effekte. Der Totaleindruck bleibt in allen der nämliche. Der Wundarzt ist nur Wundarzt, solange er im mechanischen, d. h. in der Sphäre des Todes bleibt, und da ist er eben nicht viel. Sobald er aus derselben in das Lebendige Übertritt und auch das geringste organische Produkt seiner Handlungen zu bemteilen sich unterfängt, ist er Arzt. . . . Die Indi- kationen zum Gebrauch chirurgischer Mittel müssen aus der allgemeinen Medizin, die Erkenntnis ihrer absoluten Kräfte und ihres primären Eindrucks aus der Mechanik ge- nommen werden, und die Anwendung derselben setzt überdies noch eine artistische Ge- schicklichkeit voraus, die ganz außerhalb der Sphäre der eigentlichen Medizin liegt. Eine chirurgische Physiologie, Pathologie und Pharmazie sind leere Töne ohne Sinn, und in den meisten chirurgischen Heilmittellehren ist nicht einmal ihr Begriff rein aus- gesprochen. Auch gibt es keine scharfe Grenze zwischen Krankheiten, die zum Ressort des Arztes oder Wundarztes gehören. Einige erfordern zwar ihrer Natur nach jjhysi- kalisch-chemische, andere vorzüglich mechanische Mittel zur Heilung. Allein zwischen beiden liegt eine große Masse von Krankheiten, die teils durch chemische, teils durch mechanische Mittel geheilt werden müssen. ...Chirurgie ist nicht die Kunst, durch die Hand zu heilen; der Kopf muß die Hand leiten. .., Wer als gelehrter Heilkünstler selbständig chirurgische Mittel zum Zweck der Genesung handhaben will, muß Erkenntnis des Organismus in krankem und gesundem Zustand zur Basis seiner Kunst haben und mit dem gelehrten Arzt, mit dem er eins ist, auf einer Akademie gebildet werden. ... Es war ein großer Fehlgriff, daß man die Wundärzte in eigenen, von den medizinischen iSchulen verschiedenen Bildungsanstalten erziehen zu müssen glaubte. Erst seit der Zeit, daß gelehrte und auf Akademien gebildete Arzte sich 72 der Wundarzneikunst widmeten, gewann sie das szientifische Ansehen, welches sie jetzt hat. Die Gildebarbiere trugen dazu nichts bei. Sie wird noch rascher zur höheren Kultur fortschreiten, wenn man dem bloß Meclianischen zu kleben aufhört, und die Wirkungen desselben im Organismus aus den ihm eigentümlichen Gesetzen zu exponieren bemüht sein wd“ (p. 79—86). „Ä rzte, die der Staat durch eineäußereUmzäunungschützen muß, sind des Schutzes nicht wert. Sie mögen ihre Superiori- t ä t durch sich behaupte n“ (p, 128). (Vgl. die ausführliche Besprechung der Schrift, Jen. allg. Literaturzeitg. 1804, Nr. 268, 269.) ®^) Daß sich Reil schon 1799 für die Naturphilosophie interessierte, geht aus Steffens Angaben hervor (Was ich erlebte, IV, Breslau 1841, p. 180—181). „Ich lernte den Mann kennen, dessen Ansehen und Einfluß mich nach Deutschland berief, und schon damals trat mir, dem Fremden, dieser Mann in seiner ganzen Bedeutung ent- gegen. Es war Reil. Er hatte sich schon durch seine Untersuchungen über die Struk- tur der Nerven, und sonst durch iDraktisch-medizinische Schriften einen bedeutenden Ruf erworben. Die mächtige Gestalt dieses berühmten Arztes, sein klares Auge, sein mildes ruhiges Wesen nahmen mich gleich für ihn ein, und noch mehr zog er mich an, weil er sich schon damals lebhaft für die Naturphilosophie interessierte. Er war keiner von den Toren, die eine anfangende, wenn auch noch so tief greifende Theorie, sowie nur die ersten Grundzüge derselben entworfen sind, als Maßstab für die Praxis anlegen und benutzen: aber er sah es ein, daß nur eine auf die Spekulation gegründete Theorie die Hoffnung, das Leben zu begreifen, in sich enthielt. Ich hörte von ihm zuerst, außer- halb der Schule, die für einen praktischen Arzt merkwürdigen Worte: ,Das Leben und j seine Formen entwickeln sich zwar vor unseren Augen, aber in der Erscheinung erhalten wir sie schon fertig, und können sie also nicht aus dieser erklären. ‘ Und dennoch war Reil damals beschäftigt, den chemischen Prozeß als das Bestimmende der Form der Organe zu betrachten. Er mochte zwar immer ein höheres Prinzip der Gestaltung der Organe ahnen, aber durch die Naturphilosophie schien es ihm erst klar geworden zu sein. Ich erinnere mich, seine damalige chemische Ansicht entschieden bestritten zu haben; er antwortete lächelnd: ,Man hilft sich eben mit den Erklärungsmitteln, die man hat, bis man bessere erhält. Geben Sie uns diese, und wir werden sie nicht abweisen. Sie werden unter den Ärzten lebhafte Teilnahme und ein gelehriges Völkchen finden.* — Er gehörte nicht zu den Toren, die sich durch das Geschrei über eine Konstruktion a priori abschrecken ließen, und die dadurch eben die Naturphilosophie selbst auf die ober- flächlichste Weise a priori konstruierten. ... Reil war mir unter allen Gelehrten, die ich außerhalb Jena kennen gelernt hatte, der bedeutendste, sowie er mir später unter allen einer der wichtigsten geworden ist.“ Die Besprechung des Buches „Pepinieren“ in Marcus’ und Schelhngs Jahrb. d. Medizin als Wissenschaft, 2. Heft, rühmt den echt spekulativen Geist, der in der ganzen Schrift wehe und erklärt es als ungemein verdienstlich, daß sich Reil darin mit solcher Bestimmtheit und solchem philosophischen Geiste über die Idee der Wissenschaft, im Gegensätze zur Technik, ausgesprochen habe, daß es ihm in hohem Grade gelungen sei, die einzelnen Lehrfächer der Medizin aus der Idee des Ganzen zu entwickeln, daß er zwar sein schon bekanntes System noch nicht ganz verlassen könne, daß sich aber in diesem Werke bereits eine höhere Ansicht deutheh ausspreche, daß er diesei Schrift zufolge lange zuvor, ehe sich die allgemeine Opinion den spekulativen Ansichten ergab, schon den inneren organischen Zusammenhang der einzelnen Lehrfächer durch- schaute, zu welchem das Lebendige der Physiologie die tote Äleehanik aller übrigen erhebt usw. '“’) Noch in der Besprechung von Rooscs Grundz, d. Lehre von der Lebenskraft, 73 2 \ufl., (Arch. V [1800], p. 319) sagt Reil: „Besonders fürehte ich von einer fehlerhaften Anwendung der transzendentalen Philosophie auf die Arzneikunde mehr Schaden als Vorteil für dieselbe. Gelingt es die Experientissimos ins Hintertreffen zu stellen, wovor uns Gott und die gesunde Vernunft bewahren wolle, so worden die Transcendentales die Wahrheit überflügeln und uns unsere circulos jämmerlich verrücken. Es ist em Miß- brauch der reinen Vernunft bei ihrer Anwendung auf die Physik, Möglichkeiten nach Belieben zu ersinnen, mit Begriffen Taschenspielerei zu treiben, die in der Anschauung nicht Vorkommen und für ihre objektive Realität keinen anderen Beweis haben, als daß sie nicht mit sich selbst im Widerspruch stehen usw.“ ^1) Das Gesetz der „Polarität“ ist namentlich in der Arbeit durchgeführt: „Über das polarische Ausein an der weichen der ursprüngliehen Naturkräfte in der Gebärmutter zur Zeit der Schwanger- schaft und deren Umtauschung zur Zeit der Geburt, als Bei- trag zur Physiologie der Schwangerschaft und Geburt“ (Arch. VII, p. 402—501). In dieser Arbeit ist übrigens eine Fülle von Beobachtungen und Tatsachen verwertet und einheitheh zusammengefaßt. ^-) L e u p o 1 d t (Die Geschichte der Medizin nach ihrer objektiven und subjek- tiven Seite, Berlin 1863, p. 540—543) gibt von den naturphilosophischen Ansichten Reils folgende Skizze. „Es gebe einen allgemeinen und ursprünghehen Prozeß, von dem aUe besonderen Prozesse eben nur besondere Formen seien: Tätigkeit sei das Erste und Höchste im Universum. Die primitive Funktion jenes und dieser Prozesse sei, bei entsprechender Selbstbeschränkung, Massenproduktion; Materie im gewöhnlichen Sinne also, weit ent- fernt der Grund des Lebens zu sein, vielmehr selbst erst Produkt und besondere Er- scheinungsform des Lebens. Dabei sind ihm aber Prozeß, Leben usw. selbst Sache des Wesens der Substanz. Der Lebensprozeß sei daher dynamischer Leib, der Leib ver- körpertes Leben, beide in steter Wechselwirkung. Als äußerste Faktoren der absoluten Substanz bloß im Bereiche der Natur gelten auch ihm Licht und Schwere, Tätigkeit und Trägheit, Expansion und Kontraktion, Hydrogenation und Oxydation. Die drei Grundfunktionen im großen: Magnetismus, Elektrizität und Chemismus erscheinen im tierischen Organismus, insbesondere zur Sensibihtät, Irritabilität und Vegetation potenziert. Der Vorgang des organischen Lebens sei nie aus bloß mechanischen und chemischen Erklärungsgründen zu ver- stehen. Wohl habe dabei die Chemie eine bedeutende Stimme, aber der Begriff der- selben sei anders und weiter zu fassen, als diejenigen tun, die dabei ,nicht über ihren Suppentopf hinauskommen“, oder den vollen Begriff mit einzelnen Modifikationen und Beziehungen verwechseln. Ein wesentliches Erfordernis, das organische Leben zu begreifen, sei die Gesetze der ,Spannung“ der Gegensätze zwischen Differenz und Indifferenz der Substanz im ganzen und in jedem einzelnen Atome, in sich, untereinander und mit der Außenwelt zu erkennen. Er sucht dies durch die ganze Physiologie durch Beispiele anschauhch zu machen. Die Gesetze der Spannung seien für die Physiologie, was die Keplerschen Gesetze für die Astronomie seien. Er verwahrt sich aber ausdrückheh gegen den Mß- verstand, als ob er die Spannung der Materie für den Grund des Lebens halte; vielmehr werde umgekehrt die Materie durch das Leben gespannt*). Das Ziel aller Naturwissen- *) „Um mich so viel als möglich gegen Mißverstand zu verwahren, den ich so oft erfahren habe, erkläre ich hier ausdrücklich, daß ich jene Spannung der Materie nicht für den Grund des Lebens halte, sondern daß ich umgekehrt der Meinung bin, die Materie werde durch das Leben gespannt.“ (Entw. z. allg. Pathol. p. 160.) 74 Schaft und auch der Medizin sei: die Formen des Seins in Formen des Denkens aufzulösen, die siclitbare abbildliche Natur in die urbildliche zu vergeistigen, die Natur als Inbegriff von Hieroglyjjhen der Ideen zu erkennen. Wissen von der Natur sei nicht bloß äußer- liches Ansehen derselben. Sie müsse gekannt werden, wie der Erfinder seine Maschine kennt, in dessen Kopfe ihr Vorbild vorhanden war, ehe er sie in der Wirklichkeit dar- stellte. Jedenfalls hätten sich Empirie und Spekulation überall die Hand zu bieten. K r a n k h e i t erklärt er für Abnormität des Lebensprozesses mehr in der Rich- tung der Vegetation oder mehr in der Richtung auf die Animalität, für Organisation im Widerstreite mit ihrer Selbsterhaltung, der in \Viederherstellung der Gesundheit oder in Zerstörung der ganzen Organisation ende. In ersterer Hinsicht sei der Krankheits- prozeß zugleich Heilprozeß. Krankheit und sogenannte HeiUcraft der Natur seien nicht sowohl zwei ganz verschiedene, miteinander kämpfende Mächte, als vielmehr zwei Hälften oder Seiten eines Prozesses. Diesem ganzen zweiseitigen Prozesse komme eine Evo- lution und eine Involution zu, worauf der Krankheitsverlauf beruht. Der Prototyp aller Krankheiten im volleren Sinne des W^orts, die Zentralkrankheit, um die alle anderen Krankheiten in der Peripherie gelagert seien, sei das Fieber. Doch sei Entzün- dung das ganz Analoge örtlich beschränkt, was das Fieber in mehr allgemeiner Form sei. Die mit der Krankheit verbundene sichtbare Verletzung der Organisation ist Sache der pathologischen Anatomie, die dadurch rationell werden muß, daß sie den Zusammenhang zwischen dieser Verletzung und der Abnormität des Lebensprozesses dartut. Was kritisch ausgeschieden wird, ist nicht sowohl Ursache als Produkt der Krankheit. Vieles, was ebenfalls Krankheit genannt werde, sei eigentlich nur Ursache oder Produkt einer solchen. Afterorganisationen seien für sich als Zoophyten zu be- trachten, die jedoch beständig Embryonen blieben. Rücksichtlich der Ätiologie habe Stahl alles von innen, Brown dagegen alles von außen abgeleitet. Eine Er- klärung der ersteren Art gelte mehr nur von den mit den Lebensaltern in näherem Ver- hältnis stehenden Krankheiten; andere seien mehr durch klimatische Verhältnisse, die einzelnen Jahreszeiten usw. verursacht. Reil verhält sich übrigens zwar in bezug auf die Ätiologie teilweise einseitig naturalistisch, dringt dabei aber sehr beachtenswert auf tiefere Begründung der Wechselwirkung zwischen dem Organismus im ganzen und seiner Außenwelt, sowie zwischen einzelnem von ihm und relativ Äußerem, und somit überhaujit zwischen dem Anteil der Anlagen und der Gelegenheitsursachen. Die Heilung er- folge hauptsächlich von seiten des Organismus selbst; die Heilmittel geben nur Veran- lassung dazu und befördern sie. Unter der sogenannten Heilkraft der Natur sei die Totalität aller Kräfte der Organisation, psychische, chemische und mechanische zu verstehen, sofern sie heilsam wirken. Das tue vorzugsweise die organisierende, re- produzierende, aber auch beseelende, zentrale Einheit des Organismus im Gegensätze zu seiner perijiherischen Mannigfaltigkeit. Ihre Wirksamkeit erfolge zwar bewußtlos, aber doch nach Ideen. Auch die Heilmittel seien Lebendiges, Real-Ideales, teils mehr das eine, teils mehr das andere. Es seien aber zu unterscheiden psychische Heilmittel, welche zunächst dynamisch wirken, doch auch entsprechende Veränderungen im Stoff- wechsel zur Folge haben — chemische, chemisch aber auch dabei in einem weiteren Sinn genommen, die Arzneien, welche unmittelbarer auf die Plastizität wirken und mechanische, bei denen zunächst die reine Körperlichkeit in Beti’acht komme. Arzneien wirkten mehr die Alimentation oder mehr die Respiration anregend, mehr hydiogene oder mehr oxygene Spannung, jene durch Stickstoff in den Nerven, diese durch Sauei- stoff in den Arterien oder beiderlei mehr gleichmäßig begünstigend.“ - Beeinflußt wurde Reil durch Steffens und T r o x 1 e r. Ent wurfcinerallge meinen Pathologie, 3. Bd., Halle 1815—1816. Der erste Band ist von N a s s e, die beiden folgenden sind von K r u k e n b e r g heraus- v75 — gegeben*). Vgl. die Be.sprcchung von .1 o u r d a n, Journ. univ. des Sciences medicales, Tome V. E n t w u r f e i n c r a U g e m einen T h e r a p i e, Halle 1810; von Kruke n- b e r g herausgegeben. Das letzte Kajütcl diese Werkes ist besonders bemerkenswert, es handelt von der (in der Literatur bis dahin fast gar nicht berücksichtigten) „E utha- n a s i e oder von den Hilfen, erträglich zu sterben“. Das Kapitel läßt die echte Humani- tät Reils in ihrer ganzen Größe hervortreten und wirft interessante Streiflichter auf seine Gesinnung. Als Hauptaufgaben, die aber oft nur unvollkommen oder gar nicht erfüllt werden können, stellt Reil die folgenden auf: 1. Man sorge dafür, daß der IMensch am natürlichen Tode sterbe, der sanft ist. 2. Man suche die Schmerzen der Kiankheit und des frühen Todes zu mildern. .3. Vorsorge für ein sicheres Begräbnis. 4. Man ver- schaffe dem Sterbenden Sicherheit über das Schicksal der Nachbleibenden, die seinem Herzen naheliegen. 5. Der Mensch soll rechtschaffen handeln, damit er ruhig sterben könne. 6. Endlich sei die Unsterblichkeit und der Glaube an die Fortdauer unserer Persönlichkeit der feste Anker, der im Todeskampfe nicht sinken läßt. Hinsichtlich der individuellen Un- sterblichkeit sagt Reil folgendes: ,,Es gibt Gründe für und wider dieselbe; aber selbst die geläuterteste Philosoiihie kann nie über die Wahrheit Gewißheit geben. Es vergeht zwar keine Kraft in der Natur und ihr Wesen ist ewig und unendlich ; aber ihre Metamorphose ist endlich und an dieselbe ist unsere Individualität gebunden. Das Allgemeine bildet sich zum Besonderen, die Einheit zur Vielheit. Diese kehrt in jene zurück, wie könnten sonst neue Besonderheiten entstehen? Wenn ein Rabe das Gehirn einer Sappho verschlingt, das in sanften Elegien zerschmolz, so krächzen die nämlichen Monaden morgen schon den Toten- geäang von den Dächern. Ich habe es oben schon bemerkt, daß nur in kurzen Perioden die Intelhgenz in uns sich zum vollen Bewußtsein aufschließt; alle Tage drängt der Schlaf sie ins Bewußtlose zm’ück, bis der ewige Schlaf den ganzen Verlauf beschließt. Es geht der Intelhgenz wie den kalten Fiebern : sie existiert in abgebrochenen Paroxysmen. Anf der anderen Seite schafft die Natur sich ihre eigenen Ankläger, wenn sie ihren Geschöpfen keine Fortdauer mit Bewußtsein zusichert. Sie wirft Millionen von Menschen aus der chaotischen Nacht gegen die Sonne herauf, ohne sie um ihre Zustimmung zu fragen, legt Empfindung und Bewußtsein hinein, bindet an jene den Schmerz, an dies die Marter der Vernichtung, und wenn sie dieselben lange und empfindheh genug geängstigt hat, so stürzt sie sie zurück in die alte Nacht und deckt ihr Auge mit siebenfacher ägyptischer Finsternis zu. Dagegen wendet man mir vielleicht ein, daß die Menschen zu mehrerem Glück als Unglück geschaffen sind. Aber wo sind diese Glücklichen? An den Polen? Zväschen den Tropen? In Amerika? Ist es der unter dem Druck des Despotismus seufzende Asiate? Der Afrikaner, der wie das Vieh zur Knechtschaft verkauft wird? Selbst das vielgepriesene Europa, wie viele Glückliche hat es? Man erinnere sich an die *) Bd. I, p. 301 steht der wichtige Satz, worin Reil seine frühere Definition des Lebens naturphilosophisch modifiziert: „Ich habe f r ü h e r h i n den Grund der Krankheit in einer verletzten Form und Mischung der tierischen Mischung der tierischen Älaterie gesucht. Es ver- steht sich, daß ich dabei das Leben mitnahm, da die tierische Materie als solche eben nur unter der Bedingung des Lebens und umgekehrt dieses nur unter Bedingung jener sein kann. Das Äußere und Sichtbare ist das Zeichen des Inneren und Unsichtbaren.“ — Versöhnend wirkt es, daß Reil am Schlus.se des Werkes den Wert der pathologischen Anatomie hervorhebt, aber eine damals nieht gekannte physiologische Erörterung, genetische H e r 1 e i t u n g der Pro- zess 0 fordert — ein Po.stulat, das erst Rokitansky erfüllte. 76 Greuel des Krieges, die Guillotine, die republikanischen Hochzeiten; man besuche die Irren- und Krankenhäuser und andere Wohn])lätzc des menschlichen Jammers; kehre ein in die Hütten der Armen und dann folge das Urteil. In jedem Atemzuge, durch den ich rede, sterben auf dem weiten Erdenrund Menschen unter einem ängstlichen Gewinsel, und eine noch größere Zahl stürzt ihr Tod in Armut und Kummer. Die Welt ist ein großes Leichenhaus, und auf den Gräbern der Vorzeit blüht die Gegenwart wie ein Schmarotzer. Endlich, gesetzt auch, es wäre mehr Freude als Leid auf der Welt, so kann doch der Unglückliche, der von der Geburt an bis zum Tode litt, die Natur einer unbesonnenen Handlung zeihen, daß sie ihn ans Tageslicht rief. Endlich frage ich, wozu das Narrenspiel des ewigen Wechsels und die Produktion dieser vergänglichen Geburten? Liegt nicht noch etwas im Hintergründe, so macht die Natur es wie das Kind, das aus seinem Sandhaufen Kuchen backt und sie wieder zusammendrückt, um neue zu backen.“ Begreiflicherweise riefen diese Zweifel eine heftige Polemik hervor. In Hufelands Journal der prakt. Heilkunde, 43. Bd., Berlin 1816, 1. St., p. 110—119, erschien ein Artikel; „Nicht Anklage, sondern Klage“ von Candidus. „Mit Betrübnis habe ich Reils Entwurf einer allgemeinen Therapie gelesen. . . . Ich glaube, daß viele, ja die meisten Arzte, welche Reil verehrten und die Ausbildung unserer Kunst, sowie die wahre Bildung der Ai'zneibeflissenen wünschen, das gleiche empfunden haben, und daß ich in dem, was ich hier sage, die Empfindung und die Mei- nung vieler achtbarer Männer ausspreche. In diesem Buche ist unverhohlen dargestellt die unglückselige Ansicht und Stimmung Reils, die sich seiner in den letzten Jahren bemächtigt hatte. ... Es ist bekannt, daß der große H a 1 1 e r in seinen letzten Jahren gleichfalls der menschlichen Schwäche zollte und sich seine Existenz verbitterte durch die quälendsten »Skrupel. . . . Aber weit betrübender noch ist die Art, wie sich der innere Zwiespalt Reils in seinen letzten »Schriften äußert. Es ist, als ob ihm ein verderbliches Kontagium eingeimpft wäre, gegen welches seine ki’äftige Natur zwar fortwährend an- kämpft, dem sie aber doch zuletzt unterliegen muß. . . . Das Kontagium, welches Reil ergriffen hat, ist die sogenannte Naturphilosophie, nur in Deutschland berühmt, in Frank- reich und England entweder nicht gekannt oder berüchtigt. . . . Welche nützliche neue Wahrheit hat die sogenannte Naturphilosophie geradezu oder mittelbar gegeben? Ich weiß keine. Wohl aber weiß ich manche IMenschen, auf deren Gemüt sie den verderb- lichsten Einfluß gehabt hat. Und wie konnte es anders sein, da wir an Reils Bei- spiel sehen, welch Unheil sie am grünen Holz hervorbringt. Zu Absurditäten hat sie ihn getrieben. . . . Zur Verzweiflung hat sie ihn getrieben. Und es ist billig, daß eine Philosophie, die mit Stolz anfängt, mit Verzweiflung endige. Nicht der Stolz, sondern die Furcht Gottes ist der Anfang der Weisheit. . . . Vielleicht ist kein denkender Arzt gewesen, der nicht eine oder mehrere Perioden des Grübelns, des Zweifelns, der Schwer- mut gehabt hat. Und wcmi einige Kunstgenossen unglücklich genug sind, noch keinen Hafen gefunden zu haben, so wolleir wir wahrhch sie nicht tadeln. Aber diejenigen verdienen gerechten Tadel, die, obwohl sie fühlen, daß ihre Meinungen sie nicht glück- lich machen, dennoch diese Meinungen als Lehren in pomphafter »Sprache vortragen und andere mit unglücklich machen wollen oder doch machen. When ignorance is bliss, ’tis folly to bc wise. Das gilt ganz vorzüglich von der sogenannten Natuiqjhilosophie. , . . Sei herzlicher Verehrer großer Menschen und bestrebe dich täglich besser zu werden, so wird dir die Naturphilosophie samt der feineren und feinsten Anatomie des Hirns nichts Schlimmeres sein als Dunst und »Staub. Ich meinesteils als einzelnes IMitgUed des großen Kreises der deutschen Ärzte protestiere dagegen, daß Reils naturpliilo- sophische Phanta.sien und Melancholien nach seinem Tode bekannt gemacht werden, weil dem Andenken des hochverdienten Mannes durch Bekanntmachung seiner Blößen geschadet wird, weil den jüngeren Arzneibeflissenen, welche diese Blößen und Schwächen 77 nicht erkeimou für das, was sie sind, Gefahr dadurch gebracht wird, weil die deutsche Medizin dadurch den fremden Ärzten zum Spott, zum gerechten Spott wird.“ . . . ln einem Nachwort, das Hufeland hinzusetzt, heißt es: „Wie so ganz stimme ich mit dem wackeren Candidus überein! - Armes Menschengeschlecht ! - So endigt also deine höchste Weisheit mit der traurigen Überzeugung, den Pilzen gleich aus der Erde zu wachsen und mit ihnen nach einer kurzen Dauer wieder in den Elementen unterzugehen? _ So endet einer ihrer ersten Priester, ein großer, geistvoller Mann, durch sie be- tört' - Mit welcher Wehmut tue ich einen Blick in deinen inneren Zustand, edler Geist, vor deinem Abschied! - Aber laßt euch aufschrecken aus eurer Verblendung, ihr Ver- führten, durch dieses erschütternde Beispiel! Es bleibt ewig wahr: ,An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.“ Eine so trostlose Philosophie, die am Ende zu solchen Resultaten, zu solcher Vernichtung alles höheren selbständigen moralischen Seins und eben dadurch der ganzen Würde und Göttlichkeit des Menschen führt und führen muß, kann nicht die wahre sein, und ich beschwöre euch, ihr Lehrer, die Herzen der Jugend, die euch anvertraut sind, rein davon zu erhalten. Sie ist nichts anderes als ein verfeinerter Naturgötzendienst, ein neues Heidentum. . . . „Auch dieses Nachwort soll nicht Anklage sein, sondern nur Klage, daß selbst edle Geister noch jetzt, wo uns so lange schon das Licht von oben leuchtet, in solche unseüge Geistesverirrungen fallen können. Es tut mir herzUch leid, wenn ich dadui’ch manchem wackeren Manne, ja selbst Freund wehe getan haben sollte. — Aber nicht euch meine ich, meine Freunde, sondern em’e Philosophie; nicht wehe tun wollte ich, sondern wohltun. — Die Sache ist zu ernst, als daß ich nicht frei und offen und ohne alle Menschenfurcht mich aus- sprechen sollte. Und sie steht hier am rechten Ort, weil es eben die medizinische Welt ist, wo diese Ansicht am leichtesten Eingang findet, und die physische Natur der Zauber- wald, durch welchen der Geist bis zur morahschen Verfinsterung hindmchgeführt wird.“ ‘‘3) S c h e 1 1 i n g, Jahrbücher der Medizin als Wissenschaft I (1805), 7, 136 — 137. „Bekanntlich haben verschiedene auf verschiedene Weise sich bestrebt, mittels gewisser aus der Naturphilosophie geschöpfter Grundsätze auch die Arzneiwissenschaft ins Bessere zu verwandeln und umzubilden. Noch aber müssen wir ohne Ausnahme bekennen, daß keiner dieser Versuche eine durchaus würdige Probe gegeben hat von dem, was die Grundansicht der Natur vermögen könnte in der Lehre von der Heilkunst. In Zeiten, wo sich neue Ansichten in der Wissenschaft auftun, sind die wenigsten von den Grund- sätzen ergriffen, sondern sie ergreifen die Grundsätze und ihr Verkehr mit denselben ist der einer Benutzung im eigenthchsten Sinn. Auf diese Art haben einige Ab- schreiber und Kopisten, soweit sie nämlich dies sein konnten, eine leichte Ernte in diesem Feld zu machen gesucht. Ein wahrhaft regsamer Geist wird dagegen unter gleichen Umständen leicht befruchtet; nur muß es nicht mit zu allgemeinen Begriffen rmd Worten sein, wie z. B. Kontraktion und Exj)ansion, Rezeptivität und Tätigkeit, mit denen man alles, aber eben daher auch nichts erklären kann. Sonst möchte die Befruchtung nur der Schwängerung der Wolken durch aufgelöste Dünste gleichen, die zwar, wenn sich die Schleusen des Himmels öffnen, befruchtend wirken, wo sie ein Erdreich mit lebendigen Keimen vorfinden, aber selbst keine mit herniederbringen. “ . . . „Wenn in einem gegebenen wissenschaftlichen Zustand dem Trieb zum Umfassenden und Allgemeinen, der etwa durch Philosophie aufgeregt wird, weder die Fülle klassischer Gelehrsamkeit, noch die einer wahren auf Naturanschauung gegründeten Erfahrung das notwendige Gegengewicht hält, so ist unvermeidlich, daß das Ganze nach der einen Seite sich neigend früher oder später überstürze, an welchem traurigen Falle aber nicht die Philosophie schuldig ist, sondern die Schwäche oder der Mangel dessen, was ihr gegenüberstehen soll, und mit welchem zusammen sie allein den vollendeten Organismus der Bildung darzustellen vermag.“ Steffens („Die gegenwärtige Zeit und wie sie geworden“, 2. Teil, Berlin 78 1817, p. 07‘J-G82) sagt: ..Die Arzncikunclo hat sich in älteren Zeiten fast lediglich auf mannigfaltige Erfahrung gestützt, ja das tiefe praktische Talent, welches die unter- einander gemengten schwer zu unterscheidenden Kennzeichen der Krankheiten und die zweckmäßig anzuwendenden Heilmittel mit instinktartiger Sicherheit heraushob, war die eigentliche feste Grundlage dieser bewunderungswürdigen Kunst, die das Un- ergründlichste und Rätselhafte selbst, mehr ahnend als begreifend, zu ordnen und zu handhaben wußte. Je mehr die Naturwissenschaft gedieh, je mehr es gelang, Natur- erscheinungen unter feste Gesetze zu bringen, desto mehr wuchs das Bestreben der Ärzte, auch eine äußere, durch Reflexion und theoretische Wahrnehmung gewonnene Grund- lage für ihre Kunst zu finden, die dadurch zur Wissenschaft erhoben werden sollte. Die Arzneikunde erschien in ihrer Gestalt wechselnd wie die Naturkunde, die ursprüngliche Unschuld der reinen Wahrnehmung war auf immer verloren, die Reflexion warf einen dauernden Schatten in die Erfahrung, und der sichere Instinkt schwankte und ward von den wechselnden Vermutungen ergriffen, unsicher und zweifelhaft. Mechanische und chemische, elektrische und galvanische Ansichten, Verwandtschaften und Polari- täten, Humoral- und Korpuskularpathologien entstanden und gingen unter, hemmten, beschränkten, vernichteten sich untereinander. Alte Kurmethoden verloren ihr An- sehen, Krankheiten wurden hier nach diesen, dort nach jenen Ansichten geheilt. Ist es schwer in der anorganischen Natur zu bestimmen, was eigentlich Tatsache sei, so tritt dennoch das Gesetz reiner hervor, es ist möglich, eine Erscheinung von der anderen rein zu sondern, die bestimmenden Umrisse, das Eigentümliche herauszuheben, das Rein- gesonderte in seiner Beziehung zu unterscheiden; im Leben ist eine solche Sonderung schwer, ja fast immer unmöglich, die Gesetze entspringen unmittelbar aus dem Ganzen, das Einzelne verschlingt sich mit dem Ganzen und dieses ist ein ewiges Rätsel. Das Unklare ist weniger streng, das Unbestimmte die Stätte der Willkür. Voreilig wurden halbverstandene Sätze der Naturwissenschaften, auf das Leben angewendet und was die Erfahrung unbestimmt ließ, durch Begriffe verbunden. . . . Der Brownianismus spielte mit Erregung und Erregbarkeit und vernichtete die Mannigfaltigkeit der Quah- täten, um die tote Begriffseinheit zu finden. Die Naturphilosophie stei- gerte die Verwirrung. Freihch ist die Arzneikunde die höchste Naturwissen- schaft, aber eben deswegen als Wissenschaft unerreichbar. Die Theorie, wenn sie vor- eilig angewandt wird, findet hier dasselbe Widerstreben wie im geschichtlichen Leben, die Wirklichkeit hemmt sie, bis sie wahrhaft durchsichtig wird, d. h. bis in der Geschichte wie in der Natur die Erscheinung als solche schwindet, und die unreife Theorie kann das erscheinende Leben nur verwirren. Vergebens sucht der Arzt jetzt, einmal hin- gerissen, den ursprünglichen Instinkt des Talents, die reine Erfahrung wieder herzustellen, vergebens die wahre Theorie, die ihn mit dem Instinkte wahrhaft versöhnen könnte; in einer unglücklich schwankenden Mitte ist er wechselnden Vermutungen preisgegeben, indem er die Natursicherheit des Instinkts verloren hat, ohne die höchste Sicherheit der wahren Theorie errungen zu haben. Die hippokratische Arzneikunde läßt sich in ihrer völligen Reinheit so wenig wieder herstellen, wie der alte unschuldige Glaube. In Deutschland ist die Verwirrung am höchsten gestiegen, weil hier das Bestreben nach Einsicht am stärksten hervortrat.“ An anderer Stelle „Was ich ei’lebte“, Bd. IV, p. 354 bis .3.55) äußert sieb Steffens folgendermaßen: „Die Naturphilosophie hatte schon an- gefangen, ihren Einfluß besonders auf die Arzneikunde zu zeigen. Ich war mit diesem keineswegs zufrieden, obgleich er uns viele lobpreisende Anhänger verschaffte. . . . Die Disziplinen der Arzneikunde waren mir keineswegs fremd, die Erfahrungen am Kranken- bette wichtig, aber so überzeugt ich war von der hohen Bedeutung ärztlicher Erfahrung für die Ausbildung der Naturphilosojihic, so entschieden mußte ich mich gegen d i e voreilige Anwendung ji h i 1 o s o p h i s c h e r Ansichten auf die 79 ärztliche Praxis erklären. JJiese ist mir eine Kunst im eigentlichsten Sinne. Wohl mag sie von einem höheren geistigen Prinzip durchdrungen sein, ja sie wird be- deutcndeis tiefer, selbst besonnener durch dieses. Aber es darf n i c h t i n d c r Form einer konstruiere n den, der Erfahrung gebiete n d e n Methode h e r v o r t r e t e n. Eingeschnürt durch eine solche, verliert die Praxis die unbefangene geistige Freiheit, die dem künstlerischen, scharf beobachtenden Talent am Krankenbette jene bewunderungswürdige, auf mannigfaltige tiefe Erfahrung be- gründete Bewegliehkcit erteilt, die ich in meinem Leben oft genug Gelegenheit gehabt habe, an den größten und bedeutendsten Ärzten zu bewundern.“ •1*) Hauptvertreter der Lehre, daß der Lebensprozeß zum Galvanismus in Beziehung stehe, waren P f a f f, Humboldt, Ritter, R e i n h o 1 d, H a r t m a n n und namentlich P r o c h a s k a, welch letzterer den Lebensprozeß mit dem Galvanismus völhg identifizierte. Reil (Entwurf einer allgem. Pathol. I, 53) erklärt den Lebens- prozeß als einen „potenziert galvanischen“. Beide seien aber unabhängig voneinander, keiner bedinge den anderen, sondern ihre Wurzel sei gemeinschaftlich. „Es sind die nämlichen Gesetze, wonach die Natur in der Voltaschen Säule und in dem Oiganismus wkt, aber die Form, in der sie wirken, ist hier und dort verschieden. In den lebenden organischen Körpern erscheint der Organismus auf einer höheren Stufe als in der Volta- schen Säule, weil er durch das Substrat, in dem er wirkt, höher potenziert ist. “ ‘*5) Ai’ch. VII, p. 189—254. „Durch seine Hypothese der sensiblen Atmo- sphäre der Nerven (vgl. Anm. 1 8) und die Annahme, daß , Halbleiter* Leiter werden können, schien Reil für die Erscheinungen des tierischen Magnetismus die zureichende Erklärung gefunden zu haben“ (1. c. p. 233). Unter dem Einflüsse Reils beschäftigte sich sein Schüler Nasse intensiv mit den Erscheinungen des tierischen Magnetismus und Somnambuhsmus. K i e s e r, einer der eifrigsten Verteidiger des Magnetismus, war einer der Schwiegersöhne Reils. Nasse sagt übrigens später (Horns Archiv 1818, II, p. 9) in bezug auf R e i 1 s Theorie des Sympathikus: „Und so ist die von Reil bei uns eingeführte Lehre von den Ganglien ein neues, recht auffallendes Beispiel, was eine völlig beweislose Vermutung in der Medizin vermag.“ ^®) Über die Entstehung und den Zweck seiner G e h i r n u n t e r- suchu Ilgen sagt Reil (Arch. VIII, 1807 u. 1808, 1. H., p. 1 — 5) folgendes: ,, Schon um die Zeit des Jahres 1795, als ich die Organisation der Nerven unter- suchte, habe ich mich auch mit dem Bau des Gehirns beschäftigt. . . . Allein ich mußte damals eine Arbeit aus Mangel an Muße liegen lassen, die ich jetzt aus Mangel an Ge- schäften wieder hervorsuche, den ein unseliger Krieg, welcher mich aus dem Kreise meiner Zuhörer riß, über mich verhängt hat. Doch auch die Distehi haben ihre Honig- kelche. Eben dieser Krieg hat mich an seine Quellen geführt und mich zur Untersuchung des Organs hingedrängt, in welchem er und fast alles Mißgeschick des Menschengeschlechts, alles Große und Edle, wie alles Kleine und Schlechte, was unter dem Monde geschieht, seine Wurzeln hat. Denn in dem Maße, als die Organisation des Gehirns seinem Proto- typus ähnlicher wird, der in der ewigen Idee desselben vorher bestimmt ist, nähert sich auch die Vernunft des Menschen ihrem Urbilde an und sinkt zur Tierheit herab oder wird die Sklavin der Sinnlichkeit, wenn der Bau des Hirns unvollendet, und nach M ala- c a r n e zu viel oder zu wenig in demselben ist. Die Menschenvernunft spiegelt sich in der Organisation des Nervensystems, wie sich die Gottheit in der Leiblichkeit des ganzen Welt- baues ausspricht. Staunend und ehrfurchtsvoll stehe ich vor diesem Heiligtum, das bei allem Leben und Weben, bei allem Tun und Treiben des Menschengeschlechts von Anbeginn bis auf unsere Zeit sein geheimes Spiel mitgetrieben hat. Was hier sein Dasein empfängt, greift selbst der Natur in die Zügel, flicht Willkür in die Notwendigkeit ein \ind nötigt sie, die Gedichte einer fremden Phantasie als neue Folgcnreihen in das Tableau ihrer eigenen 80 .Entwicklungen aufzunehmen. Aus jeder Falte des ungeheuren Gewandes, in welches unser Planet gehüllt ist, leuchtet der Finger der Menschheit hervor. Hier entsprang die Idee des Belvedersehen Apolls ! Ohne dieses marmorweiße Gewölbe, das seine Bögen hoch über die Quellen des siimlichen Lebens hinspannt, wäre Homers Iliade, Kep- lers Zoonomie der Gestirne nicht! Was in diesen mäandrischen Hallen unter dem- selben oszilliert, geht init Blitzessehnelle von einem auf alle über, versenkt den einen als Seele in das All und das All als Kraft in den einen. So entstehen die Kolosse unter den Menschen, die das Ruder der Staaten ergreifen oder sich allein, wie Alexander, einem ganzen Weltteil entgegenstellen. Eine unergründliehc Tiefe von Mögliehkeiten liegt in einem solchen Kopfe! Hallers Kopf, der eine halbe Welt in sieh trug, war ein Abbild des nämliehen Urbildes, nach welchem dieser Kopf geformt ist. Leite meine Hand, gefällige Erato ! daß sie leise die Schale öffne, welche die höchste Blüte der Sehöpfung versehließt, und waffne mein Auge mit Geistesschärfe, daß es ver- ständig den Dädalus der Organisation anschaue, der die Geburtsstätte der Gesehichte, die Wiege der Kunst und das mysteriöse Brautbette ist, auf welchem Seele und Leib, die Götter des Lichts und die Kinder der Natur ihre Orgien feiern. In so undurch- dringliehen Sehleier hat sich die Seele des Mensehen verhüllt , daß sie uns nicht allein die Notwendigkeit ihres Bundes mit einem Körper, sondern aueh den Bau ihrer materiellen Werkstätte, ja selbst den Begriff verbirgt, wie überhaupt nur ein Zu- sammenhang zwisehen der Organisation jener Werkstätte und den Funktionen der Seele statthaben köime. Doch muß sich gerade hier, wenn wir uns ihr auf empirisehen Wegen nähern wollen, der Faden noeh am ersten aufnehmen lassen. Denn das Gebildete ist das Äußere des Inneren, der siehtbare Ausdruck der Qualität, und das somatische Verhältnis des Gehirns ein integranter Teil seiner Physiologie, welche einerlei mit der rationellen Seelenlehre ist. So kami die mechanisehe Analysis dazu bei- tragen, daß jene bodenlose Szienz, die bis jetzt noch wie ein Meteor zmsehen Himmel und Erde hängt, den ersten festen Haltungspmikt bekomme. Und von der Seele etwas zu wissen, ist doch ebensoviel wert als von der Sehafzucht, dem Ackerbau imd der Kriegs- kunst etwas zu wissen. Selbst denen, die immer nur nach dem unmittelbaren und irdi- schen Gewinn haschen, sage ich, daß die Seelenlehre auch zu etwas, zum Anbau der Psychiatrie und Ethik, zur Kenntnis des Mensehen rmd seines Gebrauchs, zur Bildung der Köpfe und ihrer Diagnostik und außerdem noeh zu vielen anderen Dingen nütze sei. Denn wenn aueh den Toren, an deren Schädel ganz andere Fächer angeschrieben sind, als in welehe der Zufall sie geworfen hat, die Gail sehe Schädellehre ein Ärgernis sein mag, so muß sie doch die Masse in ihr Interesse ziehen, die täglieh die Erfahrung macht, wie viel darauf ankomme, die Köpfe zu kennen, deren einer zureicht, eine Generation des halben ErdbaUs glücklich oder unglüeklich zu machen. Möchte es mir gelungen sein, zur Ergründung dieses geheimnisvollen Organs, das die Bedingung, aber zugleich auch die Schranke aller empirischen Idealität und das einzige Problem der Philosophie ist, auch nur etwas beigetragen zu haben, so Aväre nie ein Krieg in seinen Folgen heilsamer als dieser gewesen.“ Reils Schriften über das Gehirn. Fragmente über die Bildung des kleinen Gehirns im Men- sehen. Ärch. VIII (1807/08), p. I — 58. Erste Fortsetzung der Untersuehungen über den Bau des kleinen Gehirns im Men sehen, p. 273—304. Untersuchungen über den Bau des kleinen Geliirns im Menschen. Z av e i t e F o r t s e t z u n g. Über die Organisation der Lappen und Läppchen oder der Stämme, Äste, ZAveige und Blättchen des kleinen Gehirns, die auf dem Kern desselben aufsitzen, p. 358—420, 81 P- Nachtrag zur A n a t ü m i e des kleine n C 129-135. U n t e r s u c h u n g e 11 ü b e r d e n B a u d e s g r 0 e li i r 11 s. Arch. IX (1809), ßeii GehirnsimMen- schen, p. 136— 208. . , Das verlängerte Rückenmark, die hinteren, seitlichen und vorderen Schenkel des kleinen Gehirns und die teils strang- förmig, teilsalsGanglienkettcin der Achse desRückeninarks u n d d e s G e h i r n s f o r 1 1 a u f e n d e g r a u e Substanz, p. 485—524. Die vordere Kommissur im großen Gehirn. Arch. XI (1812), p. 89-100. Die Scheidewand, ihre Höhle, die Zwillingsbinde und die Höhlen im Gehirn, p. 101 — 116. Nachträge zurAnatomie des großen und kleinen Gehirns, p. 345—376. Seine Methode beschreibt Reil folgendermaßen: „Ein Hauptverdienst meiner Arbeit ist die V orbereitung des Gehirns zur Zergliederung und die M e t h o d e, es zu zerlegen. Denn die Zergliederungskunst des- selben ist so Avichtig, daß sie einerlei mit der Kunde seiner Organisation ist und beide zugleich mit einem Schlage erfunden werden müssen. . . . Nie wird es uns gelingen, das venvdckelte Gespinst des Gehirns zu entfädeln, so lange man es blindlings zerfleischt und vde V i c q d’ A z y r in die Kreuz und Quere zerschneidet. Im Anfang habe ich zahl- lose Brüche auf gutes Glück gemacht, konnte aber das, Avas der Zufall mir vors Auge brachte, bei der nächsten Zergliederung nicht Avieder finden. Aber jetzt bin ich imstande, soAvohl beim großen als beim kleinen Gehirn, bestimmt die Brüche anzugeben, die ge- macht Averden müssen, um bestimmte Organisationen zum Vorschein zu bringen. Ich habe die Idee zur Zergliederung des Gehirns gegeben und die Bahn mit so vielem Glück gebrochen, daß jedermann sie mit Bequemlichkeit Avandeln und die Lücken ergänzen kann. Die Methode führt zur Entdeckung der Teile und die Bekanntschaft der Teile Aviederum zur Vervollkommnung der Handgriffe, durch welche sie am zAveckmäßigsten dargestellt Averden können. ... G a 1 1 s Methode langt nicht aus. Das Gehirn ist ohne Vorbereitung zu breüg und zerfließbar und läßt sich desAvegen nicht im Zusammenhang zerlegen. Auch mag es geAvisse Bildungen haben, die für sich nicht deutlich genug hervor- treten. Doch ist auch dieser Gegenstand nicht erschöpft, sondern es gibt geAviß noch zweckmäßigere Zergliederungsmethoden und bessere Vorbereitimgsmittel, die Avir auf- zusuchen haben. Der Alkohol drückt das Mark mit solcher GeAvalt zusammen, daß das Gehirn fast ein Viertel seines Volums verliert und sich deswegen nachher nicht Avohl Avieder auseinandertrennen läßt. Die gleichzeitige oder nachherige AnAvendung der Kalien vermindert zAvar den Nachteil der Kompression, hebt ihn aber nicht ganz. . . , Unter den von mir versuchten Hilfsmitteln, das Gehirn zur Zergliederung vorzubereiten, habe ich folgende beAvährt gefunden: 1. Man härtet das Gehirn in Alkohol, legt es dann in eine Auflösung von kohlensaurem oder reinem Kali, in diese ein paar, in jene mehrere Tage, und härtet es nun Avieder in Alkohol, nachdem es in der Kalilösung Aveich geAvorden ist. Dadurch erhält man den Vorteil, daß es sich leichter trennen läßt, und der Unter- schied ZAvischen grauer und markiger Substanz wieder sichtbar Avird, der durch die Här- tung in Alkohol mehr oder Aveniger verloren geht. Die graue Substanz bekommt nämlich durch die Kalien eine schAvarzgraue Farbe und eine schlüpfrige und gallertartige Kon- sistenz. 2. Man setzt dem Alkohol, in Avclchem das Gehirn gehärtet Averden soll, gleich reines oder kohlensaures Kali zu. 3. Man legt es in Alkohol, in Avelchem Ammonium auf- gelöst ist. 4. Endlich habe ich die oberfiächlichen Teile des Gehirns gleich am 4., 6. oder Neuburger, Johann Christian Eeil. 6 82 8, Tage der Härtung in Alkohol zu präparieren angefangen und bin mit der Zergliederung der tieferen in dem Maße fortgeschritten, als sie sich allmählich weiter härteten. Diese Methode hat mir fast die beste zu sein geschienen und würde vielleicht noch bc.sser ge- lingen, wenn man dem Alkohol gleich etwas Kali oder Ammonium zu.setzte. Boi dieser frühen Präparation fasern sich die Teile schöner, sind zäher und fester, und der Alkohol dringt besser in die tiefliegenden Teile ein, weif sie früher entblößt werden. . . . Zuweilen blätterten sich auch kleine Gehirne außerordentlich schön, die jahrelang in Branntwein gelegen hatten, ^^hahrscheinlich gibt es noch andere Dinge, die meine Vorbereitungs- mittel sehr übertreffen, Sublimat- und Schwefellebcrauflösungen, Zusätze von Färbe- stoft'en zu den Kali- und Ammoniumauflösungen, die Beschleunigung der Härtung durch Digestionswärme, Zergliederung des Gehirns unter Wasser, nachdem es vorher in Kali- auflösungen stark erweicht ist usw., welche ich bis jetzt noch nicht versucht habe. . . . Als Instrumente zur Zergliederung gebrauchte ich meine Finger, den Stiel eines Skal- pells, ein griffelförmiges Instrument, ein schmales, vorn abgerundetes Plättchen von Elfenbein und ein elfenbeinernes Messerchen mit einer geraden Schneide und einem krummen, abgerundeten und halbscharfen Rücken. . . . Ich zweifle gar nicht daran, daß man durch die allmähliche Vervollkomnmung der Zubereitungs- und Zergliederungs- methode des Gehirns bald dahinkommen wird, es mit eben der Leichtigkeit, wie jeden anderen Teil, zerlegen zu können.“ (Arch. IX, p. 137 — 141.) „Unter die vorzüglichsten IMängel meiner Behandlungsart des Gehirns mit Alkohol gehört das Schwinden oder Einklingen desselben , wodurch seine faserigen Strahlungen so ineinander gedrängt werden, daß sie sich nachher nicht leicht genug entfalten lassen. . . . Ich habe allerlei versucht, um jenem Mangel abzuhelfen, aber bis jetzt noch kein Mittel gefunden, welches nieiner Absicht vollkommen Genüge leistete. Einigermaßen tut es das Terpentinöl. Ich lege einzelne Stücke des frischen Gehirns 4—6 Tage lang an einen kalten Ort in Terpentinöl, erneuere es oft und härte es nun in Alkohol.“ (Arch. XI, p. 96.) Die Arbeit über das Kleinhirn beurteilt S t i 1 1 i n g (Neue Untersuchungen über den Bau des kleinen Gehirns des Menschen, 3. Bd., Kassel 1878, p. 352) mit den Worten: „Ein Menschenalter später als Malacarne hat Reil (in den Jahren 1807 bis 1809) in fünf verschiedenen Abhandlungen Beiträge zur Lehre vom Bau des Cerebellum geliefert, welche für alle Zeiten als Muster einer klassischen Arbeit betrachtet av e r d e n müssen. Die Zu- verlässigkeit seiner Angaben, die Treue seiner bildlichen Darstellungen ist — mit wenigen Ausnahmen — über jeden Zweifel erhaben. Reils Ai’beiten beschränkten sich auf die gröbere Morpho- logie des Cerebellum, und seine Untersuchungsmethode schloß begreiflicherweise jede histologische genauere Forschung aus, da dieselbe nur in der Untersuchung frischer und in Weingeist gehärteter Gehirne mit unbewaffnetem Auge bestand. Durch Reils Arbeiten ist die gröbere Morphologie des Cerebellu m, nachdem Malacarne sie begründet, auf eine breite und für alle Zeiten gesicherte Basis gestellt Avorden. Seine Anschauungen, die in das Feld der Histologie übergreifen, sind nur als ein Versuch zu betrachten, organische GcAvebe mit solchen Hilfsmitteln zu ergründen, Avclche der Natur der Sache nach nicht genügend sind. Die Methode histologischer Forschung AA'ar eben zu Reils Zeiten noch in der ersten Kind- heit. Trotzdem hat Reil, Avelcher der erste war, der die Zerlegung des kleinen Gehirns durch methodische Zcrblätterung unternahm, gerade durch diese Methode einige Tat- sachen, Avelche den zentralen Lauf der Processus cercbclli ad Corpora quadrigemina usw. betreffen, kennen gelehrt, die mit den Resultaten der genaueren Untersuchungen mittels der besseren neueren Hilfsmittel und Methoden im groben und ganzen übercinstimmen.“ 83 „Reils Abbiklungeii' des kleinen (ichirns sind bis anf den heutigen Tag zwar die besten geblieben, welche jemals gegeben wurden. Dennoch aber muß ich behaupten, daß sie in vieler Beziehung mangelhaft sind. . . . ,,l)aß Reil die intia- und extiaziliaren Bahnen der Processus cerebelli ad corpora quadrigemina schon im groben richtig be- zeichnete, ist klar.“ ... Reil kannte auch schon zum Teil die zentrale Bahn der Pro- cessus cerebelli ad corpora quadrigemina und der Proce.ssus ceiebelli ad mcdullam. • . • ,.R e i 1 vermutete auch schon den zentralen Ursiu-ung der Nerven aus tiefer gelegenen Ma.ssen grauer Siibstanz der Zentralorgane.“ ... „Reil führte zuerst die Zerlegung des Cerebellum durch Zerblätterung oder Aufblätterung aus und lehrte das kleine Gehirn — gleich zwei Hälften eines Waffeleisens — mittels eines von hinten nach vorn gehenden Bruches dui’ch die hinteren Oberlappen und den horizontalen Mai käst des Wurm.s zu zerlegen, um die Paserungsverhältnisse der zentralen Marksubstanz genauer kennen zu lernen. Reil gab eine ganz vorziigliche Abbildung der betreffenden Bruchflächen. • • • Reil gibt eine Abbildung, in welcher eine teilweise Zerblätterung der vorderen Ober- lappen dargcstellt ist, mittels welchen er die zentralen Bahnen der Processus cerebelli ad corpora quadrigemina, ad medullam oblongatam und ad pontein darzustellen versucht hat. In dieser vorzüglichen und getreuen Darstellung sieht man bereits, im groben, gut angedeutet, was mikroskoiiische Untersuchmigen mittels exakter Methoden der Zer- legung durch sukzessive Segmente festgestellt haben.“ Wir bringen auf Seite 84 die \L Tafel Reils. Erklärung. Das in horizontaler Richtung von hinten nach vorn zu aufgebrochene und in eine obere und untere Hälfte geteilte kleine Gehirn, von welchem die inneren Markflächen sichtbar sind. A A die obere Hälfte des kleinen Gehirns, von der inneren Seite des Bruchs an- gesehen. B B die untere zurückgeschlagene Hälfte desselben. C C der hintere beutel- förmige Ausschnitt. D die hintere Fläche des Querbändchens für den hinteren oberen Lappen. E die vordere und obere Fläche des Zweiges. F F F F die Rindensubstanz der sich berührenden Wände des letzten und vorletzten Läppchens des hinteren oberen Lappens, zwischen welchen der Bruch gemacht ist. G O die vorguckenden inneren Extremitäten des hinteren unteren Lappens. a a die Rinne in der oberen Hälfte, b b der Riff, welcher auf der nämlichen Hälfte nach innen zu folgt, c c der Riff auf der unteren Hälfte, Avelcher der Rinne a a entspricht, d d die auf den Riff nach innen zu folgende Rinne dieser Hälfte, die dem Riff b b entspricht. bb dd die Linien, innerhalb welcher der Kernteil, außerhalb Avelcher die Stämme, Aste und Zweige liegen. Hier ist die Faserung regelmäßig, strahlig und fein, dort ver- wirrter und gröber. Durch die Linien ejej sind fünf Abschnitte in der Breite des kleinen Gehirns bezeichnet, die sich in Rücksicht ihrer Organisation unterscheiden, die beiden äußersten Abschnitte. hi kl l kill vier starke Stränge, auf jeder Seite in diesem Abschnitt, die in der Tiefe sich zuerst unter sich kreuzen, und von welchen dann jeder wieder seine eigentümliche und feinere Kreuzung hat, durch welche er gerieft erscheint, /!7/!7(7,/r//diebeiden auf dieäußeren folgenden Abschnitte. welche über die Taubennester fortgehen und eine eigene Organisation haben. m ein Ort, wo hier ein Fasernbündel aus der Tiefe kommt und sich über das an- grenzende auswärtsliegende Mark wegschlägt. 0 w 0 L ö c h e r und z y 1 i n d r i s c h e M a r k k ö r p e r, die in diesen Löchern beim Durchbrechen abgerissen sind, welche auf der Grenze dieser Abschnitte und des mittelsten aus der Tiefe zum Vorschein kommen. 84 ? J7 !7 (7 der innerste nnd ni und unteren \Vuriu fortgeht. 1 1 e 1 s t e Abschnitt, der zwischen dem oberen j) p eine scharfe Linie, in welcher dieser Teil quer über auf der unteren Fläche rinnenförmig gesenkt, auf der oberen rifförmig erhaben ist. q die feine Kreuzung beider Hälften, mit welcher dieser Bruch des mittelsten Ab- schnitts in der Tiefe endet. 85 Aus dom Abschnitt „Das Hirnschenkelsystem“ (Arch. IX, p. 147 — 171) sei folgendes hervorgehoben: „Das Hirnschonkelsystem ist nicht etwa ein aus verschiedenartigen Be- standteilen, den Pyramiden, Hirnsclienkeln und dem, was beide in der Brücke verbindet, zusammengesetztes Ding, sondern ein Ganzes. Die ganze Radiation von dem Ursprung der Pyramiden an, bis zum Ende des Stabkranzes in den vorderen Hirnlappen ist eins, ein ungeteiltes und zusammenhängendes System. . . . „Die Pyramiden sind Bestandteile des verlängerten Rückenmarks. Etwa 10-15 Linien unter dem Hirnknoten kreuzen sich mehrere Markbündcl auf der vorderen Fläche des Rückenmarks, gehen dadurch von der einen Seite desselben zur anderen herüber und treten nun als Pyramiden hervor. . . .“ „Die Pyramiden scheinen, wie die Hirnschenkel und der Balken, aus Markstäbchen zu bestehen, die der Länge nach in der Form einer Walze zusammengelegt sind und daher denselben auf der Oberfläche ein faserig-streifiges Ansehen geben. Da, wo der hintere und vordere Rand der Brücke die Pyramiden und Hirnschenkel umfaßt, drückt der- selbe sie zusammen und bildet einen Hals, der ein geflechtartiges Gewebe hat. Die Stäbe, welche zwischen den beiden Hälften in der Brücke liegen, werden von den Querfasern der Brücke in eine Horizontalebene niedergedrückt, sie trennen sich in mehrere Schichten über- und nebeneinander, und die Querfasern der Brücke ziehen sich durch sie hin, wie sich der Aufzug der Leinwand mit ihrem Einschlag kreuzt. . . .“ „Vor der Brücke wälzt sich der äußere Rand des Hirnschenkels stark aufwärts, legt sich an die Schleife des vorderen Schenkels des kleinen Gehirns und an die äußere Seite der Vierhügel an, geht mit demselben vorwärts auf den hinteren Rand des Sehhügels und dessen Corpora geni- culata zu, um mit dem Sehhügel gemeinschaftlich das Hirnschenkelsystem in dem hinteren und seitlichen Home zu bilden “ „Jeden Hirnschenkel kann man in eine Grund- fläche und deren Haube einteilen. Dies ist besonders einleuchtend auf seinem Wege durch die Brücke und vor derselben. Beide Teile sind ganz verschieden organisiert. Schneidet man die Hirnschenkel vor der Brücke durch, so findet man im Durchschnitt einen blätterigen Bau der Grundfläche, aber die Haube hat weniger Organisation, und in ihr zeichnet sich ein Icreisförmiges Feld aus, welches unmittelbar über der Grund- fläche liegt. Die Grundfläche ist eigentlich nur der Hirnschenkel, die Haube eine fremde Organisation. . . .“ „Das Hirnschenkelsystem ist auf seinem ganzen Zuge, von den Pyra- miden bis zu seiner Endigung in der Kapsel des großen Hirngangliums mit grauer Sub- stanz teils durchwebt, teils vorzüglich mit derselben von obenher bedeckt. . . .“ „Der Sehhügel steht mit dem Hirnschenkelsystem in so engem Verhältnis, daß man ihn als einen wesentlichen Bestandteil desselben und beide als voneinander unzertrcmiliche Teile einer Organisation ansehen muß. Durch den Sehhügel bekommt der Hii’nschenkel Zuwachs und seine fernere Ausbreitung die kreisförmige Richtung. Der Stabkranz, welcher strahlenförmig die Sehhügel umgibt, ist die Fortsetzung von beiden, dem Hirn- schenkel und Sehhügel. . . . Die Strahlen des Stabkranzes umgeben den Sehhügel und bilden fast einen vollkommenen Kreis um ihn, der bloß durch eine Lücke in dem Ein- gang der Sylvischen Grube unterbrochen ist. Diese Lücke ist aber auch nicht absolut, denn in ihr liegt die ungenannte Marksubstanz*), die vordere Kommissur und der Seh- nerv. . . . Alles, was vor dem äußeren Rand des Sehhügels liegt, nenne ich den Stab- kranz. ... Der Sehhügel ist in Verbindung mit dem Hirnschenkel Geburtsort des *) „Die ungenannte Marksubstanz ist eine Markproduktion, die mit der vorderen kolbigen Extremität des Sehhügcls in Verbindung steht, sich dann von innen nach außen um den Hirnschenkel, über den Sehnerven und parallel mit demselben herumschlägt und sich in die äußere Wand des Seitenhorns einpflanzt. . . . Ihre eigentliche Oi’gani- sation ist mir nicht klar und daher habe ich sie die ungenannte so lang genannt, bis ich sie besonders werde untersuclit haben.“ 86 Stabkranzcs. . . „Der Hirnschcnkel hat auf seinem ganzen ^Vege, von den Pyramiden an, einen blätterig-bandartigen Aufbau. Seine Markstäbchen . . . weiehen innerhalb der Kapsel mehr auseinander. Jedes Stäbchen be.steht wieder aus zahllosen, wie Mohn- blätlchen dünnen Markplättchen und ist mit einer zarten Scheide von Zellgewebe über- zogen. Der Stabkranz divergiert auf seinem Wege immer mehr und mehr. . . . Die vor- deren Stäbe sind lang, zart, zahlreich und dicht aneinander liegend ; die mittelsten oder seitlichen sind die kürzesten und dicksten, walzenförmig und bilden vorzüglich den Kamm; die hintersten sind die längsten, faserartigen Baues, und die abwärts ins Seitenhorn gehenden sind wieder etwas kürzer. Diese und die ins Hinterhorn gehenden sind nicht mit grauer Substanz durchweht, weil sic nicht durchs Hirnganglium gehen. Soweit der Stabkranz in der Kapsel liegt, also bis an den hinteren Rand des Sehhügcls, dringt die graue Masse zwischen den Stäbchen hindurch. Die stärkste Portion geht einwärts von dem ersten Stab. . . . Dann ist der mittlere und seitliche Teil des Stabkranzes am stärksten durchbrochen. Ich nenne dies den K a m m. ... Durch denselben geht nicht allein graue, sondern auch markige Substanz, die sich mit den Stäben kreuzt. . . . Die ersten Stäbe des Stabkranzes gehen in gradliniger Richtung gegen den Balken fort, aber die nächsten, gegen die Mitte rückwärts liegenden krümmen sich, so daß einer bogenförmig hinter dem anderen liegt. . . . Auswendig in der Kapsel Aveichen die Strahlen nicht von ihrer geraden Richtung ab. . . . Der hintere Teil des Stabkranzes . . . geht in gerader Rich- tung gegen die Spitze des Hinterlappens fort. Gegen das Seitenhorn zu lenken die Strahlen des Stabkranzes von der Horizontallinie gegen die vertikale ab. . . . Wie sich der Rand des Sehliügels krümmt, so die Strahlen des Stabkranzes, die von ihm als ihrem Brenn- punkt ausgehen. . . . Die Stäbe des hinteren Teils der Hirnschenkelorganisation gehen bis an die Grenze der äußeren Wände des hinteren und seitlichen Horns fort und ver- lieren sich dann in die Windungen.“ Aus dem Abschnitt „Das Balkensystem“ (Arch. IX, p. 172 — 195) sei folgendes hervorgehoben: „Der Balken hat den nämlichen Bau Avie der Hirnschenkel. Er besteht Avie dieser aus lauter Markstäbchen, die der Quere gehen und mit ihren Rändern senfaecht stehen. Daher das quergefaserte und geriefte Ansehen seiner oberen Avie seiner unteren Fläche und die Leichtigkeit, ihn in der Quere, aber die Unmöglichkeit, ihn in der Länge auseinander zu ziehen. Jedes Stäbchen besteht aus vielen zarten Markplättchen. In der Mitte zAvischen den Nähten sind die Stäbe mehr verflochten und enger aneinander ge- zogen. . . . Die Amrdere Krümmung des Balkens nenne ich das Knie desselben. . . . In der Mittellinie des Knies ist die S c h e i d e av a n d senkrecht ausgespannt, die eine Duplikatur des Epitheliums und ein Analogon des Älediastinums zu sein scheint, aber eine Höhle, den Ventriculum septi, zAvischen sich offen läßt. . . . Der hintere und breitere Teil des Balkens ist stärker als der vordere gegen den Mittelpunkt zurückgenommen und alle Fasern desselben, die seitAvärts in die hinteren Hirnlappen ausgebreitet sind. sind hier in einem Bündel angesammelt. Daher die Verstärkung des Balkens an diesem Ort. Die hier angehäuften Fasern kremiDcln sich nach innen um, legen sich auf der inneren Fläche des Balkens auf und geben die aufgesetzte Wulst, Avelche den hinteien Schenkel der Leier bildet und als Hahnensporn, ausAvärts von der ZAvillingsbmde (fomix) im Hinterhom fortgesetzt Avird. ... Die innere Faserlage des hinteren Teils des Balkens fällt auf der äußeren Wand des Hinterhorns über die Radiation des Hirnschenkelsystems von der inneren Naht bis zur Verbindung der äußeren Wand mit der inneren herab, be- deckt dieselbe und einen Teil der äußeren Wand des Seitenhorns. Diese Ausbreitung des Balkens nenne ich die T a ]) e t e. ... W i c v e r b i n d c n s i c h B a 1 k c n- u n d H i r n s c h e n k e 1 s y s t e m m i t c i n a n d e r ? Zu ä n g s 1 1 i c li d a r f m a n AV o h 1 in d c r A n a t o m i c d e s H i r n s n i c li t nach d e r K o n 1 1 n u 1 1 a t der Fasern haschen, da K o n t i g u i t ä t zur Leitung z u r e i c h t. 87 Beide breiten sich stralilig aus und stoßen im Umfang zusammen. Die Hirn- schenkel kommen von unten, entfalten sich in der Uestalt eines umgekehrten Kegels; das Balkensystem kommt von oben, senkt sich zwischen jene ein und deckt gleichsiim den Becher zu. Wahrscheinlich ist die Art der Verbindung beider verschieden. 1. Im vorderen Horn, besonders in der Gegend des Knies, stoßen beide aufeinander und zwischen ihnen liegt eine Marksubstanz, die weniger Struktur hat und das Bindungs- mittel ausmacht; 2. mehr hinterwärts anastomosieren die äußeren Schichten des Balken- systeins mit dem Hinterschenkelsystem; 3. am hinteren Rande des Sehhügels und in einer Entfernung zweier Linien von ihm durchdringen und kreuzen sich zuweilen die Fasern des Balkens mit den Fasern des Hirnschenkclsystems und bilden daselbst eine zarte Naht; 4. endlich fällt der letzte und hinterste Teil des Balkens als Tapete über die Hirn- schenkelorganisation weg. . . . Die Hirnschenkel- und Balkenorganisation und die zum Hirnschenkelsystem gehörige Radiation der äußeren Wand der Kapsel machen den K e r 11 des großen Gehirns aus, in dessen Innerem die Hirnhöhlen liegen. Zivischen diesem Kern und den W indungen liegt noch eine Mittelsubstanz, die über den Kern weggeht und besonders unter und über der Sylvisclien Grube sichtbar ist.“ Aus dem Abschnitt „Die S y 1 v i s c h e Grube, das gestreifte große Hirn- gangliuni, dessen Kapsel und die Seitenteile des großen Gehirns (Arch. IX, p. 195 bis 208, vgl. hiezu die Tafel auf Seite 89), heben wir folgendes hervor: „Die Insel hat eine länglich - runde Gestalt , besteht aus einigen kleinen , bedeckten und untergeordneten Windmigen , die eine eigene , ihrem Mittelpunkt zugekehrte Gruppierung haben. Sie ist schwach erhaben und sitzt auf dem großen Hirnganglium und der merkwürdigen äußeren Wand desselben. Um dieselbe geht eine Rinne herum, die sich hinterwärts und aufwärts als Sylvische Grube zwischen ihre beiden Wände fort- pflanzt. . . . Die äußere Portion des gestreiften großen Gehirngangliums liegt in einer Kapsel von Marksubstanz, die drei Wände, eme untere, eine äußere und eine innere hat. Die untere Wand ist zufällig, hingegen sind die anderen beiden eigen- tümliche Organisationen. . . . Die äußere Wand der Kapsel ist die merkmirdigste. Sie ruht auf dem hakenförmigen Markbündel im Eingang des Tals, der von den Windungen des vorderen Hirnlappens, auf welchen die Wurzel des Riechnerven liegt, ausgeht, sich auswärts um die Lamina perforata herumschlägt, .dm’ch den Eingang der Sylvischen Grube zum Mittellappen kommt, sich wieder vorwärtskrümmt und in die obere Fläche der Spitze des Mittellappens sich einsenkt. . . . Dieser hakenförmige Markbündel ist gleichsam der Zentralpunkt, von dem die Radiationen der ganzen äußeren Wand der Kapsel ausgeht. . . . Die innere Wand der Kapsel wird von dem Stamm des Hirn- schenkels und dem vorderen Teil des Stabkranzes gebildet. . . . Sie stößt oben in einen bogenförmigen Rand und unter spitzen Winkehi mit der äußeren Wand zu- sammen und gibt dadurch der Kapsel die Gestalt eines umgekehrten Kahnes. In dieser Kapsel liegt die äußere Portion des großen gestreiften Himganghums, dessen innere Portion der sogennante gestreifte Körper ist, welcher unbedeckt in der Hirnhöhle liegt. Beide sind Teile eines Organs, das nicht getrennt werden darf. Das äußere Ganglium hat unten eine breite Grundfläche, mit welcher es auf der untern Wand aufsteht, oben einen scharfen und siehelförmigen Rücken, mit welchem es in dem scharfen Winkel liegt, in welchem äußere und innere Wand sich vereinigen. Vorn ist es kolbig, hinten läuft es mehr zugespitzt zu. Schneidet es man von vorn nach hinten über seiner Grundfläche und da, wo es am dicksten ist, horizontal durch, so hat der Durchschnitt eine elliptische Gestalt. . . . Neben den Sehhügcln ist das große Hirnganglium eines der merkwürdigsten Organe des Gehirns. Es ist gleichsam der Quell oder die Sonne der Herrii.sphäre. . . . Ist das Ganglium voluminös und lebendig genug, die Insel der Sylvischen Grube groß, die Schläfengegend der Hirnschale kugelförmig hervor- 88 getrieben, der Kopf im Querdurchmesser stark, also das große Hirnganglium voll- kommen entwickelt, so sind meistenteils mit ihm zugleich auch alle übrigen Hirn- organe der Norm gemäß ausgebildet, Aveil sie von ihm ablnängig sind. Es sondert sich auf diesem Herde ein kräftiger und reichlicher Lebensgeist ab, der von demselben nach allen Seiten strömt, allen Organen ein leises Gefühl und ein starkes Reaktionsvermögen mit- teilt, wodurch sie fähig Averden, das Leben in seinen drei Formen aufs vollkommenste hervorzutreiben. Die Ganglienkette geht von der Stirn zum Rückenmark in der Achse des Nervensystems fort und breitet sich in der Schläfengegend fast quer durch den Kopf aus. Demi hier berühren sich beide Ganglien der Hemisphären und sind zur Seite bloß von der Insel bedeckt. Um diese Herde stehen alle Windungen der Hemisphären als Strahlen dieser Sonne oder als Bäche, die aus dem Meere ihren Lebensgeist aufnehmen; um sie liegen die HauptAverkzeuge der Seele; um sie Avurzeln die Organe der Kunstsinne, des Induktions- und Darstellungsvermögens, Hier findet man beim Blödsinn und anderen Seelenkrankheiten die meisten und die stärksten Abiveichungen im Bau der Hirnschale.“ Den (roten) Kern der Haube beschreibt Reil „als einen kugeligen Klumpen grauer Substanz, der imvendig und im hinteren Teil der Sehhügel auf den Hirnschenkeln liegt, an die Wand der dritten Hirnhöhle grenzt und vor sich die Wurzel der Zwillings- binde liegen hat. Durch denselben geht die schwarze Substanz der Hirnschenkel durch, das dritte Paar der Hirmierven Avurzelt in ihm. Es ist gleichsam ein Ganglium innerhalb eines anderen. Man bekommt es im Durchschnitt zu Gesicht, Avenn man die Himschenkel nahe vor der Brücke quer durchschneidet.“ Die Ganglien der Vierhügel beschreibt er Arch. XI, 362 ; „So gibt es auch in dem hinteren Vierhügelpaar ein paar Ganglien, die ich die kernförmigen nennen Avill. . . . Sie machen den Kern der hinteren Vierhügel und den größten Teil ihrer Substanz aus, . . . haben eine eiförmige Gestalt, ungefähr die Größe eines Gerstenkorns und liegen mit ihren Spitzen gegeneinander gekehrt.“ . . . Bei seinen Untersuchungen über den inneren Bau des Gehirns kommt Reil zu folgenden Ergebnissen: „Nur das Mark ist gebildet, die graue Masse überall in Klumpen und Nestern zAvischen dem Mark ausgestreut oder als Rinde über dasselbe ausgebreitet. Die graue Masse besteht aus Kügelchen, in deren polarischer Spannung noch Attraktion und Expansion sich das GleichgCAvicht halten; im Mark überAAÜegt schon das Attraktive. Daher dessen Bildung. Die Formation des Markes ist faserig, bündelförmig oder membranartig; die Richtungen der Bildungen sind verschieden, doch scheinen diese Richtungen sämtlich durch geAAÜsse Zentralpunkte der bildenden Kraft bestimmt zu Averden. Die kreisförmigen und strahlenden Richtungen sind die herrschen- den, z. B. im Bau der Hemisphären des kleinen Gehirns, der Expansion der Himschenkel von den Thalamis aus, in der Radiation der Sylvischen Grube, in der Richtung der Windungen des großen Gehirns gegen seinen Kem. Andere Bildungen folgen der Längs- achse, z. B. die Schenkel des kleinen und großen Gehirns Endlich liegen die sämt- lichen sogenannten Kommissmen und größtenteils auch alle Nerven in der Quere oder in der Äquatorialrichtung. Zuverlässig muß man diese Richtungen der Gebdde als Monumente einer Strömung des ursprünglich tätigen bildenden Lebens und ihr Ver- hältnis zueinander als Monumente der Bestimmungen eines Zentralpunktes durch die anderen ansehen.“ Als Probe der naturphilosophischen Spekulation sei angeführt, daß Reil bei der Betrachtung des Kleinhirns den schichtenAveisen Aufbau von markiger und grauer Substanz, das Analogon zur elektrischen Batterie gefunden zu haben glaubt. Die peripheren Blätter sollen als Elektromotoren die Lebensgeister erzeugen, das Mar - lager als Kollektor wirken, in welchem sich die disponible Erregbarkeit sammelt, die Brücke diene zum Schluß der Kette, das Tentorium stelle den Lcitungsapparat dar. 89 Erklärung. A B G D stellt die äußere Fläche der rechten Hälfte des großen Gelürns vor. Aus dem Grunde der Sylvischen Grube ist die Insel mit ihren Windungen weggebrochen, und die Windungen, welche sie als Wand umgeben, sind in der Mitte von ihrem Fuß bis zur Kappe durchbrochen. Dadurch ist der mittlere Teil der äußeren Wand der Kapsel für das große Himganglium entblößt, deren Strahlung gleichsam aus einem Zentrum unter jenen Wänden durch, nach allen Richtungen durch das ganze Hemisphärium geht. 90 .4 der vordere, B der mittlere, C der hintere Hirnlappen, D der obere Rand dieses Hemi- sphäriums. aaaa die in ihrer Mitte vom Kopf bis zum Fuß durchbrochenen Windungen, welche sich wie eine Wand um die .Sylvische Grube hcrumziehen. b tler hakenförmige Markbündel, der den vorderen und mittleren Hirnlappen ver- bindet und die Grenze der äußeren Wand der Kapsel im Eingang der Sylvischen Grube macht. c die vorwärts in den vorderen Hirnlappen, d die aufwärts unter dem Dache der Sylvischen Grube gegen den Balken zu, e die rückwärts in den hinteren, / die abwärts in den mittleren Hirnlappen gehende Strahlung dieser Wand. g die äußere Wand der Kapsel, die von den auf ihr stehenden Windungen der Insel entblößt ist; ilii mittlerer, glatter und zartfaseriger Teil, der aber doch der Brennpunkt ist, von dem die Strahlung nach allen Richtungen unter dem Fuße der Windungen fort- geht, senkiecht steht und sich durch die ganzen Seitenflächen der Hemisphären ausbreitet. Reil beschäftigte sich auch mit der pathologischen Anatomie des Gehirns, wie z. B. seine Arbeit „Mangel des mittleren und freien Teils des Balkens im Menschengehirn“ (Ai’ch. XI, 1812, p. 341—344) beweist. — Reils Gehirn- forschungen, welche B u r d a c h vielfach in seinem berühmten Werke vom Bau und Leben des Gehirns verwertete und rühmend anerkannte, wurden zunächst von seinem Schüler Friedr. Chr. Rosen thal (seit 1810 auf Veranlassung Reils Anatom am klinischen Institut in Berlin) weitergeführt ; vgl. dessen Enzephalotomie, Weimar 1815. — Unter Reils Leitung entstanden die Arbeiten von J. C. H. Meyer, „Über die Wiedererzeugung der Nerven“ (Arch. II, 449—467); Keuffel, „Über das Rückenmark“ (Arch. X, 123—203); N i e m e y e r, „Über den Ursprung des fünften Nervenpaares“ (Ainh. XI, 1—88); Nicolai, „Über das Rücken- mark der Vögel usw. “ (Arch. XI, 156 — 159); Franke, „Einige Bruchstücke aus der Anatomie des Gehirns der Vögel“ (Arch. XI, 220—228) u. a. In einer Anmerkung zu seiner letzten Arbeit (Arch. XI, 345) sagt Reil: „Durch immer größere mechanische Fertigkeit in der Zergliederung, durch fortgesetzte unermüdete Untersuchung, durch künftige Injek- tionen der Gefäße, durch Beobachtungen des Bildungsprozesses des Gehirns in den Früch- ten der Quadrupeden und durch eine durch die Tierreihe durchgeführte vergleichende Untersuchung des Gehirns, hoffe ich dies Pensum, wenn es auch groß und schwierig ist, noch vor meinem Tode zu vollenden, zumal da mir nach und nach mein kleines Insti- tut, das unter meiner Leitung für die Kultur der Physik der Organismen tätig ist . . . zu Hilfe kommt. “ — Reil erwähnt Gail wiederholt in seinen Schriften mit höchster An- erkennung. Nach Steffens („Was ich erlebte“ IV, 48) waren es gerade G a 1 1 s Vor- lesungen und Demonstrationen in Halle 18 05, welche ihn zur Wiederaufnahme der Ge- hirnuntersuchungen ermutigten. Im Jahre 1806 erschien aber in der Jenaische Allg. Literaturzeitung (Nr. 71, p. 561 ff.) eine mit J. R. Unterzeichnete Rezension, in welcher in abfälligster Weise über Gail abgeurteilt wird. In den Anmerkungen zu G o e t h e s Briefwechsel mit Eichstädt wird gesagt, daß diese Rezension von Reil herrühre, der doch früher sich dahin äußerte, „er habe in G a 1 1 s anatomischen Demonstrationen des Gehirns mehr gesehen, als er geglaubt hätte, daß ein Mensch in seinem ganzen Leben ent- decken könnte“ (vgl. darüber Möbius, Ausgew. Werke Bd. 3, Leipzig 1903, p. 127 bis 129; Bd. 7, Leipzig 1905, p. 101 ff.). Möbius (Bd. 3, p. 257) sagt hinsichtlich der erwähnten Rezension: „Wie der Wind umschlug, das war an R e i 1 zu sehen. Er war durch Gail gefördert worden, hatte seine Gchirnuntersuchungen auf G a 1 1 s Antrieb hin vorgenommen, und es ist wohl möglich, daß die Insula Reilii richtiger Insula Gallii genannt werden sollte. Aber die Schriften der Anatomen W alter und Acker- 91 111 ti 11 11 bcivirktcii, dciß Reil clcii ^[